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Full text of "Die grosse Täuschung"

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El  JlEDRICH  DELITZSCH 

DIE 

GROSSE 

TÄUSCHUNG 


DEUTSCHE  VERLAGS-ANSTALT 
STUTTGART/ BERLIN 


DIE  GROSSE  Täuschung 


FRIEDRICH  DELITZSCH 

DIE  GROSSETÄUSCHUNG 

ERSTER  TEIL 

Kritische  Betrachtungen 
zu  den  altteftamentlichen  Berichten  über  Ifraels 
Eindringen  in  Kanaan,  die  GottesofFenbarung 
vom  Sinai  und  die  Wirkfamkeit  der  Propheten 

NEUAUSGABE 
13.  und  14.  Taufend 


Motto  > 
Um  »Gottes«  willen! 


~  II.  SM 


DEUTSCHE  VERLAGS-ANSTALT 
STUTTGART  UND  BERLIN 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Copyright  1921 
by  Deutfdie  Verlags 'Anftalt,  Stuttgart 

Drude  der 
Deutfchen  Vcrlags^Anflalt  in  Stuttgart 


Vorwort  zur  Neuausgabe 

Die  ,, Babel-Bibel-Zeit"  ist  vergangen.  Fünfzehn  große 
Faszikel  von  Zeitungs-  und  Zeitschriftartikeln  und 
Broschüren  konnten  nach  ihrer  Durchsicht  dem  Feuer 
übergeben  werden,  zehn,  elf  Gegenschriften  blieben  übrig, 
die  reiflich  durchdacht  wurden,  mich  aber  nicht  bewegen 
konnten,  die  Anschauungen,  die  ich  in  meinen  drei  Vor- 
trägen über  ,, Babel  und  Bibel"  imd  den  sich  anschließen- 
den kleinen  Schriften  vertreten  habe,  ihrem  Kerne  nach 
zu  ändern.  Seitdem  habe  ich  während  der  Ausarbeitung 
meines  Hebräisch-Aramäischen  Wörterbuches  zum  Alten 
Testament  Gelegenheit  gehabt,  meine  alttestamentlichen 
Studien  mehr  und  mehr  zu  vertiefen,  und  lege  nunmehr 
einen  Teil  der  Ergebnisse  dieser  fortgesetzten  Forschungen 
in  dieser  Schrift  vor.  Es  wird  mir  an  erbitterten  Gegnern 
nicht  fehlen,  aber  was  will  das  besagen  gegenüber  der 
Pflicht  des  wissenschaftlichen  Forschers,  das,  was  er  als 
wahr  erkannt  zu  haben  imd  beweisen  zu  können  vermeint, 
auch  öffentlich  darzulegen,  zumal  wo  es  sich  um  die 
höchsten  Fragen  des  menschlichen  Daseins  handelt? 

Jeder  Mensch  hat  seine  besondere  Lebensführung.  Ich 
hörte  als  junger  Student  bei  einem  gefeierten  liberalen 
alttestamentlichen  Theologen  das  Kolleg  ,,Alttestament- 
liche  Einleitung"  imd  lernte  dort  eines  Tags,  daß  das  sog. 
5.  Buch  Mosis,  das  Deuteronomium,  gar  nicht  von  Moses 
verfaßt  sei,  obwohl  es  sich  durchweg  als  von  Moses  selbst 
gesprochen,  ja  sogar  niedergeschrieben  bezeugt,  daß  es 
vielmehr  erst  sieben  Jahrhunderte  später  zu  einem  ganz 
bestimmten  Zwecke  verfaßt  worden  sei.  Aus  einer  streng 
rechtgläubigen  lutherischen  Familie  hervorgegangen,  war 


6  Vorwort. 

ich  durch  das  Gehörte,  gerade  weil  es  mich  überzeugte, 
tief  bewegt,  und  besuchte  deshalb  noch  am  gleichen  Tage 
meinen  Lehrer  in  dessen  Sprechstunde,  wobei  mir  mit 
Bezug  auf  den  Ursprung  des  Deuteronomiums  das  Wort 
entschlüpfte:  Da  ist  also  das  5.  Buch  Mosis,  was  man 
eine  Fälschung  neimt?  Die  Antwort  lautete:  ,,Um  Gottes 
willen !  Das  wird  wohl  wahr  sein,  aber  so  etwas  darf  man 
nicht  sagen!"  Dieses  Wort,  sonderlich  sein  ,,Um  Gottes 
willen !"  klingt  in  meinen  Ohren  fort  bis  auf  den  heutigen 
Tag  und  wurde  deshalb,  obschon  mit  tieferer  Bedeutung, 
als  Motto  dieser  Schrift  vorgesetzt.  Denn  ich  habe  nie 
begriffen,  warum  man  in  solchen  ernsten  Dingen  dasjenige, 
was  wahr  ist,  nicht  auch  aussprechen  soll.  Ich  habe,  was 
ich  in  strengster,  immer  erneuter  Prüfung  als  wahr  er- 
kannt zu  haben  glaube,  hier  offen  ausgesprochen  und  kann 
nur  bitten,  zu  verzeihen,  wenn  ich  mich  in  der  Wahl  dieses 
oder  jenes  Ausdrucks  vergriffen  haben  sollte.  Obwohl 
eine  Kampfschrift,  ist  sie  meinerseits  von  ihrem  ersten 
Entwürfe  ab  völlig  sme  ira  et  studio  geschrieben  und  will 
nur  dem  Einen  Zwecke  dienen  —  der  Wahrheit  über  Gott 
und  sein  Walten. 

So  lautete  das  Vorwort  zur  Erstausgabe.  Ich  hatte 
am  Schlüsse  desselben  bzw.  im  ,, Nachwort"  bemerkt,  daß 
die  Schrift  ,,in  allen  wesentlichen  Punkten"  seit  1914 
druckfertig  gelegen  habe,  das  sollte  heißen:  in  den  auf 
dem  Titel  genannten  drei  Hauptteilen  I — III,  S.  7 — 91, 
nebst  Anhang,  während  S.  94  f.  (leicht  erkennbar  genug) 
nebst  anschließender  ,, Schlußbetrachtung",  dazu  etliche 
Anmerkungen  und  wenige  sonstige  Änderungen  erst  vor 
Veröffentlichung  des  Buches  Anfang  1920  hinzukamen. 
Mein  am  15.  Dezember  1914  in  Berlin  gehaltener  Klriegs- 
vortrag  ,, Psalm worte  für  die  Gegenwart"  lehrt  hiernach 
nur  das  Eine,  daß  auch  ich  damals  noch,  wie  gegenüber 
den  Schriften  der  ,, Propheten",  so  vor  allem  gegenüber 
den  Psalmen,  desgleichen  bezüglich  der  Beurteilung  des 


Vorwort.  n 

Verhältnisses  des  Neuen  Testaments  zum  Alten  in  den 
nämlichen  Vorurteilen  befangen  war  wie  noch  heute 
nahezu  die  ganze  Christenheit,  und  daß  ich  von  den 
durch  Haus  und  Schule  mir  anerzogenen  religiösen  An- 
schauungen nur  ganz  allmählich  und  mit  schweren  inneren 
Kämpfen  mich  freizumachen  vermochte. 

Auch  der  Anfang  des  Vorworts  bedarf  vielleicht  der 
Modifizierung,  insofern  die  ,, Babel-Bibel-Zeit"  möglicher- 
weise doch  noch  nicht  ganz  vergangen  ist.  Zwar  habe 
ich  meinen  zweiten  und  dritten  (Schluß-) Vortrag  über 
Babel  und  Bibel,  nachdem  sie  seit  Jahren  vergriffen  ge- 
wesen, im  Einvernehmen  mit  der  Verlags- Anstalt  aus  dem 
Buchhandel  zurückgezogen,  da  sie  ihren  Zweck  erfüllt 
hatten  und  das,  was  bleibenden  Wert  besitzt,  anderweitige 
Verwendung  finden  konnte  (z.B.  schon  in  der  Neuausgabe 
dieser  Schrift)  und  weiterhin  finden  wird.  Aber  der  erste 
Vortrag  über  Babel  und  Bibel  wird  noch  jetzt  nach 
i8  Jahren  so  lebhaft  begehrt,  daß  sich  die  Verlagshand- 
lung entschlossen  hat,  noch  in  diesem  Winter  eine  Neu- 
auflage erscheinen  zu  lassen.  Bs  bleibt  abzuwarten,  ob 
sich  die  Geister  über  seinen  Inhalt  jetzt  einigermaßen 
beruhigt  haben  werden  oder  nicht. 

Erlangen,  Februar  192 1. 

Friedrich  Delitzsch. 


Die  in  verhältnismäßig  geringer  Zahl  erhalten  ge- 
bliebenen (Anm.  i)  und  dazu  außerordentlich  fehler- 
haft überlieferten  (Anm.  2)  Überreste  der  althebräischen 
Literatur,  die  man  in  gründlich  irreführender  Weise  die 
,, Heilige  Schrift  Alten  Testamentes",  ja  sogar  das 
,,Wort  Gottes"  zu  benennen  pflegt,  machen  es  dem 
Laien  schlechterdings  unmöglich,  den  sittlichen  und  reli- 
giösen Werdegang  des  israelitischen  Volkes  wahrheits- 
gemäß zu  erkennen.  Dies  deshalb,  weil  einesteils  die 
älteren,  etwa  aus  dem  9,,  8.  Jahrhundert  v.  Chr.  stammen- 
den Schriften  geschichtüchen  Inhalts  von  jüngeren  Händen 
vielfach  überarbeitet  und  durch  allerlei  Einschiebsel  ver- 
mehrt wurden,  ohne  daß  diese  Änderungen  und  Zusätze 
irgendwie  kenntlich  gemacht  wären,  anderenteils  jüngere 
und  jüngste  Schriften,  wie  die  Psalmen,  weit  über  ein  halbes 
Jahrtausend  älteren  Verfassern,  wie  David  oder  Salomo, 
zugeschrieben  wurden,  von  dem  mit  dem  Namen  Moses 
getriebenen  Unfug  hier  noch  zu  schweigen  —  alles  dazu  an- 
getan, den  gläubigen  oder  richtiger  leichtgläubigen  Bibel- 
leser in  gröbste  Täuschung  und  heillose  Verwirrung  zu 
verstricken.  Diesen  Knäuel  wahrheitswidriger  Geschichts- 
überlieferung imd  skrupelloser  Verschiebungen  aller  Art 
aufgedeckt  und  entwirrt  zu  haben,  ist  das  unvergängliche 
Verdienst  der  textkritischen  Arbeit  der  christlichen  alt- 
testamentlichen  Wissenschaft,  gipfelnd  in  Julius  Well- 
hausen, dessen  ruhmvolle  Arbeiten  erst  jüngst  anläßlich 
seines  Todestages  (7.  Januar  1918)  in  allen  deutschen  und 
fremdländischen  Blättern  nach  Gebühr  gefeiert  worden 
sind.  Die  folgenden  Blätter  möchten  dem  gebildeten  Laien 
an  drei  Beispielen  zum  Bewußtsein  bringen,  in  welchem 
Grade  es  notwendig  ist,  die  uns  überkommenen  alttesta- 
mentlichen  Glaubensanschauungen  zu  überprüfen  und  von 
Grund  aus  neu  zu  gestalten. 


10  I-  Israels  Kindringen  in  Kanaan. 

I. 

Israels  Eindringen  in  Kanaan 

In  einer  Zeit  wie  der  unsrigen,  in  welcher  so  viel  von 
der  zionistischen  Hoffnung  auf  Rückkehr  des  „auser- 
wählten"  Volkes  in  das  „gelobte"  Land  die  Rede  ist,  dürfte 
der  Versuch,  den  wirklichen  Hergang  des  Eindringens  der 
Israeliten  in  Kanaan,  soweit  dies  möglich,  in  streng  ge- 
schichtlichem Sinne  darzustellen,  vielleicht  das  Interesse 
weiterer  Kreise  finden.  Das  Thema  wird  auch  dadurch 
nahegelegt,  daß  der  berühmte,  im  Jahre  1887  in  Mittel- 
ägypten gemachte  Tontafelfund  von  El-Amarna  und  die 
Entdeckung  des  Palastarchivs  der  alten  Hettiterkönige 
in  Boghaz-köi  (Kappadozien)  durch  den  BerHner  Assyrio- 
logen  Hugo  Winckler  1906  und  1907  die  bis  dahin  in 
tiefes  Dunkel  gehüllte  Geschichte  Vorderasiens  im  15., 
14.  vorchristlichen  Jahrhundert  plötzlich  gleich  einem 
mächtigen  Scheinwerfer  erhellt  und  ebendamit  auch  für 
die  Eroberung  Kanaans  durch  die  israelitischen  Wüsten- 
stämme allerlei  wichtige  neue  Tatsachen  erbracht  haben. 

Die  für  diesen  Gegenstand  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommenden  alttestamentlichen  Quellen :  das  2.  bis  5.  Buch 
Mosis  nebst  Josua  und  dem  Richterbuch  leiden  sämtlich 
unter  den  eingangs  erwähnten  literarischen  Mängeln,  zu 
denen  sich  bei  ihnen  auch  noch  der  weitere  Mangel  gesellt, 
daß  Geschichte  und  Sage  bzw.  Märchen  bunt  durchein- 
ander gemischt  sind,  wie  dies  auch  im  Königsbuche  der 
Fall  ist.  Es  wird  also  die  Aufgabe  dieser  Darlegungen 
sein,  spätere  Zutaten  sowie  Geschichte  und  Sage  möglichst 
streng  auseinanderzuhalten.  Die  Einwanderung  der  Israe- 
liten in  Kanaan  vollzog  sich  ja  in  verhältnismäßig  junger, 
vollkommen  historischer  Zeit,  etwa  um  1290  v.  Chr.,  also 
in  einer  Zeit,  über  die  wir  betreffs  des  ägyptischen,  baby- 
lonisch-assyrischen, hetti tischen  Altertums  durch  zahl- 
reiche gleichzeitige  Schriftdenkmäler  eingehend  unterrichtet 
sind,  aber  die  schriftliche  Fixierung  jenes  für  die  Geschichte 


Die  Zahl  der  liindrin^lingc.  II 

Israels  grundleglich  bedeutsamen  Geschehnisses  erfolgte 
mindestens  um  vier  bis  fünf  Jahrhunderte  später,  als  die 
Propheten,  in  deren  Hand  die  Geschichtsschreibung  vor- 
zugsweise lag,  die  Geschichte  Israels  von  einem  ganz  beson- 
deren theologischen  Standpunkt  aus  zu  betrachten  und  dar- 
zustellen sich  gewöhnt  hatten.  Vier  bis  fünf  Jahrhunderte 
später!  Da  begreift  es  sich  leicht,  daß  die  wirklich  ge- 
schichthchen  Erinnerungen  und  Überlieferungen  bereits 
ziemlich  verblaßt  waren  und  sich  nur  allzu  leicht  der  Er- 
gänzung und  Ausschmückung  durch  freie  Erfindung  dar- 
boten. Ebendeshalb  ist  es  dankbar  zu  begrüßen,  daß  wir 
durch  die  oben  erwähnten  archäologischen  Entdeckungen 
über  Palästina  vor  der  israelitischen  Einwanderung 
authentisch  unterrichtet  worden  und,  nicht  länger  aus- 
schließlich auf  die  Darstellung  der  israelitischen  Geschichts- 
schreibung angewiesen,  Geschichte  und  Sage  schärfer  zu 
trennen  imstande  sind,  als  dies  vordem  der  Fall  gewesen. 

Wir  geben  nun  zunächst  in  möglichst  knapper  Zu- 
sammenfassung den  alttestamentlichen  Bericht  über  die 
Einwanderung  Israels  in  Kanaan  in  genauestem  Anschluß 
an  die  oben  genannten  Quellenschriften,  indem  wir  gleich- 
zeitig, doch  zunächst  nur  bei  Einzelheiten,  allerlei  Zweifeln 
und  Bedenken  freimütig  Ausdruck  geben.* 

Die  Gesamtzahl  der  allesamt  nach  Ägypten  eingewan- 
derten männlichen  Mtglieder  des  Hauses  Jakobs  betrug 
mit  Einschluß  Josephs  und  seiner  beiden  in  Ägypten  ge- 
borenen Söhne,  Manasse  und  Ephraim,  12  Söhne,  51  Enkel 
und  4  Urenkel  Jakobs,  in  Summa  67  Seelen  (Gen  46*-^', 
rund  70  Seelen  Gen  46  2'  Ex  i  ^  Dt  i  o  2^),  und  diese  67  mäim- 
lichen  Nachkommen  Jakobs  hatten  sich  während  der 
430  Jahre  (Ex  12*"')  des  ägyptischen  Aufenthaltes  Israels 

^)  An  Abkürzungen  bitte  ich  zu  beachten:  Gen  (d.  i.  Genesis),  Ex 
(d.  i.  Exodus),  I,ev  (d.  i.  Leviticus),  Nu  (d.  i.  Numeri),  Dt  (d.  i.  Deutero- 
nomium)  =  i. — 5.  Buch  Mosis;  Jos,  Ri  =  Josua,  Richterbuch;  i  ,2Kö  = 
I.,  2.  Buch  der  Könige;  Ps  =  Psalmen  usw.  —  Acta=  Apostelgeschichte. 


12  I-  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

trotz  des  harten  Frondienstes  zu  rund  600000  Mann  (Ex  12  3') 
mit  Ausschluß  der  Kinder  vermehrt  (Anm.  3).  Die  Frauen 
sind  außer  Betracht  gelassen:  sie  waren  gewiß  nur  zum 
Teil  israelitischen  Ursprungs,  einen  großen  Prozentsatz 
bildeten  wohl  Ägypterinnen  und  Angehörige  der  in  der 
benachbarten  sinaitischen  Wüste  sich  herumtreibenden 
Nomadenstämme,  die  sich  später  als  Mitläufer  (vgl. 
Jos  8  3^)  den  ausziehenden  Israeliten  anschlössen  (Ex  12^^). 
Auch  Negerinnen  mögen  zu  ihnen  gezählt  haben,  wie  ja 
Moses  selbst  zum  gerechten  Entsetzen  seiner  Schwester 
Miriam  und  seines  Bruders  Aaron  ein  solches  Negerweib 
geehelicht  hatte  (Anm.  4).  600  000  Mann,  genauer  603  550 
(Ex  38  2^)  kriegstüchtige  Männer  von  20  Jahren  und  dar- 
über waren  es,  die  die  Musterung  im  zweiten  Jahre  nach 
dem  Auszuge  aus  Ägypten  ergab  (Anm.  5). 

Ein  Volk,  das,  aus  dem  ägyptischen  ,, Diensthause"  zur 
Freiheit  entronnen,  mit  seinem  großen  Besitzstand  an 
Herden  zum  Suchen  neuer  Wohnsitze  auszog,  mußte 
naturgemäß  seinen  Weg  zunächst  ostwärts  nach  den 
Wüsten  der  sinaitischen  Halbinsel  südlich  von  Kanaan 
nehmen.  Und  da  das  israelitische  Volk  auch  seinerseits, 
gleich  anderen  blutsverwandten  Nomadenstämmen  vor 
ihm,  innerhalb  des  Ländergebietes  östlich  der  Mittelmeer- 
küste Kanaan  als  Ziel  der  Inbesitznahme  ins  Auge  ge- 
faßt hatte,  konnte  nichts  natürlicher  sein,  als  daß  Moses 
vom  Berge  Horeb  (oder  Sinai)  aus  sein  Volk  durch  die 
Wüste  direkt  nach  dem  Amoritergebirge  führte,  um  von 
Süden  her  auf  dem  kürzesten  Wege  in  Kanaan  einzu- 
dringen.^ Der  Hebräergott  Jaho  (Jäho,  Jähü,  s.  Anm.  6) 


^)  Der  allerkürzeste  und  bequemste  Weg  wäre  ja  die  längs  der  Küste 
des  Mittelmeers  führende  Straße  nach  dem  Lande  der  Philister  ge- 
wesen, aber  dieser  Etappenweg  der  Pharaonen  nach  ihren  palästinen- 
sischen Garnisonen  war  für  ein  aus  Ägypten  „entflohenes"  Volk  ausge- 
schlossen. GemälB  Ex  13I'  führte  Gott  Israel  diesen  Weg  nicht,  weil 
„er  dachte,  es  könnte  das  Volk  gereuen,  wenn  es  Kämpfe  zu  bestehen 
hätte,  und  sie  könnten  nach  Ägypten  zurückkehren  wollen". 


Die  erste  Kiiudschaftersendung.  I^ 

hatte  es  selbst  so  gewollt  (Dt  i").  In  Qadesch-Barnea 
traf  Moses  die  nötigen  Vorbereitungen.  Einem  Vorschlage 
des  Volkes  entsprechend,  sandte  er  zunächst  Kundschafter 
aus,  die  sich  über  den  einzuschlagenden  Weg  und  die 
zunächst  zu  erreichenden  Städte  unterrichten  sollten 
(Nu  13  Dt  i).  Die  zwölf  Kundschafter,  je  einer  aus  jedem 
Stamme  (unter  ihnen  Kaleb  vom  Stamme  Juda  und  Josua 
vom  Stamme  Ephraim),  zogen  geradenwegs  hinauf  ins 
Gebirge,  gelangten  —  speziell  wird  dies  von  Kaleb  be- 
richtet —  bis  nach  Hebron  ^  und  zogen  dann  nach  dem 
fruchtbaren  Wadi  Eschkol,  aus  welchem  sie  neben  Granat- 
äpfeln und  Feigen  mächtige  Weintrauben  als  Zeichen  der 
Fruchtbarkeit  des  Landes  zu  ihren  Volksgenossen  zurück- 
brachten. Was  sie  freilich  von  der  hochgewachsenen, 
starken  Bevölkerung  des  Landes  und  seinen  ,, himmelhoch" 
befestigten  Städten  zu  erzählen  wußten,  entmutigte  das 
Volk  dermaßen,  daß  es  sich  trotz  Mosis  eindringlicher 
Mahnung  weigerte,  hinaufzuziehen.  Und  als  es  späterhin, 
da  Moses  ihm  als  Strafe  40  weitere  Jahre  der  Wüsten- 
wanderung in  Aussicht  stellte,  gegen  Mosis  Willen  dennoch 
zum  Angriff  überging,  wurde  es  von  den  Amoritern  * 
geschlagen  und  bis  Chorma  zersprengt  (Nu  14,  Dt  i  i^-*^) 
Wir  wissen  ja  aus  den  Amarnabriefen,  wie  zäh  sich  die 
vor  den  Israeliten  in  Kanaan  eingedrungenen  Amoriter 
gerade  in  Südpalästina  sogar  gegen  die  ägyptische  Ober- 
herrschaft behaupteten,  also  daß  sie  diese  selbst  mehr 
und  mehr  erschütterten,  und  können  es  verstehen,  daß 
sie  den  unter  schweren  Kämpfen  errungenen  Besitz  mit 
äußerster  Kräfteentfaltung  gegen  jede  Konkurrenz  zu 
schützen  gewillt  waren. 

*)  Nu  1322.  Daß  die  Kundschafter  das  Land  ,,bis  nach  Rechob  gen 
Harn ath  hin"  (V.  21)  ausgekundschaftet  hätten,  ist  eine  der  vielen  in  der 
hebräischen  Literatur  sich  findenden  orientahschen  Hyperbehi  und  zeugt 
obendrein  von  großer  geographischer  Unklarheit,  zumal  wenn  man  be- 
denkt, daß  die  Auskundschaftung  mit  Hin-  und  Rückweg  nur  40  Tage 
dauerte. 

2)  Gemäß  Nu  14*3  «^  von  den  Kanaanitem  und  Amalekitem. 


JA  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Nach  Qadesch-Barnea  zurückgekehrt,  durchzog  Israel 
die  Steppe  bis  zum  Schilfmeer,  immer  um  das  Edomiter- 
gebirge  Seir  herum,  um  schließlich,  nordwärts  sich  wendend, 
nach  den  Steppen  Moabs  zu  gelangen.  38  Jahre  nach 
dem  Weggang  von  Qadesch  sind  die  Stämme  Israels  im 
Osten  des  Toten  Meeres  imd  des  unteren  Jordanlaufes  im 
Moabiterland  angelangt.  Die  erste  Generation,  die  aus 
Ägypten  ausgezogen  war,  war  in  der  Wüste  gestorben, 
eine  zweite  Generation  war  an  ihre  Stelle  getreten.  Doch 
hatte  die  zweite  Musterung  am  Jordan,  Jericho  gegen- 
über, nahezu  das  nämliche  Gesamtergebnis  wie  die  oben 
erwähnte  erste  Musterung,  indem  sie  601  730  BewafiEnete 
ergab  (Anm.  7).  Das  Buch  der  Richter  (20  2-^')  spricht  nur 
noch  von  400  000  SchwertbewafEneten  (die  Benj  amini ten 
abgerechnet),  was  auf  sehr  starke  Verluste  während  der 
Eroberung  Kanaans  schließen  läßt. 

Die  Bewaffnung  der  Isr achten,  die  Kanaan  zu  erobern 
unternahmen,  war  die  denkbar  einfachste.  Wie  der  ,, Feld- 
hauptmann Jahos",  der  Josua  bei  Jericho  erschien,  nur 
ein  Schwert  trug,  so  hatten  auch  die  israeUtischen  Klrieger 
lediglich  Eine  Hauptwaffe,  nänüich  ein  großes  scharfes 
Messer,  d.i.  einen  Dolch  oder  ein  Schwert.  Nirgends  lesen 
wir  von  Bogenschützen  (denn  die  einmalige  Paarung  von 
Schwert  und  Bogen  Jos  24^*  ist  lediglich  rhetorisch). 
Neben  dem  Schwert  mögen  auch  Wurfspieße  in  Gebrauch 
gewesen  sein,  doch  lesen  wir  von  einem  solchen  nur  als 
in  der  Hand  des  Oberbefehlshabers  Josua  befindlich  imd 
von  diesem  zu  Signalzwecken  benutzt.  Auch  von  Be- 
rittenen ist  nirgends  die  Rede,  und  von  irgendwelchen 
Vorkehrungen  zum  Angriff  auf  befestigte  Städte  natürlich 
erst  recht  nicht.  Eine  von  Bogenschützen  verteidigte,  um- 
mauerte Stadt  konnte  infolge  dieses  Mangels  jeden  Be- 
lagerungsmaterials überhaupt  nicht  anders  als  durch  List 
oder  —  ein  Wunder  erobert  werden,  und  gegenüber  einem 
mit  Streitwagen  versehenen  Feinde  hatten  die  Hebräer  bei 
einer  Schlacht  in  der  Ebene  außerordenthch  schweren  Stand. 


Die  Kämpfe  im  Ostjordanland.  jC 

Schleuderer  werden  erst  in  der  Richterzeit  (Ri  2  o  ^*)  erwähnt. 
An  Lanzen- und  Schildträgern,  desgleichen  rossebespannten 
Streitwagen  war  seit  SalomosZeitkein  Mangel,  wie  jaSalomo 
gemäß  I  Kö  lo^"  (vgl.  5'  9'^'^)  über  1400  Wagen  und  12000 
Reiter  verfügte  (s.  weiter  für  Asa's  Zeit  2  Chr  14').  Aber  zur 
Zeit  der  Eroberung  Kanaans  war  das  israelitische  Heer  kein 
eigentliches,  aus  verschiedenen  Waffengattungen  bestehen- 
des Heer,  sondern  eine  mit  dem  einfachsten  Mordwerkzeug, 
Dolch  oder  Schwert,  bewaffnete  Nomadenhorde. 

Die  ersten  Kämpfe  entspannen  sich  im  Ost  jordanlande. 
Als  Sichon,  der  Amoriterkönig  von  Chesbon,  Mosis  Auf- 
forderung, ihm  Durchzug  durch  sein  Land  zu  gestatten, 
nicht  nachkam,  vielmehr  mit  seinem  ganzen  Kriegs volke 
Israel  bei  der  Stadt  Jahaz  entgegentrat,  wurde  er  aufs 
Haupt  geschlagen  und  verlor  sein  Land  an  Israel.  Alle 
seine  Städte  wurden  erobert  und  in  jeder  Stadt  an  Männern, 
Weibern  und  Kindern  der  ,,Bann"  vollstreckt,  d.  h.  alles 
niedergemetzelt,  sodaß  niemand  entraim  (Dt  2^*).  Ebenso 
erging  es  dem  Könige  Og  von  Basan,  der  in  Aschtaroth 
residierte.  Bei  der  Stadt  Edrei  stellte  er  sich  zur  Schlacht, 
die  er  verlor.  60  stark  befestigte  Städte,  dazu  zahllose 
offene  Landstädte,  verfielen  dem  ,,Bann" :  Männer,  Weiber 
und  Kinder  wurden  ausgetilgt  (Dt  3  *"*) .  Das  Land  Sichons 
imd  Ogs  erhielten,  da  es  in  hervorragender  Weise  zu  Weide- 
land geeignet  war,  die  an  Viehherden  besonders  reichen 
Stämme  Rüben,  Gad  und  Halb-Manasse.  Diese  zweiein- 
halb Stämme  besiedelten  die  Ortschaften  und  Steppen  des 
Ostjordanlandes.  Wir  wissen  leider  nichts  Näheres  über 
die  beiden  Schlachten  gegen  Sichon  und  Og,  obwohl  die 
alttestamentlichen  Schriftsteller  wiederholt  gerade  dieser 
beiden  Siege  Erwähnung  tun.  Trotz  der  primitiven  Be- 
waffnung erklären  sich  Israels  Waffenerfolge  leicht  durch 
seine  große  numerische  Überlegenheit,  welche  auch  die 
von  den  Kundschaftern  betonte  Kleinheit  und  Schwäch- 
lichkeit der  israelitischen  Männer  gegenüber  den  Ein- 
geborenen des  Landes  (Nu  13'^)  einigermaßen  aufwog. 


l6  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Nach  Einnahme  des  Ost  Jordanlandes  erfolgte  von  den 
Steppen  Moabs  aus,  Jericho  gegenüber,  der  Einbruch  in  das 
West  j  ordanland . 

Moses  war  tot.  Von  dem  aus  der  moabitischen  Steppe 
emporsteigenden  Gebirge  Pisga,  näher  vom  Gipfel  des 
Berges  Nebo,  hatte  ihn  Jaho  weithin  bis  hinauf  nach 
Gilead  imd  über  das  Jordantal  hinüber  nach  dem  West- 
meere das  ,, gelobte  Land"  schauen  lassen,  das  er  selbst 
nicht  betreten  sollte.  Er  starb  auf  dem  Gipfel  des 
Berges,  i2o  Jahre  alt,  „ohne  daß  seine  Augen  matt  ge- 
worden wären  oder  seine  Körperfrische  gehtten  hätte", 
und  fand  sein  Grab  (durch  Jaho  selbst?  Dt  34^)  im  Tale 
des  Landes  Moab,  ohne  daß  jemand  jemals  die  Stätte 
seines  Begräbnisses  erfahren  hätte.  Geburt  wie  Tod  des 
ersten  , »Knechtes  Jahos"  sind  von  der  Sage  umrankt. 

An  Mosis  Statt  ward  sein  Diener  Josua,  der  Sohn 
Nuns,  von  Jaho  persönlich  bestimmt  (Jos  i^'*),  das  Volk 
über  den  Jordan  zu  führen  und  in  den  Besitz  Kanaans 
zu  setzen.  Die  Ordner  (Anm.  8)  des  Volkes  erhalten  von 
Josua  Befehl,  im  Feldlager  kimdzutun,  daß  nach  Verlauf 
von  drei  Tagen  der  Jordan  überschritten  und  daß  zu 
diesem  Zwecke  Proviant  bereitgehalten  werden  solle. 
Josua  selbst  befiehlt  den  Stämmen  Rüben,  Gad  und  Halb- 
Manasse,  Frauen,  Kinder  und  Herden  in  den  ihnen  zuteil 
gewordenen  Gebieten  zu  belassen,  sich  selbst  aber  in  der 
Gesamtzahl  ihrer  kriegstüchtigen  Männer,  zirka  40  000  an 
Zahl,^    an    die   Spitze    der   Israeliten   kampfgerüstet   zu 

1)  Jos  4^.  Die  Zahl  zirka  40  000  ist  im  Hinblick  auf  die  Zahlen- 
angaben der  Anm.  7,  die  auf  weit  mehr  als  100  000  schließen  lassen, 
axif fallend  niedrig.  Wenn  es  überhaupt  lohnt,  den  im  Alten  Testament 
durchweg  höchst  unzuverlässigen  Zahlen  solche  Bedeutimg  zuzu- 
erkennen, so  müßte  ein  Ausgleich  vielleicht  in  der  Richtung  versucht 
werden,  daß  zvir  Sichenmg  des  eroberten  ostjordanischen  Gebietes  sowie 
all  der  Frauen,  Kinder  vmd  Herden  der  2  Yj  Stämme  gegen  die  von  allen 
Seiten  her  drohenden  Angriffe  feindlicher  Wüstenstämme  imd  Völker  eine 
beträchtliche  bewaflEnete  Macht  notwendig  mit  zurückbleiben  mußte. 
Erwähnt  wird  dies  freilich  nirgends.    Oder  hatten  die  drei  Stämme  in 


Die  Kuudschaftcr  in  Jericho.  I7 

stellen,  um  bei  der  Eroberung  des  Westjordanlandes  mit- 
zuhelfen.   Dem  Befehle  wird  bereitwillig  entsprochen. 

(Kap.  2.)  Eine  zweite  Vorbereitungsmaßnahme  be- 
zweckte die  Erkundung  des  ersten  Angriffsobjektes,  der 
,, Palmenstadt"  Jericho.  Zwei  junge  Männer  (Jos  6^3) 
wurden  als  Kundschafter  ausgesandt,  die  sich  allerdings 
ihres  Auftrages  in  erhebUch  befremdender  Weise  ent- 
ledigten. Wie  sie  über  den  Jordan  kamen,  der  ebenda- 
mals  über  seine  Ufer  getreten  war,  wird  nicht  gesagt, 
das  Hinüber  und  Herüber  kann  jedenfalls  nicht  schwer 
gewesen  sein.  Bei  einbrechender  Nacht  durch  die  Torwache 
Jerichos  glücklich  in  die  Festung  geschlüpft,  begaben  sie 
sich  schnurstracks  in  das  unmittelbar  an  der  Stadtmauer 
belegene,  in  sie  sogar  hineingebaute  Haus  einer  Hure  namens 
Rachab,  um  dort  die  Nacht  zu  verbringen  (Anm.  9).  Aber 
ihr  Aufenthalt  dortselbst  wurde  ruchbar,  ihre  Anwesen- 
heit und  zugleich  der  Ort  ihrer  Unterkunft  dem  ,, König" 
von  Jericho  gemeldet.  Rachab  versteckte  die  Männer 
und  rief  den  Boten  des  Königs  zu,  augenscheinlich  ohne 
die  Tür  ihres  Hauses  zu  öffnen,  es  seien  wohl  zwei 
Mäimer  dagewesen,  deren  Herkunft  sie  nicht  keime;  als 
aber  in  der  Finsternis  das  Stadttor  (Anm.  10)  ver- 
schlossen werden  sollte,  hätten  sie  sich  wieder  entfernt: 
,,Jagt  ihnen  eilends  nach!"  Dann  versteckte  sie  die  beiden 
Kundschafter,  um  sie  einer  etwaigen  nochmaligen  Nach- 
forschung zu  entziehen,  auf  dem  Dache  tmter  aufge- 
stapelten Hölzern.  Der  König  ließ  sich  irreführen.  Seine 
Boten  eilten  durch  das  Stadttor,  das  man  sofort  wieder 
verschloß,  den  Kundschaftern  nach  bis  an  die  Jordan- 
furten, aber  ohne  Erfolg.  Rachab  sagte  zu  den  Kund- 
schaftern (man  beachte,  wie  vorausgesetzt  wird,  daß 
Rachab  eine  den  israelitischen  Kundschaftern  durchaus 
verständliche  Sprache  redete) :  ,,Ich  weiß,  daß  Jaho  euch 

den  Kämpfen  gegen  Sichon  und  Og  so  schwere  Verluste  erlitten?  Dill- 
manns Übersetzung  von  i":  „alle  die  Kriegstüchtigsten"  statt  ,,alle 
Kriegstüchtigen"  ist  sprachlich  nicht  zu  rechtfertigen. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     I  2 


l8  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

das  Land  gegeben  hat,  und  daß  euer  Schrecken  uns  be- 
fallen hat,  und  daß  alle  Bewohner  des  Landes  vor  euch 
verzagt  sind.  Denn  wir  haben  gehört,  daß  Jaho  vor  euch 
die  Wasser  des  Schilfmeeres  trocken  gelegt  hat,  als  ihr 
aus  Ägypten  auszogt,  und  was  ihr  den  beiden  Amoriter- 
königen  jenseits  des  Jordans,  dem  Sichon  und  Og,  getan 
habt,  welche  ihr  barmtet.  Und  wir  hörten  es,  und  imser 
Mut  schmolz  und  in  niemandem  ist  mehr  Lebenskraft  vor 
euch,  denn  Jaho,  euer  Gott,  ist  Gott  im  Himmel  und  auf 
der  Erde".  ^  Erstaunlich  ist  es,  wie  dieses  von  seinen 
Volksgenossen  ausgestoßene  Weib  sich  anmaßt,  im  Namen 
,, aller  Bewohner  des  Landes"  zu  sprechen,  sie  sich  mit 
,, wir  "imd,, uns"  zum  Sprachrohr  der  ganzen  kanaani  tischen 
Bevölkerung  macht;  noch  erstaunhcher,  daß  die  beiden 
Kundschafter  mit  diesem  Worte  der  Rachab  als  dem  ein- 
zigsten Ergebnis  ihrer  Auskundschaftung  sich  zufrieden 
geben;  am  erstaunlichsten  aber,  daß  Josua  —  doch  hier- 
über erst  imten.  Nach  diesen  ihren  Worten  läßt  Rachab 
die  Kimdschafter  schwören,  daß  sie  das  ihnen  erwiesene 
Wohlwollen  durch  gleiches  Wohlwollen  ihrem  väterHchen 
Hause  gegenüber  vergelten  würden,  indem  sie  bei  der 
Eroberung  Jerichos  ihre  Eltern,  Geschwister  und  sonstigen 
Angehörigen  sowie  sie  selbst  am  Leben  ließen.  Sie  leisteten 
diesen  Schwur,  worauf  die  Hure  noch  während  der  Nacht 
die  beiden  Kundschafter  an  einem  Seil  durch  das  Fenster 
ihres  Hauses  die  Mauer  hinabließ,  ihnen  gleichzeitig  den 
Rat  erteilend,  zunächst  ins  Gebirge  zu  fliehen,  um  nicht 
den  Verfolgern  in  die  Hände  zu  laufen,  sich  drei  Tage 
versteckt  zu  halten  und  dann  ihres  Weges  zu  ziehen.  Die 
Kimdschafter  machen  noch  mit  ihr  aus,  daß  sie  den 
karmesinfarbenen  Knäuel,  mit  dessen  Hilfe  sie  sie  herab- 


1)  Jos  2  8-".  Die  alttestamentliche  Textkritik  hält  die  von  Rachab 
zu  den  Kundschaftern  gesprochenen  Worte  für  einen  späteren  (sog. 
„deuteronomistischen")  Zusatz  zur  Kundschaftererzählung.  Mag  sein» 
aber  dann  wird  die  Erzählung  von  dem  Avifenthalt  der  zwei  Kund- 
schafter in  dem  Hurenhause  von  Jericho  erst  recht  verdächtig. 


Die  erlogene  Kunde  aus  Jericho.  ig 

gelassen  hätte,  als  Erkennungszeichen  an  ihr  Fenster 
binden,  auch  daß  sie  alle  ihre  Anverwandten  in  ihrem 
Hause  behalten  solle.  Zu  Josua  zurückgekehrt,  meldeten 
sie:  ,,Jaho  hat  das  ganze  Land  in  unsere  Hand  gegeben, 
alle  Bewohner  des  Landes  sind  verzagt".  Und  nun  kommt 
das  Erstaunlichste,  worauf  oben  vorbereitet  wurde,  daß 
nämhch  Josua  diesen  Worten,  die  die  Kundschafter  ledig- 
lich aus  dem  Munde  einer  Person  wie  Rachab  vernommen, 
ohne  weiteres  Glauben  schenkte,  Worten,  die  von  A 
bisZnach  Jahos  eigenem  Urteil  erlogen  waren!  Er- 
logen. Denn  nicht  allein,  daß  der  weitere  Verlauf  der 
Unternehmungen  Israels  gegen  Kanaan  die  kanaanitische 
Bevölkerung  nichts  weniger  als  verzagt  fand,  vielmehr 
voll  todesmutiger  Entschlossenheit,  ihr  Land  gegen  die 
hebräischen  Eindringünge  zu  verteidigen,  sondern  wir 
lesen  sogar,  daß  Jaho  selbst  sie  in  ihrem  mutigen  Wider- 
stände bestärkt  habe,  um  sie  um  so  sicherer  der  Ausrottung 
durch  das  Schwert  Israels  zu  überantworten !  ^  Das  ist 
der  erste  Punkt,  der  unsern  Glauben  an  die  Glaubwürdig- 
keit der  hebräischen  Berichterstattung  über  die  Eiimahme 
Kanaans  schwer  erschüttert.  Die  Bewohner  Kanaans 
leisteten  den  eindringenden  israeütischen  Nomaden  solchen 
Widerstand,  daß  diese  ihn  überhaupt  nur  teilweise 
zu   brechen   vermochten! 

(Kap.  3  f.)  Am  nächsten  Morgen  Aufbruch  aus  Schittim 
(den  ,, Akazien")  an  den  Jordan.  Rast.  Nach  drei  Tagen 
erließen  die  Ordner  des  Volkes  im  Lager  den  Befehl: 
,, Sobald  ihr  die  Bundeslade  seht,  getragen  von  den  levi- 
tischen  Priestern,  dann  brechet  auf  und  ziehet  hinter  ihr 
drein  mit  einem  Abstand  von  zirka  2000  Ellen  (d.  i.  zirka 
1000  m),2  sie  diene  euch  als  Wegweiser!"   Josua  gab  den 

1)  Siehe  Jos  ii^O;  „Von  selten  Jahos  geschah  es,  ihr  Herz  zu  ver- 
härten zum  Krieg  mit  Israel,  damit  man  ohne  Gnade  sie  bannen, 
ja  ausrotten  könne,  wie  Jaho  Mose  befohlen  hatte". 

^)  Nach  Berliner  Verhältnissen  eine  Entfemvmg  so  groß  wie  vom 
Brandenburger  Tor  nach  der  Universität. 


20  I-  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Priestern  entsprechenden  Befehl,  worauf  am  folgenden 
Tage  die  Priester  die  Lade  vor  dem  Volke  hertrugen  und 
gemäß  dem  Befehle  Josuas  am  Jordan  stillstanden,  so- 
bald sie  den  äußersten  Rand  des  Jordanwassers  erreicht 
hatten,  welches  ebendamals  zur  Erntezeit  weit  über  seine 
Ufer  getreten  war.  Und  siehe!  sobald  die  Fußsohlen  der 
Priester  das  Wasser  berührten,  wurden  die  von  oben  her 
kommenden  Wasser  fern  unweit  der  Ortschaft  Zaretan 
jählings  abgeschnitten  und  standen  aufrecht  wie  ein  Wall, 
während  sie  nach  Süden  hin  zum  Toten  Meere  abflössen 
(Anm.  ii).  So  gelangten  die  Priester  mit  der  Lade  und 
hinter  ihnen  drein  bzw.  an  ihnen  vorüber  das  Kriegsvolk 
trockenen  Fußes  durch  den  Jordan.  Die  Lade  selbst  hatte 
in  der  Mitte  des  Flusses  Halt  gemacht.  Sobald  auch  die 
Priester  das  trockene  Land  erreicht  hatten,  kehrte  der 
Jordan  in  seine  frühere  Strömung  zurück  und  trat  von 
neuem  über  seine  Ufer.  Warum  Jaho  solchen  Wert  darauf 
legte,  daß  die  israelitischen  Wüstensöhne  trockenen 
Fußes  den  Jordan  überschritten,  ist  schwer  einzusehen. 
Denn  ein  nennenswertes  Hindernis  koimte  der  Übergang 
über  den  Jordan  nicht  bilden.  Ströme,  auch  noch  so  breit 
und  reißend,  pflegten,  wenigstens  bei  den  übrigen  Völkern 
Vorderasiens,  keinerlei  Hemmnis  der  Kriegsführung  zu 
büden,  wie  ja  auch  die  Amoriter  augenscheinlich  gar  nicht 
daran  dachten,  den  Israeliten  gleich  am  Ufer  des  Jordans 
entgegenzutreten  und  ihnen  den  Übergang  zu  wehren 
oder  wenigstens  zu  erschweren.  Wenn  die  beiden  Kund- 
schafter sowohl  auf  dem  Hin-  wie  auf  dem  Rückweg  ohne 
Schwierigkeit  den  Jordan  passierten,  obwohl  dieser  Hoch- 
wasser führte,  so  kotmten  dies  Hunderte  und  Tausende 
genau  so  gut.  Überdies  besaß  der  Jordan  gerade  Jericho 
gegenüber  mehrere  (nämlich  fünf)  auch  vom  Alten  Testa- 
ment bezeugte  Furten  (Jos  2  '),  die  sich  ebendieser  Stelle 
gemäß  auch  die  Kundschafter  trotz  des  Hochwassers 
zunutze  gemacht  hatten.  —  Es  wird  dann  noch  weiter  er- 
zählt, daß  zur  ewigen  Eriimerung  an  dieses  wunderbare 


Der  Übergang  über  den  Jordan.  21 

Ereignis,  das  zu  dem  ebenso  wunderbaren  Durchzug 
Israels  durch  das  sog.  Schilf meer  ein  Seitenstück  bildet, 
je  ein  Mann  von  jedem  Stamme  von  dort,  wo  die 
Priester  inmitten  des  Jordans  stillgestanden  hatten,  je 
einen  Stein  auf  seine  Schultern  nehmen  solle,  und  daß 
dann  diese  zwölf  Steine  im  nächsten  Nachtquartier 
namens  Haggilgal  aufgestellt  worden  seien.  Nach  einer 
anderen  Sage  (schon  das  Nebeneinander  beider  Erzählungen 
charakterisiert  dieselben  als  Sagen)  hätte  Josua  selbst 
zwölf  Steine  mitten  im  Jordan  auf  dem  Halteplatze 
der  Priester  aufgerichtet. 

Am  zehnten  Tage  des  ersten  Monats  ward  Kanaan  be- 
treten.^ Und  zwar  war,  wie  gesagt,  Haggilgal  am  Ost- 
ende von  Jericho  die  erste  Station.  Dort  schlug  Josua 
für  die  Zeit  seiner  nächstfolgenden  Unternehmungen  sein 
Hauptquartier  auf. 

Kap.  5  begirmt  mit  der  wunderlichen  Erzählimg,  daß 
vor  dem  Weiterzuge  alles  Märmliche  mit  steinernen 
Messern  beschnitten  worden  sei,  da  die  Nachkommen  der 
während  des  vierzigjährigen  Wüstenzuges  gestorbenen 
ersten  Generation  unbeschnitten  geblieben  waren.  Wie 
das  letztere  der  Fall  sein  konnte,  darauf  gibt  kein  Grübeln 
auch  nur  den  Schein  einer  befriedigenden  Antwort.  Ge- 
rade während  des  Wüstenzuges  mit  seinen  vielen,  monate- 
langen Aufenthalten  an  allen  einzelnen  Stationen  hinderte 
rein  gar  nichts,  die  wie  bei  vielen  alten  Völkern:  den 
Ägyptern,  Tyrem,  Arabern,  so  auch  bei  den  Hebräern 
eingebürgerte  Sitte  der  Beschneidung  auszuführen,  oder, 
um  mit  dem  Alten  Testamente  zu  reden,  den  von  Jaho 
schon  mit  Abraham  geschlossenen  bindenden  Vertrag  zu 
erfüllen,  demgemäß  ,, alles  Mäniüiche  im  Alter  von  acht 
Tagen  zu  beschneiden",  ,,ein  unbeschnittener  Mann 

1)  Wo  die  vielen  Tausende  von  Frauen  imd  Kindera  und  alle  die 
Herden  der  9^2  Stämme  beim  und  nach  dem  Übergang  über  den  Jordan 
blieben,  wird  zwar  nirgends  gesagt,  doch  läßt  sich  ihre  Mitanwesenheit 
in  dem  eroberten  imd  zerstörten  Jericho  aus  Jos  7'^*  schließen. 


22  !•   Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

aber  aus  seinen  Volksgenossen  ausgetilgt  werden  solle" 
(Gen  17^2-14^  ygi  21^)  —  erst  jetzt,  und  zwar  unmittelbar 
nach  dem  ersten  Betreten  des  feindlichen  Bodens,  in  un- 
mittelbarer Nähe  des  Feindes,  das  ganze  Heer  mit  Ein- 
schluß der  männlichen  Kinder,  also  etwa  eine  Million 
Menschen  sich  gegenseitig  beschneidend  und  zu  tage- 
langer Ruhe  verurteilt  sich  vorzustellen,  fällt  schwer.  Die 
ganze  Erzählung  ist  wahrscheinlich  als  eine  der  vielen, 
Ortsnamen  zuliebe  erfundenen.  Sagen  zu  fassen.  Auf  dem 
Westufer  des  Jordans  lag  nämlich  ein  Hügel,  genannt  Hügel 
der  'Araloth,  das  man  als  „Hügel  der  Vorhäute"  deuten 
zu  sollen  glaubte  —  eine  etymologische  Wortspielerei,  die 
an  der  im  gleichen  Zusammenhange  sich  findenden  haar- 
sträubenden Etymologie  des  Namens  Haggilgal  ein  wür- 
diges Gegenstück  hat. 

Es  wird  dann  noch  weiter  erzählt,  daß  am  14.  des  ersten 
Monats  das  Passahfest  gefeiert  worden  sei,  und  daß  die 
Kornvorräte  des  Landes  das  weitere  Herabfallen  des 
„Himmelsbrotes"  oder  Mannas  entbehrlich  gemacht  hätten. 
Bei  der  Feier  des  Passahfestes  erinnert  man  sich  an  die 
schier  unglaubliche,  aber  durch  2  Kö  23^^  authentisch  be- 
glaubigte Tatsache,  daß  ,,seit  den  Tagen  der  Richter,  die 
Israel  gerichtet,  und  während  der  ganzen  Zeit  der  Könige 
von  Israel  und  Juda  bis  zum  18.  Jahre  des  Königs  Josia 
kein  solches^  Passahfest  gefeiert"  worden  war.  Für 
die  Richterzeit  ist  dies  ja  begreiflich,  da  diese  Zeit  auch 
der  hebräischen  Geschichtsschreibung  als  eine  Zeit  voll- 
kommenster Gesetzlosigkeit  galt  (s.  2  Chr  15^  und  S.  50). 
Auch  für  das  Reich  Israel  begreift  es  sich.  Aber  daß  selbst 
zur  Zeit  der  Könige  David  und  Salomo  und  ihrer  Nach- 
folger trotz  des  Tempels  auf  Zion  und  der  jerusalemischen 
Priesterschaft  das  bedeutsamste  Fest  Israels,  das  Passah- 
fest, so  vollständig  in  Vergessenheit  geraten  war,  nachdem 
es  noch  beim  Betreten  Kanaans  gefeiert  worden,  muß 
äußerst  nachdenklich  stimmen. 

^)  „Kein  solches",  näml.  wie  es  das  Deuteronomium  fordert  (V.  21). 


Die  UmkreisuuK  Jerichos.  23 

Das  Ende  des  Kap.  5  enthält  noch  das  Bruchstück 
einer  Erzählung,  derzufolge  der  Feldhauptmann  Jahos  mit 
gezogenem  Schwerte  Josua  bei  Jericho  begegnet  sei  und 
Josua  ihn  angerufen  habe:  „Freund  oder  Feind?",  worauf 
der  Feldhauptmann  Jahos  sich  als  solchen  zu  erkennen 
gegeben  und  ihm  befohlen  habe,  seine  Sandalen  auszu- 
ziehen, da  die  Stätte,  auf  der  er  stehe,  heilig  sei.  Fort- 
setzung und  Schluß  fehlen. 

Es  folgt  Kap,  6,  Jericho  war  ummauert  und  fest  ver- 
schlossen, also  für  einen  Angriff  von  Kriegern,  die  nur  mit 
Schwert  bewaffnet  waren,  uneinnehmbar,  aber  die  Stadt 
fällt  auf  besonders  wunderbare  Weise.  Jaho  befiehlt  näm- 
lich Josua,  daß  sämtliche  ICrieger  sechs  Tage  hindurch 
je  einmal  am  Tage  die  Stadt  lautlos  umschreiten  sollten, 
während  sieben  Priester  sieben  Widderhörner  vor  der 
Lade  Jahos  einhertrügen.  Am  siebenten  Tage  aber  sollten 
die  Krieger  siebenmal  die  Stadt  umschreiten,  beim  siebenten 
Mal  die  sieben  Priester  in  die  Hörner  stoßen,  die  Elrieger 
gleichzeitig  in  Kriegsgeschrei  ausbrechen,  worauf  die 
Stadtmauer  einstürzen  werde.  So  geschah  es.  Hinter  den 
Bewaffneten,  die  wir  uns  etwa  in  Reihen  zu  fünf  geordnet 
zu  denken  haben  (Anm.  12),  schritten  die  sieben  fort- 
während in  die  sieben  Widderhörner  stoßenden  Priester, 
gefolgt  von  der  von  Priestern  getragenen  Lade,  und  hinter 
dieser  eine  Nachhut  (Anm.  13),  ebenfalls  fortwährend  in 
Widderhörner  stoßend.^  So  geschah  es  sechs  Tage  lang. 
Am  siebenten  Tage  begannen  die  Umzüge  gleich  beim  Er- 
scheinen des  Morgenrots.  Beim  siebenten  Umzug  Hörner- 
klang mit  gleichzeitigem  lauten  Kriegsgeschrei  —  sofort 
stürzte    die  Mauer  in    sich  zusammen, ^  das   Kriegs volk 


*)  Beachte  hier  die  häßliche  Ineinandermengvmg  zweier  ganz  ver- 
schiedener Berichte.  Als  richtig  ist  gewiß  nur  der  erste  anzuerkennen, 
demzufolge  die  Umzüge  an  den  ersten  sechs  Tagen  absolut  lautlos  vor 
sich  gingen,  sowohl  seitens  der  Krieger  als  auch  seitens  der  Priester. 

2)  Auch  sonst  stürzen  im  Alten  Testament  Stadtmauern  ein,  ohne 
daß  über  das  Wie  Rechenschaft  gegeben  würde.    Als  die  geschlagenen 


24  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

dringt  in  die  Stadt,  die  ganze  Stadt,  mit  Ausnahme  der 
in  Rachabs  Hause  Befindlichen,  wird  gebannt,  d.  h.  Mann 
und  Weib,  Jüngling  und  Greis,  Rind,  Schaf  und  Esel 
werden  erbarmungslos  mit  dem  Schwerte  niedergemacht, 
das  Gold,  Silber,  die  kupfernen  und  eisernen  Geräte  ver- 
fallen dem  Schatze  Jahos,  die  Stadt  selbst  wird  verbrannt 
und  für  ewige  Zeiten  als  nie  wieder  aufzubauen  verflucht.  * 
Diese  Erzählung  von  der  Einnahme  Jerichos  ist  wohl 
das  Äußerste,  was  orientalischer  bzw.  israelitischer  Wunder- 
glaube dem  blindgläubigen  Verstände  der  Leser  des  Alten 
Testamentes  zugemutet  hat.  Wir  sind,  was  die  Wimder- 
kraft der  sog.  Bundeslade  betrifft,  jenes  hölzernen  Kastens, 
in  welchem  sich  die  zwei  Gesetzestafeln  befanden,  schon 
durch  eine  andere  Erzählimg  belehrt  worden,  daß  wir  es  hier 
nicht  mit  Geschichte,  sondern  mit  Märchen  zu  tun  haben. 
Ich  meine  die  Erzählung  im  5.  und  6.  Kap.  des  i.  Buches 
Samuelis.  Als  zu  Samuels  Zeit  die  Lade  in  die  Hände  der 
Philister  fiel  und  von  diesen  in  den  Tempel  des  Gottes 
Dagon  zu  Asdod  verbracht  worden  war,  fiel  das  Dagons- 
bild  zu  Boden  und,  von  neuem  aufgerichtet,  brach  es  in 
Bruchstücken  zusammen.  Überdies  wurden  die  Bewohner 
der  Stadt  und  des  Stadtgebietes  mit  Beulen  geschlagen. 
Als  dann  die  Lade  nach  Gath  verbracht  wurde,  brachen 
auch  bei  den  dortigen  Bewohnern,  groß  und  klein,  die 
Beulen  aus.  Das  gleiche  wiederholte  sich  in  Ekron,  also 
daß  „das  Wehgeschrei  der  Stadt  zum  Himmel  empor- 
stieg". Nach  sieben  Monaten  entschlossen  sich  die  Philister, 
die  Lade  wieder  außerhalb  ihres  Landes  zu  bringen,  und 
zwar  rieten  ihre  Priester  und  Wahrsager,  gemäß  der  Zahl 
der  Philisterstädte  fünf  goldene  Beulen  und  fünf  goldene 


Aramäer  unter  Benhadadll  nach  der  Stadt  Apheq  in  der  Ebene  Jezreel 
fliehen,  stürzt  die  Stadtmauer  ein  und.  begräbt  unter  sich  den  ganzen 
Rest  der  Entflohenen,  27  000  Mann  (i  Kö  20^**)  I 

^)  Ein  prophetischer  Fluch  auf  Grund  des.  i  Kö  16'*  erzählten  Er- 
eignisses, überdies  in  Widerspruch  mit  der  Tatsache,  daß  die  „Palmen- 
stadt" Jericho  niemals  aufhörte  zu  existieren  (s.  z.  B.  Ri  3"  2Sa  10'). 


Die  wundertätige  Buudeslade.  25 

Mäuse  (offenbar  ein  zweites  Strafgericht,  das  über  das 
Philisterland  gekommen  war)  der  Lade  als  Sühnegeschenk 
mit  auf  den  Weg  zu  geben  und  sie  dann  auf  einem  neuen 
Wagen  von  zwei  Kühen,  auf  die  noch  kein  Joch  gekommen, 
über  die  Grenze  bringen  zu  lassen.  Dabei  sollte  jedoch 
eine  Probe  gemacht  werden:  gingen  die  Kühe  geraden- 
wegs nach  Beth-Schemesch,  dem  israelitischen  Grenzort, 
so  hatte  wirklich  Jaho  solches  Leid  über  Philistäa  ge- 
bracht, wo  nicht,  liege  ein  bloßer  Zufall  vor.  ,,Da  liefen 
die  Kühe  geradeaus  in  der  Richtung  nach  Beth-Schemesch, 
immer  gingen  sie  auf  der  gebahnten  Straße,  imaufhörlich 
brüllend,  ohne  nach  rechts  oder  links  abzubiegen;  die 
Fürsten  der  Philister  aber  folgten  ihnen  bis  in  das  Gebiet 
von  Beth-Schemesch".  Aber  auch  dort  war  das  Unheil, 
das  die  Lade  anrichtete,  noch  nicht  zu  Ende.  Etliche  Leute 
der  Grenzortschaft  ^  besahen  sich  die  Lade,  zur  Strafe 
wofür  Jaho  70  Mann  von  ihnen  schlug;  einem  anderen 
,, Berichte"  zufolge  hätte  Jaho  ,,im  Volke"  sogar  eine 
Niederlage  von  50000  Marm  (!)  angerichtet  (6^^).  Schon 
die  letzte  Differenz  erweist  die  ganze  Erzählung  als  Mär- 
chen. An  einer  anderen  Stelle  (2  Sa  6^')  wird  erzählt, 
daß,  als  einer  der  beiden  Männer,  die  den  Wagen  mit 
der  Lade  Gottes  kutschierten,  die  Lade  in  bester  Absicht, 
wohl  um  sie  vor  dem  Herabfallen  zu  bewahren,  berührte, 
er  sofort  tot  zusammenbrach.  Für  was  anderes  als  Märchen 
könnten  ja  diese  Erzählungen  von  der  todwirkenden 
magischen  Kraft  der  Bundeslade  auch  gelten,  nachdem 
die  Geschichte  gelehrt  hat,  wie  bei  der  Eiimahme  Jeru- 
salems durch  Nebukadnezar  die  Wunderkraft  der  Lade 
vollkommen  versagte!  Auch  für  die  Propheten  (beachte 
Jer  3^*"-)  hatte  sie  ihre  Rolle  ausgespielt. 

In  noch  höherem  Maße  erhellt  der  Sagen-  oder  Märchen- 
charakter bei  der  Erzählung  von  der  Eirmahme  Jerichos. 
Sie  strotzt  von  Unmöglichkeiten.   Jericho,  die  erste 

^)  Nach  der  griechischen  Bibelübersetzung  die  Söhne  Jechonjas. 


20  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

und  wichtigste  Grenzfestung  des  Landes,  völlig  ausge- 
storben !  Kein  Ausfall,  wie  ihn  doch  sogar  die  Bewohner  des 
noch  viel  kleineren  Nachbarstädtchens  Hä-'Ai  zweimal 
machten !  kein  Bogenschütze  auf  der  Mauer  der  Stadt,  der 
auch  nur  den  Versuch  gemacht  hätte,  die  Stadt  zu  ver- 
teidigen, oder  den  wenigstens  die  Neugierde  getrieben  hätte, 
die  feierliche  Prozession  rings  um  die  Stadtmauer  mit  anzu- 
sehen! Ganz  Jericho,  König  und  Krieger,  während  der 
ganzen  siebentägigen  Prozession  sozusagen  vom  Erdboden 
verschwunden!  Und  nun  erst  gar,  wenn  wir  uns  die 
näheren  Einzelheiten  klar  machen !  Wie  die  Ausgrabimgen 
der  Deutschen  Orient-Gesellschaft  gelehrt  haben,  beträgt 
der  Umfang  der  Mauern  von  Jericho  nur  etwa  750  Meter. 
Da  sich  die  Prozession  doch  wohl  auf  Bogenschußweite  von 
der  Mauer  ferngehalten  haben  wird,  die  Weite  eines  Bogen- 
schusses aber  kaum  mehr  als  40  Meter  zu  rechnen  ist, 
dürfte  in  diesem  Abstände  die  zu  den  Mauern  konzentrische 
Linie  eine  Länge  von  rund  1000  Metern  gehabt  haben.  An 
sich  würde  ein  Mann  zum  Umwandeln  der  Länge  von 
I  Kilometer  nur  rund  10  Minuten  gebrauchen,  aber  es 
steht  ja  ausdrücklich  geschrieben,  daß  alle  Krieger  die 
Stadt  umschreiten  sollten,  d.  h.  also  —  die  9V2  Stämme 
mit  den  40  000  Mann  der  2  V«  Stämme  zusammengerechnet 
—  531 150.  Nehmen  wir  nun  an,  daß  dieses  Heer  in  Gliedern 
zu  fünf  marschierte  (siehe  S.  23),  so  bedeutet  dies  eine 
Marschtiefe  von  106230  Mann  und,  da  man  nicht  anders 
als  mit  wenigstens  einem  Schritt  Abstand  marschieren 
kann,  eine  Kolonne  von  106  230  Schritt  Länge.  Den 
Schritt  wiederum  normal  zu  0,80  Zentimetern  angenommen, 
bedeutet  das  eine  Länge  von  84,384  Kilometern,  d.  h. 
die  Kolonne  ist  84,4  oder  rund  90  mal  so  lang  wie 
der  zu  umwandelnde  Weg.  Es  würde  also  15  Stunden 
dauern,  bis  das  letzte  Glied  der  Kolonne  an  der  Stelle 
des  ersten  GUedes  angelangt  ist,  wozu  dann  noch  die 
10  Minuten  für  den  Umzug  kommen.  Wenn  aber  eine 
einzige  Umwandlung  der  Stadt  15  Stunden  10  Minuten 


Jericho  fällt  durch  Verrat.  27 

kostete  —  wie  konnte  dann  Jericho  an  Einem  Tage  siebenmal 
umwandelt  werden  (Anm.  14)  1  Das  alles  ist  so  wunderbar 
wie  das  Zusammenstürzen  der  Mauer  durch  bloßen  Hörner- 
schall. Nein!  Für  jeden,  der  in  der  Geschichtsschreibung 
jener  alten  Völker  einigermaßen  bewandert  ist,  steht  diese 
wundersamste  aller  Wundererzählungen  auf  ganz  der  näm- 
lichen Linie  wie  die  persische  Erzählung  von  der  Erobe- 
rung Babylons.  Wer  kennt  nicht  den  langatmigen  Bericht 
Herodots  über  die  Einnahme  Babylons  durch  Cyrus:  wie 
Cyrus  den  Euphrat  oberhalb  der  Stadt  habe  ableiten 
lassen  und  wie  dann  das  persische  Heer  zur  Nachtzeit, 
während  die  Bewohner  Babylons  ein  großes  Fest  feierten, 
in  die  Stadt  eingedrungen  und  plötzlich  an  allen  Orten  und 
Enden  aufgetaucht  seien!  während  wir  jetzt  den  authen- 
tischen Bericht  der  Belspriester  von  Babylon  in  Händen 
haben,  demzufolge  die  Stadt  durch  Verrat  in  die  Hände 
des  Perserkönigs  fiel!  Kein  siegreiches  Volk  gesteht  gern 
zu,  daß  ihm  die  Eroberung  der  feindlichen  Feste  lediglich 
durch  Verrat  ihrer  Einwohner  geglückt  sei,  geschweige 
denn  in  einem  Falle,  wie  dem  von  Jericho,  wo  es  sich  tun 
eine  ganz  kleine  Grenzfestung  handelt.  So  klein  Jericho 
war  (Anm,  14),  so  konnte  es  doch,  weil  ummauert,  selbst 
einem  so  übergewaltig  überlegenen  Heere,  wie  dem  israeli- 
tischen, längere  Zeit  Widerstand  leisten,  und  die  Bogen- 
schützen auf  den  Zinnen  der  Mauer  konnten  den  An- 
greifern, die  nur  mit  Schwertern  bewaffnet  waren,  schwer- 
sten Schaden  zufügen.  Die  Möglichkeit,  die  Mauer  zu 
unterminieren  oder  zu  erklettern,  war  jedenfalls  aus- 
geschlossen, und  dem  Stadttore  so  sich  zu  nahen,  daß  man 
den  Versuch  machen  konnte,  Feuer  anzulegen,  wäre  ohne 
die  schwersten  Verluste  auch  kaum  möglich  gewesen.  Des- 
halb der  Besuch  der  beiden  Kundschafter  bei  Rachab, 
deren  Haus  innerhalb  der  Mauer  gelegen,  deshalb  die 
Kenntlichmachung  dieser  Mauerstelle  durch  den  karmesin- 
f  arbenen  Knäuel  —  eine  List  seitens  Josuas  bzw.  ein  Verrat 
seitens  Rachabs  brachte  Jericho  zu  Fall,  aber  lücht  „die 


28  I-  Israels  Bindringen  in  Kanaan. 

starke  Hand  und  der  ausgestreckte  Arm"  Jahos.  Die  Er- 
zählung des  Buches  Josua  ist  eine  Sage,  die  den  geschicht- 
lichen Hergang  zum  größeren  Ruhme  Israels  und  des 
israelitischen  Nationalgottes  verschleiert.  Der  Unterschied 
zwischen  Wahrheit  und  Dichtimg  kann  in  krasserer  Weise 
kaum  veranschaulicht  werden  als  durch  die  Erzählung  vom 
Falle  Jerichos.  Die  Dichtimg  lautet:  Einsturz  der  Mauern 
Jerichos  durch  die  Macht  der  von  Priestern  siebenmal 
um  sie  herumgetragenen  Bundeslade;  die  Wahrheit  da- 
gegen :  Eroberung  mittels  Verrats  einer  zu  diesem  Zwecke 
bestochenen  Hure, 

Das  einzigste,  was  selbst  aus  dieser  Sage  vom  Falle 
Jerichos  zu  lernen  ist,  ist  die  bedeutungsvolle  Tatsache, 
daß  damals,  als  die  Erzählung  niedergeschrieben  wurde, 
das  strenge  Sabbathgebot  noch  kaum  bekannt  gewesen 
sein  konnte.  Denn  wie  hätten  sonst  die  Priester  am 
siebenten  Tage  die  Lade  Jahos  um  die  Mauer  von  Jericho 
tragen  können,  da  doch  —  für  die  Priester  in  erster  Linie  — 
geschrieben  steht:  „Du  sollst  den  Sabbathtag  heiligen", 
und  jeder,  der  eine  Arbeit  an  ihm  verrichtet,  getötet 
werden  sollte  (Ex  31^^352)? 

Nach  diesen  beiden  phantastischen  Wundererzählungen 
vom  Übergang  über  den  Jordan  und  von  der  Einnahme 
Jerichos  beginnt  mit  Kap.  7  der  den  Leser  in  die  rauhe 
Wirklichkeit  versetzende  geschichtliche  Bericht  von  dem 
weiteren  Verlauf  des  Eindringens  der  israeUtischen  No- 
madenhorden in  Kanaan. 

Es  wird  zunächst  erzählt,  daß  ein  nach  vorhergegangener 
Auskundschaftung  von  Josua  gegen  das  benachbarte 
Städtchen  Hä-'Ai  gesandter  kleinerer  Heerhaufen  von  zirka 
3000  Mann  seitens  der  Amoriter  wider  Erwarten  eine 
Schlappe  erlitt  (die  Israeliten  flohen  und  verloren  36  Mann), 
was  bei  Josua  und  den  übrigen  Führern  des  Volkes  die 
größte  Entmutigimg  auslöste.  Der  Mißerfolg  war  nach 
der  Darstellung  des  Geschichtsschreibers  die  göttliche 
Strafe  dafür,  daß  ein  gewisser  Achan  vom  Stamme  Juda 


Der  Kampf  gegen  Hä-'Ai.  20 

trotz  des  über  Jericho  verhängten  Bannes  sich  an  der 
Beute  vergriffen  und  einen  babylonischen  Mantel,  eine 
Goldzunge  im  Gewichte  von  50  Sekeln  und  außerdem 
200  Sekel  Silber  sich  angeeignet  hatte.  Erst  nachdem  die 
Verletzung  der  auch  damals  als  unerläßlich  geforderten 
militärischen  Disziplin  gesühnt,  Achan  durch  das  Los  als 
Dieb  entlarvt  und  an  ihm  mitsamt  seinen  Söhnen  und 
Töchtern,'  seinem  Rinde,  Esel  und  Kleinvieh  die  Strafe 
der  Steinigung  unter  der  Mitwirkung  von  ganz  Israel  voll- 
zogen worden,  zieht  Josua  —  diesmal  mit  dem  ganzen 
Kriegs  Volke  —  abermals  gegen  den  König  von  Hä-'Ai.  Ein 
Hinterhalt  wird  während  der  Nacht  im  Rücken  der  Stadt 
gegen  Westen,  nicht  sehr  weit  von  ihr  entfernt,  gelegt 
(auf  30000  Mann  beziffert  einer  der  beiden  „Berichte"  die 
Zahl  des  Hinterhaltes,  der  andere  begnügt  sich  mit  5000), 
während  Josua  selbst  bei  der  Hauptmacht  verblieb.  Die 
Stadt  wird  von  Norden  her  angegriffen.  Die  Bewohner  von 
Hä-'Ai  ziehen  den  Angreifern  entgegen.  Israel  flieht  wie 
das  erstemal,  doch  diesmal  nur  zimi  Schein.  Die  Bewohner 
der  Stadt  sehen  Israel  von  neuem  fliehen,  verlassen  ins- 
gesamt, Israel  zu  verfolgen,  ihre  Stadt,  ohne  diese  zu  ver- 
schließen. Auf  ein  Zeichen,  das  Josua  mit  seinem  Wurf- 
spieße gibt,  brach  nunmehr  der  Hinterhalt  aus  seinem 
Verstecke,  überfiel  die  geöffnet  gebliebene  Stadt  und  steckte 
sie  in  Brand.  Die  von  Josua  selbst  befohlene  Kriegslist 
(Anm.  15)  war  vollständig  gelungen.  Als  die  Verfolger 
sich  umwandten  und  den  Rauch  ihrer  Stadt  zum  Himmel 
emporsteigen  sahen,  sahen  sie  sich  gleichzeitig  von  beiden 
Seiten  angegriffen.  Nach  keiner  von  beiden  zu  fliehen  im- 
stande, wurden  sie  bis  auf  den  letzten  Mann  niedergemacht. 
Darauf  wurden  die  übrigen  Bewohner  der  Stadt  erschlagen, 
sodaß  sich  die  Gesamtzahl  der  an  jenem  Tage  umge- 
kommenen Männer  und  Frauen  auf  12  000  ( !  s.  Anm.  14 
Schluß)  belief.    Das  Vieh  und  die  sonstige  Beute  verblieb 


*)  Widerspruch  mit  dem  Gesetze    Dt  24 1°  (siehe  Anhang  Nr.  12). 


ßo  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

diesmal  dem  Kriegsvolk.  Der  König  von  Hä-'Ai,  der  seine 
Stadt  pflichtgemäß  so  tapfer  verteidigt  hatte,  wird  vor 
Josua  gebracht  imd  gehängt,  sein  Leichnam  bei  Sonnen- 
untergang vom  Pfahle  herabgenommen,  an  den  Toreingang 
geworfen  und  mit  einem  groiBen  Steinhaufen  zugedeckt. 
Die  Stadt  selbst  machte  Josua  zu  einer  „Ruinenstätte 
für  ewig". 

Es  folgt  hier  (8^""^^)  ein  Einschiebsel,  welches  lehrt, 
welchen  Grad  von  Gutgläubigkeit  oder  richtiger  Urteils- 
losigkeit die  Überarbeiter  tmd  Schlußredakteure  der  hebräi- 
schen Schriftdenkmäler  bei  ihren  Lesern  voraussetzen 
durften,  um  sie  mit  ihren  Geschichts Verschiebungen  zu 
täuschen.  ,, Damals"  —  so  lesen  wir,  d.  h,  als  die  israeliti- 
schen Nomadenstämme  unter  schweren  Kämpfen  eben  be- 
gonnen hatten,  sich  den  Weg  in  das  Westjordanland  zu 
bahnen  —  „baute  Josua  Jaho,  dem  Gotte  Israels,  einen 
Altar  auf  dem  Berge  Ebal",  einem  bekanntlich  bei 
Sichem,  etwa  zwei  Tagereisen  von  Israels  damaligem  Stand- 
orte mitten  in  Feindesland  belegenen  Berge !  Er  baute  ihn 
aus  unbehauenen  Steinen,  brachte  Opfer  auf  ihm  dar 
und  schrieb  auf  die  ( !)  Steine  (welche  Steine  gemeint  sind, 
wurde  bei  der  Einschiebung  ganz  vergessen  zu  sagen)  „die 
Wiederholung  C  eth  misne)  ^  des  Gesetzes  Mosis",  d.  i. 
das  sog.  Deuteronomium,  das  Moses  kurz  vor  dem  Über- 
gang über  den  Jordan  geredet  und  niedergeschrieben  haben 
soll.  Ganz  Israel  —  so  wird  weiter  erzählt  —  mit  seinen 
Ältesten,  Richtern  usw.,  seinen  Weibern  und  kleinen 
Elindern  hätten  zur  Seite  der  Bundeslade  gestanden,  die 
eine  Hälfte  der  Versammlung  gegenüber  dem  Berge 
Garizim,  die  andere  gegenüber  dem  Berge  Ebal.  Nach 
Segnung  des  Volkes  habe  Josua  die  ganze  Thora  vorge- 
lesen. Das  Einschiebsel  verfolgt  den  Zweck,  dem  Dt  ii^' 
und  Kap.  27  Mose  in  den  Mund  gelegten  Befehl  zur  Aus- 
führung zu  verhelfen,  aber  ein  unglücklicherer  Platz  als 

^)  Kautzsch's  Bibelübersetzung:  „eine  Abschrift  des  Gesetzes  Mosis", 
aber  s.  zum  „Königsgesetz"  (Nr.  98  des  Anhangs). 


Die  List  der  Gibconitcn.  ^j 

Jos  Kap.  8  konnte  unmöglich  gewählt  werden.  Da  der 
Überarbeiter  ganz  genau  wußte,  daß  die  hier  gemeinte 
Thora  Mosis  erst  fast  700  Jahre  nach  Josua  verfaßt  wurde, 
liegt  hier  eine  grobe  Täuschung  des  leichtgläubigen  Lesers 
vor.  Beiläufig  bemerkt,  sollten  gemäß  Dt  27  große,  mit 
Kalk  übertünchte  (!)  Steine  auf  dem  Berge  Ebal  aufge- 
richtet und  in  sie  ,,alle  Worte  dieses  Gesetzes"  sorgfältig 
eingegraben  (!)  werden,  was  so  unklar  und  mißverständ- 
lich wie  möglich  ist.  Gemeint  dürften  die  in  Vers  15 — 26 
geschriebenen  12  Flüche  sein,  woraus  vielleicht  auf  Auf- 
stellung von  12  Steinen  geschlossen  werden  darf. 

Der  Erfolg  der  israelitischen  Stämme  am  Jordan  ver- 
anlaßte  die  Könige  des  West  Jordanlandes  im  Gebirge,  in 
der  Niederung  und  an  der  ganzen  Meeresküste  bis  hin 
zum  Libanon  zum  Zusammenschluß  gegen  den  gemein- 
samen Feind.  Bevor  aber  Josua  zu  weiteren  KJriegstaten 
schreitet,  wird  (Kap.  9*")  erzählt,  wie  die  Bewohner  von 
Gibeon  einer  List  sich  bedienten,  um  dem  allgemeinen 
Gemetzel  zu  entgehen.  Ihre  Abgesandten  kamen  zu  Josua 
in  dessen  Hauptquartier  nach  Haggilgal  und  sagten  Josua 
unter  Hinweis  auf  ihre  abgerissenen  EQeider,  Schuhe  usw., 
daß  sie  aus  sehr  fernem  Lande  kämen,  Jahos  Großtaten 
in  Ägypten  und  gegen  Sichon  und  Og  gehört  hätten,  ihre 
Unterwerfung  anböten,  aber  gleichzeitig  um  ein  friedliches 
Abkommen  bäten,  daß  ihr  Leben  geschont  werde.  ,,Ohne 
Jaho  zu  befragen",  schloß  Josua  einen  Vertrag  mit  ihnen, 
daß  er  sie  am  Leben  lassen  wolle,  und  die  Häupter  des 
Volkes  beschworen  den  Vertrag.  Aber  schon  drei  Tage 
später  wurde  bekannt,  daß  die  Gibeoniten  ganz  in  der 
Nähe,  nur  drei  kleine  Tagereisen  entfernt,  wohnten  —  Josua 
hatte  sich  täuschen  lassen,  und  die  Gibeoniten  wohnten 
fortan  unversehrt  inmitten  der  Israeliten,  diesen  als  Holz- 
fäller und  Wasserschöpfer  „für  das  Haus  Gottes"  (Jos  9^^), 
„für  die  Gemeinde  und  den  Altar  Jahos"  (9  2«)  dienend. 
Josua  verflucht  sie  zwar,  kann  aber  damit  nicht  ändern, 
daß  Jahos  eindringliches  Gebot  und  immer  wiederholte 


22  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Verheißung,  daß  alle  Einwohner  des  Landes  vor  Israel 
her  vernichtet  werden  sollten  (9^*),  zum  ersten  Male  durch- 
kreuzt war:  die  „große  Stadt"  (10 2)  Gibeon  nebst  den 
zugehörigen  Ortschaften  Hakkefira,  Beeroth  und  Qirjath- 
Jearim  war  ihrem  Schicksal  glücklich  entrormen. 

(Kap.  IG.)  Adoni-Zedeq,  der  König  von  Jerusalem, 
fordert  Hoham,  den  König  von  Hebron,  Pir'am,  den  König 
von  Jarmuth,  Jafia,  König  von  Lakisch,  und  Debir,  König 
von  Eglon,  zu  einem  Bunde  auf,  um  Gibeon,  das  mit 
Josua  Frieden  geschlossen  und  sich  Israel  ergeben  hatte, 
zu  bestrafen.  Die  fünf  das  Gebirg  bewohnenden  Amoriter- 
könige  zogen  herauf  und  lagerten  sich  wider  Gibeon.  Die 
Gibeoniten  schicken  nach  Haggilgal  und  bitten  um  schleu- 
nigste Hilfe.  Josua  zieht  mit  seinem  ganzen  Kriegsheere 
die  ganze  Nacht  hindurch,  überrumpelt  den  Feind,  bringt 
ihm  vor  Gibeon  eine  große  Niederlage  bei  imd  verfolgt  die 
verbündeten  Feinde  in  der  Richtung  des  Aufstieges  von 
Beth-choron  bis  Azeqa  und  Maqqeda.  Als  sie  den  Abstieg 
von  Beth-choron  hinabflohen,  ließ  Jaho  „große  Steine 
vom  Himmel"  auf  sie  fallen  bis  nach  Azeqa,  und  es  kamen 
durch  die  Hagelsteine  (solche  dürften  gemeint  sein)  mehr 
um  als  durch  das  Schwert.  Nach  der  Erzählung  eines  jetzt 
verloren  gegangenen  Buches,  des  „Buches  des  Recht- 
schaffenen", hätte  damals  Josua  zu  Jaho  gebetet:  ,, Sonne! 
stehe  still  bei  Gibeon,  imd  Mond !  im  Tale  von  Ajjalon"  — 
Worte,  in  denen  man  bekanntlich  ein  Zeugnis  wider  das 
kopernikanische  Weltsystem  erkennen  zu  dürfen  wähnte. 
Aber  was  die  Erwähnung  des  Mondes  betrifft,  so  ist  diese 
nur  ein  stilistisches  Beiwerk  dem  Parallelismus  mit  der 
Sonne  zuliebe  (wie  wahrscheinlich  auch  Psi2i').  Die 
Bitte  aber,  daß  die  Sonne  ,,in  der  Mitte  des  Himmels" 
stehen  bleibe,  will  nur  poetisch  zum  Ausdruck  bringen, 
daß  der  Tag  voll  und  ganz  und  imverkürzt  zur  Verfolgung 
und  Vertilgung  der  Feinde  ausgenutzt  werden  könne. 
Denn  sie  wird  unmittelbar  darauf  von  dem  alttestament- 
lichen    Schriftsteller    selbst    dahin    erläutert,    daß    „die 


Das  Blutbad  in  Südpalästina.  oo 

Sonne  wie  an  einem  vollen  Tage  nicht  zum  Untergange 
drängte".  * 

Die  fünf  Könige  selbst  versteckten  sich  in  der  Höhle 
bei  Maqqeda.  Auf  diese  Meldung  hin  befahl  Josua,  den 
Eingang  mit  großen  Steinen  zu  verrammeln  und  zu  be- 
wachen, seine  Truppen  sollten  sich  aber  nicht  aufhalten, 
sondern  die  Feinde  verfolgen,  die  Nachzügler  nieder- 
machend, und  ihnen  die  Rückkehr  in  ihre  Städte  ab- 
schneiden. Nur  wenige  Entronnene  entgingen  der  großen 
Niederlage  und  erreichten  ihre  befestigten  Städte.  Josuas 
Krieger  kehrten  dann  zu  ihm  nach  Maqqeda  zurück.  Die 
fünf  Könige  werden  aus  der  Höhle  vor  Josua  gebracht, 
dieser  läßt  die  Anführer  seiner  Krieger  ihren  Fuß  auf 
ihren  Nacken  setzen,  worauf  die  Köiüge  getötet  und  bis 
zum  Abend  auf  fünf  Pfähle  gehängt  wurden.  Dann  wurden 
ihre  Leichen  abgenommen  und  in  die  Höhle  geworfen,  die 
abermals  mit  großen  Steinen  geschlossen  wurde. 

Noch  am  selben  Tage  fällt  Maqqeda  gleich  allen  sofort 
zu  nennenden  Städten  nach  heldenmütiger  Gegenwehr 
(„in  blutigem  Kampfe  erobert")  in  die  Hand  der  Sieger, 
sein  König  und  seine  Bewohner  werden  ,, gebannt",  d.  h. 
alles  mit  Einschluß  der  Frauen  und  unschuldigen  Kinder 
jeden  Lebensalters  wird  niedergemetzelt,  keiner  bleibt  am 
Leben.  Undmit  grausig  erMonotonie,  über  dieder  Bibel- 
leser durch  den  Ausdruck  „bannen"  hinweggetäuscht  wird, 
wird  dann  ebendasselbe  berichtet  von  den  Städten  Libna, 
von  Lakisch,  das  nach  zweitägiger  Belagerung  fällt  — 
alles  erbarmungslos  niedergemacht.  Horam,  der  Körüg 
von  Gezer,  eilt  Lakisch  zu  Hilfe  —  er  wird  gänzlich  ge- 
schlagen, kein  Flüchtling  entkommt.  Weiter  geht  der 
Zug  nach  Eglon,  das  belagert  und  am  gleichen  Tage  er- 
obert wird  —  alles  niedergemacht;  nach  Hebron  und  den 
zugehörigen  Ortschaften  —  Hebron  ebenfalls  ,,in  blutigem 

*)  Die  hier  folgende  Notiz  (V.  15),  daß  Josua  in  sein  Hauptquartier 
nach  Haggilgal  zurückgekehrt  sei,  ist  verfrüht,  sie  kehrt  V.  43  an  rich- 
tiger Stelle  wieder. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.      I  i 


OA  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Kampfe  erobert",  alles  gebannt,  kein  Lebewesen  entrinnt. 
Weiter  nach  Debir  —  alles  niedergemetzelt.  Das  ganze 
lyand:  Gebirg  und  Südland  und  Niederung  imd  die  Ge- 
birgsabhänge  werden  geschlagen  und  alle  beseelte  ELreatur 
gebannt,  ,,wie  Jaho,  der  Gott  Israels,  befohlen  hatte"  — 
von  Qadesch-Barnea  bis  Gaza  und  ganz  Goschen  bis  nach 
Gibeon  Ein  Blutmeer. 

Josua  kehrt  mit  dem  gesamten  Israel  zurück  in  das 
Hauptquartier  nach  Haggilgal. 

Mit  Ende  des  Kap.  lo  des  Buches  Josua  endet  der  erste 
Akt  des  Eroberungsdramas. 

Mit  Kap.  II  beginnt  der  Schlußakt. 

Josua  wendet  sich  nach  dem  Norden  des  Westjordan- 
landes. Eine  große  Liga  von  Königen  tritt  ihm  entgegen. 
Jabin,  König  von  Chazor,  hatte  sich  mit  Jobab,  König 
vonMadon,  den  Königen  von  Schimron  und  Akschaf,  weiter 
den  Königen  nördlich  im  Gebirge  und  in  der  Steppe  süd- 
lich von  Genezareth,  ferner  dem  Könige  von  Dor  am 
Mittelmeer,  den  Kanaanitern  im  Osten  und  Westen,  den 
Amoritern,  Hettitern,  Perizzitern  und  Jebusitern  (?)  auf 
dem  Gebirge  und  den  Chiwwitern  am  Fuße  des  Hermon 
im  Lande  Mizpa  verbündet.  Sie  zogen  mit  allen  ihren 
Kriegern  aus,  zahlreich  wie  der  Sand  am  Meere,  dazu  sehr 
viele  Rosse  und  Wagen.  Am  Gewässer  Merom  stellten 
sie  sich  zum  Kampf  wider  Israel.  Aber  plötzlich  über- 
fallen, wurden  sie  geschlagen  und  nach  allen  Winden,  bis 
nach  Groß-Sidon  im  Westen  und  bis  zum  Tale  von  Mizpe 
im  Osten,  verfolgt,  bis  auf  den  letzten  Mann  niedergemacht, 
ihren  Pferden  die  Sehnen  durchhauen,  die  Wagen  ver- 
brannt. Darauf  wandte  sich  Josua  gegen  Chazor,  den 
Mittelpunkt  des  feindlichen  Widerstandes,  „das  Haupt 
aller  Königreiche",  eroberte  die  Stadt,  erschlug  ihren 
König,  verbrannte  die  Stadt,  kein  Lebewesen  blieb  übrig. 
Auch  alle  übrigen  Städte  und  Könige  der  Liga  werden  ge- 
nommen und  gebarmt,  ,,wie  Moses  befohlen  hatte".  Doch 
wurden  die  „auf  ihren  Trümmerhügeln  stehenden",  d.  h. 


Die  Eroberung  Nordpalüstinas.  q^ 

immer  wieder  neu  erstandenen  Städte  nicht  verbrannt, 
sondern  nur  Chazor  allein.  Die  Beute  und  das  Vieh  wurde 
i^eraubt,  aber  alle  menschlichen  Wesen  ausgerottet.  „Wie 
Jaho  Mose  befohlen  hatte,  so  befahl  Moses  Josua,  und  so 
tat  Josua"  (Jos  ii*'*). 

Damit  war  alles  Land  genommen  von  dem  kahlen  Ge- 
birge Edoms  bis  nach  Baal-Gad  im  Tale  des  Libanon  am 
Fuße  des  Hermon,  und  alle  Könige  getötet.  „Lange  Zeit  ^ 
führte  Josua  Krieg  mit  allen  diesen  Königen"  (ii^*),  „es 
gab  keine  Stadt,  die  sich  den  Israeliten  freiwillig  unter- 
warf, wie  es  die  Chiwwiter  von  Gibeon  getan,  alles  ward 
mit  Waffengewalt  erobert"  (n^®).  Das  also  pazifizierte 
Land  wurde  nunmehr  von  Josua  an  die  einzelnen  Stämme 
verteilt  (Kap.  13'^^— 21*-). 

Zu  dieser  angeblichen  Verteilung  des  Landes  durch 
Josua  werde  gleich  hier  eine  kritische  Bemerkung  gefügt. 
Gemäß  dem  Buche  Josua  selbst  ^  und  dem  Richterbuch 
(Kap.  I  nebst  3^~^)  befand  sich  bei  Josuas  Tod  noch  ein 
sehr  großer  Teil  Kanaans  von  Nord  bis  Süd  in  den  Händen 
seiner  alteingesessenen  amoritischen  Bevölkerung,  die 
selbstverständlich  angesichts  der  von  den  Israeliten  ver- 
übten Grausamkeiten  die  Eindringlinge  bis  aufs  Blut  haßte. 
Es  muß  deshalb  als  absolut  ausgeschlossen  gelten,  daß 
bereits  Josua  den  9^/2  west jordanischen  Stämmen  ihre 
Grenzen  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  hinein  festgesetzt 
und  daß  er  dieses  getan  habe,  indem  von  ihm  zu  diesem 


*)  Beachte  für  die  Zeitdauer  von  Josuas  Kriegführung  die  Stelle 
Jos  14^",  derzufolge  Kaleb,  als  er  bei  der  Teilixng  des  Landes  durch 
Josua  in  Haggilgal  das  ihm  von  Moses  zugeschworene  Hebron  fordi-rte, 
85  Jahre  zählte.  Da  gemäß  V.  7  Kaleb  bei  seiner  Aussendung  als  Kund- 
schafter vor  Beginn  des  40jährigen  Wüstenzuges  40  Jahre  alt  war,  er- 
gibt sich  für  die  Eroberung  des  Westjordanlandes  der  Zeitraum  von 
5  Jahren.  Umgekehrt  ergibt  es  für  Josua,  der  im  Alter  von  iio  Jahren 
starb  (242»),  das  Alter  von  105  Jahren  bei  Beginn  des  west  jordanischen 
Feldzugs  und  das  Alter  von  85  Jahren  zur  Zeit  der  Kimdschaftersendung. 

-)  Jos  13^:  ,,Als  nun  Josua  alt  und  hochbetagt  war,  spra  h  Jaho  zu 
ihm:  Du  bist  alt  und  hochbetagt,  aber  ein  sehr  großer  Teil  des 
Landes  ist  noch  immer  nicht  in  Besitz  genommen".  S.  femer  V.  2 — 13. 


oß  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Zwecke  ausgesandte  Männer  das  ganze  Land  bereist  und 
schriftlich  (also  zum  mindesten  kartographisch  skizziert) 
aufgenommen  hätten.  Selbst  wenn  angesichts  des  Tief- 
standes der  damaligen  Bildung  der  israelitischen  Nomaden- 
stämme die  letztere  Unmöglichkeit  als  möglich  angenom- 
men werden  sollte,  so  wäre  diese  Darstellung  dennoch  von 
der  Hand  zu  weisen,  da  es  unvorstellbar  ist,  wie  solche 
Grenzbestimmungen  inmitten  eines  den  Israeliten  tod- 
feindlichen und  den  israelitischen  Abgesandten  topo- 
graphisch völlig  unbekannten  Landes  möglich  gewesen 
sein  sollte.  Die  Kapp.  14 — 21  des  Buches  Josua,  in  denen 
neben  den  Grenzen  der  einzelnen  Stämme  auch  die  Asyl- 
städte (Kap.  20)  und  die  Levitenstädte  (Klap.  21)  fest- 
gesetzt werden,  sind  vielmehr  ein  neues  klares  Beispiel, 
wie  die  hebräische  Geschichtsschreibimg  es  liebt,  allmäh- 
lich Gewordenes  oder  weit  später  Geschehenes  bereits  auf 
ältere  Zeitläufte  zu  übertragen.  Die  Grenzen  der  einzelnen 
Stämme,  wie  sie  im  Laufe  der  späteren  Jahrhunderte  all- 
mählich mehr  oder  weniger  sich  konsolidierten,  und  die  Aus- 
scheidung bestimmter  Ortschaften  als  Asyl-  oder  Leviten- 
städte werden  als  bereits  von  Josua  vollzogen  angenommen, 
der  Leser  aber  wird  dadurch  abermals  gründlich  getäuscht. 
Dies  in  kurzer  Zusammenfassung  der  Bericht  des  Buches 
Josua  über  den  Hergang  der  Eroberung  Kanaans  durch  Israel . 

Wenn  wir  uns  nun  in  diese  Darstellung  des  Buches  Josua 
sowie  in  die  mit  ihr  engst  zusammengehörigen  Stellen  des 
Pentateuch  ohne  Voreingenommenheit  versenken,  drängt 
sich  unwiUkürHch  eine  weitere  Reihe  von  Betrachtungen 
und  Fragen  auf,  die  unsere  von  Jugend  auf  überkommenen 
Anschauungen  auf  das  schwerste  erschüttern. 

Zunächst  beobachten  wir  einen  unüberbrückbaren  Gegen- 
satz zwischen  Verheißung  und  Erfüllung,  und  zwar  in 
zwiefacher  Hinsicht. 

Immer  und  immer  wieder  bezeichnen  die  alttestament- 
lichen  Schriftsteller  als  das  zunächst  Abraham  und  seinen 


Die  unerfüllte  Verheißung  „bis  zum  Kuphrat".  ß^ 

Nachkommen  verheißene,  später  als  das  dem  Volke 
Mosis,  dem  „auserwählten"  Volke,  von  Jaho  zu  eigen  zu 
gebende  Land  ganz  Kanaan  vom  Flusse  Ägyptens  bzw. 
von  der  Wüste  bis  zum  Euphrat.  ,,Vom  Strome 
Ägyptens  bis  zum  Euphrat"  (Gen  15^*),  ,,bis  zum 
Euphrat"  (Dt  i'),  ,,von  der  Steppe  bis  zum  (?)  Libanon, 
vom  Euphrat  bis  zum  Westmeer  soll  sich  euer  Gebiet 
erstrecken"  (Dt  11 2*  vgl.  Jos  i*).  Der  Euphrat  mit  seinem 
kösthchen  Wasser  bildete  ja  begreiflicherweise  zu  allen 
Zeiten  das  Ziel  der  Sehnsucht  für  die  Nomaden  der  syrisch- 
arabischen Wüste  (Anm.  16),  aber  jene  vermeintliche,  durch 
göttlichen  Schwur  bekräftigte  Verheißung  Jahos  trägt  doch 
zu  sehr  den  Stempel  eines  rein  menschlichen,  über  die  geo- 
graphischen und  politischen  Verhältnisse  kaum  notdürftig 
unterrichteten  Wunsches,  als  daß  der  Name  Gottes,  ja 
auch  nur  der  Name  Jahos  mit  ihm  hätte  verquickt  werden 
dürfen.  Die  betreffenden  alttestamentlichen  Schriftsteller 
hatten  augenscheinlich  von  den  politischen  Verhältnissen 
Vorderasiens  zwischen  Libanon  und  Euphrat  in  der  Zeit 
der  hebräischen  Einwanderung  auch  nicht  die  blasseste 
Ahnung.  Eine  Ausdehnung  des  Israel  gelobten,  ja  ,, seinen 
Vätern  zugeschworenen"  Landes  bis  zum  Euphrat  hätte 
die  Niederwerfung  des  starken  Amoriterreiches  von  Da- 
maskus^, die  Austilgung  all  der  zahlreichen  Staaten  und 
Städteherrschaften  vonHamath  undZoba  bis  nach  Aleppo, 
die  Bezwingung  des  ebendamals  immer  erfolgreicher  aus 
Kleinasien  und  Mesopotamien  nach  Süden  vordringenden 
mächtigen  Hettiterreiches  zur  notwendigen  Voraussetzung 
gehabt!  Von  alledem  kann  natürlich  nicht  die  Rede  sein. 
In  keiner  Periode  der  Geschichte  Israels,  auch  nicht  zur 
Zeit  Sauls,  Davids  oder  Salomos  (Anm.  17),  erstreckte  sich 
die  Grenze  Israels  im  Norden  und  Nordosten  weiter  als  bis 
an  die  Südabhänge  des  Hermon.  Das  von  Israel  mehr  oder 
weniger  fest  eingenommene  Gebiet  von  20  600  qkm  blieb 

^)  Zur  Zeit  der  Könige  von  Israel  hatte  der  König  von  Damaskus 
gemäß  I  Kö  20^  nicht  weniger  als  32  Könige  zu  \'^erbündeten. 


28  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

an  Umfang  um  rund  30  500  qkm  hinter  der  Verheißung 
zurück  (Anm.  18)  —  ein  armseliger  Bruchteil! 

Aber  nehmen  wir  das  gelobte  Land  auch  nur  in  solcher 
beschränkten  Ausdehnung  vom  Flusse  Ägyptens  bis  an 
die  Südabhänge  des  Hermon,  so  tut  sich  uns  abermals 
eine  womöglich  noch  tiefere  Kluft  auf  zwischen  Verheißung 
und  Erfüllung,  eine  Kluft,  die  in  Anbetracht  ihrer  Folgen 
als  abgrundtief  bezeichnet  werden  muß,  ebendeshalb 
auch  von  den  alttestamentüchen  Schriftstellern  trotz  aller 
Beschönigungs-  und  Bemäntelungsversuche  dennoch  als 
nicht  wegzuleugnende,  beschämende  und  unheilschwangere 
Tatsache  zugestanden  wird.^  Auf  der  einen  Seite  die  immer 
wiederkehrende  feierliche  Versicherung  Jahos,  daß  er 
imter  persönlicher  Mitwirkung  ,, sieben  große  und  starke 
Völker  vor  Israel  her  ausrotten"  werde  (Anm.  19);  daß 
,, niemand  vor  Josua  standhalten  solle  sein  Leben  lang" 
(Jos  I  ^) ;  daß  Jaho  seinen  Engel  mit  ihnen  ziehen  lassen 
(Ex  232""  2')  und  ,,der  Schrecken  Jahos  alle  Feinde  in  die 
Flucht  schlagen  werde"  (Ex  23  2'),  jeden  Widerstand  nieder- 
werfend; „Jaho,  dein  Gott,  zieht  als  verheerendes  Feuer  dir 
voran,  er  wird  sie  vertilgen  und  wird  sie  vor  dir  nieder- 
werfen, sodaß  du  sie  rasch ^  aus  ihrem  Besitz  vertreiben 
und  vernichten  kannst,  wie  dir  Jaho  verheißen  hat" 
(Dt  9'),  „ja  auch  die  Hornissen  (?  Anm.  20)  wird  Jaho,  dein 
Gott,  gegen  sie  entsenden,  bis  vernichtet  sind,  die  übrig- 
geblieben sind   und   die   sich   vor   dir   versteckt  haben" 


1)  Eine  Ausnahme  macht  nur  der  sog.  Deuteronomist,  der  trotz 
Jos  13^  wenige  Kapitel  später  die  Unverfrorenheit  hat,  zu  schreiben 
^21 43-45).  ,,Und  Jaho  verlieh  Israel  das  Land,  dessen  Verleihimg  er 
ihren  Vätern  eidlich  verheißen  hatte,  imd  sie  nahmen  es  in  Besitz  und 
siedelten  sich  dort  an.  Und  Jaho  verschaffte  ihnen  ringsum  Ruhe  (!), 
ganz  wie  er  ihren  Vätern  geschweren  hatte  .  .  .  Jaho  gab  alle  ihre 
Feinde  in  ihre  Gewalt  (!).  Von  allen  den  schönen  Verheißvmgen,  die 
Jaho  dem  Hause  Israel  gegeben  hatte,  war  keine  hinfäUig  geworden  (I), 
alles  war  in  Erfüllimg  gegangen  (!)". 

2)  Beachte  den  Widerspruch  zu  Dt  7"  („du  darfst  sie  nicht  rasch 
vertilgen")  und  zu  Ex  2330  Dt  7^^  („ganz    allmählich"). 


Die  anerfüllte  Verheißunj;  der  Ausrottung  der  Kanaanitcr.        oq 

(Dt  7*"),  USW.  (z.B.Dtii*^).  Auf  der  anderen  Seite  die  lange 
Liste  der  von  Israel  nicht  vertriebenen,  geschweige  ver- 
tilgten Kanaaniter  Jos  13^"",  die  Wiederholung  bei  jedem 
einzelnen  der  zehn  Stämme  des  West  Jordanlandes,  daß 
die  Kanaaniter  fortfuhren  in  seinem  Gebiete  zu 
wohnen,  da  sie  nicht  vertrieben  werden  konnten  (Ri  i). 
Es  konnte  ja  auch  gar  nicht  verheimhcht  werden,  daß  die 
gesamte  Meeresküste  nach  wie  vor  in  den  Händen  der 
Phönizier  einerseits,  der  Philister  andererseits  verblieb. 
Die  fünf  Philisterfürsten  behielten  je  und  je  ihre  volle 
Selbständigkeit.  Der  Stamm  Dan,  der  seinen  Erbbesitz 
in  nächster  Nähe,  ja  innerhalb  der  Grenzen  des  Philister- 
landes erhalten  hatte,  verlor  diesen  so  gut  wie  vollständig 
an  die  PhiUster  (Jos  ig**^*')  und  besaß  noch  nach  mehr 
als  300  Jahren  (vgl.  Ri  11 2")  keinen  für  ihn  ausreichenden 
Erbbesitz  (Ri  18^).  Bis  hinab  in  Davids  Zeit  machten  die 
Philister  mit  ihren  unaufhörlichen  Einfällen  dem  Volke 
Israel  das  Leben  nur  allzu  schwer,  wie  ja  noch  zur  Zeit 
Sauls  ein  philistäischer  Statthalter  in  Gib'a  (i  Sa  i  o  ^ 
13  2'")  und  zu  Davids  Zeit  ein  solcher  in  Bethlehem  resi- 
dierte (i  Cht  11^')!  Und  ebenso  verloren  die  Phönizier- 
städte Sidon  usw.  keinen  Tag  ihre  Selbständigkeit,  sodaß 
die  Israel  verheißene  Westgrenze  des  Mittelmeers  zum 
allergrößten  Teile  von  ihm  ebensowenig  erreicht  wurde, 
wie  die  Nordgrenze  des  Euphrat  (vgl.  Ri3').  Aber  auch 
innerhalb  der  von  der  Meeresküste  entfernteren  Länder- 
gebiete  sowohl  östlich  wie  westlich  des  Jordans  blieb  in 
vielen  der  wichtigsten  Städte  die  alteingesessene  amori- 
tische  Bevölkerung  wohnen  und  wurde  höchstens  nach  und 
nach  Israel  mehr  oder  weniger  dienstbar.  Im  Süden  des 
Landes  blieben  die  Jebusiter,  die  Juda  nicht  vertreiben 
konnte  (Rii^i),  noch  Jahrhunderte  hindurch  die  Herren 
der  späteren  Stadt  Jerusalem.  Erst  David  entriß  die  Burg 
Zion  der  einheimischen  Bevölkerung  der  Jebusiter,  doch 
blieben  diese  nach  wie  vor  alldort  seßhaft  (Jos  15^').  Auch 
in  Hebron  und  Zefath  (Ri  i  ^""  ^')  blieben  die  Kanaaniter 


40  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

wohnen.  Ebenso  im  Zentrum  und  im  Norden  des  Landes 
inmitten  des  Stammes  Manasse:  in  den  Städten  Beth- 
Schean,  Taanach,  Dor,  Jibleam,  Megiddo,  wo  sie  höch- 
stens fronpflichtig  wurden  (i^"');  inmitten  des  Stammes 
Ephraim  in  Gezer  (i");  im  Stamme  Sebulon  (i^®)  und 
in  den  dem  Stamme  Ascher  zugeteilten  Städten  Akko, 
Sidon,  Achlab,  Akzib  usw.  (i^i').  Und  der  von  Josua 
vermeintlich  aufs  Haupt  geschlagene  König  von  Chazor 
verfügte  bereits  zur  Zeit  der  Richterin  Debora  wieder  über 
900  Streitwagen  und  bedrückte  Israel  20  Jahre  (Ri  4). 

In  mannigfacher  naiven  Weise  suchen  die  alttestament- 
lichen  Schriftsteller  diesen  offenkundigen  Zwiespalt  zwi- 
schen hochklingender  Verheißung  und  mehr  als  mangel- 
hafter Erfüllung  zu  übertünchen.  Bald  wird  gesagt,  daß 
Jaho,  entgegen  seiner  Verheißung,  die  Kanaaniter  doch 
habe  bestehen  lassen,  damit  sie  Israels  Gehorsam  gegen 
die  Gebote  Jahos  auf  die  Probe  stellen  sollten  (Ri  3  *) ; 
bald,  daß  auch  jüngere  Geschlechter  Israels  die  Krieg- 
führung lernen  sollten  (Risi*-),  als  ob  nicht  auch  sie 
bereits  reichlich  Gelegenheit  hierzu  gehabt  hätten;  bald 
lesen  wir  die  ans  Komische  streifende  Rechtfertigung,  daß 
Jaho  die  Kanaaniter  deshalb  nur  nach  und  nach  vertrieben 
habe,  damit  „die  wilden  Tiere"  nicht  überhand  nähmen 
(Ex  2329'-)i.  Aber  alle  diese  Beschönigungs versuche  ver- 
mögen nichts  an  dem  den  Gott  Jaho  und  seinen  Schwur 
schwerst  diskreditierenden,  ja  das  ganze  Gefüge  der  prophe- 
tischen Geschichtsdarstellung  vernichtenden  Urteil  zu 
ändern,  das  Ri  3^'-  in  die  Worte  gefaßt  ist:  „So  wohnten 
die  Israeliten  inmitten  der  Kanaaniter.  Hettiter  und  Amo- 
riter  und  Perizziter  und  Chiwwiter  und  Jebusiter  und 
nahmen  sich  ihre  Töchter  zu  Weibern  und  gaben 
ihre  Töchter  deren  Söhnen  und  dienten  ihren  Göttern". 

^)  „Ich  will  sie  aber  nicht  im  Verlauf  Eines  Jahres  vor  dir  vertreiben, 
sonst  würde  das  Land  zur  Wüste  werden  und  die  wilden  Tiere  würden 
zu  deinem  Schaden  überhandnehmen.  Ganz  allmählich  will  ich  sie 
vor  dir  vertreiben,  bis  ihr  zahlreich  genug  sein  werdet,  um  euch  in  den 
Besitz  des  I^andes  zu  setzen".    Ganz  ähnlich  Dt  7^-. 


Jabos  Gtlnirtstan.  AI 

Also  das  direkte  Gegenteil  des  mit  dem  ,, Bannen"  beabsich- 
tigten Zweckes  (Dt  7')!  Das  Ziel  des  von  Jaho  befohlenen 
grausamen  Ausrottungskrieges  war  so  wenig  erreicht,  daß 
nicht  nur  zur  Zeit  Salomos  ^i  Kö  9*"'),  nein!  daß  sogar 
noch  zu  Ezras  Zeit  alle  jene  auszurottenden  Völkerschaften 
fortbestanden  und  die  aus  dem  Exil  heimkehrenden  Juden 
sich  mit  ihnen  durch  Heirat  vermischten   (Ezra  9*)! 

Zum  Verständnis  der  ganzen  Tragweite  dieses  denkbar 
schroffsten  Widerspruchs  zwischen  Verheißung  und  Er- 
füllung ist  ein  doppeltes  Axiom  der  alten  semitischen  Völker 
Vorderasiens  ins  Auge  zu  fassen.  Das  erste  lautet:  kein 
Volk  ohne  Gott,  näher:  kein  Volk  ohne  seine  besondere 
Gottheit.  Volk  und  Volksgott  bilden  eine  unzertrennliche 
Einheit.  ,,Dein  Volk  ist  mein  Volk,  und  dein  Gott  ist 
mein  Gott"  sagt  bekanntlich  (Ru  i  ^*)  die  Moabitin  Ruth  zu 
ihrer  Schwiegermutter  Noomi.  Kemosch  (richtiger  Kam- 
mosch) ist  der  Gott  Moabs  und  Moab  ist  das  Volk  des 
Kemosch,  So  haben  die  Ammoniter,  Philister,  Phönizier  usw. 
alle  ihre  speziellen  Gottheiten  (vgl.  auch  Jon  i^).  Sobald 
das  assyrische  Volk,  das  aus  einer  Kolonie  seines  Mutter- 
landes Babylonien  hervorgegangen  war,  sich  selbständig 
machte  und  als  selbständiges  Volk  anerkannt  sein  wollte, 
schuf  es  sich  in  Aschur,  dem  ,, heilbringenden,  heiligen" 
Gotte,  seinen  Nationalgott  (Anm.  21).  Sobald  die  bis  da- 
hin in  ägyptischer  Knechtschaft  gehaltenen  israelitischen 
Stämme  sich  durch  die  Flucht  aus  Ägypten  zu  einem 
freien,  selbständigen  Volke  erhoben,  war  es  das  allererste, 
daß  sie  sich  einen  Nationalgott  erkoren,  und  dies  war 
nach  Mosis  Vision  im  Lande  Midian  Jaho  (Anm.  22).  Das 
Alte  Testament  selbst  bezeugt  den  Tag  des  Auszugs  Israels 
aus  Ägypten  als  den  Geburtstag  sozusagen  Jahos  ^,  Moses 

')  Ex  62'-:  ,,Da  redete  Gott  zu  Moses  und  sprach  zu  ihm:  Ich  bin 
Jaho.  Ich  bin  als  El  laddai  (d.  i.  hocherhabener  Gott)  Abraham,  Isaak 
und  Jakob  erschienen,  aber  mit  meinem  Namen  Jaho  bin  ich 
ihnen  nicht  bekannt  gewesen".  Vgl.  3^^:  ,,Jaho  ist  mein 
Name  auf  ewige  Zeiten  und  meine  Benenniing  auf  Geschlecht  und 
Geschlecht",    V,  18:  „Jaho,  der  Gott  der  Hebräer". 


42  !•   Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

war  der  erste  ,, Diener  Jahos"  und  Mosis  Diener  Josua  war 
der  erste  Hebräer,  der  einen  mit  Jaho  zusammengesetzten 
Männernamen  führte:  Jehoschü'a,  d.h.  „Jaho  ist  Reich- 
tum". Daher  die  hundertfach  wiederkehrenden  Worte : 
„Jaho,  der  sein  Volk  aus  Ägypten,  dem  Knechteshause,  ge- 
führt". Jaho  ward  der  Gott  Israels  imd  Israel  das  Volk 
Jahos,  das  er  sich  auserwählt  und  das  ihm  zu  eigen  gehörte. 

Das  zweite  Axiom  aber,  das  aus  dem  ersten  Satz:  kein 
Volk  ohne  Gott,  und  dem  selbstverständlichen  Zwischen- 
satz: kein  Volk  ohne  Land,  automatisch  folgt,  lautet: 
kein  Gott  ohne  Land.  Um  Israels  Gott  zu  sein,  be- 
durfte Jaho  eines  Landes,  und  zwar  eines  Landes,  das  ihm 
bzw.  seinem  Volke  ganz  allein  zu  eigen  gehörte,  auf  dessen 
Boden  er  ganz  allein  und  genau  so,  wie  er  es  wünschte 
(Anm.  23),  verehrt  werden  konnte,  ohne  sich  mit  andern 
Göttern  in  die  Herrschaft  zu  teilen.  Um  Jaho  auch  in 
Damaskus  anbeten  zu  können,  erbat  sich  der  syrische  Feld- 
hauptmann Naaman  vom  Propheten  EHsa  so  viel  Erde, 
als  von  einem  Paar  Maultiere  gezogen  werden  könnte,  um 
Jaho  auf  dem  Boden  seines  Landes  anbeten  zu  können 
(2  Kö  5^'),  und  die  jüdischen  Exulanten  antworten  auf  die 
Forderung,  ein  Lied  von  Zion  zu  singen,  mit  der  Weh- 
klage (Ps  137*) :  ,,Wie  könnten  wir  Jaho  besingen  auf  Boden 
der  Fremde?" 

Dieses  zweite  Axiom  war  es,  das  zwei  der  denkbar 
schwersten  Folgen  zeitigte,  von  denen  eine  jede  ein- 
gehendste Besprechung  heischt. 

Die  eine  war,  daß  Jahos  Volk  und  damit  Jaho  selbst 
um  jeden  Preis  in  den  Besitz  eines  eigenen,  ihm  allein 
gehörigen  Landes  kommen  mußte.  Daher  das  ebenso 
unmenschHche  wie  ungötthche  Gebot,  die  Bevölkerimg 
Kanaans  mit  Stumpf  und  Stiel  auszurotten,  „ohne  mit- 
leidig auf  sie  zu  bücken"  (Dt  7^*),  ein  Gebot,  das  Jaho 
sozusagen  in  Einem  Atemzuge  mit  dem  Verbote:  ,,du 
sollst  nicht  morden",  erlassen  hatte!  Und  Josua,  dem 
befohlen  war,  Tag  und  Nacht  in  dem  Gesetze  Mosis  zu 


Die  Kanaaniter  ein  Brudervolk  der  Hebräer. 


43 


lesen  und  zu  forschen  (Josi"),  der  Vollstrecker  dieses 
Gebotes!  Fern  ist  es  von  mir,  das  Volk  Israel  einseitig 
wegen  dieses  seines  Eroberungskrieges  zu  verurteilen.  Das 
Land  Kanaan  war  ein  selten  herrliches  Eroberungsziel : 
„ein  schönes  Land  mit  Wasserbächen,  Quellen  und  Seen, 
die  in  den  Tälern  und  auf  den  Bergen  entspringen,  ein 
Land  mit  Weizen  und  Gerste,  mit  Weinstöcken,  Feigen- 
und  Granatbäumen,  mit  Olivenbäumen  und  Honig,  ein 
Land,  dessen  Steine  eisenhaltig  und  aus  dessen  Bergen 
du  Erz  graben  kannst"  (Dt  8'"),  ,,ein  Land,  das  von 
Milch  und  Honig  überfließt"  (z.  B.  ii*),  und  wir  können 
es  verstehen,  welche  Versuchung  es  für  Israel  war,  „ein 
Land  mit  großen  und  schönen  Städten,  die  es  nicht 
gebaut  hatte,  mit  Häusern,  die  ohne  sein  Zutun  mit 
Gütern  jeder  Art  angefüllt  waren,  mit  ausgehauenen 
Zisternen,  die  es  nicht  ausgehauen,  und  mit  Wein-  und 
Olivengärten,  die  es  nicht  gepflanzt  hatte"  (Dtö^'^'-),  mit 
Gewalt  an  sich  zu  reißen,  um  sich  Wohnsitze  zu  ver- 
schaffen. Aber  gleichzeitig  viele  Tausende  wehrloser  Frauen 
und  ungezählte  Mengen  unschuldiger  kleiner  Kinder  mit 
unbarmherzigem  Dolche  hinzuschlachten,  das  findet  weder 
vor  Menschen  noch  viel  weniger  vor  Gott  Rechtfertigung. 
Wenn  ,, sieben  große  und  starke  Völker"  restlos  ausgetilgt 
werden  sollten,  nur  um  für  Jaho  und  sein  Volk  Platz  zu 
schaffen,  konnte  dann  Jaho  nicht  wenigstens  eine  Seuche 
(vgl.  Nu  14^^)  all  diese  Tausende  von  Menschen  hinweg- 
raffen lassen,  ohne  die  wehrlosen  Weiber  und  Kinder 
die  grausige  Todesangst  vor  dem  gezückten  Dolch  ent- 
menschter Feinde  auskosten  zu  lassen? 

Aber  es  kommt  noch  ein  weiterer,  die  Anklage  furchtbar 
erschwerender  Punkt  hinzu,  indem  der  archäologische 
Fund  von  El-Amarna  gelehrt  hat,  daß  die  Amoriter  den 
Hebräern  nächstverwandt,  ein  Brudervolk  der  Hebräer 
gewesen  sind.  Als  erste  geschichtliche  Bevölkerung 
Kanaans  (Anm.  24)  haben  die  semitischen  Amoriter  zu 
gelten,   die,   als   die   große   syrisch-arabische  Wüste   mit 


AA  I.  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

ihren  Oasen  zu  ihrer  und  ihrer  Herden  Ernährung  nicht 
mehr  hinreichte,  sich  fruchtbarere  Wohnsitze  aussuchten 
und  die  Gebirge  und  Täler  ost-  und  westwärts  vom  Jordan 
sich  wählten,  nachdem  ein  anderer  Zweig  des  amori tischen 
Volkes  in  die  fruchtbare  Niederung  des  Euphrat-  und 
Tigrislandes  eingedrungen  war  (um  2000  v.  Chr.).  Seit 
dem  15.  und  14.  Jahrhundert  finden  wir  diese  Amoriter  in 
Kanaan  ansässig:  die  einzelnen  größeren  Städte  bildeten 
den  Mittelpunkt  ebenso  vieler  kleinerer  selbständiger  Ge- 
meinwesen, die  politisch  unter  gemeinsamer  ägyptischer 
Oberherrschaft,  kulturell  unter  tiefgehendem  Einflüsse  des 
Zweistromlandes  standen,  wie  ja  der  schriftliche  Verkehr 
dieser  Amoriter-Schechs,  z.  B.  mit  dem  Pharaonenhof, 
ganz  von  babylonischen  Schreibern  in  babylonischer 
Schrift  und  Sprache  auf  Tontafeln  geführt  wurde.  Die 
Sprache  dieser  Amoriterbriefe  aber  zeigt  in  vielen  Punkten, 
daß  sie  dem  Hebräischen  allernächst  verwandt  war 
(Anm.  25),  ebenso  nahe  verwandt,  wie  dies  von  der 
Sprache  der  Moabiter  durch  die  Mescha-Inschrift  erwiesen 
worden  ist.  In  der  Zeit  nun,  als  unter  Amenophis  IV.  die 
Vorherrschaft  des  ägyptischen  Pharao  über  Kanaan  sich 
mehr  und  mehr  lockerte,  zog  für  die  Amoriter  Kanaans 
eine  schwere  Bedrohimg  herauf,  indem  immer  neue  bluts- 
verwandte Nomadenstämme  aus  der  Wüste  ihre  Hände 
begehrlich  nach  Palästina  ausstreckten,  nämlich  die  von 
den  Amoritem  so  genannten  Habiri,  graphisch  wenig 
schmeichelhaft,  aber  sachlich  gewiß  nur  allzu  gerecht- 
fertigt, als  ,, Räuber"  und  ,, Mörder"  bezeichnet.  In 
nach  Hunderten  zählenden,  immer  dringHcher  werdenden 
Schreiben  machen  die  kanaanitischen  Amoriterfürsten  den 
Pharao  auf  diese  schwere  Gefährdung  auch  des  ägyptischen 
Besitzstandes  aufmerksam  und  erbitten  schleunigste  be- 
waffnete Hilfe,  aber  diese  wird  ihnen  zwar  immer  und 
immer  wieder  versprochen,  aber  sie  kommt  nicht,  wenig- 
stens nicht  in  halbwegs  genügendem  Umfange,  sodaß 
eine  amoritische  Stadt  nach  der  andern  freiwillig  oder 


Fadenscheinige  Begründung  der  Ausrottung.  ^z^ 

gezwungen  den  Habiri  anheimfällt.  Wir  haben  hier  im 
Lichte  gegnerischer  Bezeugung  offenbar  die  nämlichen 
geschichtlichen  Vorgänge,  wie  sie  der  Einfall  der  Hebräer 
in  das  kanaanitische  Amoriterland  darstellt.  Und  wenn- 
gleich Habiri  in  den  Amarna-  und  Boghaz-köi-Urkunden 
eine  etwas  weitere  Bedeutung  als  das  uns  geläufige  „He- 
bräer" hat,  so  kann  doch  darüber  kaum  länger  Zweifel  ob- 
walten, daß  die  Hebräer  mit  zu  den  Habiri  gehörten  und 
der  Name  'Ibrz  mit  Habiri  eins  ist  (Anm.  26).  Sei  dem 
aber  wie  ihm  wolle  —  so  viel  steht  fest,  daß  gleich  den 
Moabitern,  Ammonitern,  Edomitern,  für  welche  das  Alte 
Testament  selbst  dies  bezeugt,  auch  die  Amoriter-Kana- 
aniter  ein  Brudervolk  Israels  waren. 

Ein  drittes  Anklagemoment  gegen  den  israelitischen 
Eroberungs-  und  Ausrottungskrieg  ist  der,  daß  das  Alte 
Testament  ihn  mit  allerlei  fadenscheinigen  Vorwänden 
sittlich-religiöser  Art  zu  begründen  sucht. 

Die  erste  Begründung  geht  dahin,  daß  jene  Völker  ihre 
Vertilgung  durch  ihre  Sündhaftigkeit,  ihre  Frevel  ver- 
schuldet hätten  (Dt  9*'*,  vgl.  Gen  15 1^).  Die  Anklage  über- 
rascht einigermaßen.  Denn  von  Melchizedeqs  Idealgestalt 
(Gen  14)  ganz  zu  schweigen,  erfahren  wir  aus  der  Genesis 
über  diese  vorisraelitische  Bevölkerung  nur  Rühmliches: 
wie  sich  bei  Saras  Tod  die  in  Hebron  wohnhaften  Het- 
titer  im  allgemeinen  und  Ephron,  der  Eigentümer  der 
von  Abram  gewünschten  Höhle  Machpela,  im  besonderen 
Abram  gegenüber  wahrhaft  edel  benahm,  also  daß  man 
in  diesem  Kap.  23  etwas  wie  Höhenluft  verspürt  gegen- 
über den  mancherlei  Erzählungen  von  Blutschande  im 
Kreise  von  Abrams  nächsten  Anverwandten  und  gegen- 
über anderen  sittlich  höchst  anstößigen  Erzählungen,  wie 
z.  B.  jener  von  der  raffinierten  Erschleichung  von  Isaaks 
Erstgeburtssegen  durch  Jakob  auf  Anstiften  seiner  Mutter 
Rebekka  (Kap.  27).  S.  weiter  auf  S.  ^^  ^.  Aber  freüich, 
wir  erinnern  uns  gleichzeitig  auch  wenigstens  Einer  dies- 
bezüglichen Anklage  in  der  Genesis,  nämlich  des  den  Sodo- 


^5  ^*  Israels  Bindringen  in  Kanaan. 

mitern  nachgesägten  sexuellen  Lasters  (Kap.  19).  Indes 
abgesehen  davon,  daß  die  Sodomiter  für  diese  ihre  Sünd- 
haftigkeit schon  längst  auf  das  schwerste  gestraft  worden 
waren  mit  der  sprichwörtlich  gewordenen  Strafe  von 
„Sodom  und  Gomorrha"  —  war  sich  der  israelitische  An- 
kläger gar  nicht  bewußt,  daß  er  mit  seinem  Verdammungs- 
urteil gleichzeitig  den  ganzen  Stamm  Benjamin  traf? 
daß  genau  das  nämliche,  was  GeniQ*"^*'  erzählt  wird, 
Ri  19 — 21  wiederkehrt?  Einem  zur  Richterzeit  in  einem 
entlegenen  Teile  des  Gebirges  Ephraim  aufhältlichen  Le- 
viten war  sein  aus  Bethlehem-Juda  stammendes  Kebsweib 
davongelaufen  und  hatte  vier  Monate  wieder  in  ihrem 
Elternhaus  zugebracht.  Der  Levit  reiste  ihr  nach.  Vom 
Vater  des  Weibes  wohlwollend  aufgenommen,  gelang  es 
dem  Leviten,  sein  Weib  sich  wiederzugewinnen.  Nachdem 
der  Schwiegervater  den  Leviten  immer  von  neuem  ge- 
nötigt hatte,  noch  einige  Tage  vor  der  Abreise  zuzugeben, 
machte  sich  endlich  am  Abend  des  fünften  Tages  der  von 
einem  Burschen  und  einem  Paar  Eseln  begleitete  Levit 
auf  den  Heimweg,  sein  Weib  nach  dem  Gebirge  Ephraim 
zurückzuführen,  Sie  erreichten  bei  Sonnenuntergang  das 
Benjamin  zugehörige  Gib'a,  aber  niemand  nahm  sie  in  sein 
Haus  auf,  als  sie  auf  dem  freien  Platze  der  Stadt  Halt  ge- 
macht hatten.  Ein  alter  Mann,  der  von  der  Arbeit  auf  dem 
Felde  heimkehrte,  ein  Landsmann  des  Ephraimiten,  bat 
ihn,  in  seinem  Hause  zu  nächtigen,  was  der  Levit  annahm. 
Während  sie  sich  aber  gütlich  taten,  hatten  benjaminitische 
Lotterbuben  das  Haus  umstellt  und  forderten,  ungestüm 
an  die  Haustür  trommelnd,  den  greisen  Hausbesitzer  auf, 
ihnen  den  Gast  auszuliefern,  um  an  ihm  ihre  sinnliche 
Begier  zu  stillen.  Der  Hausbesitzer  trat  hinaus  und  redete 
ihnen  zu,  an  seinem  Gaste  solche  Schandtat  nicht  zu  üben, 
er  wolle  ihnen  lieber  seine  eigene  jungfräuliche  Tochter 
überlassen.  Als  aber  die  Leute  nicht  auf  ihn  hören  wollten, 
nahm  der  Levit  sein  Kebsweib  und  gab  dieses  ihnen  preis. 
Nachdem  das  Weib  die  ganze  Nacht  über  ein  Opfer  der 


Die  Sclinndtnt   von  Gib'a.  An 

viehischen  Sinnlichkeit  der  Lüstlinge  gewesen,  ließen  sie 
es,  als  der  Morgen  anbrach,  laufen,  es  schleppte  sich  noch 
bis  an  die  Tür  des  Hauses,  wo  ihr  ritterlicher  Ehemann 
wohnte,  dann  brach  es  auf  der  Schwelle  tot  zusammen. 
Als  nun  der  Levit  die  Tür  öfTnete,  nicht  um  sich  nach 
seinem  unglücklichen  Weibe  umzusehen,  das  er  so  feig 
und  herzlos  geopfert  hatte,  sondern  ,,um  seines  Weges  zu 
ziehen",  sah  er  das  Weib  tot  vor  der  Türe  liegen,  die  Hände 
auf  der  Schwelle.  Der  Levit  nahm  den  Leichnam  mit  nach 
seinem  Wohnort,  zerlegte  ihn  mit  dem  Messer  in  zwölf 
Teile  und  schickte  diese  durch  das  ganze  Gebiet  Israels, 
um  weiterhin  vor  der  schleunigst  nach  Mizpa  einberufenen 
Volksversammlung  Gesamtisraels  öffentliche  Anklage  zu 
erheben.  Aber  das  Unerhörte  geschah.  Statt  jene  Schand- 
buben von  Gib'a  zur  Bestrafung  auszuliefern,  wie  die 
Gemeinde  Israels  gefordert,  erklärte  sich  der  ganze 
Stamm  Benjamin  mit  jenen  Lüstlingen  solidarisch, 
eilte  Gib'a  zu  Hilfe  und  ließ  es  auf  den  Kampf  ankommen 
—  26  700  benj  amini  tische  Krieger  gegen  400  000  Krieger 
des  übrigen  Israels.  Doch  scheint  der  Kampf  der  letzteren 
äußerst  laß  geführt  worden  zu  sein,  sodaß  die  Benja- 
miniten  anfangs  große  Erfolge  davontrugen,  bis  sich 
schließlich  das  israelitische  Heer  aufraffte,  Gib'a  mittels 
der  bekannten  Kriegslist  eines  Hinterhaltes  zu  Fall 
brachte  und  hart  bestrafte.  Doch  war  das  sogar  in  Tränen 
sich  Luft  schaffende  Mitgefühl  Israels  mit  Benjamin  so 
groß,  daß  es,  damit  solch  edler  Stamm  des  ,, heiligen" 
Volkes  nicht  ganz  verloren  gehe,^  den  entkommenen 
600  Benjamirnten  zu  Frauen  verhalf,  indem  es  ihnen 
400  Mädchen  aus  Jabesch-Gilead  raubte  und  außerdem  den 
Rat  gab,  sich  mit  eigener  Hand  Jungfrauen  des  benach- 
barten Städtchens  Silo  zu  rauben,  die  eben  festfeiernd  mit 
Reigentanz  in  den  Weingärten  des  Ortes  arglos  sich  ver- 
gnügten. 

*)  Nach  den  Gesetzen  der  Thora  hätte  der  Stamm  Benjamin  aus- 
gerottet werden  müssen,  s.  z.  B.  L,ev  i8^''/29. 


^8  !•  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

Wenn  aber  Dti8'~^2  ^g  kultischen  „Greuel"  jener 
Völker  als  weiteren  Grund  ihrer  Ausrottung  nennt:  daß 
sie  ihre  Söhne  und  Töchter  durchs  Feuer  gehen  ließen, 
Wahrsagerei  und  Zeichendeuterei  und  Zauberei  trieben, 
die  Toten  befragten  u.  dgl.  m.  —  warum  wurden  dann  die 
Hebräer  nicht  erst  recht  für  ewig  ausgerottet,  sie,  die  alle 
diese  ,, Greuel"  Jahrhunderte  hindurch  genau  so  trieben 
und  dabei  Jahos  auserwähltes  Volk  waren? 

Noch  hinfälliger  ist  endlich  die  dritte  Begründung: 
,, Damit  sie  euch  nicht  lehren,  alle  ihre  Greuel  nachzu- 
ahmen, die  sie  ihren  Göttern  zu  Ehren  verübt  haben,  und 
ihr  euch  so  gegen  Jaho,  euren  Gott,  versündigt"  (Dt  20^). 
Dieser  Zweck  wurde  j  a  völlig  dadurch  vereitelt,  daß  Israel 
„unter  den  Kanaanitern  zu  wohnen"  gezwungen  blieb. 

Wir  sprachen  oben  (S.  42)  bei  der  Erwähnung  des  zweiten 
altsemitischen  Axioms,  daß  es  zwei  der  denkbar  schwersten 
Folgen  gezeitigt.  Die  erste:  die  versuchte  restlose  Aus- 
rottung der  ,, sieben  großen  und  starken  Völker"  wurde 
nach  ihren  verschiedenen  Seiten  hin  beleuchtet.  Die  zweite 
Folge  war,  daß  das  Volk  Israel  vom  ersten  Tage  der  Ein- 
wanderung an  und  weiter  während  der  ganzen  480  Jahre 
des  Bestandes  des  Reiches  Juda  und  der  240  Jahre  des 
Bestandes  des  Reiches  Israel  der  einheimischen  kanaani- 
tischen  Religion  und  dem  einheimischen  kanaanitischen 
Kultus  sich  anschloß,  wie  ja  selbst  Salomo  seinen  Weibern 
zuliebe  die  Astarte,  die  Göttin  der  Sidonier,  Kemosch,  den 
Gott  der  Moabiter,  und  Milkom,  den  Gott  der  Ammoniter, 
anbetete  (i  Kö  11^^),  und  daß  die  Propheten  als  die  Ver- 
künder Jahos,  als  die  imentwegten  Vorkämpfer  israeli- 
tischen Nationalbewußtseins,  das  ist  eines  selbständigen 
israelitischen  Volkstums  mit  Jaho  als  nationalem  Gott  an 
der  Spitze,  alle  Jahrhunderte  hindurch  einen  geradezu 
gigantischen  Kampf  wider  diesen  vermeintlichen  Abfall  von 
Jaho  führten.  Wie  kam  das?  Einfach  daher,  daß  Palästina 
das  rechtmäßige  Land  Israels  und  Jahos  weder  gewesen  noch 
auch  trotz  Anwendung  brutalster  Gewalt  geworden  war,  daß 


Baal  der  legitime  Gott  Kanaans.  A(\ 

es  Israel  nicht  gelungen  war,  die  Kanaaniter  auszutreiben 
oder  gar  auszurotten,  daß  vielmehr  das  Land  Kanaan  nach 
wie  vor  zu  einem  großen  Teil  in  der  Hand  seiner  älteren 
Bewohnerschaft  blieb,  und  daß  infolgedessen  nach  dem 
schon  damals  geltenden  Satze :  cjij'us  regio,  ejus  est  religio, 
Baal  der  alleinige  rechtmäßige  Gott  Kanaans  zu  sein  fort- 
fuhr. Wie  die  in  Babylonien  eingewanderten  semitischen 
Akkader  eo  ipso  Religion  und  Kult  des  einheimischen 
sumerischen  Volkes  übernahmen,  so  fühlten  sich  die 
israelitischen  Stämme  eingewurzelter  Glaubensanschauung 
nach  an  die  Verehrung  der  einheimischen  kanaanäischen 
Gottheiten  Baal  und  Astarte  gebunden,  und  keine  pro- 
phetische Beredsamkeit,  keine  Drohung,  keine  Verheißung, 
kein  Gewaltstreich  gegen  die  einheimischen  Gottheiten  und 
deren  Priester  und  Propheten  vermochte  hierin  dauernden 
Wandel  herbeizuführen,  während  umgekehrt  gerade  diese 
Mißerfolge  die  prophetischen  Eiferer  veranlaßten,  vor 
keinem  Mittel  der  Rede  und  vor  allem  auch  der  Schrift 
zurückzuschrecken,  um  Jaho  als  den  legitimen  Gott 
Kanaans  zu  erweisen  (Anm.  27). 

Es  wird  hiervon  noch  weiter  in  Kap.  III  die  Rede  sein.  Zu- 
nächst haben  wir  noch  den  ersten  Gegenstand  unserer  histo- 
rischen Untersuchung :  die  Einwanderung  Israels  in  Kanaan, 
zu  Ende  zu  führen,  indem  wir  das  Volk  Israel  während  der 
ersten  Jahrhunderte  nach  Josuas  Tod  auf  Grund  des 
Richter buches  betrachten,  sowohl  nach  seinen  äußeren 
und  inneren  politischen  Zuständen,  als  auch  nach  dem 
Grade  seiner  kulturellen  und  sittlichen  Entwicklung. 

Das  erstere  ist  schnell  abzumachen.  Die  über  300jährige 
Richterzeit  war  für  die  israelitischen  Stämme  nach  außen 
hin  ein  fast  ununterbrochener  Kampf  gegen  die  benach- 
barten Staaten  und  Nomadenstämme,  unterbrochen  nur 
durch  kurze  Perioden  vorübergehender  „Ruhe"  von  20 
bis  40  Jahren  Dauer.  In  schwerster  Bedrängnis  erstand 
dann  ein  Retter  des  Volkes  in  Person  eines  ,, Richters", 
welcher  mehrere  Stämme  gegen  den  gemeinsamen  Feind 

Delitzsch,  Die  grosse  Tänschang.  a 


^0  ^'  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

ZU  einigen  und  mit  ungestümer  Tatkraft  das  Stammgebiet 
von  den  Eindringlingen  zu  säubern  verstand.  Als  Feinde 
Israels  sehen  wir  in  erster  Linie  die  Philister  und  die 
Moabiter,  die  Wüstenstämme  der  Amalekiter  und  Midia- 
niter,  aber  auch  innerhalb  des  von  Israel  okkupierten 
Landes  regten  sich  immer  von  neuem  die  früheren  Landes- 
bewohner, wie  z.  B.  Jabin,  der  König  der  nordpalästi- 
nischen Stadt  Chazor.  Nach  innen  kann  natürlich  auch  nur 
von  einem  halbwegs  diesen  Namen  verdienenden  Staats- 
wesen nicht  die  Rede  sein.  Die  innerpolitischen  Zustände 
Israels  waren  die  denkbar  verwahr  losesten,  wie  ja  das 
Richterbuch  wiederholt  sagt  und  auch  zu  seinem  Schluß- 
worte gemacht  hat:  ,,In  jenen  Tagen  war  kein  König  in 
Israel,  jeder  tat,  was  ihm  recht  dünkte".  Es  war,  wie  es 
2Chri5^  heißt,  eine  Zeit  ,,ohne  wahren  Gott  und  ohne 
belehrenden  Priester  und  ohne  Gesetz  (Thora)",  Die 
einzigste  richterliche  Instanz  war  zeitweilig  ein  Richter 
(wohl  auch  eine  Richterin,  wie  Debora),  der,  wie  dies  von 
Samuel  (iSa7^"-)  berichtet  wird,  im  Lande  umherzog 
und  an  einzelnen  Orten  Recht  sprach,  ganz  so,  wie  es 
während  des  Wüstenzuges  durch  Moses  und  seine  Unter- 
richter geschehen  war.  Daß  aber  die  wilden  Nomaden- 
horden, als  welche  wir  die  Stämme  Israels  nach  den  gleich- 
zeitigen keilschriftlichen  Denkmälern  zu  betrachten  haben, 
auch  sittlich  auf  sehr  tiefer  Stufe  standen,  bezeugt  das 
Richterbuch  selbst  neben  der  oben  erwähnten  Schandtat 
von  Gib'a  noch  durch  ein  weiteres  drastisches  Beispiel 

(Kap.  17  f.). 

Die  Mutter  eines  Ephraimiten  namens  Micha  hatte 
Jaho  zu  Ehren  aus  200  Sekel  Silber  ein  metallüber- 
zogenes Schnitzbild  anfertigen  lassen,  das  in  Michas  Haus 
Platz  fand.  Dieser  selbst  besaß  eine  Hauskapelle  nebst 
Ephod  ^  und  Penaten  und  hatte  das  Priesteramt  zunächst 
einem  seiner  Söhne  übertragen,  weiterhin  aber  einen  von 
Bethlehem- Juda  zugewanderten  jungen  Leviten  zur  Über- 

1)  Priesterliches  Schulterkleid  mit  Orakeltasche. 


Der  Stumm  Dun  sucht  nach  einem  Wohnsitze.  51 

nähme  seines  Hauspriestertums  gegen  feste  Besoldung  ge- 
wonnen. Der  junge  Levit  war  bei  Micha  wie  Kind  im 
Hause.  Der  Erzähler  bemerkt  abermals,  daß  „damals 
kein  König  in  Israel  war,  jeder  getan  habe,  was  ihm  recht 
dünkte",  und  gibt  dadurch  zu  verstehen,  daß  noch  zur 
Richterzeit  Bildnisse  zur  Verehrung  Jahos  aufgestellt 
wurden  und  dieser  Brauch  erst  in  der  Königszeit  streng 
verpönt  wurde.  Auch  Gideon  hatte  ja  kaum  das  Wort  aus- 
gesprochen: ,, Nicht  ich  noch  mein  Sohn,  sondern  Jaho  soll 
über  euch  herrschen",  so  fertigte  er  auch  schon  aus  einem 
Teile  der  Beute  Midians  im  Betrag  von  1700  Goldsekeln 
ein  metallüberzogenes  Bild  und  stellte  es  in  Ofra  auf 
(Ri  S^'^"^'),  wo  es  von  ganz  Israel  abgöttisch  verehrt  wurde. 

In  eben  jener  Zeit  suchte  der  Stamm  Dan  (s.  oben 
S.  39)  nach  einem  Wohnsitze.  Er  sandte  zu  diesem 
Zwecke  fünf  Kundschafter  aus,  und  diese  nächtigten  auf 
ihrem  Wege  durch  das  Gebirg  Ephraim  im  Hause  des 
Micha.  Der  junge  Levit  befragte  auf  ihr  Verlangen  Jaho, 
ob  ihre  Reise  erfolgreich  sein  werde,  und  dieser  gab  ihnen 
ermutigenden  Bescheid.  So  zogen  sie  weiter  und  ge- 
langten zu  der  im  nördlichsten  Palästina  belegenen  Ort- 
schaft Laisch,  deren  Bewohner  ein  ideal  friedliches,  im- 
gestörtes  und  zugleich,  obwohl  der  Ort  zu  Sidon  gehörte, 
völlig  unabhängiges  Leben  führten. 

Zu  ihren  Stammesgenossen  zurückgekehrt,  priesen  sie 
diesen  die  Friedlichkeit  jenes  Ortes  und  die  Güte  seiner 
weitgedehnten  Landschaft.  Daraufhin  zogen  600  be- 
waffnete Daniten  aus,  nahmen  ebenfalls  ihren  Weg  durch 
das  Gebirg  Ephraim  und  wurden,  in  die  Nähe  des  Ge- 
höftes des  IVIicha  gelangt,  von  den  fünf  Kundschaftern 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  sich  in  Michas  Hause 
ein  Priestergewand,  Hausgötter  und  ein  silberüberzogenes 
Schnitzbild  befänden.  Der  Wink  genügte  —  sofort  be- 
setzten die  600  Bewaffneten  das  Tor,  während  die  fünf 
Kundschafter  die  ihnen  vordem  erwiesene  Gastfreund- 
schaft damit  lohnten,  daß  sie  alle  diese  wertvollen  Gegen- 


22  I-  Israels  Eindringen  in  Kanaan. 

stände  kurzerhand  raubten.  Als  der  Levit  fragte,  was 
sie  täten,  erhielt  er  die  brutale  Antwort:  ,, Halte  das 
Maul !  Komme  mit  uns  und  sei  uns  Vater  und  Priester !" 
Jedes  Ehr-  und  Pflichtgefühles  bar,  ging  der  Levit  auf 
ihren  Vorschlag  ein  und  packte  Michas  Hausschatz  zu- 
sammen. Ein  ganzer  Stamm  Israels  verübt  schändlichsten 
Raub!  ^  Um  der  zu  erwartenden  Verfolgung  wirksam 
begegnen  zu  können,  stellten  die  Daniten  die  kleinen 
Kinder,  die  Viehherden  und  den  Troß  an  die  Spitze 
ihres  Weiterzuges.  In  der  Tat,  sie  hatten  kaum  Michas 
Gehöft  verlassen,  so  sahen  sie  hinter  sich  das  Auf- 
gebot von  Michas  Leuten.  Micha  schreit:  „Meine  Götter, 
die  ich  gemacht,  habt  ihr  genommen  und  den  Priester 
dazu  —  was  habe  ich  noch?"  Aber  auch  er  erhält  die 
brutale  Aufforderung  zu  schweigen,  daß  er  nicht  nieder- 
gestochen werde!  Micha  weicht  der  Übermacht.  Die 
Daniten  gelangten  mit  ihrem  Raube  nach  dem  im  tiefsten 
Frieden  daliegenden  Laisch,  erschlagen  die  Bewohner  mit 
dem  Schwerte  und  verbrennen  die  Ortschaft  mit  Feuer. 
Dann  bauten  sie  die  Stadt  neu  und  benannten  sie  nach 
ihrem  Stammvater  Dan.  Das  gestohlene  Bild  aber  blieb 
ihr  Heiligtum  bis  zur  Wegführung  des  Stammes  in  die 
assyrische  Gefangenschaft^,  und  ein  Sohn  Gerschoms, 
Enkel  Mosis,  und  seine  Nachkommen  waren  durch  zwei 
Jahrhunderte  und  mehr  des  gestohlenen  Jahobildes  Prie- 
ster! Man  versteht,  warum  die  Amoriter  ihre  aus  der 
Wüste  eingedrungenen  Stammesgenossen,  die  Habiri, 
als  „Räuber"  und  , .Mörder"  bezeichneten.  Abermals 
(s.  S.  28)  ein  schreiender  Gegensatz  zwischen  Wahrheit 
und  Dichtung:  in  unserer  Jugend  stellten  wir  uns  nach 
dem  2.  und  4.  Buch  Mosis   den   Zug   der  Kinder  Israel 


1)  Mit  Raub  von  Silber  und  Gold  begann  ja  auch  Gesamtisraels 
Aufbruch  aus  Ägypten,  s.  S.  79. 

2)  Nach  einer  anderen  Quelle  wäre  Michas  Schnitzbild  aufgestellt  ge- 
blieben, solange  „das  Haus  Gottes"  sich  in  Silo  befand.  Gemeint  ist 
die   Bundeslade  nebst  dem  zugehörigen  Unterkunftszelte. 


Die  Hebräer  ruiibende  und  mordende  Nomaden.  53 

vor  wie  die  feierliche  Prozession  eines  Volkes  von  Priestern, 
begleitet  von  einem  prächtigen  Heiligtum  Jahos  mit 
goldenem  Altar  und  goldenem  Leuchter,  und  jetzt  erfahren 
wir  aus  den  zeitgenössischen  Schriftdenkmälern,  die  oben- 
drein vom  Buche  Josua  und  vom  Richterbuche  bestätigt 
werden,  daß  die  in  Kanaan  eingedrungenen  alten  Hebräer 
gar  kein  heiliges  Volk  waren,  sondern  im  Gegenteil  raubende 
und  mordende  Nomaden. 

Aber,  wird  man  fragen :  wie  sind  solche  Zustände  denk- 
bar? Kein  Sabbath,  nicht  einmal  von  den  Priestern 
gehalten,  Gußbilder  zu  Ehren  Jahos  gemacht,  Mord, 
Menschenraub  und  sonstiger  Raub  —  und  das  bei  einem 
Volke,  dem  Jaho  auf  dem  Berge  Sinai  sich  persönUch 
geoffenbart,  dem  er  vom  und  am  Berge  Sinai  gegen  60  enge 
Druckseiten  lange  Gebote  gegeben  und  dem  er  39  Jahre 
später  noch  einmal  kurz  vor  dem  Übergang  über  den 
Jordan  durch  den  Mund  Mosis  die  gleichen  und  andere 
Gebote  unter  den  eindringlichsten  Ermahnungen  und  ab- 
schreckendsten Drohungen  hatte  zukommen  lassen,  und 
auf  welche  sich  Israel  immer  von  neuem  feierlichst  ver- 
pflichtet hatte?  Die  gleiche  Frage  drängt  sich  auch  über 
die  Richterzeit  hinaus  auf.  Das  von  Jaho  Mose  kundgetane 
Königsgesetz  z.  B.  (Nr.  98  des  Anhangs)  gebietet,  daß 
der  König  sich  nicht  viele  Rosse  halten  und  das  Volk  nicht 
nach  Ägypten  zurückführen  solle,  um  sich  viele  Rosse  zu 
verschaffen ;  daß  er  sich  nicht  viele  Frauen  zulege ;  daß  er 
Gold  und  Silber  sich  nicht  in  Mengen  aufhäufe.  Und  doch 
tut  Salomo,  ,,der  Geliebte  Jahos",  von  alledem  gerade 
das  Gegenteil :  er  betreibt  ein  lebhaftes  Importgeschäft  mit 
ägyptischen  Pferden,  legt  sich  einen  Harem  von  700  Frauen 
und  300  Kebsweibern  zu  (i  Kö  ii^)  und  kennt  im  Aufhäufen 
von  Gold  und  Silber  kein  Maß  imd  Ziel,  wie  er  sich  ja  auch 
den  tyrischen  Schiffssendungen  nach  Ophir  anschließt. 
Und  wie  haben  wir  es  gar  zu  verstehen  (s.  bereits  oben 
S.  22),  daß  die  schon  beim  Auszug  aus  Ägypten  und 
weiterhin  vom  Sinai  den  Israeliten  als  eine  fundamentalste 


Sa  II.  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Forderung  eingeschärfte  Feier  des  Passahfestes  nach 
dem  Eingeständnis  von  2  Kö  2  3  ^^  seit  der  Richterzeit 
imd  bis  hinab  auf  Josia,  also  viele  Jahrhunderte  hindurch 
nicht  gefeiert  wurde?  Wie  reimt  sich  das  alles  zu  der 
Gottesoffenbarung  vom  Sinai,  wie  sie  im  2.  bis  5.  Buche 
Mosis  „überliefert"  ist? 

Und   damit  kommen   wir   zu   dem   zweiten   Hauptteil 
dieser  Schrift, 

II. 

die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai 

kritisch  zu  beleuchten.  Die  Kritik  drängt  sich  hier  fast 
noch  unwiderstehlicher  auf  als  beim  ersten  Hauptteil,  in- 
dem das  Alte  Testament  selbst  die  widerhistorische  Dar- 
stellung der  Vorgänge  mit  leichter  Mühe  erkennen  läßt, 
ja  uns  unmittelbar  zur  Aufdeckung  großer  Täuschungen 
die  Hand  bietet.  Es  handelt  sich  bei  den  genannten  vier 
Büchern  Mosis  oder  richtiger  des  Pentateuchs  in  erster 
Linie  um  zwei  große  Täuschungen  oder  Verschiebungen; 
Die  erste  Täuschung  betrifft  das2.bis  4.  Buch  Mosis. 
Es  ist  traurig  zu  sagen,  daß  den  Mittelpunkt  der  sog.  Thora 
•Mosis,  des  vom  nachexihschen  Judentum,  vor  allem  auch  in 
den  Psalmen ,  vergötterten  Buches,  eine  einzigegroße 
Täuschung  bildet,  indem  die  ganzen  27  Kapitel  des  Le- 
viticus,  dazu  die  unmittelbar  vorhergehenden  Kapitel  25 — 
31,  35 — 40  des  Exodus  und  die  unmittelbar  anschließen- 
den Kapitel  i — 10  nebst  anderen  größeren  Abschnitten 
des  Buches  Numeri  (z.  B.  Kapp.  15.  17 — 19.  34 — 36),  also 
in  Summa  gegen  60  lange  Kapitel  des  Pentateuchs  mit 
Mosis  bzw.  Jahos  Gesetzgebung  vom  oder  am  Sinai  gar 
nichts  zu  tun  haben,  sondern  den  kompakten  Bestandteil 
eines  im  5.  Jahrhundert,  der  Zeit  Ezras,  von  den  jüdischen 
Priestern  verfaßten  bzw.  zusammengestellten  Gesetzes- 
kodex bilden,  welcher  zwecks  größerer  Autorität  auf 
Jahos  Offenbarung  vom  Sinai  zurückgeführt  wird,  wobei 


Die  Fiktion  eines  tempelartigen  Wüstenheiligtums.  cg 

es  dem  Verfasser  gar  nichts  verschlägt,  nicht  allein  mit 
seinem  an  sechzigmal  wiederholten  ,,und  Jaho  sprach  zu 
Mose"  den  Namen  Jahos  ebensoviele  Male  gröblich  zu 
mißbrauchen,  sondern  überdies  ganze  Geschehnisse  ein- 
fach zu  fingieren.  In  letzterer  Hinsicht  meine  ich  alles  von 
der  Herstellung  und  Ausstattung  des  sog.  Stiftszeltes 
(Anm.  28)  in  den  obengenannten  Kapiteln  des  Exodus 
Erzählte.  Den  religiösen  Mittelpunkt  Israels  während 
des  Wüstenaufenthaltes  und  noch  lange  Zeit  nach  der 
teilweisen  Inbesitznahme  Kanaans  bildete  der  hölzerne 
Kasten,  in  welchem  die  zwei  Gesetzestafeln  niedergelegt 
waren,  „Bundeslade"  genannt  nach  ebendiesen  den  Bund 
Jahos  mit  Israel  enthaltenden  Gesetzestafeln  (Anm.  29). 
Es  läßt  sich  denken,  daß  diese  die  Gegenwart  Jahos 
symbolisierende  Lade  nicht  unter  freiem  Himmel,  sondern 
unter  einem  Zelte  bewahrt  wurde,  wie  dies  noch  zu 
Davids  Zeit  der  Fall  war.  David  ließ  die  aus  Qirjat- 
Jearim  nach  Zion  verbrachte  Lade  in  dem  Zelte  nieder, 
das  er  für  sie  ausgespannt  hatte,  und  brachte  Trank- 
und  Huldigungsopfer  vor  Jaho  dar,  was  natürlich  auf 
einem  ad  hoc  erbauten  Brandopferaltar  geschah  (s.  2  Sa 
6").  Dagegen  läßt  jener  Priesterkodex  schon  während 
der  Wüstenwanderung  Jaho  ein  überaus  prächtiges  Zelt- 
heiligtum bewohnen,  welches  mutatis  mutandis  ganz  dem 
späteren  salomonischen  Tempel  auf  Zion  entsprach:  ein 
großes  Gerüst  aus  Akazienholzbrettern,  die  mit  Gold  über- 
zogen und  von  je  zwei  durch  goldene  Ringe  gestoßenen 
Riegeln  zusammengehalten  wurden.  Die  Wände  dieser 
„Wohnung"  waren  innen  mit  Teppichen  behangen.  Im 
Innern  schied  eine  Scheidewand  von  Teppichen  das 
20  Ellen  lange  ,, Heilige"  von  dem  10  Ellen  langen  „Aller- 
heilig.sten".  In  ersterem  stand  der  Schaubrottisch  aus 
goldüberzogenem  Akazienholz,  ferner  Schalen  und  Kelche 
zum  Trankopfer,  sowie  ein  siebenarmiger  goldener  Leuchter, 
an  der  Mitte  der  Hinterwand  aber  ein  mit  Hörnern  an  den 
vier  Ecken  versehener  Räucheraltar.    Im  Allerheiligsten 


e6  II'  DJs  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

stand  die  Bundeslade,  Das  ganze  Zeltheiligtum  umgeben 
von  einem  durch  Säulen  abgegrenzten  Vorraum,  in  welchem 
sich  vor  dem  Zelteingange  der  Brandopferaltar  befand  aus 
kupferüberzogenem  Akazienholz  (Ex  27  *) .  Aber  dieses 
ganze  prachtvolle  Zeltheiligtum  samt  seiner  ganzen  Aus- 
stattung an  goldenen  Gefäßen  und  Geräten  ist  eine 
reine  Fiktion,  eine  tendenziöse  Rückübertragung  des 
salomonischen  Tempels  in  die  Zeit  des  Wüstenzuges,  mit 
nackten  Worten :  eine  Geschichtsfälschung.  Weder  beim 
Übergang  über  den  Jordan  noch  hinterher  in  der  Richter- 
und Königszeit  geschieht  jemals  eines  solchen  Wüsten- 
heiligtums Erwähnung;  das  5.  Buch  Mosis  weiß  nichts  von 
alledem,  und  bei  der  Erbauung  des  salomonischen  Tempels, 
der  doch  dieses  Wüstenheiligtum  zum  Vorbild  gehabt 
haben  würde,  ist  mit  keiner  Silbe  von  einem  „Stiftszelte" 
oder  dessen  Einrichtungsgegenständen  die  Rede.  Auch 
im  einzelnen  stimmt  es  nicht.  Das  erste  Gebot,  das  Jaho 
nach  dem  Dekalog  vom  Sinai  spricht  (Ex  20  2^),  lautet 
(s.  Nr.  134  des  Anhangs) :  „Einen  Altar  aus  Erde  sollst 
du  mir  machen  und  auf  ihm  deine  Brand-  und  Huldigungs- 
opfer, deine  Schafe  und  deine  Rinder,  opfern;  an  jedem 
Orte,  woselbst  ich  meinen  Namen  nennen  werde,  werde 
ich  zu  dir  kommen  und  dich  segnen"  —  wie  kaim  Jaho 
im  selben  Atemzuge  (Ex  27^)  die  Anfertigung  jenes 
kupferüberzogenen  Bretteraltars  anbefohlen,  ja  sogar  ein 
Modell  desselben  Mose  auf  dem  Sinai  gezeigt  haben! 
Die  Täuschung  ist  eine  ganz  absichtliche,  da  nicht  allein 
gesagt  wird,  daß  Jaho  das  Modell  zu  diesem  Zeltheiligtum 
und  zu  seiner  Inneneinrichtung  Mose  gezeigt  habe  ^,  auch 
die  ganze  Masse  des  verarbeiteten  Materials  an  Gold, 
Silber  und  Kupfer,  an  Purpur,  Karmesin,  Byssus  und 
Ziegenhaar,  an  Akazienholz,  öl  und  Spezereien,  Edel- 
steinen aller  Art  genau  angegeben  und  zum  Teil  detailliert 

^)  Das  Zeltheiligtum  sollte  Jaho  errichtet  werden  „genau  nach  dem 
Modell  der  Wohnvmg  und  aller  ihrer  Geräte,  das  ich  dir  zeige"  (Ex  25  »). 
„Modell  des  Leuchters,  das  dir  auf  dem  Berge  gezeigt  wurde  '  (25**). 


Rückdatierung  des  „Priesterkodex"  um  <joo  Jahre.  ^j 

berechnet  ist,  sondern  weil  sogar  die  Namen  der  beiden 
Tausendkünstler  genannt  werden,  die  alle  diese  Kunst- 
werke im  ersten  Jahre  nach  dem  Auszuge  aus  Ägypten  in 
der  Wüste  hervorgezaubert  haben  sollen,  Kunstwerke 
ersten  Ranges  in  Teppichweberei,  Goldschmiede-  und  Edel- 
steinschneidekunst usw.,  was  um  so  befremdlicher  wirkt, 
als  Salomo  für  die  Inneneinrichtung  seines  Tempels  ganz 
und  gar  auf  tyrische  Hilfe  angewiesen  war  (i  Kö7^^"*)! 
Die  ganze  Fiktion  eines  solchen  Zeltheiligtums  mit  seinen 
verschiedenen  Altären,  seinem  Schaubrottisch,  goldenem 
Leuchter  usw.,  das  natürlich  von  einem  ganz  ausgebildeten 
Priesterstande  nebst  niederen  Tempeldienern  bedient 
werden  mußte,  ermöglichte  es  jenem  Priesterkodex,  auch 
das  im  Laufe  von  Jahrhunderten  ausgebildete  Opferritual  * 
und  Priesterzeremoniell  fix  und  fertig  bereits  in  die  Zeit 
Mosis  zu  verlegen.  Er  läßt  daher  nicht  allein  die  Her- 
stellung und  Einrichtung  des  Zeltheihgtums  schon  am 
Sinai  anbefehlen  und  ausführen,  sondern  zugleich  die 
Priestergarderobe  bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  anordnen 
nnd  anfertigen,  er  läßt  Aaron  und  seine  Söhne,  „die  die 
Speise  Jahos  darbringen"  (Lev2i^*),  nach  feierlichstem 
Zeremoniell  zum  Priestertume  weihen,  und  schließt  daran 
eine  schier  endlose  Reihe  ausgetüftelter  Vorschriften  für 
die  einzelnen  Opferarten,  ganz  so  wie  sie  in  Babylonien 
für  die  ,, heidnischen"  Götter  Marduk,  Nebo  usw.  sich 
finden,  Bestimmungen  für  den  Anteil  der  Priester  an 
den  Opfern,  für  die  Zubereitung  des  heiligen  Salböls  usw., 
für  reine  und  unreine  Tiere',  ferner  von  Aberglauben 
strotzende  hygienisch-medizinische  Vorschriften  für  die 
Wöchnerin,  die  Menstruierende,  für  Krankheiten  der 
Harnröhre,  für  sog.  Aussatz  (Anm.  30)  am  menschlichen 
Körper,   an  Linnen-  und  Wollenkleidern,   an  Leder,    an 

*)  Vgl.  Jer  7":  ,,Ich  habe  euren  Vätern,  als  ich  sie  aus  Ägypten 
herausführte,  nicht  geredet  und  keinen  Befehl  ihnen  gegeben  betreffs 
Brandopfer  und  Schlachtopfer". 

*)  Schon  im  Deuteronomium  Kap.  i^^~-°. 


^8  li.  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Häusern  —  alles  Bestimmungen,  die  in  ihrer  Gesamtheit 
geeignet  sind,  Jaho  auf  eine  Linie  mit  jedem  beliebigen 
babylonischen  sog.  „Götzen"  zu  stellen.  Ganz  wenige 
Einzelheiten  mögen  das  Gesagte  illustrieren.  Für  Geflügel- 
brandopfer wird  z.  B.  vorgeschrieben,  daß  der  Priester 
der  darzubringenden  Taube  den  Kopf  einknicken  und 
das  Blut  an  die  Wand  des  Altars  auspressen  solle,  den 
Kropf  dagegen  wegnehmen  und  östlich  vom  Altar  auf 
den  Aschenhaufen  werfen;  dann  solle  er  ihr  die  Flügel 
einreißen,  jedoch  ohne  sie  abzutrennen  usw.  (Lev  i^*"*). 
Oder  es  sei  erinnert  an  die  Bestimmungen  zur  Reinigung 
des  Aussatzes,  die  damit  beginnen,  daß  der  Priester  zwei 
lebende  reine  Vögel  nehmen  solle  und  den  einen  Vogel 
schlachten  lasse  in  ein  irdenes  Gefäß  über  lebendigem 
Wasser,  der  andere  lebende  Vogel  aber  solle  unter  Zutun 
von  Zedernholz,  Karmesin  und  Ysop  in  das  Blut  des  ge- 
schlachteten Vogels  getaucht,  der  zu  Reinigende  sieben- 
mal besprengt,  der  lebende  Vogel  ins  freie  Feld  fliegen  ge- 
lassen werden  usw.,  woran  sich  dann  weitere  schier  end- 
lose, gleich  abergläubische  Bestimmungen  schließen  (Lev  14) 
—  ein  bedauernswertes  Zeichen  für  den  grenzenlosen  Aber- 
glauben selbst  der  Intellektuellen  des  jüdischen  Volkes,  der 
Priester  und  Schriftgelehrten,  noch  im  5.  vorchristlichöi 
Jahrhundert,  der  Zeit  der  Entstehung  des  Judentums. 

Die  zweite  große  Täuschung  betrifft  das  5.  Buch  Mosis, 
das  sog.  Deuteronomium:  eine  Sammlung  der  Reden, 
die  Moses  am  ersten  Tage  des  11.  Monats  des  40.  Jahres 
nach  dem  Auszug  aus  Ägypten  jenseits  des  Jordans  im  Lande 
Moab  den  Israeliten  kurz  vor  deren  Übergang  über  den 
Jordan  verkündete,  verbunden  mit  einer  Sammlung  von 
Gesetzen,  die  Jaho  vom  Sinai  dem  Volke  gegeben  hatte,  die 
Gesetze  des  sog.  „Bundesbuches"  (s.  S.  61)*  teils  variierend, 

■  1)  Der  Name  „Btmdesbuch",  d.i.  eefer  habberith,  Ex  24',  richtiger 
Bach  des  (von  Jaho  mit  Israel  geschlossenen)  Vertrages,  sei  hier  für 
die  im  Buche  Exodus  überlieferten  Gesetze  beibehalten,  obwohl  nicht 
zu  vergessen  ist,  daß  auch  das  Deuteronomium  so  genannt  wird  (2  Kö23*i). 


Rückdatierung  des  Deutcronomiums  am  680  Jahre,  cg 

teils  durch  neue  Gesetze  erweiternd.  Moses  habe  —  so  lesen 
wir  Dt3i'"  ^*"  —  die  Worte  dieses  zweiten  Gesetzes  in 
ein  Buch  niedergeschrieben  und  die  Leviten  beauftragt,  es 
neben  die  Bundeslade  zu  legen.  Es  ist  nicht  denkbar,  daß 
Mose  nach  39  Jahren  noch  so  viele  neue  Gesetze  ein- 
gefallen sein  sollen  neben  denen,  die  ihm  Jaho  schon  auf 
dem  Sinai  in  persönlicher  Zwiesprache  aufgetragen  und 
die  Moses  sogar,  unmittelbar  nachdem  Jaho  sie  ihm  ver- 
kündet, in  einem  Buche  schriftUch  aufgezeichnet  hatte! 
Vielmehr  handelt  es  sich  bei  diesen  Gesetzen  des  Deutcro- 
nomiums um  eine  im  Laufe  der  Zeiten  entstandene  zweite 
Serie  von  Gesetzen,  die  gleich  der  ersten  auf  Jaho  als  den 
Gesetzgeber  Israels  zurückgeführt  wurde,  umrahmt  von 
Erinnerungen  an  die  Hauptereignisse  des  Wüstenzugs  und 
an  Jahos  Großtaten  bei  der  Einnahme  Kanaans  sowie  von 
langatmigen,  in  ihrer  Gleichartigkeit  ermüdenden  Pre- 
digten mit  eindringlichen  Ermahnungen,  an  Jaho  fest- 
zuhalten, mit  furchtbaren  Strafandrohungen  und  herr- 
lichen Lohnverheißungen,  alles  Mose  selbst  in  den  Mund 
gelegt,  aber  durchaus  entsprechend  der  durch  das  ganze 
Königsbuch  sich  hinziehenden  Geschichtsbetrachtung  der 
Propheten.  Und  diese  Entstehung  des  Deutcronomiums 
in  der  späteren  Königszeit  bestätigt  das  Alte  Testament 
selbst  in  authentischer  Weise!  Denn  das  zweite  Königs- 
buch erzählt  uns  (Kap.  22  f.),  wie  der  König  Josia  seinen 
Sekretär  namens  Schaf  an  zum  Hohenpriester  Chilqia  in  den 
Tempel  gesandt  habe  mit  dem  Auftrage,  das  für  den 
Tempel  eingegangene  Geld  an  die  bei  der  Tempelrestau- 
rierung beschäftigten  Arbeiter  zur  Auszahlung  zu  bringen, 
und  der  Hohepriester  ihn  mit  den  Worten  empfangen 
habe:   „Ein  (?)  Gesetzbuch*  habe   ich    gefunden!" 


*)  Da  auch  für  das  ..Bundesbuch"  mit  seinen  älteren  Gesetzen  schrift- 
liche Fixierung  anzunehmen  ist  (Ex  24^-*),  so  dürfte,  was  sprachlich 
durchaus  möglich  ist  (Anm.  31),  die  Übersetzung  ,,ein  Gesetzbuch" 
statt  des  üblichen  „das  Gesetzbuch"  für  sefer  hattörä  (ohne  vorstehendes 
'ith)  wohl  in  Erwägung  zu  ziehen  sein.   Man  braucht  nur  anzunehmen. 


6o  I^-  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Schäfän  las  es,  ging  zum  König,  um  wegen  der  Geld- 
auszahlung zu  berichten,  sagt  weiter,  daß  der  Hohepriester 
ihm  ein  Buch  gegeben  habe,  und  las  dieses  dem  Könige 
vor.  Der  König  zerreißt  seine  Kleider  und  läßt  durch 
Chilqia,  Schäfän  und  drei  andere  königliche  Würdenträger 
Jaho  betreffs  dieses  Buches  befragen,  überzeugt,  daß  der 
Zorn  Jahos  gegen  ihn  und  ganz  Juda  groß  sein  müsse,  da 
sein  Volk  nicht  nach  dem  Inhalt  des  gefundenen  Buches 
getan  hätte.  Sie  gingen  zu  der  in  Jerusalem  II  wohnhaften 
Prophetin  Chulda.  Diese,  die  augenscheinlich  über  alles, 
auch  über  den  Inhalt  des  Buches  bereits  vollkommen 
tmterrichtet  ist^,  stellt  den  königlichen  Boten  das  über 
Jerusalem  kommende  Unglück  in  sichere  Aussicht,  doch 
würden  die  Augen  des  Königs  selbst  Jahos  unauslösch- 
lichen Zorn  und  das  Unglück  nicht  sehen.  Nun  versammelt 
der  König  alle  Ältesten  Jerusalems  und  zieht  mit  ihnen, 
den  Priestern,  Propheten  und  dem  ganzen  Volke  zum 
Tempel,  liest  ihnen  das  gefundene  Gesetzbuch  vor,  worauf 
König  und  Volk  sich  auf  das  Gesetz  feierlich  verpflichten. 
Es  erfolgt  dann  die  große  Reinigung  des  Tempels,  der 
Stadt  Jerusalem  und  des  ganzen  Landes  von  allem  Götzen- 
dienst, der  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  in  Juda  und 
Jerusalem    festgesetzt   hatte,    und    wir   sind    starr   beim 

daß  das  in  Israel  gültige  Gesetz  schlechtweg  hattörä  hieß  und  dem- 
entsprechend jede  schriftliche  Gesetzessammlung  ein  sefer  hattörä  war. 
Daß  zu  der  ersten,  älteren  Gesetzessammlung  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
noch  eine  weitere  hinzugekommen,  der  abermals  der  (bzw.  ein)  Dekalog 
vorgefügt  war,  würde  nichts  Auffälliges  haben.  Auf  die  Wieder- 
auffindung eines  verloren  gegangenen  Gesetzbuches  lassen 
Chilqias  Worte  überhaupt  nicht  schließen. 

*)  Es  lehrt  dies,  daß  das  Deuteronomium  in  seiner  ursprünglichen 
Gestalt  aus  Prophetenkreisen,  näher  aus  den  der  Prophetin  Chulda 
nächststehenden  Kreisen  hervorgegangen  ist,  gleichzeitig  unter  Mit- 
wirkung von  Priestern,  wie  aus  den  im  Deuteronomium  enthaltenen 
mannigfachen  Kultvorschriften  zu  schließen  ist,  deren  wichtigste  die 
ist,  daß  nur  in  Jerusalem,  der  Stätte,  die  Jaho  aus  allen  Städten  er- 
wählt hat.  seinen  Namen  dort  wohnen  zu  lassen  (Dt  i2*-  ^M,  geopfert 
werden  darf. 


Die  Rückdatierung  des  ..Bundesbuclies"  in  die  Zeit  Mosis.        6l 

Lesen  von  2KÖ2  3*~**,  wie  Jahos  Tempel  in  Jerusalem 
mit  götzendienerischen  Gegenständen  zu  Ehren  Baals,  der 
Aschera  und  des  ganzen  Himmelsheeres  angefüllt  war.  Die 
von  den  Königen  Judas  bestellten  Götzenpriester,  die  auf 
den  Kulthöhen  allüberall  dem  Baal,  der  Sonne,  dem  Mond 
usw.  geopfert  hatten,  wurden  verbrannt,  die  im  Tempel  zu 
Jerusalem  dem  Sonnengott  von  den  Königen  Judas  gestif- 
teten Rosse  nebst  den  Wagen  desgleichen.  Um  denkbar 
größten  Einfluß  auf  den  König  Josia  zu  üben,  hatten  die 
prophetischen  Strafprediger  ihre  Worte  Mose  selbst  in  den 
Mund  gelegt,  der  sie  kurz  vor  seinem  Tode  gleichsam  als  sein 
religiöses  und  politisches  Testament  kundgetan  habe,  und 
sie  hatten  diesen  Eindruck  auch  bei  den  eingestreuten 
Gesetzen  dadurch  zu  wahren  gesucht,  daß  sie  (im  Unter- 
schiede vom  ,, Bundesbuch")  immerfort  auf  die  bevor- 
stehende Einnahme  Kanaans  durch  Israel  hinwiesen — eine 
durch  die  fromme  Absicht  zwar  entschuldbare  Täuschung, 
aber  dennoch  eine  Täuschung,  und  zwar  nicht  allein  des 
Königs  Josia,  sondern,  was  schwerer  wiegt,  aller  mensch- 
lichen Generationen  bis  tief  herab  in  die  christliche  Zeit. 
Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß,  wenn  die  vermeint- 
lichen Gesetze  Jahos  vom  Sinai  im  Deuteronomium  als 
ungleich  viel  jüngere  Gesetze  rein  menschlichen  Ursprungs 
erwiesen  sind,  kodifiziert  in  den  Jahren  vor  621  v.  Chr., 
und  wenn  alle  die  Kultus-  und  Priestergesetze  des  2.  bis 
4.  Buches  Mosis  gar  erst  als  im  babylonischen  Exil  kodi- 
fiziert erkannt  wurden,  auch  gegen  die  noch  übrigbleibenden 
israelitischen  Gesetze,  die  Jaho  vom  Sinai  herab  verkündet 
haben  soll,  das  heißt  also  gegen  das  sog.  „Bundesbuch" 
(Ex  21 2 — 23^'),  eine  gewisse  Skepsis  von  vornherein  als 
gerechtfertigt  erscheint.  Dies  um  so  mehr,  als  der  größte 
Teil  dieser  buntscheckigen  Sammlung  sehr  ungeordneter, 
zuweilen  ineinander  gemengter*  Gesetze  und  sonstiger  Vor- 

*)  Vgl.  die  an  ganz  falscher  Stelle  stehenden  Gesetze  Ex  21  **•  ^^'^  22 *• 
la.  8.  30  Aug  ^em  Dt  vgl.  25  *,  wo  zwischen  Prügelstrafe  und  Leviratsehe 
das  Gesetz  steht :  dem  Stier  beim  Dreschen  nicht  das  Maul  zu  verschließen. 


62  II-  I^ifi  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Schriften  für  das  damalige  Wüstenleben  der  Israeliten  ohne 
jeden  Zweck  war,  vielmehr  die  Seßhaftigkeit  des  Volkes 
zur  notwendigen  Voraussetzung  hat.  Gemäß  Ex  24'"^ 
hätte  Moses  alle  diese  Gebote  Jahos  aufgeschrieben  (24^), 
und  dann  unter  Darbringung  von  Opfern  seitens  des 
Volkes  auf  einem  von  Moses  am  Fuße  des  Berges  erbauten 
Altar  das  ,, Bundesbuch"  dem  Volke  laut  vorgelesen  und 
den  Bund  Jahos  mit  dem  Volke  geschlossen.  Was  seitdem 
mit  diesem  von  Moses  niedergeschriebenen  Bundesbuch 
geworden  ist,  erfahren  wir  nirgends.  Denn  neben  der 
Bundeslade  bewahrt  wurde  nur  das  spätere,  zweite  Ge- 
setzbuch, das  sog.  Deuteronomium  (s.  oben  S.  59). 

Zur  leichteren  Orientierung  des  Lesers  habe  ich  in  dem 
die  israelitischen  Gesetze  in  neuer  Übersetzung  enthalten- 
den Anhang  die  Gesamtheit  dieser  ältesten  Gesetze  nach 
Rubriken  geordnet  und  ihnen  die  entsprechenden  jüngeren 
Gesetze  des  Deuteronomiums  (sowie  des  Leviticus)  an- 
gegliedert. Die  Gesetze  des  Exodus  geben  sich  als  die  erste 
Zusammenstellung  der  innerhalb  des  seßhaft  gewordenen 
Israels  zur  Geltung  gekommenen  Gesetze,  stammend  aus 
einer  Zeit,  da  nicht  länger  „jeder  tun  durfte,  was  ihm 
recht  dünkte",  also  wohl  aus  der  der  Richterzeit  folgen- 
den Königszeit. 

Nehmen  wir  alle  Gesetzessammlungen  zusammen,  so 
erkennen  wir  leicht,  daß  die  Gesetze  durchaus  nichts 
Neues,  besonderer  göttlicher  Offenbarung  Wertes  oder 
Bedürftiges  enthalten,  sondern  daß  es  Gesetze  sind,  wie 
sie  bei  jedem  einigermaßen  geordneten  Zusammenleben 
zivilisierter  Menschen  sich  von  selbst  ergeben,  Gesetze, 
wie  sie  genau  so  und  zum  Teil  besser  seit  zwei  Jahrtausen- 
den bereits  in  Babylonien  und  Assyrien  in  Geltung  waren. 
Nur  diesem  Zwecke,  nicht  dem  Erweis  äußerer  Abhängig- 
keit der  israelitischen  Gesetze  von  den  babylonischen,  dient 
der  Vergleich  einzelner  analoger  Gesetzesbestimmungen 
aus  dem  babylonisch-assyrischen  Altertum ,  vornehmlich 
aus  dem  Hammurabi-Kodex  (HK),   die  ich  hinzugefügt 


Die  OffenbarunR  der  zehn  Gebote  vom  Sinai.  63 

habe,  ohne  auch  nur  entfernt  Vollständigkeit  zu  beab- 
sichtigen. Wir  verargen  es  den  israelitischen  Geschichts- 
schreibern durchaus  nicht,  daß  sie  stolz  auf  ihre  Gesetze 
waren,  wie  ja  auch  der  Hammurabi- Kodex  solch  stolzes 
Gefülil  reichlich  zum  Ausdruck  bringt.  Aber  Eines  dürfte 
denn  doch  die  Vergleichung  des  israelitischen  und  baby- 
lonischen Gesetzes  ergeben,  daß  es  nicht  allein  eine  maßlose 
Überhebung,  sondern  vor  dem  Forum  vorurteilsloser  For- 
schung objektiv  unwahr  ist  (Anm.32),  wenn  es  im  Dt  4*"* 
heißt:  ,,Wenn  die  Völker  von  diesen  Satzungen  hören,  wer- 
den sie  sprechen:  Wahrlich,  ein  weises  und  kluges  Volk 
ist  diese  große  Nation!  Denn  wo  wäre  irgendeine  große 
Nation,  die  einen  Gott  hätte,  der  ihr  so  nahe  ist  wie  Jaho, 
unser  Gott,  so  oft  wir  ihn  anrufen?  Und  wo  wäre  irgend- 
eine große  Nation,  die  so  vollkommene  Satzungen 
und  Rechte  besäße,  wie  dieses  ganze  Gesetz,  das  ich 
euch  heute  vorlege?"  Siehe  speziell  für  den  Dekalog  S.  70 
imd  zu  weiterer  Würdigung  vorstehenden  Urteils  S.  80  f. 

Kommen  hiernach  bei  der  Gottes  erscheinung  auf  dem 
Sinai  die  dorthin  ,, zurückdatierten"  drei  Gesetzessamm- 
lungen in  Wegfall,  so  bleibt  nur  das  Wunder  über  alle 
Wunder:  die  Gotteserscheinung  selbst  nebst  dem 
Dekaloge,  d.h.  den  zehn  Geboten,  übrig.  Zu  beider 
Beurteilung  gilt  es  zunächst,  die  erzählten  Haupttatsachen 
kurz  zusammenzufassen.  Aus  dem  von  verschiedenen 
Händen  bearbeiteten,  zum  Teil  widerspruchsvollen  Be- 
richt Ex  19  ff .  läßt  sich  etwa  Folgendes  feststellen : 

Im  dritten  Monat  nach  dem  Auszuge  aus  Ägypten  an 
ebendem  Tage  kamen  die  Israeliten,  von  Rephidim  auf- 
brechend, in  die  Wüste  Sinai  und  lagerten  sich  dort  dem 
Berge  gegenüber.  Als  Moses  ,,zu  Gott  hinaufsteigt",  ruft 
Jaho  ihm  vom  Berge  herab  zu,  den  Kindern  Israel  zu  sagen, 
daß  sie  vor  allen  Völkern  der  Erde  ihm  zu  eigen  gehören, 
ihm  ein  Reich  von  Priestern  und  ein  heÜiges  Volk  sein 
sollten.  Moses  tut  es,  das  Volk  erklärt  einstimmig,  alles 
zu  tun,  was  Jaho  befiehlt,  und  Moses  berichtet  dies  Jaho. 


64  II-  I5ie  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Jaho  sagt  zu  Moses,  er  werde  zu  ihm  kommen  in  dichtem 
Gewölk,  „damit  das  Volk  es  höre,  wenn  ich  mit  dir  rede, 
sowie  auf  ewige  Zeiten  an  dich  glaube".  Heute  und 
morgen  solle  er  sie  heiligen  und  das  Volk  seine  Kleider 
waschen,  denn  übermorgen  werde  Jaho  vor  den  Augen 
des  ganzen  Volkes  auf  den  Berg  Sinai  herabfahren. 
Niemand  komme  dem  Berge  zu  nahe  oder  berühre  ihn, 
weder  Mensch  noch  Vieh.  Da  stieg  Moses  vom  Berge  zum 
Volke  hinab  und  überbrachte  den  Befehl  Jahos.  Am  dritten 
Tage  nun,  als  es  Morgen  wurde,  brachen  Donnerschläge 
und  Blitze  los,  während  eine  schwere  Wolke  auf  dem 
Berge  lagerte,  und  es  erscholl  sehr  starker  Hörnerschall, 
sodaß  alles  Volk  im  Lager  erschrak.  Moses  führte  das 
Volk  aus  dem  Lager  Gotte  entgegen  an  den  Fuß  des 
Berges  Sinai,  der  ganz  in  Rauch  eingehüllt  war,  da  Jaho 
im  Feuer  auf  ihn  herabgefahren  war,  und  stark  erbebte. 
Und  der  Hömerschall  wurde  immer  stärker.  Jaho  berief 
Moses  auf  den  (etwa  2000  Meter  hoch  vorzustellenden)  Gipfel 
des  Berges,  Moses  stieg  hinauf,  um  sofort  von  Jaho  wieder 
herabgeschickt  zu  werden,  das  Volk  eindringlich  zu 
warnen,  zu  Jaho  vordringen  zu  wollen.  Auch  die  Priester 
sollten  sich  der  Reinigung  unterziehen.  Moses  wendet 
zwar  ein,  der  Berg  sei  bereits  vollkommen  gegen  das  Volk 
hin  abgesperrt,  aber  Jaho  bleibt  dabei,  daß  er  hinabsteige 
und  Aaron  mitbringe.  Moses  folgt  dem  Befehl.  Darauf 
redete  Gott  unter  Donner  und  Blitz  und  Hörnerschall 
vom  rauchenden  Berge  herab  zunächst  die  zehn  Worte, 
die  nach  ihrer  uns  geläufig  gewordenen  Wiedergabe  im 
Buche  Exodus  (20^-1')  bekanntUch  folgendermaßen  lauten 
(die  kleineren  Varianten  in  der  Wiedergabe  des  Deutero- 
nomiums  5  ^"^^  sind  in  Klammern,  die  größeren  in  extenso 
beigefügt). 

I.  Ich  bin  Jaho,  dein  Gott,  der  ich  dich  heraus- 
geführt habe  aus  dem  Lande  Ägypten,  dem  Knechts- 
hause. Nicht  sollst  du  andere  Götter  zu  mir  hinzu 
haben  (V.2f.). 


Der  Wortlaut  der  jüugereu  zehn  Gebote.  65 

II.  Du  sollst  dir  nicht  machen  ein  Schnitzbild  und 
(Dt  fehlt  „und")  irgendwelche  Gestalt,  die  im  Himmel 
droben  und  die  auf  Erden  drunten  und  die  in  den  Wassern 
unter  der  Erde  ist.  Du  sollst  ihnen  zu  Ehren  nicht  nieder- 
fallen und  ihnen  nicht  dienen,  denn  ich,  Jaho,  dein  Gott, 
bin  ein  eifersüchtiger  Gott,  der  heimsucht  die  Missetat 
von  Vätern  an  Söhnen,  an  Nachkommen  dritter  und  vierter 
Generation,  soweit  sie  mich  hassen,  aber  Gnade  tut 
Tausenden,  soweit  sie  mich  lieben  und  meine  Gebote 
halten  (V.  4  ff.).^ 

III.  Du  sollst  den  Namen  Jahos,  deines  Gottes,  nicht 
fälschlich  aussprechen,  denn  Jaho  läßt  nicht  ungestraft 
den,  der  seinen  Namen  fälschlich  ausspricht  (V.  7). 

IV.  Gedenke  des  Sabbathtages,  ihn  zu  heiligen.  Sechs 
Tage  sollst  du  arbeiten  und  all  dein  Werk  tun.  Aber  der 
siebente  Tag  ist  Sabbath  Jaho,  deinem  Gotte,  nicht  soUst 
du  irgendwelches  Werk  tun,  du  und  dein  Sohn  und  deine 
Tochter,  dein  Sklave  und  deine  Sklavin  und  dein  Vieh  und 
dein  Schützling,  der  in  deinen  Ortschaften  lebt.  Denn  sechs 
Tage  (lang)  hat  Jaho  die  Himmel  und  die  Erde,  das  Meer 
und  alles,  was  in  ihnen  ist,  gemacht,  und  ruhte  am  siebenten 
Tage.  Deshalb  hat  Jaho  den  Sabbathtag  gesegnet  und 
ihn  geheiligt  (V.  8— 11). 2 

Dagegen  Dt:  Beobachte  den  Sabbathtag,  ihn  zu  heiligen, 
wie  Jaho,  dein  Gott,  dir  befohlen  hat.  Sechs  Tage  usw. 
und  dein  Sklave  und  deine  Sklavin  und  dein  Stier  und 
dein  Esel  und  all  dein  Vieh  und  dein  Schützling,  der  in 
deinen  Ortschaften  lebt,  damit  ruhe  dein  Sklave  und  deine 


1)  Vgl.  Dt  2715;  „Verflucht  der  Mann,  der  Schnitz-  und  Gußbild 
macht,  den  Greuel  Jahos,  das  Händemachwerk  eines  käräs  (Holz-  und 
Metallarbeiters),  und  es  im  Verborgenen  aufstellt".  Femer  Dt4i^-^i^' 

23.    25_ 

2)  Vgl.  Ex  2  3 12;  Sechs  Tage  sollst  du  deine  Arbeiten  tun,  aber  am 
siebenten  Tage  sollst  du  feiern,  damit  ruhe  dein  Stier  und  dein  Esel 
und  aufatme  der  Sohn  deiner  Sklavin  und  der  Schützling.  S.  femer 
Ex  31"  (f.. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.  e 


56  II'  Die  Gottesoff enbaiung  vom  Sinai. 

Sklavin  gleich  dir.  Und  du  sollst  gedenken,  daß  du  ein 
Sklave  gewesen  bist  im  Lande  Ägypten  und  Jaho,  dein 
Gott,  dich  von  dort  herausgeführt  hat  mit  starker  Hand 
und  mit  ausgestrecktem  Arm.  Deshalb  hat  Jaho,  dein 
Gott,  dir  befohlen,  den  Sabbathtag  zu  machen  (V.  12 — 15). 

V.  Ehre  deinen  Vater  und  deine  Mutter,  daß  du  lange 
lebest  auf  dem  Erdboden,  den  Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt 
(V.  12). 

Dt:  Ehre  deinen  Vater  und  deine  Mutter,  wie  Jaho, 
dein  Gott,  dir  befohlen  hat,  daß  du  lange  lebest  und  daß 
es  dir  gut  gehe  auf  dem  Erdboden  usw.  (V.  16), 

VI.  Du  sollst  nicht  töten  (V.  13). ^ 

VII.  Du  sollst  nicht  ehebrechen  (V.  14). ^ 

VIII.  Du  sollst  nicht  stehlen  (V.  15). 

IX.  Du  sollst  nicht  gegen  deinen  Nächsten  das  Wort 
nehmen  als  Lügenzeuge  (V.  16  f.).  (Dt  läßt  den  Geboten 
VII — IX  je  das  Wörtchen  ,,und"  vorhergehen.) 

X.  Du  sollst  dich  nicht  gelüsten  lassen  nach  dem  Hause 
deines  Nächsten.  Du  sollst  dich  nicht  gelüsten  lassen 
(Dt:  Und  du  sollst  nicht  Verlangen  tragen)  nach  dem 
Weibe  deines  Nächsten  (Dt  stellt  Haus  und  Weib  um,  wie 
dies  auch  die  griechische  Übersetzung  des  Exodus  tut,  und 
fügt  dann  noch  ein:  seinem  Felde)  und  seinem  Sklaven 
und  seiner  Sklavin  und  (in  Dt  fehlt  ,,und")  seinem  Stier 
und  seinem  Esel  und  allem,  was  deinem  Nächsten  gehört 
(V.  17). 

Als  dann  Moses  an  das  dunkle  Gewölk  herantrat,  in 
welchem  sich  Gott  befand,  befahl  Jaho  (20  22"-):  ,, Nicht 
sollt  ihr  euch  neben  mir  silberne  imd  goldene  Götter 
machen",  und  gab  weiter  kurze  Vorschriften  betreffs  der 
ihm  zu  errichtenden  Altäre  (s.  Anhang  Nr.  134),  worauf 


1)  Vgl.  Dt  272*  :  Verflucht  sei,  wer  seinen  Nächsten  heimlich  er- 
schlägt. Verflucht  sei,  wer  sich  bestechen  läßt,  unschuldig  Blut  zu  er- 
schlagen. 

2)  Philo  stellt  das  VI.  tmd  VII.  Gebot  um;  der  Cod.  Vaticanus  der 
griechischen  Bibelübersetzung  ordnet  VII,  VIII,  VI. 


Die  Vernichtung  der  ersten  Gesetzestafeln.  57 

dann  unvermittelt  bis  Kap.  23  ^"  das  „Bundesbuch"  (s.  oben 
S.  61  f.)  folgt,  welches  Moses  zunächst  mündlich,  dann  nach 
seiner  eigenen  Niederschrift  dem  Volke  mitteilte. 

Nun  stieg  Moses  von  neuem  mit  Aaron,  Nadab,  Abihu 
und  70  Ältesten  auf  Jahos  Geheiß  zu  Jaho  hinauf.  Mosis 
Begleiter  blieben  von  fern  stehen,  immerhin  erbUckten 
sie  den  Gott  Israels,  zu  seinen  Füßen  etwas  wie  eine 
Saphirplatte  und  gleich  dem  Himmel  an  Klarheit,  ,,sie 
schauten  Gott  und  aßen  und  tranken"!  Inzwischen  stieg 
Moses,  von  seinem  Diener  Josua  begleitet,  auf  den  Berg, 
da  Jaho  ihm  die  von  ihm  selbst  geschriebenen  Stein- 
tafeln mit  dem  Gesetz  und  den  Geboten  geben  wolle.  Am 
siebenten  Tage  rief  Jaho  Mose  aus  der  Wolke  zu,  Moses 
begab  sich  in  die  Wolke  und  stieg  auf  den  Berg,  wo  er 
40  Tage  und  40  Nächte  blieb  (24^'-  ^^^),  um  die  neun  Jahr- 
himderte  später  geschriebenen  Gebote  für  die  Errichtung 
des  Wüstenheiligtums,  Ex  25^ — 31^'  (s.  oben  S.  55  ff.),  zu 
empfangen. 

Nach  Beendigung  dieses  Gespräches  mit  Moses  auf  dem 
Berge  Sinai  übergab  Jaho  Mose  die  beiden  steinernen,  von 
Gott  selbst  angefertigten  imd  von  Gottes  Finger  auf  beiden 
Seiten  geschriebenen  ,, Tafeln  des  Zeugnisses"   (31^^). 

Da  sich  Mosis  Rückkehr  verzögerte,  veranlaßte  das 
Volk  Aaron,  ihm  einen  Gott  zu  machen,  der  vor  ihm  her- 
zöge. Aaron  bildet  das  goldene  Kalb  und  sagt:  ,,Das  ist 
dein  Gott,  Israel,  der  dich  aus  Ägypten  weggeführt  hat!" 
Moses,  von  Josua  begleitet,  kehrt,  die  beiden  Gesetzes- 
tafeln in  der  Hand,  zimi  festfeiernden  Volke  zurück  und 
zerschmettert  voll  Zornes  die  göttlichen  Tafeln  am  Fuße 
des  Berges.  Das  Kalb  wird  zermalmt,  worauf  Moses  zu 
Jaho  zurückkehrt,  um  für  das  Volk  Fürbitte  zu  tim 
(Kap.  32). 

Weiterhin  (Ex  34^"*)  befahl  Jaho  Mose,  zwei  den 
früheren  gleiche  Steintafeln  zuzuhauen,  ,, damit  er  (Jaho) 
auf  die  Tafeln  die  Gebote  schreibe,  die  auf  den  früheren 
Tafeln  standen"   (Ex  34^   Dt  10  2);   dann  solle  er,   allein. 


68  II-  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

ZU  ihm  auf  den  Gipfel  des  Berges  Sinai  steigen.  Als 
Moses  den  Befehl  ausgeführt,  fuhr  Jaho  in  der  Wolke 
herab,  offenbarte  sich  Mose  von  neuem  und  gab  ihm 
(Ex  34^*"^^)  zehn  Worte  mit  dem  Befehl,  dieselben  nieder- 
zuschreiben.   Die  zehn  Gebote  lauteten: 

I.  Du  sollst  dich  vor  einem  andern  Gotte  nicht  nieder- 
werfen, denn  Jaho  —  ,, eifersüchtig"  ist  sein  Name,  eifer- 
süchtig heißt  er,  daß  du  nicht  einen  Vertrag  mit  den 
Landesbewohnern  schließest  und  sie  hinter  ihren  Göttern 
her  huren  und  ihren  Göttern  opfern  und  es  (das  einhei- 
mische Volk)  dich  einlade  und  du  von  seinen  Opfern  essest. 
Und  (daß  du  nicht)  seine  Töchter  für  deine  Söhne  nimmst 
und  seine  Töchter  hinter  ihren  Göttern  her  huren  und  sie 
deine  Söhne  verleiten,  hinter  ihren  Göttern  her  zu  huren 
(V.  14—16). 

II.  Einen  Gott  aus  Gußwerk  sollst  du  dir  nicht  machen 
(V.  17). 

III.  Das  Fest  der  ungesäuerten  Brote  sollst- du  halten. 
Sieben  Tage  sollst  du  ungesäuerte  Brote  essen,  wie  ich 
dir  befohlen  habe,  zur  Zeit  des  Monats  Abib,  denn  im 
Monat  Abib  bist  du  aus  Ägypten  ausgezogen,  und  nicht 
soll  mein  Antlitz  mit  leeren  Händen  gesehen  werden 
(V.  18  nebst  20'). ^ 

IV.  Jeder  erste  Wurf  ist  mein,  der  männliche:  der  erste 
Wurf  von  Rind  und  Schaf  und  von  allem  deinem  Vieh- 
besitz. Und  den  ersten  Wurf  des  Esels  sollst  du  mit  einem 
Schaf  auslösen,  und  wenn  du  ihn  nicht  auslösest,  so  sollst 
du  ihm  das  Genick  brechen.  Alle  Erstgeburt  deiner  Söhne 
sollst  du  auslösen  (V.  19  f. ).^ 


1)  Vgl.  Ex  23i*"- :  Dreimal  im  Jahr  sollst  du  mir  ein  Fest  feiern. 
Das  Fest  der  ungesäuerten  Brote  sollst  du  beobachten:  sieben  Tage 
sollst  du  ungesäuerte  Brote  essen,  wie  ich  dir  befohlen  habe,  zur  be- 
stimmten Zeit  des  Monats  Abib,  deim  in  ihm  bist  du  aus  Ägypten  aus- 
gezogen, imd  nicht  soll  mein  Antlitz  mit  leeren  Händen  gesehen  werden. 
S.  femer  Dt  16^-8. 

2)  Vgl.    Ex  2228'-     132.12t.    Dtl5l9-23. 


Der  Wortlaut  der  älteren  zehn  Gebote.  6q 

V.  Sechs  Tage  sollst  du  arbeiten,  aber  am  siebenten  Tage 
feiern,  (selbst)  zur  Pflüge-  und  Erntezeit  sollst  du  ruhen 

(V.  21). 

VI.  Und  das  Wochenfest  sollst  du  veranstalten,  (das 
Fest)  der  Erstlinge  der  Weizenernte  und  das  Fest  der 
Herbstlese  an  der  Wende  des  Jahres  (V.  22).  Dreimal  im 
Jahr  soll  all  dein  Männliches  vor  dem  Herrn  Jaho,  dem 
Gotte  Israels,  erscheinen  (V,  23).  Wenn  ich  Völker  vor 
dir  vertreibe  und  dein  Gebiet  weit  mache,  so  soll  niemand 
sich  nach  deinem  Lande  gelüsten  lassen,  wenn  du  hinauf- 
ziehst, vor  Jaho,  deinem  Gotte,  zu  erscheinen,  dreimal  im 
Jahre  (V.  24).! 

VII.  Du  sollst  nicht  zu  Gesäuertem  das  Blut  meines 
Opfers  schlachten  (25'')." 

VIII.  Und  nicht  soll  über  Nacht  zum  Morgen  bleiben 
das  Opfer  des  Passahfestes   (V.  25"). 

IX.  Die  besten  Erstlinge  deines  Erdbodens  sollst  du  in 
das  Haus  Jahos,  deines  Gottes,  bringen  (V.  26'). ^ 

X.  Du  sollst  ein  Böckchen  nicht  im  Fette  seiner  Mutter 
kochen  (V.  26'').'» 

Es  heißt  dann  weiter,  daß  Moses  fastend  bei  Jaho 
40  Tage  und  40  Nächte  verweilt  und  die  Bundesgebote, 
die  zehn  Gebote,  auf  die  Tafeln  geschrieben  habe  (Ex  34  27"-), 
in  direktem  Gegensatze  zu  Ex  34^  imd  vor  allem  Dt  10  2*, 
wonach  Jaho  auch  das  Duplikat  der  beiden  Tafeln  be- 
schrieb und  zwar  mit  den  nämlichen  Worten,  die  er 
auf  die  ersten  Tafeln  geschrieben  hatte. 

Mit  diesem  unerhörten  Widerspruche,  was  auf  dem  Dupli- 
kate der  Tafeln  gestanden,  und  wer  (Jaho  oder  Moses)  sie 
geschrieben,  endet  der  für  uns  hier  in  Betracht  kommende 
Teil  der  Gottesoffenbarung  vom  Sinai.  Ein  Blinder  er- 
kennt, daß  Worte,  die  Jaho  selbst  zu  Moses  geredet  und 

»)  Vgl.  Ex  23"'-  Dt  16«-". 

2)  Vgl.  Ex  23 18, 

3)  Vgl.  Ex  23"». 

*)  Ebenso  Ex  23""  Dt  14"''. 


fjQ  II.  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

dann,  wohl  sogar  zweimal,  auf  steinerne  Tafeln  geschrieben, 
Mose  übergeben  hatte,  unmöglich  in  solcher  grundver- 
schiedenen Weise  überliefert  werden  konnten ;  daß  viel- 
mehr augenscheinlich  zwei  verschiedene  Auslesen  ^  von 
zehn  Geboten  in  den  Priester-  und  Prophetenkreisen  kur- 
sierten, die  als  die  Quintessenz  der  Gebote  Jahos  galten 
(Anm.  33).  Was  die  uns  von  Jugend  auf  geläufige  jüngere 
Rezension  des  Dekalogs  betrifft,  so  enthalten  die  Gebote 
V — X  Gesetze,  die  bei  den  Babyloniem  schon  viele  Jahr- 
hunderte früher  in  Kraft  waren  (Anm.  34) .  Was  das  Bilder- 
verbot und  Sabbathgebot  betrifft,  so  machen  das  Buch 
Josua  und  das  Richterbuch  ihre  Existenz,  wie  auf  S.  53 
gezeigt  wurde,  für  die  Richterzeit  mehr  als  fraglich.  Dar- 
über aber,  daß  die  Gesetze  VI  und  IX  des  älteren  Dekalogs 
die  Seßhaftmachung  des  Volkes  voraussetzen,  ist  wohl 
kaum  ein  Wort  zu  verHeren. 

Kommt  somit  alles,  was  von  Jahos  Gesetzgebung  vom 
und  am  Sinai  berichtet  wird:  die  drei  Gesetzessamm- 
lungen mitsamt  den  beiden  Dekalogen  als  spätere  Zurück- 
tragungen in  Wegfall  2,  so  verbleibt  nur  noch  der  oben 
gegebene,  an  inneren  Unmöglichkeiten  überreiche  Bericht 
über  die  vermeintliche  Gottesoffenbarung.  Gott,  der  Un- 
erforschbare, Unausdenkbare,  ,,der  Allumf asser,  der  All- 
erhalter", über  dessen  Dasein  und  Wirken  und  Walten 
die  Völker  und  ihre  größten  Geister  seit  Jahrtausenden 

1)  Die  Auslese  in  Ex34"-26  jg^  geiu  willkürlich  tmd  wenig  ansprechend 
so  wenig  wie  die  der  zwölf  Flüche  Dt27i*-". 

2)  Angesichts  der  Unwahrscheinlichkeit  und  Zerfahrenheit  der  ,, Über- 
lieferung" von  der  sinaitischen  Gesetzgebung  braucht  die  Frage,  ob 
Moses  überhaupt  habe  schreiben  können,  gar  nicht  berührt  zu  werden. 
Ebensowenig  verlohnt  es  sich,  sich  über  Größe  und  Material  der  beiden 
Steintafeln  und  über  die  Art  und  Weise,  wie  wohl  die  zehn  Worte  auf 
Vorder-  und  Rückseite  der  beiden  Tafeln  verteilt  gewesen  sein  mögen, 
irgendwelche  Gedanken  zu  machen.  Während  wir  über  unendlich  gleich- 
gültigere Dinge,  wie  z.  B.  die  Ringe  und  Stangen  des  Kastens,  der  den 
zwei  Tafeln  zur  Aufbewahrung  diente,  eingehend  unterrichtet  werden, 
erfahren  wir  über  die  Beschaffenheit  der  Tafeln  selbst,  ihr  Material. 
Format  u.  a.  rein  gar  nichts. 


Jalios  Offeubarung  vom  Sinai  eine  Hallucination.  71 

grübeln,  nach  dem  wir  mit  der  ganzen  Unzulänglichkeit 
unserer  Erkenntnis  zeitlebens  suchen  und  forschen,  der 
letzte  und  höchste  Begriff  des  menschlichen  Denkens,  das 
Ziel  unsres  Hoffens,  an  welches  wir  armen  Erdgeborenen 
uns  klammern  mit  der  ganzen  Inbrunst  unserer  Seele  — 
dieser  Gott  offenbart  sich  persönlich  Mose  und  dem 
Volke  Israel  im  Jahre  1330  v.  Chr.,  die  Ältesten  Israels 
essen  und  trinken  ( !)  auf  Gesichtsweite  in  seiner  Nähe,  Gott 
gibt  Mose  und  Aaron,  dem  Haupte  des  israelitischen 
Priestertums,  unter  Donner  und  Blitz  das  Gesetz :  ,,Du  sollst 
dir  kein  Schnitzbild  machen"  usw.  (Ex  20*),  und  abermals: 
,, Nicht  sollt  ihr  euch  neben  mir  silberne  und  goldene 
Götter  machen"  (20^3)  —  und  dieser  selbe  Aaron,  einer 
für  den  menschlichen  Geist  gar  nicht  zu  fassenden  Gottes- 
offenbaning  gewürdigt,  macht  unmittelbar  hernach  ein 
goldenes  Kalb!  Gott  schwört  in  hellem  Zorn  dem  Volke 
Untergang,  aber  schon  im  nächsten  Augenblicke  gereut 
es  ihn  (Ex  32  '~^*) !  Die  ganze  Erzählung  gibt  sich  als  eine 
Ausgeburt  echt  orientalischer,  ausschweifender,  fast  krank- 
haft zu  nennender  Phantasie.  Die  Wahrheit  ist,  daß, 
nachdem  Jaho  von  dem  ,, Propheten"  Moses  zum  National- 
gott Israels  ernannt  worden  war,  Jaho  sich  als  solchen 
gleich  nach  dem  Auszuge  aus  Ägypten  auch  vorstellen, 
offenbaren  mußte,  tmd  nach  der  Art  und  Weise  dieser 
Offenbarung  erscheint  es  mehr  als  wahrscheinHch,  daß 
für  die  Schilderung  von  Jahos  Erscheinung  am  Sinai  unter 
Feuer  und  Rauch,  Donner  und  Blitz,  Beben  und  Hömer- 
schall  ein  schweres  Gewitter  mit  dröhnenden,  in  den 
Bergen  widerhallenden  Donnerschlägen  und  Blitzen  und 
alles  umnachtender  Finsternis  Anlaß  und  Grundlage  ge- 
geben, wobei  man  sich  bei  der  Beschreibung  im  einzelnen 
ausschließlich  von  der  Phantasie  leiten  ließ,  selbst  über 
die  geographischen  Verhältnisse  kurzerhand  sich  hinweg- 
setzend. Denn  wohlgemerkt!  über  die  Lage  des  Offen- 
barungsberges, bald  Sinai,  bald  Horeb  genannt,  wissen 
die  israelitischen  Erzähler  überhaupt  nicht  Bescheid,  ihre 


fj2  n.  Die  GottesoflFenbarung  vom  Sinai. 

Angaben  sind  wie  immer  in  heillosestem  Widerspruch, 
ja  ein  Berg,  an  dessen  Fuß  die  über  eine  Million  zählenden 
Kinder  Israel  die  Gotteserscheinung  auf  dem  Sinai  hätten 
beobachten  können,  existiert  auf  der  ganzen  Sinai- 
halbinsel überhaupt  nicht!  ^  Nicht  Gott  hat  sich 
am  Sinai  offenbart,  sondern  Jaho,  der  Nationalgott  Israels, 
gemäß  der  Fiktion  prophetischer  Theologie  oder  richtiger 
Phantasie. 

Und  damit  sind  wir  nach  so  vielen  anderen  Täuschungen 
zu  der  großen  Täuschung,  ursprünglich  Selbsttäu- 
schung, gelangt,  nämlich  der  von  den  israelitischen  Ge- 
schichtsschreibern kurzerhand  angenommenen  und  von 
uns  unbesehen  übernommenen  Vereinerleiung  von  Jaho 
mit  Gott  überhaupt,  einem  Irrglauben  ohnegleichen,  der 
durch  alles  bisher  Ausgeführte  bereits  genügend  als  solcher 
erwiesen  sein  dürfte,  der  aber  bis  auf  den  heutigen  Tag 
ungezählte  Millionen  gefangen  hält.  Jaho  =  Gott!  Es  kann 
ja  nur  als  begreiflich  bezeichnet  werden,  daß  Jaho  der 
alleinige  Gott  Israels  sein  wollte,  daß  er  als  ein  „eifer- 
süchtiger" Gott  keine  anderen  Götter  neben  sich  haben 
wollte  —  Ein  Volk,  Ein  Gott,  el^  uolQavos  earoj  (Einer  sei 
Herrscher!).  Auch  dagegen  ist  im  Grunde  nichts  einzu- 
wenden, daß  Israel  seinen  Gott  als  den  höchsten  Gott, 
als  den  Gott  betrachtete  und  benannte.  So  macht  es  ja 
jedes  Volk  mit  seinem  Spezialgott.    Wie  Marduk,  der  Gott 

1)  Auch  sonst  macht  die  Kühnheit  der  israelitischen  Phantasie  das 
Unmöglichste  möglich,  um  einen  bestimmten  Zweck  zu  erreichen. 
Wie  wenn  z.  B.2Chr  I3*''-  erzählt  wird,  daß  während  des  erbitterten 
Bruderkriegs  zwischen  Juda  und  Israel  der  jüdische  König  Abijja 
sich  mitten  im  Feindesland  auf  einen  Berg  gestellt  und  eine  lange 
Straf  rede  imd  Bekehrungspredigt  an  den  König  Jerobeam  und  ganz 
Israel  gehalten  habe !  Ein  analoges  Phantasiebild  bietet  die  Parabel  von 
den  Bäumen,  die  einen  König  über  sich  salben  wollten,  die  der  kaum 
den  Händen  der  sichemitischen  Mordbuben  entronnene  Jotham  auf  dem 
Berge  Garizim  den  Bürgern  von  Sichem  vorgetragen  haben  soll,  worauf 
er  eilends  entfloh  (Rig^-^"^). 


Der  Irrglaube  Jaho  =  Gott.  73 

der  Babylonier,  als  ,,(lcr  Gott  der  Götter  und  Herr  der 
Herren"  gefeiert  wird,  ebenso  fordert  der  136.  Psalm  auf, 
Jaho  zu  lobpreisen  als  „den  Gott  der  Götter,  den  Herrn 
der  Herren"  (vgl.  Dt  10").  Es  ist  um  so  verständlicher, 
als  Jaho  gar  nicht  der  einzigste  Gott  überhaupt  sein  will, 
das  Alte  Testament  vielmehr  mehrfach  erkennen  läßt,  daß 
es  auch  den  ,, andern"  Göttern,  den  Göttern  der  andern 
Völker,  ihre  volle  Realität  zuerkennt,  und  für  Jaho 
nur  die  höchste  Götterwürde  beansprucht.  Und  endlich  be- 
greift sich  vom  israelitischen  Standpunkt  vollkommen  die 
Übertragung  des  Appellativwortes  für  ,,Gott"  (El,  Elbhim) 
auf  den  Gott  Jaho  und  die  Vereinerleiung  beider  Begriffe. 
Aber  dieser  „Gott"  ist  und  bleibt  gemäß  der  Lehre  des 
Alten  Testaments  vom  ältesten  bis  zum  jüngsten  Buche, 
in  den  Jahrhunderten  vor  wie  nach  dem  Exil  der  aus- 
schließliche Gott  Israels  und  keines  anderen  Volkes 
sonst.  Der  gläubige  christUche  Leser  wird  sich  ja  leider 
viel  zu  wenig  darüber  klar,  daß  die  schönsten  Stellen  des 
Alten  Testamentes  für  alle  Nichtisraeliten  gar  keine  Be- 
deutung haben,  da  sie  eben  einzig  und  ausschließlich  dem 
israelitischen  bzw.  jüdischen  Volke  gelten :  ,, Tröstet,  tröstet 
mein  Volk,  spricht  euer  Gott"  (Jes  40^) ;  ,,um  Jerusalem 
her  sind  Berge  und  Jaho  ist  um  sein  Volk  her  von  nun 
an  bis  in  Ewigkeit"  (Ps  125  2),  und  das  , »Rühmet  Jaho,  alle 
Völker!  lobpreiset  ihn,  alle  Nationen"  (Ps  117^)  findet  seine 
arg  ernüchternde  und  enttäuschende  Fortsetzung  in  Vers  2 : 
,, darum  daß  groß  ist  über  uns  (d.  h.  Israel)  seine  Güte". 
Jaho,  der  Spezialgott  Israels,  der  höchste  unter  allen 
Göttern,  Israels  „Gott"  schlechtweg  —  all  das  ist  kon- 
sequent gedacht,  aber  diesen  Partikulargott  Jaho  mit 
Gott,  dem  Weltgeist,  dem  allerhöchsten  geistigen  Wesen 
über  alle  Völker  der  Erde,  zu  vereinerleien  ist  eine 
Selbsttäuschung  der  alttestamentlichen  Propheten  und 
eine  gar  nicht  auszudenkende  Täuschung  der  Menschheit 
überhaupt.  Es  ist  eine  Begriffsvermengung,  die  seitens 
der   alttestamentlichen    Schriftsteller   zur   Vereinerleiimg 


fTA  II.  Die  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

der  beiden  Wörter  „Jaho"  und  „Gott"  führte  und  die 
dann  weiter  durch  die  Wiedergabe  von  Jaho  seitens 
der  jüdisch-griechischen  Bibelübersetzer  durch  ö  Kvqlo£ 
d.  h.  „der  Herr"  über  alle  Welt  verbreitet  wurde.  Und 
diese  große  Selbsttäuschung  Israels  führte  dann  folgerichtig 
zu  der  ungeheuerlichen  Annahme,  daß  alle  Nationen  der 
Erde,  mit  einzigster  Ausnahme  des  Volks  der  Beschneidimg, 
von  Gott  ausgeschlossen  sind,  einem  Wahne,  dem  der 
Prophet  Zacharja  (S^^)  mit  den  Worten  Ausdruck  gibt: 
,,So  spricht  Jaho  Zebaoth:  In  jenen  Tagen  geschieht's, 
daß  zehn  Männer  aus  allen  Zungen  der  Völker  sich  fest- 
klammem werden  an  den  Rockzipfel  eines  jüdischen 
Mannes,  bittend:  laßt  uns  mit  euch  gehen,  denn  wir 
haben  gehört :  Gott  ist  mit  euch !"  —  ein  Irrwahn,  welchem 
das  Christentum  durch  die  unglückseligen  judenchristlichen 
Prägungen  vom  ,, geistigen  Israel"  und  von  der  ,, Beschnei- 
dung im  Geiste"  verblendet  genug  ist  Vorschub  zu  leisten. 

Um  „Gottes"  willen,  d.  h.  zur  Steuerung  von  Irrtum 
und  Täuschung  und  zur  Wahrung  eines  reineren,  höheren 
Gottesbegriffes  sei  jener  unseligen  Gleichsetzung  von  Jaho 
und  Gott  noch  mit  einigen  weiteren  Betrachtungen  nach- 
gegangen. Eigen tHch  ist  ja  jene  Gleichsetzung  als  eine 
Selbsttäuschung  bereits  durch  die  im  I.  Teil  unserer  Unter- 
suchungen aufgezeigte  Tatsache  erhärtet,  daß  Jaho  vor 
der  entsetzlichen  Ausrottung  der  kanaanitischen  Völker 
mit  Weibern  und  Kindern  nicht  zurückschreckte  und  trotz 
alledem  seine  beschworenen  Verheißungen  zu  erfüllen 
nicht  vermochte,  daß  es  ihm  nicht  gelungen  ist,  sich 
imd  sein  Volk  in  den  Besitz  eines  eigenen  Landes  zu 
setzen.  Der  hebräische  Nationalgott  gehört  also  ebenfalls 
zu  den  ,, Schwächlingen"  {elilim),  als  welche  das  Alte 
Testament  so  gern  die  Gottheiten  der  übrigen  Völker 
bezeichnet,  und  kann  unmöglich  eins  sein  so  wenig  wie 
mit  dem  allbarmherzigen,  so  wenig  auch  mit  dem  all- 
mächtigen Gotte, 


Israel  das  Volk  Jahos,  nicht  das  Volk  Gottes.  7c 

Es  ist  aber  auch  weiter  unmöglich  zu  glauben,  daß 
,,Gott",  der  , .keine  Parteilichkeit  kennt"  (Dt  11")  und 
Vater  ist  über  alles,  was  da  Kinder  heißt  im  Himmel  und 
auf  Erden,  nach  ungezählten  Jahrtausenden  erst  um  das 
Jahr  1330  V.  Chr.  Ein  Volk  liebgewonnen  und  zu  seinem 
Spezialvolk  erwählt  habe.  ,,Dich  (Israel)  hat  Jaho,  dein 
Gott,  aus  allen  Völkern  auf  dem  Erdboden  zum  Eigen- 
tumsvolk für  sich  erwählt"  (Dt  7*).  , »Obwohl  Jaho, 
deinem  Gotte,  der  Himmel  bis  zu  seinen  höchsten  Höhen, 
die  Erde  tmd  alles,  was  auf  ihr  ist,  gehört,  hat  sich  doch 
Jaho  zu  deinen  Vätern  allein  geneigt,  sie  zu  lieben,  und 
hat  euch,  ihre  Nachkommen,  aus  allen  Völkern  erwählet" 
(10^* f.).  ,,Nur  von  euch  habe  ich  (Jaho)  Kenntnis 
genommen  unter  allen  Geschlechtern  des  Erdbodens" 
(1  so  steht  geschrieben^  Am  3^).  „Ich  habe  euch  ab- 
gesondert von  den  Völkern,  daß  ihr  mir  angehöret" 
(I,ev20^*).  Selbst  dem  israelitischen  Schriftsteller  er- 
scheint das  als  ein  Wunder  ohne  gleichen.  „Denn  frage 
doch  in  den  früheren  Zeiten  nach,  die  vor  dir  gewesen 
sind,  seit  der  Zeit,  wo  Gott  Menschen  auf  der 
Erde  erschaffen  hat,  und  von  einem  Ende  des  Him- 
mels bis  zum  andern,  ob  je  so  große  Dinge  geschehen  sind, 
oder  ob  je  dergleichen  gehört  wurde!  ob  jemals  ein  Volk 
Gott  vernehmhch  mitten  aus  dem  Feuer  heraus  reden 
hörte,  wie  du  (Israel)  es  gehört  hast,  und  am  Leben  blieb ! 
oder  ob  je  ein  Gott  den  Versuch  gemacht  hat,  zu  kommen, 
um  sich  mit  Zeichen  und  Wundern  .  .  .  eine  Nation  aus 
der  Mitte  einer  anderen  herauszuholen,  wie  es  doch  Jaho, 
euer  Gott,  vor  deinen  Augen  in  Ägypten  mit  euch  getan 
hat  (Dt  4^2  «•)  1"  Die  Karikatur  des  Gottesbegriffes  ist  um 
so  krasser,  da  das  von  Jaho  allein  geliebte  Volk,  wie  das 


*)  Ein  schreckliches  Wort.  Denn  wen  nach  alttestamentlichem 
Sprachgebrauch  Jaho  ,, nicht  kennt",  um  wen  er  ,,sich  nicht  kümmert", 
der  geht  zugrunde.  Kautzsch'  Bibelübersetzung:  nur  von  euch  habe 
ich  „genaue"  Kenntnis  genommen  —  eine  sprachlich  wie  theologisch 
gleich  verwerfliche  Wortverdrehung. 


^6  ^I-  ^^^  Gottesoffenbarung  vom  Sinai. 

Alte  Testament  hundert  und  aberhundert  Male  bezeugt, 
von  Jaho  gar  nichts  wissen  wollte,  sondern  in  Halsstarrig- 
keit bis  zur  Wegführung  ins  Exil  ihm  den  Rücken  kehrte, 
und  das  dann  später  den  nach  christlicher  Lehre  ein- 
geborenen Sohn  Gottes  ans  Kreuz  schlug!  Nein!  Israel 
ist  nicht  das  Volk  ,, Gottes",  sondern  das  Volk  Jahos, 
wie  Moab  das  Volk  des  Kemosch  und  Assur  das  Volk  des 
Gottes  Aschur.  An  dieser  Tatsache  können  auch  alle 
Epitheta  Jahos  wie  ,, Schöpf  er  Himmels  und  der  Erde"  oder 
,, gerechter  Richter  aller  Völker"  usw.  nichts  ändern,  denn 
genau  so  werden  auch  Marduk,  Samas  und  andere  Götter 
von  den  gläubigen  Babyloniern  angeredet  und  benannt.* 
Ja,  diese  zum  Teil  hehren  Göttergestalten  des  sumerisch- 
babylonischen  Volkes  könnten  noch  immer  eher  Anspruch 
erheben,  zu  einer  höheren  Stufe  des  Gottesbegriffs  ent- 
wickelt worden  zu  sein,  da  ihnen  der  krankhaft  einseitige 
Charakter  eines  partikularistischen  Volksgottes  nicht  ent- 
fernt in  dem  Grade  anklebt  wie  es  bei  Jaho  der  Fall  ist. 
Noch  immöglicher  aber  ist  es  zu  glauben,  daß  Gott, 
der  gnädige  und  gerechte  Gott,  nicht  allein  bloß  Israel 
sich  offenbart  und  Israel  zu  seinem  Volke  gemacht, 
sondern  zugleich  allen  übrigen  Völkern  der  Erde  den 
Götzendienst  zugeteilt  habe!  , .Damit  du  (Israel)  deine 
Augen  lucht  himmelwärts  richtest  und  sehest  die  Sonne 
und  den  Mond  und  die  Sterne,  das  ganze  Heer  des  Himmels, 
und  dich  abbringen  lassest  und  sie  anbetest  und  verehrest, 
sie,  welche  Jaho,  dein  Gott,  allen  Völkern  unter  dem 
ganzen  Himmel  zugeteilt  hat  (so  steht  geschrieben!), 
aber  euch  hat  Jaho  genommen  und  herausgeführt  aus 
Ägypten,  ihm  zu  sein  zu  einem  Volke  des  Eigentums" 
(Dt4^\  s.  Anm.  35).    Also   „Gott"  hat  die  Nichtgötter, 

^)  „Jaho  ist  der  Gott  der  Götter  und  der  Herr  der  Herren,  der  große, 
mächtige  und  furchtbare  Gott,  der  keine  Parteilichkeit  kennt  und 
keine  Bestechung  annimmt,  der  Waisen  und  Witwen  Recht  schafft"  usw. 
(Dt  10  "'■)  —  diese  und  viele  andere  Benennungen  der  Gottheit  finden 
sich  genau  so  in  der  keilschriftlichen  Literatur. 


Jahos  sittlicher  Tiefstand.  77 

deren  Verehrung  in  Israel  als  Todsünde  gilt,  als  ein  Ver- 
gehen, das  mit  der  grausamsten  Todesstrafe  der  Steinigung 
bedroht  ist  (Dt  17^"),  allen  übrigen  Völkern  der  Welt  als 
ihren  Teil  zugewiesen!  Ist  das  von  dem  dreimal  heiligen 
„Gott"  nicht  schlechterdings  undenkbar,  unausdenkbar? 
verdient  nicht  vielmehr  ein  solcher  vermeintlicher  „Gott" 
erst  recht  jene  Benennung  boset  d.  i.  Schandgötze,  mit 
welcher  das  Alte  Testament  die  Gottheiten  aller  nicht- 
israelitischen Völker  gebrandmarkt? 

Indes  die  Gleichsetzung  Jahos  mit  dem,  was  wir  den 
höchsten  Gott,  den  Weltgeist,  den  ewig  uner forschlichen, 
das  ganze  Weltall  durchdringenden  und  beseelenden  höch- 
sten Verstand,  den  sittlich  absolut  reinen  Weltenrichter 
nennen,  ist  auch  aus  sittlichen  Gründen  schlechterdings 
unannehmbar.  Jaho  steht  hierfür  auf  einer  viel  zu 
tiefen  sittlichen  Stufe.  Jene  Vereiner leiung  konnte  nur 
von  Leuten  ausgehen,  deren  sittliches  Empfinden  zum 
Teil  noch  weit  unter  jenem  der  von  Gott  verlassenen 
Völker  stand,  und  die  deshalb  ihrem  Gotte  unbewußt  sitt- 
liche Makel  zuschreiben,  die  gegen  die  Gleichung  Jaho  = 
Gott  schreienden  Protest  einlegen.  Dem  hebräischen 
Nationalgott  mögen  solche  Untugenden  zugeschrieben 
werden,  aber  der  wahrhafte  heilige  Gott  ist  darüber  er- 
haben wie  die  Sonne  über  einem  schwelenden  Lämpchen. 
In  der  Genesis  wird  erzählt  (12  ^^""2"),  wie  Abram  sein 
Weib  Sarai  beredet,  sich  den  Ägyptern  gegenüber  als  seine 
Schwester  auszugeben,  damit  sie  durch  diese  Täuschimg 
ihm  nicht  allein  das  Leben  rette,  sondern  zugleich  große 
Besitztümer  zubringe,  falls  der  Pharao  persönlich  an  ihrer 
großen  Schönheit  Gefallen  finde;  wie  dann  der  Pharao 
in  der  Tat  arglos  Sarai  sich  zum  Weibe  nahm,  zur  Strafe 
hierfür  aber  von  Jaho  mit  schweren  Plagen  geschlagen 
wurde,  worauf  dann  Abram  mit  seinem  Weibe  und  den 
vom  Pharao  erhaltenen  Schafen,  Rindern  und  Eseln, 
Sklaven  und  Sklavinnen,  Eselinnen  und  Kamelen  von 
dannen  zog,  durch  die  Preisgabe  seines  Weibes  und  den 


^^8  II.  Die  GottesofEenbarung  vom  Sinai. 

Betrug  Pharaos  mit  Binem  Schlage  ein  reicher  Mann  ge- 
worden, „sehr  reich  an  Vieh,  Silber  und  Gold"  (13^).  Das 
Manöver  war  so  vortreffHch  gelungen,  daß  Abram  es 
noch  ein  zweites  Mal  ausführt,  nämhch  gegenüber  dem 
Könige  von  Gezer,  Abimelech,  der  Abrams  vermeintliche 
Schwester  Sarai  ebenfalls  zum  Weibe  nimmt,  aber,  noch 
ehe  er  sie  berührt  hatte,  von  Jaho  mit  dem  Tode  bedroht 
wird,  sodaß  er  Sarai  schleunigst  wieder  entläßt  und  Abram 
obendrein  mit  Schafen  und  Rindern,  Sklaven  und  Skla- 
vinnen, dazu  1000  Silbersekel  in  bar  beschenkt!  Zu  alle- 
dem entrinnt  Abimelech  dem  Tode  lediglich  durch  Für- 
bitte dessen,  der  ihn  betrogen  (Kap.  20) !  Auch  Abrahams 
Sohn  Isaak  begeht  mit  Rebekka,  seinem  Weibe,  ganz  den 
nämlichen  Betrug  gegenüber  den  Untertanen  des  Königs 
von  Gerar  (26^"^^).  Muß  nicht  gerade  die  dreimahge  Er- 
zählung des  gleichen  Betrugs  innerhalb  der  Patriarchen- 
sagen jedes  halbwegs  ethisch  empfindende  Gemüt  tiefst 
verletzen?  und  müssen  nicht  solche  Erzählimgen  in 
,, Gottes"  Wort  Moral  und  ReUgiosität  zugleich  unter- 
graben, wenn  ,,Gott"  mit  dem  Verräter  von  Frauenehre 
und  dem  Betrüger  des NichtisraeHten  Hand  in  Hand  geht?* 
Man  werfe  nicht  ein:  das  sind  ja  alles  Sagen  —  auch 
Sagen  sind  ein  vortreffüches  Spiegelbild  des  jeweiligen 
sittlich-reUgiösen   Empfindens   eines   Volkes.  ^    Alles   das 


^)  Die  dreimalige  Erzählung  vom  Betrug  mit  dem  Patriarchenweib 
ist  im  Grunde  natürlich  nur  Eine,  aber  die  Kritik  muß  sich  an  ,  .Gottes 
Wort",  wie  es  nun  einmal  vorhegt,  anschUeßen.  Auch  ist  es  im  letzten 
Grunde  ziemlich  belanglos,  ob  Eine  unsittliche  Geschichte  von  drei  Er- 
zählern je  einmal  oder  von  Einem  Redaktor  dreimal  erzählt  wird. 

^)  Ganz  das  Nämliche  trifft  natürUch  auch  zu  auf  die  Art  und  Weise, 
wie  geschichtliche  Geschehnisse  von  einem  Erzähler  behandelt  werden . 
Zwei  Beispiele  mögen  anmerkungsweise  die  auf  S.  79  erwähnte  Erzäh- 
lung von  der  Beraubung  der  Ägypter  ergänzen.  Eine  der  gepriesensten 
Tugenden  der  Orientalen  ist  die  Gastfreimdschaft,  die  zugleich  den 
Schutz  des  Gastes  gewährleistet.  Deshalb  wird  jeder  Orientale  die  Tat 
der  Qeniterin  Jael  (Ri4)  als  die  abscheuhchste  verdammen,  die  je  auf 
Gottes  Erdboden  verübt  worden  ist.    Sisera,  der  Feldhauptmann  des 


Jabos  sittliclic  Rückständigkeit.  yn 

Gesagte  gilt  auch  von  der  bekannten  Erzählung  (Ex  3'^ 
jjif.  12^*),  dcrzufolge  Jaho  den  Kindern  Israel  befohlen 
habe,  sich  vor  ihrem  Auszug  aus  Ägypten  von  ihren 
ägyptischen  Nachbarn  und  Hausgenossen  viele  goldene 
und  silberne  Gefäße  sowie  Kleider  zu  leihen,  das  heißt, 
wie  der  Erzähler  harmlos  hinzufügt,  zu  rauben,  um  nicht 
,,leer"  auszuziehen.  Dabei  wird  Jaho  nicht  allein  als  der 
Anstifter  des  Raubes,  sondern  sogar  als  der  Helfershelfer 
bezeichnet,  indem  er  die  Ägypter  zum  Herleihen  günstig 
stimmte !  Das  alles  ist  für  religiöses  Empfinden  unendUch 
schmerzlich,  ebenso  wie  das  von  Jaho  gegebene  Gesetz 
(s.  Anhang  Nr.  59),  welches  Sklaven  zwar  nicht  totzu- 
schlagen, aber  halbtot  zu  schlagen  gestattet,  sodaß  der 
Sklave  erst  nach  einem  bis  zwei  Tagen  stirbt,  mit  der 
hartherzigen  Begründung :  ,,denn  er  (der  Sklave)  ist  sein 
(des  Eigentümers)  Geld". 
Aber  auch  abgesehen   von  solchen  positiven  Makeln, 

mit  dem  Stamme  der  Qeniter  in  Freimdschaft  verbundenen  Königs 
von  Chazor,  kommt  auf  der  Flucht,  zu  Tode  ermattet,  an  das  Zelt 
Jaels.  Jael  lädt  ihn  ein  in  ihr  Zelt,  wo  er  ganz  ohne  Furcht  sein  könne, 
versteckt  ihn,  reicht  ihm,  da  er  um  einen  Schluck  Wasser  bittet,  Milch 
und  lullt  ihn  dadurch  in  vollkommenste  Sicherheit,  Sisera  schläft  fest 
ein  —  da  holt  Jael  einen  schweren  Hammer  und  treibt  mit  diesem 
Sisera  den  Zeltpflock  durch  die  Schläfe,  den  Verfolgern  triumphierend 
ihre  Heldentat  zeigend  I  Und  der  hebräische  Erzähler  feiert  diese  ruch- 
loseste aller  Taten  mit  dem.  sog.  Deboraüede  (Kap.  5),  dessen  Haupt- 
teil anhebt:  „Gepriesen  vor  den  Weibern  sei  Jael,  vor  den  Weibern  im 
Zelte  gepriesenl",  und  dessen  Schlußteil  sich  nicht  entblödet,  die  Ge- 
fühle der  auf  ihren  Sohn  vergeblich  wartenden  Mutter  zu  bespötteln  I  — 
Nicht  ganz  so  schlimm  steht  es  mit  der  EJrzählimg  von  dem  Bau  des 
salomonischen  Tempels,  den  der  königliche  Bauherr  unbezahlt  ge- 
lassen. Der  König  von  Tyrus  hatte  mit  echt  orientalischer  Freigebig- 
keit dem  König  Salomo  Zedern  und  Zypressen  in  unbegrenzter  Menge, 
dazu  120  Talente  Gold  (!)  für  den  Tempelbau  gegeben,  wofür  ihm 
Salomo  später  ein  Grenzgebiet  samt  dessen  Ortschaften  abtrat.  Als 
aber  der  Tyrerkönig  auszog,  die  Ortschaften  zu  besehen  —  so  berichtet 
naiv  der  Erzähler  — ,  ist  er  ganz  entrüstet  imd  bringt  nur  Ein  Wort 
hervor:  kabül,  ein  offenbar  sehr  kräftiges  Wort  wie  imser  „über  das 
Ohr  gehauen"   (i  Kö  g^^-^^^ 


3o  !!•  I^iß  Gottesoff enbanmg  vom  Sinai. 

mit  denen  Jaho  behaftet  ist,  gibt  sich  Jaho  mit  seiner 
Gesetzgebung  auf  sittlichem  Gebiete  auch  als  außer- 
ordentlich rückständig,  und  zwar  gerade  in  dem  Punkte, 
der  recht  eigenthch  den  Mittelpunkt  dessen  bildet,  was 
wir  Sittlichkeit  im  engeren  Sinne  des  Wortes  nennen, 
nämlich  hinsichtlich  des  gegenseitigen  Verhältnisses 
von  Mann  und  Weib.  Bei  dem  Volke  Jahos  war  von 
alters  her  Bigamie  üblich.  Auch  wenn  die  erste  Frau 
ihm  einen  Sohn  geschenkt  hatte,  konnte  der  Israelit  nach 
Belieben  eine  zweite  Frau  nehmen,  die  Thora  setzt  dies 
sogar  als  das  Gewöhnliche  voraus  (s.  Anhang  Nr.  53),  und 
für  die  Priester  bezeugt  es  2  Chr  24  ^.  Dagegen  war  die 
babylonische  Ehe  wesentUch  Monogamie,  indem  das  Gesetz 
nachdrücklich  verbot,  eine  zweite  Frau  neben  der 
ersten  zu  heiraten,  wenn  diese  ihrem  Manne  EÜnder  ge- 
geben. Nur  wenn  die  Frau  kinderlos  blieb,  gab  sie  ent- 
weder dem  Manne  ihre  als  Mitgift  in  die  Ehe  mitgebrachte 
Skla^än  als  ihre  Stellvertreterin,  damit  er  von  dieser 
,, gebauet"  werde,  d.  h.  Kinder  und  insbesondere  einen 
Sohn  und  Erben  bekomme,  oder  der  Mann  nahm  sich 
eine  zweite  Frau  als  Nebenfrau.  Doch  mußte  sich  Sklavin 
wie  Nebenfrau  wohl  hüten,  der  eigentlichen  Gattin  des 
Mannes  sich  gleichsetzen  zu  wollen  —  das  Gesetz  Hammu- 
rabis  (um  2000  v.  Chr.)  sieht  schwere  Strafen  hierfür  vor  — , 
während  in  Israel  kein  Gesetz  die  Zwistigkeiten  und  gegen- 
seitigen Kränkungen  von  Frau  und  Sklavin  (Geniö*"*), 
von  Frau  und  Nebenfrau  (i  Sam  i)  unmöglich  machte. 
,Erst  nach  dem  Exil,  also  etwa  i  ^  2  Jahrtausend  nach 
Hammurabi,  strebt  auch  in  Israel  die  bessere  Volkssitte 
auf  Monogamie  hin",  ,,die  höhere  Auffassung  der  Ehe, 
wie  sie  Gen  2^^"'  vorschwebt",  kommt  erst  ganz  allmählich 
in  nachexilischer  Zeit  zur  Geltung. 

Auch  sonst  gewährte  das  sumerisch-babylonische  Ge- 
setz der  Ehefrau  jeden  nur  möglichen  Schutz,  wonach  wir 
im  mosaischen  Gesetze  vergeblich  uns  umschauen  (Anm.  36). 
Insbesondere  genoß  die  babylonische  Frau  Schutz  gegen 


Die  Leichtigkeit  der  IChescbeidiiug  in  Israel.  gj 

leichtfertige  Scheidung.  In  diesem  Punkte  steht  Ham- 
murabis  Gesetz  turmhoch  über  dem  Gesetze  Jahos. 
Während  das  israelitische  Weib  auf  Lebenszeit  an  den 
Mann  gebunden  war,  stand  diesem  die  Entlassung  oder 
Verstoßung  der  Frau  jederzeit  frei,  ganz  nach  Willkür 
und  ohne  jede  Verpflichtung  zu  irgendwelcher  Schadlos- 
haltung (genau  so  wie  es  bei  den  Assyrern  der  Fall  war, 
Anm.  37).  In  Babylonien  war  die  Scheidung  bedeutend 
erschwert.  Will  sich  der  Mann  auch  nur  von  der  kinder- 
losen Frau  scheiden,  so  nimmt  sie  ihre  Mitgift  und  hat 
außerdem  vom  Manne  den  Betrag  ihrer  Brautgabe,  zum 
mindesten  eine  Mine  Silber  zu  erhalten.  Und  scheidet  sich 
gar  der  Mann  von  seiner  Frau,  die  ihm  Kinder  geschenkt, 
so  hat  diese  außer  ihrer  Mitgift  noch  ein  Stück  Feld, 
Baumgarten  und  sonstige  Habe  für  die  Aufziehung  der 
KÜnder  zu  erhalten  und,  wenn  die  Kinder  herangewachsen 
sind,  noch  einen  Teil  des  Vermögens  des  Mannes,  ent- 
sprechend Einem  Erben.  Die  verstoßene  israelitische  Frau 
bekam  einen  Scheidebrief,  der  sie  vor  der  Beschuldigung 
willkürlichen  Verlassens  schützen  sollte,  die  babylonische 
Frau  bekam  hohes  Scheide  geld.  Wohl  hat  diese  traurige 
Stellung  der  israelitischen  Frau,  die  jeden  Augenblick, 
namentlich  wenn  sie  unfruchtbar  war,  besorgt  sein  mußte, 
auf  die  Straße  gesetzt  zu  werden,  wohl  hat  die  Notlage 
dieser  ,, armen  verstoßenen  Geschöpfe,  die  oft  nicht  einmal 
ins  Vaterhaus  zurückkehren  konnten",  die  Propheten  wie 
Micha  (2^)  und  Maleachi  (2^^)  zu  heftigen  Straf  reden  ver- 
anlaßt, aber  deshalb  blieb  die  Ehescheidung  dennoch  bis 
in  die  späteste  Zeit  herab  bei  dem  ,, Volke  Gottes"  üblich, 
weil  die  mosaische  Ehegesetzgebung,  weil  Jahos  Gesetz  die 
Frau  in  eine  Stellung  tief  unter  dem  Manne  hinabstieß, 
nachdem  sie  bei  den  Sumerern  des  5.,  4.  vorchristlichen 
Jahrtausends  eine  Ehrenstellung  neben  dem  Manne  ein- 
genommen hatte!  Beachte  im  Anhang  auch  die  Ge- 
setze 47  und  50,  denen  zufolge  es  eine  Strafe  war,  eine 
Frau  zeitlebens  behalten  zu  müssen! 

Delitzsch,  Die  grosse  Täaschang.     I  5 


82  II'  ^^^  GottesofFenbarung  vom  Sinai. 

Zu  den  religiösen  und  sittlichen  Gründen,  welche  die  Ver- 
einerleiung  von  Jaho  mit  dem  wahren  Gott  ausschließen,  ge- 
sellt sich  endlich  die  Art  und  Weise  von  Jahoskultischer 
Verehrung,  die  durch  den  Priesterkodex  auch  noch  für  die 
nachexilische  Zeit,  und  zwar  mit  besonderer  Strenge,  fest- 
gelegt wurde :  ich  meine  die  Verehrung  Jahos  durch  Opfer, 
insonderheit  blutige  Opfer,  wie  sie  genau  so  jedem  andern 
vorderasiatischen ,, Götzen"  dargebracht  wurden,  sowie  jene 
beschränkteste  aller  Beschränktheiten,  derzufolge  Jahos 
oder  „Gottes"  kultische  Verehrung  nur  in  Jerusalem 
allein  stattfinden  durfte.  Wie  poetisch  mutet  uns  dagegen 
der  von  den  hebräischen  Propheten  in  Grund  und  Boden 
verfluchte  Kult  der  Kanaaniter  an,  die  dem  Gotte  Baal, 
das  ist  dem  ,, Herrn",  dem  Sonnengott,  und  der  heil- 
bringenden Göttin  Aschera  auf  jeder  Höhe  und  unter 
jedem  üppig  grünenden.  Schatten  spendenden  Baum  Ver- 
ehrung und  Anbetimg  zollten,  ebenso  wie  wohl  kein  Mensch 
auf  Erden,  auch  wenn  er  Nichtkatholik  ist,  sich  dem  zur 
Anbetung  des  Höchsten  und  zur  inneren  Einkehr  zwingen- 
den Eindruck  katholischer  Kirchen  und  Kirchlein  auf 
Bergeshöhen  und  von  Kapellen  am  Wege  unter  schattigen 
Bäumen  entziehen  kann!  Es  gibt  ja  Aussprüche  innerhalb 
der  Prophetenschriften  und  Psalmen  (Anm.  38),  welche 
lehren,  wie  ernste  Israeliten,  Propheten  und  Psalmisten, 
den  Unwert  des  ganzen  Opferwesens  und  Zeremonien- 
krams erkannten  und  auf  Verinnerlichung  der  Gottes- 
verehrung drangen,  aber  diese  zum  Teil  sehr  späten  Licht- 
bücke,  welche  unserem  christlichen  Religionsbuche  an- 
gegliedert zu  werden  verdienen,  reichen  nicht  entfernt 
dazu  hin,  um  das  über  das  althebräische  Schrifttum  als 
vermeintliches  ,,Wort  Gottes"  zu  sprechende  Verdikt  zu 
ändern  oder  auch  nur  zu  mildern. 


Die  literarische  TäliRkeit  der  Propheten.  83 

III. 

Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  die  Propheten,  die 
,,Gottes"männer,  die  begeisterten  Vorkämpfer  Jahos  als 
des  Gottes  Israels  und  Israels  als  des  Volkes  Jahos,  wie 
sie  ja  nicht  nur  sich  selbst  als  die  geistige  ,, Wehrmacht" 
Israels  (bildlich  als  ,, Israels  Streitwagen  und  Reiter") 
betrachteten  (2  Kö  2  ^2),  sondern  auch  von  den  Königen 
mit  diesem  Titel  ausgezeichnet  wurden  (13  ^••).  In  Pro- 
phetenschulen, deren  Lehrer  und  Schüler  gewiß  nach 
Hunderten  zählten,  in  dem  doppelten  Glaubenssatze:  es 
gibt  keinen  höheren  Gott  als  Jaho  und  Israel  ist  das  Volk 
Jahos,  erzogen  und  auf  ihn  eingeschworen,  zu  ernster 
Sittenstrenge  angehalten,  in  bilderreicher,  flammender 
Beredsamkeit  geschult,  dazu  in  allen  Mitteln  zielbewußter 
Schriftstellerei  ausgebildet,  entfalteten  die  Propheten  die 
umfassendste  und  zugleich  rührigste,  fast  ruhelos  zu 
nennende  Tätigkeit,  verschieden  an  Art,  aber  geleitet  von 
Einem  Ziel :  einerseits  Israel  bei  seinem  Nation algotte  Jaho 
zu  erhalten,  seinen  Abfall  von  ihm  zu  strafen,  seine  Rück- 
kehr zu  ihm  teils  durch  Drohung  teils  durch  Verheißung 
zu  erzwingen,  andererseits  alle  Götter  außer  Jaho  zu  ver- 
höhnen und  alle  Jaho  bzw.  Israel  feindlichen  Völker  mit 
immerwährendem  Haß  zu  verfolgen. 

Um  mit  ihrer  literarischen  Tätigkeit  zu  beginnen,  so 
waren  die  Propheten  nicht  nur  Aufzeichner  zeitgenössi- 
scher Begebenheiten,  wie  wir  aus  den  Titeln  und  Inhalts- 
angaben jetzt  verloren  gegangener  Schriften  wissen 
(Anm.  39),  sondern  auch  Verfasser  größerer  Geschichts- 
werke, welche  die  Geschichte  Israels  vom  Eindringen  in 
Kanaan  an  rückwärts  bis  zu  den  Patriarchen,  ja  bis  zur 
Schöpfung  des  Menschen  zurückführten,  oder  die  Geschichte 
der  Könige  von  Juda  und  Israel  behandelten,  alles  vom 
speziell  prophetischen  Standpunkte  aus  geschrieben.  Jeder 
Leser  des  biblischen  Königsbuches  weiß  ja,  daß  wir  aus 


g^  III.  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

ihm  für  die  Regierungsgeschichte  der  Könige  selbst  blut- 
wenig erfahren,  eigen tüch  nur,  ob  sie  ,,das,  was  gut  ist 
in  den  Augen  Jahos",  taten  oder  nicht,  und  im  übrigen 
immer  und  immer  wieder  auf  die  jetzt  ebenfalls  ver- 
schollenen Jahrbücher  der  Könige  Judas  bzw.  Israels,  wohl 
auch  der  Könige  von  Juda  und  Israel  verwiesen  werden, 
daß  dagegen  die  private  wie  öffentliche  Wirksamkeit  der 
Propheten  während  der  Königszeit  in  eingehendster, 
sprachlich  oft  reizvoller  Weise  erzählt  ist.  Besondere 
Hervorhebung  verdient,  wie  die  prophetischen  Schrift- 
steller an  ihrem  Teil  bemüht  blieben,  mit  der  Feder  nach- 
zuholen, was  dem  Schwerte  versagt  bheb,  und  den  hand- 
greifUchen  Widerspruch  zwischen  Verheißung  imd  Er- 
füllung betreffend  die  Inbesitznahme  Kanaans  dadurch 
wettzumachen,  daß  sie,  unbekümmert,  ob  sie  dadurch 
Jaho  meineidig  machten  oder  nicht,  Kanaan  schon  in 
der  Vorzeit  dem  Volke  Israel  von  Jaho  zugeschworen 
sein  lassen  (übrigens  ein  Anachronismus,  da  gemäß  Exö^*- 
Jaho  sich  unter  diesem  Namen  erst  Mose  geoffenbart 
hatte,  s.  S.  41).  Dementsprechend  muß  nicht  allein  Jaho 
in  wiederholten  Traumgesichten  und  sonstigen  Erschei- 
nungen Israels  Vorfahren  Abram,  Isaak  und  Jakob  immer 
von  neuem  Kanaan  als  das  Land  ihrer  Nachkommen  zu- 
schwören, sondern  müssen  die  Patriarchen  auch  an  ver- 
schiedensten Orten  Kanaans  von  Sichem  bis  Beerseba 
Altäre  bauen  und  Jahos  Namen  verkündigen^,  um  auch 
auf  diese  Weise  Kanaan  als  prädestiniertes  Land  Jahos  und 
seines  auserwählten  Volkes  erscheinen  zu  lassen  —  all  das 
dem  wirklichen  Geschichtsverlaufe  zum  Trotz !  Sogar  der 
alte  Noah,  kaum  aus  seiner  Trunkenheit  erwacht,  muß 
dazu  herhalten,  von  den  vier  Söhnen  seines  Sohnes  Ham 
(Gen  IG®)  ausgerechnet  Kanaan  zu  verfluchen  und  diesen 
zum  „Knecht  Jahos,  des  Gottes  Sems"  zu  stempeln 
(Gen  9^^'")»  obschon  der  ganz  und  gar  nicht-hami tische 
Charakter    der    kanaanitischen     Völker    dem    Verfasser 

1)     Gen  127-  8    134.  18    2l33;    2625;    332«    35^ 


Die  rhetorische  Tätigkeit  der  Propheten,  g« 

zweifelsohne  bekannt  war'  —  ein  außerordentlich  lehr- 
reiches Beispiel  tendenziöser  prophetischer  Mache. 

Aber  auch  über  den  Besitz  Kanaans  als  des  Israel  „ge- 
lobten" lyandes  hinaus  wußten  die  Propheten  in  Wort 
und  Schrift  ihrem  Volke  als  dem  Volke  Jahos  die  glän- 
zendste Zukunft  zu  verheißen  —  sämtliche  Propheten,  von 
Moses  bis  herab  zum  jüngsten  nachexilischen  Propheten, 
Musterbeispiele  leidenschaftlichsten  Rassebewußtseins,  alle- 
samt darin  eins,  daß  Israel  berufen  sei,  an  Volkszahl, 
Macht  und  Reichtum  aller  Völker  der  Erde  größtes  zu  sein. 
,,Ich  will  dich  (Abram)  zu  einem  großen  Volke  machen" 
(Gen  12'^),  und  ,, deine  Nachkommen  wie  den  Staub  der 
Erde  —  unzählig"  (13^"),  , »unzählig  gleich  den  Sternen  des 
Himmels",  „gleich  dem  Sande  am  Meer".  ,,Jaho,  dein  Gott, 
hat  dich  gesegnet,  wie  er  dir  verheißen  hat,  sodaß  du  viele 
Völker  zu  Pfandschuldnern  machen,  selbst  aber  nicht 
Pfandschuldner  sein  wirst,  und  du  viele  Völker  beherrschen 
wirst,  dich  aber  sie  nicht  beherrschen"  (Dt  15®),  und  noch 
die  nachexilischen  Propheten  werden  nicht  müde,  Israels 
zukünftigen  Riesenreichtum  auszumalen.  Die  Einhellig- 
keit und  immer  erneute  Wiederholung  dieser  Verheißungen 
durch  das  Medium  der  prophetischen  Schriftsteller  haben 
alle  Völker  des  Erdkreises  bis  heute  inbetreff  des  jüdischen 
Volkes  in  eitel  Täuschung  erhalten.  Denn  wenn  von  Jaho 
=  Gott  gesprochen,  blieb  ja  nichts  anderes  übrig,  als  sich 
unter  Gottes  wahrhaft  unerforschlichen  Ratschluß  zu 
beugen.  Anders,  wenn  wir  erkannt  haben,  daß  Jaho 
lediglich  ein  Götze,  Israels  fingierter  Nationalgott  ist  —  da 
entpuppen  sich  alle  diese  Verheißungen  als  Ausgeburten 
eines  überspaimten  Nationalbewußtseins,  wie  es  bei  den 
ebenfalls  semitischen  Arabern  genau  so  zu  finden,  das 
aber  durch  alle  Jahrhunderte  hin  wach  erhalten,  ja  ins 
Ungemessene  gesteigert  worden  ist  durch  die  Hypnotisie- 
rung der  Christenheit,  daß  Jaho  eins  sei  mit  Gott. 

^1  Die  Kanaaniter  waren  zeitweise  abhängig   von  den   Pharaonen, 
aber  damit  noch  lange  nicht  Hamiten. 


86  III-  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

Als  die  geistige  „Wehrmacht"  des  Volkes  Israel  waren 
die  Propheten  zugleich  die  geborenen  Politiker,  die  sich 
nur  selten  vom  Volke  beeinflussen  ließen,  sondern  viel- 
mehr umgekehrt  es  meisterhaft  verstanden,  das  Volk 
samt  dessen  Königen  ausschließlich  ihrem  Willen  gefügig 
zu  machen  und  zu  erhalten.  Überall  sehen  wir  in  die  Ent- 
schlüsse der  israelitischen  Volksgemeinde  wie  in  die  Tätig- 
keit der  späteren  Könige  die  Propheten  unbehindert  und 
machtvoll  eingreifen.  Sie  tadeln  den  König  Asa,  daß  er 
zur  Bekämpfung  des  Bruderreiches  Israel  ein  Bündnis  mit 
dem  Aramäerkönig  geschlossen  (2Chri6'"-);  sie  strafen 
Ahab,  daß  er  dem  gefangenen  Aramäerkönig  das  Leben 
geschenkt  habe,  ja  ein  Bündnis  mit  ihm  eingegangen  sei 
(i  KÖ20^^~'*2)  usw.,  doch  soll  die  Betätigung  der  Propheten 
auf  dem  Gebiete  der  äußeren  Politik  hier  nicht  weiter 
berücksichtigt  werden.  Anders  steht  es  mit  ihrer  Be- 
tätigung auf  innerpolitischem  Gebiete,  die  so  recht  zeigt, 
wie  die  in  Jahos  Namen  und  Auftrag  auftretenden  Pro- 
pheten nur  gar  zu  oft  in  echt  menschlicher  Kurzsichtigkeit 
und  Willkür  handelten,  ja  zuweilen  in  blind  fanatische 
Demagogen  ausarteten,  die  selbst  vor  Königsmord  nicht 
zurückschreckten . 

Ein  gefestigtes,  lebensfähiges  israelitisches  Staatswesen 
war  an  sich  schon  sehr  schwer  zu  schaffen,  da  auch  nach 
der  Richterzeit  die  Anfeindungen  von  außen  her  an  allen 
Orten  und  Enden  fortdauerten.  Ein  starkes  Königtum, 
nach  welchem  das  israelitische  Volk  selbst  sich  sehnte, 
hätte  helfen  können,  half  auch  eine  Zeit  lang,  wie  die 
Regierungsgeschichte  Sauls,  Davids,  Salomos  lehrt,  aber 
wie  die  Propheten  gleich  von  Anfang  an  sich  gegen  das 
Königtum  eingenommen  zeigten*,  doch  wohl,  weil  sie 
dadurch  eine  Beeinträchtigung  ihres  Willens  zu  schranken- 
loser Macht  fürchteten,  so  trug  ihre  unaufhörUche  Ein- 
mischung   in    die  Politik  wesentUch  dazu  bei,    daß  der 

^)  Wie  Samuel  den  König  Saul  nur  widerwillig  zum  König  gesalbt 
hatte  (i  Sagf.),  so  stürzte  er  ihn  auch  wieder  {13"  i5"'')- 


Die  politische  Tätigkeit  der  Propheten.  87 

Staat  Juda  wie  der  Staat  Israel  als  die  verlottertsten 
Staatswesen  bezeichnet  werden  können,  die  jemals 
auf  Erden  existierten.* 

Konnte  es  eine  kurzsichtigere  und  unheilvollere  politische 
Tat  geben  als  jene  des  Propheten  Achijja  aus  Silo,  der  im 
Auftrage  Jahos  Jerobeam,  den  von  Salomo  über  die  Fron- 
arbeiter gesetzten  Oberaufseher,  noch  bei  Salomos  Leb- 
zeiten zum  König  über  die  zehn  Nordstämme  ernannte  als 
Strafe  für  Salomos  Hang  zur  Abgötterei  (iKöii^»"-)? 
Jerobeam,  der  kaum  den  Thron  des  neugeschaffenen 
Reiches  Israel  bestiegen  hatte,  als  er  mitsamt  seinem  Volke 
Jaho  für  immer  den  Rücken  kehrte  und  mit  den  zwei 
goldenen  Kälbern,  die  er  als  Israels  Nationalgötter  in 
Bethel  und  Dan  aufstellte,  den  denkbar  krassesten  Götzen  - 
dienst  einführte !  Was  für  ein  blinder  Gott  war  dieser  Jaho, 
in  dessen  Auftrag  Achijja  solche  Revolution  anzettelte, 
die  langwierige  blutige  Bürgerkriege  heraufbeschwor 
(iKöi4^''  15')  und  dem  unter  Salomo  kaum  konsoli- 
dierten Hebräerstaate  den  Todesstreich  versetzte  für 
immer ! 

Und  noch  ein  anderes  Beispiel  (2  Kö  9  f.)  für  das  auf- 
rührerische, hochverräterische  Treiben  dieser  ewig  un- 
iiihigen  ,, Seher"  oder  ,, Schauer",  welche  von  den  hebräi- 
schen Heerführern  nicht  so  mit  Unrecht  als  ,, Verrückte" 
bezeichnet  wurden!    Das  mit  Juda  verbündete  Heer  des 


^)  Man  vergegenwärtige  sich  nur,  daß  von  den  23  Königen  Judas  vier, 
von  19  Königen  Israels  sieben  ermordet  wurden,  daß  Jehoschafats, 
Königs  von  Juda,  Sohn  Jehoram,  den  sein  Vater  zu  seinem  Thron- 
folger ernannt  hatte,  während  er  seine  sechs  anderen  Söhne  mit  Gold, 
Silber,  Kostbarkeiten  imd  befestigten  Ortschaften  beschenkte,  diese 
seine  sechs  Brüder  sofort  nach  seiner  Thron besteigimg  umbrachte 
(2  Chr  2 1^  "•),  usw.  Und  welch  beredtes  Beispiel  des  von  den  Propheten 
Hosea,  Arnos  usw.  imablässig  bekämpften  und  gestraften  Mangels  jeg- 
lichen Gefühls  für  Gerechtigkeit  bietet  die  Erzählung  1KÖ21,  der- 
zufolge  die  Ältesten  und  Vornehmsten  Jezreels  auf  Izebels  Befehl  so- 
fort zwei  Lügenzeugen  aufstellten,  die  den  Vorwand  zu  Naboths  Steini- 
gung lieferten? 


38  III-  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

Reiches  Israel  stand  in  heftigem  Kampf  mit  den  Aramäern, 
die  sich  der  Stadt  Ramoth-Gilead  bemächtigt  hatten. 
Ahab,  der  König  von  Israel,  war  in  der  Schlacht  tödlich 
verwundet  worden  und  noch  am  gleichen  Tage  seiner  Ver- 
wundung erlegen.  Auch  sein  Sohn  imd  zweitnächster 
Nachfolger  Joram  war  weiterhin  im  Kampf  gegen  Hazael 
von  Damaskus  bei  der  siegreichen  Eroberung  der  Stadt 
mehrfach  verwundet  worden  und  lag  zur  Heilung  seiner 
Wunden  in  Jezreel.  Vater  und  Sohn  hatten  an  der  Spitze 
ihrer  Truppen  tapfer  und  todesmutig  für  ihr  Land  ge- 
kämpft. In  ebendieser  Zeit,  als  die  israelitischen  Heer- 
führer in  Ramoth-GUead  sich  berieten,  trat,  vom  Propheten 
Elisa  geschickt,  ein  Prophetenschüler  in  ihren  Kreis,  ruft 
den  höchststehenden  unter  ihnen,  Jehu  mit  Namen,  zu 
sich  heran,  geht  mit  ihm  in  das  Haus,  führt  ihn  von  Ge- 
mach zu  Gemach  bis  in  den  entlegensten  Raum,  und  gießt 
ihm  eilends  das  ihm  mitgegebene  Salböl  über  das  Haupt 
mit  den  Worten:  ,,So  spricht  Jaho:  ich  salbe  dich  hiermit 
zum  König  über  das  Volk  Jahos,  über  Israel,  und  du  sollst 
schlagen  das  Haus  Ahabs,  deines  Herrn,  und  an  Izebel 
rächen  das  Blut  meiner  Diener,  der  Propheten,  und  das 
Blut  aller  Diener  Jahos",  worauf  er  schnell  die  Tür  öffnet 
tmd  entflieht.  Die  Heerführer  fragen  Jehu,  was  der  ,, Ver- 
rückte" (V.  ii)  von  ihm  gewollt  habe.  Jehu  gibt  zunächst  eine 
ausweichende  Antwort,  gesteht  dann  aber  ein,  daß  er  zum 
König  gesalbt  worden  sei,  worauf  die  übrigen  Heerführer 
sofort  ihre  Kleider  auf  die  Stufen  des  Hauses  unter  seine 
Füße  breiten,  ihm  als  König  zu  huldigen.  Man  erkennt  die 
unumschränkte  Macht,  welche  die  Propheten  über  Volk 
und  Heer  ausübten,  und  ersieht  aus  dem  nun  Folgenden,' 
mit  welch  blutigem  Hasse  die  israelitischen  Propheten  die- 
jenigen verfolgten,  die  ihren  Zorn  erregt  hatten,  wie  Ahab 
durch  seine  Verheiratung  mit  der  sidonischen  Königs- 
tochter Izebel  und  die  Erbauung  eines  Baalstempels  in 
Samaria,  und  wie  Izebel,  die  die  Propheten  Jahos  hatte 
töten  lassen,  selbstverständlich  eine  Schandtat,  die  aber. 


Elisa  als  Hochverräter.  So 

da  Kanaan  Kanaaniterland  geblieben  war,  immer  noch 
innerlich  berechtigter  war  als  die  Hinschlachtung  der 
450  Baalspropheten  durch  Elias  (i  Kö  i8*°).  Noch  ehe  die 
Kunde  von  der  Revolution  in  das  Land  dringen  konnte, 
fuhr  Jehu  in  rasender  Eile  auf  seinem  Wagen  nach  Jezreel, 
wo  der  König  Joram,  bei  dem  der  König  von  Juda  zu  Be- 
such weilte,  sich  eben  auf  dem  Wege  der  Genesung  befand. 
Der  Turmwächter  gewahrt  von  ferne  das  näher  und  näher 
kommende  Getümmel  und  meldet  Joram,  daß  keiner  der 
beiden  entgegengesandten  Boten  zurückgekehrt  sei.  Nun 
fahren  die  beiden  Könige  selbst  Jehu  entgegen,  hören  aus 
Jehus  Mund  offene  Kampfansage  und  fliehen  Von  Jehus 
Pfeilschuß  durchs  Herz  getroffen,  bricht  Joram  auf  seinem 
Wagen  tot  zusammen  und  wird  von  Jehus  Begleitern  auf 
das  Grundstück  Naboths  geworfen.  Der  König  von  Juda 
entkommt  verwundet  nach  Megiddo,  wo  auch  er  stirbt. 
Und  nun  hinein  durch  das  Tor  nach  Jezreel,  wo  Izebel, 
zum  Fenster  hinausgebeugt,  Jehu  mit  dem  Zuruf  ,, Königs- 
mörder" empfängt.  Auf  Jehus  Befehl  wird  die  Königin- 
Mutter  von  zwei,  drei  ihrer  Eunuchen  gefaßt  imd  auf  die 
Straße  geschleudert,  sodaß  ihr  Blut  an  Wagenwand  und 
Pferde  spritzte,  worauf  sie  selbst  überfahren  wird.  Jehu  ißt 
und  trinkt  tmd  gibt  dann  Befehl,  Izebel,  die  „Königstochter", 
zu  begraben,  aber  man  findet  nur  noch  den  Schädel,  die 
beiden  Füße  und  Handteller,  der  übrige  Leichnam  war 
bereits  eine  Beute  der  Hunde  geworden.  Man  sollte  meinen, 
daß  Ahabs  Sohn  Joram  und  Gemahlin  Izebel  nun  hin- 
reichend gestraft  worden  seien,  aber  Elisas  und  seines  Send- 
üngs  Jehu  Blutdurst  war  noch  lange  nicht  gelöscht.  Ahab 
hatte  70  in  Samaria  lebende  Söhne.  Jehu  schrieb  an  die 
Ältesten  und  an  die  Pfleger  der  jüngeren  Kinder  Briefe  des 
Inhalts,  sie  sollten,  da  sie  doch  über  alles  Kriegsmaterial  und 
die  Festungen  verfügten,  den  ihnen  am  geeignetsten  scheinen- 
den Sohn  ihres  Herrn  auf  den  väterüchen  Thron  setzen  und 
für  das  Haus  ihres  Herrn  kämpfen.  Die  Briefempfänger 
gerieten  natürlich  in  die  größte  Angst  ob  der  uimiögHch 


QO  III-  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

ernst  gemeinten  Worte  des  dreifachen  Königs-  und  Königin- 
mörders und  unterwarfen  sich  Jehu  bedingungslos.  Darauf- 
hin verlangt  Jehu,  daß  sie  ihm  morgen  die  70  Köpfe  der 
Söhne  ihres  Herrn  bringen  sollten.  Die  70  Söhne  bzw.  Kinder 
werden  geschlachtet  und  ihre  Köpfe  in  Körben  Jehu  über- 
reicht. Dieser  läßt  sie  in  zwei  Haufen  am  Stadttore  auf- 
schichten, worauf  er  am  nächsten  Morgen  eine  Ansprache 
an  das  Volk  hält,  in  welcher  er  zugibt,  daß  er  es  gewesen, 
der  sich  gegen  seinen  Herrn  verschworen  und  ihn  getötet 
habe,  für  alle  übrigen  Mordtaten  aber  den  Propheten  Elisa 
und  Jaho  selbst  verantwortlich  macht  (10  ^'•),  Jaho,  der 
vom  Sinai  herab  feierUch  verkündet  hatte,  daß  die  Söhne 
für  die  Sünden  der  Väter  nicht  büßen  sollten!*  In  der 
Tat,  nachdem  Jehu  in  Jezreel  alle  noch  übrigen  Familien- 
angehörige Ahabs,  seine  Großen,  Bekannten,  Priester  aus- 
nahmslos erschlagen,  auf  dem  Wege  nach  Samaria  die  eben- 
dorthin  zum  Besuche  ihrer  Großeltern  reisenden  42  Söhne 
des  Königs  von  Juda  hingeschlachtet  und  in  Samaria  die 
in  den  Baalstempel  gelockten  Unmassen  von  Propheten, 
Priestern  und  Anhängern  des  Baal  gemordet  hatte,  des 
Baal  oder  Sonnengottes,  dessen  Verehrung  kein  anderer 
als  Jaho  selbst  den  Kanaanitern  zugeteüt  hatte  (S.76f.),  da 
sprach  Jaho  zu  Jehu:  „Weil  du  gut  daran  getan 
hast,  das,  was  recht  ist  in  meinen  Augen,  auszuführen, 
genau  das,  was  ich  beabsichtigt,  dem  Hause  Ahabs  getan 
hast,  sollen  vier  Generationen  deiner  Söhne  auf  dem  Throne 
Israels  sitzen"  (io^°).  Und  gleichzeitig  bemerkt  der  pro- 
phetische Geschichtsschreiber,  daß  ebenderselbe,  von  Jaho 
also  belobte,  Jehu  von  dem  Gotte  Jaho  gar  nichts  wissen 
wollte,  sondern  dem  Kultus  der  zwei  goldenen  Kälber  frönte 
wie  nur  irgendeiner  seiner  Vorgänger  und  Nachfolger  auf  dem 
Throne  Israels!  Ja  noch  mehr!  Und  weruge  Jahrzehnte 
später  sprach  Jaho  zum  Propheten  Hosea:  ,,Noch 
eine  kleine  Weile,  so  wül  ich  die  Blutschuld  von  Jezreel 


^)  Siehe  Anhang  Gesetz  Nr.  12. 


Die  Propheten  als  Sittenprediger.  Ol 

aa  Jehus  P'amilie  heimsuchen  und  dem  Königtume 
des  Hauses  Israel  ein  Ende  machen!"  (Ho  i*).  Ist  dieser 
Widerspruch  innerhalb  gleichzeitiger  prophetischer  Ver- 
kündigungen im  ,,  Auf  trage  Jahos"  nicht  ein  klarer  Hin- 
weis darauf,  in  welchem  Maße  die  Propheten  Unfug  trieben 
mit  der  vermeintUchen  Inspirierung  durch  den  Gott  Jaho*. 
und  wie  Jehus  unmenschliche  Bluttaten,  Jehus  Revolution 
und  Israels  Untergang  einzig  und  allein  auf  das  Konto  des 
Propheten  Elisa  und  seines  Prophetenkreises  zu  schreiben 
sind,  der  in  Wahrheit  ,, Verrückten",  d.  h.  sinnlos  ver- 
brecherisch handelnden  religiösen  Fanatiker?  Die  nächste 
f>olitische  Folge  von  Elisa — Jehus  Revolution  war,  daß 
nicht  allein  Ramoth-Gilead,  sondern  ein  großer  Teil  des 
Reiches  Israel  an  die  Aramäer  verloren  ging  (2  Kö  10  ^2'"), 
und  innerhalb  Israels  selbst  Königsmord  auf  Königsmord 
folgte,  bis  dem  zermürbten  Staate  der  assyrische  König 
ein  Ziel  setzte! 

Einen  Lichtpunkt  in  diesen  Betrachtungen  bildet  die 
Tätigkeit  der  Propheten  als  Sittenprediger  =^,  als  strenge 
Verfechter  von  Recht  und  Gerechtigkeit,  wobei  wir  an 
Männer  wie  Hosea,  Arnos,  Micha  und  andere  denken  und 
an  Nathans  von  Jugend  auf  uns  ergreifendes  ,,Du  bist  der 
Mann!"  Deshalb  unterdrücken  wir  gern  allerlei  kritische 
Bemerktmgen,  wie  sie  sich  auch  angesichts  dieser  Betäti- 
gung der  alttestamentUchen  Propheten  aufdrängen.  Wenn 


^)  Eine  häßliche  Szene,  wie  von  zwei  Propheten,  die  sich  beide  von 
Jaho  inspiriert  wähnen,  einer  den  andern  ohrfeigt,  lesen  wir  i  Kö  22^*, 
und  vor  ein  psychologisches  Rätsel  stellt  uns  die  Erzählung  i  Kö  i  3  "' "'". 
wie  einen  jüngeren  Propheten,  dem  Jaho  befohlen  hatte,  nicht  nach 
Bethel  zxu-ückzukehren,  ein  greiser  Prophet  von  Bethel  dennoch  zxrr 
Umkehr  bestimmt,  indem  er  ihn  belügt,  ein  Engel  habe  zu  ihm  „im 
Auftrage  Jahos"  geredet:  führe  diesen  mit  dir  zurück,  und  wie  zur 
Strafe  dafür  der  junge  Prophet  von  einem  Löwen  zerrissen  wird,  während 
das  alte  Lügenmaul  vöUig  straffrei  bleibt  bis  an  sein  Ende,  ja  noch 
darüber  hinaus  (vgl.   i  Kö  i  3^^'-  mit  2  Kö  23"*). 

*)  Daß  sich  die  Propheten  für  ihre  Strafpredigten  auch  des  Briefes 
bedienten,  lehrt  2  Chr  2  i  ^^  '^ . 


Q2  in.  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

wir  z.  B.  bei  Nathans  Auftreten  wider  David  bedenken, 
daß  David  in  raffiniertester  Weise  zum  mindesten  zwei 
Verbrechen  begangen,  deren  jedes  vom  mosaischen  wie 
babylonischen  und  assyrischen  Gesetz  mit  dem  Tode  be- 
straft wird,  so  entspricht  das,  was  nach  Nathans  Straf - 
rede  erzählt  wird  (2  Sa  12^^"*):  Davids  fortgesetzter  Um- 
gang mit  Bathseba,  dem  Weibe  des  von  ihm  ermordeten 
Uria,  und  die  Ernennung  des  aus  diesem  Incest  hervor- 
gegangenen Sohnes  Salomo  zu  Davids  Thronfolger  nur 
wenig  unserem  sittlichen  Empfinden. 

Dagegen  fordert  die  den  Propheten  zugeschriebene  bzw. 
von  ihnen  selbst  für  sich  in  Anspruch  genommene  Gabe 
der  Wundertätigkeit  abermals  Kritik  seitens  jedes 
reHgiös  Denkenden  heraus.  Neben  dem  Glauben  an  Jaho 
als  den  vermeintlichen  ,,Gott"  hat  nichts  unser  religiöses 
Denken  dergestalt  vergiftet  wie  der  in  den  Propheten- 
schulen großgezogene  und  von  der  prophetischen  Ge- 
schichtsschreibung verbreitete  Wunderglaube  eti  gros.  Da 
jeder  Prophet  sich  bei  jedem  von  ihm  verkündeten  wich- 
tigeren ,, Gottesworte"  durch  ein  Zeichen,  ein  Wunder  als 
wirklichen  Propheten  Jahos  zu  beglaubigen  pflegte  (Dt 
13^*-),  und  die  orientalische  Welt  überhaupt  hundertfältig 
zeigt,  wie  das  Wunder  des  Glaubens  liebstes  Kind  ist,  so 
läßt  es  sich  denken,  daß  innerhalb  der  religiös  über- 
spannten prophetischen  Kreise  eine  Unmenge  von  Wunder- 
erzählungen kolportiert  wurde,  die,  so  läppisch  sie  großen- 
teüs  sein  mögen,  weil  sie  jede  Spur  eines  tieferen  sittlichen 
Gnmdes  zu  solch  göttlicher  Wundererweisung  vermissen 
lassen,  dennoch  unsern  Glauben  von  Gottes  Wirken  imd 
Walten  gründlich  verkehrt  haben.  Eine  Schar  dummer 
Jimgen  aus  Bethel,  die  nach  alttestamentlichem  Sprach- 
gebrauch noch  nicht  zwischen  gut  und  böse  zu  unter- 
scheiden wissen,  belustigt  sich  über  die  Glatze  des  vor 
ihnen  gehenden  Propheten  Elisa  und  ruft  ihm  ,, Kahl- 
kopf" nach  —  da  wandte  sich  Elisa  um  und  verfluchte  sie 
im  Namen  Jahos,  worauf  zwei  Bären  aus  dem  Walde 


Die  Propheteu  als  Wundertäter.  g^ 

hervorbrachen  und  42  der  Knaben  zerrissen,  während 
EHsa  unbekümmert  seines  Wegs  zieht  (2KÖ2"").  — 
Ein  „Gottesmann",  der  zu  einem  bestimmten  Zwecke  als 
Kriegsverwundeter  dem  König  Ahab  entgegentreten  will, 
befiehlt  seinem  , .Genossen"  (also  wohl  ebenfalls  Propheten) 
,,im  Auftrage  Jahos",  ihn  zu  schlagen  und  ihm  (etwa  über 
dem  Auge)  eine  Wunde  beizubringen.  Dieser  weigert  sich, 
aber  kaum  ist  er  vom  Propheten  geschieden,  so  trifft  ihn 
ein  Löwe  und  tötet  ihn  (iKÖ20^^'*).  Diese  beiden 
Wundererzählungen  mögen  bezwecken,  die  Propheten 
gegen  alle  Insulten  zu  schützen  und  ihren  Weisungen 
blinden  Gehorsam  zu  sichern,  bei  andern  ist  nicht  einmal 
solche  egoistische  Absicht  erkennbar.  Ein  Propheten- 
schüler beteiligt  sich  an  der  Herstellung  von  Wohnbaracken 
am  Jordanufer,  er  schlägt  einen  Baum  mit  einer  hierfür 
entliehenen  Axt,  das  Eisen  entgleitet  dem  Stiel  und  fällt 
in  den  Jordan.  Der  junge  Mann  schreit  über  den  lumpigen 
Verlust  —  der  Prophet  Ehsa  aber  wirft  ein  Stück  Holz 
nach  und  sofort  taucht  das  Eisen  empor,  schwimmt  auf 
der  Oberfläche  des  Wassers  und  gelangt  wieder  in  die 
Hand  des  Prophetenschülers  (2  Kö  6  *— ') .  —  Etliche  Israe- 
liten begraben  einen  Toten,  sie  gewahren  eine  Streifschar 
moabitischer  Plünderer  und  werfen  den  Toten  schnell  in 
das  Grab,  in  das  sie  eben  EHsa  gebettet  —  kaum  hatte 
der  Leichnam  EHsas  Gebeine  berührt,  so  stellte  er  sich 
wieder  lebendig  auf  seine  Füße  (2Köi3'^^).  In  dieser 
phantasieerhitzten  Atmosphäre  der  Prophetenschulen  ent- 
standen auch  die  Erzählungen  von  allen  den  ägyptischen 
Wundertaten  und  Wundergeschehnissen,  z.  B.  von  Mosis 
Stab,  der  sich  in  eine  Schlange  verwandelte,  das  Wunder- 
märchen von  Jerichos  Eroberung  und  hundert  andere  ^,  und 


*)  Auch  wunderbare  Voraussagungen  künftiger  Ereignisse  mit  Nen- 
nung ganz  bestimmter  Namen  zukünftiger  Könige  wurden  in  den 
Prophetenkreisen  erzählt  und  geglaubt,  Prophezeiungen,  die  sich 
von  selbst  als  vaticinia  ex  eventu  erweisen  (vgl.  z.  B.  i  Kö  132  mit 
2KÖ  23""). 


QA  III.  Die  Tätigkeit  der  Propheten. 

die  Menschheit  hat  sie,  gerade  weil  sie  bis  in  alle  Einzel- 
heiten hinein  so  lebendig  dargestellt  waren,  wie  z.  B.  die 
Kraftprobe  zwischen  Jaho  und  Baal  auf  dem  Berge  Karmel 
(i  Kö  1 8  2^^*°),  und  mochten  sie  noch  so  albern  sein  wie  die 
Erzählung  vom  grasfressend  enNebukadnezar  (Anm.40)  .oder 
uns  das  schwerste  Opfer  abrirgen,  nämlich  die  Preisgabe 
unseres  Intellektes,  wie  die  Wundererzählung  *  2  Chr  20  ^~"*, 
zwei  Jahrtausende  hindurch  gläubig  in  sich  aufgenommen 
und  höchstens  im  stillen  sich  gefragt,  warum  der  all- 
mächtige Gott  urplötzlich  mit  derlei  Wundern  im  Kleinen 
vne  im  Großen  aufgehört  hat.  Abermals  rast  ein  Volk 
aus  blassem  Neide,  ein  blutsverwandtes  großes  Volk  auf 
die  feigste  und  teuflischste  Art,  nämlich  durch  Aushunge- 
rung, mitsamt  seinen  Frauen,  Greisen,  Kindern  und  Säug- 
Hngen  auszurotten,  und  ist  dabei,  die  Selbständigkeit  und 
Freiheit  aller  übrigen  Völker  des  Weltalls  mit  brutaler 
Faust  unterdrückend,  über  einer  Welt  von  Leichen  den 
Turmbau  englischer  Weltherrschaft  aufzuführen  —  warum 
fährt  kein  Gott  vom  Himmel  hernieder,  den  gottgewollten 


^)  Drei  Feinde:  Edomiter,  Ammoniter,  Moabiter  waren  zur  Zeit  des 
Königs  Jehoschafat  mit  ungeheuren  Heerhaufen  in  Juda  eingefallen 
und  hatten  in  einem  Hochtale  an  der  Westküste  des  Toten  Meeres 
Aufstellung  genommen.  Aber  der  König  von  Juda  und  sein  Volk  werden 
durch  einen  I<eviten,  über  den  Jahos  Geist  gekommen  war,  aufgefordert, 
den  Kampf  gegen  die  drei  feindhchen  Heere  ausschließhch  Jaho  zu 
überlassen.  So  zieht  zwar  der  König  von  Juda  mit  seinem  Volke  aus 
nach  dem  Kampfplatz,  sie  rühren  aber,  dort  angelangt,  weder  Hand  noch 
Fuß.  Da  ließ  Jaho,  während  das  judäische  Heer  I,obpsalmen  anstimmte, 
die  drei  feindlichen  Heere  sich  gegenseitig  bis  auf  den  letzten  Mann  um- 
bringen (!),  und  als  die  Judäer  von  einem  Hügel  der  Wüste  Ausschau 
hielten,  fanden  sie  nichts  mehr  als  Leichen.  Eine  ungeheure  Beute 
wird  drei  Tage  hindurch  geborgen  und  dann  geht's  zurück  nach  Jeru- 
salem unter  Harfen-,  Zithern-  und  Trompetenschall,  während  alle 
Reiche  der  Erde,  die  von  dieser  Wvmdertat  Jahos  hörten,  von  Schrecken 
befallen  wurden.  Kautzsch's  Bibelübersetzimg  nennt  diese  Erzählung, 
eine  „erbauhche"  Umgestaltung  der  2  Kö  3  erzählten  Wimdergescheh- 
nisse  —  sollte  nicht  statt  „erbaulich"  vielmehr  „psychopathisch" 
oder  ,, pathologisch"  das  richtige  Epitheton  sein? 


Das  Alte  Testament  kciii  christliches  Religiousbiuh.  q5 

Bestand  von  Einzelnationcn  wiederherzustellen?  Auf 
Grund  der  Hunderte  von  Wundererzählungen  ira  Alten 
Testament  würden  wir  gewiß  berechtigt  sein,  diese  Frage 
zu  stellen.  Wir  tun  es  nicht,  da  wir  des  Glaubens,  d.  h. 
der  felsenfesten  Zuversicht  leben,  daß  der  deutsche  Genius 
unzerstörbar  ist  und  daß  der  allmächtige  Gott  über  Leben 
und  Tod  jedes  einzelnen  Menschen  wie  jedes  einzelnen 
Volkes  auch  ohne  plötzliches  ,, Wunder"  dem  deutschen 
Volke  heraushelfen  wird  aus  seiner  jetzigen  Schmach  und 
Sklaverei  und  uns  aus  tiefster  Nacht  einem  neuen  lichten 
Morgen  zuführen  wird. 

Schlußbetrachtung 

Die  zufällig  erhalten  gebliebenen  Überreste  des  alt- 
hebräischen Schrifttums,  die  wir  das  „Alte  Testament" 
zu  nennen  pflegen,  enthalten,  wie  alle  aus  dem  Altertum 
überkommenen  Schriften,  selbstverständlich  viel  Wert- 
volles in  profan-,  kultur-,  literar-  und  obenan  religions- 
geschichtlicher Hinsicht.  Sie  sind,  gleich  den  babylonischen, 
arabischen,  persischen,  indischen  und  anderen  orienta- 
lischen Erzeugnissen  in  Poesie  und  Prosa,  reich  an  sprach- 
lichen Schönheiten,  an  sinnigen  Weisheitssprüchen,  tiefen 
philosophischen  Betrachtungen  und  ernsten  ethischen 
Grundsätzen.  Aber  alle  diese  alttestamentHchen  Bücher 
von  Genesis  bis  Daniel  haben  in  religiöser  Beziehung 
für  uns  Jetztlebenden,  insbesondere  für  uns  Christen, 
schlechterdings  keine  Bedeutung.  Das  Gleiche  gilt  auch 
für  die  prophetischen  Bücher  und  Psalmen,  über  welche 
noch  besonders  gehandelt  werden  muß,  da  ihnen  gegen- 
über wieder  besondere  Vorurteile  eingewurzelt  sind. 
Wohl  gibt  es  in  beiden  vereinzelte,  zumeist  jüngerer  und 
jüngster  Zeit  angehörige  Stellen,  welche  wahrhaft  religiösen 
Geist  atmen  und,  wie  einige  Psalmen  und  Psalmstellen, 
auch  christlichem  Empfinden  zum  Ausdruck  dienen  können, 
sofern  man  Jaho  in  wahrheitswidriger  Weise  über  seine 


n6  Schlußbetrachtimg. 

engen  nationalen  Schranken  hinaushebt  oder  aber,  wie 
dies  Luther  getan  hat,  Jahos  Namen  überhaupt  ausmerzt 
und  bedeutsame  Stellen  mehr  umdichtet  als  übersetzt. 
Aber  diese  Aussprüche  und  Herzensergüsse  sind  doch  viel 
zu  spärHch  (s.  bereits  S.  82),  als  daß  sie  auch  nur  entfernt 
hinreichen  könnten,  um  ihretwillen  die  ganze  althebräische 
Literatur  als  christHches  Religionsbuch  anzuerkennen. 
Im  großen  und  ganzen  bleibt  es  dabei,  daß  „das  Judentum 
unter  die  heidnischen  Religionen  gehört"  (Goethe),  daß 
zum  mindesten,  wie  kein  Geringerer  als  Friedrich 
Schleiermacher  in  seiner  Schrift  über  den  christlichen 
Glauben  (5.  Aufl.,  S.  ^f)  hervorhebt,  Judentum  xmd 
Christentum  durch  eine  hohe  Scheidewand  getrennt  sind. 
,,Das  Christentum  steht  zwar  in  einem  besonderen  ge- 
schichthchen  Zusammenhange  mit  dem  Juden tmn,  was 
aber  sein  geschichtliches  Dasein  und  seine  Abzweckung 
betrifft,  so  verhält  es  sich  zu  Judentum  und  Heidentum 
gleich".  ,,Wenn  wir  sonach  annehmen  müssen,  daß  die 
christliche  Frömmigkeit  nicht  aus  der  jüdischen  weder 
damaliger  noch  früherer  Zeit  zu  begreifen  ist,  so  kann 
man  auch  das  Christentum  auf  keine  Weise  als  eine  Um- 
bildung oder  erneuernde  Fortsetzung  des  Judenttuns  an- 
sehen". Das  viel  gehörte  und  gelesene  sentimentale  Wort, 
daß  das  Judentum  ,,das  Heil  der  Welt"  hervorgebracht, 
sollte  für  immer  dem  geschichtlich  weit  weniger  zweifel- 
haften Worte  weichen,  daß  das  Judentum  das  Heil  der  Welt 
getötet  hat.  Überdies  weiß  jedermann,  daß  der  geschicht- 
liche Wert  der  Genealogie  Jesu  in  Matth  i  ^"^^  gleich  null 
ist  —  Jesu  Eltern  und  Vorfahren  waren  als  Galiläer  nach 
alttestamentlicher  wie  keilschriftlicher  Bezeugung  ganz 
gewiß  nicht  jüdischen  Geblüts  (Anm.  41),  sondern  ge- 
hörten zu  der  großen  Zahl  galiläischer  jüdischer  Prosei yten. 
Daß  Jesus  kein  Prophet  jüdischen  Geblüts  war,  lehrt  sein 
dem  jüdischen  diametral  entgegengesetzter  Gottesbegriff 
und  bekräftigen  alle  seine  Reden  mitsamt  seinem  ganzen 
Leben  und  Sterben.     Näheres  am  Ende  von  Teil  II. 


Aussdieidimg  des  A.  T.  aus  der  cliristlichen  Theologie.  (.7 

Die  Erforschung  des  althebräischen  Schrifttums,  das 
uns  Gottes  Wesen  und  Walten  so  wenig  offenbart  als  es 
vielmehr  von  Anfang  bis  zu  Ende  das  Spiegelbild  eines 
engherzigsten  und  zugleich  unwürdigsten  Gottesbegriffs 
ist,  sollte  deshalb  auch  nicht  länger  einen  Zweig  der 
christlichen  Theologie  bilden,  sondern  besser  der 
orientalischen  Philologie  und  allgemeinen  Religionsge- 
schichte überlassen  werden.  Seine  Behandlung  als  „offen- 
bartes Gotteswort",  als  ,, heilige  Schrift"  sogar  seitens  der 
liberalen  alttestamentlichen  Theologie  ist  nur  zu  sehr 
geeignet,  dem  maßlosen  Dünkel  des  Judentums  von  seiner 
,, weltgeschichtlichen  Mission"  Vorschub  zu  leisten,  und 
droht  schon  jetzt  sich  dadurch  zu  rächen,  daß  denkende 
Laien,  die  mit  Recht  an  den  allzu  vielen  unsittlichen  Er- 
zählungen, Unwahrheiten,  Übertreibungen,  Erdichtungen, 
Widersprüchen  des  Alten  Testaments  als  vermeintlich 
, .heiliger  Schrift"  Anstoß  nehmen,  diese  ihre  Abneigung 
auch  auf  das  neutestamenthche  Schrifttum,  ja  schließlich 
auf  die  Religion  überhaupt  übertragen. 

Das  sog.  ,,Alte  Testament"  ist  für  die  christliche  Kirche 
und  damit  auch  für  die  christhche  Familie  vollkommen 
entbehrlich.  Es  wäre  ungleich  ratsamer,  daß  wir  uns  von 
Zeit  zu  Zeit  in  die  tiefen  Gedanken  versenken  würden,  die 
unsere  deutschen  Geistesheroen  über  Gott  imd  Jenseits  und 
Unsterblichkeit  gedacht  haben  und  wie  sie  in  Wilhelm 
Schwaners  Germanen-Bibel  (4.  Aufl.,  1918)  so  trefflich 
ausgewählt  und  geordnet  zusammengestellt  sind.  Über  all 
das  aber  wird  es  bei  Goethes  Wort  bleiben,  daß  ,,der 
menschliche  Geist  über  die  Hoheit  und  sitthche  Kultur 
des  Christentums,  wie  es  in  den  Evangelien  schimmert 
und  leuchtet,  nicht  hinauskommen  werde". 

Was  aber  den  Gebrauch  des  Alten  Testaments  in  der 
Schule  betrifft,  so  weiß  ich  wohl,  daß  es  noch  immer  nam- 
hafte Pädagogen  und  Philosophen  gibt,  welche  z.  B.  die 
biblische  Schöpfungserzählung  im  Rehgionsunterricht  nicht 
missen  wollen !   Gut !   Aber  dann  sage  man  auch  den  Kin- 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     I  7 


q8  Scblußbetrachtung. 

dern  aufrichtig,  daß  diese  Darstellung  des  Weltschöpfungs- 
hergangs den  Babyloniern  entlehnt  ist,  die  der  Bildung 
des  Kosmos  ebenfalls  ein  finsteres,  wässeriges  Chaos  vor- 
aufgehen lassen,  das  zuerst  vom  Lichte  gespalten  wird, 
worauf  daim  Himmel  und  Erde  hervortreten,  der  Himmel 
mit  Sonne,  Mond  und  Sternen,  die  mit  Pflanzen  bedeckte 
Erde  mit  Tieren  ausgestattet  wird,  und  schließlich  der 
Mensch  aus  der  Hand  Gottes  hervorgeht  (Anm.  42).  Von 
den  altisraelitischen  Sagen  wird  die  Erzählung  von  Joseph 
und  seinen  Brüdern  ihren  Eindruck  auf  jugendliche  Seelen 
niemals  verfehlen,  aber  alle  übrigen  sollten  besser  durch 
unsere  germanischen  Heldensagen  ersetzt  und  dadurch  alle 
echt  deutschen  Tugenden  in  die  Seele  der  deutschen  Jugend 
gepflanzt  werden  (Anm.  43)  .Welch  schwerwiegendeBedenken 
sogar  den  zehn  Geboten  als  Gegenstand  des  religiösen 
Schulunterrichts  entgegenstehen,  hierfür  möge  das  folgende 
Wort  Goethes  in  Erinnerung  gebracht  werden.  ,,Wie  ver- 
drießlich ist  mir's  oft  mit  anzuhören,  wie  man  die  zehn 
Gebote  in  der  Kinderlehre  wiederholen  läßt!  Das  vierte 
ist  noch  ein  ganz  hübsches,  vernünftiges  gebietendes  Gebot : 
,Du  sollst  Vater  und  Mutter  ehren !'  Wenn  sich  das  die 
Kinder  recht  in  den  Sinn  schreiben,  so  haben  sie  den  ganzen 
Tag  daran  auszuüben.  Nun  aber  das  fünfte  —  was  soll 
man  dazu  sagen !  ,Du  sollst  nicht  töten !'  Als  wenn  irgend- 
ein Mensch  im  mindesten  Lust  hätte,  den  andern  totzu- 
schlagen! Man  haßt  einen,  man  erzürnt  sich,  man  über- 
eilt sich,  und  in  Gefolg  von  dem  und  manchem  andern 
kann  es  wohl  vorkommen,  daß  man  gelegentlich  einen  tot- 
schlägt. Aber  ist  es  nicht  eine  barbarische  Art,  den 
Kindern  Mord  und  Totschlag  zu  verbieten?  Wenn  es 
hieße:  .Sorge  für  des  anderen  Leben;  entferne,  was  ihm 
schädlich  sein  kann ;  rette  ihn  mit  deiner  eigenen  Gefahr ! 
Wetm  du  ihn  beschädigst,  denke,  daß  du  dich  selbst  be- 
schädigst!' Das  sind  Gebote,  wie  sie  unter  gebildeten, 
vernünftigen  Völkern  statthaben,  und  die  man  bei  der 
Katechismuslehre  nur  kümmerlich  in  dem  ,Was  ist  das?' 


Israels  vorgebliche  Weltmission.  qq 

nachschleppt.  Und  nun  gar  das  sechste!  Das  finde  ich 
ganz  abscheuHch!  Was?  Die  Neugierde  vorahnender 
Kinder  auf  gefährhche  Mysterien  reizen,  ihre  Einbildungs- 
kraft zu  wunderlichen  Bildern  und  Vorstellungen  aufregen, 
die  gerade  das,  was  man  entfernen  will,  mit  Gewalt  heran- 
bringen !  Weit  besser  wäre  es,  daß  dergleichen  von  einem 
heimlichen  Gericht  willkürlich  bestraft  würde,  als  daß 
man  vor  Kirche  und  Gemeinde  davon  plappern  läßt." 
(Aus  Germanen-Bibel,  4.  Aufl.,  S.  144.) 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  Israels  Wahnidee  einer 
ihm  von  ,,Gott"  gewordenen  weltgeschichtlichen  Mis- 
sion! Wenn  ich  recht  sehe,  ist  es  ein  Dreifaches,  das  der 
Menschheit  gebracht  zu  haben  das  Judentum  sich  rühmt. 
Das  erste  ist  der  vermeintHche  ,, Monotheismus",  der 
durch  unsere  Ausführungen  genugsam  beleuchtet  sein 
dürfte.  Die  ReHgion  Israels  war  nicht  Monotheismus, 
sondern,  wie  einer  der  größten  Kenner  der  semitischen 
ReUgionen,  Brnest  Renan,  schon  längst  erkannte, 
Monolatrie:  Israel  diente  Einem  Gotte,  nämlich  seinem 
Spezialgotte  Jaho;  ob  es  andere  Götter  außer  Jaho  gibt, 
war  ihm  ganz  gleichgültig,  für  Israel  war  es  die  Haupt- 
sache, daß  Jaho  der  höchste  aller  Götter  war  und  daß  er 
seine  Verehrung  nicht  mit  anderen  Göttern  zu  teilen 
brauchte.  —  Und  wenn  Jules  Oppert  „Wert  darauf 
legte  zu  konstatieren",  daß  in  Israel  der  Glaube  an  eine 
Göttin  neben  Gott  niemals  Platz  gegriffen,  so  legen 
wir  vmsererseits  Wert  darauf  zu  konstatieren,  daß  der 
Gedanke  an  eine  weibliche  Gottheit  den  Hebräern  über- 
haupt nie  kommen  konnte,  weil  bei  den  hebräischen  wie 
arabischen  Wüstensöhnen  das  Weib  eine  viel  zu  niedrige, 
ja  verachtete  Stellung  einnahm  (Anm.  44).  Diese  nomadi- 
sierenden Hirtenstämme,  die  in  ihren  männlichen  Be- 
standteilen bis  heute  nicht  wissen,  was  Arbeit  ist,  ließen 
und  lassen  jegUche  Arbeit  von  ihren  Frauen,  ihrem  „Prole- 
tariat", verrichten.  Und  wenn  deshalb  Muhammed  es 
für  eine  ganz  besondere  Herabwürdigung  Gottes  hielt,  daß 


100  Schlußbetrachtung. 

seine  Landsleute  in  den  Engeln  Töchter  Gottes  erblickten — 
wie  hätte  bei  den  Hebräern  eine  weibliche  Gottheit 
gleicher  Verehrung  mit  Jaho  teilhaft  werden  können !  Die 
Idee  männlicher  und  weibhcher  Gottheiten  konnte  nur  bei 
einem  Volke  aufkommen,  welches  dem  Weibe  eine  mit  dem 
Manne  völlig  gleichberechtigte  Stellung,  ja  sogar  eine 
Ehrenstellung  neben  dem  Marme  zuwies,  dieses  Volk  aber 
war  das  sumerische  Volk,  das  in  Babylonien,  vornehmhch 
Südbabylonien,  im  3.,  4.,  5.  vorchristlichen  Jahrtausend 
zu  hoher  menschhcher  Kultur  erblüht  war.  Das  Land 
Sumer  war  die  Heimat  des  Glaubens  an  Gott  und  Ischtar, 
d.  h.  an  eine  weibliche,  „segenspendende"  Gottheit,  deren 
Kultus  unter  dem  Namen  Astarte  sich  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte über  ganz  Vorderasien  verbreitete,  auch  bei  den 
Kanaanäern  neben  Baal  Eingang  fand  —  ein  weiterer 
Grund,  weshalb  er  von  den  Propheten  Israels  bis  aufs 
Blut  bekämpft  wurde.  Wer  aber  den  poetischen  Zauber 
zu  würdigen  versteht,  den  im  katholischen  Glauben  die 
Madonnenverehrung  auf  das  menschliche  Gemüt  ausübt, 
oder  sich  an  den  Idealgestalten  der  auch  im  Christentum 
weibUch  vor-  und  dargestellten  Engelwesen  ergötzt,  der 
vergesse  niemals,  daß  das  erste  Volk,  das  die  „Himmels- 
königin", ,, unsere  liebe  Frau",  „meine  Herrin"  (das  ist 
Madonna)  anbetete  (den  mild  blinkenden  Morgen-  und 
Abendstern  für  ihre  Offenbarung  haltend),  und  das  auch 
die  Schutzengel  sich  weiblich  vorstellte,  das  sumerische 
Volk  gewesen.  Und  wenn  endlich  das  Judentum  sich 
darauf  etwas  zugute  hält,  daß  die  Thora  die  bildliche 
Darstellung  Jahos  streng  verpöne,  so  ist  darauf  hin- 
zuweisen :  erstens,  daß  Israel  bis  in  die  Richterzeit  hinein 
Gußbilder  zu  Ehren  Jahos  fertigte  (s.  S.  51) ;  zweitens, 
daß  die  Begründung  jenes  Verbots:  weil  das  Volk  keine 
,, Gestalt"  Jahos  auf  dem  Berge  Sinai  gesehen  (Dt  4"), 
insofern  schief  und  unbefriedigend  ist,  als  Moses  fortwäh- 
rend Jahos  ,, Gestalt"  wahrnahm,  wenn  Jaho  Mund  zu 
Mund  mit  ihm  redete  (Nu  12®);  drittens,  daß  die  vielen 


Das  Gebot  der  Nächstenliebe.     Der  Sabbath.  lOI 

Erscheinungen  Jahos  unter  der  Gestalt  von  Märmern,  die 
zahllosen  anthropomorphischen  und  anthropopathischen 
Aussagen  über  Jaho  sowie  die  Stelle  Dan  7"  wesentüch 
dazu  beigetragen  haben,  uns  vergessen  zu  machen,  daß 
Gott  ein  Geist  ist;  und  viertens,  daß  mehr  als  alle  baby- 
lonischen, assyrischen,  griechischen,  römischen  Götter- 
statuen zusammen  die  Lehre  der  Genesis  (i'^') :  ,,Gott  schuf 
den  Menschen  in  seinem  Bilde,  im  Bilde  Gottes  schuf  er 
ihn",  unsere  Gottesvorstellung  irregeleitet  hat  (Anm.  45). 
Das  Gesetz,  den  Nächsten,  das  ist  den  Volksgenossen, 
wie  sich  (selbst)  zu  lieben  (s.  Anhang  Gesetz  132  vgl.  133), 
ist  gewiß  ein  sehr  schönes  Gesetz.  Nur  bleibt  zu  beachten, 
daß  andere  Völker,  obenan  die  Babylonier,  ganz  das 
nämliche  Sittengesetz  hatten  (Anm.  46),  ja  diesen  Begriff 
der  lyiebe  vielleicht  noch  höher  faßten  als  die  Thora,  die 
diesen  Begriff  des  Liebens  negativ  erklärt:  du  sollst  an 
deinem  Nächsten  nicht  Rache  nehmen,  ihm  nicht  grollen, 
ihn  nicht  bedrücken  (s.  Gesetze  131  ff.).  Gleichzeitig  sei 
bemerkt,  daß,  wenn  ebendieses  Gesetz  vermeintlich  auch 
den  „Fremdling"  zu  lieben  befiehlt,  diese  Übersetzimg  des 
hebräischen  ger  eine  Täuschung  ist  (Anm.  47) .  Gemeint 
sind  Israels  Schützlinge,  d.h.  die  innerhalb  Israels  leben- 
den und  gleich  den  Israeliten  beschnittenen  Abkömmlinge 
jener  Wüstenstämme,  die  sich  schon  bei  Israels  Auszug 
aus  Ägypten  diesem  angeschlossen  und  bei  der  Eroberung 
Kanaans  wie  auch  noch  später  gewiß  große  Dienste  ge- 
leistet hatten  ^    Schützling  und  Volksgenosse  stehen  also 

1)  Vgl.  Benzinger,  Hebräische  Archäologie,  S.  339  f. :  „Nur  auf  den 
Schutzbefohlenen  beziehen  sich  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
über  den  Verkehr  mit  dem  g&r,  nicht  aber  auf  jeden  Heiden  ohne 
weiteres,  wie  das  moderne  Judentum  gern  glauben  machen  möchte." 
Auch  Wolf  W.  Graf  Baudissin  sagt  in  seiner  Rektoratsrede  vom 
15.  Okt.  1912  ,,Die  alttestamentliche  Wissenschaft  und  die  Religions- 
geschichte" S.  18:  „Aber  freilich  dieser  Grundsatz  der  Ethik  («c.  die 
Nächstenliebe)  hat  bis  zum  Ende  der  alttestamentlichen 
Entwicklung  vielfache  UnvoUkommenheiten  beibehalten,  so  in 
Einschränkungen  seiner  Geltung  auf  das  Verhalten  dem  Volks- 
genossen gegenüber."     S.  weiter  die  oben  zitierte  Anm.  47. 


102  Schlußbetrachtung. 

nahezu  auf  gleicher  Linie.  In  stärkstem  Gegensatze  zu 
den  Schützlingen  stehen  die  Fremden  oder  Ausländer, 
die  seitens  Israels  je  und  je  gerade  das  Gegenteil 
von  Liebe  erfahren  haben.  Und  daß  selbst  dem  Volks- 
genossen gegenüber  sogar  die  Psalmen  Nächstenliebe 
vollkommen  vermissen  lassen,  sobald  sich  der  Dichter  von 
seinem  Nächsten  irgendwie  angefeindet  glaubt,  muß  jeder 
wahrheitsliebende  Leser  zugeben  (Näheres  s.  inTeilIIS.41  f.). 
Was  aber  endHch  den  wöchentüchen  Ruhetag  oder 
Sabbath  betrifft,  den  das  Judentum  so  stolz  ist,  der 
Menschheit  geschenkt  zu  haben,  so  bleibt  es  dabei,  daß  den 
Babyloniern  schon  lange  zuvor  der  siebente  Tag  als 
ein  Unglückstag  galt,  an  dem  ebendeshalb  keinerlei  Arbeit 
getan  werden  sollte,  daß  somit  die  Institution  des  Sabbath- 
tages  in  einem  babylonischen  Aberglauben  wurzelt, 
der  sich  auch  den  Hebräern  mitteilte.  Der  Gott  ,, Sieben", 
Schibü,  Sibü,  galt  den  Babyloniern  und  Assyrern  als  der 
Hauptunglücksgott  und  war  als  solcher  auch  den  Hebräern 
dermaßen  geläufig  geworden,  daß  das  Hauptverbum  für 
„schwören"  bei  den  Hebräern  nischba  wurde,  d.  h.  „sich 
verwünschen",  wenn  man  das  oder  jenes  tue  oder  aus- 
sage, ursprünglich  „sich  dem  Gotte  Scheba  (sozusagen  dem 
Teufel)  verschreiben".  Auch  Eigennamen  lehren,  daß  den 
Kanaanitern- Hebräern  der  Unglücksgott  Scheba  wohl- 
bekannt war,  und  es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß  es  gerade 
drei  Mädchennamen  sind,  die  mit  Scheba  zusammen- 
gesetzt sind:  EHschebd  (woraus  unser  EHsabeth),  Jehb- 
schebd  und  Bath-schebd  —  sie  bestätigen,  daß  wie  allen 
Semiten,  so  auch  den  Hebräern  die  Geburt  eines  Mädchens 
als  kein  reines  Glück,  viel  eher  als  ein  Unglück  galt : 
„mein  Gott"  bzw.  „Jaho  war  (diesmal,  bei  der  Geburt 
dieses  Kindes)  der  Unglücksgott",  „Tochter  des  Unglücks- 
gottes". Der  Gott  Scheba  mitsamt  der  Sabbathinstitution 
lehrt  von  neuem,  in  welchem  Grade  und  Umfang  die 
amoritische  oder  kanaanitische  Kultur  von  der  über- 
ragenden Kultur  Babyloniens  beeinflußt  war. 


Das  jüdische  Volk  freiwillig  vitcrlandslos.  103 

Übrigens  dient  diese  ganze  so  oft  gehörte  und  gelesene 
fixe  Idee  von  einer  vermeintlichen  Weltmission  Israels  nur 
zur  Verschleierung  einer  dem  Judentum  zu  größter  Un- 
ehre gereichenden  geschichtlichen  Tatsache.  Nach  einer 
höchst  unrühmlichen  Geschichte  von  nicht  ganz  sechs 
Jahrhunderten  waren  von  dem  Volke,  das  allein  unter 
allen  Völkern  der  Erde  von  ,,Gott"  geUebt  und  zu  ,, Gottes" 
Spezialvolk  erkoren  worden  war,  fünf  Sechstel  in  die 
assyrische  Verbannung  geführt  worden.  Ihnen  folgten 
mehr  als  zweihunderttausend  Judäer,  die  Sanherib  im 
Jahre  701  nach  Assyrien  wegschleppte,  bis  schheßlich  im 
Jahre  586  Nebukadnezar  den  Tempel  auf  Zion  zerstörte 
und  den  Rest  Gesamtjudäas  nach  Babylonien  in  die  Ge- 
fangenschaft abführte.  Und  als  dann  Jaho  sich  seines 
Volkes  erbarmen  wollte,  als  er  unter  allen  Königen  der 
Erde  nach  einem  gerechten  König  Umschau  hielt  und  den 
Perserkönig  Cyrus  zu  seinem,  Jahos,  Messias  oder  Ge- 
salbten erkor,  damit  dieser  Jahos  Verheißungen  zur  Wirk- 
lichkeit mache  und  Jahos  auserwähltes  Volk  in  das  ,, ge- 
lobte" Land  zurückbringe,  und  Cyrus  in  der  Tat  im 
Jahre  538  den  Juden  die  Rückkehr  nach  Palästina  und 
den  Wiederaufbau  des  jerusalemischen  Tempels  gestattete 
—  da  geschah  das  von  keinem  Propheten  Vorausgesehene, 
von  keinem  für  möglich  Gehaltene,  daß  die  überwältigende 
Mehrzahl  des  jüdischen  Volkes  auf  Zion  und  Jerusalem, 
auf  Vaterland  und  Verehrung  Jahos  freiwillig  verzichtete 
und  es  vorzog,  in  dem  von  seinen  Propheten  systematisch 
vor  aller  Welt  bis  auf  den  heutigen  Tag  ,, stinkend  ge- 
machten" Babylon  zu  verbleiben,  einzig  und  allein  an- 
gelockt durch  die  in  dem  unermeßlich  reichen  babyloni- 
schen Lande  sich  darbietenden  unbegrenzten  Möglichkeiten 
raschen  und  leichten  Gelderwerbs  (üblicher  Zinsfuß 
20  Prozent).  Diese  freiwillige  Nichtheimkehr  des  weit- 
aus größten  Teils  des  jüdischen  Volkes,  diese  freiwillige 
Aufgabe  des  Landes  seiner  Väter,  diese  vor  den  Augen 
der  ganzen  Welt  vollzogene  Verleugnung  Jahos  und  seiner 


104  Schlußbetrachtung. 

Propheten  bildet  einen  niclit  abzuwaschenden  Schandfleck 
auf  der  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  und  enthüllt 
gleichzeitig  in  nacktester  Weise  dessen  ureigentlichen 
Charakter.  Denn  so  unumstößlich  es  ist,  daß  Jaho  und 
Jahos  Kultus  an  das  gelobte  I^and  und  an  Jerusalem,  ,,auf 
das  allein  Jaho  seinen  Namen  gesetzt",  unauflöslich  ge- 
bunden war,  so  unumstößlich  dokumentierte  das  jüdische 
Volk  durch  seine  Nichtheimkehr,  daß  ihm  gleich  seinen 
Vorfahren  der  Dienst  des  goldenen  Kalbes  vor  dem  Kultus 
Jahos  weit  vorging,  und  daß  ihm  schon  damals  sein 
Nationalgott  Jaho  nur  als  Mittel  und  Werkzeug  zu  rein 
irdischen  Zwecken  diente,  nämlich  zur  Erhaltung  der 
jüdischen  Rasse,  zur  Festigung  des  jüdischen  NationaUs- 
mus  und  zur  Erreichung  der  ihm  von  seinen  Propheten 
gewordenen,  sehr  weltlichen  Verheißungen  des  größten 
und  mächtigsten,  alle  Reichtümer  der  Völker  in  sich  auf- 
nehmenden Volkes.  Das  jüdische  Volk  drückte  sich  damit 
mit  vollkommen  klarem  und  bewußtem  Willen  das  Kains- 
zeichen eines  ,, unsteten  und  flüchtigen",  eines  vaterlands- 
losen oder  internationalen  Volkes  auf,  das  zwar  den  Ge- 
boten seines  Gottes  Jaho  schnurstracks  zuwiderhandelte, 
seinen  Namen  aber  dazu  gebrauchte  bzw.  mißbrauchte, 
seine  ihm  zweckdienlich  scheinende  Absonderung  von  allen 
übrigen  Völkern  der  Erde  aufrecht  zu  erhalten.  Und  so  ist 
es  geblieben  bis  auf  diesen  Tag.  Wie  viele  Briefe  habe  ich 
zur  Babel-Bibel-Zeit  von  Intellektuellen  des  jüdischen 
Volkes  aller  Länder  erhalten,  in  welchen  sie  einerseits  zu- 
geben, daß  „die  partikularistische  Gottesverehrung  des 
Judentums  eigentlich  aufgegeben  werden  müsse,  wie  ja 
auch  der  Kultus  blutiger  Opfer,  die  mosaischen  Priester- 
vorschriften und  hunderterlei  anderes  veraltet  und  ab- 
getan" sei,  aber  andererseits  die  Überzeugung  aussprechen, 
,,daß  nur  dieser  partikularistisch-egoistische  Gottesglaube 
das  Judentum  als  Nation  erhalten  habe  und  weiterhin  zu 
erhalten  imstande  sei".  Also  ganz  so,  wie  bereits  Goethe 
urteilte,  wenn  er  sagt:  „Das  israelitische  Volk  hat  niemals 


Die  jüdische  Grfalir.  I0< 

viel  getaugt,  wie  es  ihm  seine  Anführer,  Richter,  Vor- 
steher, Propheten  tausendmal  vorgeworfen  haben;  es 
besitzt  wenig  Tugenden  und  die  meisten  Fehler  anderer 
Völker;  aber  an  Selbständigkeit,  Festigkeit,  Tapferkeit 
und,  wenn  alles  das  nicht  mehr  gilt,  an  Zäheit,  sucht 
es  seinesgleichen.  Es  ist  das  beharrlichste  Volk  der  Erde; 
es  ist,  es  war,  es  wird  sein,  um  den  Namen  Jehova  durch 
alle  Zeiten  zu  verherrlichen." 

Wir  haben  wiederholt  (S.  28  und  52  f.)  auf  schreiende 
Widersprüche  zwischen  Wahrheit  und  Dichtung  hinge- 
wiesen. Auch  bei  dieser  Betrachtung  drängt  sich  ein 
solcher  Widerspruch  auf.  Wie  schön  heißt  es  doch  in  der 
Dichtung  eines  nach  Palästina  heimgekehrten  jüdischen 
Sängers  (Ps.  137) :  ,,An  den  Bächen  Babels  saßen  wir  und 
weinten,  wenn  wir  an  Zion  gedachten",  während  die 
prosaische  Wirklichkeit  lautet,  daß  die  meisten  exilierten 
Juden,  in  Kürze  nach  Millionen  zählend,  in  Babylonien  und 
im  Perser  reiche  blieben,  und  infolgedessen  die  verhältnis- 
mäßig wenigen,  zumeist  dem  Priester-  und  I^vitenstande 
angehörenden  heimgekehrten  Exulanten  trotz  der  Wieder- 
herstellung des  Tempels  nur  ein  kümmerliches  staatliches 
Gemeinwesen  begründen  konnten,  sodaß  schheßlich  nach 
dem  unglücklichen  Ausgang  der  jüdischen  Verzweiflungs- 
kämpfe gegen  die  römischen  Cäsaren  auch  noch  der  letzte 
Rest  des  jüdischen  Volkes  über  den  Erdkreis  zerstreut 
wurde. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  ein  solches  absichtlich  vater- 
landsloses oder  internationales  Volk  für  alle  übrigen 
Völker  der  Erde  eine  große,  eine  furchtbare  Gefahr  dar- 
stellt. Schon  die  um  zwei  Jahrtausende  vor  538  zurück- 
liegende Zeit  bietet  ein  überaus  lehrreiches,  obschon  tief- 
trauriges  Beispiel,  welche  Gefahr  die  semitische  Rasse 
schon  im  allgemeinen  für  die  übrigen  Völker  der  Mensch- 
heit darstellt.  Im  5.,  4.  Jahrtausend  v.  Chr.  lebte  in 
Babylonien,  insbesondere  im  Süden  des  Landes,  das  hoch- 
begabte, an  Siimesart  dem  deutschen  Volke  vergleichbare 


10  6  Schlußbetrachtung. 

sumerische  Volk,  das  in  Kultur,  Wertschätzung  der  Arbeit, 
gesetzlichem  Schutze  des  Eigentums,  Pflichtgefühl,  Gleich- 
stellung von  Mann  und  Frau,  Heilighaltung  der  Familie, 
Innigkeit  des  religiösen  Gefühls,  Pflege  von  Kunst  und 
Wissenschaft  auf  einer  zum  Teil  noch  heute  nicht  wieder 
erreichten  Höhe  stand,  das  aber  von  den  eingewanderten 
Semiten  (oder  „Akkadern")  im  I^aufe  der  Jahrhunderte 
so  gründlich  aus-  und  aufgesogen  wurde,  daß  ohne  die 
Ausgrabungen  unserer  Tage  selbst  sein  Name  vergessen 
geblieben  wäre  auf  ewig.  Die  mindestens  gleiche  Gefahr 
stellt  das  jüdische  Volk  dar,  seitdem  es  freiwillig  vater- 
landslos geworden.  Gleich  das  Perserreich  mußte  dies  er- 
fahren. Xerxes'  Großwesir  Haman  glaubte  seinen  König 
davor  warnen  zu  sollen,  daß  auf  persischem  Boden  ein 
Volk  wohne,  „umhergestreut  und  doch  zugleich  abge- 
sondert unter  den  Völkern  durch  alle  Provinzen  des 
Perserreiches,  mit  grundverschiedenen  Gesetzen  und  die 
Landesgesetze  nicht  befolgend"  (Esther  3*),  und  er  glaubte, 
dieser  Gefährdung  des  Reiches  nicht  wehren  zu  können, 
ohne  dem  König  den  Rat  zur  Ausrottung  des  jüdischen 
Volkes  zu  erteilen.  Aber  der  vom  Perserkönig  gebilligte 
Plan  wurde  ruchbar,  Esther,  des  Juden  Mordochai  Pflege- 
tochter und  Xerxes'  Gemahlin,  vereitelte  ihn,  worauf 
Mordochai  Rache  nahm  (wenige  Jahrzehnte  nachdem  das 
Perserreich  das  jüdische  Volk  als  Gast  in  seinen  Grenzen 
belassen!),  indem  er  an  einem  13.  und  14.  Adar  die  Er- 
mordung von  75  800  judenfeindlichen  Bewohnern  Susas 
und  der  übrigen  persischen  Provinzen  veranlaßte.  Zur 
Erinnerung  an  dieses  große  Morden  feiert  das  jüdische 
Volk  noch  heutzutage  alljährlich  das  Purimfest  (Anm.  48). 
Und  als  weiterhin  die  Scharen  des  jüdischen  Volkes 
wie  im  Perserreich,  so  in  allen  großen  Handelsplätzen 
des  Reiches  Alexanders  des  Großen  und  später  des  rö- 
mischen Reiches  Niederlassungen  gründeten,  muß  die  für 
die  betreffenden  Völker  erstandene  Sorge  um  die  eigene 
Wohlfahrt    keine   geringe   gewesen    sein,    wenn    Tacitus 


Nachwort. 


107 


glaubte,  das  jüdische  Volk  als  odium  generis  ßtumani  be- 
zeichnen zu  sollen. 

Auch  das  deutsche  Volk  wird  beizeiten  sich  den  vSchlaf 
aus  den  Augen  reiben  müssen,  um  zu  erkennen,  daß  die 
jüdische  Frage  vielleicht  diejenige  von  allen  Fragen  ist, 
welche  die  ernsteste  Behandlung  erheischt.  Zu  ihrer 
richtigen  Würdigung  auf  Grund  der  Geschichte  Israels  bei- 
zutragen, ist  der  Zweck  dieses  Büchleins. 

Nachwort^ 

Seit  Ostern  1914  (siehe  das  Vorwort)  war  die  vorstehende 
Schrift  in  ihren  drei  Hauptteilen  nebst  Anhang  druckfertig 
abgeschlossen.  Ich  veröffentlichte  sie  damals  nicht,  weil 
ich  ihren  Inhalt  immer  von  neuem  zu  überdenken  be- 
strebt war  und  bald  danach  der  Krieg  ausbrach.  Nach 
Beendigung  des  Krieges  aber  zögerte  ich  abermals,  weil 
mir  unser  armes  Vaterland  genugsam  durch  ,, Fragen" 
aller  Art  durchwühlt  schien,  um  auch  noch  die  jüdische 
Frage  von  neuem  anzuregen.  Nachdem  diese  aber  während 
der  letztvergangenen  Monate  durch  zwei  Aufrufe  in  brei- 
tester Öffentlichkeit  aufgeworfen  worden  ist,  glaubte  ich 
nicht  länger  warten  zu  sollen.  Gleich  der  erste  Aufruf 
schien  mir  zu  zeigen,  daß  die  Veröffentlichung  meiner 
kleinen  Schrift  nach  verschiedenen  Seiten  hin  aufklärend 
wirken  könne.  Der  ,,Pro  Palaestina"  überschriebene  und 
von  Ballod,  Cohen  (Reuß),  Hans  Delbrück,  Erz- 
berger,  Gothein,  Fehrenbach,  Noske,  Sombart 
u.  a.  m,  unterzeichnete  Aufruf  will  dafür  werben,  daß 
„das  jüdische  Volk,  das  von  den  herrschenden  Nationen 
in  der  Entwicklung  seiner  nationalen  Eigenart  gehemmt 
wird,  auf  dem  alten  historischen  Boden  Palästinas  eine 
nationale  Heimstätte  jüdischer  Kultur  und  Wirtschaft 
errichte,  die  in  allmählicher  Entwicklung  einen  Teil  des 
jüdischen  Volkes  in  sich  aufnehmen  soll",  und  daß  eben- 

')  Ursprünglich  datiert  vom  März  1920. 


Io8  Nachwort. 

damit  ,,in  der  jüdischen  Frage  gründlich  Wandel  geschaffen 
werde".  Der  zweite,  vom  „Arbeitsausschuß  für  Volks- 
aufklärung des  Volkskraft-Bundes"  unterzeichnete  Auf- 
ruf will  dem  „gegenwärtig  im  ganzen  Vaterland  eifrig 
geschürten,  dem  Ansehen  deutscher  Kultur  völlige  Ver- 
nichtung drohenden  Judenhaß  entgegenwirken"  und  wurde 
auch  mir  zugesandt  mit  der  wiederholten  Bitte,  ,,als  nicht- 
jüdischer Volksgenosse  über  die  Judenfrage  zu  urteilen". 
Auch  dieser  Bitte  glaube  ich  mit  der  Veröffentlichung 
des  vorstehenden  Büchleins  entsprochen  zu  haben.* 

^)  Siehe  jetzt  Anm.  49. 


Anmerkungen 


1 .  Im  Alten  Testament  zitierte,  aber  nicht  erhalten  gebliebene  Schriften 
sind:  das  „Buch  der  Kriege  Jahos"  (Nuai^*);  das  „Buch  des  Recht- 
schaffenen" (Jos  lo^'  2  Sa  i");  ein  „Tagebuch  des  Königs  David" 
(iChr27");  eine  „Geschichte  {sefer  dibri)  Salomos"  (i  Kö  ii");  das 
17-  bzw.  i5mal  zitierte  „Tagebuch  der  Könige  Israels"  bzw.  „Tage- 
buch der  Könige  Judas",  woneben  die  Chronik  ein  ,,Buch  der  Könige 
Israels"  (i  Chr  9^  2  Chr  20^*),  ein  „Buch  der  Könige  Israels  und  Judsis" 
{2Chr27'  35^7  36^)  imd  ein  ,,Buch  der  Könige  Judas  und  Israels" 
(16"  25"  28^'  32'^)  zitiert  (die  beiden  letzteren  gemäß  2  Chr  32'* 
eins  mit  dem  erhalten  gebUebenen  ,,Königsbuch"?);  d2is  , .Tagebuch 
der  Könige  Mediens  und  Persiens"  (Esth  10');  ein  ,,midrä8  des  Buches 
der  Könige"  (2  Chr  24^7);  ,,KlageUeder"  (2  Chr  3526).  Andere  verloren 
gegangene,  nach  dem  Namen  ihres  prophetischen  Verfassers  betitelte 
Schriften  siehe  in  Aimi.  39. 

2.  Siehe  jetzt  Friedr.  Delitzsch,  Die  Lege-  und  Schreibfehler  im 
Alten  Testament,  Berlin,  Georg  Reimer,  1920,  sowie  Teil  II  S.  5  ff. 

3.  Zur  Vermehrung  von  67  männlichen  Mitgliedern  des  Hauses  Jakobs 
auf  600  000  Männer  im  I<aufe  von  430  Jahren  schreibt  mir  Herr  Geheim- 
rat Prof.  Dr.  v.  Luschan  (auszugsweise)  folgendes:  ,,Die  rein  mathe- 
matische Möglichkeit  kann  selbstverständlich  mit  vollster  Sicherheit 
bejaht  werden,  auch  wenn  nur  die  Söhne  der  Söhne,  nicht  auch  die 
Söhne  der  Töchter  gezählt  werden,  wie  ich  denn  persönlich  überzeugt 
bin,  daß  die  alttestamentliche  Angabe  nur  auf  eine  rein  rechnerische 
Kombination  zurückgeht.  Anthropologisch  wird  die  Sache  aber 
anders  aussehen.  Da  wird  man  fragen  müssen,  ob  die  Leute  nicht 
doch  bald  anfingen,  in  der  näheren  Verwandtschaft  zu  heiraten  oder 
irgendwie  minderwertige  Gatten  zu  wählen.  Beides  verdirbt  die  Rasse, 
und  es  kommen  dann  nicht  mehr  regelmäßig  drei  einwandfreie  Nach- 
kommen auf  jede  Ehe;  immer  noch  können  einzelne  Ehen  mit  12  imd 
mehr  am  Leben  bleibenden  Kindern  vorkommen,  aber  das  ändert 
nichts  am  Gesamtergebnis.  Das  Problem  kann  ebenso  von  der  physio- 
logischen, von  der  pathologischen,  von  der  rein  geographischen,  von  der 
rein  sozialen  Seite  betrachtet  werden  —  immer  kommt  man  gleich- 
mäßig zu  dem  Endergebnis,  daß  600  000  Nachkommen  eines  einzigen 
Stammvaters  nach  13 — 16  Generationen  theoretisch  möglich,  aber 


IIQ  AumerkuDgen. 

praktisch  so  ganz  überaus  unwahrscheinlich  sind,  daß  man  von  einer 
praktischen  Unmöglichkeit  reden  muß.  Die  praktische  Er- 
fahrung lehrt,  daß  im  großen  imd  ganzen  die  Bevölkerungsziffern 
sich  mehr  oder  weniger  gleich  bleiben  imd  sich  auch  in  Jahrtausenden 
nur  unwesentlich  ändern.  Ein  Gebirgsdorf  hat  durch  Jahrhunderte 
gleichmäßig  immer  seine  500  bis  600  Einwohner.  Usw.  usw.  Und 
kurz  gesagt:  Mathematisch  selbstverständlich,  biologisch 
unmöglich." 

4.  Nu  12.  Die  Erzählung  von  der  Inschutznahme  Mosis  durch  Jaho 
selbst  erinnert  an  eine  ähnhche  Inschutznahme  Muhammeds  durch 
Allah  in  der  66.  Sure  des  Koran. 

5.  Etgebnis  der  Mustenmg  der  israelitischen  Stämme  im  zweiten  Jahre 
nach  dem  Auszug  aus  Ägypten  (Nu  i  und  2) :  Rüben  46  500,  Simeon 
59300,  Gad  45650  (..Lager  Rubens  nach  Süden":  151450);  Juda 
74600,  Issachar  54400,  Sebulon  57400  (..Lager  Judas  nach  Osten": 
186400);  Ephraim  40500.  Manasse  32200,  Benjamin  35400  (,, Lager 
Ephraims  nach  Westen":  108  100);  Dan  62  700,  Ascher  41  500,  Naftali 
53  400  („Lager  Dans  nach  Norden":  157  600).   Summa:  603  550. 

6.  Solange  über  die  Lesung  des  hebräischen  Tetragramms  noch 
keine  Einigung  besteht  (Jahwe?  früher  falsch  Jehova),  schien  es  ge- 
raten, für  den  israehtischen  Nationalgott  die  imbestreitbar  und  im- 
bestritten  richtige  Namensform  Jahö  (Jehö)  zu  wählen,  welche  durch 
eine  Fülle  von  Personennamen  beglaubigt  ist.  Vgl.  z.  B.  El-Jeh6-'Snäi 
„zu  Jehö  stehen  meine  Augen",  Jehö-näthän  „Jehö  hat  gegeben",  und 
hundert  andere  mehr.  Am  Ende  von  Personennamen  Jähü:  Adönt- 
jahü  „mein  Herr  ist  J.",  'Azar-jähü  „geholfen  hat  J.",  und  viele  andere. 
S.  weiter  Anm.  22,  sowie  Teil  II  S.  10  ff. 

7.  Ergebnis  der  zweiten  Musterung  (Nu  26''^):  Rüben  43  730,  Simeon 
22  200,  Gad  40  500,  Juda  76  500,  Issachar  64  300,  Sebulon  60  500, 
Ephraim  32  500,  Manasse  52  700,  Benjamin  45  600,  Dan  64  400,  Ascher 
53  400,  Naftali  45  400.    Summa:  601  730. 

8.  Der  Amtsname  hassöterim  (z.  B.  Jos  i^"  3^)  ist  sehr  allgemeiner 
Bedeutung  wie  Aufseher,  Amtmann  u.  dgl.  Ob  die  Gnmdbedeutimg 
,, Schreiber"  oder  „Ordner"  ist,  bleibt  noch  zu  xmtersuchen. 

9.  Die  Gegend  an  der  Mauer  oder  am  Walle  einer  Stadt  scheint  auch 
bei  den  Babyloniem  eine  ziemlich  verrufene  gewesen  zu  sein.  An  der 
Mauer  der  Unterwelt  den  Wohnort  angewiesen  zu  erhalten,  gilt  nach 
der  Legende  von  Istars  Höllenfahrt  als  eine  besondere  Verdammnis, 
ja  das  sumerische  Wort  (gime)  kar-gi  scheint  die  harimäte,  die  Ver- 
führerinnen des  Mannes,  ebenfalls  nach  ihrem  Wohnort  am  käru  oder 
Wall  zu  benennen.    Vgl.  auch   iKö2  238. 

10.  Wie  alle  übrigen  kanaanitischen  befestigten  Ortschaften  hatte 
auch  Jericho  nur  Ein  Haupttor.  Aus  dem  Alten  Testament  vgl.  Ri  1 6*  ♦•, 


Anmerkungen.  III 

wonach  Simson  „das  Stadttor  von  Gaza"  auf  den  ücrg  trug.  Ein  gleiches 
bezeugen  die  El-Amama- Briefe:  Turbazu,  Zimrida  von  Lakiscb,  Japti- 
hadda  wurden  ermordet  im  „Stadttor  von  Zilü" ,  das  ist  hebräisch 
Sela'  (Kn  164*'-").  Je  lün  Tor  hatten  Gaza  und  Joppe  (Kn  2963*'). 
desgleichen  Megiddo  (244**).  Die  off ensichtlich  verderbte  Stelle  i  Sa  17'* 
(,, die  Tore  von  Ekron")  kann  nicht  dagegen  in  Betracht  kommen.  Noch 
heutzutage  haben  in  Babylonien  kleinere  ummauerte  Ortschaften  der 
leichteren  Verteidigung  wegen  nur  Ivin  Haupttor. 

11.  Nach  Guthe's  Kurzem  Bibelwörterhuch  fußt  die  Erzählung  vom 
Jordanwuuder  auf  einer  natürlichen  Erscheinung,  die  sich  in  Zwischen- 
räumen von  vielen  Jahrhimderteu  beobachten  lasse:  daß  nämlich  in 
der  Nähe  von  ad-Ddmije  (vgl.  Jos  3^®)  die  15 — 20  Meter  hohen,  aus 
lockeren  Mergelmassen  bestehenden  Jordanufer,  sobald  sie  genügend 
unterwaschen  sind,  hinabstürzen,  das  alte  Flußbett  versperren  imd 
die  Wasser  in  ein  neues  zwingen.  Im  Jahre  1267  habe  eine  völlige 
Abdämmung  des  Flusses  für  etwa  zehn  Stunden  stattgefunden. 
Ob  mit  solchem  obendrein  wenig  befriedigenden  Versuche  einer 
uatürhchen  Erklärimg  des  Wimders  diesem  selbst  nicht  zu  viel  Ehre 
angetan  ist? 

12.  Da  das  israelitische  Heer  gleich  dem  babylonischen  in  Abteilungen 
von  10,  100,  1000,  10  000  Mann  gegliedert  war  (s.  z.  B.  Ri  20^°  und  vgl. 
decurio,  centurio),  so  ist  es  das  Nächstliegende,  den  hebräischen  Terminus 
hamüsim  etymologisch  mit  dem  Zahlwort  für  5  in  Verbindung  zu  bringen: 
„gefünftet",  das  ist  ,,in  Zahl  von  fiinfen  geordnet"  meinte  ursprünghch 
vielleicht  die  kriegsmäßige  Marschordnung  und  wurde  dann  verall- 
gemeinert zur  Bed.  ,, gerüstet".  Daß  auch  bei  der  israehtischen  Reiterei 
die  kleinste  Abteilung  aus  5  Reitern  bestand,  darf  vielleicht  aus  2  Kö  7  ^' 
geschlossen  werden. 

13.  Die  Übersetzung  von  hebräisch  meassef  durch  ,, großer  Haufe" 
in  Kautzsch's  Bibelübersetzimg  ist  sprachlich  und  sachlich  unmögUch, 
ebenso  ist  die  Wiedergabe  von  'eqeb  8^^  durch  ,, Nachhut"  falsch.  Übri- 
gens bleibt  imklar,  ob  die  ,, Nachhut"  aus  Priestern  oder  aus  Kriegern 
gebildet  war. 

14.  Ich  verdanke  diese  Berechnungen  der  Güte  von  Herrn  Prof. 
Dr.  Ernst  Herzfeld,  der  in  seinem  Briefe  an  mich  noch  weiter  folgendes 
bemerkt:  ,,Von  anderer  Seite  erheben  sich  gegen  die  Zahl  von  531  150 
die  gleichen  Bedenken:  wie  konnte  man  über  500  000  Mann  bei  der  Be- 
lagervmg  eines  so  winzigen  Objektes  wie  Jericho  verwenden?  Oder: 
wie  wollte  man  über  500  000  Mann  bei  einer  solchen  Belagerimg  oder 
bei  Märschen,  besonders  in  Steppengebiet  ernähren?  Irgendwelche 
Korrektur  der  Zahl  scheint  mir  müßig,  sie  muß  falsch  sein.  Hinzufügen 
möchte  ich  noch,  daß  440  Mann,  wenn  sie  sich  die  Hände  geben,  oder 
etwas  bequemer  gerechnet  450  Mann  die  Mauern  von  Jericho  umspannen 


112  Anmerkungen. 

können.  Oder:  in  Bogenschußweite  von  der  Mauer  würden  1333  Mann, 
Schulter  an  Schulter  stehend  (sehr  eng,  etwas  bequemer  1250),  genügen, 
eine  geschlossene  I<in:e  zu  büden.  Wenn  die  I/änge  der  Prozession  die 
Hälfte  des  Mauerumf angs  betrüge,  würden  in  Ghedem  zu  fünf  3125  Mann 
Platz  finden.  Selbst  diese  Zahl  scheint  mir,  wenn  man  sich  eine  Vor- 
stellung von  der  Zahl  der  Belagerer  von  Jericho  machen  will,  schon 
hoch  gegriffen. "  Und  betreffs  der  vorauszusetzenden  Einwohnerzahl 
Jerichos  bemerkt  Prof.  Herzfeld:  ,,Der  Flächeninhalt  von  Jericho  be- 
trägt nur  35  000  qm.  Das  ist  sehr  wenig.  Ninewe  z.  B.,  allerdings  die 
größte  Stadt  des  babylonisch-assyrischen  Altertums,  hatte  6  640  000  qm, 
war  also  igomal  so  groß.  Das  heutige  Mosul  deckt  mit  seinen  Mauern 
2  916  000  qm,  ist  also  mehr  als  83mal  so  groß.  Mosul  hat  —  wie  ich 
als  ziemlich  sicher  anzimehmen  berechtigt  bin  —  60  000  Einwohner. 
Seine  Bevölkerungsdichte  ist  also  2916  000  :  60  000  oder  auf  48,6  qm 
I  Einwohner.  Nimmt  man  die  gleiche  Dichte  —  imd  Mosul  ist  eine 
relativ  dicht  bevölkerte  Stadt  —  auch  für  Jericho  an,  so  erhält  man 
zirka  725  Einwohner.  Legt  man  eine  noch  etwas  größere  Dichte  zu- 
grunde, etwa  die  der  Stadtteile  Schöneberg,  Steglitz  von  Berlin  (30  000 
Einwohner  auf  i  qkm),  so  würde  man  1050  Einwohner  für  Jericho  er- 
halten. Das  wäre  das  Maximum,  meines  Erachtens  schon  zu  viel, 
denn  Jericho  ist  eben  sehr  klein!"  Hieraus  ist  ersichtlich,  daß  die  Ort- 
schaft Hä-'Ai,  die  gemäß  Jos  7^  noch  viel  kleiner  als  Jericho  war,  im- 
möglich 12000  Einwohner  gehabt  haben  kann  (Jos  8*^).  Interessant 
ist,  daß  trotz  der  Kleinheit  Jerichos  sein  Areal  immerhin  noch  mehr  als 
doppelt  so  groß  war  als  das  der  zweiten  Stadt  von  Troja. 

15.  Die  ElriegsUst  der  I<egimg  eines  Hinterhaltes  brachte  wie  Hä-"Ai 
so  auch  Gib'a  (s.  S.  47)  zu  Fall.  Auch  Saul  legt  den  Amalekitem  einen 
Hinterhalt  (iSais').  Siehe  weiter  Jer  51".  In  der  Wundererzählung 
2Chr2o"  müssen  tneärebtm  die  Vernichtung  des  feindlichen  Heeres 
herbeiführen,  ohne  daß  nach  ihrer  Herkunft  gefragt  wird. 

16.  Siehe  bereits  Babel  und  Bibel  II  Anm.  20:  ,,Wie  heutzutage 
Damaskus  mit  seiner  reichbewässerten  Aue  den  arabischen  Beduinen 
als  der  Abglanz  des  himmlischen  Paradieses  erscheint,  so  bildete  für  die 
semitischen  Nomadenstämme  des  Altertums  der  Euphrat,  der  Strom, 
wie  er  auch  von  den  Hebräern  schlechtweg  genannt  wurde,  mit  den 
von  ihm  bewässerten  beispiellos  fruchtbaren  Landstrichen  den  Inbegriff 
alles  Begehrenswerten.  Selbst  das  von  Milch  und  Honig  fließende  ge. 
lobte  Land  erschien  den  Kindern  Israel  unvollkommen,  wenn  es  sich 
nicht  bis  zum  Euphrat  erstreckte.  Darum  lesen  wir  Ex  23*^  zu  Mose 
gesprochen  die  Worte  Jahos:  ,,ich  mache  dein  Gebiet  vom  Schilf meer 
bis  zum  Meer  der  PhiUster  und  von  der  Wüste  bis  zumStrom"  — 
die  Verheißung  ist,  wie  ein  Blick  auf  das  Kärtchen  leicht  begreiflich 
macht,  niemals  in  Erfüllung  gegangen. 


Anmerkungen. 


"3 


17.  Daß  Saul  (i  Sa  14*^),  David  (2  Sa  8. 10)  und  Salomo  (2Chr8' 
zeitweilige  Erfolge  über  die  Aramäer  von  Damaskus  und  Zoba  er- 
zielten, was  dann  i  Kö  5  •  dahin  aufgebauscht  wird,  daß  Salomo 
„über  ganz  Transeuphratien  von  Tifsach  bis  Gaza  geherrscht"  habe, 
kann  natürlich  an  dem  Urteile  auf  S.  37  nicht  das  Mindeste  ändern, 
so  wenig  wie  das  2  Kö  14*'  von  Jerobeam  II.  Berichtete.  Gegen 
die  vermeintliche  Nennung  Tadmor-Palmyra's  in  Verbindung  mit 
dem  Namen  Salomos  2  Chr  8"  siehe  bereits  1  KÖ9**,  —  Was,  bei- 
läufig bemerkt,  Tifsach,  das  ist  Thapsakus,  betrfft,  so  schreibt  mir 
Ernst  Herzfeld  folgendes:  ,,In  der  ^»-cÄäo/ogtÄCÄen  Arne  von  Sarre 
und  mir  habe  ich  im  3.  Kapitel  des  I.  Bandes  ausführlich  über  Thapsakus 
gehandelt.  Der  große  Ruinenhügel  existiert,  er  war  eigentlich  nur  über- 
sehen. Es  ist  der  Hügel  al-Thadayain  oder  Qyzlar  Memesi,  der  gerade 
da  hegt,  wo  die  von  Tudmur  über  Rusäfa  herkommende  Straße  den 
Euphrat  erreicht.  Der  Pimkt  hegt  ganz  wenig  oberhalb  von  Süriyya, 
dem  alten  Süra,  Sure.  Bei  Dibsi,  woran  für  Tifsach  auch  gedacht 
wurde,  sind  keine  Reste  höheren  Altertums." 

18.  Gemäß  gütiger  Mitteilimg  von  Herrn  Prof.  Dr.  Ernst  Herzfeld 
ist  die  Längenausdehnimg  von  Berseba  bis  Jerusalem  140  km  (so  weit 
wie  Berlin — Leipzig),  die  von  Jerusalem  bis  Damaskus  215  km  (Berlin — 
Weimar).  Das  sind  gerade  Luftlinien,  die  sich  durch  die  Windungen  der 
Wege  in  Natur  wohl  um  10  Prozent  verlängern  würden.  Die  Gesamt- 
länge von  Juda  und  Israel  oder  von  Berseba  bis  zur  Linie  Sidon — 
Damaskus  beträgt  330  km,  das  ist  etwa  Berlin — Lichtenfels.  Die 
Flächenausdehnimg  des  Gebiets  von  der  Linie  al-Arisch — Berseba  bis 

Delitrsch,  Die  grosse  Täuschung.  g 


jjA  Anmerkungen. 

zur  Linie  Sidon — Damaskus  westlich  des  Jordantales  ist  20  600  qkm, 
die  Flächenausdehnung  des  von  letzterer  I^inie  aus  nördlichen  Gebietes 
bis  zur  Linie  Antiochia — Aleppo — Euphrat  30  500  qkm. 

19.  Auch  mit  diesen  „sieben  großen  imd  starken  Völkern"  ist  es  eine 
bedenkliche  Sache.  Ist  es  schon  an  sich  mehr  als  imwahrscheinlich, 
daß  auf  dem  beschränkten  Boden  Palästinas  (seiner  Längenausdehnung 
nach  der  von  Berlin — Lichtenfels  entsprechend,  s.  Anm.  18)  sieben 
„große"  Völker  gleichzeitig  gewohnt  hätten,  so  läßt  sich  aus  dem 
Alten  Testamente  selbst  mit  aller  Sicherheit  nachweisen,  daß  die  Jebu- 
siter  nur  einen  kleinen  Bestandteil  des  amoritischen  Volkes  bildeten. 
Von  den  Perizzitem  imd  Chiwwitem  ist  das  gleiche  mehr  als  wahrschein- 
lich, die  Girgesiter  aber  waren  so  unbedeutend,  daß  sie  Ex  3  *•  ^'  unter  der 
Zahl  der  ausgerotteten  Völker  überhaupt  nicht  erwähnt  werden.  So 
bleiben  nur  die  Amoriter,  Kanaaniter  imd  Hettiter.  Inwieweit  die 
Trennung  eines  kanaanitischen  imd  amoritischen  Volkes  berechtigt  ist, 
ist  zur  Zeit  zwar  noch  nicht  zu  entscheiden,  doch  scheint  einstweilen 
die  Unterscheidung  von  Amoritem  und  Kanaanitem  ledighch  geo- 
graphisch, aber  nicht  sprachlich  und  ethnographisch  berechtigt,  indem, 
wie  das  Alte  Testament  wiederholt  mit  Recht  bemerkt,  die  Amoriter 
auf  dem  Gebirge,  die  Kanaaniter  in  den  Küstenstrichen  am  Mittelmeer 
wohnten.  Was  aber  die  Hettiter  anbelangt,  so  gab  es  wohl  zu  der 
Zeit,  da  die  Hebräer  in  Kanaan  eindrangen,  vereinzelte  hettitische 
Niederlassungen  im  Lande  (einer  solchen  gehörte  z.  B.  der  Stadtherr 
von  Jerusalem  an),  wie  ja  die  Hettiter  schon  seit  früher  Zeit  mit  Ägypten 
um  die  Vorherrschaft  in  Palästina  stritten  und  einzelne  Stadthäupter 
des  vorhebräischen  Amoriterlandes  hettitische  Namen  tragen,  aber 
das  Volk  der  Hettiter  als  solches  wohnte  und  herrschte  in  Femen,  die 
von  Israel  niemals  erreicht  wurden,  sodaß  die  Vertreibung  oder  Aus- 
rottung des  Hettitervolkes,  um  den  mildesten  Ausdruck  zu  gebrauchen, 
eine  Übertreibung  ersten  Ranges  ist.  Die  Siebenzahl  der  besiegten 
Völker  gibt  sich  als  eine  der  beliebten  Übertreibungen  zur  größeren 
Verherrlichung  Jahos  und  Israels.  Übrigens  genügte  einem  Erzähler 
auch  die  Siebenzahl  noch  nicht,  sondern  er  erweiterte  sie  zur  Zehnzahl 
(Gen  15^^""^^),  indem  er  die  Qßniter  und  Qenizziter  und  Qadmoniter  hin- 
zufügt, gleichzeitig  die  Chiwwiter  durch  die  Rephaiter  ersetzend,  welch 
letztere  die  allerälteste  Bevölkenmgsschicht  Kanaans  bildeten  (Anm.  24). 
20.  Die  Übersetzung  des  hebräischen  sir'ä  durch  „Hornisse"  ist  sach- 
lich wenig  passend:  hassir'ä  wird  von  Jaho  unter  die  Kanaaniter  ge- 
sandt, sodaß  auch  die  Übriggebliebenen  und  Versteckten  vor  Israel 
umkamen  (Dt  y^'^;  wird  vor  Israel  her  gesandt  zur  Verjagimg  der 
Feinde  (Ex  23"),  z.  B.  der  zwei  Amoriterkönige  (Jos  24").  Vielleicht 
ist  eher  an  jähen,  lähmenden,  ,, panischen"  Schrecken  oder  ähnliches  zu 
denken. 


Anmerkungen .  1 1 5 

21.  Siehe  bereits  Babel  und  liibcl  III  S.  39  f.:  Wie  unentbehrlich 
jenen  Seinitcustämmen  ein  besonderer  Gott  als  Spitze  und  Repräsentant 
der  Volkseinheit  erschien,  zeigt  sich  eklatant  bei  dem  assyrischen  Volke. 
Als  in  der  zweiten  Hälfte  des  3.  vorchristlichen  Jahrtausends  die  in  die 
nachmalige  Landschaft  Assyrien  vorgedrungenen  semitischen  Babylonier 
sich  zu  einem  selbständigen  Staatswesen  entwickelten,  gaben  sie  sich  so- 
fort, unbeschadet  des  mitgebrachten  sumerisch-akkadischen  Pantheons, 
ihren  besonderen,  ursprünglich  sogar  jeder  Partnerin  entbehrenden 
Nationalgott:  Aschur  ( Asir ,  A^sitr ) ,  den  ,, heilbringenden",  ,, heiligen" 
Gott,  der  ,,sich  selbst  gezeugt",  der  auch  nicht  mit  der  Natur  oder 
irgendwelcher  Naturkraft  verknüpft  war,  sondern,  hoch  über  allem 
stehend,  als  der  Urgrund  aller  Dinge,  als  der  Vater,  Herr  und  König 
aller  Götter  gedacht  und  verehrt  wurde.  Wie  Jaho  Ps  1362'-  ,,der 
Gott  der  Götter,  der  Herr  der  Herren"  genannt  ist,  so  wiude  es  Aschur 
genau  so,  und  wenn  in  Israel  der  Ruf  erscholl:  ,,Wer  ist  wie  Jaho 
unter  den  Göttern?",  so  erklang  es  am  Tigris:  ,,Wer  ist  wie  Aschur 
unter  den  Göttern?"  Die  Fürsten  aber  über  das  assyrische  Volk 
waren  ,, Priester  Aschurs",  von  der  Urzeit  her  von  Aschur  auserwählt, 
ihm  als  Priester  zu  dienen. 

22.  Daß  Jähö,  Jähü  als  Name  des  Hebräergottes  hundertfach  bezeugt 
ist,  wurde  bereits  in  Anm.  6  bemerkt,  imd  daß  auch  das  bekannte 
Tetragramm  Jahö  oder  Jehö  zu  lesen  ist,  glaube  ich  beweisen  zu  köimen. 
Ein  etymologischer  Zusammenhang  mit  dem  hebräischen  Stamm  hüwa 
oder  gar  häjä  ,,seiu"  ist  jedenfalls  —  trotz  Ex  3^*  —  ausgeschlossen. 
Siehe  Teil  II  S.  10  ff.  nebst  Anm.  2.  Jehö,  Jähü  war  einer  der  vielen 
von  den  verschiedenen  amoriti  sehen  Völkerschaften  verehrten  Götter 
wie  Melech,  Sedeq,  war  auch  den  in  Babylonien  eingewanderten  Amori- 
tern  unter  dem  Namen  Jahum  bekarmt  und  scheint  unter  den  Kanaan 
tmd  dessen  Nachbarländer  bewohnenden  Amoritem  vor  allem  von  den 
Midianitem  verehrt  worden  zu  sein,  da  der  brennende  Domstrauch, 
die  Stätte  von  Jahos  erster  Offenbarung  an  Moses,  auf  midianitischem 
Gebiete  sich  befand.  Der  Name  von  Mosis  Mutter  Jochebed  dürfte  lehren, 
daß  Jahos  Verehrung  bereits  zu  Mosis  Eltern  gelangt  war.  Es  wird  sich 
wohl  auch  noch  herausstellen,  daß  der  Gott  Jaho  ebenso  wie  der  Gott 
Scheba'  (s.  S.  102)  und  die  Göttin  Astarte,  Aschera  der  Zahl  derjenigen 
amoritischen  Gottheiten  zugehört,  die  in  Babylonien  beheimatet  waren, 
und  daß  sein  Name  den  „Erhabenen"  bedeutet,  in  Übereinstimmimg 
mit  dem  gleichbedeutenden  El  saddai.  Siehe  hierfür  die  Neuausgabe 
von  Babel  und  Bibel  I,  Leipzig  1921.  —  Beiläufig  ein  Wort  über  den 
zu  Mosis  Zeit  auf  der  Sinaihalbinsel  angesiedelten  Zweig  der  Midianiter. 
Die  in  Boghaz-köi  gefundenen  Staatsverträge  haben  uns  die  interessante 
Tatsache  gelehrt,  daß  das  W' andern  von  Volk  zu  Volk  in  jener  alten  Zeit 
sehr  beliebt  war:  Untertanen  des  Hettiterkönigs  wanderten  in  großen 


Ij5  Anmerkungen. 

Scharen  in  das  Land  Isüa,  Bewohner  des  Landes  Kizzuatni  wanderten 
bald  nach  dem  Harri-Land,  bald  ins  Hettiterland.  Es  dürfte  dies  die  bis 
dahin  sehr  befremdliche  Tatsache  erklären,  daß  Pethor,  die  am  Euphrat 
gelegene  Heimat  Bileams,  gemäß  Nu  22 ^  auch  Moabiter  zu  Bewohnern 
halte,  und  daß  gemäß  Gen  36^^;  i  Chr  i  **  einer  der  Edomiterkönige  aus 
Rechoboth  ,,am  Flusse",  das  ist  dem  Euphrat,  stammte.  So  mögen 
auch  die  auf  der  Sinaihalbinsel  seßhaft  gewordenen  Midianiter  sich 
von  ihrem  östlich  vom  Toten  Meer  zeltenden  Hauptstamme  getrennt 
haben,  wie  von  einem  Zweige  des  Wüstenstammes  der  Qeniter  durch 
Ri  4^^  ausdrücklich  bezeugt  wird,  daß  er  nach  Nordpalästina  aus- 
gewandert sei.    Vgl.  auch  Thr  4^^. 

23.  Wie  tief  eingewurzelt  bei  den  semitischen  Völkern  der  Glaube 
war,  daß  jedes  Volk,  jedes  Land  seinen  Spezialgott  habe,  der  nicht 
nur  ausschließlich  auf  dem  Boden  seines  Landes,  sondern  auch  genau 
nach  seinesLandesSitte  verehrt  sein  will  und  nur  nach  dieser 
verehrt  werden  darf,  lehrt  die  Stelle  2  Kö  17^^—**.  Wir  lesen  dort, 
daß,  solange  die  nach  Samaria  verpflanzten  Völkerschaften  aus 
Babel,  Kutha,  Hamath  usw.  ,,Jaho  nicht  fürchteten"  und  den 
Kultus  des  ..Landesgottes"  nicht  kannten,  Jaho  sie  mit  Löwen  heim- 
suchte, bis  auf  Befehl  des  assyrischen  Königs  einer  der  weggeführten 
israelitischen  Priester  nach  Bethel  zurückkehrte  und  jene  Völker  in 
der  Verehrung  Jahos  unterwies.  Gleiches  tat  Sargon  II.  (gemäß 
Sarg.  Cyl.  74)  mit  den  von  ihm  in  seiner  Sargonsstadt  angesiedelten 
vielsprachigen  Völkerschaften:  er  ließ  sie  durch  hierzu  besonders 
befähigte  Assyrer  in  der  ,, Furcht  Gottes  und  des  Königs"  imterweisen 
(märe  Assür  tniXdüt(e)  tni  kaläma  ana  sühuzi  sibitteji  paläh  ili  u  ~sarri 
akle  säpirS  uma'irsunüti).  Aus  Babel  und  Bibel  III  S.  43  f.  nebst 
Anm.  44. 

24.  Über  die  voramoritischen  Bewohner  Kanaans  besitzen  wir  nur 
dürftige  Nachrichten.  Das  Deuteronomium  enthält  die  Notiz,  daß 
den  Moabitem  die  Emiter  (2^'"-),  den  Edomitem  die  Choriter  {2^-  ^'^, 
den  Ammonitem  die  Zamzummiter  {2^"'),  den  Kaphtoritem  die  'Awwiter 
{2^')  voraufgegangen  seien.  Außerdem  nennt  die  im  Alten  Testament 
erhaltene  ÜberUefenmg  als  ältere  Bewohner  des  Ost-  wie  Westjordan- 
landes die  'Anäqim,  ein  Volk  von  sehr  hohem  Körperwuchs,  dem  gegen- 
über sich  die  Isr achten  so  klein  wie  Grashupfer  vorkamen.  Sie  hätten 
zum  Teil  bis  in  die  Zeit  der  hebräischen  Einwanderung  fortbestanden. 
Josua  habe  sie  zwar  aus  dem  Gebirg,  aus  Hebron.  Debir,  'Anäb  imd 
dem  ganzen  Gebirg  Juda  und  Israel  ausgerottet  imd  mitsamt  ihren 
Städten  gebannt,  jedoch  seien  Anaqiter  in  Gaza,  Gath,  Asdod,  also  im 
Philisterland  übrig  gebheben.  Sie  scheinen  mit  den  Rephaim,  als  welche 
die  Urbewohner  von  Basan,  Ammon,  Moab  galten.  Eines  Stammes 
gewesen  zu  sein;  für  Rephaiter  in  Gath  s.  2  Sa  2  i^o-  22;  i  Chr  20®-  ^. 


Anmerkungen.  II7 

25.  Die  allernächste  Verwandtschaft  der  Sprache  der  Amoriter  und 
der  Hebräer  ist  so  oft  behandelt  und  bewiesen  worden,  daß  hier  nicht 
weiter  darauf  eingegangen  zu  werden  braucht.  Nur  erinnert  sei  an 
das  beiden  Sprachen  gemeinsame  Pronomen  der  i.  Pers.  Sing,  anöki 
,,ich".  Die  Verwandtschaft  erstreckt  sich  bis  auf  Redensarten.  In 
letzterer  Hinsicht  verdient  besondere  Hervorhebung,  daß  die  im  Alten 
Testament  so  beliebte  Redeweise:  Jaho  habe  Jerusalem  erwählt,  , .seinen 
Namen  dort  wohnen  zu  lassen"  (z.  B.  Dt  12'-  ")  bzw.  „seinen  Namen 
dorthin  zu  setzen"  (1  Kö  14''*)  genau  so  und  ebenfalls  mit  Bezug  auf 
Jerusalem  in  dem  Schreiben  des  dortigen  Stadtherm  an  den  Pharao 
sich  findet:  „Siehe I  der  König  hat  seinen  Namen  auf  Jerusalem  gesetzt 
für  ewig"   (Kn  287^'-). 

26.  Die  Wiedergabe  des  'Ajin  von  'Ibrt  durch  h  ist  korrekt.  Daß  aber 
76rl  =  älterem  'Abrt,  wird  durch  die  Beobachtung  nahe  gelegt,  daß 
hebräisch  a  in  doppelt  geschlossener  Silbe  mit  Vorliebe  in  t  übergeht, 
vgl.  hebräisch  Hittt  =  Hattt  imd   den  Stadtnamen  Timnä  =  Tamnä. 

27.  Vgl.  bereits  Babel  und  Bibel  III  S.  44  f.:  So  und  nicht  anders 
wird  auch  das  sonst  Unbegreifliche  begreiflich,  warum  die  in  Kanaan 
eingedrungenen  Israeliten,  hoch  und  niedrig,  sozusagen  mit  Natur- 
notwendigkeit dem  Kultus  ihres  neuen  kanaanäischen  Heimatlandes, 
der  Verelirung  Baals  und  Ascheras  auf  altheihgen  Höhen,  verfielen, 
und  die  vorexilischen  Propheten,  trotz  des  unermüdlichen  Kampfes, 
den  sie  für  Jaho  gegen  die  kanaanäische  ,, Abgötterei"  ihrer  Volks- 
genossen kämpften,  einen  dauernden  Erfolg  nicht  zu  erringen  ver- 
mochten. Es  war  ein  wahrhaft  dramatischer  Kampf,  den  diese  be- 
geisterten, sittenstrengen  Männer  mit  der  ganzen  Glut  heiliger  Leiden- 
schaft, mit  hinreißender  Beredsamkeit  und  mit  allen  Mitteln  an  Ver- 
heißungen und  Drohungen  unablässig  gegen  Könige,  Priester  und  Volk 
führten,  um  Israel  auch  auf  dem  Boden  des  nur  teilweise  eroberten 
Kanaanäerlandes  bei  dem  Gotte  seiner  Väter  zu  erhalten  und  das 
Volk  Israel  als  eine  politisch  und  religiös  in  sich  geschlossene  Einheit 
rein  und  unvermischt  zu  erhalten.  Es  blieb  vergebliche  Mühe,  es 
mußte  dies  bleiben. 

28.  In  der  Wiedergabe  von  hebräisch  ökel  hammö'ed  durch  ,, Stifts- 
hütte" ist  ,, Hütte"  jedenfalls  falsch,  es  muß  ,,Zelt"  heißen.  Die  Über- 
setzxmg  des  anderen  Namensbestandteiles  mit  ,, Stifts-"  ist  ebenfalls 
falsch,  sie  wurde  einstweilen  nur  beibehalten,  da  eine  absolut  sichere, 
allgemein  anerkannte  Erklänmg  des  betreffenden  hebräischen  Wortes 
nicht  existiert.  Die  Übersetzimg  in  Kautzsch's  Bibelübersetzvmg  ,,Offen- 
banmgszelt"  ist  gegen  Etymon  und  Wortgebrauch  des  hebräischen 
tnö'ed.  Die  nächstliegende  Deutung  ist  ,,Zelt,  da  man  sich  trifft,  Treff- 
oder Versammlungszelt",  wobei  man  unwillkürlich  an  das  noch  heut- 
zutage  bei   jeder   größeren    Zeltniederlassung   befindliche   sog.   mudtf 


Il8  Anmerkungen 

denkt,  nur  daß  mit  dem  alttestamentlichen  , .Treffzelt"  nicht  allein  das 
Zelt  gemeint  ist,  woselbst  sich  die  ganze  Gemeinde  versammelt  oder 
trifft,  sondern  zugleich  der  Ort,  an  welchem  Jaho  mit  Moses  zusammen- 
trifft, ihm  sich  zu  offenbaren,  mit  ihm  in  einer  Wolkensäule  zusprechen 
(Ex  33),  ,, persönlich  mit  Moses  zu  reden,  wie  jemand  mit  seinem  Freund 
redet"  (V.  ii). 

29.  Nach  neuerer  Ansicht  christlicher  Theologen  wäre  die  ,,Bimdes- 
lade"  oder  die  ,,I<ade  Jahos"  überhaupt  kein  Kasten  gewesen,  in  welchem 
zwei  Steintafeln  oder  sonst  zwei  heilige  Steine  verwahrt  gewesen  seien, 
sondern  vielmehr  ein  kastenähnlicher  Sessel,  auf  welchem  Jaho  thronend 
vorgestellt  worden  sei.  S.  Martin  Dibelius,  Die  Lade  Jahves,  Göt- 
tingen 1906,  und  Herm.  Gunkel,  Die  Lade  Jahves  ein  Thronsitz, 
Heidelberg  1906  (Sonderabdruck  aus  der  Zeitschrift  für  Missionskimde 
imd  Religionswissenschaft,  herausg.  von  D.  Aug.  Kind  in  Berlin). 

30.  Für  den  vermeintlichen  Aussatz  (hebräisch  sära'ai)  im  Buche 
Leviticus  beachte  den  außerordentlich  lehrreichen  Aufsatz  von  P.  G. 
Unna,  Ein  typischer  Fall  von  ,, Papierwissenschaft"  (Sonderabdruck 
aus:  Das  monistische  J ahrhimdert) . 

31.  Daß  sefer  hattörä  ,,ein  Gesetzbuch"  bedeuten  kann,  bedarf  wohl 
kaum  eines  Beweises.  Auch  Kautzsch's  Bibelübersetzung  gibt  in  dem 
Königsgesetze  (Nr.  98  des  Anhangs)  misnß  hattörü  durch  ..eine  Ab- 
schrift des  Gesetzes"  wieder.  Um  so  seltsamer  ist  es,  daß  in  den  text- 
kritischen Anmerkungen  des  eben  zitierten  Buches  bezweifelt  wird, 
daß  "sir  hamma'alöth  ein  Pilgerlied  bedeuten  könne.  Aber  beachte 
is  hä-el6htm  „ein  Mann  Gottes",  is  hä-adämä  „ein  Sandmann"  (Gen  g^"^). 
'in  hammajim  „eine  Wasserquelle"  (Gen  16')  usw. 

32.  Die  Schwäbische  Kronik  (des  Schwäbischen  Merkurs  zweite  Ab- 
teilung) Nr.  143,  30.  März  1903,  enthielt  in  einem  kleinen  Artikel  über 
Hammurabi  die  folgende  Stelle :  ,,Für  diejenigen,  die  sich  für  die  Ge- 
setzgebung des  großen  Königs  Hammurabi  interessieren,  sei  hier  mit- 
geteilt, daß  hierüber  die  Nr.  5  vom  i.  März  dieses  Jahrgangs  der 
Deutschen  Juristenzeitung  einen  längeren  Aufsatz  des  Amtsgerichtsrats 
Dr.  Schmersahl  unter  dem  Titel:  ..Das  älteste  Gesetzbuch  der  Welt?" 
enthält,  der  eine  vollständige  Übersicht  über  die  haiiptsächlichsten 
Grundsätze  dieses  ältesten  Rechts  unter  Vergleichung  mit  dem  alt- 
jüdischen, dem  römischen  und  dem  älteren  deutschen  Rechte  gibt. 
Schon  aus  der  kurzen  Aufzählung  in  jenem  Aufsatz  geht  hervor,  daß 
wir  es  mit  einem,  besonders  auch  in  sittlicher  Hinsicht,  hoch 
entwickelten,  vielfach  dem  mosaischen  Recht  weit  über- 
legenen Gesetzeswerk  zu  ttm  haben".  (Babel  und  Bibel  // Anm.  11.) 

33.  Schon  Dillmann,  Kommentar  zu  den  Büchern  Exodus  und 
Leviticus,  S.  201,  kam  zu  dem  Schluß,  daß  uns  die  zehn  Gebote  in 
,,zwei  verschiedenen  Rezensionen  vorliegen,  die  überhaupt  nicht 


Anmerkungen.  IIQ 

unmittelbar    auf    die    Tafeln,   sondern    auf    anderweitige  Auf- 
zeidinungcn  zurückgehen". 

34.  Siehe  hierfür  im  „Anhang"  die  Bemerkungen  zu  den  betreffenden 
alttestamentlichen  Gesetzen,  sowie  die  Neuausgabe  von  Babel  und 
Bibel  I. 

35.  Die  Stelle  Dt  4"  wird  von  Dillraauu,  Die  Bücher  Numeri, 
Deuieronomiunt  und  Josua,  I^eipzig  1886,  S.  256,  in  folgender  Weise 
kommentiert:  welche  Jahve  allen  Völkern  zu.ueteilt  hat,  nämlich:  ,,daß 
die  Völker  ihnen  dienen  (vgl.  29").  Jedoch  ist  das  nicht  dabin  ab- 
zuschwächen, Gott  habe  es  zugelassen,  daß  die  Heiden  sie  sich  zur 
Anbetimg  wählen;  vielmehr  besagt  der  Ausdruck,  daß  die  Verehrung 
der  Gestirne  durch  die  Völker  im  Willen  des  weltregierenden  Gottes 
begründet  sei.  Das,  was  faktisch  besteht,  wird  auf  den  Willen  Gottes 
zurückgeführt:  nachdem  einmal  das  Gottesbewußtsein  bei  den  Völkern 
verfinstert  war,  werden  ihnen  diese  imponierendsten  aller  Natunnächte 
(als  Surrogat)  zur  Verehrung  hingestellt;  es  ist  Gottes  Wille,  daß  die 
Reste  ihres  Gottesbewußtseins  sich  (einstweilen)  an  diesen  wach  er- 
halten." Daß  der  heilige,  gnädige  und  gerechte  Gott  allen  Völkern 
des  Erdkreises  (außer  Israel)  Jahrtausende  hindurch  statt  der  reinen 
Gotteserkenntnis  das  Surrogat  eines  in  seinen  eignen  Augen  ver- 
dammungswerten  Gestimdienstes  dargereicht  habe,  ist  ein  Glaube,  zu 
welchem  sich  mein  Gottesbewußtsein   nicht  aufzuschwingen   vermag. 

36.  Näheres  über  die  Stellung  der  Frau  in  Altbabylonien  siehe  in 
meiner  Schrift:  Handel  und  Wandel  in  Altbabylonien,  Stuttgart  19 10, 

S.2lff. 

37-  §  37  ^^^  Assyrischen  Gesetze  lautet:  Wenn  jemand  seine  Ehe- 
frau entläßt,  so  mag  er,  wenn  er  will,  geben;  wenn  er  nicht  will, 
braucht  er  ihr  nichts  zu  geben,  leer  geht  sie  fort. 

38.  Siehe  für   diese   alttestamentlichen  Stellen  Teil  II  Anm.  5. 

39.  Die  Propheten  schrieben  und  hinterließen  Aufzeichnimgen  der 
zeitgenössischen  Begebnisse.  Zitiert  finden  sich  innerhalb  des  Alten 
Testaments  die  folgenden.  Für  die  Geschichte  Davids  verweist 
1  Chi  29**  auf  die  ,,dibrS  Samuels,  des  Sehers",  die  „dibri  Nathans, 
des  Propheten",  und  die  ,,dibr£  Gads,  des  Schauers".  Auf  die  an  zweiter 
Stelle  genaimten  „dibri  Nathans,  des  Propheten"  verweist  2  Chr  9** 
auch  für  die  Geschichte  Salomos.  Diese  letztere  Stelle  verweist  für 
die  Geschichte  Salomos  gleichzeitig  auf  die  „Prophetie  Achijjas  aus 
Silo"  und  auf  die  „Schauung  'Iddo's  (?),  des  Schauers,  wider  Jerobeam, 
den  Sohn  des  Nebät".  Für  eine  ausführliche  Geschichte  Rehabeams 
verweist  2  Chi  12^^  auf  die  „dibrS  Schema'jä's,  des  Propheten"  und 
(die  „dibri)  'Iddo's,  des  Schauers".  Für  eine  ausführliche  Geschichte 
Jehöschafats  verweist  2  Chr  20 3*  auf  die  „dibri  Jehu's,  des  Sohnes 
des  Chanäni"  (auch  für  das  Buch  der  Könige  Israels  verwendet).    Und 


J20  Anmerkungen. 

an  der  Niederschrift  der  Geschichte  des  judäischen  Königs  Manasse 
scheinen  alle  zu  seiner  Zeit  wirkenden  Schauer  sich  beteiligt  zu  haben, 
s.  2  Chr  3  3^^'-  Noch  seien  erwähnt  ein  „midras  des  Propheten  'Iddo" 
für  die  Geschichte  von  Rehabeams  Sohn  Abijjam  (2  Chr  13")  und 
ein  Buch  des  Propheten  Jesaia  über  den  König  Uzzia  (2  Chr  26"). 
40.  Das  in  Babel  und  Bibel  II  S.  16  ff.  Gesagte  finde  hier  seinen 
Platz:  „Von  Jugend  auf  werden  wir  erblich  beieistet  mit  der  Wahn- 
vorstellung eines  vertierten  Nebukadnezar,  indem  uns  das 
Buch  Daniel  erzählt  (4^*"**),  wie  der  König  von  Babel  auf  dem  Dache 
seines  Palastes  umhergewandelt  sei  und,  nachdem  er  sich  noch  einmal 
an  der  Herrlichkeit  der  von  ihm  erbauten  Stadt  ergötzt,  vom  Himmel 
her  die  Weissagung  vernommen  habe,  daß  er,  ausgestoßen  aus  den 
Menschen,  mit  den  Tieren  des  Feldes  und  nach  Art  der  Tiere  leben 
solle.  Daraufhin  habe  dann  Nebukadnezar  in  der  Wüste  Gras  ge- 
fressen gleich  den  Stieren,  benetzt  vom  Taue  des  Himmels,  während 
seine  Haare  wuchsen  gleich  dem  Gefieder  des  Adlers  und  seine  Finger- 
nägel gleich  Vogelklauen.  Und  doch  hätte  niemals,  am  wenigsten  nach 
dem  Erscheinen  von  Eberhard  Schraders  Abhandlung  ,,Die  Sage 
vom  Wahnsinn  Nebukadnezars"  (in  den  Jahrbüchern  für  protestantische 
Theologie  Band  VII  S.  618 — 629),  irgendein  Erzieher  der  Jugend 
solches  lehren  dürfen,  ohne  darauf  hinzuweisen,  daß  uns  die  reinere 
und  ursprünglichere  Form  dieser  Erzählung  längst  in  einer  bei  Abydenus 
überlieferten  chaldäischen  Sage  bekannt  ist.  Diese  erzählt,  daß  Nebu- 
kadnezar, auf  dem  Gipfel  seiner  Macht  angelangt,  auf  die  Königsburg 
gestiegen  sei  und,  von  einem  Gotte  begeistert,  ausgerufen  habe  und 
gesagt:  „Ich  hier,  Nabukodrosor,  kündige  euch  den  Eintritt  des  Unheils 
an,  das  abzuwehren  weder  Bei  noch  die  Königin  Beltis  die  Schicksals- 
göttinnen zu  überreden  die  Macht  haben.  Kommen  wird  Perses  (d.  i. 
Cyrus)  .  .  .  und  euch  die  Knechtschaft  bringen.  O  möchte  er  doch, 
bevor  die  Mitbürger  zugrunde  gehen,  .  .  .  durch  die  Einöde  gejagt 
werden,  wo  weder  Städte  noch  die  Fußspur  eines  Menschen  angetroffen 
werden,  wohl  aber  wilde  Tiere  weiden  und  Vögel  umherschweifen, 
während  er  allein  in  Felsklüften  und  Schluchten  umherirrt.  Mir  aber 
möge  .  .  .  ein  besseres  Ende  zuteil  werden."  Wer  wollte  hier  nicht 
einsehen,  daß  der  hebräische  Schriftsteller  die  babylonische  Sage  frei 
umgestaltet  hat,  zumal  da  er  in  Vers  16  (,,da  nahm  Daniel  das  Wort 
und  sprach:  Mein  Herr!  der  Traum  gelte  deinen  Feinden  und 
seine  Deutung  deinenWidersachern!")  doch  wohl  durchblicken 
läßt,  daß  ihm  der  ursprüngliche  Wortlaut  sehr  wohl  bekannt  war! 
Was  Nebukadnezar  dem  Feinde  der  Chaldäer  anwünscht,  läßt  der  Ver- 
fasser der  im  Buch  Daniel  gesammelten,  an  Irrtümern  und  Nachlässig- 
keiten allerart  überreichen  Flugschriften  Nebukadnezar  selbst  erleben, 
um  seinen  von  Antiochus  Epiphanes  verfolgten  Volksgenossen  möglichst 


Anmerkungen.  121 

drastisch  die  Wahrheit  zu  exemplißzieren,  daß  Jaho  selbst  den  mäch- 
tigsten König,  der  gegen  ihn  sich  auflehnt,  tiefst  zu  demütigen  vermag. 

41.  Vgl.  Paul  II  au  pt,  The  Aryan  Attcestry  of  Jesus,  in  Vol.XXlIl 
Nr.  635  (April  1909)  der  Monatsschrift  The  Open  Court.  In  Galiläa 
gab  es  seh  )n  seit  ca  732  v.  Chr.  keine  Israeliten  mehr,  vgl.  2  Kü  15". 
Siehe  weiter  Teil  II  dieser  Schrift  S.  50  II. 

42.  Siehe  Babel  und  Bibel  l  (5,  Ausg.)   35  ff- 

43.  Die  Forderung,  die  deutschen  Heldensagen  in  der  deutschen  Volks- 
schule zu  behandeln,  wird  erfreulicherweise  mehr  und  mehr  als  berechtigt 
anerkannt.  Siehe  unter  anderem  Dr.  Otto  Steiners  Artikel  ..Deutsche 
Heldensage  und  deutsche  Volksschule"  (in  Unterhaltungsbeilage  der  Täg- 
lichen Rundschau  vom  21.  Dez.  1920),  in  welchem  es  mit  Recht  heißt: 
,, Davon,  daß  die  deutscheu  Sagen  einen  geringen  literarischen  Wert 
haben  sollen,  kann  gar  keine  Rede  sein.  Das  Nibelungenlied  mit  seiner 
klangvollen  Sprache  und  seiner  dramatischen  Wucht  muß  geradezu  als 
ein  Meisterwerk  bezeichnet  werden.  Kein  Geringerer  als  Hebbel  hat 
das  Nibelungenlied  wieder  aus  seiner  Vergessenheit  hervorgeholt,  und 
Richard  Wagner  entnahm  den  StofiE  zu  seinen  großen  Tonwerken  fast 
ausnahmslos  der  deutschen  Heldensage.  Auch  andere  deutsche  Dichter 
fühlten  sich  von  den  deutschen  Heldensagen  angezogen,  so  hegt  z.  B. 
einem  bekannten  Gedicht  Uhlands  die  Sage  von  Kaiser  Karls  Paladinen 
zugrunde.  Außer  dem  Nibelungenlied  bilden  aber  auch  die  anderen 
deutschen  Sagen  ein  wertvolles  völkisches  Gut:  mit  tückischen  und 
neidischen  Zwergen,  mit  giftigen  Drachen,  welche  kostbare  Schätze 
bewachen,  mit  starken  Riesen,  mit  kraftvollem  Heldentum  und  mit 
minnigUchen  Frauen  werden  wir  bekannt  gemacht.  Es  besteht,  auch 
vom  nicht  völkischen,  rein  literarisch  wertenden  Staudpunkt  aus  be- 
trachtet, kein  Zweifel  darüber,  daß  die  germanischen  Sagen  weit  höher 
stehen  als  die  Sagen  des  Alten  Testaments. 

44.  Vgl.  aus  Babel  und  Bibel  II  S.  36:  ,,Die  Stellung  der  Frau  in 
Israel  war  anerkanntermaßen  eine  niedrige  von  Kindesbeinen  an.  Wir 
kennen  aus  dem  Alten  Testament  kaum  einen  einzigen  Mädchennamen, 
der  in  herzhafter  Weise,  wie  das  bei  den  Knaben  der  Fall  ist,  freudigen 
Dank  gegen  Jaho  für  die  Geburt  des  Kindes  bezeugte:  alle  die  zärt- 
lichen Benermungsweisen  der  Mädchen  wie  ,, Geliebte",  ,, Duftige" 
„Biene",  „Gazelle",  „Mutterschaf"  (Rahel),  „Wildkuh"  (I<ea) ,  „Myrte" 
und  , .Palme",  , .Koralle"  und  , .Krone"  können  nicht  darüber  hinweg- 
täuschen (vgl.  jetzt  auch  die  Bemerkung  über  die  Namen  wie  Elisabeth 
auf  S.  102  dieser  Schrift).  Die  Frau  ist  Eigentum  ihres  Mannes;  sie  ist 
eine  wertvolle  Arbeitskraft,  der  in  der  Ehe  ein  großer  Teil  der  schwersten 
häuslichen  Geschäfte  auferlegt  ist;  sie  hat,  von  ihren  I<eibsklavinnen 
abgesehen,  kein  Eigentum,  über  das  sie  frei  verfügen  könnte;  sie  ist, 
wenigstens  nach  Josephus,  zum  Zeugnisablegen  nicht  befähigt;  sie  ist 


122 


Anmerkungen. 


obenan,  wie  im  Islam,  zur  Ausübung  des  Kultus  unfähig  (vgl. 
Ex  23"  34"  Dt  16*®:  „dreimal  im  Jahre  soll  all  dein  Männliches 
vor  Jaho  erscheinen").  All  das  war  in  Eabylonien  anders  und  besser: 
wir  lesen  z.  B.  in  der  Zeit  Hammurabi's  von  Frauen,  die  sich  ihren 
Sessel  in  den  Tempel  tragen  lassen;  finden  die  Namen  von  Frauen  als 
Zeuginnen  unter  Rechtsurkunden,  u.  dgl.  m.  Alles  Beeinflussung  seitens 
der  nichtsemitischen  Kultur  der  Sumerer. 

45-  Vgl.  hierzu  auch  Babel  und  Bibel  II  S.  32  ff.:  ,,Wenn  das  Alte 
Testament  den  Menschen  im  Bilde  Gottes  geschaffen  sein  läßt,  ist 
es  begreiflich  genug,  wenn  die  Babylonier  umgekehrt  ihre  Götter  unter 

dem  Bilde  des  Menschen  sich  vorstellten 
und  darstellten.  Die  alttestamentlichen 
Propheten  machten  es  ja  wenigstens  im 
Geiste  genau  so.  In  vollständiger  Über- 
einstimmung mit  den  Babyloniern  und 
Assyrern  sieht  der  Prophet  Habakuk 
(Kap.  3)  Jaho  herannahen  mit  Pferden 
und  Wagen,  Bogen  und  Pfeilen  und  Lanze, 
ja  sogar  (v.  4)  ,,Hörnern  an  seiner 
Seite"  (eine  andere  Bedeutung  des  he- 
bräischen qarnaim  ist  ausgeschlossen), 
mit  Hörnern,  dem  Symbol  der  selbst- 
bewußten Stärke,  Hoheit  und  Sieghaftig- 
keit  (Am6"vgl.Nu2322ps75  5i-ii),  dem 
übUchen  Schmuck  der  Kopfbedeckung 
auch  der  babylonisch-assyrischen  Götter 
(vgl.  die  Abbildung).  Und  die  Darstel- 
lungen Gottes  des  Vaters  in  der  christlichen  Kunst:  bei  Michelangelo, 
Raffael,  Kaulbach,  in  allen  unseren  Bilderbibeln  gehen  alle  auf  die  Vision 
Daniels  (7®)  zurück,  der  Gott  schaut  als  einen  ,,  Alten  an  Tagen,  sein  Ge- 
wand wie  weißer  Schnee  und  das  Haar  seines  Hauptes  wie  reine  Wolle". 
46.  Zum  Kapitel  der  ,, Nächstenliebe"  beachte,  was  in  Babel  und 
Bibel  III  S.  20  ff.  gesagt  war:  „Was  die  Tugend  der  Nächsten- 
liebe, des  Erbarmens  gegen  den  Mitmenschen  betrifft,  so  wird  nie- 
mand dem  Volk  Israel  die  Erhabenheit  seines  Sittengesetzes:  ,, Liebe 
deinen  Nächsten  als  dich  selbst"  bestreiten,  trotz  dessen  von  niemand 
zu  leugnenden  Beschränkung  auf  die  Angehörigen  und  Schützlinge  des 
eigenen  Volkes.  Aber  so  freudig  dem  Judentum  zu  geben  ist,  was 
sein  ist,  so  ehrlich  gebe  man  den  andern  Völkern,  was  ihrer  ist,  gebe 
man  Gott,  was  Gottes  ist.  Es  darf  nicht  geduldet  werden,  daß 
auch  die  Tugend  der  Nächstenliebe  zu  einem  Monopol  des  israelitischen 
Volkes  gestempelt  und  solch  unwahre  Worte  in  die  Welt  hinaus 
geschrieben  werden  wie  das  von  E .  S  e  1 1  i  n  (in  Evangelische  Kirchen- 


Autnerkungen.  I23 

Zeitung  für  Österreich  Nr.  14,  15.  Juli  igoj,  S.  210).  daß  ,. die  Grund- 
prinzipien aller  wahren  Sittlichkeit,  die  Liebe,  den  Nächsten  zu  lieben 
wie  sich  selbst,  in  Babylon  absolut  keine  Analoga  habe. 
Erscheint  es  schon  von  vornherein  als  undenkbar,  daß  die  B  ibylonier, 
die  sich  gleich  den  Hebräern  ganz  und  gar  abhängig  wußten  von  der 
göttlichen  Gnade,  ihrerseits  gegen  ihre  Mitmenschen  keine  Liebe,  kein 
Krbarinen  gekannt  hätten,  so  wird  jene  Behauptung  Lügen  gestraff 
durch  das  klare  Zeugnis  der  Denkmäler.  Schon  in  Babel  und  Bibel  I 
S.  39  wies  ich  darauf  hin,  wie  beim  Forschen  nach  der  Ursache  des 
göttlichen  Zorns  auch  gefragt  wird:  ,,Hat  er  einen  Festgenommenen 
nicht  freigelassen?  einen  Gebundenen  nicht  gelöst?  einen  Gefangenen 
nicht  sehen  lassen  das  Licht?"  lu  einer  Sammlung  babylonischer 
Weisheitssprüche  aber  (K.  7897,  veröffentlicht  und  übersetzt  von 
K.  D.  Macmillan  in  den  Beiträgen  zur  Assyriologie  V,  1905)  lesen 
wir  —  einem  Juwel  vergleichbar,  dessen  Lichtglanz  unberührt  bleibt 
von  Ort  und  von  Zeit  —  die  Ermahnung  des  babylonischen  Weisen, 
dem  Nächsten  Liebe  zu  erzeigen,  ihn  nicht  zu  verachten 
oder  herrisch  zu  unterdiücken,  was  notwendig  Gottes  Zorn  herbei- 
führe, vielmehr  den,  der  da  bittet,  zu  speisen  und  zu  tränken,  was 
Gottes  Wohlgefallen  sei,  hilfreich  zu  sein  und  Gutes  zu  tun  allerwege. 
Und  indem  wir  uns  in  Sprüche  wie  diese  versenken,  werden  wir 
freudig  inne,  daß  der  allbarmherzige  Gott,  der  die  Liebe  ist,  seine 
himmlischen  Tugenden  nicht  Einem  Volke  allein  zu  eigen  gegeben 
hat,  sondern  daß  sein  Erbarmen  reicht  so  weit  die  Wolken  reichen  und 
darum  seinen  Abglanz  findet  in  den  Menschenherzen  allüberall.  Und 
jene  Ermahnungen  standen  nicht  nur  auf  dem  Ton,  sondern  wir 
lesen  auch  Beispiele  ihrer  sogar  auf  Sklaven  und  Sklavinnen  aus- 
gedehnten Betätigimg.  Das  biblische  Königsbuch  selbst  schheßt  mit 
der  Erzählung  eines  Gnadenaktes  des  babylonischen  Königs  gegen  einen 
ihm  feindlichen  Volksfremden,  nämlich  der  Befreiung  des  judäischen 
Königs  Jehoj  achin  aus  dem  Kerker  durch  Nebukadnezars  Sohn  Evil- 
merodach. 

47.  In  seiner  Entgegnung  auf  ,,die  große  Täuschung"  sagt  Rabbiner 
Dr.  Beermann-Heilbronn  auf  S.  lof.  folgendes:  ,,Ein  schönes  Muster- 
beispiel für  D.'s  Gerechtigkeit  folge  hier.  D.  kann  nicht  leugnen,  daß 
Lev  19''  das  Gebot  der  Nächstenliebe  auf  den  Ger  ausgedehnt  wird. 
Gemeint  sind  aber  nach  ihm  die  beschnittenen  Schützlinge,  trotzdem 
Ex  22^°:  denn  ihr  seid  Gerim  gewesen  im  Lande  Ägyptens,  das  Un- 
mögliche seiner  Auffassung  ihm  hätte  zum  Bewußtsein  bringen  müssen. 
Ger  ist  der  Volksfremde,  der  Lev  19^®  als  ein  Mensch  ,,wie  Du"  der 
allgemeinen  Liebe  und  Förderung  empfohlen  wird."  Der  Passus  ist 
ein  schönes  Musterbeispiel  für  die  unglaubliche  Seichtheit,  Oberfläch- 
lichkeit und  Unwissenschaftlichkeit,  mit  welcher  Rabbiner  zu  polemi- 


1 2A  Anmerkungen. 

sieren  pflegen.  Das  zweimalige  Zitat  Lev  19^'  ist  falsch.  Die  von  B., 
wie  von  einem  Rabbiner  zu  erwarten,  dreist  wieder  aufgewärmte  Be- 
hauptung, daß  hebr.  gir  den  ,,Volksf r emden"  bedeute  (also  eins 
sei  mit  nochrt  u.  a.),  ist,  wie  alle  wirkhchen  Kenner  der  hebräischen 
Sprache  einhellig  anerkennen,  eine  lexikalische  Unwahrheit.  Jakob  und 
seine  Familienangehörige  waren  als  gSrtm  d.i.  ,, Gäste,  Schützlinge" 
Josephsund  des  Pharao  nach  Ägypten  gekommen,  wie  Gen  47  *  (lägür 
bääres  bänü)  mit  klaren  Worten  bezeugt.  Ob  es  sich  auf  die  Länge 
überhaupt  lohnt,    mit  Rabbinern    wie  Dr.  Beermann   zu  diskutieren  ? 

48.  Daß  das  Buch  Esther  als  eine  Art  historischer  Roman  und  nicht 
als  geschichtlicher  Bericht  zu  betrachten  sei,  ist  auch  meine  Ansicht. 
Worauf  es  aber  für  unsere  Betrachtung  allein  ankommt,  hat  bereits 
Kautzsch  in  seinem  Abriß  der  Geschichte  des  alttestamentlichen 
Schrifttums  S.  201  in  die  Worte  gefaßt:  ,,Im  Buche  Esther  spricht  sich 
ein  solcher  nationaler  Dünkel  xmd  ein  solcher  Haß  gegen  die  andern 
Völker  aus,  daß  man  es  begreifen  kann,  wenn  selbst  bei  den  Juden 
(die  doch  nachmals  dieses  Buch  höher  als  alle  Propheten  geschätzt 
haben!),  geschweige  bei  den  Christen,  starke  Bedenken  gegen  die 
Kanonizität  erhoben  worden  sind.  Gegenüber  dem  irregeleiteten  apo- 
logetischen Eifer,  der  um  der  jüdischen  Tradition  willen  dem  Buch 
Esther  die  gleiche  Würde  und  Geltung  zuerkennen  will,  wie  den  Aus- 
sprüchen eines  Jesaja  oder  Jeremia,  hat  ein  Christ  das  Recht,  an  das 
Wort  des  Herrn  zu  erinnern :  Wisset  ihr  nicht,  welches  Geistes  Kinder 
ihr  seid  ?" 

49.  Beide  Aufrufe  haben  augenscheinlich  jüdische  Verfasser  und  geben 
durch  ihren  Inhalt  manchen  dankenswerten  Wink  bezüglich  der  in 
jüdischen  deutschen  Kreisen  herrschenden  Anschautingen.  Zwar  der 
zweite  Aufruf  des  ,, Volkskraftbundes",  an  welchem  bemerkenswert  ist, 
wie  er  überhaupt  nur  noch  zwischen  ,, jüdischen"  und  ,, nicht  jüdischen 
Volksgenossen"  innerhalb  Deutschlands  unterscheidet,  bleibe  hier  unbe- 
rücksichtigt. Dagegen  verdient  der  erstgenannte  Aufruf  „Pro  Palaestina" 
schon  um  dessentwillen  nähere  Beleuchtung,  als  er  die  Unterschrift  und 
damit  Zustimmung  vieler  bekannter,  z.  T.  führender  Persönhchkeiten 
gefunden  hat.  Ich  für  meine  Person  glaube,  daß  in  ihm  Wahres  xmd 
Falsches  bedenklich  gemischt  sind.  Der  Aufruf  will  dafür  werben,  daß 
,,das  jüdische  Volk  auf  dem  alten  historischen  Boden  Palästinas  eine 
nationale  Heimstätte  jüdischer  Kultvu:  und  Wirtschaft  errichte,  die  in 
allmählicher  Entwickelung  einen  Teil  des  jüdischen  Volkes  in  sich  auf- 
nehmen soll",  und  daß  ebendamit  ,, in  der  jüdischen  Frage  gründlich 
Wandel  geschaffen  werde".  Diesen  letzten  Optimismus  dürften  wenige 
Einsichtige  teilen.  Denn  so  sehr  den  Zionisten,  die  treu  und  wahrhaft 
zu  dem  Gotte  ihrer  Väter  sich  bekennen,  ein  neues  staatliches  Leben 
auf  palästinensischem  Boden  von  Herzen  zu  gönnen  ist,    obschon  sie 


AniiurkuiigtMi.  125 

fiu  historisches  Anrecht  auf  raliistiiia,  wie  diese  Schrift  S.  ih — 49 
V^czcigt  hat.  nicht  besitzen,  so  ist  doch  KCßt^»  ^1«^"  Ranzen  Plan  mit 
einem  ausf^ezeichneten  Keinier  der  Verhältnisse  von  vornherein  einzu- 
wenden: ,,Wie  will  man  in  einem  Lande,  das  jetzt  */^  Millionen  dürftig 
ernährt  und  das  bei  intensivem  Anbau  (soweit  solcher  möglich)  allenfalls, 
und  nur  sehr  allenfalls,  das  Doppelte  ernähren  könnte,  wo  Bargeld  aber 
nicht  zu  verdienen  und  wo  alles  gute  Land  längst  in  festen  Händen  ist, 
Millionen  von  Ksseru  unterbringen?"  Aber  auch  wenn  England  und 
l<*rankreich  dem  jüdischen  Volke  ganz  Palästina  mit  Syrien  bis  an  die 
Ufer  des  Euphrats  nach  Jahos  Verheißung  zur  Verfügung  stellen  würde 
—  welche  Naivität,  zu  glauben,  daß  das  jüdische  Volk  dorthin  7nrück- 
kehren  und  seinem  Nationalgotte  Jaho  spät  zwar,  aber  doch  noch  zur 
VerwirkUchung  aller  seiner  Verheißungen  verhelfen  würde,  denen  zu- 
folge Allisrael  in  Jerusalem  und  dem  heiligen  Lande  zuhauf  gebracht 
werden  solle?  Von  einer  verhältnismäßig  kleinen  Zahl  wirklich  gläubiger 
Zionisten  und  einer  größeren  Menge  allerärmster  Juden  abgesehen, 
dürfte  es  keinem  Juden  in  Deutschland  (sowenig  wie  allüberall  sonst) 
einfallen,  dieses  gastliche  Land,  das  dem  jüdischen  Volke  vollkommenste 
Freiheit  und  Sicherheit  gegeben  und  in  dem  es  zu  Ansehen,  Wohlstand 
und  Reichtum  gelangte,  zu  verlassen.  Das  fiel  ja  dem  jüdischen  Volke, 
•wie  wir  sahen,  schon  zur  Zeit  des  Königs  Cyrus  nicht  ein,  wo  die  große 
Mehrzahl  der  Juden  in  dem  verhaßten  Babylonien  bheb,  um  Geld  zu 
verdienen,  und  wird  ilmi  ebenjetzt,  wo  es,  wenigstens  in  Deutschland, 
so  mächtig  geworden  ist  wie  nie  zuvor,  erst  recht  nicht  einfallen.  Hier- 
nach dürfte  sich  die  Hoffnung,  daß  durch  die  Rückkehr  nach  Palästina 
in  der  jüdischen  Frage  ,, gründlich  Wandel"  geschaffen  werde,  als 
trügerisch  erweisen. 

Auch  noch  eine  andere  Behauptung  jenes  Aufrufs  bedarf  der  Richtig- 
stellung, nämlich  der  den  abendländischen  Völkern  gemachte  Vorwurf, 
daß  sie  ,,das  jüdische  Volk  in  der  Entwickelung  seiner  na- 
tionalen Eigenart  hemmen".  Entwickelung  seiner  nationalen 
Eigenart.  Es  wird  also  dem  deutschen  Volke  unzweideutig  vor 
Augen  gehalten,  daß  das  jüdische  Volk  eine  besondere  Nation 
mit  besonderer  nationaler  Eigenart  ist  und  sein  will,  woraus  mit 
zwingender  Notwendigkeit  folgt,  daß  der  Jude  sowenig  ein  Deutscher 
ist  wie  der  Deutsche  ein  Jude.  Das  jüdische  Volk  ist  in  der  Tat  eine 
besondere  Nation,  von  alters  her  durch  Jaho,  dem  „Heiligen  Israels", 
von  den  übrigen  Völkern  ,, abgesondert"  (Lev  20'*-'*)  und  dadurch  an 
jedem  Eingehen  in  eine  andere  Nation  gehindert;  es  ist  zugleich  in- 
folge der  ihm  von  seinen  nationalen  ,, Sprechern"  gemachten  maßlosen 
Verheißungen  vom  höchsten  Nationalstolze  beseelt,  dermaßen,  daß  wir 
Deutsche  es  je  und  je  darum  zu  beneiden  allen  Grund  hatten  imd  in 
der  Gegenwart  ganz  besonders  haben.    Darum  hält  es  auch  an  seinem 


120  Anmerkungen. 

besonderen  Gotte,  obwohl  es  dessen  Gesetze  zum  größten  Teil  schon 
längst  nicht  mehr  für  verbindlich  erachtet,  mit  gleicher  Zähigkeit  fest, 
wie  z.  B.  an  seiner  eigenen  Zeitrechnung.  Kein  denkender  Jude,  welcher 
glaubt,  daß  die  Welt  in  der  Nacht  zum  7.  Oktober  3761  v.  Chr.  ge- 
schaffen worden  sei  —  trotzdem  ist  diese  Ära  der  Weltschöpfung  noch 
heute  beim  jüdischen  Volke  in  allen  rehgiösen  Angelegenheiten  üblich: 
bei  Fest-  und  Fasttagen,  in  Trauungs-  und  Scheideurkunden,  auf  Grab- 
steinen, hebräischen  Buchtiteln,  im  privaten  Briefverkehr  zwischen 
traditionstreuen  Juden  usw.  Das  jüdische  Volk  hat  seine  eigene,  he- 
bräische, Sprache,  die  es  nach  der  Rückkehr  nach  Palästina  auch  als 
I,andessprache  einzuführen  entschlossen  ist;  es  hat  seine  eigenen  Feste, 
Speise-  und  Schlachtungs Vorschriften;  es  hat  endhch  in  der  von  den 
Ägyptern  überkommenen  Beschneidung  nach  Art  der  bei  den  wilden 
Völkern  beliebten  Stigmatisierungen  ein  äußeres  Merkmal,  das  jeden 
männlichen  Volksangehörigen  zum  selbständigen  Mitglied  seines  Volkes 
stempelt  und  kraft  dessen  Israel  alle  übrigen  Völker  als  Göjtm  oder 
Heiden  zu  allen  Zeiten  verachtet  hat.  Noch  einmal:  das  jüdische  Volk 
ist  in  der  Tat  eine  besondere  Nation  und  ist  stolz  darauf,  eine 
solche  zu  sein  und  zu  bleiben,  trotz  ihres  freiwillig  gewählten  vater- 
landslosen, internationalen  Charakters.  Die  große  und  schwierige  Frage 
bleibt  nur,  ob  zwei  Nationen,  noch  dazu  zwei  nach  Rasse  und 
Religion,  Denkungsart,  Lebensauffassung  und  Gewohnheiten  so  grtmd- 
verschiedene  Nationen  wie  die  jüdische  und  deutsche  auf  dem  Boden 
Eines  Landes  eine  jede  ihre  besondere  nationale  Eigen- 
art nebeneinander  entwickeln  können,  ohne  daß  schwere  Konflikte 
unvermeidlich  sind,  wenn  das  Gastvolk  —  imd  dies  bleibt  doch  das 
jüdische  Volk  trotz  aller  bürgerlichen  Gleichberechtigtheit  —  nicht  takt- 
voll bemüht  bleibt,  die  Interessen,  Institutionen,  die  ReUgion  usw.  des 
einheimischen  Volkes  zu  achten  und  zum  mindesten  ihnen  nicht  entgegen- 
zuarbeiten. Die  Zahl  solcher  ,, nationaldeutschen'  Juden,  d.  h.  deutsch 
denkenden  und  fühlenden  Juden,  mag  keine  geringe  sein,  aber  auf  jenen 
Aufruf  ,,Pro  Palaestina"  haben  sie  offenbar  keinen  Einfluß  ausgeübt, 
denn  sonst  könnte  dieser  nicht  die  faustdicke  objektive  Unwahrheit 
enthalten,  daß  ,,das  jüdische  Volk  von  den  abendländischen  Völkern 
(also  auch  von  Deutschland)  in  der  Entwickelimg  seiner  nationalen 
Eigenart  gehemmt  werde!"  Beruht  doch,  für  jeden  Nicht-Blinden 
erkennbar,  Deutschlands  Niedergang  und  trostlose  Gegenwart  nicht 
zum  wenigsten  auf  der  ungehemmten  Entfaltung  jüdischer 
Eigenart  auf  deutschem  Boden!  Hierin  Wandel,  gründlich  Wandel 
zu  schaffen,  sollten  alle  deutschen  und  christlichen  Männer  und  Frauen 
als  ihre  dermalige  heiligste  Aufgabe  betrachten  —  furchtlos  und  be- 
harrlich ! 


Anhang 


Israelitische  Gesetze 

älterer  (Ex),  jüngerer  (Dt)  und  jüngster  (Lev)  Kodifizierung 

(mit  Ausschluß  der  Speise-,  Kultus-  und  Priestergesetze),  * 

Richter  und  Zeugen 

Ex:  (i)  Den  Großen  sollst  du  nicht  bevorzugen  in  seinem 
Rechtsstreit  (2  3  3). 

(2)  Du  sollst  das  Recht  deines  Armen  nicht  beugen  in 
seinem  Rechtsstreit  (23®). 

(3)  Und  Bestechung  sollst  du  nicht  annehmen,  denn  die 
Bestechung  macht  die  Sehenden  blind  und  verkehrt  die 
Sachen  der  Gerechten  (23*). 

(4)  Biete  deine  Hand  nicht  einem  Frevler,  als  Ver- 
gewaltigungszeuge ^  zu  dienen  (23^''). 

(5)  Du  sollst  nicht  der  Mehrheit  folgen  zu  Bösem  tmd 
nicht  gegen  einen  Streitenden  das  Wort  nehmen,  im  Ge- 
folge der  Mehrheit  [das  Recht]  zu  beugen  (2  3  2). 

(6)  Von  Lügenrede  halte  dich  fern,  und  Unschuldigen 
und  Gerechten  töte  nicht  (nämhch  durch  das  Zeugnis), 
denn  ich  werde  nicht  für  gerecht  erklären  den  Frevler  (23'). 

Dt :  (7)  Richter  und  Amtleute  sollst  du  dir  in  allen  deinen 
Ortschaften,  die  Jaho,  dein  Gott,  dir  nach  deinen  Stämmen 
gibt,  einsetzen,  und  sie  sollen  das  Volk  mit  Gerechtigkeit 
richten  (16  ^8). 

(8)  Du  sollst  das  Recht  lucht  beugen,  nicht  die  Person 
ansehen  und  nicht  Bestechung  annehmen,  deim  die  Be- 
stechung macht  bHnd  die  Augen  der  Weisen  und  verkehrt 

^)  Eckige  Klammern  enthalten  Zusätze,  die  die  Versionen  bieten, 
nmde  Klammem  enthalten  erklärende  Zusätze.  —  HK  bezeichnet  das 
babylonische  Gesetzbuch  des  Königs  Hammurabi. 

')  Vergewaltigung  seil,  der  Wahrheit. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täaschung.     I  a 


j-SQ  Richter  und  Zeugen. 

die  Sachen  der  Gerechten.  Der  Gerechtigkeit,  der  Ge- 
rechtigkeit sollst  du  nachjagen,  damit  du  lebest  und  in 
Besitz  nehmest  das  Land,  das  Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt 

(9)  Du  sollst  nicht  beugen  das  Recht  eines  Schütz- 
lings .  .  .  ^  und  sollst  gedenken,  daß  du  Sklave  warst  in 
Ägypten  und  Jaho,  dein  Gott,  dich  von  dort  erlöst  hat. 
Darum  befehle  ich  dir  dieses  zu  tun  (24^'"-  ^^). 

(ig)  Nicht  soll  Hin  Zeuge  wider  jemanden  aufstehen 
betreffs  irgendeiner  Missetat  und  betreffs  irgendeines  Ver- 
gehens —  bei  jeder  Verfehlung,  die  er  sich  zuschulden 
kommen  läßt,  soll  auf  der  Aussage  von  zwei  Zeugen  oder 
auf  der  Aussage  von  drei  Zeugen  die  Sache  ruhen  (19^*).^ 

(11)  Wenn  ein  Vergewaltigungszeuge  wider  jemand  auf- 
steht, Lüge  wider  ihn  auszusagen,  so  sollen  die  beiden 
Männer,  die  den  Rechtsstreit  haben,  vor  Jaho,  vor  die 
Priester  und  die  Richter,  die  in  jenen  Tagen  sein  werden, 
treten,  und  die  Richter  sollen  sorgfältig  forschen,  und 
siehe!  ist  ein  Lügenzeuge  der  Zeuge,  hat  er  Lüge  aus- 
gesagt wider  seinen  Bruder,  so  sollt  ihr  ihm  tun,  wie  er 
seinem  Bruder  zu  tun  gedachte,  imd  du  sollst  wegräumen 
das  Böse  aus  deiner  Mitte.  Und  die  übrigen  sollen  es  hören 
und  sich  fürchten  und  nicht  fortfahren,  femer  solches 
Böse  in  deiner  Mitte  zu  tun.  Dein  Auge  soll  kein  Mitleid 
haben:  Leben  um  Leben,  Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn, 
Hand  um  Hand,  Fuß  um  Fuß  {ig^^-^"-). 

Vgl.  Lev  19^^"  ^^'.     Desgl.  das  sogen.  8.  Gebot. 

HK:  (§  i)  Wenn  jemand  jemanden  beschuldigt  und  ihn  eines  Morde» 
bezichtigt  und  es  nicht  beweist,  so  soll  der,  der  ihn  beschuldigt  hat, 
getötet  werden. 

1)  Folgt:  „und  nicht  pfänden  das  Kleid  einer  Wjtwe".  Der  Zusatz» 
der  zur  Begriindimg  nicht  paßt,  hatte  wiederum  den  weiteren  Zusatz 
, .Waise"  zu  „Schützling"  zur  Folge.  —  Vgl.  271»;  Verflucht  sei,  wer 
das  Recht  eines  Schützlings,  einer  Waise  und  Witwe  beugt. 

*)  Vgl.  Dt  178 :  Auf  Grund  der  Aussage  von  zwei  Zeugen  oder  drei 
Zeugen  soll  der  zu  Tötende  getötet  werden,  nicht  soll  er  getötet  werden 
auf  Gnmd  der  Aussage  Eines  Zeugen.' 


Strafvollzug.  I^I 

(§  3)  Wenn  jemaud  in  einem  Rechtsstreit  mit  einem  Lügenzeugnis 
hervortritt  und  seine  Aussage  nicht  beweist,  so  soll,  wenn  jener  Rechts- 
streit ein  Rechtsstreit  ums  l,eben  ist,  jener  Mensch  getötet  werden, 

(§  4)  Wenn  er  zur  Zeugenschaft  in  Sachen  von  Korn  und  von  Geld  (mit 
einem  Lügenzeugnis)  hervortritt,  so  soll  er  die  Strafe  jenes  Rechts- 
streites tragen. 

(§  5)  Wenn  ein  Richter  Recht  spricht,  <las  Urteil  fällt,  eine  Urkunde 
ausfertigen  läßt,  nachher  seinen  Rechtsspruch  ändert,  so  soll  man 
jenen  Richter  ob  der  Änderung  seines  Rechtsspruches  vor  Gericht 
stellen  und  er  das  Klageobjekt,  um  das  es  sich  in  jenem  Rechtsstreit 
gehandelt,  zwölffach  geben;  auch  soll  man  ihn  öffentlich  von  seinem 
Richterstuhl  entfernen  und  er  mit  den  Richtern  nicht  wieder  zu  Gericht 
sitzen. 

Gerechtes  Gericht  ohne  Ansehen  der  Person,  ohne  Annahme  von 
Bestechimg  (Dt  i^"),  war  auch  bei  den  Babyloniem  die  Gnmdf orde- 
rung an  die  Richter. 

Strafvollzug 

Dt:  (12)  Nicht  sollen  getötet  werden  Väter  mitsamt 
(oder :  von  wegen)  Söhnen  mid  Söhne  sollen  nicht  getötet 
werden  mitsamt  (oder:  von  wegen)  Vätern  —  jeder  soll 
für  sein  Vergehen  getötet  werden  (24^^).^ 

(13)  Wenn  zwischen  Männern  Streit  ist  und  sie  vor 
Gericht  gebracht  wurden  und  man  ihnen  das  Urteil  ge- 
sprochen imd  den  Gerechten  für  gerecht  erklärt  und  den 
Frevler  verurteilt  hat,  so  soll,  falls  der  Frevler  die  Prügel- 
strafe verwirkt  hat,  der  Richter  ihn  sich  hinlegen  lassen 
und  ihm  in  seinem  Beisein  Schläge  geben  (lassen),  seinem 
Frevel  entsprechend  an  Zahl.  Vierzig  Schläge  soll  er  ihm 
geben  (lassen),  nicht  mehr,  daß  er  ihn  nicht  über  diese 
hinaus  viel  schlage,  und  dein  Bruder  verunehrt  werde  in 
deinen  Augen  (25^"'). 

(14)  Wenn  jemand  durch  ein  Vergehen  die  Todesstrafe 
verwirkt  hat  und  er  getötet  wurde  und  du  ihn  an  einen 
Baum  gehängt  hast,  so  soll  sein  Leichnam  nicht  auf  dem 
Baume  über  Nacht  bleiben,  sondern  du  sollst  ihn  am 

^)  Dieses  Gesetz  ist  2  Kö  14*  (vgl.  2  Cht  25*)  zitiert  aus  dem  „Buch 
der  Thora  Mosis". 


J02  Behandlung  hebräischer  Sklaven 

selbigen  Tage  begraben,  denn  ein  Fluch  Gottes  ist  ein 
Gehängter,  und  nicht  sollst  du  deinen  Erdboden  verun- 
reinigen, den  Jaho,  dein  Gott,  dir  als  Erbteil  gibt  (21  ^^'•). 

Zu  obigem  Gesetze  12  vgl.  das  assyr.  Gesetz  {§  2):  Wenn  ein  Weib, 
sei  es  jemandes  Ehefrau,  sei  es  jemandes  Tochter,  schimpft  oder  in 
gemeiner  Rede  sich  ergeht,  so  soll  jenes  Weib  seine  Schuld  büßen. 
Ihrem  Mann,  ihren  Söhnen,  ihren  Töchtern  kann  man  nicht  nahe- 
treten. 

Behandlung  hebräischer  Sklaven 

Ex :  (15)  Wenn  du  einen  hebräischen  Sklaven  kaufst,  ^ 
soll  er  sechs  Jahre  Sklave  sein,  aber  im  siebenten  frei  aus- 
gehen unentgeltlich.  Wenn  er  ledig  (eig. :  nur  für  seine 
Person)  kommt,  soll  er  ledig  ausgehen ;  wenn  er  verheiratet 
ist,  so  soll  seine  Frau  mit  ihm  ausgehen  (21 2*-). 

(16)  Wenn  sein  Herr  ihm  eine  Frau  gibt  und  sie  ihm 
Söhne  oder  Töchter  gebiert,  gehören  die  Frau  und  ihre 
Kinder  ihrem  Herrn,  während  er  ledig  ausgeht  (21*). 

(17)  Sagt  aber  der  Sklave:  ,,Ich  habe  lieb  meinen 
Herrn,  meine  Frau  und  meine  Kinder,  ich  will  nicht  frei- 
gelassen sein",  so  soll  ihn  sein  Herr  vor  Gott  führen  imd 
ihn  an  die  Tür  oder  an  den  Türpfosten  heranbringen,  imd 
sein  Herr  sein  Ohr  mit  dem  Pfriemen  durchstechen,  und 
er  ihm  Sklave  sein  für  immer  (2i^'*). 

(18)  Und  wenn  jemand  seine  Tochter  als  Sklavin  ver- 
kauft, soll  sie  nicht  ausgehen  ^  wie  die  Sklaven  ausgehen. 
Weim  sie  ihrem  Herrn,  für  den  er  (der  Verkäufer)  sie  be- 
stimmt hatte,  mißfällt,  so  soll  er  sie  loskaufen  lassen, 
an  ein  fremdes  Volk  hat  er  nicht  die  Macht  sie  zu  ver- 
kaufen, wenn  er  treulos  an  ihr  handelt.    Und  wenn  er  sie 


^)  Nämlich  von  seinem  Vater,  s.  Gesetz  Nr.  18. 

2)  D.  h.  hingegeben  werden?  Die  Tochter  eines  freien  Mannes  kann 
nicht,  auch  wenn  sie  verkauft  wird,  an  einen  Sklaven  verheiratet 
werden  —  das  bleibt  ganz  außer  Betracht.  Nur  der  Käufer  selbst  oder 
dessen  Sohn  können  mögHcherweise  sie  zum  Weibe  bzw.  Neben weibe 
nehmen. 


Behandlung  hebräischer  Sklaven.  1^3 

für  seinen  (des  Käufers)  Solm  bestimmt,  soll  er  (dieser) 
sie  nach  Art  der  Töchter  behandeln.  Wenn  er  (noch)  eine 
andere  sich  nimmt,  soll  er  ihr  Fleisch,^  ihre  Kleidung  und 
ihre  Beiwohnung  nicht  verkürzen.  Wenn  er  ihr  diese  drei 
Dinge  nicht  tut,  so  soll  sie  umsonst  ohne  Entgelt  aus- 
gehen 2  (21'-"). 

Dt:  (19)  Wenn  dir  dein  Bruder,  der  Hebräer  oder  die 
Hebräerin,  verkauft  wird  und  dir  sechs  Jahre  Sklave  ge- 
wesen, sollst  du  ihn  im  siebenten  Jahre  von  dir  frei  ent- 
lassen. Und  wenn  du  ihn  von  dir  frei  entlassest,  sollst  du 
ihn  nicht  leer  entlassen.  Ein  Angebinde  sollst  du  ihm 
geben;  von  deinem  Kleinvieh  und  von  deiner  Tenne  und 
von  deiner  Kufe,  womit  Jaho,  dein  Gott,  dich  gesegnet 
hat,  sollst  du  ihm  geben  und  gedenken,  daß  du  ein  Sklave 
gewesen  im  Lande  Ägypten  und  Jaho,  dein  Gott,  dich 
erlöste.    Deshalb   befehle  ich   dir  dieses  heute  (15  ^2~^^). 

(20)  Falls  er  aber  zu  dir  sagt:  ,,Ich  will  von  dir  nicht 
weggehen",  da  er  dich  und  dein  Haus  lieb  hat,  da  es  ihm 
bei  dir  gut  geht,  so  sollst  du  den  Pfriemen  nehmen  luid 
durch  sein  Ohr  und  den  Türflügel  tun,  und  er  soll  dir 
Sklave  sein  für  immer.    Auch  deiner  Sklavin  sollst  du  so 

tun  (i5^«'-)- 

(21)  Nicht  soll  es  dir  hart  erscheinen,  wenn  du  ihn  frei 
von  dir  entlassest,  denn  das  Doppelte  des  Lohnes  eines 
Lohnarbeiters  hat  er  dir  sechs  Jahre  als  Sklave  gedient,^ 
und  Jaho,  dein  Gott,  in  allem  deinem  Tun  dich  gesegnet 
(V.  18). 

Lev :  (22)  Wenn  dein  Bruder  bei  dir  verarmt  und  sich 
dir  verkauft,  sollst  du  ihn  nicht  Sklavendienste  dienen 
lassen.  Wie  ein  Lohnarbeiter,  wie  ein  Beisaß  soll  er  bei 
dir  sein,  bis  zum  Jubeljahre  soll  er  bei  dir  dienen,  dann 
aber  von  dir  entlassen  werden,  er  und  seine  Söhne  mit 


^)  se'sräh  kaum    ,,thre  Fleischnahrung"    (Kautzsch),  sondern  ihren 
Leib,  d.  h.  ihr  leibliches  Wohl,  also  vor  allem  ihre  Emähnmg. 
*)  D.  h.  ohne  I/)skauf  in  das  Vaterhaus  zurückkehren. 
')  Der  Sklave  arbeitet  also  doppelt  so  viel  wie  ein  L,ohnarbeiter. 


134 


Darlehen. 


ihm,  und  zu  seinem  Geschlechte  zurückkehren  und  wieder 
zum  Besitztum  seiner  Väter  gelangen.  Denn  meine 
Einechte  sind  sie,  die  ich  aus  dem  Lande  Ägypten  heraus- 
geführt habe,  nicht  dürfen  sie  sich  verkaufen,  wie  man 
einen  Sklaven  verkauft.  Du  sollst  ihn  nicht  gewalttätig 
beherrschen,  sondern  dich  fürchten  vor  deinem  Gott. 
Dein  Sklave  und  deine  Sklavin,  die  dir  (dauernd)  gehören 
—  von  den  Völkern  rings  um  dich  her,  von  ihnen  mögt 
ihr  Sklave  und  Sklavin  kaufen  (25^^-**). 

HK:  (§  117)  Wenn  jemand  eine  Schuldverpflichtung  bedrängt  und 
er  seine  Gattin,  seinen  Sohn  oder  seine  Tochter  für  Geld  verkauft  oder 
in  Schulddienst  hingibt,  so  sollen  sie  drei  Jahre  im  Hause  ihres  Käufers 
bzw.  ihres  Schuldherm  arbeiten,  im  vierten  Jahre  soll  ihre  Freilassimg 
erfolgen. 

(§  118)  Wenn  er  einen  Sklaven  oder  Sklavin  in  Schulddienst  gibt,  der 
Händler  (Gläubiger)  sie  weiter  verkauft,  so  kann  er  nicht  angefochten 
werden. 

Assyr.  Gesetz:  {§48)  Wenn  jemand  die  Tochter  seines  Schuldners, 
die  als  Schuldverpflichtung  in  seinem  Hause  wohnt,  von  ihrem  Vater 
erbittet,  mag  er  sie  dem  Gatten  geben;  wenn  ihr  Vater  nicht  willens 
ist,  braucht  er  es  nicht  zu  tun. 

Darlehen 

Ex:  (23)  Werm  du  meinem  Volksangehörigen,  dem  bei 
dir  befindhchen  armen,  Geld  borgst,  sollst  du  ihm  nicht 
wie  ein  Gläubiger  sein,  sollst  ihm  nicht  Wucherzinsen 
auferlegen  (22^*). 

Dt:  (24)  Nicht  sollst  du  von  deinem  Bruder  Wucher- 
zinsen nehmen,  Wucher  von  Geld,  Wucher  von  Nahrungs- 
mitteln, Wucher  von  allem  Verzinshchen.  Von  dem  Aus- 
länder magst  du  Wucherzinsen  nehmen,  aber  von  deinem 
Bruder  sollst  du  Wucherzinsen  nicht  nehmen,  damit  dich 
Jaho,  dein  Gott,  segne  in  aller  deiner  Hantierung  in  dem 
Lande,  in  das  du  kommst,  es  in  Besitz  zu  nehmen  (232°*-). 

Lev :  (25)  Wenn  dein  Bruder  verarmt  und  nicht  mehr 
leistungsfähig  bei  dir  ist,  so  sollst  du  ihn  halten,  daß  er 
bei  dir  am  Leben  bleibe  (?).  Nimm  nicht  von  ihm  Wucher 


Pfändung.  —  Aufbewahrung  und  ähnliches.  135 

und  Zinsen,  sondern  fürchte  dich  vor  deinem  Gott,  daß 
dein  Bruder  bei  dir  am  Leben  bleibe.  Dein  Geld  sollst  du 
ihm  nicht  geben  um  Wucher,  und  um  Zinsen  sollst  du 
deine  Speise  nicht  geben  (25^^"^'). 

Pfändung 

Ex;  (26)  Wenn  du  das  Gewand  deines  Nächsten  pfän- 
dest, sollst  du  bis  Sonnenuntergang  es  ihm  zurückgeben. 
Denn  es  ist  die  einzigste  Deckung  für  seine  Haut,  worin 
soll  er  schlafen?  Und  es  wird  geschehen:  wenn  er  zu  mir 
schreit,  so  werde  ich  hören,  deim  gnädig  bin  ich  (22^^*'). 

Dt:  (27)  Nicht  soll  [ein  Pfändender]  Handmühle  und 
{oder)  oberen  Mühlstein  pfänden,  denn  das  Leben  ^  würde 
er  pfänden  (24^). 

(28)  Wenn  du  deinem  Nächsten  irgendetwas  leihst, 
sollst  du  nicht  in  sein  Haus  eingehen,  um  ein  Pfand  von 
ihm  zu  nehmen.  Auf  der  Straße  sollst  du  stehen  bleiben, 
und  der  Mann,  den  du  beleihest,  soll  dir  das  Pfand  auf  die 
Straße  hinausbringen  (24^°'-). 

(29)  Und  wenn  er  ein  armer  Mann  ist,  sollst  du  dich 
nicht  in  seinem  Pfände  schlafen  legen.  Zurückgeben 
.sollst  du  ihm  das  Pfand  bei  Sonnenuntergang,  daß  er  in 
seinem  Gewände  sich  schlafen  lege  und  dich  segne,  so  wird 
dir  Gerechtigkeit  werden  vor  Jaho,  deinem  Gott  (24^^'*). 

{30)  Du  sollst  nicht  pfänden  das  Kleid  einer  Witwe 

Aufbewahrung  und  ähnliches 

Ex:  (31)  Wenn  jemand  seinem  Nächsten  Geld  oder  Ge- 
räte zum  Bewahren  gibt  und  es  aus  dem  Hause  des  Be- 
treffenden gestohlen  wird,  so  soU,  wenn  der  Dieb  gefunden 
wird,  er  (der  Dieb)  doppelt  begleichen.  Wenn  der  Dieb 
nicht  gefunden  wird,  so  soll  der  Hauseigentümer  vor  Gott 

^)  Zn  mahlendes  Brot  =  I<eban. 


I«6  Aufbewahrung  und  ähnliches. 

gebracht  werden  [und  schwören] ,  daß  er  sich  an  der  Habe 
seines  Nächsten  nicht  vergriffen  hat  (22^ ') . 

(32)  Bei  jedem  Gegenstand  einer  Verfehlung :  bei  Stier, 
bei  Esel,  bei  Schaf,  bei  Gewand,  bei  allem  Verloren- 
gegangenen, von  dem  einer  sagt:  das  ist  es,  soll  ihrer 
beider  Sache  vor  Gott  kommen.  Wen  Gott  verurteilt,  soll 
es  seinem  Nächsten  doppelt  begleichen  (22^). 

(33)  Wenn  jemand  seinem  Nächsten  einen  Esel  oder 
Stier  oder  Schaf  und  irgendwelches  Vieh  zum  Bewahren 
gibt  und  es  stirbt  oder  sich  etwas  bricht,  ohne  daß  jemand 
es  sieht,  soll  ein  Schwur  bei  Jaho  zwischen  ihnen  beiden 
statthaben,  daß  er  sich  an  der  Habe  seines  Nächsten  nicht 
vergriffen  hat  —  sein  (des  Tieres)  Eigentümer  soll  es 
nehmen  und  er  (der  es  zur  Bewahrung  genommen)  nicht 
begleichen  (22^  '•) . 

(34)  Wenn  es  ihm  gestohlen  wird,  soll  er  (es)  seinem 
Eigentümer  begleichen  (22^^). 

(35)  Wenn  es  zerrissen  wird,  soll  er  es  als  Zeuge  bringen, 
das  Zerrissene  hat  er  nicht  zu  begleichen  (2  2  ^2). 

(36)  Und  wenn  jemand  von  seinem  Nächsten  (irgend- 
welches Vieh)  leiht  und  es  sich  etwas  bricht  oder  stirbt, 
ohne  daß  sein  Eigentümer  dabei  ist,  hat  er  zu  begleichen. 
Wenn  sein  Eigentümer  dabei  ist,  hat  er  nicht  zu  be- 
gleichen. Wenn  es  gemietet  ist  (?  MT:  wenn  es  ein  Miets- 
arbeiter ist),  .  .  .  seinen  Mietspreis  (22^^*). 

HK:  (§  120)  Wenn  jemand  sein  Kom  zur  Bewahrung  am  Schüttort 
in  jemandes  Haus  aufschüttet  und  im  Gebälk  ein  Defekt  (?)  eintritt 
oder  der  Hausherr  den  Schüttort  öffnet  tmd  Kom  nimmt  oder  das 
Kom,  das  in  seinem  Hause  aufgeschüttet  worden,  überhaupt  leugnet, 
so  soll  der  Komeigentümer  vor  Gott  sein  Kom  abschätzen  imd  der 
Hausherr  das  Kom,  das  er  genommen,  doppelt  dem  Komeigentümer 
geben . 

(§  122)  Wenn  jemand  jemandem  Silber,  Gold  und  sonst  etwas  zur 
Bewahnmg  geben  will,  so  soll  er,  soviel  immer  er  geben  will,  Zeugen 
zeigen,  einen  Vertrag  machen  xmd  es  zur  Bewahnmg  geben. 

{§  123)  Wenn  er  es  ohne  Zeugen  und  Vertrag  zur  Bewahrimg  gibt 
und  man  es  da,  wohin  er  es  gegeben,  ihm  ableugnet,  so  läßt  jener  Rechts- 
fail  eine  Klage  nicht  zu. 


Eltern  und  Kimler.  j_yj 

(§  124)  Wenn  jemand  jemandem  Silber,  Gold  und  sonst  etwas  vor 
Zeugen  zur  Bewahrung;  gibt  und  er  es  ihm  ableugnet,  so  soll  man  jenen 
Menschen  belangen  und,  was  immer  er  geleugnet,  soll  er  doppelt  geben. 

(§  125)  Wenn  jemand  Besitztum  von  sich  zur  Bewahrung  gibt  und 
dort,  wohin  er  es  gegeben,  sei  es  durch  ein  L,ocli,  sei  es  durch  Einsteigen 
sein  Besitztum  mit  Besitztum  des  Hausherrn  verloren  geht,  so  soll  der 
Hausherr,  welcher  lässig  war,  was  immer  er  ihm  zur  Bewahnmg  ge- 
geben hatte  und  er  verloren  gehen  ließ,  vollständig  dem  Eigentümer 
ersetzen.  Der  Hausherr  soll  sein  verlorenes  Besitztum  von  dessen 
Dieb  zu  bekommen  suchen. 

(§  249)  Wenn  jemand  einen  Ochsen  oder  Esel  mietet  imd  auf  freiem 
Felde  ein  Löwe  ihn  tötet,  so  ist  das  Sache  seines  Eigentümers. 

(§  250)  Wenn  jemand  einen  Ochsen  mietet  imd  durch  L,ässigkeit  oder 
durch  Schlagen  seinen  Tod  verursacht,  so  soll  er  einen  gleichwertigen 
Ochsen  dem  Eigentümer  des  Ochsen  ersetzen.  —  Vgl.  §§  251 — 253. 

(§  254)  Wenn  jemand  einen  Ochsen  mietet  und  Gott  ihn  schlägt 
und  er  stirbt,  so  soll  der,  der  den  Ochsen  gemietet,  einen  Eid  leisten 
und  freikommen. 

Eltern  und  Kinder 

Ex:  (37)  Wer  seinen  Vater  und  seine  Mutter  schlägt, 
soll  getötet  werden  (21^^). 

(38)  Wer  seinen  Vater  und  seine  Mutter  verflucht,  soll 
getötet  werden  (21^'). 

Dt:  (39)  Wenn  jemand  einen  widerspenstigen  und  tm- 
gehorsamen  Sohn  hat,  der  nicht  hört  auf  die  Stimme 
seines  Vaters  und  auf  die  Stimme  seiner  Mutter,  und  sie 
ihn  gezüchtigt  haben,  er  aber  ihnen  nicht  gehorcht,  so 
sollen  ihn  sein  Vater  und  seine  Mutter  greifen  und  ihn  zu 
den  Ältesten  seiner  Stadt  und  zu  dem  Tore  seiner  Ort- 
schaft hinausführen  und  zu  den  Ältesten  seiner  Stadt 
sagen:  ,, Unser  Sohn  da  ist  widerspenstig  und  ungehor- 
sam, hört  nicht  auf  unsere  Stimme,  schlemmt  und  säuft", 
so  sollen  ihn  alle  Bewohner  seiner  Stadt  mit  Steinen  tot 
werfen,  und  du  sollst  wegräumen  das  Böse  aus  deiner 
Mitte,  und  ganz  Israel  soll  es  hören  und  sich  fürchten 

(2118-21).  X 

^)  Vgl.  auch  Dt  27  Iß :  Verflucht  sei,  wer  seinen  Vater  und  seine  Mutter 
Teanmehrt. 


jog  Unehelicher  und  widernatürUcher  Beischlaf. 

Lev:  (40)  Ihr  sollt  ein  jeder  seinen  Vater  und  seine 
Mutter  fürchten  (19'). 

(41)  Fürwahr,  jedermann,  der  seinen  Vater  und  seine 
Mutter  verflucht,  soU  getötet  werden.  Seinen  Vater  und 
seine  Mutter  hat  er  verflucht  —  sein  Blut  kostet  es  ihm 
(20»). 

HK:  (§  201)  Wenn  ein  Kind  seinen  Vater  schlägt,  so  soll  man  ihm 
die  Hand  abschneiden. 

(§  170 f.)  Wenn  jemand  sein  Kind  zu  enterben  beabsichtigt,  zu  den 
Richtern  sagt:  „Ich  werde  mein  Kind  enterben",  so  sollen  die  Richter 
seinen  Fall  klarstellen:  wenn  das  Kind  eine  schwere,  die  Enterbung 
verwirkende  Schuld  nicht  auf  sich  geladen  hat,  so  soll  der  Vater  sein 
Kind  nicht  enterben.  Wenn  es  eine  schwere,  die  Enterbung  verwirkende 
Schuld  gegen  seinen  Vater  auf  sich  geladen,  so  soll  man  bei  Einem  Mal 
ihm  verzeihen;  wenn  es  eine  schwere  Schuld  zweimal  auf  sich  lädt,  so 
mag  der  Vater  sein  Kind  enterben. 

Und  vgl.  die  uralten  sumerischen  Gesetze:  Wenn  ein  Kind  zu  seinem 
Vater  spricht:  Du  bist  nicht  mein  Vater  (d.  h.  ihm  den  Gehorsam 
aufkündigt),  so  macht  er  ihm  einen  Einschnitt  (er  „zeichnet"  es), 
legt  ihm  eine  Fessel  an  und  verkauft  es  für  Geld.  —  Wenn  ein  Kind 
zu  seiner  Mutter  spricht:  Du  bist  nicht  meine  Mutter,  so  zeichnet 
man  seine  Stirn,  schließt  es  aus  der  Ortschaft  aus  und  jagt  es  aus 
dem  Hause. 

Unehelicher  und  widernatürlicher  Beischlaf 

Ex :  (42)  Wenn  jemand  eine  Jungfrau,  die  noch  imver- 
lobt  ist,  verführt  und  ihr  beischläft,  so  soll  er  sie  sich 
durch  Braut  gäbe  zur  Frau  erkaufen.  Weigert  sich 
ihr  Vater  sie  ihm  zu  geben,  soll  er  [ihrem  Vater]  Geld  be- 
zahlen entsprechend  der  für  Jungfrauen  üblichen  Braut- 
gabe (22^^'). 

(43)  Jeder,  der  einem  Vieh  beiwohnt,  soll  getötet 
werden  (22^'). 

Dt:  (44)  Wenn  jemand  einer  verheirateten  Frau  bei- 
schlafend getroffen  wird,  so  sollen  alle  beide  sterben:  der 
Mann,  der  der  Frau  beigeschlafen,  und  die  Frau,  und  du 
sollst  wegräumen  das  Böse  aus  Israel  (2  2  ^2). 


Unehelicher  und  widernatürlicher  Beischlaf. 


139 


(45)  Wenn  ein  jungfräuliches  Mädchen  einem  Manne 
verlobt  ist  und  es  trifft  sie  ein  Mann  in  der  Stadt  und 
schläft  ihr  bei,  so  sollt  ihr  sie  beide  zum  Tore  jener  Stadt 
liinausführen  und  sie  mit  Steinen  zu  Tode  steinigen:  das 
Mädchen,  dieweil  es  in  der  »Stadt  nicht  geschrieen  hat,  und 
der  Mann,  dieweil  er  das  Weib  seines  Nächsten  genot- 
züchtigt hat,  und  du  sollst  wegräumen  das  Böse  aus  deiner 
Mitte  (2  2  23'-). 

(46)  Wenn  aber  auf  freiem  Felde  der  Mann  das  ver- 
lobte Mädchen  trifft  und  der  Mann  es  packt  und  ihm  bei- 
schläft, so  soll  der  Mann,  der  ihm  beigeschlafen,  allein 
sterben.  Dem  Mädchen  sollst  du  nichts  tun,  das  Mädchen 
hat  keine  den  Tod  verwirkende  Schuld.  Vielmehr  Hegt 
dieser  Fall,  wie  wenn  jemand  wider  seinen  Nächsten  sich 
erhebt  und  ihn  durch  Mord  des  Lebens  beraubt.  Denn 
auf  freiem  Felde  fand  er  sie  —  schrie  das  verlobte  Mäd- 
chen, so  konnte  niemand  ihm  helfen  {22^^"-). 

(47)  Wenn  jemand  ein  jungfräuliches  Mädchen,  das 
nicht  verlobt  ist,  findet  und  es  greift  und  ihm  beischläft 
und  sie  gefunden  werden,  so  soll  der  Mann,  der  ihm  bei- 
geschlafen, dem  Vater  des  Mädchens  50  Sekel  Silber  geben 
und  sie  soll  seine  Frau  werden.  Dafür,  daß  er  sie  genot- 
züchtigt hat,  kann  er  sie  zeit  seines  Lebens  nicht  entlassen  ^ 
{2228'-). 

(48)  Niemand  soll  die  Frau  seines  Vaters  heiraten 
und   entblößen,   worüber   sein   Vater  die  Decke    breitet 

(23^).'' 

Lev :   (49)  Ein  Mann,  der  die  Ehe  bricht  mit  dem  Weibe 

seines  Nächsten,   soll  getötet  werden,   der  Ehebrecher 
und  die  Ehebrecherin   (20 1®). 

Gegen  Blutschande  und  widernatürlichen  Beischlaf 
s.  i8»-i8-  22  J.  20  "-21. 

^)  Unfähigkeit  sich  scheiden  zu  lassen,  gilt  hiernach  als  Strafe. 

2)  Vgl.  2  7  20;  Verflucht  sei,  wer  der  Frau  seines  Vaters  beiwohnt, 
denn  er  entblößte,  worüber  sein  Vater  die  Decke  gebreitet.  —  Andere 
Verfluchungen  von  widernatürlichem  Beischlaf  s.  2721-23. 


IAO  Ellegesetze. 

HK:  (§  129)  Wenn  jemandes  Frau  mit  einer  andern  Mannsperson 
beim  Schlafen  gefaßt  wird,  so  soll  man  sie  (beide)  binden  imd  ins  Wasser 
werfen. 

(§  130)  Wenn  der  Mann  der  Frau  seiner  Frau  das  Leben  schenken 
will,  mag  auch  der  König  seinem  Knecht  das  Leben  schenken. 

(§  131)  Wenn  jemand  jemandes  Frau,  die  noch  unberührt  geblieben 
ist  und.  noch  im  Hause  ihres  Vaters  wohnt,  vergewaltigt  vmd  bei  ihr 
schläft  imd  man  ihn  faßt,  so  soll  jener  Mensch  getötet  werden,  jenes 
Weib  freikommen. 

(§  156)  Wenn  jemand  seine  Tochter  erkennt,  so  soll  man  jenen  Men- 
schen aus  der  Ortschaft  jagen. 

(§  157)  Wenn  jemand  seinem  Sohn  eine  junge  Frau  wählt  imd  sein 
Sohn  sie  erkennt,  er  selbst  nachher  bei  ihr  schläft  und  man  ihn  faßt, 
so  soll  man  jenen  Menschen  binden  und  ins  Wasser  werfen.  —  Vgl.  §  158. 

(§  159)  Wenn  jemand  nach  dem  Tode  seines  Vaters  bei  seiner  Mutter 
schläft,  so  soll  man  beide  verbrennen. 

(§  160)  Wenn  jemand  nach  dem  Tode  seines  Vaters  bei  seiner  Stief- 
mutter, die  Kinder  geboren,  schlafend  gefaßt  wird,  so  soll  jener  Mensch 
aus  dem  Vaterhause  ausgerottet  werden. 

Ass3rr.  Gesetz:  (§12)  Wenn  jemandes  Ehefrau  über  die  Plätze  geht, 
ein  Mann  sie  packt,  ,,laß  mich  dir  beiwohnen",  zu  ihr  sagt,  sie  nicht 
willens  ist,  sich  wehrt,  er  stärker  ist  imd  sie  packt,  er  ihr  beiwohnt .  .  . 
Zeugen  ihn  überführen,  so  soll  man  den  Mann  töten,  das  Weib  ist  straffrei. 

(§  13)  Wenn  jemandes  Ehefrau  aus  ihrem  Hause  hinausgeht  und  zu 
einem  Manne,  wo  dieser  wohnt,  geht,  er  ihr  beiwohnt,  wissend,  daß 
es  jemandes  Ehefrau  ist,  so  soll  man  Mann  und  Weib  töten. 

(§  19)  Wenn  jemand  insgeheim  seinen  Nächsten  beschuldigt:  „man 
habe  ihm  beigewohnt",  oder  im  Streit  vor  Leuten  zu  ihm  sagt:  ,,man 
hat  dir  beigewohnt,  ich  werde  dich  überführen",  er  die  Überführung 
nicht  vermag,  nicht  überführt,  so  soll  jener  Mensch  50  Stockhiebe 
erhalten,  einen  vollen  Monat  Königsdienst  tun,  man  soll  ihn  .  . .,  auch 
soll  er  I  Talent  Blei  zahlen. 

Ehegesetze 

Dt:  (50)  Wenn  jemand  ein  Weib  nimmt  und  ihm  bei- 
wohnt und  Haß  wider  es  faßt  und  ihm  Böses  nachredet 
und  über  es  einen  schlechten  Ruf  verbreitet  und  sagt: 
Dieses  Weib  habe  ich  genommen  und  habe  mich  ihm  ge- 
naht, aber  keine  Jungfräuhchkeit  an  ihm  gefunden,  so 
soll  der  Vater  des  Mädchens  und  seine  Mutter  (den  Be- 
weis für)  die  Jungfräulichkeit  des  Mädchens  nehmen  und 


UhcKcsct/.e.  I^I 

ZU  den  Ältesten  der  Stadt  in  das  Tor  hinausbringen  und  der 
Vater  des  Mädchens  zu  den  Ältesten  sagen :  Meine  Tochter 
habe  ich  diesem  Manne  zur  Frau  gegeben,  aber  er  hat 
Haß  wider  sie  gefaßt,  und  siehe !  er  hat  [ihr]  Böses  nach- 
geredet: ,, ich  habe  an  deiner  Tochter  keine  Jungfräulich- 
keit gefunden",  aber  hier  ist  (der  Beweis  für)  die  Jung- 
fräuHclikeit  meiner  Tochter,  und  sie  breiten  das  Gewand 
aus  vor  den  Ältesten  der  Stadt,  so  sollen  die  Ältesten 
jener  Stadt  den  Mann  nehmen  und  ihn  strafen  und  ihm 
100  Sekel  Silber  als  Geldstrafe  auferlegen  und  sie  dem 
Vater  des  Mädchens  geben,  weil  er  schlechten  Ruf  über 
eine  Jungfrau  Israels  verbreitet  hat,  und  sie  soll  seine 
Frau  bleiben,  zeit  seines  Lebens  kann  er  sie  nicht  ent- 
lassen (22"-i9).i 

(51)  Wenn  aber  Wahrheit  diese  Rede  gewesen,  Jung- 
fräulichkeit an  dem  Mädchen  nicht  gefunden  wurde,  so 
sollen  sie  das  Mädchen  zur  Türe  ihres  Vaterhauses  hinaus- 
führen und  die  Bewohner  ihrer  Stadt  sie  mit  Steinen  zu 
Tode  steinigen,  weil  sie  eine  Schandtat  in  Israel  begangen, 
zu  huren  im  Hause  ihres  Vaters,  und  du  sollst  wegräumen 
das  Böse  aus  deiner  Mitte  (222*"-). 

(52)  Wenn  jemand  ein  Weib  nimmt  und  es  eheUcht,  so 
soll  er,  wenn  es  kein  Gefallen  in  seinen  Augen  findet, 
indem  er  etwas  Anstößiges  an  ihr  gefunden,  ihr  einen 
Scheidebrief  schreiben  und  ihr  einhändigen  und  sie  aus 
seinem  Hause  entlassen.  Verläßt  sie  sein  Haus  und  geht 
hin  und  verheiratet  sich  mit  einem  anderen  Manne,  und  der 
zweite  Mann  haßt  sie  und  schreibt  ihr  einen  Scheidebrief 
imd  händigt  ihn  ihr  ein  und  entläßt  sie  aus  seinem  Hause, 
oder  wenn  der  zweite  Maim,  der  sie  sich  zur  Frau  ge- 
nommen, stirbt,  so  kann  ihr  erster  Gatte,  der  sie  entlassen, 
sie  nicht  abermals  nehmen,  daß  sie  seine  Frau  werde, 
nachdem  sie  verunreinigt  worden.  Denn  ein  Greuel  ist 
das  vor  Jaho,  und  nicht  sollst  du  in  Schuld  bringen  das 
Land,  welches  Jaho,  dein  Gott,  dir  als  Erbe  gibt  (24^"*). 

1)  Vgl.  S.  139  Anm.  i.    Welche  Ehel 


2^2  Ehegesetze. 

(53) Wenn  jemand  zwei  Frauen  hat,  die  eine  geliebt  und 
die  andere  gehaßt  (d.  h.  weniger  geliebt),  und  sie  ihm 
Söhne  gebären,  die  geliebte  und  die  gehaßte,  und  der  erst- 
geborene Sohn  der  gehaßten  angehört,  so  soll  er,  wann  er 
seine  Söhne  zu  Erben  seiner  Habe  macht,  nicht  den  Sohn 
der  geliebten  zum  Erstgeborenen  machen  können  vor  dem 
erstgeborenen  Sohn  der  gehaßten,  sondern  den  Erst- 
geborenen, den  Sohn  der  gehaßten,  soll  er  anerkennen, 
ihm  doppelten  Anteil  zu  geben  an  allem,  was  ihm  gehörig 
gefunden  wird,  denn  er  ist  der  ErstHng  seiner  Kraft,  sein 
ist  das  Recht  der  Erstgeburt  (21^^"-). 

(54)  Wenn  Brüder  beisammen  wohnen  und  einer  von 
ihnen  stirbt,  ohne  einen  Sohn  zu  haben,  soll  die  Frau  des 
Verstorbenen  nicht  nach  auswärts  einem  fremden  Manne 
zu  eigen  werden  —  ihr  Schwager  soll  zu  ihr  eingehen  und 
sie  sich  zur  Frau  nehmen  und  sie  „beschwagern".  Und  der 
Erstgeborene,  den  sie  gebiert,  soll  auf  den  Namen  seines 
verstorbenen  Bruders  zu  stehen  kommen,  daß  sein  Name 
nicht  ausgetilgt  werde  aus  Israel.  Wenn  der  Betreffende 
aber  keine  Lust  hat,  seine  Schwägerin  zu  heiraten,  so  soll 
seine  Schwägerin  in  das  Tor  zu  den  Ältesten  gehen  und 
sagen:  Mein  Schwager  weigert  sich,  seinem  Bruder  einen 
Namen  in  Israel  bestehen  zu  lassen,  er  wiU  mich  nicht 
„beschwagern",  imd  es  sollen  ihn  die  Ältesten  seiner 
Stadt  rufen  imd  ihm  zureden.  Bleibt  er  dabei  und  sagt: 
Ich  habe  keine  Lust  sie  zu  heiraten,  so  soll  seine  Schwägerin 
vor  den  Augen  der  Ältesten  an  ihn  herantreten  und  ihm 
seinen  Schuh  von  seinem  Fuße  ziehen  und  ihm  ins  Gesicht 
spucken  imd  das  Wort  nehmen  und  sagen :  So  geschehe  dem 
Manne,  der  nicht  baut  das  Haus  seines  Bruders!  imd  es 
heiße  sein  Name  in  Israel  Haus  (Familie)  des  Barfüßers 
(25^-^«). 

Vgl.  zu  50  HK:  (§  127)  Wenn  jemand  eine  Priesterin  oder  jemandes 
Frau  öffentlich  verdächtigt  und  es  nicht  beweist,  so  soll  man  jenen 
Menschen  vor  die  Richter  stellen,  auch  seine  Stirn  mit  einem  Schnitte 
zeichnen  {?). 


Verletzung  durch  Schlagen.  I^'j 

Verletzung  durch  Schlagen 

Ex :  (55)  Wer  einen  Mann  schlägt,  sodaß  er  stirbt,  soll 
getötet  werden  (21^*). 

(56)  Wer  es  aber  nicht  beabsichtigt  hatte,  sondern  Gott 
es  seiner  Hand  zustoßen  ließ,  so  mache  ich  dir  einen  Ort, 
wohin  er  f heben  soll  (2 1  ^^) . 

(57)  Wenn  aber  jemand  gegen  seinen  Nächsten  aufge- 
bracht ist,  ihn  heimtückisch  zu  töten,  so  sollst  du  ihn  von 
meinem  Altar  wegholen,  daß  er  sterbe  (21^*). 

(58)  Wenn  Männer  streiten  und  einer  seinen  Nächsten 
mit  einem  Steine  oder  mit  einem  Knüppel  (?)  schlägt  und 
dieser  nicht  stirbt,  aber  bettlägerig  wird  —  wenn  er  auf- 
kommt und  auf  seiner  Stütze  auf  der  Straße  sich  ergeht, 
so  soll  der  Schläger  freigesprochen  werden,  nur  seine  Un- 
tätigkeit soll  er  zahlen  und  die  Heilung  tragen  (2i^^*"). 

(59)  Wenn  jemand  seinen  Sklaven  oder  seine  Sklavin 

mit  dem  Stocke  schlägt  und  er  (der  Geschlagene)  unter 

seiner  Hand  stirbt,  soll  er  gestraft^  werden.    Indes, 

wenn  er  einen  Tag  oder  zwei  Tage  leben  bleibt,  soll  er 

nicht  gestraft  werden,  deim  er  (der  Sklave)  ist  sein  Geld^ 
(21 20  t) 

(60)  Wenn  jemand  ein  Auge  seines  Sklaven  schlägt  oder 
ein  Auge  seiner  Magd  und  es  zerstört,  soll  er  ihn  anstatt 
seines  Auges  frei  entlassen  (21^"). 

(61)  Wenn  er  einen  Zahn  seines  Sklaven  oder  einen  Zahn 
seiner  Magd  ausschlägt,  soll  er  ihn  anstatt  seines  Zahnes 
frei  entlassen  (21'''). 

(62)  Wenn  Männer  raufen  imd  ein  schwangeres  Weib  so 
treffen,  daß  deren  Kinder  (oder  Singular)  herauskommen, 
aber  (sonst)  kein  Schade  geschieht,  soll  er  mit  einer 
Geldstrafe  belegt  werden,  wie  sie  ihm  der  Khemann 
der  Frau  auferlegt,  und  er  soll  gemäß  dem  Strafurteil  (7)  ^ 

^)  über  das  Wie  verlautet  nichts. 

2)  Das  ist:  sein  für  Geld  erkauftes  Eigentum. 

ä)  Vgl.  die  Gesetze  67  und  68?. 


jAA  Verletzung  durch  Schlagen. 

zahlen.  Wenn  aber  Schade  geschieht,  sollst  du  Leben  für 
Leben  geben,  Auge  für  Auge,  Zahn  für  Zahn,  Hand  für 
Hand,  Fuß  für  Fuß,  Brandmal  für  Brandmal,  Wunde  für 
Wunde,  Strieme  für  Strieme  (2122-26). 

Dt :  (63)  Wenn  Männer  zusammen  raufen,  ein  Mann  und 
sein  Bruder  (Volksgenosse),  imd  die  Frau  des  einen  hinzu- 
kommt, ihren  Mann  aus  der  Hand  dessen,  der  ihn  schlägt, 
zu  erretten,  imd  ihre  Hand  ausstreckt  und  ihn  bei  seinen 
Schamteilen  packt,  so  sollst  du  ihr  mitleidslos  die  Hand  ab- 
hauen (2511'-)- 

Lev:  (64)  Ein  Mann,  der  irgendwelchen  Menschen  durch 
Schlagen  des  Lebens  beraubt,  soll  getötet  werden.  Und 
wer  ein  Vieh  durch  Schlagen  des  Lebens  beraubt,  soll  es 
ersetzen:  Leben  statt  Leben.  Und  ein  Mann,  der  eine  Ver- 
letzimg seinem  Genossen  beibringt  —  wie  er  getan,  so  soll 
ihm  getan  werden  —  Bruch  statt  Bruch,  Auge  statt  Auge, 
Zahn  statt  Zahn.  Wie  er  den  Menschen  verletzt,  soll  er 
verletzt  werden  (24^^—20) 

HK:  (§  212)  Wenn  jemand  jemanden  in  einer  Balgerei  schlägt  und 
eine  Verletztmg  ihm  beibringt,  so  soll  jener  Mensch  schwören:  ,, Wissent- 
lich schlug  ich  ihn  nicht",  auch  den  Arzt  begleichen. 

(§213)  Wenn  er  infolge  seines  Schiagens  stirbt,  so  soll  er  schwören 
imd,  wenn  er  ein  freier  Mann  ist,  ^/gMine  Silber  zahlen.  —  Vgl.  §  214. 

(§  215)  Wenn  jemand  eine  freie  Frau  schlägt  imd  ihrer  Leibesfrucht 
beraubt,  so  soll  er   10  Sekel  Silber  für  ihre  Leibesfrucht  zahlen. 

(§216)  Weim  jenes  Weib  stirbt,  so  soll  man  seine  Tochter  töten.  Vgl. 
§§  217,  218. 

(§219)  Wenn  er  eine  Sklavin  schlägt  und  ihrer  Leibesfrucht  beraubt, 
so  soll  er  2  Sekel  Silber  zahlen. 

(§  220)  Wenn  jene  Sklavin  stirbt,  so  soU  er  ^/g  Mine  Silber  zahlen. 

(§  202)  Wenn  jemand  das  Auge  eines  freien  Mannes  zerstört,  so  soll 
man  sein  Auge  zerstören. 

(§  203)  Wenn  er  den  Knochen  eines  freien  Mannes  bricht,  so  soll 
man  ihm  einen  Knochen  brechen.  —  Vgl.  §  204. 

(§  205)  Wenn  er  das  Auge  eines  Sklaven  zerstört  oder  den  Knochen 
«ines  Sklaven  bricht,  so  soll  er  die  Hälfte  seines  Kaufpreises  zahlen. 

(§  206)  Wenn  jemand  einem  ihm  Gleichstehenden  die  Zähne  aus- 
schlägt, so  soll  man  ihm  die  Zähne  ausschlagen.  —  Vgl.  §  207. 


Verletzung  durch  einen  Stier.  I4.i^ 

Assyr.  Gesetz:  (§  2r)  Wenn  jemand  jemandes  Tochter  schlägt  und 
Ihrer  I<eibesfruclit  beraubt,  man  ihn  durch  Zeugen  überführt,  so  soll 
er  2  Talente  30  Minen  Blei  zahlen,  50  Stockhiebe  erhalten,  einen  vollen 
Monat  Königsarbeit  tun. 

(§  50)  Wenn  jemand  jemandes  Ehefrau  schlägt  und  ihrer  Leibes- 
frucht beraubt  —  wenn  die  betreffende  Ehefrau  [am  Leben  bleibt, 
soll  er  .  .  .]  imd  statt  ihrer  Leibesfrucht  das  Leben  ersetzen.  Wenn 
aber  jenes  Weib  stirbt,  so  soll  man  den  Menschen  töten,  statt  ihrer 
Leibesfrucht  soll  er  das  Leben  ersetzen.  Und  wenn  der  Gatte  jenes 
Weibes  einen  Sohn  nicht  hat,  so  schlägt  man  seine  Ehefrau  so,  daß 
ihre  Leibesf nicht  abgeht,  anstatt  ihrer  Leibesfrucht  soll  man  den  Schläger 
töten.  Wenn  ihre  Leibesfrucht  ein  Mädchen  ist,  soll  er  das  Leben 
ersetzen . 

Verletzung  durch  einen  Stier 

Ex:  (65)  Wenn  ein  Stier  einen  Mann  oder  ein  Weib  tot- 
stößt, soll  der  Stier  gesteinigt  und  sein  Fleisch  nicht 
gegessen  werden,  aber  der  Eigentümer  des  Stieres  ist  straf- 
frei (21 28). 

(66)  Wenn  aber  der  Stier  von  jeher  stößig  ist  und  es 
seinem  Eigentümer  eingeschärft  worden  ist,  er  ihn  aber 
nicht  bewahrt,  und  er  einen  Mann  oder  ein  Weib  tötet, 
soll  der  Stier  gesteinigt,  auch  sein  Eigentümer  getötet 
werden  (21 2^). 

(67)  Wenn  Sühngeld  ihm  auferlegt  wird,  so  soll  er  das 
lyösegeld  für  sein  Leben  geben,  ganz  so,  wie  es  ihm  auf- 
erlegt wird  (21^°). 

(68)  Oder  stößt  er  einen  Sohn  oder  stößt  er  eine  Tochter, 
soll  ihm  entsprechend  dieser  Rechtsordnung  geschehen 
(21 31). 

(69)  Wenn  einen  Sklaven  der  Stier  stößt  oder  eine  Sklavin, 
soll  er  30  Sekel  Silber  seinem  Herrn  geben,  der  Stier  aber 
gesteinigt  werden  (2 1  ^^) . 

(70)  Und  wenn  jemandes  Stier  seines  Nächsten  Stier 
totstößt,  so  sollen  sie  den  lebenden  Stier  verkaufen  und 
seinen  Erlös  teilen,  auch  das  tote  Tier  sollen  sie  teilen 
(21 36). 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.    I  jq 


146     Sonstige  fahrlässige  Gefährdung  des  Eigentums  des  Nächsten. 

(71)  Oder  war  es  bekannt,  daß  es  ein  von  jeher  stößiger 
Stier  ist,  und  bewahrt  ihn  sein  Eigentümer  nicht,  soll  er 
einen  Stier  an  Stelle  des  Stiers  begleichen  und  der  tote 
ihm  gehören  (21^®). 

HK:  (§  255)  Wenn  ein  Ochse  beim  Gehen  auf  der  Straße  jemanden 
stößt  imd  seinen  Tod  verursacht,  so  läßt  jener  Rechtsfall  keine  Klage  zu. 

(§  256)  Wenn  jemandes  stößiger  Ochse,  daß  er  stößig  ist,  seiner  Nach- 
barschaft zu  erkennen  gibt,  wenn  er  ihm  die  Homer  nicht  verschneidet, 
seinen  Ochsen  nicht  knebelt,  und  jener  Ochse  einen  freien  Mann  stößt 
und  seinen  Tod  verursacht,  so  soll  er  ^/a  Mine  Silber  geben. 

(§  257)  Wenn  den  Tod  eines  Sklaven,  so  soll  er  Vs  Mine  Silber  geben. 

Sonstige   fahrlässige   Gefährdung   des   Eigentums 
und  Lebens  des  Nächsten 

Ex:  (72)  Wenn  jemand  Feld  oder  Weinpflanzung  ab- 
weiden und  sein  Vieh  frei  laufen  läßt,  sodaß  es  auf  eines 
Andern  Felde  abweidet,  soll  er  den  Ertrag  seines  Feldes 
und  den  Ertrag  seiner  Weinpflanzung  begleichen  (22*), 

(73)  Wenn  Feuer  ausbricht  und  Dornen  findet  und  ein 
Getreidehaufe  oder  das  in  Halmen  stehende  Korn  oder 
der  Acker  verzehrt  wird,  so  soll  der  Brandstifter  das  Ver- 
brannte begleichen  (22^). 

(74)  Wenn  jemand  eine  Zisterne  öffnet  oder  wenn  jemand 
eine  Zisterne  gräbt  und  sie  nicht  zudeckt  und  ein  Stier 
oder  Esel  [oder  irgendwelches  Vieh]  hineinfällt,  soll  der 
Eigentümer  der  Zisterne  begleichen,  Geld  seinem  Eigen- 
tümer erstatten,  das  tote  Tier  verbleibt  ihm  (21  ^^'•). 

Dt:  (75)  Wenn  du  ein  neues  Haus  baust,  so  sollst  du 
ein  Geländer  deinem  Dache  machen  und  nicht  eine  Blut- 
schuld auf  dein  Haus  bringen,  indem  jemand  von  ihm 
hinabfällt  (22^). 

^K-  (§55)  Wenn  jemand  seinen  Kanal  zur  Bewässerung  öffnet, 
saumselig  ist  und  das  Feld  seines  Nachbarn  unter  Wasser  setzt,  so  soll 
er  Korn  wie  seine  Nachbarn  darmessen.  —  Vgl.  femer  §  56. 

{§  57)  Wenn  ein  Hirt  sich  mit  dem  Feldeigentümer  nicht  einigt,  das 
Kleinvieh  Kräuter  fressen  zu  lassen,  und  ohne  den  Feldeigentümer 
das  Feld  dem  Kleinvieh  zum  Fressen  gibt,  so  soll  der  Feldeigentümer 


Uuterslütziin^'  des  Näthsttn  bei  Verlust  seines  Eißentumn.      jAy 

aeiu  Feld  ernten,  der  Hirt  aber,  der  ohne  den  Feldeigentümer  das  Feld 
dem  Kleinvieh  r.um  Fressen  gegeben,  überdies  auf  1800  SAR  6000  QA 
Koni  dem  Feldeigentümer  geben.  —  Vgl.  weiter  §  58. 

(§  53)  Wenn  jemand  den  Damm  .seines  Feldes  fest  zu  machen  saum- 
selig ist,  seinen  Damm  nicht  fest  macht  und  in  seinem  Damme  eine 
Öffnung  sich  öffnet,  er  auch  die  Flur  unter  Wasser  setzt,  so  soll  der, 
in  dessen  Damm  die  Öffnung  sich  geöffnet,  das  Korn,  das  er  vernichtet 
bat,  ersetzen. 

(§  54)  Wenn  er  das  Korn  nicht  ersetzen  kann,  so  soll  man  ihn  selbst 
and  seine  Habe  für  Geld  verkaufen  und  die  Flurleute,  deren  Kom  die 
Wasser  weggeführt  haben,  es  teilen. 

Unterstützung   des  Nächsten,  auch   des  Feindes, 
bei  Verlust  oder  Gefährdung  seines  Eigentums 

Ex:  (76)  Wenn  du  den  Stier  deines  Feindes  oder  seinen 
Esel  irrend  triffst,  sollst  du  ihn  ihm  zurückbringen  (23*). 

(77)  Wenn  du  den  Esel  deines  Hassers  unter  seiner  I^ast 
liegen  siehst  und  du  abstehst  ihm  zu  helfen  (?),  sollst  du 
im   Stich   gelassen  werden^    gleich  ihm  (23''). 

Dt:  (78)  Du  sollst  nicht  den  Stier  deines  Bruders  oder 
sein  Schaf  verlaufen  sehen  und  unbekümmert  um  sie  sein 
—  zurückgeben  sollst  du  sie  deinem  Bruder.  Und  wenn 
dein  Bruder  dir  nicht  nahe  ist  und  (oder)  du  ihn  lücht 
kennst,  so  sollst  du  es  (das  Tier)  in  dein  Haus  aufnehmen 
und  es  soll  bei  dir  bleiben,  bis  dein  Bruder  nach  ihm 
fragt,  dann  sollst  du  es  ihm  zurückgeben.  So  sollst  du  es 
halten  mit  seinem  Esel,  so  sollst  du  es  halten  mit  seinem 
Gewände,  so  sollst  du  es  halten  mit  allem  deinem  Bruder 
Verlorengegangenen,  das  ihm  verloren  geht  und  du  ge- 
funden hast  —  du  darfst  nicht  unbekümmert  sein  (22^~^). 

(79)  Du  sollst  nicht  den  Esel  deines  Bruders  oder  seinen 
Stier  auf  dem  Wege  gestürzt  sehen  und  unbekümmert  um 
ihn  sein  —  aufrichten  sollst  du  mit  ihm  (22*). 

HK:  (§  17)  Wenn  jemand  einen  entwichenen  Sklaven  oder  Sklavin 
auf  freiem  Felde  faßt  und  seinem  Herrn  zuführt,  so  soll  3  Sekel 
Silber  der  Herr  des  Sklaven  ihm  geben. 

^)  ta'axih  lies  fe'äzeb. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     I  lO* 


148 


Diebstahl. 


(§  19)  Wenn  er  jenen  Sklaven  in  seinem  Hause  zorückbehält,  nach- 
dem der  Sklave  bei  ihm  gefaßt  wird,  so  soll  jener  Mensch  getötet 
werden . 

Diebstahl 

Ex:  (80)  Wenn  jemand  einen  Stier  oder  ein  Schaf  stiehlt 
und  es  schlachtet  oder  verkauft,  so  soll  er  fünf  Rinder 
statt  des  Stiers  und  vier  Stück  Kleinvieh  statt  des  Schafes 
begleichen  (21^'). 

(81)  Wenn  das  Gestohlene  bei  ihm  lebend  gefunden 
wird,  sei  es  Stier  oder  Esel  oder  Schaf,  soll  er  doppelt  be- 
gleichen (22^). 

(82)  Begleichen  muß  er;  wenn  er  nichts  hat,  so  soll 
er  für  das  von  ihm  Gestohlene  (d.  h.  für  dessen  Wert)  ver- 
kauft werden  (2  2  2"). 

(83)  Wenn  der  Dieb  beim  Einbruch  betroffen  und  ge- 
schlagen wird,  daß  er  stirbt,  so  hat  es  keine  Blutschuld. 
Wenn  die  Sonne  darüber  aufgegangen  ist,  hat  es  Blut- 
schuld (22^.  *'). 

(84)  Wer  einen  Mann  [von  den  Kindern  Israels]  stiehlt 
und  verkauft  und  er  bei  ihm  gefunden  wird,  soll  getötet 
werden  (21^^). 

Dt:  (85)  Wenn  jemand  getroffen  wird,  der  ein  Menschen- 
leben von  seinen  Brüdern,  den  Kindern  Israels,  stiehlt  und 
mit  ihm  Geschäfte  macht  und  es  verkauft,  so  soll  selbiger 
Dieb  sterben,  und  du  sollst  wegräumen  das  Böse  aus 
deiner  Mitte  (24'). 

Vgl.  das  sogen,  9.  und  10.  Gebot. 

HK :  (§  6)  Werm  jemand  Eigentum  eines  Gottes  oder  des  Palastes 
stiehlt,  so  soll  jener  Mensch  getötet  werden.  Auch  der,  der  das  ge- 
stohlene Gut  von  ihm  angenommen  hat,  soll  getötet  werden. 

(§  8)  Wenn  jemand  Ochs  oder  Schaf  oder  Esel  oder  Schwein  oder 
Schiflf  stiehlt,  so  soll  er  es,  wenn  es  der  Gottheit,  wenn  es  dem  Palaste 
gehört,  30  fach  geben;  wenn  es  einem  Hörigen  gehört,  so  soll  er  es  10  fach 
ersetzen.  Wenn  der  Dieb  nichts  zu  geben  hat,  so  soll  er  getötet  werden. 

(§  14)  Wenn  jemand  den  kleinen  Sohn  jemandes  stiehlt,  so  soll  er 
getötet  werden. 


Grenzverrückung.  I4.Q 

(§21)  Wenn  jemand  ein  Loch  In  ein  Haas  bricht,  so  soll  man  ihn 
vor  jenem  Loche  töten  und  einscharren. 

(§  22)  Wenn  jemand  einen  Raub  begeht  und  gefaßt  wird,  so  soll 
jener  Mensch  getötet  werden. 

(§  25)  Wenn  in  jemandes  Haus  Feuer  ausbricht  und  jemand,  der 
zum  Löschen  gekommen,  sich  nach  einem  Btsitzstück  des  Hausherrn 
gelüsten  läßt  uud  das  Besitzstück  des  Hausherrn  nimmt,  so  soll  jener 
Mensch  in  jenes  Feuer  geworfen  werden. 

Wie  streng  jede  widerrechtli  he  Aneignung  fremden  Eigentums  auch 
in  Babylonien  geahndet  wurde,  läßt  §  7  ermessen:  Wenn  jemand  Silber 
oder  Gold  oder  Sklaven  oder  Sklavin  oder  Ochs  oder  Schaf  oder  Esel 
oder  sonst  irgendetwas  von  einem  I'reien  oder  Sklaven  ohne  Zeugen 
und  Vertrag  kauft  oder  zur  Bewahrung  annimmt,  so  ist  jener  Mensch 
ein  Dieb  und  soll  getötet  werden. 

Ass3rr.  Gesetz :  (§3)  Wenn  eines  Krankliegenden  oder  eines  Ver- 
storbenen Ehefrau  aus  seinem  Hause  etwas  stiehlt,  sei  es  an  einen 
Mann,  sei  es  an  ein  Weib,  sei  es  an  sonst  jemand  verkauft,  so  soll  man 
die  Ehefrau  und  die  Käufer  töten.  Wenn  dagegen  jemandes  Ehefrau, 
deren  Gatte  lebt,  aus  dem  Hause  ihres  Gatten  stiehlt ,  sei  es  an  einen 
Maim,  sei  es  an  ein  Weib,  sei  es  an  sonst  jemand  verkauft,  so  soll  der 
Betreffende  seine  Frau  überführen,  auch  ihr  Strafe  auferlegen.  Der 
Käufer  aber,  der  von  der  Ehefrau  des  Betreffenden  gekauft  hat,  soll 
das  Gestohlene  abgeben,  auch  soll  man  Strafe  gleich  der,  die  der  Be- 
treflende seiner  Ehefrau  auferlegt,  dem  Käufer  auferlegen. 

Grenzverrückung 

Dt:  (86)  Du  sollst  nicht  verrücken  die  Grenze  deines 
Nächsten,  welche  die  Vorfahren  abgegrenzt  haben,  in 
deinem  Erbteil,  das  du  besitzen  wirst  in  dem  Lande,  das 
Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt,  es  in  Besitz  zu  nehmen  (19^^).^ 

Vgl.  die  zahlreichen  babylonischen  Urkunden  über  Grundstücks- 
verkäufe, deren  Inschriften  sämtlich  mit  den  schwersten  Flüchen 
denjenigen  bedrohen,  der  die  Grenzen  zu  verrücken  wagen  sollte. 

AssjT.  Gesetz:  Wenn  jemand  ein  großes  Gebiet  seines  Nächsten  an 
sich  reißt,  man  ihn  durch  Zeugen  überführt,  so  soU  er  das  Feld,  so- 
viel er  an  sich  genommen,  im  dreifachen  Betrage  geben.  Seinen 
Daumen  (?)  soll  man  abschneiden,  100  Stockhiebe  ihm  geben,  einen 
vollen  Monat  soll  er  König.sarbeit  tun. 

^)  Vgl.  Dt  27":  Verflucht  sei,  wer  die  Grenze  seines  Nächsten  verrückt. 


1^0  Richtiges  Gewicht  und  Maß.  —  Meineid. 

Wenn  jemand  in  ein  kleines  Gebiet  mit  Brunnen  (?)  übersteigt,  man 
ihn  durch  Zeugen  überführt,  soll  er  ein  Talent  Blei  geben.  Das  Feld, 
soviel  er  an  sich  gerissen,  soll  er  zehnfach  (?)  zurückgeben,  50  Stock- 
hiebe soll  man  ihm  geben,  einen  vollen  Monat  soll  er  Königsarbeit  tun. 

Richtiges  Gewicht  und  Mass 

Dt:  (87)  Du  sollst  in  deinem,  Beutel  nicht  zweierlei  Ge- 
wichtssteine haben:  einen  großen  und  kleinen.  Du  sollst 
in  deinem  Hause  nicht  zweierlei  Epha  (ein  Hohlmaß) 
haben:  ein  großes  und  kleines.  Vollen  und  richtigen  Ge- 
wichtsstein soUst  du  haben,  volles  und  richtiges  Epha 
soUst  du  haben,  damit  deine  Lebenszeit  lang  sei  auf  dem 
Boden,  den  Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt.  Denn  ein  Greuel 
Jahos,  deines  Gottes,  ist  jeder,  der  dieses  tut,  jeder,  der 
Ungerechtigkeit  tut  (25^3-16^ 

Vgl.  Levig^s'-. 

Meineid 

Lev:  (88)  Ein  Wesen,  das  sündigt  und  gegen  Jaho  sich 
vergeht  und  seinem  Genossen  etwas  Anvertrautes  oder 
Hinterlegtes  oder  Geraubtes  leugnet  und  seinen  Genossen 
vergewaltigt  oder  etwas  Verlorengegangenes  findet  und 
es  leugnet  und  einen  Meineid  leistet  in  irgendeiner  dieser 
Taten,  womit  sich  der  Mensch  versündigt,  so  soll  er,  wenn 
er  sich  versündigt  und  verschuldet,  das  Geraubte,  das  er 
geraubt,  oder  die  Vergewaltigung,  die  er  verübt,  oder  das 
Anvertraute,  das  bei  ihm  zur  Bewahrung  gegeben,  oder 
das  Verlorengegangene,  das  er  gefunden,  zurückgeben  — 
alles,  betreffs  dessen  er  einen  Meineid  schwört,  soll  er  in 
seinem  Gesamtbetrag  begleichen  und  sein  Fünftteil  hinzu- 
fügen, seinem  Eigentümer  soU  er  es  geben  am  Tag  seiner 
Verschuldung.  Und  sein  Schuldopfer  soll  er  Jaho  bringen : 
einen  fehlerfreien  Widder  vom  Kleinvieh  nach  deiner 
Schätzung  als  Schuldopfer  (521-26). 

Den  Babyloniern  gilt  der  Eidschwur  beim  Namen  Gottes  als 
absolut  sakrosankt,  in  dem  Grade,  daß  in  den  Gesetzen  Hammurabis 
sowie  in  den  Prozeßurkunden  die  Möglichkeit  eines  Meineides  über- 
haupt nicht  gesetzt  wird.  —  Siehe  Babel  und  Bibel  III  S.  23. 


Gcniciiulevorsthriftcii.         Krir>;s-  und  Lagergesetze.  X5I 

Gemeindevorschriften 

Dt:  (89)  Nicht  werde  ein  an  der  Hode  Verwundeter 
oder  einer  mit  abgeschnittener  Harnröhre  in  die  Gemeinde 
Jahos  aufgenommen  (2  3  2). 

(90)  Nicht  werde  ein  Bastard  (?)  *  in  die  Gemeinde  Jahos 
aufgenommen,  auch  der  lo.  Generation  angehörig,  finde 
er  keine  Aufnahme  in  die  Gemeinde  Jahos  (23^).  ^ 

(91)  Nicht  soll  sein  eine  ,, Geweihte"  ^  von  den  Töchtern 
Israels  und  nicht  soll  sein  ein  ,, Geweihter"  von  den  Söhnen 
Israels  (23^^). 

Kriegs-  und  Lagergesetze 

Dt:  (92)  Wenn  du  zum  Kampf  ausziehst  wider  deine 
Feinde  und  Pferde  und  Streitwagen  siehst,  ein  Volk  zahl- 
reicher als  du,  sollst  du  dich  nicht  vor  ihnen  fürchten, 
denn  Jaho,  dein  Gott,  ist  mit  dir,  der  dich  aus  dem  Lande 
Ägypten  heraufgeführt  hat."  Und  wenn  ihr  anrückt  zum 
Kampfe,  so  soll  der  Priester  herzutreten  und  zu  dem 
Volke  reden  und  zu  ihnen  sagen:  Höre,  Israel,  ihr  rückt 
heute  an  zum  Kampfe  wider  eure  Feinde,  nicht  sei  feig 
euer  Herz,  fürchtet  euch  nicht  und  seid  nicht  bestürzt 
und  erschreckt  nicht  vor  ihnen,  denn  Jaho,  euer  Gott, 
ist's,  der  mit  euch  zieht,  für  euch  mit  euren  Feinden  zu 
kämpfen,  euch  zu  erretten.  Und  die  Amtleute  sollen  zum 
Volke  sprechen:  Wer  ist  der  Mann,  der  ein  neues  Haus 
gebaut  und  es  nicht  eingeweiht  hat?  er  kehre  um  in  sein 


^)  Das  noch  nicht  sicher  erklärte  Wort  tnamzSr  dürfte  wohl  das 
babylonische  zSr  ,,Same ,  Nachkommenschaft"  enthalten ,  also  ein 
Lehnwort  aus  dem  Babylonischen  sein. 

')  Das  gleiche  gilt  von  Ammonitem  und  Moabitem,  , .deren  Bestes 
Israel  niemals  in  alle  Ewigkeit  suchen  soll"  (23*"'),  also  ewiger  Haß 
gegen  die  einstigen  poUtischen  Feinde.  Dagegen  können  Edomiter 
und  Ägypter  in  der  dritten  Generation  in  die  Gemeinde  Jahos  aufge- 
nommen werden  (23^). 

')  D.  h.  zu  kultischen  Zwecken  entweiht,  prostituiert. 


162  Kriegs-  und  Lagergesetze. 

Haus,  daß  er  nicht  falle  im  Kampfe  und  ein  anderer  Mann 
es  einweihe!  Und  wer  ist  der  Mann,  der  einen  Wein- 
garten gepflanzt  und  nicht  geweiht  hat?  er  gehe  und 
kehre  um  in  sein  Haus,  daß  er  nicht  falle  im  Kampfe  und 
ein  anderer  Mann  ihn  weihe!  Und  wer  ist  der  Mann,  der 
ein  Weib  sich  an  verlobt  und  es  nicht  geheiratet  hat?  er 
gehe  und  kehre  um  in  sein  Haus,  daß  er  nicht  falle  im 
Kampfe  und  ein  anderer  Mann  sie  heirate !  Und  die  Amt- 
leute sollen  fortfahren  zum  Volke  zu  reden  und  sollen 
sagen:  Wer  ist  der  Mann,  der  sich  fürchtet  und  feig  ist? 
er  gehe  und  kehre  um  in  sein  Haus,  daß  er  nicht  den  Mut 
seiner  Brüder  schmelzen  mache  gleich  seinem  eigenen 
{Dt2oi-8). 

(93)  Wenn  du  gegen  eine  Stadt  anrückst,  sie  zu  be- 
kriegen, so  sollst  du  ihr  ein  friedliches  Abkommen  an- 
bieten. FaUs  sie  dir  zustimmend  antwortet  und  (ihr  Tor) 
dir  öfEnet,  so  soll  alles  darin  befindliche  Volk  dir  Fron- 
knechte und  deine  Sklaven  sein.  Wenn  sie  aber  kein  fried- 
liches Abkommen  mit  dir  trifft,  sondern  Krieg  mit  dir 
führt  und  du  sie  belagerst  und  Jaho,  dein  Gott,  sie  in 
deine  Hände  gibt,  so  sollst  du  all  ihr  Männliches  mit  dem 
Schwerte  schlagen,  dagegen  die  Weiber  und  die  kleinen 
Kinder  imd  das  Vieh  und  alles,  was  in  der  Stadt  ist,  ihre 
ganze  Beute,  sollst  du  dir  rauben,  und  die  Beute  deiner 
Feinde,  die  Jaho,  dein  Gott,  dir  gegeben  hat,  genießen. 
So  sollst  du  allen  Städten  tun,  die  sehr  fern  von  dir  sind, 
die  nicht  zu  den  Städten  dieser  Völker  gehören.  Dagegen 
von  den  Städten  dieser  Völker,  die  Jaho,  dein  Gott,  als 
Erbteil  dir  gibt,  sollst  du  irgendwelches  Lebewesen  nicht 
leben  lassen,  sondern  bannen  sollst  du  sie:  die  Hettiter 
und  die  Amoriter,  die  Kanaan! ter  und  die  Perizziter,  die 
Chiwwiter  imd  die  Jtbusiter,  wie  dir  Jaho,  dein  Gott, 
befohlen  hat,  damit  sie  euch  nicht  lehren  zu  tun  gleich 
allen  ihren  Greueln,  die  sie  ihren  Göttern  zu  Ehren  getan 
haben,  imd  ihr  euch  so  an  Jaho,  eurem  Gotte,  versündigt 

(20  10-18), 


Kriegs-  und  Lagergcuetze.  1^3 

(94)  Wenn  du  gegen  deinen  Feind  in  den  Krieg  ziehst 
und  Jaho,  dein  Gott,  ihn  in  deine  Hand  gibt,  und  du  seine 
Gefangeneu  fortführst  und  unter  den  Gefangenen  ein 
hübsches  Weib  siehst  und  an  ihm  Gefallen  findest  und 
(es)  dir  zur  Frau  nimmst,  so  sollst  du  es  in  dein  Haus 
führen  und  es  soll  seinen  Kopf  scheren  und  seine  Nägel 
zurechtmachen  und  ihr  Gefangenengewand  von  sich  abtun 
und  in  deinem  Hause  wohnen  und  seinen  Vater  und  seine 
Mutter  einen  vollen  Monat  beweinen.  Danach  magst  du 
ihm  beiwohnen  und  es  ehelichen  und  es  deine  Frau  sein. 
Falls  du  aber  keine  Lust  an  ihr  findest,  so  sollst  du  sie  zu 
ihrem  Leben  entlassen.  Um  Geld  verkaufen  darfst  du 
sie  nicht,  Geschäfte  mit  ihr  nicht  machen,  dafür  daß  du 
sie  geschwächt  hast  {21^°—^*). 

(95)  Wenn  jemand  sich  neuvermählt,  soll  er  nicht  im 
Kriegsdienste  ausrücken  und  irgendetwas  ihm  nicht  auf- 
erlegt werden  —  frei  soll  er  sein  für  sein  Haus  ein  Jahr, 
daß  er  seine  Frau,  die  er  genommen,  erfreue  (24^). 

(96)  Weim  du  ein  Feldlager  beziehst  gegen  deine  Feinde, 
so  sollst  du  dich  hüten  vor  allem  Bösen.  Wenn  jemand 
bei  dir  ist,  der  infolge  von  Pollution  nicht  rein  ist,  so  gehe 
er  hinaus  vor  das  Lager,  komme  nicht  in  das  Lager.  Zur 
Wende  des  Abends  wasche  er  sich  mit  Wasser  und  bei 
Sonnenuntergang  komme  er  in  das  Lager.  Und  ein  Ab- 
teil (?)  sei  dir  außerhalb  des  Lagers,  dorthin  sollst  du  aus- 
treten. Und  einen  Pflock  sollst  du  an  deinem  Gürtel 
tragen,  und,  wenn  du  dich  draußen  niedersetzest,  sollst 
du  mit  ihm  scharren  und  hinwiederum  deinen  Unrat  be- 
decken. Denn  Jaho,  dein  Gott,  geht  einher  durch  dein 
Lager,  dich  zu  erretten  und  deine  Feinde  vor  dir  in  die 
Flucht  zu  schlagen,  so  soll  dein  Lager  heiUg  sein,  daß  er 
in  dir  nichts  Anstößiges  sieht  und  sich  von  dir  abwendet 

(23  10-16), 

(97)  Wenn  du  eine  Stadt  lange  belagerst,  sie  bekämpfend 
zwecks  ihrer  Einnahme,  sollst  du  ihren  Baumstand  nicht 
vernichten,  die  Axt  gegen  ihn  ausholen  lassend,  denn  du 


IC^.  Das  Königsgesetz. 

wirst  von  ihm  essen  und  sollst  ihn  nicht  abhauen.  Denn 
ist  ein  Mensch  der  Baum  des  Feldes,  daß  er  durch  deine 
Belagerung  leide?  Nur  einen  Baum,  von  dem  du  weißt, 
daß  er  kein  Baum  mit  eßbaren  Früchten  ist,  ihn  magst  du 
vernichten  und  abhauen  und  ein  Belagerungsmittel  wider 
die  Stadt  bauen,  die  wider  dich  kämpft,  bis  sie  zu  Fall  ge- 
bracht wird  (20i»|-).i 

HK:  (§26)  Wenn  ein  , .Treiber"  oder  „Fänger"  (zwei,  militärische 
Gradbezeichnungen),  der  zu  einer  Unternehmung  des  Königs  zu  kommen 
befohlen  ist,  nicht  kommt  oder  einen  Mietling  mietet  imd  statt  seiner 
schickt,  so  soll  jener  , .Treiber"  oder  ..Fänger"  getötet  werden,  der 
von  ihm  Gemietete  soll  sein  Haus  an  sich  nehmen. 

(§33)  Wenn  ein  Statthalter  oder  Amtmann  Gesindel  (?)  annimmt 
oder  für  die  Unternehmung  des  Königs  einen  Ersatzmann  dingt  und 
zuführt,  so  soll  jener  Statthalter  oder  Amtmarm  getötet  werden. 

Das  Königsgesetz 

Dt:  (98)  Wenn  du  in  das  Land  kommst,  das  Jaho,  dein 
Gott,  dir  gibt  und  es  in  Besitz  nimmst  und  in  ihm  wohnst, 
und  du  sagen  wirst :  ich  will  über  mich  einen  König  setzen 
gleich  allen  den  Völkern,  die  rings  um  mich  her  sind,  sollst 
du  über  dich  einen  König  setzen,  den  Jaho,  dein  Gott, 
erwählen  wird :  aus  der  Mitte  deiner  Brüder  sollst  du  über 
dich  einen  König  setzen,  du  darfst  keinen  Ausländer, 
der  nicht  dein  Bruder  ist,  über  dich  setzen.  Nur  soll  er 
sich  nicht  viele  Rosse  machen  und  das  Volk  nicht  nach 
Ägypten  zurückbringen,  um  viele  Rosse  zu  bekommen, 
während  Jaho  euch  gesagt  hat:  ihr  sollt  nicht  wieder 
zurückkehren  auf  diesem  Wege  fernerhin.  Und  er  soll 
nicht  viele  Weiber  sich  zulegen,  und  nicht  soU  sein  Herz 
abweichen,  und  Silber  und  Gold  soll  er  sich  nicht  sehr 
viel  zulegen.    Und  wenn  er  seinen  Königsthron  besteigt. 


*)  Vgl.  auch  das  gemäß  i  Sa  30**  von  David  eingeführte  Kriegs- 
gesetz: Wie  der  Teil  dessen,  der  in  den  Kampf  hinabzieht,  so  der 
Teil   dessen,    der   beim  Gepäck  bleibt   —  zusammen  sollen   sie  teilen. 


Anstand  bzw.  WohlanstÄndinkcit.  ig^ 

soll  er  sich  diese  Gesetzeswiederholung  '  von  den  leviti- 
schen  Priestern  ausbitten  und  in  ein  Buch  schreiben,  und 
es  soll  bei  ihm  sein  und  er  soll  darin  lesen  alle  Tage  seines 
Lebens,  daß  er  Jaho,  seinen  Gott,  zu  fürchten  lerne,  zu 
beobachten  alle  Worte  dieser  Thora  und  diese  Gesetze, 
sie  zu  tun,  daß  sich  sein  Herz  nicht  über  seine  Brüder  er- 
hebe und  nicht  abweiche  von  dem  Gebote  nach  rechts  und 
hnks,  daß  er  lange  regiere,  er  und  seine  Söhne  in  Israel 

(17  14-20) 

Anstand  bzw.  Wohlanständigkeit 

Dt:  (99)  Wenn  du  in  den  Weingarten  deines  Nächsten 
kommst,  so  magst  du  Trauben  essen,  so  viel  du  Lust  hast 
(Var;  bis  du  satt  bist),  aber  in  dein  Gefäß  sollst  du  keine 
tun.  Wenn  du  in  das  Getreidefeld  deines  Nächsten  kommst, 
so  magst  du  Ähren  mit  deiner  Hand  pflücken,  aber  eine 
Sichel  sollst  du  nicht  schwingen  über  dem  in  Halmen 
stehenden  Getreidefeld  deines  Nächsten  (23^^''). 

(100)  Nicht  soll  Mannskleidung  ein  Weib  tragen  und 
nicht  soll  ein  Mann  in  Weibergewand  sich  kleiden,  denn 
ein  Greuel  Jahos,  deines  Gottes,  ist  jeder,  der  dieses 
tut  (2  2  5). 

(loi)  Du  sollst  dich  nicht  kleiden  in  ,, Halbwolle"  (?) : 
Wolle  und  Flachs  zusammen  (22^^). 

(102)  Quasten  sollst  du  dir  machen  an  die  vier  Zipfel 
deiner  Kleidung,  mit  welcher  du  dich  bedeckst  (22^^). 

Lev:  (103)  Ein  Kleid  aus  doppeltem  Stoff,  ,, Halb- 
wolle" (?),  soll  nicht  auf  dich  kommen  (19^^). 


^)  eth-misne  hattörä  hazzöth  (V.  18)  bedeutet  nicht:  „eine  Abschrift 
dieses  Gesetzes",  etwa  gar  im  Sinne  von:  dieses  Königsgesetzes  (be- 
achte hiergegen  V.  19:  zeitlebens  darin  lesen!  und  in  V.  19  ,, diese  Ge- 
setze"), sondern  die  Worte  wollen  gewiß  besagen:  diese  Gesetzes- 
wiederholung, dieses  zweite  Gesetz  oder  „Deuteronomimn".  Das 
Adjektiv  bzw.  Pronomen  folgt  im  Geschlechte  auch  sonst  dem  zweiten 
Gliede  der  sog.  8t. -cetr. -Kette. 


ic6  Miszellaneen. 

Miszellaneen 

Ex:  (104)  Wer  [andern]  Göttern  (Glosse:  außer  Jaho 
allein)  opfert,  werde  gebannt  (22^*). 

(105)  Den  Namen  anderer  Götter  sollst  du  nicht  nennen 
und  nicht  werde  er  gehört  in  deinem  Munde  (23^'").* 

(106)  Gott  sollst  du  nicht  verfluchen  und  einem  Hoch- 
gestellten in  deinem  Volke  sollst  du  nicht  fluchen  (22*'). 

(107)  Eine  Zauberin  (oder  masctil.)  sollst  du  nicht  am 
Leben  lassen  (22^'). 

(108)  Du  sollst  kein  falsches  Gerücht  aussprechen  (23^"). 

(109)  Fleisch  auf  freiem  Felde,  Zerrissenes  sollt  ihr  nicht 
essen,  dem  Hunde  sollt  ihr  es  hinwerfen  (Ex  22",  vorher- 
geht: heilige  Leute  sollt  ihr  mir  sein). 

Dt:  (iio)  Ihr  sollt  keinerlei  Aas  essen.  Dem  Schützling 
in  deinen  Ortschaften  magst  du  es  zum  Essen  geben  oder 
an  einen  Ausländer  verkaufen,  denn  ein  heiliges  Volk  bist 
du  Jaho,  deinem  Gotte  (14^^'). 

(iii)  Du  sollst  nicht  pflügen  mit  Stier  und  Esel  zu- 
sammen (22^"). 

(112)  Du  sollst  einem  Stier,  wenn  er  drischt,  keinen 
Maulkorb  anlegen  (25^). 

(113)  Wenn  dir  zufällig  unterwegs  auf  irgendeinem 
Baum  oder  auf  der  Erde  ein  Vogelnest  vor  Gesicht  kommt : 
junge  Vögelchen  oder  Eier,  während  die  Mutter  auf  den 
Vögelchen  oder  auf  den  Eiern  ruht,  sollst  du  nicht  die 
Mutter  mitsamt  den  Jungen  nehmen.  Freilassen  sollst 
du  die  Mutter  und  die  Jungen  dir  nehmen,  damit  es  dir 
wohlgehe  und  du  lange  lebest  (22'*'). 

(114)  Du  sollst  nicht  deinen  Weingarten  zwiefach  be- 
säen, damit  nicht  das  Ganze  (?)  dem  Heihgtum  verfalle: 
das  von  dir  Gesäete  und  der  Ertrag  des  Weingartens  (22*). 

*)  Daher,  wo  immer  es  anging,  die  Verhmizung  fremdländischer 
Gottesnamen,  z.  B.  Molech  (Moloch)  statt  Melech;  Aschtoreth  statt 
Aschtercth  (Astarte),  u.  a.  m.      Vgl.  Teil  II  S.  7. 


Humanität. 


157 


Lev:  Jedweder,   der   seinen  Gott   verflucht,   soll    seine 

Schuld  büßen  (nämlich  durch  Steinigung,  24*"  vgl.  **).  — 

Gegen  Zaubereitreiben  u.dgl.  s.  19^"  20". 

Assyr.  Gesetz:  {§47)  Wenn  ein  Mann  oder  ein  Weib  Zaubereien 
treibt  und  diese  in  ihrem  Haus  pefaßt  werden,  man  sie  durch  Zeugen 
überfülirt,  so  soll  man  den  Betreiber  der  Zaubereien  töten. 

Humanität 

Ex:  (115)  Irgendeine  Witwe  und  Waise  sollt  ihr  nicht 
bedrücken.  Bedrückt  ihr  sie  —  fürwahr,  wenn  sie  zu 
mir  schreit,  werde  ich  ihr  Geschrei  hören,  und  es  wird 
entbrennen  mein  Zorn,  und  ich  werde  euch  mit  dem 
Schwerte  töten,  und  eure  Frauen  sollen  Witwen  und  eure 
EÜnder  Waisen  werden  (2  2  ^^  *'•) . 

(116)  Sechs  Jahre  sollst  du  dein  Land  besäen  und  seinen 
Ertrag  ernten,  aber  das  siebente  Jahr  sollst  du  es  brach  und 
tmbebaut  lassen,  und  die  Armen  deines  Volkes  Nießnutz 
haben;  was  sie  aber  übrig  lassen,  fresse  das  Getier  des 
Feldes.  Ebenso  sollst  du  verfahren  mit  deiner  Wein-, 
deiner  ölpflanzung  (23^®'-). 

Dt:  (117)  Du  sollst  nicht  hart  behandeln  einen  armen 
und  bedürftigen  Lohnarbeiter  von  deinen  Brüdern  oder 
deinen  Schützlingen,  die  in  deinen  Ortschaften  (Var:  in 
deinem  Lande)  sind.]  Zur  rechten  Zeit  sollst  du  seinen 
Lohn  geben  und  nicht  soll  darüber  die  Soime  untergehen, 
denn  arm  ist  er  und  darauf  (auf  die  Lohnzahlung)  richtet 
er  sein  Verlangen,  und  nicht  soll  er  wider  dich  zu  Jaho 
rufen,  und  dir  eine  Schuld  anhaften  (24^**). 

(118)  Wenn  du  deine  Ernte  auf  deinem  Felde  erntest 
und  eine  Schwade  auf  dem  Felde  vergissest,  sollst  du  nicht 
umkehren,  sie  zu  nehmen  —  dem  SchützHng,  der  Waise  und 
der  Witwe  soll  sie  gehören,  damit  dich  Jaho,  dein  Gott, 
segne  in  all  deinem  Händewerk  (24^^). 

(119)  Wenn  du  deinen  Ölbaum  abklopfest,  sollst  du 
nicht  hinterher  Absuche  halten  —  dem  Schützling,  der 
Waise  und  der  Witwe  soll  es  gehören  (V.  20). 


1^8  Humanität. 

(i2o)  Wenn  du  deine  Weinpflanzung  schneidest,  sollst 
du  hinterher  keine  Nachlese  halten  —  dem  Schützling, 
der  Waise  und  der  Witwe  soU  es  gehören.  Und  du  sollst 
eingedenk  sein,  daß  du  ein  Sklave  gewesen  im  Lande 
Ägypten,  darum  befehle  ich  dir  dieses  zu  tun  (V.  21  f.). 

(121)  Am  Ende  von  drei  Jahren  sollst  du  den  ganzen 
Zehent  deines  Einkommens  im  selbigen  Jahre  (d.  h.  im 
dritten  Jahre)  herausgeben  und  in  deinen  Ortschaften  be- 
lassen. Und  es  komme  der  Levit  —  denn  er  hat  keinen 
Teil  und  Erbbesitz  bei  dir  —  und  der  SchützHng  und  die 
Waise  und  Witwe,  die  in  deinen  Ortschaften  sind,  und  sie 
sollen  essen  und  satt  werden,  auf  daß  dich  segne  Jaho, 
dein  Gott,  in  allem  Tun  deiner  Hände,  das  du  tust  (14^®). 

(122)  Am  Ende  von  sieben  Jahren  sollst  du  einen  Erlaß 
machen.  Und  so  verhält  es  sich  mit  dem  Erlaß:  erlassen 
soll  jeder  Gläubiger  das  Darlehen  seiner  Hand,  das  er 
seinem  Nächsten  leiht.  Er  soll  seinen  Nächsten  imd  seinen 
Bruder  nicht  drängen,  denn  man  hat  einen  Erlaß  zu  Ehren 
Jahos  ausgerufen.  Den  Ausländer  magst  du  drängen, 
was  du  aber  bei  deinem  Bruder  stehen  hast  (an  Schuld), 
soll  deine  Hand  erlassen  (15^"^). 

(123)  Du  sollst  einen  Sklaven  seinem  Herrn  nicht  aus- 
Hefern,  der  sich  zu  dir  vor  seinem  Herrn  rettete.  Bei  dir 
soU  er  bleiben  in  deiner  IMitte,^  an  dem  Orte,  den  er 
wählt  in  einer  deiner  Ortschaften,  der,  die  ihm  gefällt, 
du  sollst  ihn  nicht  bedrücken    (2  3  ^^  '•) . 

(124)  Wenn  unter  dir  ein  Bedürftiger  ist,  irgendeiner 
deiner  Brüder  in  einer  deiner  Ortschaften  in  deinem 
Lande,  das  Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt,  sollst  du  dein  Herz 
nicht  verhärten  und  deine  Hand  nicht  zurückhalten  vor 
deinem  Bruder,  öffnen  sollst  du  ihm  deine  Hand  und 
ihm  den  Betrag  seines  Mangels,  der  ihm  mangelt,  gegen 
Pfand  leihen.  Hüte  dich,  daß  in  deinem  Herzen  ein  nichts- 
nutziger Gedanke  aufkomme :  nahe  ist  das  siebente  Jahr,  das 

*)  D.  h.  innerhalb  deines  Landes —  ein  Zeichen,  daß  von  auswärtigen, 
fremdländischen  Sklaven  die  Rede  ist. 


Hiiiiiaiiität. 


159 


Erlaßjahr,  und  dein  Auge  deinen  bedürftigen  Bruder  böse 
ansehe  und  du  ihm  nicht  gibst  und  er  wider  dich  zu  Jaho 
ruft  und  eine  Schuld  dir  anhaftet.  Geben  sollst  du  ihm, 
und  dein  Herz  soll  nicht  böse  darüber  sein,  daß  du  ihm 
gibst.  Denn  um  dieses  willen  wird  Jaho,  dein  Gott,  dich 
segnen  in  all  deinem  Tun  und  in  aller  deiner  Hantierung. 
Denn  Bedürftige  werden  nicht  aufhören  im  Lande.  Darum 
befehle  ich  dir :  öffnen  sollst  du  deine  Hand  deinem  Bruder, 
deinem  Armen  und  deinem  Bedürftigen  in  deinem  Lande 

Lev:  (125)  Du  sollst  nicht  den  Lohn  eines  Lohnarbeiters 
über  Nacht  bei  dir  behalten  bis  Tagesanbruch  (19^^). 

(126)  Wenn  ihr  die  Ernte  eures  Landes  erntet,  sollst  du 
den  Rand  deines  Feldes  nicht  gänzlich  abernten  und  die 
Auflese  deiner  Ernte  nicht  auflesen,  auch  deinen  Wein- 
garten sollst  du  nicht  nachlesen  und  Abgefallenes  deines 
Weingartens  nicht  auflesen  —  dem  Armen  und  Schütz- 
ling sollst  du  sie  lassen  —  ich  bin  Jaho,  dein  Gott  (ig^'' 
V.  9=23"). 

(127)  Sechs  Jahre  sollst  du  dein  Feld  besäen  und  sechs 
Jahre  deinen  Weingarten  beschneiden  und  den  Ertrag 
des  Landes  einheimsen.]  Aber  im  siebenten  Jahre  soll  voll- 
kommene Ruhezeit  sein  für  das  Land,  Ruhezeit  für  Jaho : 
dein  Feld  sollst  du  nicht  besäen  und  deinen  Weingarten 
nicht  beschneiden.  Den  Nachwuchs  deiner  Ernte  sollst 
du  nicht  ernten  und  die  Trauben  deines  imbeschnittenen 
Weingartens  nicht  abschneiden  —  ein  Jahr  der  Ruhe  soll 
es  sein  für  das  Land.  Der  Ruheertrag  des  Landes  aber 
soll  euch  zur  Nahrung  dienen :  dir  und  deinem  Sklaven  imd 
deiner  Sklavin  und  deinem  Lohnarbeiter  und  deinen  Bei- 
saßen, die  bei  dir  weilen."  Auch  deinem  Vieh  und  dem  Wild 
in  deinem  Lande  soll  der  Ertrag  des  Landes  zur  Nahrung 
dienen  (2  5  3-'). 

HK :  (§  48)  Wenn  auf  jemand  eine  Darlehensforderung  lastet  und 
sein  Feld  der  Wettergott  überschwemmt  oder  Hochwasser  (?)  es  weg- 
rafft, oder  infolge  Wassermangels  Korn  auf  dem  Felde  nicht  wächst. 


l6o    Den  Volksgenosseu  und  Schützling  lieben,  nicht  bedrücken. 

so  braucht  er  in  jenem  Jahre  dem  Gläubiger  Korn  nicht  zxirückzngeben  . . . 
Auch  Zinsen  für  jenes  Jahr  braucht  er  nicht  zu  geben. 

(§  150)  Wenn  jemand  eine  Frau  heiratet  und  Entkräftung  sie  be- 
fällt, er  eine  andere  zu  heiraten  beabsichtigt,  so  mag  er  heiraten; 
seine  Frau,  welche  Entkräftung  befallen,  soll  er  nicht  entlassen,  in 
dem  von  ihnen  gegründeten  Hausstand  soll  sie  wohnen  bleiben  und 
er,  solange  sie  lebt,  sie  erhalten. 

(§  182)  Wenn  eine  Witwe,  deren  Kinder  noch  klein  sind,  sich  ander- 
weitig zu  verehelichen  beabsichtigt,  so  soll  sie  ohne  die  Richter  es 
nicht  tun.  Wenn  sie  sich  anderweitig  verehelichen  will,  so  sollen  die 
Richter  die  Verhältnisse  des  Hauses  ihres  ersten  Mannes  klarstellen: 
das  Haus  ihres  ersten  Mannes  sollen  sie  ihrem  zweiten  Manne  und 
jenem  Weib  übertragen  und  eine  Tafel  sie  ausfertigen  lassen;  sie  sollen 
das  Haus  bewahren,  auch  die  Kleinen  großziehen,  die  Hausgeräte  für 
Geld  nicht  verkaufen.  Der  Käufer,  der  das  Hausgerät  der  Kinder 
einer  Witwe  kauft,  geht  seines  Geldes  verlustig,  das  Eigentum  geht  an 
seinen  Eigentümer  zurück. 

Den  Volksgenossen  und  Schützling  lieben,  nicht 

bedrücken 

Ex:  (128)  Einen  Schützling  sollst  du  nicht  bedrücken 
und  sollst  du  nicht  bedrängen,  denn  Schützlinge  wart  ihr 
im  Lande  Ägypten  (22-"). 

(129)  Einen  Schützling  sollst  du  nicht  bedrängen,  ihr 
wißt  ja,  wie  es  dem  Schützling  zumute  ist,  denn  Schütz- 
linge wart  ihr  im  Lande  Ägypten  (23'). 

Dt:  (130)  Ihr  sollt  den  Schützling  lieben,  denn  Schütz- 
Hnge  wart  ihr  im  Lande  Äg5rpten  (10*^). 

Lev:  (131)  Du  sollst  deinen  Nächsten  nicht  hart  be- 
handeln und  nicht  berauben  (19^'). 

(132)  Du  sollst  nicht  Rache  üben  und  nicht  grollen  gegen 
deine  Volksgenossen,  sondern  sollst  deinen  Nächsten  wie 
dich  lieben  —  ich  bin  Jaho  (19^®). 

(133)  Wenn  ein  SchützUng  bei  euch  weilt  in  eurem  Lande, 
so  sollst  du  ihn  nicht  bedrücken.  Wie  euer  Volkszuge- 
höriger soll  euch  der  Schützling  sein,  der  bei  euch  weilt, 
und  du  sollst  ihn  wie  dich  lieben,  denn  Schützlinge  wart 
ihr  in  Ägypten  —  ich  bin  Jaho,  euer  Gott  (ig^^^-). 


Ausgewählte  Kultus  Vorschriften.  l6l 

Für  die  Snuahnung  des  babylonischen  Weisen,  dem  Nächsten 
Liebe  zu  erzeigen,  ihn  nicht  zu  verachten  oder  herrisch  zu  unter- 
drücken, was  notwendig  Gottes  Zorn  htrbcifülire,  vielmehr  den,  der 
da  bittet,  zu  speisen  und  zu  tränken,  was  Gottes  Wohlgefallen  sei, 
hilfreich  zu  sein  und  Gutes  zu  tun  allerwege,  siehe  oben  Anm.  46. 


Ausgewählte  Kultusvorschriften 

Ex:  (134)  Einen  Altar  aus  Erde  sollst  du  mir  machen 
und  auf  ihm  deine  Brand-  und  Huldigungsopfer,  deine 
Schafe  und  deine  Rinder,  opfern;  an  jedem  Orte,  woselbst 
ich  meinen  Namen  nennen  werde,  werde  ich  zu  dir  kommen 
und  dich  segnen.  Und  wenn  du  mir  einen  Altar  aus  Steinen 
machst,  sollst  du  kein  behauenes  Gestein  zum  Bau  ver- 
wenden, denn  schwingst  du  über  ihm  dein  Eisenwerkzeug, 
so  entweihest  du  ihn.^  Und  du  sollst  nicht  auf  Stufen 
zu  meinem  Altar  emporsteigen,  daß  nicht  deine  Blöße  auf 
(oder  an)  ihm  entblößt  werde  (20^*"^*). 

Dt:  (135)  Nicht  sollst  du  Jaho,  deinem  Gotte,  einen 
Stier  oder  ein  Schaf  opfern,  an  welchen  ein  Fehler  ist, 
irgendetwas  Böses,  denn  ein  Greuel  Jahos,  deines  Gottes, 
ist  es  (17^).^ 

(136)  Wenn  du  Jaho,  deinem  Gotte,  ein  Gelübde  ge- 
lobest, sollst  du  nicht  zögern,  es  zu  begleichen.  Denn  Jaho, 
dein  Gott,  wird  es  von  dir  fordern  und  eine  Schuld  wird 
dir  anhaften.  Weim  du  aber  zu  geloben  imterlässest, 
haftet  dir  keine  Schuld  an.  Was  deine  Lippen  verlaut- 
barten,  sollst  du  halten  und  tun,  wie  du  Jaho,  deinem 
Gotte,  gelobt  hast  —  freiwillig  war,  was  du  mit  deinem 
Munde  geredet  (2  3  ^^  «•) . 


»)  Vgl.  Dt  2 78  f.  Jos  8". 

*)  Vgl.  das  oben  zum  IV.  Gebot  zitierte  Gesetz  Dt  i  s^*"**,  speziell 
V.  31.    Desgleichen  Lev  22^8"", 


FRIEDRICH  DELITZSCH 

DIE  GROSSETÄUSCHUNG 

ZWEITER  (SCHLUSS-)  TEIL 

Fortgefetzte  kritifche  Betraditungen 

zum  Alten  Teftament,  vomehmlicii  den  Propheten*» 

fchriften  und  Pfalmen,  neblt  Scfilußfolgerungen 


Motto  1 
Um  »Gottes«  willen! 


DEUTSCHE  VERLAGS-ANSTALT 

STUTTGART  UND  BERLIN 

1.9-2.1 


Alle  Redite  voilxhaltcn 


Copyright  1921 
by  Deutfche  Verlags 'Anftalt,  Stuttgart 

DiiKk  der 
Deutfdteii  Veriags-Anftalt  in  Stoagart 


Vorwort 

Bei  der  Veröffentlichung  der, .Großen  Täuschung"  mußte 
ich  gefaßt  sein ,  daß  mir  infolge  meiner  von  der  alther- 
gebrachten abweichenden  religiösen  Bewertung  des  Alten 
Testaments  und  des  Verhältnisses  des  Neuen  Testaments 
zum  Alten  aus  tausend  Kehlen  jüdischer  wie  christlicher 
Elritiker  die  Anklage  des ,  .Antisemitismus' '  entgegenschallen 
würde*,  jenes  Schlagwortes,  das  so  vielen  Anklägern  zum 
willkommenen  Deckmantel  dient  für  die  eigene  antideutsche 
und  antichristliche  Gesinnung.  Sofern  man  von  mir  nicht 
das  Unmögliche  fordert,  daß  ich  unter  Millionen  Deutscher 
und  Nichtdeutscher  der  Einzigste  sein  soll,  der  gegen  die 
Flammenzeichen  der  jüngsten  Vergangenheit  und  der 
Gegenwart  blind  ist,  darf  ich  mit  gutem  Gewissen  den 
Vorwurf  des  Antisemitismus  weit  von  mir  weisen.    Ich 


♦)  „Antisemitische  Kampfschrift",  „wütender  Antisemit"  (Frank- 
furter Zeitung);  „geistiges  Pogrom"  (Vossische  Zeitung);  „gallebitteres 
Pamphlet,  das  die  antichristliche  (!)  Richtimg  offenbart,  die  der  Anti- 
semitismus genommen  hat"  (Berliner  Tageblatt  vom  2g.  August  1920) ; 
„brutaler  antisemitischer  Angriff  auf  die  alttestamentUche  Religion  \md 
das  gesamte  Judentum",  ,, wilder  Zorn  gegen  das  israehtisch-jüdische 
Volk",  ,,anti jüdischer,  zugleich  das  Christentum  (!)  untergrabender 
Fanatismus"  (Kölnische  Volkszeitimg).  Und  Prof.  Dr.  M.  Rosenfeld 
in  Wiener  Morgenzeitung  vom  14.  Juli  1920:  „sinnverwirrender  Paroxys- 
mus  des  Hasses",  „Nachkriegspsychose",  ,, Gewissenlosigkeit  teuf- 
lischer Täuschimgsversuche",  „Haßorgie",  ,,D,  kämpft  mit  in  Gift 
getauchter  Pfeilspitze  gegen  den  Gott,  den  das  Judentum  die  Mensch- 
heit gelehrt  hat  (!),  und  findet  keinen  andern  Ausweg  aus  der  jüdi- 
schen Gefahr  als  das  jüdische  Volk  auszurotten  und  zu  ver- 
nichten" (in  der  Wiener  Zeitimg  gesperrt).  Und  so  fort  in  infinitum. 
Zahlreiche  Zuschriften  jüdischer  Männer,  Lehrer,  sogar  Rabbiner  zeigen 
mir  erfreuhcherweise,  wie  man  auch  in  diesen  Kreisen  anfängt,  solche 
Art  der  Polemik  zu  verurteilen,  ja  sich  ihrer  zu  schämen. 


A  Vorwort. 

habe  mich  mein  Leben  lang  als  Gegenteil  eines  Antisemiten 
erwiesen :  habe  Jahrzehnte  hindurch  im  Verein  mit  hoch- 
gesinnten Männern  des  Judentums  für  den  Ruhm  der 
deutschen  Wissenschaft  gearbeitet,  habe  viele  j  unge  j  üdische 
Gelehrte  in  ihren  Studien  und  in  ihrer  Laufbahn  nach 
Kräften  gefördert,  und  bin  vielen  deutsch  denkenden  und 
deutsch  fühlenden  jüdischen  Familien  in  Freundschaft 
verbunden.  Auch  ist  mir  in  den  zahllosen  Kritiken  meiner 
Vorträge  über  Babel  und  Bibel  und  der  anschließenden 
Schriften  niemals,  von  keiner  einzigen  Seite  der  Vorwurf 
des  Antisemitismus  gemacht  worden,  im  Gegenteil  hat 
mich  der  Verfasser  der  ,, Grundlagen  des  neunzehnten 
Jahrhunderts"  unter  den  heftigsten,  mehrere  Druckbogen 
füllenden  Schmähungen  des  Philosemitismus  bezichtigt. 
Da  nun  die  der  Neuausgabe  des  I.  Teils  und  die  diesem 
n.  Teile  der  ,, Großen  Täuschung"  beigefügten  zahlreichen 
Anmerkungen  aus  Babel  und  Bibel  II  und  III  zeigen,  daß 
sich  meine  religionsgeschichtlichen  Untersuchungen  seit 
1902  bis  heute  in  durchaus  geradliniger  Richtung  bewegen, 
so  wird  die  Wahrheit  wohl  in  der  Mitte  zwischen  Philo- 
und  Antisemitismus  liegen,  das  heißt:  es  wird  anzuerkennen 
sein,  daß  ausschließlich  unbestechliche  Wahrheits- 
liebe mich  leitet.  Wenngleich  die  jetzt  lebenden  christlichen 
Theologen  ihre  überkommenen  Schulmeinungen  schwerlich 
aufgeben  werden,  ja  kaum  aufgeben  können,  so  lebe  ich 
doch  der  Hoffnung,  daß  jüngere,  an  den  deutschen  Volks- 
wie  Hochschulen  lehrende  und  lernende  Generationen  die 
Darlegungen  der  „Großen  Täuschung"  ernst  und  vor- 
urteilsfrei prüfen  und  an  ihrem  Teüe  mit  dazu  beitragen 
werden,  das  ,,Alte  Testament"  aus  Schule  und  Kirche 
zu  verabschieden  und  die  Gestalt  und  Lehre  Jesu  der 
Christenheit  rein  und  imverfälscht  wiederzugeben. 

Berlin,  März  1921. 

Friedrich  Delitzsch. 


In  meiner  Studentenzeit  erinnere  ich  mich  von  einem 
berühmten  lutherischen  Professor  der  alttestament- 
lichen  Theologie  den  Ausspruch  gehört  oder  gelesen  zu 
haben:  „Die  Überlieferung  des  alttestamentUchen  Textes 
ist  vielleicht  ein  noch  größeres  Wunder  als  die  alttesta- 
mentliche  Gottesoffenbarung  selbst".  Der  paradoxe  Aus- 
spruch bezog  sich  wohl  ursprünglich  auf  die  scheinbar 
peinHchst  sorgsame  Vokalisienmg  und  Akzentuierung  der 
alttestamentUchen  Schriften  und  wurde  dann  auf  die 
Überlieferung  des  alttestamentUchen  Textes  überhaupt 
ausgedehnt.  Nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wissen- 
schaft gäbe  es  keine  gründlichere  Verurteiltmg  des  Alten 
Testamentes  als  einer  göttUchen  Offenbanmg  als  jenen 
Ausspruch.  Denn  wir  wissen  jetzt,  daß  ims  das  alttesta- 
mentUche  Schrifttum,  das  vermein tUche  Wort  Gottes,  so 
fehlerhaft,  ja  liederUch  überUefert  worden  ist  wie  nur 
irgend  denkbar.  Ich  lasse  hier  beiseite,  daß  eine  große 
Reihe  im  Alten  Testamente  zitierter  Schriftwerke  ver- 
loren gegangen  ist  (siehe  Teil  I  An  mm.  i  und  39),  vielmehr 
meine  ich  die  von  Fehlem  allerart  geradezu  wimmelnde 
Rezension  der  erhalten  gebliebenen  althebräischenSchrif  ten . 
Abgesehen  von  den  zahllosen  Fehlern  der  Abschreiber, 
die  z.  B.  in  den  Psalmen  nicht  einmal  die  Kehrverse  richtig 
abzuschreiben  sich  bemühten  ^,  und  die  oft  genug  Ver- 
schreibungen  absichtlich  stehen  ließen,  um  durch  Korrektur 
den  Wert  der  Handschrift  nicht  zu  verringern ,  behandelten 
die  letzten  Abschreiber  den  ihnen  überkommenen  Text 
dermaßen  idiotisch  pietätvoll,  daß  sie  sogar  alle  ausge- 
merzten, am  Rande  verzeichneten  Fehler  wieder  in  den 


^)  Siehe  im  Anhang  die  Pss  49,  67,  80. 


6  Fehlerhafte  Überlieferung  des  alttestamentlichen  Textes. 

vermeintlich  heiligen  Text  aufnahmen,  ebenso  die  nach 
Tausenden  zählenden  am  Rande  vermerkten,  zum  Teil 
ziemHch  umfangreichen  Notizen  allerart^  infolge  wovon 
die  Psalmen  z.  B.  ihrer  ursprünglich  poetischen  Form  voll- 
ständig entkleidet  und  Hunderte  anderer  alttestament- 
licher  Stellen,  z.  B.  im  Buche  Hosea,  in  trostloser  Ver- 
wirrung auf  uns  gekommen  sind.  Dazu  kommt  aber  ein 
Anderes,  wenn  möglich  noch  Schlimmeres.  Die  alttesta- 
mentlichen Schriften  waren  gleich  vielen  anderen  semitischen 
Schriften  ursprünglich  so  geschrieben,  daß  nur  die  Konso- 
nanten graphischen  Ausdruck  fanden,  die  Vokale  dagegen 
nur  ganz  notdürftig  und  mißverständlich  durch  die  so- 
genannten Halbvokale  h,  j  und  v  {w)  bezeichnet  wurden. 
Erst  im  7.  Jahrhundert  n.  Chr.,  nachdem  das  Hebräische 
bereits  acht,  neun  Jahrhunderte  aufgehört  hatte,  eine 
lebende  Sprache  zu  sein,  imd  authentische  hebräische 
Sprachkenntnis  und  natürüches  Sprachgefühl  mehr  imd 
mehr  verblaßt  waren,  unternahmen  es  die  sogenannten 
Masoreten,  die  althebräischen  Schriften  mit  unmißver- 
ständlichen Vokalzeichen  zu  versehen,  ließen  sich  aber 
dabei  in  Hunderten  von  Fällen  Fehler,  ja  sogar  Schnitzer 
zum  Teil  bedenkHchster  Art  zuschulden  kommen.  Indes, 
das  sind  Interna  der  hebräischen  bzw.  alttestamentUchen 
Sprachwissenschaft.  Für  weitere  Kreise  der  Gebildeten 
sind  diese  fehlerhaften  Vokalisiertmgen  nur  insoweit  von 
Interesse,  als  sie  Eigennamen  betreffen,  und  diese  von 
jüdischen  sprachimkundigen  Gelehrten  gemachten  Fehler 
seitdem  Gemeingut  der  abendländischen  Völker  geworden 
sind.  So  hat  es  z.  B.  eine  Stadt  des  Namens  Ninewe 
{NivevT],  so  schon  griechische  Übersetzung  und  Neues  Testa- 
ment) niemals  gegeben.  Diese  Vokalaussprache  der  über- 
üeferten  Konsonanten  ist  ebenso  willkürUch  als  falsch.  Die 
konsonantische  Wiedergabe  meinte  Ninüa,  wie  die  Assyrer 
ihre  Landeshauptstadt  niemals  anders  als  Ninua  oder  Nina, 

^)  Siehe  für   all   dies  und  das   Folgende  meine  in  Teil  I  Anm.  2 
zitierte  Schrift. 


Falsche  Überlieferung  vieler  Eigennamen.  7 

griechisch  /)  Nryog,  nannten  '.  Ein  Fall  von  vielen.  Aber 
auch  nicht  einmal  die  eigenen  hebräischen  Namen  wußten 
sie  richtig  zu  lesen.  So  hat  es  z.  B.  auch  einen  Propheten 
Obadja  niemals  gegeben,  der  Name  Obadja  „Knecht 
Jahos"  ist  so  unhebräisch  wie  möglich,  aber  der  Fehler 
wird  kaum  auszurotten  sein,  obwohl  schon  die  zirka  acht 
Jahrhtmderte  früher  lebenden  griechisch-jüdischen  Bibel- 
übersetzer, die  noch  wesentlich  besser  hebräisch  ver- 
standen als  ihre  Epigonen,  den  Namen  richtig  Abdia 
lasen,  in  der  lateinischen  Bibelübersetzung  Abdias,  wie 
der  Prophet  demzufolge  auch  in  der  katholischen  Kirche 
mit  Recht  heißt.  Die  schönsten  hebräischen  Personen- 
namen wie  ,, Harre,  hoffe  auf  Jaho" :  Chakke-l'-Jah, 
Qawwc-l^-Jäh,  JacheUl^-el  wurden  nicht  mehr  verstanden 
und  in  Chakalja,  Qöläja,  Jachl'el  verballhornt  2.  Absicht- 
lich falsche  Lesungen  erlaubten  sich  die  Punktatoren  mit 
den  fremdländischen  Gottheitsnamen.  Da  es  Ex  23^^ 
heißt:  „Den  Namen  anderer  Götter  sollst  du  nicht  nennen, 
nicht  werde  er  gehört  in  deinem  Munde",  gaben  sie,  so- 
weit es  möghch  war,  den  fremden  Gottheitsnamen  die 
Vokale  des  hebräischen  Wortes  böschet,  das  ist  etwa 
,, Schandgötze",  daher:  'Aschtöreth,  Lä'ömer,  und  vor  allem 
Mölech,  eine  tendenziöse  Vokalaussprache,  die  schon  dem 
Moloch  der  griechischen  Bibelübersetzer  zugrunde  liegen 
mag.  In  Wahrheit  hat  es  niemals  einen  Gott  namens 
Moloch  gegeben,  der  wirkliche  Name  dieses  kanaanäischen 
Gottes  war  Mälk  oder  Mäläch.  Täuschung  über  Täuschung 
schon  in  solchen  Äußerlichkeiten. 


^)  Die  in  den  hettitischen  Boghaz-köi- Inschriften  wechselnden  Schrei- 
bungen wie  Ta-ku-wa  und  Ta-ku-ü-a  (Nr.  i  Z.  30  f.)  =  Taküa  lehren, 
daß  auch  die  Schreibungen  wie  Ni-nu-wa  Ninüa  meinten. 

^)  Ed.  König  bleibt  natürlich  bei  dem  mittelalterlichen  Chakalja 
und  deutet  dies  „Umdunkelt  hat  sich  J."  (!),  obwohl  bereits Th.  Böhme 
(1871)  das  Richtige  erkannt  hatte.  Und  Qöläja  soll  heißen :  ,,eine  Kunde 
(l)  =  Gnadenzeichen  (!)  J.'s"  —  da  hört  jede  wissenschaftliche  Dis- 
kussion auf. 


8  Die  Erzählung  Lev  24 1*'-'^. 

Indes,  das  alles  ist  im  Grunde  wenig  belangreich.  Un- 
gleich wichtiger  ist  eine  andere  Irreführung  der  christ- 
hchen  Völker  —  ich  meine  die  allbekannte  Aussprache  des 
israelitischen  Gottesnamens  als  Jehova. 

Im  dritten  Buche  Mosis  (I^ev  24^*^^^)  wird  erzählt,  daß 
der  Sohn  eines  israelitischen,  näher  danitischen  Weibes 
imd  eines  ägyptischen  Vaters  im  Lager  mit  einem  Israeliten 
in  Streit  geraten  sei  imd  den  Namen  Jahos  verflucht^ 
bzw.  geschmäht^  und  verwünscht^  habe,  worauf  Jaho 
Mose  Befehl  gibt,  den  „Verflucher"  {ham-m^qallel)  durch 
die  ganze  Gemeinde  zu  Tode  steinigen  zu  lassen:  „jed- 
weder, der  seinen  Gott  verflucht  (fgallel),  soll  seine 
Sünde  büßen  2,  und  wer  den  Namen  Jahos  schmäht 
{nöqeb),  soll  getötet  werden  —  steinigen  soll  ihn  die 
ganze  Gemeinde....;  dafür,  daß  er  geschmäht  hat  den 
Namen  Jahos,  soll  er  getötet  werden".  Der  Zusammen- 
hang der  Erzählung  führt  mit  aller  nur  erdenkbaren  Klar- 
heit darauf,  daß  die  betreffenden  Gesetzbestimmungen 
einzig  und  allein  gegen  das  Verwünschen,  Verfluchen 
des  Namens  Jahos,  das  ist  Jahos  selbst,  gerichtet  sind.* 
Wohl  alle  christlichen  Theologen  dürften  darin  einig  sein, 
daß  das  betreffende  Verbum  (näqab)  an  der  Stelle  lycv  24^' 
nichts  anderes  als  „schmähen"  bedeuten  kann,  wie  ja 
schon  Luther  „lästern"  übersetzt.  D^egen  faßten  die 
späteren  jüdischen  Schriftgelehrten  das  Verbum  näqab  in 


*)  Je  nachdem  waj-jiqqHh,  V.  11,  was  das  Nächstliegende,  von  qähab 
,, verfluchen"  oder,  worauf  V.  16  führt,  |von  näqab  (s.  hierunten  Anni.4) 
abgeleitet  wird. 

2)  qilUl,  das  gewöhnliche  Verbum  für  „verfluchen". 

3)  Vgl.  Ex  1222':  „Gott  sollst  du  nicht  verfluchen"  (t^qaltel). 

*)  Sie  beweisen  ebendamit  für  das  hebräische  Verbum  näqab,  welches 
ursprünglich  „durchbohren"  bedeutet,  neben  , .bezeichnen"  usw.  (vgl. 
englisch  to  style),  noch  eine  weitere  Bedeutimg  „schmähen",  genau  so 
wie  arabisch  ta'ana  die  beiden  Bedeutungen  „durchbohren"  und 
„schmähen"  in  sich  vereinigt.  Zu  dem  Bilde:  jemand  mit  Worten  durch- 
bohren =  schmähen  beachte  auch  Ps  42  ^^.  Auch  das  deutsche  „Stich- 
wort" konnte  ein  „verletzendes  Wort"  bedeuten.    Und  vgl.  „sticheln". 


Der  vermeintlich  unaussprechbare  Jaho-Name.  g 

der  dritten  ihm  eigenen  Bedeutung:  „bezeichnen,  be- 
stimmen, benennen",  verdrehten  diese  Bedeutungen  in 
die  Bedeutung  ,, aussprechen"  und  fälschten  das  Gesetz 
Lev  24*'  gegen  Kontext  und  gesunden  Menschenverstand 
um  in  das  Gesetz,  daß  den  Namen  Jahos  auszusprechen 
die  Todesstrafe  verwirke.  Gegen  den  gesunden  Menschen- 
verstand: denn  man  fragt  sich  erstaunt,  warum  der 
Gottesname  durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  von  He- 
bräern und  Moabitern  JHVH  geschrieben  tmd  gewiß 
auch  ausgesprochen  wurde  (letzteres  vom  Alten  Testament 
selbst  sogar  für  den  assyrischen  Heerführer  Sanheribs  be- 
zeugt, siehe  2  KÖ  18 22.  25.  82.  35;  Jes  36'-  l«-  l«-  2«),  bis  plÖtZ- 

Uch  die  ganz  späte,  dem  5.  Jahrhundert  entstammende 
Erzählung  des  Leviticus  die  Aussprechung  des  Gottes- 
namens verbot,  ja  mit  dem  Tode  bedrohte!  Indes,  gleich- 
viel ob  noch  so  unberechtigt,  man  begaim  das  sogenannte 
Tetragramm,  mit  welchem  der  Gottesname,  wenn  er  selb- 
ständig gebraucht  war,  geschrieben  wurde,  bald  durch 
Elöhim  ,,Gott",  bald  durch  Adönäi  ,,Herr"  zu  ersetzen 
(Anm.  i),  die  späteren  Hinzufüger  der  Vokalzeichen  aber 
gaben  dem  Gottesnamen  bald  die  Vokale  des  ersten,  bald 
jene  des  zweiten  Ersatzwortes,  sodaß  nun  das  Tetragramm 
bald  als  Jehovi,  bald  als  Jehovä  (hier  e  statt  a)  vokalisiert 
erscheint,  während  es  nach  der  Absicht  der  Vokalisatoren 
dort  Elohim,  hier  Adönäi  gelesen  werden  sollte.  Sie  ver- 
sahen also,  um  das  Gesagte  an  deutschen  Wörtern  zu  illu- 
strieren, das  für  unaussprechbar  gehaltene  „Herrgott"  mit 
den  Vokalen  von  „Allherr",  damit  statt  Herrgott  vielmehr 
Allherr  gelesen  werde.  In  vollstem  Mißverständnis  dieses 
Tatbestandes  lasen  aber  die  Gelehrten  des  Mittelalters, 
las  Luther  und  liest  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  ganze 
Christenheit  den  schlechterdings  unsinnigen  Namen  Jehova 
und  besingt  Gott  mit  dem  Namen  Jehova,  was  ebenso 
anwidernd  ist,  als  wenn  man  unsem  Herrgott  mit  Harrgett 
besingen  wollte.  Es  wird  wahrlich  Zeit,  daß  mit  diesem 
sormenklaren  Unsinn  aufgeräumt  wird,  daß  dieses  Mon- 


10  D'6  unsinnige  Lesung  Jehova. 

strum  von  Gottesnamen,  das  unsere  Kirchenlieder  und 
unsere  christlichen  Bücher  schändet,  ein  für  allemal  aus- 
gerottet werde.  ,,Dir,  Dir,  o  Allherr,  will  ich  singen",  aber 
um  Gottes  willen  nicht  länger:  ,,Dir,  Dir,  Jehova,  will  ich 
singen".  Die  letzte  Schuld  tragen  freiUch  auch  an  diesem 
greulichen  Worte  Jehova  die  jüdischen  Schriftgelehrten, 
die  sicher  nicht  so  töricht  waren,  den  wahren  Sinn  der  Er- 
zählung Lev  24  zu  verkennen,  die  aber  mit  Freude  die 
Gelegenheit  ergriffen,  dadurch,  daß  sie  die  Schreibung  ihres 
Gottesnamens  mit  den  vier  Konsonanten  für  unaussprech- 
bar erklärten,  diesen  hebräischen  Gottesnamen  mit  ge- 
heimnisvollem, heiHgem  Nimbus  zu  umkleiden,  wie  ja  die 
führenden  Männer  Israels  es  je  und  je  meisterhaft  ver- 
standen haben,  Israels  Sagen,  Geschichte,  Institutionen, 
hervorragende  Männer  mit  einem  durch  die  Tatsachen  ganz 
imd  gar  nicht  gerechtfertigten  Nimbus  der  Heiligkeit  zu 
umgeben,  woraufhin  natürlich  auch  unsere  alttestament- 
lichen  Theologen  immerfort  von  „heiliger"  Geschichte, 
,, heiliger"  Sage  sprechen,  die  hebräische  Sprache  und 
Literatur  als  ,, heilig"  bezeichnen  und  Eduard  König  jene 
vier  Konsonanten  JHVH  sogar  das  „hochheiligeTetra- 
gramm"  nennt  1.  In  Wahrheit  ist,  wie  neuere  Funde^ 
schüeßen  lassen,  der  dritte  Buchstabe,  das  V,  nur  ein 
an  sich  entbehrlicher  Vokalbuchstabe,  um  die  Aussprache 
des  ursprünglich  ,1.1''  geschriebenen  Namens  als  Jaho  zu 


1)  Hebräisches  und  aramäisches  Wörterbuch  xum  Alten  Testament, 
Leipzig  1910,  S.  144  a. 

2)  Ich  meine  die  Schreibung  auch  des  selbständig  stehenden  Gottes- 
namens als  in^-  einmal  auch  ppi,  in  den  aramäischen  Papyri  aus 
Elephantine  (Näheres  in  Anm.  2).  Diese  Schreibungen  reichen  hin  zum 
Beweise,  daß  das  ^  in  rnn"*  nicht  radikal  sein  kann,  sondern  nur 
Vokalbuchstabe.  Da  auslautendes  6  einerseits  sowohl  durch  ^  als 
durch  n  wiedergegeben  werden  konnte  (vgl.  die  Eigennamen  N'chö, 
Stlö,  Jericho  sowie  z.  B.  den]_Inf.  abs.  rä6  „sehen"),  andererseits  gern 
mit  zwei  Vokalbuchstaben  ^  und  {^  geschrieben  wurde  (vgl.  'Iddö, 
Jäphö,  N'bd  u.  a.),  so  kann  die  dreifache  Schreibung  von  Jahö  {J'hö) 
a^  nn^'    in^'   mn^  nicht  verwundern. 


Die  Ex  \  ••  versuchte  Deutung  des  Tetragramms.  n 

sichern,  wie  ja  in  den  hebräischen  Personennamen  eben- 
dieser  Gottesname  zu  tausend  Malen  als  Jeho,  Jähü,  er- 
scheint, z.  B.  Jehonäthän,  Chizqijjähü  usw.  Es  wäre  ja 
auch  im  höchsten  Grade  befremdend,  wenn  in  dem  als 
männlicher  Personenname  dienenden  Sätzchen:  El-J'ho 
(J6)-  'inäi  ,,auf  Jaho  sind  meine  Augen  gerichtet"  und  in 
dem  eine  gewöhnliche  Aussage  bildenden  Sätzchen: 
eläcJm  J'hö  'inäi  ,,auf  dich,  T}'\TT,  sind  meine  Augen  ge- 
richtet" (Ps  141  ^  vgl.  25^®)  der  einmal  kürzer  (1,1"').  das 
andere  Mal  mit  einem  Buchstaben  mehr  (mn'')  geschriebene 
Gottesname  einmal  Jeho,  das  andere  Mal  Jahwe  gelesen 
worden  wäre.  Das  Nebeneinander  dieser  beiden  Aussagen 
beweist  zugleich  von  neuem  die  Widersiimigkeit  vom  so- 
genannten nomen  ineffäbile.  Die  Schrulle  der  vermeint- 
lichen Unaussprechbarkeit  des  Tetragramms  gestattete 
nun  aber,  in  das  Tetragramm  allerhand  hineinzugeheim- 
nissen,  wozu  der  erste  Ansatz  bereits  mit  Ex  3^*  gemacht 
war.  Auf  die  dortige  Frage  Mosis,  was  er  den  Kindern 
Israels  sagen  solle,  wenn  man  ihn  nach  dem  Namen  ihres 
Gottes  fragen  würde,  antwortete  Gott,  den  eigenen  Namen 
als  hebräisch  deutend :  äh^jä  aschär  äj^jä,  was  schon  nach 
I/Uthers  Übersetzung  heißen  soll:  ,,ich  werde  sein,  der  ich 
sein  werde",  und  weiter :  ,,so  sollst  du  sagen  zu  den  Kindern 
Israel:  Ä¥jä  hat  mich  zu  euch  gesandt".  Aber  selbst 
angenommen,  daß  das  betreffende  hebräische  Verbum 
für  ,, werden,  geschehen"  auch  „sein"  in  dem  hier  be- 
nötigten Siime  bedeuten  könnte,  ist  diese  Deutung  „ich 
werde  sein,  der  ich  sein  werde"  so  nichtssagend  wie  nur 
möglich.  Um  die  ewig  unveränderliche  Absolutheit  des 
göttlichen  Wesens  ztmi  Ausdruck  zu  bringen,  müßte  doch 
gesagt  sein :  ich  war  oder  ich  bin,  der  ich  sein  werde  (vgl. 
die  alte  Deutung  6  djv  wxl  6  eöö/uevos,  sowie  z.  B.  Jes  41*). 
Diese  Kombination  des  Gottesnamens  J%6,  Jähü  mit  den 
von  fem  anklingenden  hebräischen  Verbalformen  ji¥jä 
,,er  wird",  j'hi  ,,es  werde"  ist  eine  jener  schHmmen  Volks- 
etymologien, wie  sie  das  Alte  Testament  so  massenhaft 


12  Die  Unhaltbarkeit  der  Lesung  Jahwe. 

verunzieren^  —  Wortspielereien,  gut  gemeint,  zum  Teil 
auch  siimig,  aber  meist  von  Gnmd  aus  verfehlt,  wie  z.  B. 
der  Name  Bäb-el's,  d.h. , .Pforte  Gottes",  von  dem  hebräi- 
schen Schriftsteller  als  , »Verwirrung"  gedeutet  wird,  eine 
für  jeden  Einsichtigen  an  den  Haaren  herbeigezogene 
Wortverdrehung,  die  aber  von  Ed.  König  dennoch  als 
einzig  richtige  Namensdeutung  gerechtfertigt^  wird,  wes- 
halb es  mir  für  meine  Person  nutz-  und  zwecklos  erscheint, 
irgendwelche  seiner  Darlegungen  eingehenderer  Beachtvmg 
und  Widerlegung  zu  würdigen.  Den  Ursprung  des  kana- 
anäischen  Gottesnamens  Jaho  darzulegen,  ist  hier  nicht 
der  Ort.  Mag  sein  Ursprung  und  seine  Bedeutung  bereits 
aufklärbar  sein  oder  nicht  —  so  viel  ist  sicher,  daß  die  be- 
liebt gewordene  Lesung  des  Tetragrammes  als  Jahwe  und 
seine  Deutung  als  „er  ist",  d.  h.  „Seiender,  Bleibender, 
Beständiger,  Ewiger",  desgleichen  daß  die  Annahme  ver- 
meintlicher Abkürzung  von  Jahwe  zu  Jeho,  Jähü,  Jäh 
aus  graphischen  wie  grammatisch-lexikalischen  Gründen 
nicht  länger  haltbar  ist  (Anm.  2),  mögen  die  alttestament- 
lichen  Theologen  noch  so  lange  fortfahren,  an  dem  her- 
gebrachten Irrtume  festzuhalten. 

Unvergleichlich  verhängnisvoller  aber  als  die  Um- 
vokalisierung  des  Gottesnamens  Jaho  in  Jehova  ist  die 
von  Israel  den  christHchen  Völkern  bis  auf  den  heutigen 
Tag  suggerierte  Gleichsetzung  des  Gottes  Jaho  mit  dem 
über  alle  Völker  und  Menschen  in  vollkommen  gleicher 
Weise  waltenden,  das  ganze  Weltall  durchdringenden,  be- 
lebenden und  erhaltenden  Weltgeiste,  den  wir  ,,Gott" 
nennen.  Dies  ist  die  im  I.  Teile  meiner  Schrift  „Die  große 
Täuschung"  gemeinte  und  bewiesene  weltgeschichtHch 
größte  Täuschung,  der  alle  nichtisraelitischen,  im  Glauben 
an  das  Alte  Testament  als  an  ,, Gottes"  Wort  erzogenen 


^)  Ich  erinnere  nur  an  die  Erklärung  des  Namens  Samuel  (i  Sa  1  ^) 
und  vgl.  das  bereits  I  S.  22  Gesagte. 

2)  „^33  .Verwirrimg',  als Bäbilu  ,GottespioTte'  in  der  Keilschrift- 
literatur  aufgefaßt"    {Hebr.  Wörterbuch    s.v.)l 


Jaho  der  hebräische  Nationalgott.  Iß 

Völker  zum  Opfer  gefallen  sind.  Kein  urteilsfähiger  An- 
gehöriger des  jüdischen  Volkes,  der  nicht  aufrichtig  zu- 
gäbe, daß  der  alttestamentliche  Gottesbegriff  der  denkbar 
engherzigste,  partikularistischste  gewesen  und  bis  auf 
diesen  Tag  geblieben  ist:  Jaho,  der  , .Heilige  Israels",  ist 
der  ausschließliche  Gott  Israels,  der  auch  ausschließlich 
auf  dem  Boden  und  nach  der  Sitte  seines  Landes  verehrt 
werden  wollte  und  durfte,  und  Israel  ist  unter  allen 
Völkern  des  Erdkreises  das  einzige,  das  Jaho  sich  zum 
Eigentume  erwählt  hat.  Hundert  und  aberhundert  Stellen 
des  Alten  Testamentes  sprechen  diese  für  ewig  feststehende 
Tatsache  imum wunden  tmd  imzweideutig  aus.  Mein  Nach- 
weis brachte  und  bringt  in  der  Tat  an  sich  absolut  nichts 
Neues.  Nur  koimte  ich  als  Forscher  auf  dem  Gesamt- 
gebiete altorientaUscher  Wissenschaft  die  alte  Wahrheit 
noch  weiter  illustrieren  imd  bekräftigen  durch  den  Hinweis, 
daß  alle  vorderasiatischen  Völker  ihren  besonderen 
Nationalgott  besaßen,  daß  ein  Volk  erst  durch  diesen 
seinen  besonderen  Gott  als  seinem  nationalen  Oberhaupte 
existenzfähig,  existenzberechtigt  wurde.  Auch  dies  lehrt 
das  Alte  Testament  an  zahlreichen  Stellen,  z.  B.  durch 
die  bekannten  Worte  Ruths:  „Dein  Volk  ist  mein  Volk 
und  dein  Gott  ist  mein  Gott."^  Diese  denkbar  engste  Zu- 
sammengehörigkeit Jahos  tmd  Israels  kommt  auch  darin 
ztun  Ausdruck,  daß  die  hebräische  Namengebung  (in 
Übereinstimmung  mit  der  anderer  semitischer  Völker) 
nicht  davor  zurückscheut,  Jaho  als  ,, Bruder"  imd  ,, Volks- 
genossen" des  einzelnen  Israeliten  in  Anspruch  zu  nehmen 
(Anm.  3) .  Es  ist  ein  wahres  Verhängnis,  daß  von  den  alten 
vorderasiatischen  Literaturen  bis  vor  wenigen  Jahrzehnten 
nur  die  Literaturreste  der  Hebräer  bekannt  waren  imd  daß 
infolge  ihrer  gnmdfalschen  Bewerttmg  ein  Gottesbegriff 
uns  übermittelt  wurde,  der  zwar  leicht  erkennbar  alle 


*)  Beachte  auch  die  dem  Abgesandten  des  assyrischen  Königs  Sanherib 
in  den  Mund  gelegten  Worte  2  Kö  18  3*'-;  Jes  361"-  und  2  Kö  19  ^2; 
J  es  37 12. 


JA  Jaho  eine  Verzernmg  des  Gottesbegriffs. 

Merkmale  des  beschränkten  Gesichtskreises  und  des  maß- 
losen Eigendünkels  der  Wüstensöhne,  der  Hebräer  genau 
so  wie  der  Araber,  zur  Schau  trug,  aber  trotzdem  imser 
geistiges  Auge  dermaßen  blendete,  daß  es  die  große  Täu- 
schung: Jaho  =  Gott,  nicht  längst  schon  durchschaute. 
Trotz  alledem,  wer  möchte  es  wagen,  dem  israelitischen 
Volke  und  den  übrigen  vorderasiatischen  Völkern  aus  dieser 
ihnen  eigentümlichen  engbegrenzten  Gottesanschauung 
einen  Vorwurf  zu  machen?  Wahre  ReUgiosität  ist 
tolerant  —  Gott  der  Herr  siehe t  das  Herz  an.  Um  so 
ernsteren  Widerspruch  fordert  dagegen  der  Irrwahn  heraus, 
der  sich  im  Alten  Testament  an  die  alleinige  Auserwählt- 
heit  Israels  seitens  Jahos  oder  ,, Gottes"  geknüpft  findet, 
daß  nämlich  ,,Gott"  von  allen  vorisraelitischen  Völkern 
überhaupt  keine  Notiz  genommen,  ja  daß  er  ihnen 
sogar  die  Verehrung  von  Sonne,  Mond  und  Sternen,  also 
den  ihm  verhaßtesten  Götzendienst  als  ,, Surrogat"  für 
die  Israel  allein  vorbehaltene  wahre  Gottesverehrung  zu- 
geteilt habe !  Ein  für  den  gerechten  Gott  wie  für  die  ganze 
vor-  und  nachisraeUtische  Menschheit  empörender  Irr- 
glaube, eine  Verzerrtmg  des  wahren  Gottesbegriffs,  in  die 
aber  sogar  noch  der  Apostel  Paulus  sich  verstrickt  zeigt, 
indem  er  im  Epheserbrief  (2^°')  annimmt,  alle  nicht- 
israelitischen Völker  der  Erde  seien  Jahrtausende  hindurch 
„ohne  Teil  am  Bürgerrecht  Israels,  ohne  Hoffnung  und 
ohne  Gott  in  der  Welt"  gelassen  gewesen!  Wie 
namenlos  klein  und  beschränkt  mutet  uns  diese  Gottes- 
und  Weltanschauimg  an  angesichts  unseres  durch  die 
Ausgrabungen  —  Gott  sei  Dank  —  so  außerordentlich  ge- 
weiteten Gesichtskreises,  im  Hinblick  obenan  auf  das 
sumerische  Volk,  dessen  Existenz  gleichzeitig  das  ganze 
Kartenhaus  von  „Sem,  Ham  und  Japhet"  über  den 
Haufen  wirft,  jenes  Volk,  dessen  Blüteperiode  zwei,  drei 
Jahrtausende  älter  ist  als  das  erste  Auf  treten  der  Hebräer; 
jenes  Volk,  das  einerseits  sich  ebenso  liebevoll  wie  poetisch 
in  alle  Erscheinungen  im  Himmel,  im  Wasser,  auf  der  Erde 


Das  papierne  Dogma  vom  sogenamiten  ,, Heilsweg".  x5 

versenkte,  in  ihnen  allen  göttliche  Offenbarungen  ver- 
körpert sah,  aber  trotz  seines  buntgestaltigen  Pantheons 
das  Walten  Eines  allumfassenden  göttlichen  Wesens  ahnte, 
andererseits  den  theoretischen  Gottesglauben  in  idealste 
Praxis  umsetzte  durch  die  Lehre,  daß  jeder  Mensch  Kind 
seines  Gottes  ist,  in  jeden  Menschen  bei  seiner  Geburt 
sein  Gott  als  sein  guter  Geist  Einzug  halte,  und  daß  es 
für  den  Menschen  keinen  größeren  Fluch  gebe,  als  wenn 
infolge  andauernder  Sündhaftigkeit  sein  Gott  von  ihm 
weicht  und  abseits  sich  niederläßt.^  Kein  Zweifel,  daß 
diese  Religiosität  des  sumerischen  Volkes  in  der  Religions- 
geschichte und  Religionsphilosophie  noch  die  ihr  ge- 
bührende Würdigung  ^nden  wird  und  daß  ebenso  wie  die 
Ethik  so  auch  der  Gottesglaube  des  nach  alttestament- 
licher  Vorstellimg  gottverlassenen  Volkes  der  Sumerer 
höher  eingeschätzt  werden  wird  als  Moral  und  Gottes- 
glaube des  vermeintlich  auserwählten  ,, Gottes" Volkes. 
Es  bleibt  eben  dabei,  daß  Jaho  lediglich  Israels  National- 
gott ist,  genau  so  wie  nach  alttestamentlicher  Bezeugung 
Kemosch  der  Gott  Moabs,  Milkom  der  Gott  Ammons  war, 
und  wie  das  assyrische  Volk  Aschur  zu  seinem  Spezialgotte 
hatte. 

Dieser  aus  vorurteilsfreier  Erforschimg  des  Alten  Testa- 
ments sich  ergebende  Tatbestand  ist  so  klar,  daß  man 
eine  Leugnimg  desselben  oder  selbst  nur  eine  Verschleie- 
rung für  ausgeschlossen  halten  möchte.  Und  doch  bringen 
imsere  christlichen  alttestamentlichen  Theologen,  einge- 
sponnen in  das  mittelalterliche  papierne  Dogma  vom  so- 
genaimten  ,, Heilsweg",  sowohl  Leugnung  wie  Verschleie- 
rung fertig. 

Leugnung.  Eduard  König  bleibt  dabei:  Jaho  ist 
Weltengott,  und  wirft  mir,  gewiß  ohne  es  selbst  zu  glauben 
(denn  siehe  I,  S.  85),  Unkenntnis  der  Stelle  Gen  12 ^'-  vor: 
,,Ich  werde  dich  zu  einem  großen  Volke  machen  imd  dich 
segnen  und  deinen  Namen  groß  machen  und  sei  ein  Gegen- 

^)  siehe  hierüber  weiter  S.  44. 


l6  Vemunftwidrigkeit  des  sogeuannten  ,, Heilswegs". 

stand  des  Segnens !  Und  ich  werde  segnen,  die  dich  segnen, 
und  die  dich  verwünschen,  verfluchen,  und  durch  dich 
sollen  gesegnet  werden  alle  Geschlechter  des  Erdbodens" 
(vgl.  i8^^  u.  ö.).  Aber  diese  Worte,  die  ein  Geschichts- 
schreiber, richtiger  Geschichtsmacher,  Jaho  als  zu  dem 
fiktiven  Erzvater  Abraham  gesprochen  in  den  Mund  ge- 
legt hat,  besagen  doch  in  nacktester  Weise,  daß  Abrahams 
Volk  der  einzigste  Empfänger  und  Träger  des  götthchen 
Segens  ist,  Segnimg  oder  Verfluchung  aller  übrigen  Erden- 
völker aber  abhängt  von  ihrem  Verhalten  gegenüber 
Israel:  nur  wer  Israel  segnet  imd  selig  preist,  gewiimt 
Gottes  Segen.  Der  denkbar  krasseste  partikularistische 
Eigendünkel.  Dazu :  welch  unfaßbar  kurzsichtiger  Welten- 
gott, der  alle  Völker  der  Erde  durch  ein  Volk  segnen  wollte, 
auf  das  er  selbst  Fluch  auf  Fluch  ob  seiner  Gottlosigkeit 
und  Sündhaftigkeit  von  Anfang  bis  zum  Ende  seines 
nationalen  Bestandes  zu  häufen  gezwungen  war!  Welch 
geradezu  blind  zu  nennender  Gott,  der  Abrahams  Nach- 
kommenschaft ausersah,  damit  sie  in  Beobachtung  des 
Weges  Jahos  ,, Recht  und  Gerechtigkeit  üben"  sollte 
(Gen  i8^®),  während  Israel  und  Juda  gerade  infolge  Nicht- 
tims  von  Recht  und  Gerechtigkeit  zugrunde  gingen! 
Welch  Stümper  von  Pädagoge  dieser  Jaho,  der  nach  den 
vergilbten  Kollegienheften  der  alttestamentlichen  Theo- 
logen ,,die  wahre  Religion  zunächst  in  einem  kleineren 
Kreise  einwurzeln  und  zu  einem  starken  Baum  aufwachsen 
lassen  wollte",  und  zu  dieser  „Pflanzschule  der  Verehrung 
Gottes  und  der  aus  ihr  geborenen  Sittlichkeit"  gerade  die 
Brutstätte  der  Verehrimg  des  goldenen  Kalbes  und  einer 
von  den  Propheten  selbst  gezüchtigten  Sittenlosigkeit 
ohnegleichen  ersah !  *  Und  nun  gar  erst  vom  Standpimkte 


1)  In  der  von  Ed.  König  im  Reichsboten  vom  7.  Juli  1920  veröffent- 
lichten Entgegnung  (vgl.  auch  die  Post  vom  9.  Juli  1920)  heißt  es  (die 
Bemerkungen  innerhalb  der  Klammern  und  die  Ausrufungszeichen 
stammen  von  mir) :  „Erst  als  sich  in  der  Menschheit  die  Tendenz  zeigte, 
die    irdischen    Schranken    zu    überspringen,    gleichsam    zum    Himmel 


Jahos  vermeintliche  Entwicklung  zum  Universalgott.  17 

des  Christentums  aus  —  welch  absolut  unvorstellbarer 
,, Heilsweg",  daß  der  allweise  Gott  sich  zu  seinem  Eigen- 
tums- und  LiebUngsvolke  ein  Volk  erkoren  habe,  das  der- 
einst den  Gottessohn  ans  Kreuz  schlagen  und  ihm  sowohl 
wie  dem  Christentum  durch  die  Jahrtausende  hindurch 
nie  geminderten  tödlichen  Haß  bewahren  sollte! 

Indes  nicht  minder  verwerflich  wie  die  Leugnung  der 
Tatsache,  daß  Jaho  zu  Unrecht  mit  dem  Weltengott 
identifiziert  wird,  ist  die  bei  den  liberalen  Theologen  be- 
liebte Verschleierung,  indem  sie  behaupten,  der  ur- 
sprünglich in  der  Tat  rein  partikularistische  Gottesbegriff 
Israels  habe  sich  allmählich,  vor  allem  durch  imd  seit 
Deuterojesaia  nebst  den  Psalmisten,  zur  universellen 
Gottesidee  Jesu  entwickelt.  Aber  angenommen,  diese 
Behauptung  entspräche  der  Wirklichkeit,  so  wäre  doch 


emporzusteigen  (!),  die  eigene  Einsicht  an  Stelle  der  göttlichen  Vor- 
sehung zu  setzen  (I),  kurz,  die  Gottheit  zu  entthronen  (I  welchem 
Volke  wäre  dieser  Wahnsinn  je  beigefallen?),  wie  diese  Tendenz  des 
Menschengeschlechts  sich  beim  Turmbau  zu  Babel  (!)  zeigte,  erst 
damals  ist  von  der  göttlichen  Geschichtslenkung  der  Plan  ausgeführt 
worden,  die  wahre  Religion  zunächst  in  einem  kleineren  Kreise  ein- 
wurzeln und  gleichsam  zu  einem  starken  Baume  (vgl.  den  Kälber- 
dienst!) aufwachsen  zu  lassen,  ehe  sie  allen  Stürmen  (!)  der  allgemeinen 
Menschenkultur  ausgesetzt  werden  sollte".  Es  ist  dies  der  Ausbund 
veralteter  religionsgeschichtlicher  Irrlehre,  die  nur  möglich  war,  solange 
für  den  alten  Orient  das  Alte  Testament  die  einzigste  Quelle  bildete. 
Das  Gleiche  gilt  von  Königs  weiteren  Beweisen  für  den  Universalismus 
des  Jaho-Glaubens:  Jona's  Missionstätigkeit  in  Ninewe  (!)  und  etliche 
andere  samt  und  sonders  falsche  Zitate  (Gen  20*,  33»,  50^2),  die  wohl  nur 
noch  für  ihn  ganz  allein  unter  allen  alttestamentlichen  Theologen  Be- 
weiskraft besitzen.  Unter  allen  tief  traurigen  Erscheinungen  unserer  Zeit 
ist  eine  der  abstoßendsten  die,  daß  der  Vorstand  der  Deutschnationalen 
Volkspartei  sich  in  alttestamentliche  Fragen  mengt,  von  denen  er  doch 
absolut  nichts  versteht,  und  daß  er  gleich  der  konservativen  Partei 
Ed.  König  zum  allein  berufenen  Interpreten  des  Alten  Testamentes 
erhebt  und  Jaho  auch  seinerseits  als  Weltengott  proklamiert —  o  deut- 
sches national  denkendes  Volk,  wie  bist  auch  du  schon  mit  Beihilfe 
deiner  christiichen  Theologen  vom  Judentum  umgarnt,  ja  fast  schon 
erstickt!    S.  weiter  Anm.  4. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täascliang.  2 


l8         -Die  gleiche  beschränkte  Gottesidee  bei  den  Propheten. 

damit  erwiesen,  daß  das  Alte  Testament,  soweit  es  jener 
beschränkten  Gottesanschauung  huldigt  —  das  ist  aber  der 
weitaus  größte  Teil  des  Alten  Testaments  — ,  von  einem 
falschen  Gottesbegriff  ausgeht  und  ebendeshalb  für 
religiöse  Zwecke  völHg  ausgeschaltet  werden  muß.  Jedoch 
ist  und  bleibt  diese  ganze  Annahme  einer  allmähhchen 
Erhebung  des  partikularistischen  Gottesbegriffs  zu  höherer 
und  reinerer  imiverseller  Gottesanschauung  unbeweisbar, 
sowohl  Propheten  wie  Psalmen  bezeugen  das  Gegenteil.^ 
Auch  die  fälschlich  „Propheten"  übersetzten  n^bi'im, 
das  ist  Sprecher,  jene  nationalgesinnten,  für  Erhaltung 
ihres  Glaubens  und  Volkstums  glühenden  und  mit  Wort 
und  Schrift  dafür  eifernden  Männer  sind  festgebannt  in  den 
doppelten  Glaubenssatz  (siehe  I,  S.  83) :  es  gibt  keinen 
höheren  Gott  als  Jaho,  und  Israel  ist  das  Volk  Jahos. 
Wäre  imseren  alttestamentlichen  Theologen  nicht  von 
ihrer  eigenen  Studienzeit  her  eine  ganz  falsche  Beurteilung 
des  Verhältnisses  des  Alten  Testaments  zum  Neuen  Testa- 
ment in  Fleisch  und  Blut  übergegangen,  so  sollte  man  über 
die  engherzige,  beschränkte  Gottesidee  auch  der  Pro- 
pheten vom  ältesten  bis  zum  jüngsten  füglich  gar  nicht 
mehr  zu  sprechen  haben.  Auch  ihnen  ist  Jaho  der  aus- 
schließliche Gott  Israels  und  kein  Mensch,  kein  Volk 
hat  Zutritt  zu  Gott  außer  durch  das  Medium  Israels.  Seit 
dem  Auszug  aus  Ägypten  hat  Jaho  sich  mit  seinem  Volke 
verbunden  auf  ewig,  und  wenngleich  dieses  durch  alle 
Jahrhtmderte  hindurch  sich  widerspenstig  bis  zum  Äußer- 
sten gezeigt,  es  mit  grenzenloser  Liebe  und  Langmut  ge- 
tragen, während  er  alle  Israel  feindlichen  Erdbewohner 
mit  seinem  unauslöschlichen  Zorne  verfolgte  imd  in  alle 


*)  Ebendeshalb,  weil  ich  weder  im  Gottesbegriffe  noch  in  der  Geistes- 
y  er  anlagung  Israels  irgend  eine  Spur  von  „Entwickelung"  zu  erkennen 
vermag,  weder  in  der  exiUschen  und  nachexilischen  Zeit  noch  sogar 
in  der  Gegenwart,  muß  ich  den  mir  so  vielfach  gemachten  Vorwurf, 
ich  hätte  keinen  Sinn  für  ,,geschichüiche  Entwickelung",  als  haltlos 
zurückweisen. 


Die  gleiche  beschräuktc  Goltcsidce  bei  den  Propheten.  ig 

Zukunft  verfolgen  wird,  ihnen  den  Taunielkelch  seines 
Grimmes  reichend.  „Nur  in  Israel  ist  Gott"  lesen 
wir  Jes  45^*.  Von  einer  Entwickelung  des  engum- 
schränkten  Volksgottes  zum  universellen  Weltengott  kann 
sich  gar  keine  Spur  finden,  solange  Israel  das  Volk  bleibt, 
das  Jaho  von  Mutterleibe  an  sich  gebildet,  das  er  allein 
liebgewonnen  und  sich  auserwählt  hat  (Jes  41^  43^- ^®  ' 
44  2*).  Ich  erinnere  nur  noch  einmal  einerseits  an  das 
bitterböse  Wort  Amos  3^:  ,,Von  allen  Geschlechtern  des 
Erdbodens  habe  ich  nur  von  euch  Kenntnis  genommen",^ 
andererseits  an  das  von  Selbstüberhebung  olmegleichen 
zeugende  Wort  des  Propheten  Zacharia  (8^^) :  ,,So  spricht 
Jaho  Zebaoth:  In  jenen  Tagen  geschieht's,  daß  zehn 
Männer  aus  allen  Zungen  der  Völker  {Göpm)  sich  fest- 
klammern werden  an  den  Rockzipfel  eines  jüdischen 
Mannes,  bittend :  laßt  uns  mit  euch  gehen,  denn  wir  haben 
gehört:  Gott  ist  mit  euch!"  Jahos  Universalität  besteht 
einzig  und  allein  darin,  daß  seinem  Volke  Israel  die  ver- 
heii3ene  Weltherrschaft  zufällt,  womit  zugleich  Jahos 
Schwur  sich  verwirklicht,  daß  jedes  Knie  Jaho  sich  beugen 
werde  (Jes  45^).  Rabbiner  Dr.  Beermann -Heilbronn 
schließt  seine  Entgegnung  auf  Teil  I  der  „Großen  Täu- 
schung" mit  dem  Hinweis  auf  das  „mit  Recht  an  den 
Pforten  so  vieler  Synagogen  prangende"  Wort  Jes56': 
,,Mein  Haus  soll  ein  Bethaus  genannt  werden  für  alle 
Völker".  Aber  gegenüber  diesem  nicht  auszurottenden 
gewissenlosen  Mißbrauch  einer  aus  dem  Zusammenhang 
gerissenen  Stelle  bemerkt  mit  Recht  BernhardDuhm 
in  seinem  Kommentar  zmn  Buche  Jesaia  (S.  395):  ,,Es 
handelt  sich  hier  keineswegs  um  eine  liberale  Öffnung  des 
Tempels  für  jedermann,  sondern  um  die  Möghchkeit  der 


1)  HäßUch  übersetzt  Ed.  König  obige  Worte:  „Nur  euch  habe  ich 
zu  meinem  guten  Bekannten  gemacht  unter"  usw.  Die  Fortsetzung 
des  Verses  2:  „darum  werde  ich  an  euch  eure  Missetaten  heimsuchen", 
ändert  an  der  vorausgehenden  Aussage  über  J  ahos  Verhalten  gegenüber 
den  nichtisraelitischen  Völkern  auch  nicht  das  Mindeste. 


20         I^i^  gleiche  beschränkte  Gottesidee  bei  den  Propheten. 

Zulassung  von  Fremden  gegen  Erfüllung  der  vorher  ge- 
nannten Bedingungen,  d.h.  des  vollständigen  Über- 
tritts zum  Judentum,  der  Beschneidung  usw.  Damit 
blebit  das  Judentumhinter  den  meisten  Religionen  noch  weit 
zurück".  Gegenüber  aber  der  im  vorhergehenden  Verse 6 
vom  Propheten  gegebenen  Verheißung,  daß  den  Fremd- 
lingen gestattet  werde,  zum  Tempel  Jahos  zu  kommen, 
weist  Duhm  gleich  richtig  darauf  hin,  daß  an  dem  großen 
Bettage  nach  dem  ersten  korrekt  gefeierten  Laubhüttenfest 
die  Fremdgebornen  trotzdem  nicht  zugelassen  wurden 
(Neh  9  2).  In  der  Tat  ist  selbst  das  dem  echten  Israeliten 
ein  Greuel,  daß  die  Heidenvölker  an  der  Verehrimg  Jahos 
teilnehmen  und  damit  Gotte  sich  nähern  möchten,  vielmehr 
werden  sie  von  dem  Propheten  mit  kalter,  rauher  Hand 
auf  ewig  zurückgestoßen!  Ach,  daß  doch  imsere  Führer 
in  geisthchen  Dingen  mit  scharfen  Augen  zu  sehen  und 
zu  lesen  vermöchten,  um  dann  der  vmgeschminkten  Wahr- 
heit die  Ehre  zu  geben!  Wir  lesen  bei  Jes  2  ^'*:  ,,Und  es 
wird  geschehen  in  der  Zukunft  der  Tage,  da  wird  der  Berg 
des  Hauses  Jahos  feststehen  an  der  Spitze  der  Berge  tmd 
überragen  die  Hügel.  Und  es  werden  zu  ihm  strömen  alle 
Heiden  (Göjim),  imd  sich  aufmachen  viele  Völker  und 
sagen:  Auf!  laßt  ims  hinaufziehen  zum  Berge  Jahos,  zum 
Hause  des  Gottes  Jakobs,  daß  er  ims  unterweise  in  seinen 
Wegen  und  wir  wandeln  auf  seinen  Pfaden,  denn  von  Zion 
geht  aus  Unterweisimg  und  Jahos  Wort  aus  Jerusalem". 
Es  folgt  die  Schilderung  des  Anbruchs  eines  allgemeinen 
Völkerfriedens,  worauf  es  in  Vers  5  heißt:  ,,Haus  Jakobs, 
auf !  laßt  uns  wandeln  im  Lichte  Jahos !"  Ebendiese  Worte 
Jes  2  2"*  finden  sich  so  gut  wie  wörtlich  bei  Micha  4^'^, 
aber  dort  ist  sogar  diesem  Huldigungszug  der  Völker  nach 
Jerusalem  ein  Dämpfer  aufgesetzt  durch  Vers  5:  „Für- 
wahr! die  Völker  alle  mögen  wandeln  ein  jedes  im 
Namen  seines  Gottes,  wir  aber  wollen  wandeln  im 
Namen  Jahos,  unseres  Gottes,  für  immer  und  ewig!" 
Welcher  ruhig  Urteilende  kann  in  diesen  Worten  etwas 


Die  gleiche  beschränkte  Gottesidee  bei  den  Psalmisten.  2I 

anderes  erblicken  als  eine  verletzend  stolze  Gleichgültig- 
keit Israels  gegenüber  dem  Endgeschick  aller  nicht- 
israelitischen Völker?^  Und  dabei  wagt  Ed.  König  zu 
sagen,  diese  zweimal  wiederholte  Stelle  lehre,  daß  ,, alles 
Menschenringen  sein  höchstes  Ziel  habe  in  dem  Hin- 
strömen nach  dem  Tempelhause  des  Ewigen".  Und  dabei 
spricht  Gunkel  von  , .hohen  Wahrheiten  reiner  Religion", 
die  uns  die  Propheten  verkünden.  Da  sind  wahrlich  die 
Juden  selbst  bessere  Interpreten  ihrer  Bibel,  indem,  wie 
Jakob  Fromer^,  selbst  Kind  eines  russisch-polnischen 
Ghettos,  erzählt,  die  Ostjuden  noch  heutzutage  jedes 
Christenkind  Schqüsä,  das  ist  ,, Abscheu"  oder  ,,Aas" 
nennen. 

Und  gleich  den  Schriften  der  Propheten  atmet  auch 
der  Psalter,  wie  sich  aus  seiner  Vergöttlichung  der  Thora 
leicht  begreift,  vom  ersten  Psalm  bis  zum  Schluß-Halle- 
luja  ganz  den  nämlichen  Geist  engherzigster  Gottes- 
anschauung, was  um  so  schwerer  ins  Gewicht  fällt,  als  die 
Psalmen  die  letzte  Stufe  alttestamentlicher  Religions- 
geschichte darstellen.  Jaho  ist  noch  immer,  ja  im  Psalter 
erst  recht,  der  ausschließliche  Gott  Israels,  Israel  ist  ,,sein 
Volk  und  das  Kleinvieh  seiner  Weide"  (Ps  100,  74,  79),  alle 
Heiden  Völker  sind  nur  dazu  berufen,  Jaho  zu  preisen,  daß 
er  Israel  zum  Gegenstand  seines  Segens  und  seiner  Güte 
gemacht  hat  (Ps  66,67,  117 usw.),  während  sie  ihrerseits 
nur  durch  das  Eingehen  in  das  Judentum  der  Wieder- 
geburt teilhaftig  werden  —  eine  Welt-  imd  Gottesanschau- 
ung, die  der  Lehre  Jesu  direkt  zuwiderläuft,  ja  das  Christen- 
tum geradezu  ausschaltet,  die  aber  die  judenchristlichen 
Apostel  dermoch  verstanden  haben,  den  ersten  Christen 


1)  Siehe  bereits  Babel  und  Bibel  II  Anm.  22.  Und  beachte  noch 
Joels  Worte  in  Bezug  avd  Jahos  großen  und  schrecklichen  Völker- 
gerichtstag (4") :  ,,Eine  Zuflucht  ist  Jaho  seinem  Volke  und  eine 
feste  Burg  den  Kindern  Israel",  während  die  Heiden  Völker  samt 
und  sonders  Jahos  furchtbarem  Strafgericht  verfallen. 

^)  Das  Wesen  des  Judentums,  Berlin-I^eipzig-Paris  190S.  S.  5. 


22         Inspirierung  der  Propheten  von  Jaho,  nicht  von  Gott. 

einzuimpfen  durch  die  Schlagwörter  vom  ,, geistlichen 
Israel"  und  von  der  ,, Beschneidimg  im  Geiste".  Und 
dieser  Volksgott  kann  auch  noch  gemäß  dem  Psalter  einzig 
und  allein  in  Jerusalem,  im  Tempel  auf  Zion  als  einzigster 
legitimen  Anbetungsstätte  Jahos  verehrt  werden  und 
wird  es  mit  Opfern,  gelegentlich  mit  Hekatomben  von 
Rindern  und  Schafen,  und  nur  an  zwei,  drei  Stellen  wird 
ein  reuiges  Herz  als  das  Jaho  angenehmste  Opfer  bezeichnet. 
Das  Gesagte  reicht  hin,  die  unumstößliche  Wahrheit 
zu  bestätigen,  daß  Jaho  nicht  der  universelle  Gott  der 
Christenheit  ist,  also  auch  Propheten  und  Psalmen  —  mit 
Ausnahme  zähliger  Stellen,  mit  deren  Zusammenstellung 
in  Anm.  5  ein  Anfang  gemacht  ist  —  in  ein  christliches 
Religionsbuch  nicht  gehören;  femer,  daß  Israel  nicht 
,, Gottes"  auserwähltes  Volk  ist;  endlich  daß  alles,  was 
Jaho  vermeintlich  zu  Mose  imd  den  Propheten  gesprochen , 
nicht  „Gottes"  Wort  ist. 

Was  die  letztere  Erkenntnis  betrifft,  so  hat  ja  für  die 
Thora  Mosis  die  alttestamentliche  Literarkritik  bereits 
einen  weitgreifenden  Anfang  gemacht,  indem  sie  außer 
Zweifel  gesetzt  hat,  daß  keine  einzige  der  in  der  sogenannten 
Thora  Mosis  vereinigten  drei  Gesetzessammlungen  auf 
Moses  zurückgeht,  daß  also  die  hundertmal  wiederholten 
Worte:  ,,Und  Jaho  sprach  zu  Mose"  oder  „zu  Mose  und 
Aaron"  nichts  als  stilistische  Formeln  sind,  bestimmt, 
die  Autorität  der  betreffenden  Gesetzbestirhmimgen  zu 
steigern,  sie  als  göttüchen  Urspnmgs  zu  erweisen,  während 
sie  in  Wahrheit  ihre  menschliche,  zum  Teil  allzu  mensch- 
liche Herkunft  an  der  Stirn  tragen. 

Auch  wenn  die  , .Sprecher",  vulgo  Propheten  Israels 
im  Namen  Jahos  zu  ihrem  Volke  reden,  so  sind  sie  hierzu 
nicht  von  ,,Gott"  inspiriert,  sondern  von  Jaho,  sie  sind 
Sprecher  des  in  Jaho  verkörperten  spezifisch  israelitischen 
Nationalgenius  mit  allen  seinen  völkischen  Eigenschaften, 
guten  und  schlechten.    Getragen  von  hohem  und  hoch- 


Uuerfüllte  Prophetieen  Regen  Babel.  23 

stem  Pathos,  sind  diese  prophetischen  Sprüche  und 
Reden  vielfach  von  großer  rednerischer  Schönheit,  stellen- 
weise (z.  B.  Jes  14)  Meisterstücke  hinreißender  Rhetorik, 
die  uns  vielleicht  durch  die  Fremdheit  der  Sprache 
und  die  Eigenartigkeit  der  semitischen  Redeform  des 
Parallelismus  membrorum  noch  in  besonderem  Grade 
blendet,  also  daß  wir  allerlei  Schwächen,  z.B.  den  vielfach 
übertriebenen  Redeschwulst  mitsamt  seinen  Hyperbeln  und 
die  bei  solcher  Schulberedsamkeit  tmvermeidlichen  Wieder- 
holungen von  Gedanken,  Bildern  u.  dgl.  nicht  weiter  be- 
achten. Daß  aber  diese  prophetischen  Reden  trotz  alledem 
inhaltlich  nur  Menschenworte  sind,  auf  menschliche 
Kombinationen,  Mutmaßungen,  Schlußfolgerungen,  Hoff- 
nungen und  Befürchtungen  gegründet,  lehrt  kein  Ge- 
ringerer als  der  Prophet  Jeremia  selbst,  allerdings  sehr 
wider  Willen  und  Absicht,  indem  er  als  einziges  untrüg- 
liches Merkmal,  ob  eine  Rede  wirklich  aus  göttlicher  Ein- 
gebung stamme,  ihr  Erfülltwerden  angibt  (28^).  Wie 
viele  der  alttestamentUchen  Prophetieen  aber  nicht  in 
Erfüllung  gegangen,  vielmehr  durch  den  Gang  der 
Ereignisse  Lügen  gestraft  worden  sind,  mag  wenig- 
stens an  drei  Beispielen  gezeigt  werden. 

Das  erste  Beispiel  betrifft  Babylons  Untergang. 
Nichts  ist  entschuldbarer  als  der  Haß,  der  die  in  Juda 
und  Jerusalem  übrig  gebliebenen  Judäer  gegen  das  Volk 
Nebukadnezars,  die  Chaldäer,  und  gegen  deren  Haupt- 
stadt Babel  erfüllte.  Und  nichts  ist  verständlicher  als 
daß  ihre  Propheten,  sobald  die  Kunde  von  dem  im  Norden, 
näher  in  Medien  und  dessen  Nachbarländern,  über  Babylon 
sich  zusammenballenden  Gewitter  nach  Juda  gelangte,  in 
den  leidenschaftlichsten  und  bis  zum  Überdruß  sich 
wiederholenden  und  variierenden  Reden,  wie  sie  in  den 
Kapiteln  50  und  51  des  Buches  Jeremia  vereinigt  sind, 
sich  und  ihren  Hörern  in  den  sattesten  Farben  ausmalten, 
wie  Babel  von  den  nordischen  Horden  belagert  und  ein- . 
genommen,  geplündert  und  unter  ,, Bannung",  d.  h.  grau-^- 


24  Unerfüllte  Prophetieen  gegen  Babel. 

samer  Niedennetzeliing  aller  seiner  Bewohner,  vernichtet 
werden  würde,  seine  weiten  Mauern  bis  auf  den  Grund 
niedergerissen  und  ihre  hohen  Tore  in  Brand  gesteckt 
(51^8),  die  Bilder  Bels  und  Marduks  zertrümmert  (vgl. 
auch  Jes  2i*),  alle  Städte  der  Chaldäer  mit  Feuer  ver- 
brannt, das  ganze  Land  in  eine  menschenleere  Wüste  wie 
Sodom  imd  Gomorrha  verwandelt  werden  würde.  Alles 
rennet,  rettet,  flüchtet  —  aber  es  kam  ganz  anders. 
Bei  der  immerhin  großen  Entfernung  von  Ort  und  Zeit, 
in  der  diese  Reden  gehalten  wurden  (nämUch  in  Juda  nach 
der  Erobenmg  Jerusalems  durch  Nebukadnezar)  bleibt 
der  Irrtum  verzeihlich.^  Das  Nämliche  gilt  von  der  dem 
Propheten  Jesaia,  dem  Sohne  des  Amoz,  fälschlich  zu- 
geschriebenen Rede  Jes  13 — 14^,  die  zwar  auch  nur 
von  den  Med  er  n  als  den  Feinden  Babylons  spricht,  aber 
doch  den  zum  Falle  Babylons  führenden  Ereignissen 
bereits  recht  nahe  steht  (beachte  13**:  ,,und  zwar  ist 
Babels  Zeit  nahe  herbeigekommen,  und  seine  Tage  werden 
sich  nicht  hinziehen").  Auch  er  sieht,  wie  die  Meder 
plötzlich  hereinbrechen,  wie  alle  Ergriffenen  durchbohrt, 
ihre  Kinder  vor  ihren  Augen  zerschmettert,  ihre  Häuser 
geplündert  und  ihre  Weiber  geschändet  werden  (V.  15  f.), 
wie  Babel  Sodom  imd  Gomorrha  gleichgemacht  wird 
(V.  19).  Nichts  von  alledem  ist  geschehen.  Aber 
sogar  Deuterojesaia  (44^*  —  Kap.  48),  der  in  Babylonien 
und  nur  durch  eine  kurze  Spanne  Zeit  von  den  sich  voll- 
ziehenden geschichtlichen  Ereignissen  getrennt  lebte  und 
dem  es  deshalb  ein  Leichtes  war,  ,, das  Ereignis  zu  künden, 
ehe  es  in  die  Erscheinimg  tritt"  (Jes  42*),  der  wohl  auch 
darum  wußte,  daß  die  Tore  der  uneinnehmbaren  Festung 
Babel  durch  Verrat  dem  König  Cyrus,  dem  ,, Gesalbten 


*)  Ebenso  die  ganz  falsche  Verwendung  geographischer  bzw.  ethno- 
graphischer babylonischer  Namen,  wie  „das  Land  Marratim"  und 
Pugüd  (Piqüd) ,  die  den  Prophetenschülem  vom  Hörensagen  bekannt 
geworden,  aber  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  nach  verborgen  geblieben 
waren. 


üuerfüllte  Prophetleen  gegen  Babel.  25 

Jahos",  dem  „Hirten  Jahos",  dem  ,,aus  fernem  Lande 
berufenen  Mann  seines  Ratschlusses"  geöffnet  werden 
würden,  und  zwar  durch  unmittelbares  Eingreifen  Jahos, 
also  vielleicht  nicht  ohne  Mitwirkung  oder  wenigstens 
Mitwissen  exilierter  Juden,  weshalb  er  auch  bereits  die 
unentgeltüche  Freilassung  der  jüdischen  Exulanten  durch 
Cyrus  voraussieht  (s.  Anm.  6)  —  auch  er  täuschte  sich 
über  die  dem  Falle  Babylons  folgenden  Ereignisse:  er 
sieht  den  Sturz  und  die  Wegführung  der  Bildnisse  Marduks 
und  Nebos  (46  '')  und  läßt  plötzlichen  Untergang  über 
Babel  kommen  (47^^),  ,,an  Einem  Tage  Kinderlosigkeit 
und  Witwenschaft"  (47®).  Aber  alle,  alle  diese  Propheten, 
die,  ihrem  und  ihres  Volkes  Herzenswunsch  folgend,  Babel 
ein  plötzliches  Schreckensende  nach  Art  von  Ninewe 
verkündeten,  haben  sich  über  Gottes,  des  Welten- 
herrschers, Ratschluß  vollkommen  getäuscht.  Ohne 
Blutvergießen  zogen  die  persischen  Truppen  in  die  Stadt 
ein,  die  ihnen  durch  Verrat  überhefert  worden  war,  die 
Babylonier  fraternisierten  mit  den  persischen  Soldaten, 
und  als  Cyrus  bald  darauf  in  die  Stadt  seinen  Einzug  hielt, 
breiteten  ihm  die  Bewohner  Palmenzweige  auf  den  Weg. 
Die  babylonischen  Götterbilder  aber  tastete  Cyrus  so 
wenig  an,  daß  er  vielmehr  ihrem  Kultus  (natürlich  aus 
politischen  Gründen)  in  jeder  Weise  huldigte.  Und  wie 
das  babylonische  Land  noch  viele  Jahrhunderte  hindurch 
den  jüdischen  Exulanten  und  ihren  Nachkommen  eine 
zweite  liebgewonnene  Heimat  war  und  blieb,  so  sah  die 
Stadt  Babylon  speziell  noch  Alexander  der  Große  in  hohem 
Glänze.  Bis  in  die  Zeit  der  Seleukiden  bUeb  Babylon 
absolut  unangetastet.  Langsam,  ganz  langsam  und  voll- 
kommen kampflos  siechte  die  Weltmetropole  dahin,  nach 
dreitausend  jährigem  Bestände  das  Los  alles  Irdischen 
teilend.^  Und  selbst  dann  noch  kam  es  anders,  als  es 
sich  die  Propheten  Jahos  gedacht.  Babels  Ruinen  blieben 
bis  auf  den  heutigen  Tag  eine  unerschöpfliche  Fundgrube 
^)  Siehe  bereits  Babel  und  Bibel  II,  S.  38  nebst  Anm.  20. 


26  Unerfüllte  Prophetieen  gegen  Tyrus. 

für  Bausteine,  in  schroffstem  Widerspruch  zu  Jer5i^*: 
,,von  dir  soll  man  keinen  Stein  zum  Eckstein  noch  einen 
Stein  zu  Grundmauern  holen,  ist  der  Spruch  Jahos",  und 
während  Jes  13 ^'^  es  heißt:  ,, nicht  sollen  dort  Araber 
zelten,  noch  Hirten  dort  lagern  lassen",  stehen  auf  der 
Stätte  der  einstigen  Riesenstadt  noch  heutzutage  imter 
Palmen  versteckte  Dörfchen,  ja  ein  freundliches  Städt- 
chen am  palmenbewachsenen  Ufer  des  Buphrat.* 

Das  zweite  Beispiel  betrifft  das  Geschick  der  großen 
Phönikierstadt  Tyrus. ^  Als  nach  der  Eroberung  Jeru- 
salems Nebukadnezar  die  Stadt  Tyrus  zu  belagern  begann, 
war  der  Prophet  Ezechiel  von  dem  bevorstehenden  Falle 
auch  dieser  Stadt  so  fest  überzeugt,  daß  er  die  demnächst 
eintretende  Katastrophe,  in  der  er  eine  besonders  groß- 
artige Offenbarung  der  Allmacht  des  Gottes  Israels  er- 
blickte, mit  den  glänzendsten  Farben  ausmalte.  Aber  wie 
sich  einst  schon  Jesaia  getäuscht  hatte,  dessen  beredte 
Verkündigung  der  Eroberung  von  Tyrus  durch  den  assy- 
rischen König  (Kap.  23)  sich  nicht  erfüllen  sollte,  so  ist 
es  auch  bei  Ezechiel  trotz  aller  grandiosen  Phantasie,  mit 
der  er  das  stolze  Meerschiff  Tyrus  vom  Ostwind  zerschellt 
sieht  (26 — 28^^),  bei  den  bloßen  Worten  geblieben,  Gott 
selbst  hatte  es  anders  beschlossen.  Trotz  drei- 
zehnjähriger Belagerung  gelang  es  Nebukadnezar  nicht, 
die  Inselstadt  einzunehmen.  Der  Prophet  selbst  sieht  sich 
2gi7ff.  genötigt,  seinen  Irrtum  einzugestehen,  ja  Vers  21 


^)  Weniger  Gewicht  sei  auf  die  unzutreffende  Angabe  des  Jahres 
der  Einnahme  Babels  durch  Cyrus  vmd  der  Heimsendung  der  jüdischen 
Exulanten  gelegt.  ,,Wenn  70  Jahre  voll  sind,  will  ich  an  dem  König 
von  B  abel  usw .  seine  Missetat  heimsuchen' '  ( Jer  2  5  ^2) .  ^ , Wenn  7  o  J  a  h  r  e 
voll  sind  für  Babel,  werde  ich  euch  heimsuchen  und  meine  freundliche 
Zusage,  euch  an  diesen  Ort  zurückzuführen,  an  euch  verwirklichen" 
(29W).  Da  Babel  im  Jahre  539  in  die  Hände  der  Perser  fiel  und  die 
ersten  jüdischen  Gefangenen  aus  Jerusalem  im  Jahre  597  von  Nebu- 
kadnezar weggeführt  wurden,  so  fehlt  ein  gut  Teil  zur  Abrundung  von 
70  Jahren. 

*)  Siehe  bereits  Babel  und  Bibel  II,  a.  a.  O. 


Unerfüllte  Weissagungen  der  Heimkehr  Gesamtisraels.  27 

läßt  sogar  durchblicken,  daß  seine  prophetische  Autorität 
durch  den  unbefriedigenden  Ausgang  der  Dinge  ernstlich 
erschüttert  war. 

Das  letzte  und  betrübendste  Beispiel  unerfüllt  ge- 
bliebener prophetischer  Reden  mögen  aber  die  Ver- 
heißungen bilden,  betreffend  die  Erlösung  Judas  aus  der 
babylonischen  Gefangenschaft  und  GesamtisraelsHeim- 
kehr  nach  Zion.  Diese  Weissagungen,  die  bei  Deutero- 
jesaia  mit  den  herrlichen  Worten  anheben  (Jes4o''"): 
,, Tröstet,  tröstet  mein  Volk,  spricht  euer  Gott!  redet 
Jerusalem  zu  Herzen  und  ruft  ihm  zu,  daß  sein  Kriegs- 
dienst beendet,  seine  Schuld  abgetragen  ist",  gehören  zu 
den  ergreifendsten  Reden  jener  von  höchstem  National- 
gefühl begeisterten  Männer,  und  welch  lange,  lange  Reihe 
solcher  Verheißungen  aus  dem  Munde  der  verschiedensten 
Propheten  verschiedener  Zeiten  ließe  sich  hier  anführen! 
,,Ich  will  die  Gefangenen  Judas,  die  ich  von  diesem  Orte 
hinweg  in  das  Land  der  Chaldäer  geschickt  habe,  freund- 
lich ansehen  und  in  dieses  Land  zurückbringen"  (vgl. 
Jer  24^').  ,,Ich  werde  meine  Schafe  aus  den  Völkern 
herausführen  und  aus  den  Ländern  sammeln  imd  in  ihr 
Land  bringen,  ich  selbst  werde  sie  weiden  auf  guter  und 
fetter  Weide  auf  den  Bergen  Israels  —  ist  der  Spruch  des 
Herrn  Jaho"  (vgl.  Ez34i3ff.) 

Auch  die  Bewohner  des  Nordreiches  Israel,  die  in 
Medien  und  Chalach  und  wohin  sie  sonst  gefangen  weg- 
geführt worden  waren,  so  wenig  ihren  Untergang  ge- 
funden hatten  wie  ihre  jüdischen  Brüder  in  Babylonien, 
sollen  aus  allen  Völkern  gesammelt  und  nach  Jerusalem, 
der  Stadt  Jahos,  zurückgeführt  werden:  ,,Denn  Jaho 
wird  sich  Jakobs  erbarmen  tmd  Israel  noch  einmal  er- 
wählen und  sie  auf  ihren  Heimatboden  versetzen"  (Jesi4^). 
,,In  jenen  Tagen  und  zu  jener  Zeit,  ist  der  Spruch  Jahos, 
werden  die  Israeliten  kommen,  zusammen  mit  den  Judäern, 
unter  unaufhörlichem  Weinen  werden  sie  dahin  ziehen  und 
Jaho,  ihren  Gott,  suchen.    Den  Weg  nach  Zion   werden 


28  Unerfüllte  Weissagungen  der  Heimkehr  Gesamtisraels. 

sie  fragen,  ihr  Antlitz  hierher  gerichtet,  sie  kommen  und 
schließen  sich  an  Jaho  zu  einem  ewigen,  nie  mehr  ver- 
gessenen Bunde"  (Jer50^^).^ 

Und  welch  wunderherrliche  Zukunft,  welche  Zeit  im- 
vergänglichen  Heils  (Am  9'^"-)  wird  den  Heimgekehrten 
verheißen!  Alle  ihre  Verschuldungen  für  ewig  vergessen 
und  vergeben  (Jes  44**  Jer33^"-);  alle  ihre  Tränen  in 
Wonne  gewandelt,  sie  selbst  getröstet  und  fröhlich  ge- 
macht nach  ihrem  Kummer  (Jer  3ii*>'i*),  ,,Jahos  Befreite 
kehren  zurück  und  kommen  nach  Zion  mit  Jauchzen,  und 
ewige  Freude  umschwebt  ihr  Haupt.  Wonne  und  Freude 
erlangen  sie,  und  Kummer  und  Seufzen  werden  entfliehen" 
(Jes  35^°).  Jaho  wird  sich  mit  seinen  Wohltaten  nie  von 
ihnen  abwenden  (Jer32*'*).  Er  wird  sein  Volk  mehren 
und  zu  Ehren  bringen  (Jer3oi^).  Sie  werden  in  voll- 
kommenster Sicherheit  wohnen.  Keine  reißenden  Tiere 
im  Lande,  segenspendende  Regengüsse,  reicher  Boden- 
ertrag (Ez  34  25-31) ;  das  ganze  Land  wieder  reichbevölkert 
mit  Herden  von  Kleinvieh  (Jer  33^2'").  Auch  der  Handel 
wird  wieder  blühen:  ,,Man  wird  wieder  Äcker  für  Geld 
kaufen  und  Kaufbriefe  schreiben  und  siegeln  und  Zeugen 
hinzvmehmen"  im  Lande  Benjamin  wie  in  allen  Städten 
Judas  (Jer  32**).  Und  welch  alles  überragende  Stelle  wird 
Allisrael  nach  außen  hin  einnehmen!  Israel  und  Juda, 
in  das  heilige  Land  zurückgebracht,  werden  sich  vereint 
auf  die  Philister  im  Westen  stürzen  und  die  Ostvölker 
plündern,  Edom,  Moab,  Ammon  sich  imtertan  machen 
(Jes  II  ^'*"-,  vgl.  Am  g^^),  alle  anderen  Völker  der  Erde 
aber  werden  buhlen  um  die  Huld  Judas.  ,, Siehe!  ich  will 
nach  den  Heiden  hin  meine  Hand  erheben  und  nach  den 
Völkern  zu  mein  Panier  aufstecken,  daß  sie  Israels  Söhne 
im  Busen  herbeibringen  und  deine  Töchter  auf  der  Schulter 
hergetragen  werden.  Und  Könige  sollen  deine  Wärter 
sein  und  ihre  fürstHchen  Gemahlinnen  deine  Ammen ;  mit 
dem  Angesicht  zur  Erde,  sollen  sie  dir  huldigen  tmd  den 

1)  Vgl.  ferner  Jer  3"  23"-  291"-"  328'  50"  Ez  37  '«». 


Unerfüllte  Weissagungen  der  Ilciinkehr  Gcsamtisraels.  2Q 

Staub  deiner  Füße  lecken!"  (Jes49"').  Dazu  wird 
Israel  den  ganzen  Besitz  aller  Nationen  der  Erde  in  sich 
aufnehmen:  Jaho  wird  „wie  einen  vStrom  Wohlfahrt  und 
wie  einen  flutenden  Bach  den  Reichtum  der  Völker  Jeru- 
salem zulenken"  (Jes  66 ^2),  also  daß  »Jerusalems  Tore 
tags  und  nachts  nicht  geschlossen  werden,  um  das  Ver- 
mögen der  Völker  in  sich  aufzunehmen"  (60^^). 

Und  je  näher  der  Verrat  Babylons  an  Cyrus  rückte  und 
damit  die  Befreiungsstunde  der  jüdischen  Exulanten, 
desto  wort-  und  bilderreicher  löst  sich  die  Zunge  Deutero- 
jesaias  in  eitel  Jubel  aus:  , Juble,  o  Himmel,  denn  Jaho 
hat's  vollführt!  Jauchzet,  ihr  tiefsten  Erdengründe! 
Brecht  in  Jubel  aus,  ihr  Berge,  der  Wald  und  alle  Bäume 
darinnen,  denn  Jaho  hat  Jakob  erlöst  und  an  Israel  ver- 
herrlicht er  sich!"  (Jes  44^^).  ,, Juble,  o  Himmel,  und  froh- 
locke, o  Erde,  und  brechet  aus,  ihr  Berge,  in  Jubel !  Denn 
Jaho  tröstet  sein  Volk  und  seiner  Elenden  erbarmet  er 
sich"  (49^').  „In  Freuden  sollt  ihr  ausziehen,  und  in 
Frieden  sollt  ihr  geleitet  werden.  Die  Berge  und  Hügel 
sollen  ausbrechen  vor  euch  her  in  Jubel,  und  die  Bäume 
des  Feldes  in  die  Hände  klatschen"   (55'^). 

Aber  trotz  aller  dieser  Verheißimgen,  wie  sie  stolzer 
und  herrlicher  keinem  Volke  der  Erde  jemals  geworden 
sind,  trotz  Jahos  ins  Herz  schneidender  Worte:  ,,Mag 
auch  ein  Weib  ihres  Säuglings  vergessen,  daß  es  sich  nicht 
erbarmt  über  den  Sohn  ihres  Leibes,  so  will  doch  ich 
deiner  nicht  vergessen;  siehe!  auf  meine  Hände  habe  ich 
dich  gezeichnet,  deine  (Zions)  Mauern  sind  mir  immerdar 
vor  Augen"  (Jes  49^^*),  und  trotz  allen  Jubels  der 
Propheten,  denen  ein  anderer  Ausgang  der  Dinge  nie  in 
den  Sinn  gekommen,  kehrte  das  Gros  des  jüdischen  Volkes 
aus  Babylon  nicht  zurück,  machte  die  zahllosen  Weis- 
sagtmgen  seiner  Gottesmänner  nicht  wahr,  strafte  es 
Jahos  Wort  (Jes  55^°*)  Lügen,  gab  rein  gar  nichts 
auf  all  die  Zusicherungen  seines  Gottes,  sondern  blieb 
zum    weitaus    größten    Teile,    durch    kalte    Berechnung 


OQ  Der  freiwillige  Verzicht  Israels  auf  Heimkehr, 

der  in  dem  unermeßlich  reichen  babylonischen  Tief- 
lande gegebenen  unbegrenzten  Bereicherungsmöglich- 
keiten veranlaßt  ^,  in  dem  von  ihm  selbst  vordem  bis 
zum  heutigen  Tage  stinkend  gemachten  Babel  imd 
machte  es  sich  zu  einer  neuen  hebwerten  Heimat!  Auch 
die  nach  Medien  verpflanzten  Bewohner  des  Nordreiches, 
die  teils  in  Mediens  Hauptstadt  ansässig  geworden  oder 
aus  Medien  ebenfalls  nach  Babylonien  abgewandert  waren , 
dachten  nicht  an  Heimkehr  in  das  gelobte  Land,  sodaß 
z.  B.  auf  den  Geschäftsurkimden  von  Nippur  aus  der 
Zeit  des  Perserkönigs  Artaxerxes  II.  Namen  judäischer 
und  doch  wohl  auch  israelitischer  Männer:  Abdia, 
Achijjau,  Gedalja,  Jehonatan,  Menahem,  Haggai  und  viele 
andere  mehr  mit  dem  geschäftlichen  Treiben  der  Stadt 
eng  verbunden  erscheinen.  Die  Zurückkehrenden  waren 
zumeist  Priester  und  Leviten,  aber  selbst  von  den  Leviten 
bemerkt  Franz  Deützsch,  daß  sie  nur  in  geringer  Zahl  aus 
dem  Exil  zurückkehrten,  weil  ,,sie  an  ihrer  imtergeordneten 
Stellimg  keinen  Gefallen  fanden".  Niemand  kann  leugnen, 
daß  dieser  freiwillige  Verzicht  auf  sein  Heimatland, 
diese  imzweideutige  Lossagung  von  seinem  Gotte  Jaho, 
diese  mit  kaltem  Verstand  bevorzugte  Rolle  eines  vater- 
landslosen, internationalen  „Volkes"  (übrigens  ein  ekla- 
tanter Widerspruch  in  sich  selbst)  ein  nicht  zu  tilgender 
Schandfleck  auf  der  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  für 
alle  Zeiten  bleibt  (s,  I  103  f.).  Hier  hilft  auch  keine  Be- 
schönigung, worin  tmsere  judenchristHchen  Alttestamentier, 
Juda  sich  gefälüg  zeigend,  wetteifern.  Prof.  Gunkel  sagt 
in  seiner  Auftraggeberin,  der  „Frankfurter  Zeitung"  Nr.  3  90 
vom  30.  Mai  1920 :  ,, Vaterlandslos  sind  die  Juden  vor  allem 
geworden  durch  die  furchtbaren  Gewalttaten  der  Welt- 


^)  Ein  jüdischer  Arzt  in  Frankfurt  a.M.  schrieb  mir  am  11.  Juni  1920: 
„Die  meisten  Juden  blieben  in  Babylon.  Gib  allen  Antisemiten  Deutsch- 
lands am  Orinoko  zehnmal  so  viel  Gehalt,  als  sie  in  Deutschland  be- 
kommen, aber  richtig  in  amerikanischer  Valuta,  und  zähle  dann,  wie 
viel  nach  Deutschland  gehen".     Hier  erübrigt   sich   jede  Bemerkung. 


Sonstige  religiös  wertlose  Prophetenreden.  ßl 

reiche,  die  sie  zur  Übersiedelung  in  die  Fremde  zwangen". 
Er  erklärt  es  für  „ein  gewaltiges  Wagnis,  das  frühere 
Vaterland,  das  längst  von  Feinden  in  Besitz  genommen 
war,  aufzusuchen  und  sich  an  den  schwierigen,  gefahr- 
vollen und  vielleicht  unmöglichen  Wiederaufbau  zu 
machen".  ,,Die  IdeaUsten",  sagt  er,  ,,die  für  Heimat 
und  Gott  alles  drangeben,  stellen  in  jedem  Volke  eine 
Minderheit  dar".  Eine  grausamere  Verurteilung  des  aus- 
erwählten Gottesvolkes,  eine  stärkere  Degradierung  der 
Propheten  zu  losen  Schwätzern  seitens  eines  Theologen, 
eine  nacktere  Entwürdigung  Jahos  und  Entwertung  aller 
seiner  Verheißungen  ist  nicht  denkbar.^ 

Zu  diesen  umfangreichen  unerfüllt  gebliebenen 
Spekulationen  meist  politischer  Art  gesellen  sich  aber  noch 
viele,  viele  andere  Reden  der  alttestamentiichen  ,, Sprecher", 
die  für  uns  Jetztlebenden  ledighch  historisch-poütisches 
und  vereinzeltes religionsgeschichthches, aber  keineSpur 
von  religiösem  Interesse  haben.  Ich  meine  z.B.  die 
mancherlei  Reden  Jeremias  vor  und  während  der  zwei- 
maligen Belagerung  Jerusalems  durch  Nebukadnezar  oder 
die  Reden,  die  Ezechiel  in  Babylonien  an  seine  gleich  ihm 
bereits  im  Jahre  597  in  die  Gefangenschaft  geführten  Volks- 
genossen   richtete,    als    die    Eroberung    und    Zerstörung 

^)  Ein  würdiges  Seitenstück  solch  tendenziöser  Beschönigtmg  der 
vom  Alten  Testamente  selbst  gelehrten  Tatsachen  ist  Meinholds  und 
Anderer  Behauptung,  daß  es  mit  der  vermeintlichen  barbarischen 
Kriegführung  der  hebräischen  Nomadenhorden  gar  nicht  so  schlimm 
sei.  Israel  habe  Kanaan  friedlich  durchdrungen!  Also  auch  das 
Buch  Josua  eitel  Lügenwort,  alle  in  Teil  I,  S.  36  zitierten  Worte  des  Exodus 
und  Deuteronomiums  (vgl.  noch  Dt  7  ^^ :  „und  du  sollst  fressen  alle  die 
Völker,  die  Jaho,  dein  Gott,  dir  gibt,  nicht  soU  dein  Auge  Schonung 
mit  ihnen  haben")  samt  und  sonders  erlogen;  das  Wort  des  Propheten 
Amos  (i^) :  ,,Ich  war  es,  der  die  Amoriter  vor  ihnen  vertilgt  hat,  deren 
Größe  wie  die  der  Zedern  war  und  die  so  stark  waren  wie  die  Eichen! 
und  zwar  vertilgte  ich  ihre  Frucht  oben  und  ihre  Wurzel  drunten" 
erlogen,  Ps  44^  106^*  desgleichen  —  alles  Bestandteile  des  Wortes 
Gottes,  von  dem  die  Theologen  mit  dem  Brustton  felsenfester  Über- 
zeugtheit  zu  predigen  pflegen:  , .Gottes  Wort  bleibet  in  Ewigkeit!" 


02  Religiös  wertlose  Prophetenreden. 

Jerusalems  näher  und  näher  rückte .  Ich  meine  die  Triumph- 
bzw. Spottlieder  der  Propheten  über  den  Fall  Ninewes 
(Nah  I — 3,  vgl.  Zef  2^^")  und  Babylons  (Jes  14,  47), 
die  Spottreden  über  Pharao  Nechos  Besiegung  bei  Karke- 
misch  durch  den  babylonischen  Kronprinzen  Nebukadnezar 
und  über  Ägyptens  Eroberimg  durch  die  Chaldäer  (Jer  46), 
allesamt  jeder  religiösen  Bedeutung  entbehrend.  Denn 
welcher  Vernunftbegabte  möchte  wohl  alle  die  welt- 
geschichtlichen Ereignisse  auf  dem  weiten  Schauplatze 
Vorderasiens  während  des  letzten  vorchristhchen  Jahr- 
tausends ausschließüch  als  Racheakte  Jahos,  des  Gottes 
Israels,  betrachten,  den  Fall  Babylons  und  möglicherweise 
auch  den  Ninewes  ausgenommen,  bei  denen  es  denkbar 
wäre,  daß  Jaho  sich  seines  Volkes  als  Mitwirkenden  bedient 
hätte  (Anmm.  6.  7)  ?  Aber  im  übrigen  bleibt  es  schwer  be- 
greiflich, warum  wir  alle  jene  ephemeren  Redeergüsse  an- 
läßlich von  drei  Jahrtausende  zurückliegenden  Ereignissen 
in  tmsem  Bibeln  herumtragen  zur  Erbauung  und  religiösen 
Erhebimg,  während  gleichzeitig  uns  imd  imsem  Kindern 
die  erhebende  Erinnerung  an  die  denkwürdigen  Tage 
deutscher  glorreicher  Vergangenheit  aus  der  Seele  ge- 
graben wird.  Und  nun  gar  noch  die  vielen  immer  wieder- 
holten haßerfüllten  Reden  gegen  die  nächsten  Nachbarn 
Israels !  Ich  kann  mich  eines  Vergleiches  nicht  erwehren, 
so  trivial  er  erscheinen  mag.  Ich  saß  einmal  bei  einer 
Abendgesellschaft  neben  einer  sehr  „gebildeten"  Dame, 
die  mich  den  ganzen  Abend  ebenso  leidenschaftlich  wie 
wortreich  über  ihre  fortgesetzten  Häkeleien  und  Zwistig- 
keiten  mit  einer  andern  Dame  unterhielt.  Der  abstoßende 
Eindruck  aber,  den  ich  hierbei  empfand,  ohne  die  Unter- 
haltiuig  auf  ein  anderes  Thema  überleiten  zu  können, 
steigerte  sich  bis  zum  Zorn  über  den  verlorenen  Abend, 
als  ich  hörte,  daß  die  betreffende  Widersacherin  schon  seit 
Jahren  tot  sei!  Ein  ganz  ähnliches  Gefühl  überkommt 
mich  immer  von  neuem,  wenn  ich  die  Brandreden  der  alt- 
testamentiichen  „Sprecher"  etwa  gegen  Moab  und  Ammon 


Religiös  wertlose  Prophetenreden.  23 

oder  gegen  Israels  gehaßtesten  Todfeind  Edom  lese,  z.  B. 
Jesaias  Rede  wider  Moab  (25*"'),  die  ,,Moab  in  Grund 
und  Boden  zerstampft"  sieht,  ,,wie  Streu  zerstampft  wird 
in  Mist  jauche  —  es  breitete  seine  Hände  darin  aus  wie 
der  Schwimmer  sie  ausbreitet  zu  schwimmen,  aber  Jaho 
hat  niedergedrückt  seinen  Stolz  samt  den  Kunstgriffen 
seiner  Hände".  Oder  die  berüchtigte  Rede  des  nämlichen 
Propheten  oder  eines  anderen  Pseudojesaia  (Jes  34),  die 
unter  „maßlosen  Hyperbeln"  (Dillmann)  schildert,  wie 
Jahos  Schwert  sich  zuerst  im  Himmel  mit  Zorn  berauscht, 
um  dann,  alles  vernichtend,  auf  Edom  niederzusausen  — 
alles  nach  Sprache,  Stil  und  Gesinnung  echt  beduinische 
Schlacht-  und  Siegesgesänge  (Anm.  8).  ,, Verflucht,  wer 
Jahos  Schwert  das  Blut  Moabs  mißgönnt"  (Jer48^°); 
„macht  Moab  trunken,  daß  es  hinklatscht  in  sein  Gespei" 
(V.  26)  —  erinnern  diese  und  viele  andere  Kraftworte, 
wie  sie  in  den  Prophetenschulen  gelehrt  und  geübt  wurden, 
nicht  tmwillkürlich  an  verwandte  Rednerschulen  der  Neu- 
zeit, deren  Arsenal  zur  Schürung  des  Hasses  ebenfalls  im- 
erschöpflich  ist?  Wir  können  es  ja  verstehen,  daß  Israel- 
Juda  gegen  seine  Nachbarn :  Philister,  Moabiter,  Edomiter 
usw.  von  glühendem  Hasse  beseelt  war,  obwohl  wir  um- 
gekehrt deren  Haß  gegen  die  hebräischen  Eindringlinge 
und  ihre  Gewohnheiten  fast  noch  besser  würdigen  können. 
Aber  wie  sollen  diese  aus  bestimmten  Zeitverhältnissen 
herausgeborenen  Ergüsse  poh tischer  Eifersucht  tmd  Leiden- 
schaft längst  untergegangener  Generationen  auch  uns 
Kindern  des  20.  Jahrhimderts  n.  Chr.  zur  Sittigung  dienen 
und  zu  religiöser  Erbauung?  Statt  ims  nachdenkend  zu 
versenken  in  Gottes  wunderbares  Walten  innerhalb  unseres 
eigenen  Volkes,  fahren  wir  aus  Unkenntnis,  Gleichgültig- 
keit oder  Verblendung  fort,  jenen  altisraeli tischen  Haß- 
reden einen  ,,Offenbarungs"charakter  zuzuerkennen,  der 
weder  im  Lichte  der  ReUgion  noch  dem  der  Ethik  stand- 
hält. Auch  nicht  einmal  im  Lichte  der  Geschichte !  Denn 
alle  diese  von  Jaho  durch  den  Mund  seiner  Propheten  ver- 

Delitzsch,  Die  grosse  Täaschnng.     II  9 


-34  Die  oberflächliche  Beurteilxing  des  Bilderdienstes. 

wünschten  und  verfluchten  Nachbarstämme  Israels  haben 
die  verwahrlosten  Reiche  Israel  und  Juda  um  Jahrhunderte 
bis  herab  in  die  nachexilische  Zeit,  ja  noch  darüber  hinaus, 
überdauert ! 

Wenig  sympathisch  berührt  die  oberflächliche,  nur  dem 
äußeren  Schein  folgende  Beurteilimg  der  babylonischen 
Bilderverehrung,  vornehmlich  durch  Deuterojesaia,  der 
sich  nicht  genug  damit  tim  kann,  die  technische  Her- 
stellung eines  solchen  Götterbildes  bis  in  alle  Einzelheiten 
zu  beschreiben  und,  wie  Kittel  mit  sichtlichem  Wohl- 
behagen feststellt,  „die  schärfste  Lauge  seines  Spottes" 
über  die  Götterbilder  ausgießt  als  Machwerke  von  Menschen- 
hand (z.B.4oi»f-  41^-7  44»ff- 16"- 46«').  Auf  das  Wesen  der 
sumerisch-babylonischen  Gottesanschauimg  und  Gottes- 
verehrung (siehe  oben  S.  14  f.)  brauche  ich  hier  nicht  aber- 
mals zurückzukommen.  Was  aber  den  ermüdenden  Spott 
der  alttestamentlichen  Propheten  und  Psalmisten  auf  die 
Götterbilder  betrifft,  die  „Augen  haben  und  nicht  sehen, 
Ohren  imd  nicht  hören,  eine  Nase  imd  nicht  riechen,  Füße 
und  nicht  gehen"  (Ps  115,135),  so  können  diesen  vor  allem 
die  Babylonier  ebenso  leicht  ertragen  wie  die  katholische 
Kirche.  Denn  genau  so  wie  die  denkenden  Katholiken  im 
allgemeinen  in  den  Bildern  lediglich  die  Repräsentanten 
Christi,  Marias  und  der  Heiligen  sehen,  so  taten  dies  auch 
die  denkenden  Babylonier:  kein  Hymnus,  kein  Gebet, 
die  an  das  Bild  als  solches  gerichtet  wären  —  sie  wenden 
sich  stets  an  die  jenseits  alles  Irdischen  waltende  Gottheit 
(Anm.  9).  In  keinem  Punkte  vielleicht  haben  die  alt- 
testamentlichen  ,, Sprecher"  und  Dichter  befangener,  kurz- 
sichtiger und  ungerechter  geurteilt  als  in  dem  des  baby- 
lonischen Bilderdienstes.  Worte  wie  die  des  Propheten 
Habakuk  (2^*):  ,,Wehe,  wer  zum  Holze  sagt:  wache  auf! 
werde  wach !  zum  stummen  Stein"  treffen  die  Babylonier 
ganz  und  gar  nicht.  Das  Urteil  der  israelitischen  Propheten 
hat  die  Welt  genasführt,  da  es  an  einer  Äußerhchkeit 
kleben   blieb.    Auch  die  babylonischen    Gottheiten   sind 


Die  Propheten  als  Sitten-  und  Strafprediger.  ß^ 

lebendige  Mächte  (siehe  bereits  Babel  und  Bibel  II,  S.34), 
und  sie  walten  mit  gleicher  Gerechtigkeit  und  Barm- 
herzigkeit ohne  Ansehen  der  Person  über  alle  Menschen 
und  Völker  des  Erdkreises,  was  Deuterojesaia  in  Baby- 
lonien  leider  nicht  gelernt  hat  zu  Nutz  und  Frommen 
des  Gottes  Israels. 

Gleich  allen  Göttern  Vorderasiens,  obenan  den  sumerisch- 
babylonischen  Gottheiten,  war  Jaho eine  sittliche  Macht, 
und  so  sympathisch  ims  an  sich  die  prophetischen 
Mahn-  und  Drohreden  gegen  die  in  Israel  und  Juda 
grassierende  Sündhaftigkeit  berühren,  so  liegt  doch  kein 
Grund  vor,  ihnen  den  Charakter  einer  „eigenartigen" 
Gottesoffenbarung  beizulegen.  Wenn  wir  nach  dem  Zeug- 
nis aller  alttestamentlichen  Propheten  annehmen  müssen  ^, 
daß  in  Israel  und  Juda  die  Sittenlosigkeit  einen  nicht  mehr 
überbietbaren  Grad  erreicht  hatte,  daß  Ungerechtigkeiten 
allerart  ungestraft  verübt  wurden,  daß  Rechtsbrüchig- 
keit,  Hinmorden  imschuldiger  Menschen,  Ehebruch,  Be- 
drückung von  Witwen  und  Waisen,  Hurerei  von  Volk  tmd 
Priestern  usw.  an  der  Tagesordnung  waren,  so  bezeugt 

*)  Siehe  z.  B.  Ho  4*:  „sie  (die  Israeliten)  fluchen  und  lügen,  morden 
und  stehlen  und  ehebrechen,  sie  brechen  ein  und  Blutschuld  reiht  sich 
an  Blutschuld".  6':  ,, gleich  lauernden  Räubern  ist  die  Priesterbande". 
—  Am.  2  «'•:  ,,weil  sie  (die  Israeliten)  für  Geld  den  Gerechten  verkaufen, 
und  den  Dürftigen  um  eines  Paares  Schuhe  willen  (vgl.  8  8),  ...  die 
sich,  Vater  und  Sohn,  zur  Dirne  begeben,  um  meinen  heiligen  Namen 
zu  entweihen".  5^°:  ,,sie  hassen  den,  der  im  Tore  für  das  Recht  ein- 
tritt, und  verabscheuen  den,  der  die  Wahrheit  redet".  Ferner  3  ^",  5  ^2. — 
Jer8^°:  „vom  Jüngsten  bis  zum  Ältesten  trachten  sie  allesamt  nach 
Gewinn,  Propheten  so  gut  wie  Priester  verüben  allesamt  Lug  und 
Trug".  8':  ,,mein  Volk  weiß  nichts  von  der  Rechtsordnung  Jahos". 
9^:  „sie  sind  allesamt  Ehebrecher,  eine  Bande  von  Treulosen".  9': 
,,jeghcher  Bruder  übt  Hinterlist  und  jeglicher  Genosse  geht  mit  Ver- 
leumdung um,  einer  hintergehen  sie  den  andern  und  Wahrheit  reden 
sie  nicht".  23 1°  '• :  „voU  von  Ehebrechern  ist  das  Land,  und  ihr  Rennen 
ist  Bosheit  imd  ihre  Stärke  Unwahrhaftigkeit,  denn  Propheten  tmd 
Priester  sind  ruchlos".  23^*:  „bei  den  Propheten  Jerusalems  aber  er- 
lebte ich  Schauderhaftes:  sie  treiben  Ehebruch  und  gehen  mit  Lüge 
um  und  bestärken  den  Übeltäter". 


20  Ganz  ungenügender  Ersatz  für  fehlende  Strafrichter. 

dies  nur  die  grenzenlose  Rechtlosigkeit,  die  in  den  beiden 
Duodezstaaten  fortdauernd  herrschten,  indem  es  dort 
zwar  Gesetze,  aber  keine  Richter  gab,  die,  wie  in  Baby- 
lonien  und  Assyrien,  über  der  Aufrechthaltung  von  Zucht 
und  Ordnung,  über  der  peinlichsten  Beobachtung  der 
staatüchen  Gesetze  wachten.  Wir  lesen  erschüttert  von 
jenen  schandbaren  Zuständen,  vermögen  aber  nicht  ein- 
zusehen, welches  religiöse  Interesse  für  ims  Jetztlebenden 
alle  jene  SchändÜchkeiten  und  ihre  ohne  Straf richter 
schließlich  doch  nutzlose  Geißelung  durch  noch  so  beredte 
und  für  Recht  und  Gerechtigkeit  furchtlos  kämpfende 
Männer  beanspruchen  können.  Die  Babylonier  waren  ge- 
wiß so  wenig  wie  alle  Menschen  Tugendbolde,  aber  die 
harten  Strafen,  die  für  Totschlag,  Diebstahl  und  Hehlerei, 
Ehebruch,  Kebsweiberwirtschaft,  Unzucht,  Verleumdimg 
usw.  vorgesehen  waren,  wurden  von  unparteiischen  Rich- 
tern auf  das  Strengste  vollzogen,  weshalb  ja  der  baby- 
lonische wie  assyrische  Staat  mehr  denn  tausend-,  ja  zwei- 
tausendjährigen Bestand  hatten,  während  Israel  nach 
zirka  240,  Juda  nach  480  Jahren  ruhmlos  zugnmde  ging. 
Wenn  zur  Babel-Bibel-Zeit  die  ganze  Phalanx  meiner 
Gegner  sich  auf  die  Parole  des  ,,sittüchen  Monotheismus 
Israels"  geeinigt  hatte,  so  ist  der  Monotheismus  Israels 
längst  in  die  Brüche  gegangen  und  mußte  Renans  richtiger 
Bezeichnung  als  Monolatrie  weichen.^  Wenn  aber  im 
,, sittlichen  Geist  des  Propheten tums"  eine  „wirkliche 
0£fenbarung  des  lebendigen  Gottes"  gesehen  wird,  dann 
erkenne  man  auch  rückhaltlos  an,  daß  diese  Gottesoffen- 
barimg  durchaus  nicht  auf  das  vermeintliche  Gottesvolk 
Israel  beschränkt  war,  sondern  daß  sie  bei  den  Sumerern, 

^)  Auch  noch  den  Psahnisten  ist  Jaho  nicht  der  einzige  existierende 
Gott,  viehnehr  haben  alle  anderen  Völker  auch  ihre  Götter  (Ps  86  * 
96*  97 '-^  135*  136 2  138^,  vgl.  29^  89'),  und  obschon  der  Psalter  recht 
despektierhch  von  ihnen  redet,  werden  sie  doch  in  ihrer  realen  Existenz 
anerkannt  und  aufgefordert,  Jaho  ihre  Huldigung  darzubringen.  Vgl. 
auch  das  in  I,  S.  102  über  den  Unglücksgott  Scheba'  der  israehtischen 
VolksvorsteUung  Gesagte. 


Die  Ursachen  der  Entsittlichung  Israels.  yj 

den  Schöpfern,  wie  wir  jetzt  wissen,  der  babylonischen 
Gesetzgebung,  die  in  noch  ungleich  höherem  Maße  als  die 
Thora  Mosis  und  die  Forderungen  der  Propheten  sittlich 
zu  nennen  ist,  sich  in  weit  vollkommnerer  Weise 
betätigt  hat  (s.  I  Anm.  32).  Ich  erinnere  nur  noch  einmal 
daran,  wie  die  Frau  bei  den  Sumerern  nicht  allein  dem 
Manne  völlig  ebenbürtig  galt,  sondern  sogar  eine  Ehren- 
stellung vor  diesem  einnahm,  die  unwürdige  Stellung  der 
Frau  in  Altisrael  dagegen  einen  so  tiefen  Absturz  von 
jener  Höhe  darstellt,  daß  die  Frauen  unserer  Tage  nur 
langsam  und  mühsam  die  Stellung  zurückerobern  müssen, 
die  sie  vor  5000  Jahren  bereits  in  idealer  Weise  besaßen 
(s.  weiter  I,  S.  100  nebst  Anm.  44). 

Und  noch  zwei  andere  Betrachtungen  drängen  sich 
auf.  Die  israehtischen  Volksredner  hatten  gewiß  Recht, 
wenn  sie  in  der  sittlichen  Verlotterung  ihrer  Volks- 
genossen einen  Hauptgrund  der  über  Israel  und  Juda 
hereingebrochenen  Katastrophen  sahen,  aber  es  bleibt 
sehr  zu  bezweifeln,  ob  diese  Entsittlichimg,  wie  die  Pro- 
pheten meinen,  in  Zusammenhang  steht  mit  dem  Kultus 
der  kanaanäischen  Landesgottheiten.  Das  letztere  dürfte 
im  Hinblick  auf  den  tausendjährigen  Bestand  Moabs  und 
der  phönikischen  Städtewesen  unbedingt  zu  verneinen 
sein.  Vielmehr  wird  jene  falsch  verstandene  Freiheit  und 
Ungebimdenheit  ein  aus  dem  Wüstenleben  mitgebrachtes 
Erbteil  sein,  wie  ja  Blutrache,  Mißachtimg  des  Weibes, 
Sinnlichkeit,  Herrschsucht,  Grausamkeit,  Gier  nach  irdi- 
schem Besitz  bis  heutzutage  hervorstechende  Eigenschaften 
der  Nomadenstämme  der  syrisch-arabischen  Wüste  bilden, 
weshalb  ja  auch  die  Propheten  selbst,  wie  das  Alte  Testa- 
ment wiederholt  bestätigt  (vgl.  in  Anm.  i  auf  S.  35  die 
Zeugnisse  des  Propheten  Jeremia),  von  jenen  sittlichen 
Mängeln  nicht  frei  waren.  Sodann  vermissen  wir  bei  allen 
Propheten,  die  sich  mit  dem  nahen  Untergang  der  Reiche 
Israel  und  Juda  befassen,  den  Hinweis  auf  einen  zweiten 
imzweifelhaften  Hauptgrimd  jener  Katastrophen,  nämlich 


ß8  Die  politische  Unzuverlässigkeit  Israels  und  Judas. 

die  politische  Unzuverlässigkeit  und  den  fortgesetzten 
Treubruch  der  Israeli tisch-judäischen  Könige  gegenüber 
den  mit  Assyrien  und  Babylonien  eingegangenen  Ver- 
trägen, Treubrüche,  die  freilich  nicht  selten  den  Propheten 
selbst  als  den  politischen  Ratgebern  ihrer  Könige  auf  das 
Konto  zu  setzen  sein  werden.  Vgl.  2  Kö  17*  18'  24^  usw. 
Bis  in  die  nachexihsche  Zeit  erhielt  sich  der  Ruf  Jerusalems 
als  einer  ewig  aufrührerischen  Stadt  (Ezra  4^*). 

Ganz  besonders  sympathisch  stehen  wir  dem  alttesta- 
mentlichen  Psalter  gegenüber,  diesem  Liederbuch  der 
nachexilischen  jüdischen  Gemeinde,  jener  Unentwegten, 
die  trotz  des  in  Babylonien  lockenden  Geldgewinnes  und 
behaglichen  Lebens  treu  zu  ihrem  Gotte  Jaho  und  zu 
dessen  Verheißungen  standen,  ,,Die  Treue  steht  zuerst, 
zuletzt  im  Himmel  tmd  auf  Erden".  Deshalb  begleitet 
unsere  höchste  Achtimg  und  aufrichtiges  Mitgefühl  das 
ursprünglich  kleine  Häuflein  nach  Jerusalem  und  Juda 
heimgekehrter  jüdischer  Exulanten  auf  Schritt  und  Tritt. 
Wir  nehmen  verständnisvollen  Anteil  an  ihrer  Zähigkeit, 
ihrem  Mut,  mit  dem  sie  den  Tempel  auf  Zion  wieder- 
aufbauten; haben  inniges  Mitgefühl  mit  ihren  schweren 
Bedrängnissen,  die  von  allen  Seiten  sie  umringten,  vor 
allem  zur  Zeit  der  späteren  Verzweiflungskämpfe  der 
Makkabäer.  Wir  trauern  mit  ihnen,  als  der  unter  Mühen 
allerart  wieder  aufgebaute  Tempel  zu  Jerusalem  unter 
Antiochus  IV.  Epiphanes  der  greulichsten  Verwüstung  an- 
heimfiel. Wir  verstehen  den  durch  die  Siege  der  makka- 
bäischen  Helden  aufs  Höchste  gesteigerten  Jubel  der  jü- 
dischen Frommen:  ,,Heil  dem  Volke,  dessen  Gott  Jaho 
ist,  dem  Volke,  das  er  zum  Eigentum  sich  erwählt  hat" 
(Ps33^^),  ein  Jubelgesang,  der,  in  immer  neuen  Liedern 
variiert,  Jahos  und  seines  Gesalbten  Königtum  über  alle 
Völker  des  Erdkreises  feierte.  Und  als  den  Erfolgen  der 
Makkabäer  neue  schwere  Niederlagen  und  Heimsuchungen 
folgten,  bewundem  wir  das  felsenfeste  Vertrauen  auf  Jaho 


Psalter  und  Thura.  ^n 

und  das  unerschrockene  Festhalten  an  dem  Gotte  ihrer 
Väter,  also  daß  wir  dieser  treuen  Juden  Endgeschick,  so- 
weit wir  zu  urteilen  in  der  Lage  sind,  nur  beklagen  können. 
Aber  all  dieses  unser  Mitempfinden,  diese  unsere  ,, Senti- 
mentalität", ist  unabhängig  von  der  religiösen  Bewertung 
des  Psalters  als  eines  vermeintlich  auch  für  die  Christen- 
heit noch  dienlichen  Religionsbuches.  Eine  solche  Be- 
wertmig  muß  mit  aller  Entschiedenheit  abgelehnt  werden. 
Aus  sehr  einfachen  und  jedem  unvoreingenommen  Ur- 
teilenden gewiß  einleuchtenden  Gründen, 

Zunächst  beruht  der  Psalter  ganz  und  gar  auf  der 
Thora,  dergestalt,  daß  sogar  Jesus  Zitate  aus  dem  Psalter 
als  Zitate  aus  dem  , .Gesetze"  bezeichnet  (für  Ps  69^  siehe 
Joh  15^^,  für  Ps  82^  Joh  10'*).  Der  sogenannte  i.  Psalm, 
der  die  Thora  Jahos  verherrlicht  und  als  einzigste  Richt- 
schnur des  wahrhaft  Frommen  feiert,  gilt  mit  Recht 
als  halb  prosaische,  halb  poetische  Einleitung  in  das 
ganze  Psalmbuch. ^  Daß  diese  übertriebene  Vergötterung 
der  Thora,  wie  sie  den  Inhalt  von  Psalm  1 9B,  Psalm  11 9  u.a. 
bildet,  für  uns  Christen  ohne  Bedeutung  ist,  liegt  auf  der 
Hand.  Selbst  wenn  wir  über  die  Entstehung  dieser  angeb- 
lichen Thora  Mosis  nicht  so  klar  sähen,  wie  es  im  I.  Teil 
der  ,, Großen  Täuschung"  gezeigt  ist,  würde  die  Thora 
als  spezifisch  jüdisches  Gesetz  für  uns  ebenso  unmaßgeb- 
lich sein  wie  das  Gesetz  Hammurabis  oder  wie  der  Sachsen- 
spiegel, welch  letzterer  Vergleich  schon  bei  Luther  sich 
findet.  Ebendamit  ist  aber  auch  das  Urteil  über  die  vielen 
Psalmen  gefällt,  die  von  den  gesetzestreuen  wahrhaft 
Frommen  (Chasidim)  im  Gegensatz  zu  den  Gottlosen 
und  Freigeistern  handeln,  von  dem  Ansehen  der  „Recht- 
schaffenen" bei  Jaho  und  dem  ihnen  bestimmten  Glücke 
einerseits,  von  ihrer  Verfolgung  und  Drangsaherung  durch 
die  Gottlosen,  die  Frevler,  auch  durch  politische  Feinde 

^)  Beachte,  daß  der  Apostel  Paulus  die  Worte  von  Ps  2':  ,,du  bist 
mein  Sohn,  heute  habe  ich  dich  gezeuget",  als  Worte  des  ersten  Psalms 
zitiert  (Acta  138*'). 


^0  Die  thoragläubigen  „Frommen"  imd  die  „Frevler". 

(Ps  35,  55,  69  u.  a.),  andererseits.  Wir  Christen  haben 
keinerlei  Interesse  mehr  an  diesen  längst  überwundenen, 
an  die  Thora  sich  knüpfenden  Gegensätzen  längst  ver- 
gangener Zeiten,  dies  um  so  weniger,  als  wir  ja  doch  nun 
einmal  nicht  mehr  unter  dem  Gesetze  Mosis  stehen,  son- 
dern durch  Jesu  schlechterdings  neue  Lehre  die  herrhche 
Freiheit  der  Eünder  Gottes  genießen.  Und  erst  recht  sind 
für  uns  ohne  alle  Bedeutung  die  poetischen  oder  richtiger : 
in  Verse  gebrachten  Darstellungen  der  im  ersten  und 
zweiten  Buche  Mosis  erzählten  vermeinthch  historischen 
Ereignisse  vom  Durchzug  durch  das  Schilf meer  usw.  Be- 
merkenswert ist  nur,  daß  auch  die  Psalmisten  den  dreimal 
erzählten  Betrug  mit  dem  Patriarchenweib  und  die  Be- 
stehlimg  der  Ägypter  getreulich  rechtfertigen.  Kein 
Mensch  dürfte  länger  wagen,  die  in  „Große  Täuschimg" 
I,  S.77f.  besprochenen  Erzählungen,  wie  Abraham  bzw. 
Isaak  ihre  Frau  als  ihre  Schwester  ausgaben,  gutzuheißen 
oder  auch  nur  zu  beschönigen.  Aber  Ps  105^^'^^  wagt  zu 
sagen:  ,,Und  sie  (die  Patriarchen)  wanderten  von  Volk  zu 
Volk,  von  Königreich  zum  Volk  eines  anderen.  Nicht  ließ 
Jaho  jemand  sie  bedrücken  und  züchtigte  um  ihret- 
willen Könige:  Rührt  nicht  an  meine  Gesalbten  und 
meinen  Propheten  tut  nichts  Böses!"  Und  ebendort 
V.  37  lesen  wir:  ,,Und  er  (Jaho)  führte  sie  heraus  mit 
Silber  und  Gold",  womit  der  Diebstahl  vom  Dichter 
auf  Jaho  selbst  zurückgeführt  wird!  Literarischen  Wert 
behält  Ps  104,  die  dichterische  Darstellung  des  Schöp- 
fungshergangs Gen  Kap.  i. 

Auch  sonst  sind  die  religiösen  Vorstellimgen  der  Psalmen 
ganz  die  nämlichen  wie  in  allen  übrigen  vor-  imd  nach- 
exilischen  Büchern  des  Alten  Testamentes.  Selbst  der 
geringste  Psalmdichter  träumt  vom  Besitztum  der 
Völker,  das  Jaho  Israel  verheißen  (m^).  Was  aber  das 
Leben  des  einzelnen  Menschen  betrifft,  so  steht  im  Mittel- 
punkte der  diesbezügUchen  Vorstellungen,  daß  das 
menschUche  Leben   ausschließhch   ein  Leben   des   Dies- 


Der  Unsterblicbkcitsglaube  im  Psalter.  4,1 

seits,^  Jaho  ausschließlich  ein  Gott  der  Lebendigen  ist — der 
Toten  gedenkt  Jaho  nicht  weiter,  sie  sind  abgeschnitten 
von  seiner  Hand  (88*).  Im  Totenreich  hat  alles  ein  Ende: 
Jahos  Wunderkraft  (88^^)  ebenso  wie  die  dankbare  Er- 
innerung an  seine  Güte  und  Treue  (6*  30*°  88^' 115^'). 
Alles  Sinnen  und  Denken  auch  der  Psalmisten  ist  auf  das 
Diesseits  gerichtet.  Darum  ist  und  bleibt  der  Lohn  der 
Frömmigkeit,  der  Furcht  Jahos  lange  Lebenszeit,  große 
Nachkommenschaft  und  Reichtum  an  irdischen  Gütern 
(112').  Ist  das  nicht  alles  in  direktem  Widerspruch  mit 
unsern  christlichen  Anschauungen,  sodaß  wir  den  Psalter 
als  christUches Religionsbuch  ablehnen  müssen?  Man  ver- 
gesse doch  nie,  daß  wir  einer  Unsterblichkeitslehre  sogar  im 
nachexihschen  Psalter  nur  an  zwei,  drei  Stellen  (49^*  73^*, 
vgl.  39*)  begegnen  und  auch  da  nur  einer  auf  die  Frommen 
beschränkten,  insofern  diese  Jaho  zu  sich  nimmt,  während 
alle  übrigen  Menschen  dem  Schattenleben  der  Scheol  oder 
Unterwelt  verfallen ;  daß  aber  sogar  diese  wenigen  Stellen 
nicht  allein  ganz  jungen  Datums,  sondern  augenscheinlich 
nicht  auf  dem  Boden  des  Judentums  erwachsen  sind.* 
Was  aber  die  Betätigung  der  Religion  in  der  Nächsten- 
liebe betrifft,  so  enthält  der  Psalter  kein  einziges  Lied, 
das  dieser  schönsten  menschlichen  Tugend  gewidmet  wäre, 

1)  Vgl.  hierfür  auch  2  Kö  20  3,  eine  Stelle,  die  zugleich  lehrt,  wie  sich 
selbst  die  alttestamentlichen  „Frommen",  z.  B.  Hizkia,  vor  dem  Sterben 
fürchteten. 

^)  Beachte  Ps  73  ",  wo  der  Dichter  bekennt,  über  das  Leben  nach  dem 
Tode  erst  belehrt  worden  zu  sein,  als  er  in  Gottes  ,, Besonderheiten 
(Heiligkeiten)",  d.  h.  doch  wohl:  in  Gottes  Geheimnisse  eingeführt 
wurde.  Da  die  Babylonier  schon  viele  Jahrhunderte  vor  dem  Juden- 
tum an  ein  für  Fromme  und  für  Gottlose  verschiedenes  Leben  nach 
dem  Tode  glaubten,  entsprechend  der  späteren  Lehre  Jesu  (siehe  meine 
Schrift  Das  Land  ohne  Heimkehr,  Stuttgart  1911,  S.  18  ff.),  so  ist  es 
sehr  wohl  denkbar,  daß  die  pharisäische  Unsterblichkeitslehre  nicht  so- 
wohl auf  griechische  Einflüsse  zurückgeht,  sondern  auf  den  Einfluß  der 
jüdischen  Proselyten  aus  Galiläa.  Aus  anderen  alttestamentlichen 
Schriften  sei  für  die  UnsterblichkeitshoflFnung  an  die  bekannte  Stelle 
des  Buches  lob  19^6  '•  erinnert. 


4z 


Die  Nächstenliebe  im  Psalter. 


die  ja  ohnehin  im  Alten  Testament  auf  das  Mindestmaß, 
nämlich  die  zu  den  eigenen  Volksgenossen  (s.  I,  S.  loif.), 
beschränkt  ist.  Vielmehr  gedenken  die  Lieder  eines  auf 
das  Siechlager  geworfenen  Kranken  (Ps  41)  oder  eines, 
der  sich  von  seinen  als  Frevler  bezeichneten  Volksgenossen 
angefeindet,  verfolgt,  wohl  gar  mit  dem  Tode  bedroht 
sieht  (Ps  6,  11,  13  usw.),  des  schadenfrohen  oder  ge- 
hässigen Feindes  ausnahmslos  mit  Verwünschungen,  was 
ja  menschlich  nur  allzu  leicht  sich  versteht,  auch  bei  den 
Babyloniern  genau  so  der  Fall  ist,  aber  einem  religiösen 
Erbauungsbuche  gewiß  nicht  zur  Zierde  gereicht,  am 
allerwenigsten  einem  solchen  für  Christen,  welche  über- 
dies in  I  Kor  13  das  erhabenste,  unübertrefEbarste  Hohe- 
lied der  Liebe  besitzen.  ,,Ist  Jaho  mein  Hirte,  hab'  ich 
nicht  Mangel,  auf  Auen  jungen  Grüns,  an  friedlichen  Ge- 
wässern läßt  er  mich  ruhen,  meine  Seele  erquickt  er.  Er 
leitet  mich  auf  richtigen  Geleisen  um  seines  Namens 
willen.  Auch  wenn  ich  wandle  in  finsterm  Tal  [ist  mir 
nicht  bange],  fürchte  ich  kein  Unglück,  deim  du  bist  bei 
mir,  dein  Stecken  imd  dein  Stab,  sie  trösten  mich".  Ge- 
wiß ein  schöner,  zum  Herzen  sprechender  Psalm,  wenn  wir, 
Jaho  durch  „der  Herr"  ersetzend,  an  den  Gott  denken, 
den  uns  Jesus  gelehrt  hat.  Aber  dürfen  wir  dies,  ohne  den 
Psalm  zu  fälschen?  Denn  wenn  der  Psalmist  fortfährt, 
sich  von  Jaho  zu  Tisch  geladen  imd  königlich  bewirtet 
vorzustellen  und  zwar  ,, angesichts  seiner  Feinde"  (23^), 
sodaß  diese,  wie  es  anderwärts  (z.  B.  112^°)  heißt,  es 
sehen  müssen  tmd  vor  Unmut  die  Zähne  zusammenbeißen, 
so  bringt  dies  doch  einen  recht  schrillen  Mißton  auch  in 
dieses  Lied,  wie  denn  die  Psalmisten,  die  doch  erst  recht 
die  berufenen  Verkünder  der  Nächstenliebe  sein  müßten, 
samt  vmd  sonders  keinem  heißeren  Wunsche  Ausdruck 
verleihen,  als  ,, seine  Lust  zu  sehen  an  seinen  Feinden" 
(z.  B.  37^*54^92^2  1128). 

Nehmen  wir  zu  allen  diesen  für  uns  Christen  in  Wegfall 
kommenden  Psalmen  noch  diejenigen  hinzu,  die  lediglich 


Psalm  73  Vers  25  und  26.  ^2 

längst  vergangene  geschichtliche  Geschehnisse  zum  Anlaß 
und  Inhalte  haben,  so  bleibt  nur  eine  verhältnismäßig 
sehr  kleine  Auslese  von  Psalmen  und  Psalmstellen 
übrig,  deren  Inhalt  den  religiösen  Regungen  unserer  Seele 
entgegenkommt,  als  da  sind :  Liebe  zu  Gott,  Stille  zu  Gott, 
vollste  Genüge  in  Gott,  und  die  dem  Neuen  Testamente 
angegliedert  zu  werden  verdienen.  In  weitaus  erster 
I/inie  gehören  zu  diesen  wenigen  sozusagen  neutestament- 
lichen  Psalmstellen  die  Verse  25  und  26  des  73.  Psalms, 
die  nach  dem  hebräischen  Wortlaut  etwa  zu  übersetzen 
sind:  „Wen  habe  ich  im  Himmel  [außer  dir]?  und  neben 
dir  (?  bei  dir,  das  ist:  mit  dir  vereint?)  habe  ich  kein  Ge- 
fallen auf  Erden.  Schwindet  mein  Fleisch  und  mein  Herz, 
so  bleibt  Jaho  mein  Teil  auf  ewig",  von  Luther  frei,  aber 
ziemlich  sinngemäß  verdeutscht:  ,,Wenn  ich  nur  dich 
habe,  so  frage  ich  nichts  nach  Himmel  und  Erde.  Wenn 
mir  gleich  Leib  und  Seele  verschmachtet,  so  bist  du  doch, 
Gott,  allezeit  meines  Herzens  Trost  und  mein  Teil". 
Wenn  nun  aber  der  Professor  der  alttestamentlichen 
Theologie  Wolf  W.  Graf  Baudissinin  seiner  im  Oktober 
1912  gehaltenen  Rektoratsrede  ,,Die  alttestamentliche 
Wissenschaft  und  die  Religionsgeschichte"  in  diesem 
Psalm  wort  ,,eine  Höhe  der  religiösen  Auffassung"  preist, 
,,die  alle  anderen  Höhenlagen  in  sich  faßt  und  sich  nicht 
mehr  überschreiten  läßt",  wenn  er  dieses  Bewußtsein  der 
,, Gottesgemeinschaft"  als  den  ,,Gipfelpimkt  des  religiösen 
Gefühls"  bezeichnet,  so  bricht  er,  ohne  es  zu  wollen, 
meines  Erachtens  den  Stab  über  die  ganze  alttestamentliche 
Religion.  Also  erst  in  „der  Zeit  der  dem  Abschluß  ent- 
gegengehenden alttestamentlichen  Religionsgeschichte"  ein 
Wort,  ein  einziges  Wort,  das  unsem  deutschen  Begriff 
von  Religion  als  der  Gemeinschaft  des  Menschen  mit 
Gott  (Thomasius)  zum  Ausdruck  bringt,  und  noch  dazu 
in  einem  Psalm,  der  sich  durch  das  unmittelbar  vorher- 
gehende Bekenntnis  zur  Unsterblichkeit  des  Gerechten 
als  von  fremdem  Ideenkreis  beeinflußt  bezeugt  (s.  S.  41 


AA  Der  babylonische  Gottesglaube. 

Anm.  2) !  Gewiß  ein  herrlicher  Gedanke,  wenn  wir  Jaho  = 
Gott  setzen:  Gott  das  Einzigste  im  Himmel  und  auf 
Erden,  woran  ich  Gefallen  finde,  Er  mein  bleibender  Teil; 
beständig,  auch  über  den  Tod  hinaus,  bei  Gott  und  mit 
Gott  vereint  zu  sein  das  höchste  Ziel  des  Lebens  1  Aber 
zeigen  nicht  bereits  die  alten  Babylonier  des  dritten  Jahr- 
tausends mit  ihrem  einzigartig  schönen  Personennamen: 
„Wenn  Gott  nicht  mein  Gott  wäre"  bereits  die  nämliche 
unüberschreitbare  Höhe  rehgiöser  Auffassung,  jenen 
„Gipfelpunkt  des  rehgiösen  Gefühls",  zu  welchem  sich 
Israel  erst  im  allerletzten  Stadium  seiner  Psalmdichtung, 
also  kurz  vor  Jesu  Auftreten,  emporgerungen  hat  und 
selbst  dies  nur  mit  fremder  Hilfe?  Durch  die  innige, 
sinnige  Anschauung  der  Sumerer,  daß  jeder  Mensch  ..Klind 
seines  Gottes"  sei,  war  sein  Leben  durchweg  in  das  Licht 
des  Gottesgedankens  gerückt  mit  allen  seinen  Tröstimgen, 
Ermutigungen  und  sittlichen  Forderimgen  einer  den  gött- 
lichen wie  irdischen  Gesetzen  gerecht  werdenden  Lebens- 
führimg.  Der  Babylonier  wußte  sich  ,,in  Gottes  Hand"; 
sein  irdischer  Wandel  geschieht  in  und  durch  seinen  Gott 
(„In  meinem  Gotte  wandle  ich"),  sein  Gott  war  tmd  blieb 
sein  himmlischer  Erzeuger,  sein  ,, Vater".  Die  Gottheit, 
der  der  Mensch  sein  Dasein  verdankt,  nimmt  (vgl.  bereits 
oben  S.  15)  als  sein  guter  Geist  Wohnvmg  in  seinem  Innern, 
sie  behält  ihn  in  Not  und  Krankheit  in  ihrer  Obhut,  und 
kein  schrecklicheres  Unglück  kann  den  Menschen  treffen, 
als  wenn  infolge  fortgesetzter  Sündhaftigkeit  sein  Gott, 
seine  Göttin  von  ihm  weicht.  ,,Sei  er  den  gnädigen  Händen 
seines  Gottes  befohlen !"  —  so  lautet  der  Lieblingssegens- 
wunsch, mit  dem  der  babylonische  Priester  von  dem 
Kranken  und  Todkranken  Abschied  nimmt.  Auch  im 
Tode  verbleibt  der  Mensch  in  seines  Gottes  Hand,  „sein 
Gott  ruft  ihn  zu  sich!"^  Die  Lehre  von  der  Unsterblich- 
keit des  Frommen,  des  Kindes  seines  Gottes,  gibt  sich 
hiemach  gleich  jener  hohen  Auffassvmg  der  Religion  als 

*)  Siehe  für  das  oben  Gesagte  Das  Land  ohne  Heimkehr,  S.  30  f. 


Der  Psalter  iii  der  katholischen  Kirche.  a^ 

Gottesgemeinschaft  als  im  letzten  Grunde  sumerischen 
Ursprungs.  Waren  es  also  die  jüdischen  Proselyten 
Galiläas,  die  in  die  starre,  unveränderliche  Jaho-Religion 
die  Frühlingskeime  einer  höheren  und  reineren  Gottes- 
anschauung und  Gottesverehrung  trugen? 

Aber  wir  können  vom  alttestamentlichen  Psalter  als 
vermeintlichem  christlichen  Religionsbuch  nicht  Abschied 
nehmen ,  ohne  noch  einigen  weiteren  Betrachtungen  Raum 
zu  geben. 

Zwar  daß  die  katholische  Kirche  dem  Psalter  solche 
Bedeutimg  beimißt,  daß  sie  jeden  Priester  verpflichtet, 
das  ganze  Psalterium  allwöchentüch  durchzubeten,  mag 
mit  Stillschweigen  übergangen  werden.  Jeder  akademisch 
gebildete  katholische  Theologe  weiß  ja,  was  von  der 
lateinischen  Übersetzung  gerade  der  Psalmen  zu  halten 
ist,  daß  also  die  Priester  den  Sinn  dessen,  was  sie 
beten,  an  hundert  und  aberhundert  Stellen  gar  nicht  ver- 
stehen können,  weil  er  schlechterdings  unverständlich  ist.^ 
Wichtiger  ist  ein  anderes,  ein  zwiefaches. 

„Frei,  aber  ziemlich  sinngemäß"  koimten  wir  das  oben 
besprochene  Psalmwort  Ps  73  ^^ '"  von  Luther  übersetzt 
nennen.  Aber  nicht  immer  deckt  sich  Luthers  Psalmüber- 
setzung mit  dem  ursprünglichen  Wortlaut  und  Gedanken 
des  Psalmisten.  Eine  §chöne  Pfingstsitte  ist  die 
Schmückung  von  Häusern  und  Kirchen  mit  Maien.  Aber 
an  Ps  118^'  hat  sie  keinen  Halt,  denn  der  Urtext  lautet 
nicht,  wie  Luther  übersetzt:  „schmückt  das  Fest  mit  Maien 


^)  Ganz  wenige  Stichproben  mögen  genügen:  Moab  olla  spei  meae 
(Ps  59^=  60 10)^  Original:  ,, Moab  ist  mein  Waschbecken";  —  priusquam 
intelligerent  Spinae  vestrae  rhamnum  (57=  58 1");  —  prodiit  quasi  ex 
adipe  iniquitas  eorum  (72  =  73^);  —  h(H)erodii  domus  dux  est  eorum 
(103=  104^'),  Original:  ,, der  Storch,  dessen  Wohnung  Zypressen  sind". 
,,Ein  sehr  tüchtiger  Professor  der  Dogmatik  übersetzte  mir  selbst  die 
Stelle  allen  Ernstes:  ,Das  Haus  des  Herodes  war  ihr  Führer'.  Wohl 
kam  ihm  das  sonderbar  vor,  aber  er  wußte  nicht,  was  es  sonst  heißen 
sollte"  (briefliche  Mitteilung  aus  Österreich).  —  Jerusalem,  quae  aedifi- 
catur  ut  civitas,  cujus  participatio  ejus  in  id-ipsum  (121  =  122^). 


Aß  IfUthers  Psalmenübersetzung. 

bis  an  die  Homer  des  Altars",  sondern :  „bindet  das  Fest- 
opfer (gemeint  ist  die  Menge  der  Opfertiere)  mit  Stricken 
bis  an  die  Hörner  des  Altars".  —  In  wieviel  Tausenden  von 
christlichen  Häusern  wird  am  Silvesterabend  der  90.  Psalm 
gelesen  und  in  ihm  der  Vers  10 :  „Unser  Leben  währet 
siebzig  Jahre,  und  wenn  es  hoch  kommt,  so  sind  es  achtzig 
Jahre,  und  wenn  es  kösthch  gewesen  ist,  so  ist  es  Mühe 
und  Arbeit  gewesen"  als  eine  dichterische  Verherrlichimg 
der  mühseligen  Arbeit  dieses  irdischen  Lebens  gewertet! 
Aber  der  Dichter,  ein  Pessimist  nach  Art  des  Predigers 
Salomonis,  der  in  dem  raschen,  flugartigen  Aufeinander- 
folgen der  menschlichen  Generationen  ausschließUch  eine 
Folge  des  göttlichen  Zorns,  in  dem  wie  Gras  vergehenden 
Leben  der  Menschheit  wie  jedes  einzelnen  Menschen  nichts 
als  Jahos  Zorn  über  die  menschliche  Sündhaftigkeit  sich 
widerspiegeln  sieht,  darum  auch  alles  menschliche  Sich- 
mühen im  ewigen  Wechsel  der  Geschlechter  für  Eitelkeit  der 
Eitelkeiten  erachtet  (Qoh  i  ^"'),  er  wollte  sagen :  ,,und  wenn 
es  hoch  kommt,  so  sind  es  achtzig  Jahre,  und  wenn  es 
ungewöhnlich  ist,  so  ist  es  {seil,  doch  nur)  Mühsal  und 
Nichtigkeit,  d.  h.  Mühe  um  nichts,  vergebhche  Mühe,  eitel 
nutzlos  und  zwecklos.  DasistwahrUch  kein  erhebender 
Gedanke  beim  Eintritt  in  ein  neues  Lebensjahr,  das  Gottes 
Güte  uns  schenkt.  Beiläufig  bemerkt,  wird  der  Psalm 
„Mose,  dem  Manne  Gottes"  zugeschrieben  aus  leicht  er- 
kennbarem, aber  nichts  weniger  als  stichhaltigem  Grimde. 
Es  soll  dies  hier  nicht  näher  ausgeführt  werden,  nur  möchte 
ich  im  allgemeinen  noch  vor  den  Überschriften  der 
Psalmen  warnen. 

Es  ist  wahrhaft  betrübend,  die  Torheit,  die  Un- 
verfrorenheit, ja  zum  Teil  bewußte  Un Wahrhaftigkeit 
brandmarken  zu  müssen,  mit  welcher  so  viele  Psalmen  in 
den  letzten  Jahrzehnten  vor  Christus  datiert  worden  sind, 
mehr  als  70  ofEenkiindig  nachexiUsche  Psalmen  David  zu- 
geschrieben werden,  wie  in  der  griechischen  Bibelüber- 
setzimg sogar  der  137.  Psalm:  ,,An  den  Bächen  Babels 


David  kein  Psalnulichtcr  und  Liedersänger.  ^,7 

saßen  wir  und  weinten,  wenn  wir  an  Zion  gedachten" 
die  Überschrift  trägt:  „Von  David",  und  Petrus  (Acta  4^*) 
den  zweiten  Psalm  auf  David  zurückführt  —  Seitenstücke 
zum  Chronisten  (i  Chr  16),  der  Psalmen  des  zweiten,  ersten 
Jahrhunderts  (Ps  105  ^'^^,  Ps  96)  um  tausend  Jahre  zurück- 
trägt und  von  David  bei  der  Überführung  der  Bundeslade 
gesungen  sein  läßt,  obwohl  Ps  105^  ein  Zitat  aus  Jesaia 
(12  *)  ist  (Anm.  10) .  Das  ist  eine  der  gröbsten  Täuschungen, 
die  sich  die  jüdischen  Schriftgelehrten  haben  zuschulden 
kommen  lassen.  Diese  Zurückdatierung  von  mehr  denn 
70  Psalmen  um  ein  volles  Jahrtausend,  ihre  Zurück- 
führung  auf  David,  die  selbst  der  beschränkteste  Schrift- 
gelehrte in  vielen  Fällen,  schon  aus  sprachlichen  und  sach- 
üchen  Gründen,  als  ganz  unmöglich  erkennen  mußte,  ja 
vielfach  obendrein  die  ganz  genaue  Angabe  der  Umstände, 
unter  denen  David  jene  Psalmen  gedichtet  und  gebetet 
haben  soll,  hat  natürlich  keinen  anderen  Zweck,  als  die 
Person  des  Königs  David  und  mit  ihm  das  jüdische  Volk 
überhaupt  mit  dem  bekannten  Heiligenschein  zu  umgeben, 
den  König  David,  der  natürlich  auch  gute  Eigenschaften 
hatte,  aber  im  Grunde  genommen  nach  allem,  was  das 
Samuelis-  und  Königsbuch  von  ihm  erzählt,  ganz  und  gar 
kein  frommer  Liederdichter  tmd  Liedersänger  war,  sondern 
ein  rauher  Kriegsmann,  der  sich  durch  Verstümmelimg 
von  100  Philisterleichen  die  Brautgabe  für  Sauls  Tochter 
Michal  verschaffte  (i  Sa  18  2');  der  die  gefangen  genom- 
menen Moabiter  auf  die  Erde  sich  niederlegen  Heß  und  mit 
einer  Meßschnur  abmaß,  um  dann  je  zwei  Schnurlängen 
zur  Hinrichtung,  je  eine  Schnurlänge  zum  Amiebenbleiben 
zu  bestimmen  (2  Sa  8 '),  und  s.  weiter  i  Sa  27^-  "  2  Sa  12^^. 
Ich  will  nicht  von  neuem  an  Davids  Ehebruch  mit  Urias 
Weib  erinnern  (siehe  I,  S.  92),  obwohl  ein  solch  raffinierter 
imd  grausamer  Ehebruch  nicht  seinesgleichen  findet,  son- 
dern nur  noch  an  Davids  letzten,  seinem  Sohne  Salomo 
auf  dem  Sterbebett  unmittelbar  vor  seinem  Tode  erteilten 
Auftrag,  den  Simei,  dem  er  selbst  Sicherheit  des  Lebens 


48  Gegen  die  Kritiker  der  ,, Großen  Täuschung"  I. 

zugeschworen  hatte,  nicht  ungestraft  zu  lassen,  sondern 
seine  grauen  Haare  mit  Blut  in  die  Unterwelt  zu  be- 
fördern (i  Kö  2®').  Ein  König  David  mit  der  goldenen 
Krone  auf  dem  Haupte  und  der  goldenen  Harfe  an  seiner 
Seite  verdient  keinen  Platz  in  den  christhchen  Kirchen, 
er  verdient  es  nicht,  als  Ahnherr  Jesu  zu  gelten. 

Damit  hätte  ich  im  Großen  und  Ganzen  wohl  alles 
gesagt,  was  vom  religionsgeschichtüchen,  literarischen  wie 
historischen  Standpunkt  über  die  Schriftpropheten  imd 
Psalmen  zu  sagen  ist,  und  hätte  nachgeholt,  was  ich 
absichthch  nicht  gleich  im  I,  Teile  der  ,, Großen  Täu- 
schung" besprochen  habe,  obwohl  diese  vermeintliche 
Unterlassung  der  Hauptvorwurf  ist,  der  mir  von  meinen 
Kritikern  samt  und  sonders  gemacht  wurde.^  Als  ob  man 
in  Einem  Buche  gleich  alles  sagen  müßte  und  sagen 
könnte,  zumal  wenn  man  sich  der  Verantwortlichkeit  bei 
diesen  ernsten  Fragen  bewußt  ist,  imd  als  ob  es  bei  solchen 
grundstürzenden  Darlegungen  nicht  gälte,  langsam  und 
pädagogisch  vorzugehen!  Zu  meiner  Genugtuung  darf 
ich  behaupten,  daß,  abgesehen  von  jenem  Vorwurfe,  ich 
hätte  den  Propheten  und  Psalmen  ihr  Recht  nicht  werden 
lassen,  gegen  die  Ausführungen  meines  Buches  selbst  nach 
dem  Zeugnisse  berufener  unparteiischer  Beurteiler  nichts, 
auch  rein  gar  nichts  geltend  gemacht  werden  konnte,- 
sodaß  das  in  der  ,, Großen  Täuschung"  über  den  Hergang 


^)  Als  besonders  ungehörig  ist  zurückzuweisen,  wenn  Meinhold  mir 
Vorschläge  für  Themata  macht,  die  ich  besser  behandelt  hätte,  z.  B. 
Messe  und  Versöhnungslehre.  Für  solche  Themata  und  ihre  richtige 
Behandlung  muß  doch  erst  die  Bahn  freigemacht  werden,  indem  die 
Unverbindlichkeit  des  Alten  Testaments  für  unsern  christlichen  Glauben 
und  für  das  kirchliche  Dogma  mitsamt  dem  kirchlichen  Kxiltus  auf- 
gezeigt wird. 

2)  Vgl.  z.  B.  das  Urteil  von  Konsistorialrat  Albert  Klein  im 
Türmer  (Heft  11,  1920):  ,,Prof.  Herm.  Gunkel  hat  in  der  Frankfurter 
Zeitung  in  einem  wohl  etwas  allzusehr  für  ihr  Publikum  geschriebenen 
Aufsatz  erbittert  genug  über  die  Große  Täuschung  abgeurteüt,  aber  das, 
was  Delitzsch  behauptet  xmd  vorbringt,  hat  er   nicht  widerlegt". 


Gegeu  die  Kritiker  der  ..CroDtn  TäuHchung''    I  ^(j 

der  Eroberung  Kanaans  durch  Israel,  die  Entstehung 
der  sogenannten  Thora  Mosis  und  über  die  poUtische 
Tätigkeit  der  Propheten  Gesagte  als  unanfechtbar 
gelten  kann.  Das  wird  ja  auch  der  letzte  Grund  all  der 
Schmähungen  sein,  die  jüdische  und  christliche  Theologen 
auf  mich  gehäuft  haben  und  weiterhin  häufen  werden. 

Was  aber  das  auch  gegenüber  der  ,, Großen  Täuschung" 
bis  zum  Überdruß  wiederholte  Verdikt  „nichts  Neues" 
betrifft,  so  ist  dies  bekanntlich  der  nämliche  Vorwurf,  der 
gegen  meinen  ersten  Vortrag  über  Babel  und  Bibel  aus 
Hunderten  von  Kehlen  erschallte,  der  aber  handgreiflich 
dadurch  widerlegt  ist,  daß  jetzt  nach  19  Jahren  der  Ver- 
leger jenes  Vortrages  sich  genötigt  sieht,  eine  Neuausgabe 
vorzubereiten,  um  der  Nachfrage  zu  genügen.  Es  gibt 
also  doch  noch  Tausende  gebildeter  und  für  religiöse  Dinge 
empfänglicher  Deutschen,  denen  das  dort  Gesagte  auch 
heute  noch  etwas  Neues  ist.  Sollten  sich  meine  theologi- 
schen Kritiker  nicht  auch  betreffs  des  in  der  ,, Großen 
Täuschung"  Gesagten  einer  Selbsttäuschung  hingeben,  die 
Tragweite  ihrer  eigenen  aufklärenden  Schriften  allzuhoch 
einschätzend?  Neben  den  nicht  gezählten  Schmähbriefen 
habe  ich  auch  viele,  viele  Dankesbriefe  geistig  hoch-  und 
höchststehender  Männer  erhalten,  von  denen  wenigstens 
vier  im  Auszug  hier  mitgeteilt  werden  mögen,  gewiß  nicht, 
um  mich  mit  ihnen  zu  brüsten,  sondern  lediglich,  um 
jenen  Vorwurf  „nichts  Neues"  auf  das  richtige  Maß 
zurückzuführen . 

Ein  weltbekannter  Verlagsbuchhändler  und  Antiquar 
schreibt  (24.  August  1920):  ,, Während  meines  Ferien- 
aufenthaltes haben  meine  Frau  und  ich  Ihre  Schrift  ,,Die 
große  Täuschung"  gelesen.  Wir  waren  beide  und  sind 
auch  jetzt  noch  sehr  begeistert  davon  und  wünschten  nur, 
daß  das  Buch  in  Millionen  von  Exemplaren  dem  deutschen 
Volke  zugänglich  gemacht  würde.  Die  klare  überzeugende 
Darstellung  von  Tatsachen,  die  dem  naiv  Denkenden  bis- 
her verborgen  waren,  ist  geeignet,  uns  allen  die  Augen  zu 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     II  j 


50  Gegen  die  Kritiker  der  „Großen  Täuschung"  1. 

Öffnen  und  uns  noch  rechtzeitig  vor  den  schweren  Ge- 
fahren, die  dem  deutschen  Volke  drohen,  zu  retten". 

Bin  langjähriger  deutscher  Staatsminister  und  Aristokrat 
konservativster  Gesinnung  schickte  mir  folgenden  Trost- 
brief (15.  Juli  1920):  ,,Sie  haben  wegen  Ihrer  , »Großen 
Täuschung"  so  viel  Lästerungen  erfahren  und  werden 
sicher  noch  mehr  zu  hören  bekommen,  daß  es  Ihnen  viel- 
leicht nicht  gleichgültig  sein  wird,  auch  ein  Wort  der  An- 
erkennung aus  Laienkreisen  zu  hören.  Neues  hat  Ihr  Buch 
mir  nicht  gebracht,  denn  ich  verstehe  etwas  hebräisch,  und 
ich  habe  alle  einschlägigen  Werke  von  Wellhausen,  Eduard 
Meyer,  Gimkel  und  den  andern  Mitarbeitern  von  Nowacks 
Kommentar  aufmerksam  imd  mit  Nutzen  gelesen.  Aber 
die  große  Menge  der  Laien  hat  sie  eben  nicht  gelesen  und 
kann  sie  wegen  mangelnder  Sprachvorkenntnisse  nicht 
lesen.  Daher  stehen  sie  vor  Ihrem  jüngsten  Buch  wie  die 
Kuh  vor  dem  neuen  Tor.  Und  wenn  sie  einmal  im  Alten 
Testament  blättern,  so  tun  sie  es  mechanisch  und  merken 
gar  nicht,  wie  die  Millionen  des  Auszugs  aus  Ägypten  sich 
im  Handumdrehen  in  die  nicht  voll  40  000  Wehrhaften 
zu  Deboras  Zeit  verflüchtigt  haben".  Und  weiter:  ,,Ich 
stehe  in  gelegentlichem  Briefwechsel  mit  einem  evange- 
lischen Geistlichen,  der  selber  der  strengeren,  aber  ver- 
ständigen Richtimg  angehört.  Und  ich  teile  dessen  in 
mehreren  Schriften  niedergelegte  Auffassimg,  daß  es  mit 
dem  hergebrachten  alttestamentlichen  Schlendrian  in 
Schule  und  Kirche  so  nicht  weitergehen  darf,  soll  die 
evangelische  Gemeinde  nicht  schweren  Schaden  leiden. 
So  denken  nicht  wenige,  aber  wenige  haben  den  Mut,  es 
offen  wie  Sie  zu  sagen  oder  gar  ihrer  Überzeugung  gemäß 
zu  handeln". 

Bin  in  allen  geschichtlichen  und  philosophischen  Fragen 
zu  maßgebendem  Urteil  befähigter  geistvoller  Forscher 
schreibt  (11.  April  1920):  ,,Ich  halte  die  Resultate  für 
schlechterdings  zwingend,  namentlich  die  geschichtlichen 
AusbHcke  aber  sind  von  ungeheurem  Wert.   Von  ganzem 


G«gen  die  Kritiker  der  ,, Großen  Täuschung"   I.  ci 

Herz€n  hoffe  ich  im  Interesse  unseres  unglücklichen  Volkes, 
daß  das  Werk  die  Resonanz  finden  möge,  die  es  verdient. 
Der  mit  Sicherheit  zu  erwartende  Widerspruch  wird  in 
sich  selber  zusammenfallen". 

Ein  ,, treuer  Katholik"  endlich,  obwohl  sich  nach  der 
einen  und  anderen  Seite  eine  andere  Auffassung  vor- 
behaltend, schrieb  mir  (ii.  April  1920):  ,,Mit  jubelndem 
Herzen  habe  ich  die  markante  Feststellung  der  großen 
Selbsttäuschung  von  vmgezählten  Millionen,  daß  Jaho  = 
Gott  sei,  begrüßt,  Generationen  über  Generationen  werden 
Ihnen  für  dieses  Wort  ehrlichen  Dank  sagen.  Was  ich 
schon  jahrelang  mit  Schmerzen  empfunden  habe,  daß  wir, 
um  die  große  Menschheitsfrage  des  Wozu?  zu  lösen,  unsern 
Blick  allzu  starr  auf  das  Alte  Testament  gerichtet  haben, 
anstatt  den  Werdegang  der  gesamten  Erdenvölker  zu 
überschauen,  das  hat  nun  in  klassischer  Form  seinen 
öffentlichen  Ankläger  gefvmden.  Um  Gottes  willen,  so 
wünsche  ich,  möge  diese  Erkenntnis  allgemeine  Verbreitimg 
finden". 

Auch  aus  dem  Chor  der  klug  und  besonnen  urteilenden 
Zeitungsstimmen  sei  wenigstens  das  Urteil  einer  süd- 
deutschen Tageszeitung  (vom  26.  Oktober  1920)  hier  mit- 
geteilt : 

,,Wird  man  also  zum  mindesten  von  einer  absicht- 
lichen Täuschung  der  gesamten  Menschheit  durch  die 
althebräischen  Schriftsteller  nicht  ohne  weiteres  sprechen 
können,  so  kann  man  diesen  Vorwurf  zum  Teil  der  anderen 
Seite,  gegen  die  Delitzsch  sich  wendet,  den  heutigen  Ver- 
tretern der  ,,alttestamentlichen  Heilswahrheiten"  nicht 
ersparen.  Es  läßt  sich  schUeßUch  verstehen,  wenn  jüdische 
und  christlich-orthodoxe  Kreise  aus  Tradition  und  Prinzip 
daran  festhalten.  Ich  will  auch  nicht  bestreiten,  daß  es 
eine  Anzahl  wirklich  überzeugter  Anhänger  dieser  An- 
schauungen gibt,  aber :  ein  sehr,  sehr  großer  Teil  der  Leser, 
der  diese  Ausführimgen  liest  —  ich  habe  bereits  manche 
Anfrage    deswegen    erhalten   —   steht   vor   etwas   ganz 


52  Gegen  die  Kritiker  der  „Großen  Täuschimg"  I. 

Neuem,  noch  nie  Gehörtem!  Und  darin  liegt  die  große 
unverzeihliche  Täuschung,  daß  man  aus  kirchUchen  und 
kirchenpoUtischen  Gründen  und  Grundsätzen  all  diese 
brennenden  Probleme  dem  wirklich  ,, leichtgläubigen" 
Bibelleser  und  Kirchengänger  vorzuenthalten  wußte,  ob- 
wohl deren  Lösung  schon  lange  Allgemeingut  der  Wissen- 
schaft geworden  ist.  Vertreter  und  Anhänger  der  christ- 
lichen Kirche  und  speziell  der  ,,alttestamentlichen" 
Wissenschaft  haben  schon  im  Babel-Bibel-Streit  Delitzsch 
mit  der  Bemerkung  abzutun  versucht,  was  er  sage,  sei  ja 
alles  längst  bekannt.  Gewiß:  die  Theologie  hat  das 
meiste,  was  Delitzsch  vorführt,  auch  schon  lange  gesehen , 
manches  könnte  ebensogut  bereits  Marcion  gesagt  haben. 
Den  wirklichen  und  wissenschaftlichen  Vertretern  ist  das 
wohl  bekannt,  nicht  aber  dem  größten  Teil  des  gläubigen 
Volkes.  Und  weil  Delitzsch  nun  wieder  diese  Tatsache 
scharf  beleuchtet,  darum  die  Erregung  und  Erbitterung, 
mit  der  gegen  ihn  angegangen  wird.  Man  sucht  ihn  mit 
wissenschaftlichen  Gründen  zu  erledigen,  kann  aber  — 
mag  man  auch  über  den  einen  oder  anderen  Punkt  seiner 
Darlegungen  ,, wissenschaftlich"  verschiedener  Meinung 
sein  —  die  feststehenden  Tatsachen  nicht  erschüttern, 
imd  darum  findet  man  in  der  Form  und  Tendenz  der 
Schrift  einen  Angriffspunkt  oder  noch  besser:  man  über- 
geht sie  vollständig,  ein  bewährtes  und  oft  angewandtes 
Prinzip,  indem  man  Leute,  die  einem  unbequem  sind, 
totschweigt". 

Es  kommt  also  nach  alledem  nicht  darauf  an,  ob  das 
von  mir  Gesagte  neu  oder  nicht  neu  sei  —  die  Hauptsache 
bleibt,  daß  es  wahr  ist.  Diese  Wahrheit  aber  möchte  ich 
(die  religiöse  und  sittliche  Bewertung  hier  beiseite  lassend) 
dahin  zusammenfassen,  daß  das  Alte  Testament  voll  ist 
von  Täuschimgen  allerart:  ein  wahres  Sammelsurium 
irriger,  unglaubwürdiger,  unzuverlässiger  Zahlen,  auch 
solcher  der  bibUschen  Chronologie;  ein  wahrer  Irrgarten 
falscher  Darstellungen,  irreführender  Umarbeitungen,  Über- 


Sanherib  und  Hizkia. 


53 


arbeitungen  und  Verschiebungen,  darum  auch  Anachronis- 
men * ;  eine  unablässige  Durcheinandermischung  sich  wider- 
sprechender Einzelangaben  und  ganzer  Berichte,  un- 
historischer freier  Erfindungen,  Sagen  und  Märchen, 
kurzum  ein  Buch  voll  absichtlicher  und  unabsichtlicher 
Täuschungen,  zum  Teil  Selbsttäuschungen,  ein  sehr  ge- 
fährliches Buch,  bei  dessen  Gebrauch  die  größte  Vorsicht 
vonnöten  ist.  Ich  wiederhole  es:  das  Alte  Testament  ist 
in  allen  seinen  Büchern  voll  von  sprachlichen  Schönheiten, 
von  archäologischen  Aufschlüssen,  es  behält  auch  trotz 
seiner  Mängel  den  Wert  einer  historischen  Urkunde,  aber 
es  ist  nach  allen,  allen  Seiten  hin  eine  verhältnismäßig 
späte  und  sehr  trübe  Quelle,  ein  Tendenzwerk  vom 
I.  Kapitel  der  Genesis  bis  zum  letzten  der  Chronik. 

Ich  will  diese  Betrachtung  mit  einem  Beispiel  schließen, 
das  für  alttestamentliche  Theologen  und  Althistoriker  in 
der  Tat  nicht  neu,  im  Gegenteil  altbekannt,  ja  abge- 
droschen ist,  aber  dennoch  noch  lange  nicht  gebührend 
gewürdigt  oder  erledigt. 

Der  König  Sanherib,  der  Sohn  Sargons,  des  Eroberers 
von  Samaria,  berichtet,  daß  er  auf  seinem  dritten  Feldzug 
im  Jahre  701  v.  Chr.  nach  Niederwerfung  Sidons  und  der 
sidonischen  Städte  bis  hinab  nach  Akko  die  ununter- 
würfige Philisterstadt  Askalon  bestraft  habe  und  dann 
gegen  Ekron  gezogen  sei,  welches  seinen  treu  zu  Assyrien 
stehenden  König  Padi  gefesselt  und  böswillig  dem  König 
von  Juda,  Hizkia,  überantwortet  hatte.  Nach  Besiegung 
ägyptisch-äthiopischer  Heerhaufen,  die  den  Ekroniten  auf 
deren  Bitte  zu  Hilfe  gekommen  waren,  in  der  Schlacht 
von  Altaqü  wurde  Ekron  hart  gezüchtigt.    Das  gleiche 


*)  Ein  besonders  häßlicher  und  zugleich  verräterischer  Anachronis- 
mus ist  es,  daß  nach  dem  klaren  Berichte  des  Exodus  Jaho  sich  unter 
diesem  Namen  erst  Mose  geoffenbart  habe,  während  die  Genesis  Jaho 
bereits  von  Noah  und  zwar  als  der  Gott  Sems  überhaupt  genannt  sein 
läßt  (9**),  Abram  den  Namen  Jahos  anrief  (12*),  Jaho  schon  zum  Gott 
Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs  gemacht  wird.    Vgl.  I,  S.  84. 


54 


Sattherib  und  Hizkia. 


Schicksal  traf  Hizkia,  der,  obschon  er  notgedrungen  den 
Padi  auslieferte,  vielleicht  sogar  mittels  eines  nach  Lakisch 
gesandten  Boten  Sanherib  um  Verzeihung  bat  (s.  2  Kö  i8  ^*) , 
dennoch  in  seiner  Unimterwürfigkeit  beharrte.  Nach 
einem  klugen  Kriegsplan  wurde  er  von  einer  detachierten 
assyrischen  Heeresabteilung  in  seiner  Hauptstadt  Jeru- 
salem ,,wie  ein  Vogel  im  Käfig"  eingeschlossen,  sodaß  er 
und  die  judäische  Hauptmacht  vollkommen  matt  gesetzt 
war,  während  Sanherib  alle  übrigen  festen  Ortschaften 
Judas,  46  an  Zahl,  nach  heftiger  Gegenwehr  eroberte,  ihre 
Bewohner  samt  denen  der  zahllosen  kleineren  Nachbar- 
ortschaften, klein  und  groß,  Mann  und  Weib,  in  der  Ge- 
samtzahl von  200  150  Gefangenen  nebst  Viehherden  ohne 
Zahl  wegführte,  die  also  entvölkerten  Städte  und  Dörfer 
aber  den  Philistern  von  Asdod,  Ekron,  Gaza  zuteilte,  also 
daß  das  jüdische  Gebiet  um  einen  großen  Teil  der  Niede- 
rung und  des  Gebirges  (s.  Jos  1588-60^  verringert  wurde. 
Der  Staat  Juda  war  damit  für  die  Assyrerkönige  so  voll- 
ständig erledigt,  daß  Sanheribs  Sohn  und  Nachfolger 
Asarhaddon  bei  seinen  Zügen  gegen  Ägypten  von  Juda 
und  Jerusalem  überhaupt  keine  Notiz  nahm.  Eine  furcht- 
bare Bestrafung  Hizkias,  der  es  unterlassen  hatte,  gleich 
Ammon,  Moab,  Edom,  Asdod  Sanherib  rechtzeitig  durch 
Tributsendung  zu  huldigen,  und  obendrein  mit  den  auf- 
sässigen Ekroniten  gemeinschaftliche  Sache  gemacht  hatte. 
Kein  Wunder,  daß,  nachdem  Sanherib  nach  Ninewe 
zurückgekehrt  war,  Hizkias  Versuch  aber,  Jerusalems  Be- 
festigungen schleunigst  zu  verstärken,  an  der  Ausständig- 
keit (? Bestürzung?)  der  hierzu  in  die  Hauptstadt  genom- 
menen Beduinen  und  sonstigen  Landesbewohner  geschei- 
tert war,  Hizkia  von  denkbar  größter  Angst  vor  einer 
etwaigen  Wiederkehr  des  assyrischen  Großkönigs  und 
seines  Heeres  erfaßt  wurde  und  sich  ntmmehr  zu  einer 
Tributsendimg  entschloß,  wie  sie  selbst  den  Kanzüsten 
Sanheribs  als  etwas  Ungewöhnliches  erschien,  sodaß  sie 
den  übersandten  Tribut  so  genau  detaillierten,  wie  dies 


SatiLerib  nn<1    Hizki.i.  ^^ 

sonst  selten  der  Fall  ist.  Wir  lesen  auf  Sanheribs  sechs- 
seitigem Tonprisma:  , .Neben  30  Talenten  Gold,  800  Ta- 
lenten Silber  auserlesene  ..,..,  große  Libationsgefäße  (?). 
elfenbeinerne  Betten  und  Stühle,  Elefantenhaut,  Ele- 
fantenzähne, kostbare  Hölzer,  buntgewebte  und  linnene 
Kleider,  violett-  und  rotpurpurne  Wollstoffe,  Gerät  von 
Kupfer,  Eisen,  Bronze,  Blei;  Streitwagen,  Schilde,  Lanzen, 
Panzer,  eiserne  Gürteldolche,  Bogen  und  Pfeile,  Speere, 
zahlloses  Kriegsgerät;  dazu  seine  Töchter,  seine  Palast- 
damen, männliche  und  weibliche  Musikanten  sandte  er 
nach  Ninua,  der  Stadt  meiner  Herrschaft,  hinter  mir  drein 
(bzw.  nach  meinem  Abzüge),  und  zur  Übergabe  des  Tributs 
und  Huldigungsleistung  schickte  er  seinen  Gesandten". 
Da  Hizkia  für  Sanherib  eine  wenig  bedeutende  Persön- 
lichkeit war,  so  ist  jeder  Zweifel  an  der  Glaubwürdigkeit 
des  keilschriftlichen  Berichtes  ausgeschlossen,  wogegen  das 
Alte  Testament  als  historische  Quellenschrift  dermaßen 
diskreditiert  ist,  daß  von  vornherein  niemand  geneigt  sein 
wird,  dem  Berichte  des  Königsbuches  (2  Kö  18^*  bis 
Kap.  ig  fin.)  bzw.  des  Buches  Jesaia  (Kapp.  36,  37)  über 
Sanherib  -  Hizkia  höheren  Glauben  zu  schenken.  Gleich 
die  biblische  Jahreszahl  für  Sanheribs  Feldzug  gegen 
Philistäa,  714,  ist  falsch.  Er  fand  auf  Grund  der  astro- 
nomisch beglaubigten  assyrischen  Reichschronologie  im 
Jahre  701  v.  Chr.  statt.  Das  Alte  Testament  gibt,  wie  die 
Niederlage  der  philistäischen  Städte  (2  Kön  18^),  so  auch 
die  Eroberimg  aller  festen  Städte  Judas  zu,  desgleichen 
die  zeitweise  Einschließung  Jerusalems,  spricht  auch  von 
einer  Tributleistung  in  Höhe  von  30  Talenten  Gold  imd 
300  Talenten  Silber,  die  nur  zum  Teil  aus  dem  Tempel- 
und  Palastschatze  hätten  bestritten  werden  können,  aber 
im  übrigen  ist  alles  im  Alten  Testament  Erzählte  als 
tendenziös  verfärbt  und  überdies  schon  durch  seine  zwei 
ineinander  gearbeiteten,  sich  widersprechenden  Berichte 
als  völlig  unzuverlässig  erwiesen .  Nach  dem  einen  Berichte 
hätte  Sanherib  von  Lakisch  aus  ein  großes  Heer  gegen 


e6  Sanherib  und  Hizkia. 

Jerusalem  gesandt  und  durch  dessen  Führer,  den  so- 
genannten Rabschaqe,  die  auf  der  Mauer  Jerusalems  ver- 
sammelte judäische  Soldateska  zur  Übergabe  der  Stadt 
aufgereizt.^  Nach  dem  anderen  Berichte  hätte  Sanherib 
nur  Boten  mit  einem  zur  Übergabe  Jerusalems  auf- 
fordernden Brief  an  Hizkia  geschickt.  Nach  dem  einen 
Berichte  wäre  Sanherib,  einem  Prophetenwort  Jesaias 
entsprechend,  auf  Grund  eines  Gerüchtes,  daß  der  Äthiopen- 
könig  Tirhaqa'^  wider  ihn  ausgezogen  sei,  in  sein  Land 
zurückgekehrt  (2KÖ19'"**;  Jes37'"®^);  auch  nach  dem 
andern  Berichte  wäre  Sanherib,  ebenfalls  einer  Verkündi- 
gung Jesaias  entsprechend,  von  Jerusalem  abgezogen  und 
auf  dem  Wege,  den  er  gekommen,  nach  Ninewe  zurück- 
gekehrt (2  Kön  19^2 "•  36-  jes  3733"-  37^  y^i  ^^^]^  2  Kö  19**; 
Jes  37^®).  Dagegen  zog  nach  wieder  einem  anderen  Be- 
richte der  Engel  Jahos  aus  tmd  schlug  185  000  Mann  im 
assyrischen  Heere,  also  daß  ,,sie,  als  sie  am  Morgen  auf- 
standen, sämtUch  tote  Leichen  waren" !  Ein  Märchen,  in 
direktem  Widerspruch  mit  allen  übrigen  Berichten  sowie 
den  Aussagen  des  Propheten  Jesaia,  noch  dazu  ein  albernes 
Märchen,  da  kein  assyrisches  Heer  weder  in  seiner  Gesamt- 
heit noch  viel  weniger  in  einem  Bruchteil  jemals  185  000 
^lann  gezählt  haben  dürfte,  und  da  Sanheribs  Heer  schon 
im  nächstfolgenden  Jahre  wieder  kämpf  gerüstet  zum 
Dienste  seines  obersten  Kriegsherrn  stand;  ein  Märchen, 
an    Albernheit    nur    übertroffen    von    einer    in    Ägypten 


*)  Es  mag  sein,  daß  der  Führer  des  zur  Zemierung  Jerusalems  aus- 
gesandten assyrischen  Detachements  auf  eigene  Faust  einen  Hand- 
streich versuchte  und  die  Besatzung  Jerusalems  aus  eigener  Machtvoll- 
kommenheit zur  Übergabe  der  Stadt  aufforderte,  aber  die  2  Kö  i8^®~^°; 
Jes  36*"^°  überlieferte  Rede  des  assyrischen  Würdenträgers  erweckt 
in  mehr  denn  Einem  Punkte  Zweifel  an  ihrer  Authentizität.  Auf  alle 
Fälle  widerstreitet  sie  Sanheribs  klarem  Bericht,  demzufolge  der  assyrische 
Großkönig  lediglich  eine  Einschließung,  aber  keine  Belagerung  Jeru- 
salems zwecks  Aushungerung  beabsichtigte. 

*)  Tirhaqa,  ägyptisch  Taharqa,  assyrisch  Tarqü,  kam  um  704  auf  den 
Thron  und  erscheint  als  Gegner  Asarbaddons  in  den  Jahren  674  und  67 1 . 


Sanlu-rib  und  Hizkia.  «7 

kolportierten  tragikomischen  Geschichte  (s.  Herodot  II 
141),  wonach  eine  ungeheure  Zahl  Mäuse  das  Assyrerheer 
(vor  Pelusium !)  überfallen  und  sämtliches  Leder  an  den 
Schilden,  Köchern,  Bogen  aufgefressen  habe,  wodurch 
die  Assyrer  wehrlos  gemacht  worden  seien !  Was  aber  die 
Tributsendung  betrifft,  die  nach  Sanheribs  unmißverständ- 
lichem Berichte  nach  Ninewe  erfolgte,  so  wird  sie  im 
Buche  Jesaia  ganz  übergangen,  während  das  Königsbuch 
(2  Kö  18^*")  den  Anschein  erweckt,  als  hätte  sie  nach 
Lakisch,  einer  Festung  des  südwestlichen  Juda,  statt- 
gefunden. So  unwahrscheinlich  es  einerseits  ist,  daß 
Sanherib  nach  erhaltenem  Tribute  gegen  Jerusalem  vor- 
gegangen sei,  so  ist  andererseits  schlechterdings  kein  Grund 
abzusehen,  warum  die  Geschichtsschreiber  Sanheribs 
Hizkias  Tributsendung  und  Huldigung  von  Lakisch  nach 
Ninewe  verlegt  haben  sollten.  Umgekehrt  läßt  sich  be- 
greifen, daß  Hizkia  angesichts  des  kurz  vorher  infolge  von 
Hoseas  Abtrünnigkeit  über  Samaria  und  das  Reich  Israel 
verhängten  furchtbaren  Strafgerichts  und  nach  solch 
großem  und  empfindlichem  Gebietsverluste  eine  Wieder- 
kehr der  assyrischen  Invasion  um  jeden  Preis,  selbst  um 
den  Preis  eines  Fußfalls  in  Sanheribs  Hauptstadt  Ninua, 
abzuwenden  versuchte.  * 

^)  Trotzdem  daß  Hizkias  Empörung  wider  Sanherib  so  unglücklich 
verlief  wie  nur  denkbar,  indem  sie  Judäa  schon  zu  Hizkias  Zeit  dem 
Zusammenbruch  nahebrachte  und  ihm  einen  riesigen  Verlust  an  Gebiet, 
Menschen  und  Vieh  kostete,  wagt  2  Kö  18  ^  zu  behaupten,  daß  Hizkia 
wegen  seines  frommen  Festhaltens  an  Jaho  ,,in  allen  seinen  Unter- 
nehmungen eitel  Erfolg  gehabt"  habe!  Worte,  nichts  als  Worte, 
aber  mit  solcher  Keckheit  immer  von  neuem  vorgetragen,  daß  sie  der 
Gutgläubigkeit  der  gedankenlosen  Leser  noch  auf  lange  Zeit  hinaus 
sicher  sein  können.  Auch  wenn  Kautzsch  in  seinem  Abriß  der  Ge- 
schichte des  alttestamentlichen  Schrifttums  S.  165  bemerkt:  ,,Als  dann 
der  Gott,  der  auf  dem  Zion  thront  (so  schreibt  ein  christlicher 
Theologe!),  die  unerschütterliche  Verheißung  (?)  seines  Propheten  wahr 
gemacht  und  in  einer  Nacht  über  die  Myriaden  (?)  Assurs  triumphiert 
hatte"  usw.,  so  sind  das  ebenfalls  nichts  als  inhaltsleere,  der  historischen 
Wahrheit  ins  Gesicht  schlagende  Phrasen. 


58  I^«  Prophetieen  Jesaias  gegen  Sanherib. 

Und  in  welch  unvorteilhaftem  Lichte  erscheint  nun  gar 
alles  in  betreff  des  Verhaltens  des  Propheten  Jesaia  Be- 
richtete 1  Da  Sanherib  genau  so  wie  später  Nebukadnezar 
wußte,  daß  Jerusalem  nur  durch  Hunger,  d.h.  durch  lang- 
fristige Belagerung  erobert  werden  könne,  fiel  es  ihm 
natürlich  nicht  im  Traume  ein,  nach  jenen  schweren 
Kämpfen  gegen  die  philistäischen  Städte  und  judäischen 
Burgen  auch  noch  Jerusalem  belagern  und  erobern  zu 
wollen.  Was  er  beabsichtigte  und  was  ihm  vollständig 
gelang,  war,  Jerusalem  zu  zernieren  und  das  dort  ver- 
sammelte judäische  Heer  festzuhalten,  während  er  die 
46  festen  Städte  der  Reihe  nach  stürmte  und  eroberte. 
An  den  ermutigenden  Worten,  die  Jesaia  dem  König 
Hizkia  in  dessen  Riesenangst  laut  dem  ersten  Berichte 
(2KÖI9*'";  Jes37®*)  und  laut  dem  zweiten  Berichte 
(2  Kö  19^^"';  Jes37'^"')  zukommen  ließ,  wollen  wir 
keine  Kritik  im  Einzelnen  üben.  Aber  daß  auch  noch  ein 
augenscheinlich  erst  nachexilisches  Lied  {2  Kö  iq"'^^;  Jes  37 
^■*®),  das  den  Rückzug  Sanheribs  von  Jerusalem  zum 
Gegenstande  hat,  Sanherib  aber  Taten  zuschreibt,  die  er 
nie  vollbracht  hat,  Sanherib  wohl  mit  Nebukadnezar  ver- 
wechselnd, als  eine  prophetische  Verkündigung  Jesaias, 
des  Sohnes  des  Amoz,  in  den  historischen  Bericht  mit  ein- 
geflochten ist,  ja  daß  sogar  ein  ,, Zeichen"  als  Unterpfand 
für  die  Erfüllung  dieser  Stilübung  eines  späteren  Pro- 
phetenschülers oder  Dichters  (Anm.ii)  dem  Hizkia  ge- 
geben wird  (2  Kö  19^®";  Jes  37^**"),  ist  doch  der  ten- 
denziösen Täuschung  im    ,, Worte  Gottes"   etwas  zuviel. 


Aber  —  so  höre  ich  im  Geiste  Viele  einwenden,  obwohl 
sie  meinen  bisherigen  Darlegimgen  vielleicht  zustimmend 
gefolgt  sind  —  bleibt  nicht  das  Alte  Testament  trotz  alle- 
dem für  uns  Christen  imentbehrHch,  da  das  Neue  Testament, 
da  Jesus  selbst  in  seinen  Reden  fort  und  fort  an  das  Alte 
Testament  anknüpft,   auf  das   Alte   Testament  zurück- 


Jesu  neue  Ivehre.  5Q 

weist?  Das  ist  gewiß  richtig,  jede  Seite  des  Neuen  Testa- 
mentes bezeugt  es.  Aber  darf  ich  meine  Ivcser  vom  ersten 
Anfang  an  an  Jesu  Gleichnis  erinnern  (Luk  5'^"):  „Nie- 
mand reißt  einen  Lappen  von  einem  neuen  Kleide  ab  und 
setzt  ihn  auf  ein  altes,  oder  aber  er  zerreißt  das  neue  und 
zum  alten  paßt  der  Lappen  vom  neuen  nicht.  Und  nie- 
mand legt  neuen  Wein  in  alte  vSchläuche,  oder  aber  der 
neue  Wein  zerreißt  die  Schläuche,  er  selbst  läuft  aus  und 
die  Schläuche  gehen  zugrunde,  sondern  neuen  Wein  muß 
man  in  neue  Schläuche  legen",  Jesus  bezeugt  durch  diese 
Bilder  persönlich  und  damit  unwidersprechbar,  daß  seine 
Lehre  gegenüber  der  synagogalen,  in  der  er  auferzogen 
worden  war,  etwas  wirklich  und  vollkommen  Neues  sei, 
für  welches  das  Althergebrachte,  das  ist  aber  Gesetz  und 
Propheten,  nicht  mehr  tauge.  Er  muß  als  jüdischer 
Proselyt  und  im  Verkehr  mit  seinen  jüdischen  Zeitgenossen 
fortwährend  an  das  beiden  Teilen  geläufige  Alte  Testament: 
Thora,  Propheten  und  Psalmen,  anknüpfen;  er  zeigt  sich 
als  Schüler  der  Synagoge  vielfach  abhängig  von  bzw.  nach- 
giebig gegen  irrige  Angaben  des  Alten  Testaments  ebenso 
wie  gegen  falsche  überlieferte  Schriftauslegungen;  er 
behandelt  das  Alte  Testament,  sonderlich  in  mehr  oder 
weniger  untergeordneten  Dingen,  etwa  solchen  des  Usus 
{Luk  5**),  schonend  und  pietätvoll,  aber  im  übrigen 
nimmt  Jesus  durchweg  eine  schroff  gegensätzliche 
Stellimg  zum  Alten  Testamente  ein,  dasselbe  nicht  bloß 
modifizierend,  sondern  in  allen  Hauptsachen  der  Religion 
und  Ethik  unumwunden  abweisend,  sodaß  wir,  als  Jesu 
Lehre  folgende  Christen,  durch  Jesus  selbst  vom  Alten 
Testamente  tatsächlich  entbunden  sind. 

Jesus  war  jüdischer  Proselyt,  also  überhaupt  nicht  jüdi- 
schen Ursprungs?  Ganz  gewiß  nicht.  Aus  historischen 
und  noch  mehr  aus  sachlichen  Gründen .  Aus  historischen . 
Schon  der  assyrische  König  Tiglathpileser  III.  oder  Pul 
war  es,  der  ganz  Galiläa  samt  dessen  Nachbargebieten 
im  Jahre  732  zu  Assyrien  schlug  und  ihre  Bewohner  ver- 


6o  Jesus,  der  Galiläer,  jüdischer  Proselyt. 

pflanzte,  ebenhierdurch  aber  im  Verein  mit  Sargon  II., 
der  die  Bewohner  Samarias  und  des  Reiches  Israel  in  die 
assyrische  Gefangenschaft  wegführte,  für  jenes  Mischvolk 
der  Galiläer  und  Samaritaner  Platz  schuf,  das  im  8.  und 
7.  Jahrhundert  v.  Chr.  durch  Dorthinverpflanzung  fremder 
Völkerschaften,  obenan  von  Bewohnern  babylonischer 
Städte:  Babel,  Kutha,  Erech,  entstand.  Gemäß  2  Kö  17^* 
siedelte  der  König  von  Assur  (gemeint  ist  Sargon  II.) 
in  den  vStädten  Samariens  ,,an  Stelle  der  Israeliten"  Volk 
aus  Babel  und  Kutha  und  'Iwwa  und  Hamath  und  Sephar- 
waim  an,  während  Ezra  4*  unter  den  von  Asnappar  (das 
ist  Asurbanpal)  nach  Samarien  und  dem  übrigen  Trans- 
euphratien  verpflanzten  Völkerschaften  neben  wahrschein- 
lich arischen  Stämmen  und  neben  Susianern,  das  ist 
Elamiten,  ebenfalls  Bewohner  von  Erech  und  Babel  ge- 
nannt sind.  Der  Grundstock  dieses  Mischvolkes  war  und 
blieb  aber  in  dem  Grade  babylonisch,  daß  der  Talmud 
an  zahlreichen  Stellen  die  Samariter  geradezu  ,,Kuthäer" 
nennt  nach  der  babylonischen  Stadt  Kutha,  und  daß  die 
galiläisch-aramäische  Mundart  mit  ihrer  spezifisch  baby- 
lonischen Vereinerleiung  der  Kehllaute^  noch  zur  Zeit 
Jesu  sofort  den  Gaüläer  verriet.  Gerade  der  Umstand,  daß 
sich  Jesus,  der  ,, Galiläer"  (Matth  26^'  Mark  14'"),  gewiß 
ebenso  durch  seinen  galiläischen  Dialekt  als  An- 
gehörigen des  Mischvolkes  der  Galiläer  verriet,  wie  dies 
von  Simon  Petrus,  dem  galiläischen  Fischer  (Marki^'), 
ausdrücklich  berichtet  wird  (Matth  26'^),  macht  die  An- 
nahme, daß  Jesu  Vorfahren  irgendwelcher  zeitweiligen 
jüdischen  Diaspora  in  Galiläa  angehört  hätten,  unmög- 
hch.    Die  kleine  vorübergehende  jüdische  Diaspora,  die 

^)  Vgl.  die  bekannte  Talmudstelle  Erubin  53  b:  „Wenn  der  Galiläer 
sagte :  wer  hat  ein  *^^2^?  '  ^°  erwiderte  man  ihm :  Du  närrischer  Galiläer, 
meinst  du  einen  Esel  (hamdr)  zum  Reiten,  Wein  (hamar)  zum  Trinken 
oder  WoUe  ('amar)  zum  Kleiden  oder  ein  Lamm  (immar)  zum  Schlach- 
ten?" Im  Akkadisch-Assyrischen  sind  die  Kehllaute  (unter  dem  Ein- 
flüsse des  Sumerischen)  größtenteils  genau  so  in  Spiritus  lenit  abge- 
schliffen worden. 


Jesus,  der  Craliläcr,  jüdischer  Proselyt.  6l 

in  der  Makkabäerzeit  sich  in  Galiläa  befand,  aber  schon 
vom  Makkabäer  Simon  um  165  v.  Chr.  wieder  nach 
Judäa  zurückgebracht  wurde  (i  Makks^'),  kommt  ohne- 
hin nicht  in  Betracht.  Jesu  Vorfahren  können  nur  An- 
gehörige des  damaligen  Ituräerreiches  (vgl.  Lukß^)  ge- 
wesen sein,  dessen  Bewohner  Aristobul  I.  etwa  100  Jahre 
vor  Jesu  Geburt  zwang,  die  Beschneidung  anzunehmen 
und  nach  jüdischem  Gesetze  zu  leben  (Josephus,  Alter- 
tümer XIII,  II,  3).  Sie  waren  also  nach  geschichtlicher 
Beglaubigung  jüdische  Proselyten  bzw.  gewaltsam  judai- 
sierte  Galiläer,  ,,Galiläer,  die  um  100  v.  Chr.  dem  Juden- 
tum zwangsweise  zugeführt"  worden  waren.  ^  Als  An- 
gehörige des  galiläischen  Misch  Volkes  waren  aber  Jesu 
Vorfahren,  selbst  wenn  sie  Babylonier  waren,  keine  reinen 
Semiten,  sondern  Nachkommen  des  aus  Sumerern  und 
Akkadern  verschmolzenen  babylonischen  Volkes.  Sie 
könnten  natürlich  auch  Abkömmlinge  einer  der  dem 
assyrischen  Reiche  einverleibten  arischen  Völkerschaften 
gewesen  sein,  doch  wird  sich  dies  mit  historischen  Gründen 
schwerlich  jemals  beweisen  lassen.  Den  jüdischen  Zeit- 
genossen Jesu  galt  dieser  in  dem  Grade  als  Galiläer,  als 
Abkömmling  des  galiläischen  Misch volks,  daß  sie  ihn  ge- 
legentlich  sogar   als   ,, Samariter"    schmähten    (Joh  8^^).^ 

^)  Siehe  den  Jesu  Abstammung  behandelnden  Aufsatz  von  Prof.  Dr. 
P.  Karge  (Münster):  ,,War  Jesu  ein  Arier}"  (die  Überschrift  ist  nicht 
ganz  richtig  formiüiert),  in  Kölnische  Volkszeitung  vom  30.  Juni  1920, 
der  beweisen  will,  daß  Jesus  jüdischer  Rasse  gewesen  sei,  aber  vor 
allem,  soweit  geschichtliche  Gründe  in  Betracht  kommen,  gerade  die 
gegenteilige  Annahme  mächtig  unterstützt. 

2)  Ein  argumentum  e  silentio  hat  ja  nie  volle  Beweiskraft,  aber  be- 
merkenswert scheint  doch,  daß,  während  viele  Christen  in  dem  ,, jüdi- 
schen Manne",  an  dessen  Rockzipfel  Zacharja  zehn  Männer  aus  allen 
Zungen  der  Heidenvölker  sich  anklammern  sieht  (s.  obenS.  19),  Jesum 
geweissagt  sein  lassen,  kein  Evangelist,  auch  nicht  Matthäus,  und 
kein  Apostel  dieser  so  nahe  liegenden  Deutung  des  alttestamentlichen 
Prophetenwortes  Ausdruck  gibt.  —  Beüäufig  sei  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  die  Reden  Jesu,  des  ,, Propheten"  von  Nazareth,  selbst 
die  von  großer  innerer  Erregung  getragenen,  wie  z.  B.  Matth.  23,  die 


62  Jesns  nicht  jüdischen  Geblüts. 

Daß  aber  Jesu  Vorfahren  und  Eltern,  also  auch  Jesus 
selbst,  nicht  jüdischen  Geblütes  waren,  sondern  nur  zu 
den  ,,Jaho  Fürchtenden"  (Ps  115"  118*  135 2°,  vgl.  auch 
Jes  56^),  das  heißt  zu  den  jüdischen  Proselyten  gehörten, 
lehrt  die  ganze  Geistesverfassung  Jesu,  die  der  jüdischen 
diametral  entgegengesetzt  war,  dergestalt,  daß  „die 
Religion  Jesu  auf  jüdischem  Boden  (so  wenig  wie  auf 
semitischem  Boden  überhaupt)  keine  Wurzel  hat  fassen 
können".  1  Gegenüber  der  dem  israeü tischen  Nomaden- 
volk angeborenen  exklusiv-partikularistischen  Geistesart, 
die  in  der  Abgesondertheit  oder  Heiligkeit  des  Volkes 
Israel  dessen  größten  Vorzug  erblickte  und  bis  auf  den 
heutigen  Tag  erblickt,  sehen  wir  alles  Reden  und  Tun 
Jesu  beseelt  von  erhabenster  großzügigster  Gesinnung,  die 
in  allen  Völkern  und  Menschen  der  Erde  gleichberechtigte 
Glieder  der  Menschheit  erkannte  (Anm.  12).  Aus  dieser 
Geistesart  heraus  entdeckt  und  betont  Jesus  innerhalb  alt- 
testamentlicher  Erzählimgen  Züge,  die  dem  israelitischen 
Erzähler  kaum  zum  Bewußtsein  gekommen  waren.  Ich 
meine  Jesu  Reden  Luk  4  ^^  "* :  „Es  waren  viele  Witwen  in  den 
Tagen  des  Elias  in  Israel,  als  der  Himmel  verschlossen 
ward  drei  Jahre  tmd  sechs  Monate,  da  eine  große  Himgers- 
not  über  das  Land  kam.  Und  Elias  wurde  zu  keiner  von 
ihnen  geschickt  außer  nach  Sarepta  im  Lande  Sidon 
zu  einer  Witwe.  Und  viele  Aussätzige  waren  in  Israel  zur 
Zeit  des  Propheten  Elisa,  und  keiner  von  ihnen  wurde  ge- 
reinigt außer  der  Syrer  Naeman".  Wenn  der  Evangelist 
(V.  28  f.)  hieran  die  Worte  schließt:  ,,Und  es  wurden  alle 
voll  Unwillens  in  der  Synagoge,  als  sie  dieses  hörten,  und 

den  semitischen  Völkern  eigentümliche  pathetische  Redeform  des 
Parallelismus  membrorum  vollständig  vermissen  lassen  —  eine,  Beob- 
achtung, die  eingehenderer  Untersuchung  wert  scheint. 

^)  Schon  Ad.  v.  Harnack  (Mission,  i.  Aufl.,  8.45)  nennt  diese 
Tatsache  „des  Nachdenkens  so  würdig  wie  kaum  eine  andere",  und 
kommt  zu  dem  Schlüsse:  ,,Es  muß  doch  etwas  in  dieser  Religion  ge- 
legen haben  und  liegen,  was  dem  freieren  griechischen  Geiste 
verwandt  ist". 


Jesu  uutijUdische  Geistesart.  53 

standen  auf  und  warfen  ihn  zur  Stadt  hinaus  und  brachten 
ihn  an  den  Rand  des  Berges,  um  ihn  hinabzustürzen",  so 
sprechen  diese  Worte  mehr  als  Bände  vermöchten  für 
Jesu  nichtjüdische,  ja  antijüdische  Geistesart.* 
Ich  denke  weiter  an  die  Aufstellung  des  Samariters 
als  ewig  gültigen  Musters  von  Barmherzigkeit  gegenüber 
den  jüdischen  Priestern  und  Leviten  (Luk  lo^''^'),  auch 
als  Musters  der  Dankbarkeit  (17^^'),  nicht  minder  an 
Jesu  über  alle  Voreingenommenheit  sich  hinwegsetzenden 
Umgang  mit  dem  samaritanischen  Weibe,  und  zur  Un- 
zufriedenheit der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten  mit 
Zöllnern  und  Sündern  (Luk  5^'',  vgl.  15^'),  in  schroffem 
Gegensatz  zu  Psalm  i. 

Dieser  nicht  jüdischen  Geistes  Veranlagung  entstammten 
aber  zugleich  alle  jene  großen  und  neuen,  der  jüdischen 
Lehre  schnurstracks  zuwiderlaufenden  Lehren  von  Gott 
und  Gottes  Verehrung,  zu  denen  schlechterdings  vom  Alten 
Testamente  aus  keine  Brücke  zu  bauen  oder  auch  nur 
sich  und  anderen  vorzutäuschen  ist.  Es  sind  Lehren,  die 
keinem  geistig  auch  noch  so  hochstehenden  Israeüten 
oder  Judäer  jemals  in  den  Sinn  gekommen  sind  und  die 
ebendamit  ausschheßen,  daß  Jesu  jüdischen  Geblütes 
gewesen. 

Obwohl  Jesus  als  Mitglied  der  Synagoge  den  mit  dem 
Tetragramm  niH''  geschriebenen  Namen  des  Gottes 
Israels  für  unaussprechbar  hielt,  ihn  in  alttestamentüchen 
Zitaten  durch  „der  Herr"  ersetzte  und  damit  einzelnen 
Stellen  des  Alten  Testaments  wie  Dt  6^  unbewußt  einen 
höheren,  seiner  eigenen  Gottesanschauung  entsprechenden 
Wortsinn  unterlegte  (s.  Mark  12^''),  so  war  doch  Jesu 
Gottesbegriff  himmelhoch  erhaben    über  jenen  des  Juden- 


1)  Beiläufig  bemerkt,  lassen  die  obigan  Worte  Jesu  nachfühlen,  wie 
schwer  es  Jesu  gefallen  sein  mag,  die  griechische  Syrophönikerin  mit 
den  Worten  auf  die  Probe  zu  stellen:  „Laß  erst  die  Kinder  satt  werden; 
denn  es  ist  nicht  recht,  das  Brot  den  Kindern  nehmen  und  den  Hündlein 
hinwerfen"    (Mark/*'). 


()A  Jesu  erhabene  Gottesanschauung. 

tums.  Jesu  Gottesglaube  war  der  idealsteMonötheis- 
m  us.^  Jesus  läßt  Gott  nichtlänger  wie  Jaho  an  ein  einzelnes 
Volk,  nämlich  an  sein  auserwähltes  Eigentumsvolk  Israel, 
gebunden  sein,  sodaß  der  Zugang  zu  ihm  nur  durch  das 
Medium  des  Judentums  denkbar  ist,  sondern  für  ihn  ist 
Gott  ein  liebender  Gott  und  himmlischer  Vater  über  alle 
Menschen  und  Völker  ohne  Unterschied.  Er  beseitigte 
alle  vermeintlichen  Prärogative  des  jüdischen  Volkes,  in- 
dem er  allen  Menschen  und  Völkern  den  freien,  unmittel- 
baren Zutritt  zu  ihrem  Vater  im  Himmel  eröffnete.  Er 
entfesselte  durch  die  Vernichtung  des  Dogmas  von  dem 
,, alleinigen  Bürgerrecht  Israels"  (Eph  2^°)  jenen  Kampf 
zwischen  Judentum,  Judenchristen-  und  Heidenchristen- 
tum, bis  Petrus  ausrufen  konnte  (Acta  10^*  ') :  ,,Ich  fasse 
in  Wahrheit,  daß  Gott  nicht  auf  die  Person  siehet,  sondern 
wer  in  irgendeiner  Nation  ihn  fürchtet  und  Gerechtig- 
keit übt,  der  ist  ihm  angenehm".^  Auch  der  Gebunden- 
heit der  Gottesverehrung  an  einen  bestimmten  Ort,  näm- 
lich an  Jerusalem,  machte  Jesus  ein  Ende:  ,, Glaube  mir, 
Weib,  es  kommt  die  Stunde,  wo  ihr  weder  auf  diesem 
Berge  (Samarias)  noch  in  Jerusalem  werdet  den  Vater 
anbeten"  (Joh  4^^).  Nicht  minder  setzte  er  an  Stelle  des 
heidnischen  Opferwesens  und  priesterUchen  Zeremoniells 
das  ,, Gebet  im  stillen  Kämmerlein"  (Matth  6*)  und  die 
Anbetung  im  Geist:  ,,Gott  ist  Geist,  und  die  anbeten, 
müssen  im  Geist  und  Wahrheit  anbeten"  (Joh  4^*). 


^)  Vgl.  bereits  Babel  und  Bibel  II,  S.  41.  —  Sehr  richtig  sagt  Hans 
V.  Wolzogen  in  seinem  Artikel  ,,Alttestamentliche  Heilandsworte" 
(Unterhaltungsbeilage  der  Täglichen  Rundschau  vom  27.  und  28.  De- 
zember 1920) :  ,, Hierauf  kommt  es  an,  daß  die  jüdische  Gottesvor- 
stellung nicht  die  gleiche  ist  wie  die  Jesu  Christi.  Wer  aus  einer  jahr- 
tausendalten Tradition  oder  Suggestion  an  jener  festhält,  der  hat  das 
göttlich  Neue,  Erlösende  des  Christentums  noch  gar  nicht  wahrhaft  be- 
griffen. Wie  es  denn  doch  auch  wiederum  für  jeden  rein  Christgläubigen 
imbegreiflich  sein  muß,  daß  heute  noch  ernste  Bekenner  der  christlichen 
Heilslehre  behaupten  können,  zu  ihrem  Glauben  an  Christum  seien  ihnen 
die  vorverkündenden  Zeugnisse  des  Alten  Testaments  unentbehrlich". 


Jesu  anli jüdische  I^thrcn.  65 

Jesus  wandte  sich  nicht  allein  gegen  die  Ehescheidung 
und  damit  gegen  Moses  (Mark  10  212)^  sondern  gegen  alles, 
was  im  nachexilischen  Judentum  zu  den  höchsten  und 
heiligsten  Dingen  gezählt  wurde :  gegen  die  Speisegesetze, 
z.  B.  gegen  das  Verbot  des  Essens  mit  ungewaschenen 
Händen,  das  er  mit  dem  schhchten,  aber  ewig  wahren 
Worte  zurückwies,  daß  ,, nicht  das,  was  in  des  Menschen 
Mund  eingehe,  den  Menschen  verunreinige,  sondern  das, 
was    aus    dem   Menschen    (seinem   Munde   bzw.  Herzen) 
ausgehe  (Matth  i5iii'-2o    vgl.  Mark  yiB-äo-aa  i^^^  ii"«); 
er  kehrte  sich  gegen  die  Sabbathe,  die  zu  halten  und  vor 
Entweihung   zu  bewahren  im   Judentum  die  strengsten 
Vorschriften  gegeben  waren  (vgl.  auch  Jessö^-*-  ß),  mit  den 
mutigen  Aussprüchen,    daß  ,,der  Sabbath  um   des  Men- 
schenwillen da  sei,  nicht  umgekehrt"  (Mark  22')  und  daß 
„des  Menschen  Sohn  Herr  sei  über  den  Sabbath"  (Matth  12  ^ 
Luk  6^),  sowie  mit  den  hieraus  folgenden  Krankenheilungen 
am  Sabbathtage,  welche  die  Schriftgelehrten  und  Pharisäer 
,, ganz  unsinnig  machten"  (Lukö^i;  ygj  auch  13^°^^  14^'^). 
Und  in  wessen  Ohren  klänge  nicht  Jesu  ,,Ich   aber  sage 
euch"  (Matth.  5)  nach,  wodurch  er  die  ganze  Thora  ver- 
innerhchte,  den  Schwerpimkt  der  menschlichen  Sündhaftig- 
keit in  das  Herz  und  dessen  Gelüste  verlegte,  zugleich 
aller  äußeren   Gesetzüchkeit  und  Werkgerechtigkeit  ein 
Ende  bereitend?   Und  wenngleich  Jesu  Vorschrift:  ,, Alles 
was  (bzw.  Wie)  ihr  wollt,  daß  euch  die  Leute  tun,  so  tut 
auch  ihr  ihnen"  (lyuk  6^^)  von  ihm  selbst  durch  die  Worte : 
,,dies  ist  das  Gesetz  und  die  Propheten"  (Matth  7^^)  als 
die  Quintessenz  alttestamentlicher  Religiosität  bezeichnet 
wird,^  so  geht  schon  diese  seine  Ausdeutung  der  Nächsten- 
liebe ungleich  weiter  als  die  negativen  Umschreibungen  in 
der  Thora  (s.  die   Gesetze    131   und   132  im  Anhang  zu 
Teil  I).    Und  wenn  Jesus  das  Gebot:    ,,du  sollst  Heben 

^)  Wie  ja  auch  Hillel  (ein  Menschenalter  vor  Jesus)  lehrte:  „Was 
dir  unlieb  ist,  das  tu'  auch  nicht  deinem  Nebenmenschen.  Das  ist  die 
ganze  Thora". 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     11'  e 


66  J^su  antijüdischer  Messiasglaube. 

deinen  Nächsten  wie  dich  selbst"  Mark  12'^  nach  der 
lyiebe  zu  Gott  als  das  zweitgrößte  Gebot  erklärt,  so  hat 
er  selbst  doch  auch  dieses  zweitgrößte  Gebot  noch  un- 
endhch  vertieft  durch  die  Ermahnung  zur  Feindesliebe: 
„Liebet  eure  Feinde,  tut  wohl  denen,  die  euch  hassen, 
segnet,  die  euch  fluchen,  betet  für  die,  die  euch  be- 
schimpfen" (Lukö^'*).  ,,Ich  bin  nicht  gekommen  auf- 
zulösen, sondern  zu  erfüllen",  das  heißt:  Jesu  Lehre 
wollte  nicht  lediglich  auflösen  und  niederreißen,  sondern 
in  höherem  als  vordem  geahnten  Sinne  ein  Neues,  Voll- 
kommenes aufbauen. 

Das  Judentum  eine  Religion  des  Diesseits  und  infolge- 
dessen des  Materialismus,  dagegen  bei  Jesus  alle  Gedanken 
auf  ein  höheres,  überirdisches  Leben  gerichtet,  auf  eine 
Zusammenklammerung  von  Erde  und  Himmel  voll  tröst- 
licher Hoffnimg  auf  eine  dereinstige  Rückkehr  in  Gottes 
Vaterhaus  mit  seinen  vielen  Wohnungen,  eine  Religion 
unbegrenzten  Ideahsmus,  von  welchem  jedes  Kruzifix  am 
Wege  immer  neu  ergreifend  predigt:  ,,Sei  getreu  bis  in 
den  Tod,  so  will  ich  dir  die  Krone  des  Lebens  geben!" 

Und  welcher  Gegensatz  zum  Judentum  bezüglich  des 
erhofften  Messias:  Jesu  Überzeugung  von  der  der  Juden 
verschieden  wie  Himmel  und  Erde,  dem  Morgensterne 
vergleichbar,  der  über  Nacht  imd  Nebel  aufleuchtet,  einen 
neuen  Morgen  verkündend!  Während  die  jüdischen  Pro- 
pheten alles  Endheil  von  einem  weltlichen  König  oder 
Messias  erwarteten,  der  das  Reich  Israel  und  mit  ihm  zu- 
gleich Israels  Herrschaft  über  alle  Völker  imd  Reiche  der 
Erde  aufrichten;  der  alle  ihm  nicht  huldigenden  Völker 

mit  eisernem  Zepter  zerschmettern  werde  (Ps  2^),^ 

<^y 

*)  Gewalt,  nichts  als  Gewalt  gegen  die  Feinde  Israels,  wie  es  auch 
Jes4i^5f-  heißt:  „Siehe,  ich  mache  dich  zu  einer  neuen  Dreschwalze 
mit  vielen  Schneiden:  du  wirst  die  Berge  dreschen  und  zermalmen 
und  die  Hügel  der  Spreu  gleichmachen!  Du  wirst  sie  worfeln,  und 
der  Wind  wird  sie  davonführen,  und  der  Sturmwind  wird  sie  auseinander- 
fegen; du  aber  wirst  frohlocken  über  Jaho,  des  Heihgen  Israels  wirst 
du  dich  berühmen". 


Dil'  SchäudiniR  des   Josusuamens  (liircli  die   Ju<len  Arabiens.        67 

machte  Jesus  mit  einem  Wahrheitsmute  ohnegleichen  allen 
solchen  irdischen  Träumen  ein  Ende,  erklärte  er  das 
Himmelreich  bereits  für  gekommen  (Matth4^'')  in  und  mit 
der  Lehre,  mit  der  ihn  sein  himmhscher  Vater  betraut  habe. 
,,Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt".  ,, Kommet  her  zu 
mir  alle,  die  ihr  mühselig  und  beladen  seid,  so  will  ich  euch 
erquicken.  Nehmet  mein  Joch  auf  euch  und  lernet  von 
mir,  denn  ich  bin  sanftmütig  und  demütig  von  Herzen,  so 
werdet  ihr  Erquickung  finden  für  eure  Seelen.  Denn  mein 
Joch  ist  sanft  und  meine  Last  ist  leicht"  (Matth  11  ^s")  — 
sind  das  nicht  Worte  aus  einer  anderen  Welt?  Aber  indem 
nun  Jesus  folgerichtig  sich  als  den  von  Gott  gesandten 
und  mit  Gottes  Geist  gesalbten  Messias  erklärte,  die  alt- 
testamenthchen  Bezeichniuigen  des  Messias  „Gottessohn" 
(Anm.  13)  und  „Menschensohn"  (Anm.  14)  auf  sich  über- 
tragend, auch  nach  synagogaler  Lehre  schon  Moses  und 
die  Propheten  auf  sich  hinweisen  lassend,  und  indem  er 
obendrein  ebenso  folgerichtig  sich  ,, König  der  Juden" 
(Mark  15^)  nannte,  mußte  er  alle  jene  unausdenkbaren 
Martern  und  schließlich  den  furchtbaren  Tod  am  Klreuze 
erleiden,  der  ihm  trotz  alledem  mehr  als  wahrscheinlich 
erspart  geblieben  wäre,  wenn  er  von  jüdischem  Geblüte 
gewesen.  Als  Angehöriger  des  jüdischen  Volkes  würde 
Jesus  kaum  Gegenstand  solch  grenzenlosen  und  tm- 
auslöschlichen  Hasses  gewesen  und  geblieben  sein,  wie 
ihn  noch  die  Juden  Arabiens  zur  Zeit  Muhammeds  hegten, 
dermaßen,  daß  sie  Jesum  mit  ihrem  bösesten  Schmäh- 
worte ,,Esau"  benannten,  wodurch  Muhammed  irregeführt 
wurde,  Jesum  ebenfalls  'Isa  zu  nennen  imd  damit  Jesu 
Namen  - —  sehr  wider  Muhammeds  eigenen  Willen  —  im 
Munde  von  nahezu  250  Millionen  von  Moslems  tagtäglich 
und  für  ewige  Zeiten  zu  beschimpfen.^ 

Die    alttestamentüchen    Bezeichnungen    des    Messias: 
,, Gottessohn",  ,, Menschensohn",  ,,der  Juden  König"  über- 

1)  wie  ja  die  jüdischen  Lehrmeister  Muhammeds  die  Christen  Arabiens 
entsprechend  als  „Edomiter"  benannten. 


58  Jesus  als  Messias  nicht  notwendig  Davids  Sohn. 

trug  Jesus  auf  sich,  aber  niemals  bezeichnete  er  sich  als 
Sohn  oder  Abkömmling  Davids.  Daß  die  Evangelisten 
den  Messias  „aus  dem  Hause  und  Geschlechte  Davids" 
stammen  und  „in  der  Stadt  Davids"  geboren  sein  ließen 
(Luk  2*-  ^^),  dabei  vor  den  gewagtesten  Genealogieen 
(Matth  I  ^'^'  Luk  3  ^^^®)  nicht  zurückschreckend ;  daß  der 
Mann  aus  dem  Volke  sich  den  Messias  nur  als  Sohn  Davids 
vorstellen  konnte  (Mark  10*' '),  für  Petrus  und  Paulus 
der  Messias  „Frucht  der  Lende  Davids"  (Acta  2^")  bzw. 
ein  „Nachkomme  Davids  nach  dem  Fleisch"  (Rom  i^) 
sein  mußte,  versteht  sich  von  selbst.  Wenn  aber  von 
christUch-theologischer  Seite  immer  und  immer  wieder  be- 
hauptet wird,  daß  ,, Jesus  sich  selbst  für  einen  echten 
Juden  gehalten  habe",  da  er  ja  als  Messias  aufgetreten 
sei,  von  seinen  Anhängern  als  Messias  sich  habe  feiern 
lassen  und  infolgedessen  ,, davidischer  Abkunft  gewesen 
sein  müsse", ^  so  vergißt  man  über  allen  diesen  Trug- 
schlüssen, in  wie  wundersam  feiner  Weise  Jesus  selbst 
die  Annahme,  daß  der  Messias,  als  welcher  er  selbst  sich 
berufen  fühlte,  notwendig  davidischen  Geblüts  sein  müsse, 
zurückwies,  um  nicht  zu  sagen,  persiflierte.  Siehe 
Matth  22*1-*«  (vgl.  Mark  12  35"-  Luk  20*1-**):  „Da  aber 
die  Pharisäer  versammelt  waren,  fragte  sie  Jesus:  Was 
dünket  euch  von  dem  Christus  (=  Messias)  ?  wessen  Sohn 
ist  er?  Sagen  sie  zu  ihm:  Davids.  Sagt  er  zu  ihnen:  wie 
kann  ihn  dann  David  im  Geiste  Herr  nennen  in  den 
Worten  (Psiio^):  der  Herr  (Jaho)  sprach  zu  meinem 
(Davids)  Herrn :  setze  dich  zu  meiner  Rechten,  bis  ich  lege 
deine  Feinde  imter  deine  Füße?  Wenn  ihn  David  Herr 
nennt,  wie  soll  er  sein  Sohn  sein?  Und  niemand  konnte 
ihm  ein  Wort  erwidern,  noch  wagte  ihn  einer  von  diesem 
Tage  an  weiter  zu  fragen". 

Und  wer  noch  immer  an  dem  hergebrachten,  aber  durch 
nichts  zu  beweisenden  Irrtum,  daß  Jesus  der  jüdischen 
Rasse  angehört  habe,  festhalten  möchte,  der  vergegen- 

1)  So  z.B.  Prof.  Dr.  P.Kar  ge  a.a.O. 


Die  Unabhängigkeit  des  Christentums  vom  Judentum.  69 

wärtige  sich  nur  einmal  den  abgrundtiefen  Gegensatz 
zwischen  den  leidenschaftlichen  Reden  irgendeines  der 
alttestamentlichen  Propheten  und  einer  der  wunderbaren, 
wahrhaft  himmlische  Ruhe  atmenden  Parabeln  des  Weisen 
von  Nazareth !  Ein  größerer  innerer  und  äußerer  Gegensatz 
ist  nicht  denkbar. 

Das  Christentum  ist  eine  durchaus  selbständige  neue 
Religion,  keine  höhere  Entwicklungsstufe  des  Judentums, 
alles  eher  als  auf  dem  Boden  des  Judentums  oder  aus 
diesem  erwachsen.  Man  begreift  nicht,  wie  unsere  alt- 
testamentlichen  Theologen,  wie  z.  B.  Graf  Baudissin 
(a.  a.  O.  S.  19,  s.  Teil  I,  S.  loi  Fußnote)  sagen  kann :  ,,Was 
derProphet  von  Nazareth  verkündete,  war  im  einzelnen 
kaum  etwas  Neues",  ein  Verdikt,  welches  die  unmittel- 
bar folgenden  Worte :  ,,aber  neu  war  die  Zusammenfassung 
dieser  Einzelheiten,  die  er  in  seiner  Person  darstellte", 
nur  notdürftig  redressieren. ^  Das  Christentum  bleibt  viel- 
mehr ,,eine  wahrhaft  neue  ReHgion,  die,  wenn  befreit 
von  all  den  mannigfachen,  der  Person  und  dem  Leben 
Jesu   angedichteten  fremden   Zutaten,    für   ewige  Zeiten 


1)  Gegenüber  solcher  Halbheit  ist  es  wahrhaft  herzerquickend,  in  einer 
xbeliebigen  amerikanischen  Kirchenzeitung  die  folgenden  eindeutigen 
Worte  eines  amerikanischen  Theologen  zu  finden  :/es«s  and  Judaism. 
The  Jew  thought  hatred  of  the  Gentile  compatible  with  his  religion,  if  not 
implied  in  it;  Jesus  that  the  very  essence  of  religion  was  supveme  love 
to  God,  and  to  man  love  equal  to  our  love  of  ouvselves.  The  Jew  believed 
sacred  places  and  prescribed  ceremonies  necessary  to  worship;  Jesus 
simply  a  right  condition  of  the  spirit.  The  Jew  imagined  that  Jehovah 
was  the  God  of  the  Hebrews  only;  Jesus  declared  Hirn  to  be  the  God  and 
Father  of  all  men.  The  Jew  thought  the  kingdom  of  God  was  confined  to 
Israel;  Jesus  that  it  was  designed  to  comprehend  the  whole  world.  The 
Jew  conceived  the  kingdom  as  outer  and  temporal;  Jesus  taught  that  it 
was  Spiritual  and  eternal.  The  Jew  trusted  muck  to  prayer  and  fasting; 
Jesus  instructed  man  to  trust  in  the  mercy  of  God.  The  Jew  regarded  the 
Pharisee  as  the  ideal  of  goodness;  Jesus  preferred  the  penitent  publican. 
The  Jew  believed  in  the  salvation  of  his  own  race  ahne;  Jesus  declared 
that  "God  sent  not  His  Son  into  the  world  to  condemm  the  world,  but  that 
the  world  through  Htm  might  be  saved". 


yo    I^ie  Entbehrlichkeit  des  Hebräischen  für  den  christhchen  Theologen. 

berufen  bleibt,  die  Welt  zu  gewinnen".^  Und  wenn 
Reinhold  Seeberg  in  der  Monatsschrift  „Deutschlands 
Erneuerung" (Septemberi 920) schreibt:  „Man  kann  nichts 
Höheres  zum  Preise  des  Alten  Testaments  sagen,  als  daß 
es  das  Buch  ist,  aus  dem  Jesus  Religion  (!)  ge- 
lernt (!!)  hat",  so  kann  ich  nicht  anders,  so  schwer  es 
mir  ankommt,  dies  niederzuschreiben,  als  diesen  Aus- 
spruch für  einem  Verrat  an  Jesus  und  dem  Christen- 
tum nahekommend  zu  erachten. 

Der  Studierende  der  christlichen  Theologie  kann 
sich,  wie  jeder  andere  lernbegierige  Christ,  die  nötigen 
Vorkenntnisse  über  die  israelitisch-jüdische  Geschichte 
und  Religion  mit  Einschluß  des  Kultus  mittels  hierzu 
geeigneter  I/Chrbücher  unter  gleichzeitiger  Benützimg 
einer  wirklich  guten  Übersetzung  der  althebräischen 
Schriften  ausreichend  erwerben,  ohne  viel  Zeit  und  Mühe 
mit  der  Erlernung  der  hebräischen  Sprache  zu 
vergeuden,  wobei  nach  der  Ansicht  aller  großen  Hebraisten 
doch  nichts  Gescheites  herauskommt,  wenn  er  nicht  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  auch  die  übrigen  semitischen 
Sprachen  erlernt,  wozu  allein  mehr  als  ein  Triennium 
vonnöten  ist.  Am  wenigsten  wird  der  Studierende  der 
christhchen  Theologie,  selbst  bei  gewissenhaftester  Aus- 
nützung seiner  Studienzeit,  imstande  sein,  das  hebräische 
Alte  Testament  soweit  zu  meistern,  daß  er  sich,  zur  rich- 
tigen Würdigung  der  Himderte  von  alttestamentUchen 
Zitaten  im  Neuen  Testament,  über  die  Richtigkeit  oder 
Unrichtigkeit  der  griechischen  Übersetzimg  und  die  Richtig- 
keit oder  Unrichtigkeit  ihrer  Verwertrmg  seitens  der 
Evangelisten  und  Apostel  ein  selbständiges,  sicheres  Urteil 
zu  bilden  vermöchte,  das  ihn  davon  befreit,  wie  es  jetzt 
meist  der  Fall  ist,  in  verba  magistri  zu  schwören.  Hier 
können  nur  Bücher  erprobter  Hebraisten  und  vorurteils- 
freier Exegeten  ihm  in  jedem  einzelnen  Falle  die  dringend 
nötige  Belehrimg   vermitteln,  in  denen  alle  jene  Zitate 

»)  Babel  und  Bibel  III.  S.  48. 


Die  RntViehrlichkcit  des  Hebräischen  für  den  chrisüü  hen  Theologen.    n\ 

einerseits  wortgetreu  aus  dem  Urtexte  übersetzt  und  nach 
ihrem  Zusammenhang  erläutert  werden,  andererseits  ihre 
griechische  Übersetzung  und  ihre  Verwertung  innerhalb 
des  Neuen  Testaments  kritisch  und  unvoreingenommen 
betrachtet  wird  (Anm.  15).  Jeder  in  der  vSchrift  forschende 
Christ  wird  auf  diese  Weise  inne  werden,  wie  das  unglück- 
selige Bestreben  der  jüdischen  Evangehsten  und  Apostel, 
Jesu  Lehre  bereits  im  Alten  Testamente  angebahnt,  ja 
sogar  sein  Leben  und  Sterben  ebendort  geweissagt  zu 
finden,  mittels  falscher  Übersetzungen  oder  Auslegungen 
(Anm.  16)  das  Neue  Testament  in  eine  Abhängigkeit 
vom  Alten  Testamente  hineingezerrt  hat,  die  wissen- 
schaftlich nicht  länger  haltbar,  nicht  länger  ertragbar  ist. 
Kurz  gesagt:  das  Neue  Testament  muß  aus  seiner  künst- 
lichen, tendenziösen  Umklammerung  durch  das  Alte  Testa- 
ment herausgerissen,  Jesu  Lehre  und  Leben  müssen  in 
ihrer  historischen  Treue  und  Reinheit  herausgearbeitet 
werden  zum  Segen  jedes  einzelnen  Christen,  obenan  aber 
der  zukünftigen  Lehrer  der  christlichen  Wahrheit  und 
ebendamit  der  ganzen  christlichen  Kirche.  Der  Jünger 
der  christlichen  Theologie  wird  die  Unmasse  nutzlos  auf 
das  Hebräische  zu  verwendenden  Zeit  ungleich  nutz- 
bringender verwenden,  wenn  er  sich  neben  allgemeiner 
Religionsgeschichte  vornehmlich  mit  den  sozialen  For- 
schungs-  und  Wissensgebieten  der  Neuzeit  rechtzeitig  und 
eindringlichst  bekannt  macht,  obenan  aber  den  Kern  der 
erhabenen  religiös-sittlichen  Lehre  Jesu,  des  Galiläers, 
der  verkörperten  Liebe,  für  seine  eigene  Person  und 
im  Verein  mit  seinen  Freunden  praktisch  zu  üben  beizeiten 
den  Anfang  macht,  um  dereinst  nicht  als  Zionswächter, 
sondern  als  Nachfolger  Jesu  der  christlichen  Gemeinde 
als  Führer  voranzugehen  und  voranzuleuchten .  Jesu  über- 
irdische Mahnung  zu  einer  Nächstenliebe  im  umfassend- 
sten Sinne  des  Wortes  ,, Nächster",  ja  zur  Feindesliebe  — 
das  ethisch  denkbar  höchste,  der  Eigenliebe  das  schwerste 
Opfer  zumutende  Gebot  —  will  von  Jugend  auf  geübt  sein. 


72  .  Mehr  wahres  Christentum! 

Und  ZU  alledem  jene  ewig  wahren  I/ehren,  die  das  Christen- 
tum gerade  in  der  Gegenwart,  mitten  in  den  die  Völker 
des  Erdballs  aufwühlenden  Lehren  des  Sozialismus,  als 
die  höchste  und  hehrste  aller  Religionen  von  neuem  er- 
weisen: ,,Ich  bin  nicht  gekommen,  mir  dienen  zu  lassen, 
sondern  zu  dienen"  (Matth  20^^  Markio*^).  „Einer 
trage  des  andern  Last,  so  werdet  ihr  das  Gesetz 
Christi  erfüllen".  ,,So  viel  ihr  getan  habt  einem  von  diesen 
meiner  geringsten  Brüdern,  habt  ihr  mir  getan"  (Matth.  25  **) 
—  diese  und  andere  Lehren,  auf  dienstbereite  Unterord- 
nung des  Einzelnen  zum  Wohle  der  Gesamtheit  und  werk- 
tätige Liebe  gegen  jedermann  hinzielend,  werden  sich  wie 
in  alle  Zukunft,  so  gerade  in  der  Gegenwart  als  die  ewig 
festen  Stützen  wahrer  Rehgion  bewähren,  in  der  Gegen- 
wart, wo  so  viele  falsche  Propheten  in  den  Herzen  der 
Menschen  die  gegenseitige  Liebe,  die  Freudigkeit,  sich 
gegenseitig  zu  dienen,  tagaus  tagein  zu  ersticken  trachten. 
Das  eine,  was  nottut,  ist  nur,  daß  Jesu  Lehre  auch  be- 
tätigt wird.  Das  ,,Herr,  Herr  sagen"  tut's  nicht,  sondern 
den  Willen  zu  tun  unseres  himmlischen  Vaters.  Statt  des 
Absingens  der  langen  Litaneien  mit  dem  deplacierten 
Halleluja,  d.  i.  ,, rühmet  Jaho",  und  dem  gedankenlosen 
Lobpreisen  des  Herrn  Zebaoth,  d.  i.  Jahos  als  des  Gottes 
der  Kriegsscharen  Israels,^  sollten  die  Glieder  der  einzelnen 
christUchen  Gemeinden  wenigstens  allsonntäglich  aus- 
schwärmen an  die  Stätten  der  Sorge,  der  Krankheit,  der 
Vereinsamung,  jeglichen  Elends,  Hilfe  zu  bringen  bis  an 
die  Grenzen  der  Möglichkeit,  Liebe  zu  tragen  in  die 
Häuser,  in  welchen  eine  volksfremde  Presse  tagtäglich 
Haß  gegen  die  Mitmenschen  predigt,  und  durch  die  Tat 
die  dem  Christentum  Entfremdeten  diesem    wiederzuge- 


^)  Möchte  auch  die  unser  protestantischss  ^Kampflied  „Ein'  feste 
Burg  ist  unser  Gott"  entstellende  Vereinarleiung  von  Jesus  Christ  mit 
Jaho  Zebaoth  Abhilfe  finden,  und  möchte  überhaupt  ein  neuer  religiöser 
deutsch-christücher  Geist  den  verdorrten  Zweig  des  deutschen  Kirchen- 
liedes zu  neuer  Blüte  bringen  ! 


Die  Quintessenz  der  I,ehre   Jesu.  73 

winnen.^  Solch  wohlorganisierter,  praktischer  Gottesdienst 
würde  die  sonstigen  Gottesdienste  mit  Predigt  und  Gesang 
heilsamst  ergänzen.  Überdies  vermögen  wir  ja  ausschließ- 
lich durch  solche  eigene  andauernde  Liebestätigkeit  in  das 
Verständnis  der  tiefsten  Worte  Jesu  mehr  und  mehr  ein- 
zudringen:  „Ich  und  der  Vater  sind  eins",  ,,Ehe  denn 
Abraham  ward,  bin  ich"  -  „Gott  ist  die  Liebe,  und  wer 
in  der  Liebe  bleibet,  der  bleibet  in  Gott  und 
Gott   in    ihm". 

')  Vgl.   Zur  Weiterbildung  der  Religion  S.  51  f. 


Anmerkungen 


1.  nin^  konsequent  durch  ElöMm  ersetzt  in  den  Psalmen  42 — 84. 
Anderwärts  schrieb  man  Elöhim  über  n*in^,  woraus  das  törichte  Jah6 
ElöMm,  z.  B.  Gen  2* — 3^3,  entstand. 

2.  An  dem  a- Vokal  des  vermeintlichen  Qal  von  niri'  nämUch  Jahwä, 
wird  sich  angesichts  der  gleichartigen  amoritischen  Verbalformen  jarbi, 
jamlik,  ja'we  (in  Ja(' )we-ilum)  u.  a.  niemand  stoßen,  auch  m'cht  an 
der  Substantiv-Bedeutung  der  3.  Person  Imperfecti,  welche  durch  viele 
Eigennamen  wiejigäl,  Jair  (vgl.  akk.  Munawerum) .Jidbäsch.Jishäq  u.a.m. 
gesichert  ist.  Aber  das  Verbum  -^77  bedeutet  wohl  im  Aramäischen 
das  Nämliche  wie  hebräisch  ^^n  , .werden,  sein",  aber  das  hebräische 
TT^n  bedeutet  ,, fallen"  (wovon  höwä,  hawwa  ,, Unfall,  Unglück"), 
vielleicht  auch  ,,aspirare",  wovon  hawwä  ,,1/Ust,  Begehr",  aber  an 
keiner  irgendwie  sicheren  Stelle  ,,sein,  werden".  Es  kommen  für  diese 
letztere  Bedeutung  überhaupt  nur  zwei  Stellen  in  Betracht:  Jes  16* 

und  Gen  27^9,  aber  für  die  erstere  Stelle  bleibt  noch  die  Abfassungs- 
zeit festzustellen,  und  an  der  zweiten  könnte  einer  der  zahllosen  Fälle 
der  Verwechselung  von  ^  und  ^  vorliegen.  Entscheidend  aber  gegen 
die  Annahme  einer  solchen  Urform  Jahwä  bleibt  die  Tatsache,  daß 
sich  aus  ihr  die  vermeintlich  abgekürzten  Formen  Jehö,  Jähü  schlechter- 
dings nicht  erklären  lassen.  Abgesehen  davon,  daß  derartige  gekürzte 
und  dabei  selbständig  stehende  Verbalformen  wie  j^ht  durchweg  Optative 
Bedeutung  gewinnen,  wären  diese  Arten  von  Abkürzimgen  J^hd', 
Jähü  ohne  alle  und  jede  Analogie.  Dazu  ist  ja  Jahwe  überhaupt  keine 
Verbalform  mehr,  sondern  ein  Substantiv,  ein  Eigenname,  und  wo 
gäbe  es  auf  dem  ganzen  Gebiete  Vorderasiens  einen  einzigen  abge- 
kürzten Gottheitsnamen,!  noch  dazu  einen,  der  bis  auf  seinen  ersten, 
ein  reines  Büdungselement  darstellenden  Konsonanten  reduziert  wäre 
wie  Jah,  Je  (vgl.  Jehü,  Jdschü'a)?  Wo  ist  endlich  ein  Gnmd  zu  ent- 
decken, daß  man  in  den  hebräischen  Personennamen  niemals  Jahwe- 
nütan,  Chizqijjahwe  sagte,  sondern  immer  und  ausnahmslos  abkürzte? 
Beiläufig    bemerkt,     heißt    es    den    jungen    Hebraisten    Sand   in    die 


!)  Die  Zusammenziehung  von  J^hö  zu  J6  oder  den  in  einigen  wenigen 
Eigennamen  zu  konstatierenden  Wegfall  des  epir.  lenis  von  El  ,,Gott" 
und  des  J^  von  J^hö  wird  man  wohl  nicht  einwenden  wollen. 


Anmerkungen.  75 

Augen  streuen,  wenn  man  für  Jahü  auf  Nominalbildungen  wie  iUckA, 
schalü  hinweist.  Diese  Vcrgleichungen  hätten  ja  doch  nur  Sinn, 
wenn  Jahwe,  Jahü  auf  einen  Stamm  i^'^i  und  nicht  71^77  zurückgingen. 
Die  jetzt  allgemein  angenommene  Lesung  des  Tetragramms  als  Jahwe, 
der  vermeintlichen  Grundform  von  J^hö,  Jähü,  ist  hiernach  als  ganc 
und  gar  unbegründet  endgültig  aufzugeben.  Daß  die  Wiedergabe  des 
Tetragramms  bei  den  Kirchenvätern  und  andern  Schriftstellern  der 
ersten  christlichen  Jahrhunderte:  teils  '/tuö  (Diodorus,  Origenes.  Theo- 
doret),  Jaho  (Hieronymus) ;  teils  lito)  und  Ic/  (Origenes),  'loim  u.  ä. 
(Oemens  Alexandrinus) ;  teils  foße  (speziell  auch  als  samaritanische 
Aussprache  des  Gottesnamens  bezeugt)  weder  für  Jahwe  noch  für 
Jaho  irgendwelche  Beweiskraft  haben,  da  diese  Lesungen  sämtlich 
nur  geraten  sind,  bedarf  heutzutage  wohl  nicht  erneuter  Hervorhebung. 
Die  ganze  vorstehende  Auseinandersetzung  ist  nur  dadurch  gerecht- 
fertigt, daß  die  Theologen  an  der  irrigen  Lesung  des  Tetragramms  als 
Jahwe  noch  immer  festhalten  und  trotz  aller  monumentaler  Gegen- 
beweise wer  weiß  wie  lange  noch  festhalten  werden.  In  Wahrheit  ist, 
wie  bereits  Eduard  Sachau  richtig  erkannt  hat,  durch  die  Schrei- 
bungen des  selbständigen  hebräischen  Gottesnamens  teils  als  ^71^,  teils 
als  nn^  (letztere  Schreibung  auch  innerhalb  des  Personennamens  "nj^nn^ 
,,Jaho  ist  Licht")  das  ■)  von  nin"'  ^^s  Vokalbuchstabe  bewiesen, 
also  daß  über  die  Lesung  des  Tetragramms  als  Jahö',  J^hö'  künftighin 
kein  Zweifel  mehr  obwalten  kann.  Siehe  Ed.  Sachau,  Aramäische 
Papyrus  und  Ostraka  aus  einer  jüdischen  Militär- Kolonie  zu  Elephantine 
(5.  Jahrhundert  v.  Chr.),  Leipzig   191 1,   p.  XXIII  und  S.  9  f • 

Die  Ausschaltung  eines  vermeintlichen  Gottesnamens  Jahwe  hebrä- 
ischen Ursprungs  stellt  nun  die  Frage  nach  Bedeutung  und  Herkunft 
des  Gottesnamens  Jahö'  (J'hö),  Jähü,  Jäh,  Je  auf  eine  ganz  neue 
Basis.  Auf  dieser  neu  gewonnenen  Grundlage  wird  die  Untersuchung  in 
der  Neuausgabe  meines  ersten  Vortrags  über  Babel  und  Bibel  fort- 
geführt werden. 

3.  Daher  die  vielen  hebräischen  Personennamen  wie  Ahijjähü  (,,mein 
Bruder  ist  Jaho"),  Ahi-tüb  (,,mein  Bruder  ist  Güte"),  AM-nö'am  (,,mein 
Bruder  ist  Huld"),  AM-nädäb  (,,mein  Bruder  ist  freigebig");  'Ammt-el 
(,,mein  Volksgenosse  ist  Gott"),  'Ammt-nUdäb.  Analoge  Namen  bei 
nichthebräischen  semitischen  Völkern:  Aht-milki,  Name  des  Königs 
von  Asdod  zur  Zeit  Asurbanpals;  Ammi-nadbi  (=  hebräisch  'Ammtnädäb) , 
Name  des  Königs  von  Ammon  aus  ebenjener  Zeit;  Ammi-zadüga 
amoritisch-akkadischer   Königsname   u.  a.  m. 

4.  In  wohltuendem  Gegensatz  zu  diesem  einseitig  diktatorischen 
Gebaren  des  Vorstands  der  Deutschnationalen  Volkspartei  gibt  die 
Tägliche  Rundschau  auch  andersgearteten  Beurteilungen  des  Alten 
Testaments  in    ihren   Spalten  Raum.    Vergleiche   aus  dem  in  Teil  I 


y5  Anmerkungen. 

Anm.  43  zitierten  Artikel  Dr.  Otto  Steiners  ,, Deutsche  Heldensage 
und  deutsche  Volksschule" :  „Die  Sagen  des  Alten  Testaments  enthalten 
nicht  den  GottesbegriflF,  den  das  Christentum  ausgebildet  hat,  sondern 
eine  Auffassung  von  Gott,  die  mit  Ausnahme  der  Juden  jedem  anderen 
Volke  fremd  ist".  ,,Die  Auffassung  der  Juden  von  ihrem  Gott  und 
ihrem  Verhältnis  zu  Gott  entspricht  durchaus  dem  jüdischen  Geschäfts- 
geist imd  DiesseitssLtin  und  ist  dem  deutschen  Volke  und  allen  christ- 
lichen Völkern  fremd".  „Die  Sagen  des  Alten  Testaments  sind  dem 
deutschen  Volke  völlig  wesensfremd",  usw.  Und  vergleiche  ferner  aus 
Hans  V.  Wolzogens  Artikel  „Alttestamentliche  Heüandsworte"  (siehe 
S.  64  Anm.  i)  gleich  den  Anfang:  ,,In  der  zweifellos  starken  Bewegung 
unserer  Tage  nach  einer  Neubeseelung  des  reUgiösen  Geistes  hin  kommt 
inmier  mehr  das  Bewußtsein  zum  Ausdruck,  daß  die  deutsche  Reh- 
giosität,  die  von  jeher  einem  reinen  Christentume  zustrebte,  dieses 
Ziel  nvir  dann  erreichen  werde,  wenn  der  christhche  Glaube  nicht  mehr 
gefesselt  wird  an  das  sogenannte  ,,Alte  Testament"  und  dessen  jüdische 
Gottesvorstellung".  Und  weiter:  ,,Das  Alte  Testament  (im  allgemeinen) 
kann  uns,  nicht  etwa  nur  als  Deutschen,  nein,  gerade  als  Christen 
nicht  mehr  unsere  Religionsurkunde,  unsere  heilige  Glaubens- 
grundlage sein". 

5.  In  seinem  Aufsatz  ,, Alttestamentliche  Heilandsworte"  (s.  Anm.  4) 
sagt  Hans  v.  Wolzogen:  Obschon  das  ganze  Alte  Testament  nicht 
mehr  unsere  Religionsurkiinde  sein  kann,  ,,so  haben  wir  doch  ein  volles, 
ehrfürchtiges  Gefühl  für  so  viele  schöne,  tiefsinnige,  tröstende,  er- 
hebende, gotterfüllte  Worte  der  Propheten  und  Psalmisten,  welche 
ganzen  Geschlechtern  frommer  Menschen  eine  unvergleichliche  Wohl- 
tat erwiesen  haben  und  erweisen  konnten,  weil  sie  und  soweit  sie,  ab- 
getrennt von  ihrer  zeitlichen  und  völkischen  Sphäre,  in  der  Tiefe  religiös 
empfundener  Wahrheit  sich  übereinstimmen  ließen  mit  reinster  Gottes- 
auffassung aller  Zeiten.  Aus  diesen  Worten  und  Sprüchen  ein  Er- 
bauungsbuch zusammenzustellen,  das  neben  unsern  Gesangbüchern 
und  besten  religiösen  Schriften,  ja,  an  erster  Stelle,  der  Andacht  ernster 
Christen  jedes  Bekenntnisses  imd  jeder  Richtung  diene,  das  wäre  in  der 
Tat  ein  sehr  bedeutsames  und  wünschenswertes,  ein  wahrhaft  wohltuendes 
und  befreiendes  Unternehmen".  Ich  darf  hierzu  bemerken,  daß  ich  in 
meinen  Vorträgen  über  Babel  und  Bibel  II,  III  sowie  im  I.  Teüe  dieser 
Schrift,  S.  95  f.,  wiederholt  ganz  gleiche  Gedanken  ausgesprochen  habe, 
daß  nämlich  gar  manche  alttestamentliche  Stellen  auch  christlich- 
religiösem Empfinden  zum  Ausdruck  dienen.  Ich  möchte  hier  den 
Anfang  zu  einer  solchen  Zusammenstellung  machen,  zu  deren  Erweite- 
rung mir  jedermanns  Mitarbeit  willkommen  sein  wird.  Ob  sich  ein 
ganzes  ,, Erbauungsbuch"  dabei  ergeben  wird,  scheint  mir  einstweilen 
sehr  zweifelhaft.     Erst  durch  Hinzunahme  der   vielen  herrlichen  Aus- 


AninerkittiRcn.  77 

Sprüche  arischer  (indischer,  griechischer,  Rermanischer  usw.)  Dichter 
und  Denker  wird  das  vorschwebende  Ziel  wahrhaft  zu  erreichen  sein. 

Mi  6*-*:  „Womit  soll  ich  treten  vor  Jaho,  mich  beugen  vor  dem 
Gott  droben?  Soll  ich  vor  ihn  treten  mit  Brandopfern,  mit  einjährigen 
Kälbern?  Hat  Jaho  Gefallen  an  Tausenden  von  Widdern,  zahllosen 
Bächen  von  öl?  Soll  ich  meinen  Erstgeborenen  geben  als  Sühne,  meine 
Leibesfrucht  als  Buße  meines  Lebens?  Rr  tut  dir  hiermit  kund,  Men.sch, 
was  frommt  und  was  Jaho  von  dir  fordert:  nichts  als  Recht  zu 
üben  und  Liebe  zu  pflegen  und  demütig  zu  wandeln  vor 
deinem   Gott!" 

Ho  6 8;  ,,An  Liebe  habe  ich  Gefallen  und  nicht  an  Schlachtopfer, 
und  Gott  erkennen  ist  besser  als  Brandopfer". 

Psso""-:  ,,Esse  ich  das  Fleisch  von  Stieren  und  trinke  ich  das 
Blut  von  Ziegenböcken?  Opfere  Jaho  Lob  und  bezahle  dem  Höchsten 
deine  Gelübde,  und  rufe  mich  am  Tage  der  Not,  so  will  ich  dich  retten 
und  du  sollst  mich  ehren".    Vgl.  Jes  iii"- 

Ps5i^^:  ,,Die  Opfer  Jahos  sind  ein  gebrochener  Geist,  ein 
zerschlagenes  Herz  wirst  du,  Jaho,  nicht  verachten".  Beachte 
liier  freilich  die  in  V.  20  f.  zugefügte  Einschränkung. 

Jes  s8"-:  „Ist  nicht  das  ein  Fasten,  wie  ich  (Jaho)  es  haben  will: 
ungerechte  Fesseln  abnehmen,  die  Bande  des  Joches  lösen.  Zerschlagene 
frei  ausgehen  lassen  und  jegliches  J och  sprengen  ?  Daß  du  dem  Hungrigen 
dein  Brot  brichst  und  umherirrende  Elende  ins  Haus  hineinführest; 
daß,  wenn  du  einen  Nackten  siehst,  du  ihn  bekleidest,  und  deinem 
Fleische  dich  nicht  entziehest?"^ 

Vgl.  auch  Joels  (2^')  Predigt  an  sein  Volk,  sich  in  seiner  Not  zu 
Jaho  zu  bekehren,  indem  sie  ihre  Herzen  zerreißen  und  nicht  ihre 
Elleider. 

Ps  37^:  ,, Wälze  auf  Jaho  deinen  Weg  und  traue  auf  ihn  —  er 
wird's  machen". 

Jes  40^0  f-:  ,, Mögen  Jünglinge  müde  und  matt  werden  und  junge 
Männer  straucheln  —  die,  die  auf  J  aho  harren,  gewinnen  neue  Kräfte, 
sie  verjüngen  ihr  Gefieder  wie  die  Adler,  sie  laufen  und  werden  nicht 
matt,  sie  wandeln  und  werden  nicht  müde". 

Jes  55*'-:  „Denn  meine  Gedanken  sind  nicht  etire  Gedanken  und 
eure  Wege  nicht  meine  Wege,  ist  der  Spruch  Jahos,  sondern  so  viel 


1  Für  analoge  sittliche  Forderungen  innerhalb  des  babylonischen 
Schrifttums  siehe  Teil  I  Anm.  46  und  beachte  weiter  den  babylonischen 
Spruch  {Babel  und  Bibel  III,  S.  32) :  „Täglich  bete  zu  deinem  Gott, 
Reinheit  der  Rede  ist  das  würdigste  Räucheropfer.  Gegen  deinen  Gott 
sollst  Lauterkeit  du  besitzen,  das  ist  das  Würdigste  der  Gottheit" 
(K.7897Z.  12-15). 


yS  Anmerkungen. 

der  Himmel  höher  ist  als  die  Erde,  so  viel  sind  auch  meine  Wege  höher 
als  eure  Wege  und  meine  Gedanken  als  eure  Gedanken". 

Für  Ps  23  s.  oben  S.  42,   für   Ps  7325«.  S.  43  f .    nebst   Anhang,   für 
Ps  15  und  obenan  103  s.  den  Anhang. 

Für  den  aaronitischen  Segen  Nu  ö^*"-,  der,  richtig  und  verständlich 
verdeutscht,  etwa  lautet:  ,,Der  Herr  (ursp.  Jaho)  segne  dich  und  behüte 
dich;  der  Herr  bhcke  freixndlich  auf  dich  und  sei  dir  gnädig;  der  Herr 
bhcke  hebevoll  auf  dich  und  gebe  dir  Frieden",  s.  Babel  und  Bibel  I. 
6.  Daß  bei  dem  Verrat  Babylons  an  den  Perserkönig  Cyrus  auch 
jüdische  Exulanten  ihre  Hand  im  Spiele  gehabt  und  daß  die  von  Cyrus 
ihnen  unmittelbar  darauf  gewährte  Erlaubnis  der  Heimkehr  und  des 
Wiederaufbaues  des  Tempels  zu  Jerusalem  der  Lohn  hierfür  gewesen 
—  diese  Vermutung  habe  ich  zuerst  bei  einem  jüdischen  Gelehrten  ge- 
lesen, leider  ohne  mir  das  betreffende  Zitat  zu  notieren.    Daß  Deutero- 
jesaia  um  den  von  den  Belspriestern  geplanten  Verrat   wußte,   dar- 
über lassen   seine   auf   Cyrus  bezüghchen   Sprüche  wohl  kaum  einen 
Zweifel.     Vgl.  Jes45i"-:    ,,So  spricht  Jaho  zu  seinem  Gesalbten,   zu 
Cyrus,  dessen  Rechte  ich  ergrififen  habe,   niederzutreten  vor  ihm  her 
Völker  und  die  Hüften  von  Königen  zu  entgürten,  zu  öffnen  vor  ihm 
her  Türflügel  und  Stadttore  nicht   verschlossen   zu  lassen. 
Ich  werde  vor  dir  herziehen  und  das  Höckerichte  ebnen,   eherne  Tür- 
flügel zerbrechen  und  eiserne   Riegel  zerhauen,   und  will  dir  die   im 
Dunkel  geborgenen  Schätze  geben  usw.,   auf  daß  du  erkennest,   daß 
ich,  Jaho,  es  bin,  der  dich  bei  deinem  Namen  gerufen,  der  Gott  Israels". 
Und  Jes48^*:  ,,Den  Willen  Jahos,  der  ihn  heb  hat,  wird  er  an  Babel 
vollstrecken  .  .  .   Ich,   ich  habe  es  verkündet  und  habe  ihn   gerufen, 
habe    ihn    hergeführt    und    schenkte    ihm    Gelingen".     War 
aber  Deuterojesaia  Mitwisser  um  den  von  den  Belspriestern  geplanten 
Verrat,  so  mußte  er  von  diesen  in  das  Geheimnis  eingeweiht  worden 
sein,   und  dies  könnte  die  verdächtigen  Übereinstimmungen  erklären, 
auf  welche  zuerst  Kittel  in  seinem  Aufsatze  Cyrus  und  Deuterojesaia 
(ZAW  XVIII,    1898,   S.  149 — 162)   hingewiesen  hat,   die  Übereinstim- 
mungen nänüich  zwischen  dem  Wortlaut  der  sogenannten  Proklamation 
des  Königs  Cyrus,   deren  chaldäischer  Redaktor  wohl  sicher  zu  den 
Belspriestern  in  engsten  Beziehungen  stand,  imd  zwischen  den  Rede- 
wendungen   Deuterojesaias.     In    der    Proklamation    des    Perserkönigs 
(VR  35)  heißt  es:  „Marduk  sah  sich  um  nach  einem  gerechten  Fürsten. 
Den  Mann  seiner    Herzensneigung   faßte    er   bei    der    Hand. 
Cyrus,  den  König  von  Anschan,   nannte    er   bei   seinem   Namen, 
zur  Fürstenschaft  über  das  ganze  All  berief  er  seinen  Namen",  während 
Deuterojesaia,  wie  wir  sahen,  ebenfalls  von  Cyrus  als  dem  Geliebten 
Jahos  spricht,   dessen    Rechte  Jaho    ergriffen  und  den  er  bei 
seinem    Namen     gerufen    habe.     Beiläufig   bemerkt,    zeigt    dieser 


Anmcrkuuijen.  nn 

intime  Verkehr  jüdisclier  Exulanten  wie  Deuterojesaias  mit  den  höohst- 
stehenden  priestcrlichcu  Kreisen  Babylons,  daß  die  von  Nebukadnezar 
weggeführten  Judäer  vielleiclit  im  ersten  Anfang  auch  zu  Zwangsarbeiten 
mit  verwendet  wurden  (vgl.  Jes47*),  daß  sie  aber  schon  sehr  bald 
vollkommenster  Freiheit  sich  erfreuten,  wie  auch  das  Sendschreiben  des 
Propheten  Jeremia  aus  Jerusalem  beweist,  in  welchem  dieser  den  kurz 
zuvor  weggeführten Judäcrn  rät,  ,, Häuser  zu  bauen,  darinnen  zu  wohnen, 
Gärten  zu  pflanzen  und  ihre  Früchte  zu  genießen,  sich  mit  aller  Macht 
mittels  Heiraten  zu  mehren,  um  nicht  weniger  zu  werden"  (Jer  29*"). 
Auch  im  Buche  Daniel  hat  sich  die  Erinnerung  bewahrt,  daß  gebildete 
und  vornehme  jüdische  Exulanten  schon  am  Hofe  Nebukadnezars  zu 
den  höchsten  Ehren  und  Ämtern  gelangen  konnten.  Wenn  aber  jüdische 
Männer  wie  Deuterojesaia  von  den  Belspriestern  in  deren  Geheimnis 
eingeweiht  wurden,  so  drängt  sich  die  Folgerung  von  selbst  auf,  daß 
sie  dies  zu  einem  ganz  bestimmten  Zwecke,  nämlich  zum  Zwecke  der 
Mitwirkung  taten.  Auf  diese  Weise  erklärt  sich,  daß  Deuterojesaia 
in  so  nachdrücklicher  Weise  Jaho  als  den  Urheber  des  Falles  Babels 
hervorhebt:  Ich  (Jaho)  werde  vor  Cyrus  herziehen,  ich  habe  ihn  bei 
seinem  Namen  gerufen,  ich,  ich  habe  ihn  hergeführt  und  schenkte 
ilmi  Gelingen  (siehe  oben),  ,,ich  habe  ihn  erweckt  und  alle  seine  Wege 
geebnet"  (45^^),  und  an  letzteres  Wort  unmittelbar  geknüpft,  die  be- 
deutsame Verheißung:  ,,er  wird  bauen  meine  Stadt  und  meine  Ge- 
fangenen freilassen!"  Ähnlich  äußert  sich  Kittel  (a.  a.  O.,  S.  158): 
,,Jes  44^*"  45^"'  bat  die  offenbare  Tendenz,  Cyrus  zum  Vorgehen 
gegen  Babel  zu  ermuntern,  ihm  im  Namen  der  Juden  und  ihres  Gottes 
Heil  zu  seinem  Vorhaben  zu  wünschen  und  in  Aussicht  zu  stellen,  ihm 
zu  sagen,  daß  im  Reich  Nabonids  selbst  ihm  viele  Herzen  entgegen- 
schlagen, und  ihn  wissen  zu  lassen,  welche  Hoffnungen  Israel  an  seinen 
Zug  knüpfte".  Mit  diesen  Worten  gibt  Kittel  die  Mitwirkung  Deutero- 
jesaias und  der  jüdischen  Exulanten  überhaupt  bei  dem  Verrate  Babylons 
auch  seinerseits  offen  zu.  —  Sehr  verdächtig  ist  auch  die  enge  Verbin- 
dung, in  welche  das  Buch  Daniel  Kap.  5  die  Ermordung  Belsazars  mit 
dem  echt  jüdischen  Börsenwitz  m^n&  m^ni  t^qel  ü-pharsin  setzt.  Zum 
Verständnis  dieser  letzteren,  so  lange  rätselhaft  gebliebenen  Worte  sei 
hier  wiederholt,  was  in  Babel  und  Bibel  III,  S.  6  ff .,  gesagt  war:  ,,Von 
den  wenigen  Königen  des  von  Nabopolassar  gegründeten  Chaldäerreiches 
hatten  für  die  Judäer  nur  zwei  Interesse:  Nebukadnezar,  der  das 
jüdische  Volk  in  die  Gefangenschaft  führte,  aber  selbst  seinen  Feinden 
durch  die  gewaltige  Größe  seiner  Herrschaft  Ehrfurcht  abnötigte,  und 
der  letzte  wenig  bedeutende  König  Nabuna'id,  unter  welchem  Babylon 
dem  Perserkönig  Cyrus,  dem  Befreier  Judas  aus  der  Gefangenschaft, 
anheimfiel.  Und  je  mehr  die  Erinnerung  erblaßte,  ward  Nabuna'id 
dxirch  seinen  Sohn,    den  Kronprinzen    Belsazar,    den  Anführer  des 


go  Anmerkungen. 

Chaldäerheeres  in  den  Kämpfen  gegen  die  Perser,  ersetzt  und  dieser 
letztere  irrig  zum  Sohne  des  großen  Chaldäerkönigs  Nebukadnezar  ge- 
stempelt. Über  alles  dies  wissen  wir  jetzt,  dank  den  Grabungen,  genau 
Bescheid,  ohne  daß  hieraus  dem  Buche  Daniel,  einem  Erzeugnis  des 
2.  Jahrhunderts  v.  Chr.,  ein  sonderlicher  Vorwurf  erwüchse.    Vielmehr 
müssen  wir   seinem  Verfasser  dankbar  sein,    daß  er,  so  frei  er  auch 
sonst  mit  Geschichte  und  Auslegung  der  Worte  m^ne  m^ni  t^qel  ü-pharstn 
imigesprungen  ist,  uns  dennoch  den  Schlüssel  zu  ihrer  richtigen  Er- 
klärung dargereicht  hat.    Denn  wie  zuerst  der  französische  Archäologe 
Clermont-Ganneau  erkannt  hat,  verrät  der  im  5.  Kapitel  des  Buches 
Daniel  so  nachdrücklich  betonte  Gegensatz  zwischen  dem  großen  Vater 
Nebukadnezar   und  seinem  minderwertigen  Sohn,    unter  welchem  die 
Perser  sich  des  Reiches  bemächtigten,  im  Verein  mit  der  einzig  mög- 
lichen Deutung  der  Worte:  ,,Es  ist  gezählt  worden  eine  Mine,  einSekel 
und  Halbminen",   daß   dieses   „geflügelte"  Wort  jüdischen  Kreisen 
entstammt,  in  denen  man  den  unbedeutenden  Sohn  eines  großen  Mannes 
bildlich  als  ,,Sekel,  Sohn  einer  Mine",  und  umgekehrt  zu  bezeichnen 
pflegte,  wozu  sich  dann  das  Wortspiel  zwischen  parstn  ,,Halbniinen"  und 
Perser  gesellte.    Das  geistvolle,  aber  sarkastische  Bonmot,  das  auch 
als  Börsenwitz  bezeichnet  werden  könnte,  faßt  die  ganze  Geschichte 
des  Chaldäerreiches  summarisch  in  die  Worte  zusammen:  Eine  Mine, 
d.  h.  ein  großer  König,  ein  Sekel,  d.  h.  ein  minderwertiger  Königssohn, 
und  Halbminen,  d.  h.  Teilung  des  Reiches  unter  Meder  und  Perser". 
Vgl.  für  die  Worte  mni  mnß  tkel  ü-pharsin  Clermont-Ganneau   in 
Journal   Asiatique,   S^rie  VHI,   i    (1886),   p.  36  ff .    Th.  Nöldeke  in 
ZA  I,  1886,   S.  414 — 418.     Georg   Hoffmann  in  ZA  II,  1887,    S.  45 
bis  48.    Paul    Haupt  in  John  Hopkins    University  Circulars  Nr.  $8, 
p.  104.    Vgl.  auch  ebenda  Nr.  98,  May  1892,  John  Dyneley  Prince. 
7.  Der  jähe  und  vollständige  Untergang  Ninewes  sowie  des  assyrischen 
Reiches  und  Volkes  im  Jahre  606  (?)  v.  Chr.  ist  eines  der  größten  Rätsel 
der  Weltgeschichte,   zumal  da   noch  wenige   Jahrzehnte   vorher   das 
assyrische  Heer  gegenüber  einer  Welt  von  Feinden  sich  siegreich  be- 
hauptet, ja  weitaus  überlegen  gezeigt  hatte.    Der  Prophet  Nahum,  der 
seine  Jubellieder  über  die  gänzliche  Vertilgung  Ninewes  mit  den  Worten 
beginnt  (i^'):  „Ein  eifernder  Gott  ist  Jaho,   Rache  nehmend  und 
ingrimmig,  Rache  nehmend  ist  Jaho  an  seinen  Widersachern  und 
Grollnachtragend  seinen  Feinden.  Jaho  ist  langsam  zum  Zorn,  aber 
ungestraft  läßt  Jaho  nicht",  betrachtet  Ninewes  Untergang  als  einen 
Racheakt  Jahos,  und  die  Frage  liegt  nahe,  ob  er  sich  hierbei  seines 
auserwählten  Volkes  als  Mitwirkenden  bedient  habe  wie  bei  dem  Verrat 
Babylons  an  Cyrus  (s.  Anm.  6)  oder  nicht.    Die  Frage  liegt  um  so  näher, 
als  die  Meder  es  waren,  die  das  Unheil  über  Ninewe  brachten,  gerade 
in  die  Städte  der  Meder  aber  hundert  J  ahre  früher  {722  v,  Chr.)  Sargon  II. 


Aumerkungen.  8 1 

die  Bewohner  Samarius  und  des  Reiches  Israel  überhaupt  deportiert 
hatte.  Daß  die  Israeliten  in  dieser  ihrer  neuen  Heimat  nicht  etwa  zu- 
grunde gingen,  sondern  sich  bald  ebensogut  einzurichten  wußten  wie 
ihre  judäischen  Brüder  in  Babylonien,  kann  ebenso  als  zweifellos  gelten, 
wie  daß  sie  gegen  Assyrien  und  seine  Hauptstadt  Ninewe  eitel  Gefühle 
des  Hasses  und  der  Rache  hegten.  Dazu  kommt,  daß  Nahum  3''  sagt: 
,,die  Tore  deines  (Ninewes)  Landes  wurden  deinen  Feinden  weit  auf- 
getan" (natürlich  durch  Verrat),  in  diesem  Haupteinfallstor  aber,  dem 
Lande  Chalach,  von  dem  aus  eine  direkte  Straße  nach  einem  der  Nord- 
tore Ninewes  führte,  ebenfalls  israelitische  Exulanten  angesiedelt 
worden  waren  (2  Kö  17*  18^^).  Daß  der  Prophet  Nahum  selbst  ein 
Judäer  gewesen,  dem  die  seh  were  Heimsuchung  seines  Landes  und  die 
Bedrohung  von  dessen  Hauptstadt  Jerusalem  durch  den  assyrischen 
König  Sanherib  (701  v.  Chr.)  unvergessen  geblieben  war,  hat  man  längst 
aus  Nah  i  ^^  2*-  '  geschlossen.  Wenn  nun  meines  Erachtens  einerseits 
in  den  drei  Kapiteln  des  Propheten  Nahum  lediglich  Jubellieder  über 
die  soeben  vollzogene  Eroberung  Ninewes  gesehen  werden  können, 
andererseits  die  genaue  Schilderung  des  Hergangs  der  Einnahme  (2*-^^ 
3'  '•)  unmöglich  auf  bloßer  Phantasie,  sondern  nur  auf  Autopsie  be- 
ruhen kann,  so  muß  Nahum  die  über  Ninewe  hereingebrochene  Kata- 
strophe persönlich  mit  erlebt  haben  und  mit  unter  den  ersten  gewesen 
sein,  die  diese  Freudenbotschaft  nach  Juda  übermittelten.  Er  muß 
hiernach  weiter  zu  den  Abkömmlingen  jener  Tausende  von  Judäern 
gehört  haben,  die  Sanherib  701  in  die  assyrische  Gefangenschaft  weg- 
führte und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  in  Assyrien,  auch  in  Ninewe, 
niederließ.  Auf  Selbsterlebtes  führen  u.  a.  mit  Notwendigkeit  die  Worte, 
daß  ,,die  Fluß-  oder  Kanaltore  der  Stadt  geöffnet  worden"  seien  (2')  — 
die  einzigste  positive  Nachricht,  die  uns  über  den  Hergang  der  Er- 
oberung Ninewes  überkommen  ist,  da  die  diesbezügliche  Erzählung 
des  Ktesias  geschichtliche  Glaubwürdigkeit  nicht  beanspruchen  kann. 
Ninewe  war  von  mehreren  Fluß-  und  Kanalläufen  durchzogen,  die  in 
den  Tigris  einmündeten.  Diese  Wasserläufe  waren  natürlich  an  den 
Stellen,  wo  sie  die  Stadtmauern  passierten,  durch  Tore  und  Schleusen 
auf  das  Sorgfältigste  geschützt,  um  das  Eindringen  der  Feinde  un- 
möglich zu  machen.  Die  Frage  erhebt  sich,  ob  sie  von  den  Medern 
geöffnet  wurden  oder  von  Feinden  Assyriens,  die  innerhalb  Ninewes 
wohnten,  also  daß  Jaho  sein  Rachewerk  an  Ninewe  mit  Hilfe  der  Judäer 
innerhalb  und  der  Israeliten  außerhalb  Ninewes  vollbracht  haben  würde. 
Der  Wortlaut  der  ,,Prophetieen  "  Nahums  legt  diese  Vermutung  sicher- 
lich nahe.  —  Über  die  Lage  des  Landes  Chalach  war  auf  Grund  eines 
assyrischen  Briefes  (83,  i — 18,  6)  bereits  in  Babel  und  Bibel  II,  S.  7, 
die  Rede;  es  wurde  dort  als  ,,noch  etwas  östlicher  als  das  gebirgige 
Quellenland  des  oberen  Zab,  namens  Arrapachitis"  gelegen  bezeichnet. 

Delitzsch,  Die  ^osse  Täuschung.     11  ß 


82  Anmerkungen. 

Jetzt  wissen  wir  aus  einem  neugefundenen  Tonprisma  Sauheribs,  daß 
das  ostnordöstliche  Tor  Niuewes  ,,Tor  des  Landes  Clialach"  hieß,  da 
die  das  Tor  passierende  bzw.  vom  Tore  ausgehende  Straße  in  das  außer- 
ordentlich fruchtbare  (obstreiche?)  Gebirgsland  Chalach  führte. —  Nahum 
ist  im  Alten  Testament  „der  Elqoschiter"  genannt.  Die  von  J.  D.Mi- 
chaelis und  Eichhorn  vertretene  Ansicht,  daß  mit  Elqosch  die  unweit 
von  Ninewe  gelegene  assyrische  Ortschaft  Elqosch  gemeint  sei,  in  welcher 
das  Grab  des  Propheten  Nahum  gezeigt  wird,  gewinnt  nach  dem  oben 
Ausgeführten  sehr  an  Bedeutung. 

8.  Jes34^^°  lautet  (vgl.  bereits  Babel  und  Bibel  II  Anm.  2i): 
, .Tretet  herzu,  Völker,  zu  hören,  und  Nationen,  merket  auf! 
Es  höre  die  Erde  und  was  sie  füllet,  der  Erdkreis  und  seine  Spröß- 
linge allel 
Denn  wütend  ist  Jaho  wider  alle  Völker  und  grimmig  wider  ajl  ihr 

Heer. 
Er  hat  sie  gebannt,  hingegeben  zum  Schlachten, 

Und  ihre  Erschlagenen  werden  hingeworfen,  daß  Gestank  aufsteigt  von 
ihren  Leichen,  und  es  zerfließen  die  Berge  von  ihrem  Blut. 
Und  es  vermodert  das  ganze  Heer  des  Himmels  und  wird  zusammen- 
gerollt gleich  einem  Buche  der  Himmel, 
Und  all  sein  Heer  welket,  wie    Laub   abwelket  vom  Weinstock  und 

ein  welkend  Blatt  vom  Feigenbaum. 
Ja,  mein  Schwert,  im  Himmel  berauscht,  fährt,  siehe,  hinab  auf  Edom 

und  auf  das  Volk  meines  Bannes  zum  Gericht. 
Ein  Schwert  hat  Jaho,  voll  ist's  von  Blut,  schmierig  von  Fett, 
Vom  Blut  der  Lämmer  und  Ziegenböcke,  vom  Nierenfette  der  Widder; 
Denn  ein  Opfer  hält  Jaho  in  Bosra  und  ein  großes  Schlachten  im  Lande 

Edom. 
Und  es  fahren  hinab   die  Wildochsen  mit  ihnen,   und  die  Farren  mit 

den  Stieren, 
Und  es  trieft  ihr  Land  von  ihrem  Blut  und  ihr  Staub  wird  schmierig 

von  Fett. 
Denn  ein  Tag  der  Rache  ist  Jahos,   ein  Vergeltungsjahr  zur  Ahndung 

von  Zion. 
Und  es  werden  verwandelt  ihre   Bäche  in  Pech    und    ihr    Staub    in 

Schwefel  und  es  wird  ihr  Land  zu  brennendem  Pech, 
Bei  Nacht  und  Tag  verüscht  es  nicht  mehr,  in  Ewigkeit  steiget  sein 

Rauch  auf. 
Von  Geschlecht  zu  Geschlecht  bleibt  es  wüste,  für  immer  und  ewig 
durchwandert  es  niemand",  usw. 
Und  Jes63i-6: 
Wer  kommt  da  aus  Edom?  in  hochroten  Kleidern  aus  Bosra? 
Prangend  in  seinem  Kleid,  einherschreitend  (?)  in  der  Fülle  seiner  Kraft? 


Anmerkungen.  83 

„Ich  (Jaho)  bin 's,  der  rodet  in  Gerechtigkeit,  der  Rroß  ist  zu  helfen!" 
Warum  das  Kot  an  deinem  Gewände,  und  deine  Kleider  wie  die  eines 

Keltertreters? 
,,Die  Kelter  hab'  ich  getreten  allein,  und  von  den  Völkern  war  niemand 

mit  mir. 
Und  ich  trat  sie  in  meinem  Zorn  und  zerstampfte  sie  in  meinem  Grimm, 
Und  es  spritzte  ihr  Lebenssaft  auf  meine  Kleider,  imd  alle  meine  Ge- 
wänder hab'  ich  besudelt. 
Denn  ein  Tag  der  Rache  war  meine  Absicht  und  mein  Erlösungsjahr  war 

gekommen. 
Und  ich  schaute,  da  war  kein  Helfer,  und  erstarrte,  da  war  kein  Unter- 
stützer. 
Aber  es  half  mir  mein  Arm,  und  mein  Grimm  war  meine  Stütze, 
Und  ich  trat  die  Völker  in  meinem  Zorn  und  machte  sie  trunken  mit 

meinem  Grimm 
Und  ließ  zur  Erde  fließen  ihren  Lebenssaft". 

9.  Vgl.  Babel  und  Bibel  III,  S.  29,  nebst  Anm.  30:  „Gewiß  wurde 
den  durchweg  ernsten  und  würdigen  Götterbildern,  wenn  sie  in  feier- 
licher Prozession  ausgetragen  wurden,  wohl  auch  den  kleinen  Götter- 
figuren, die  von  den  Tempelverwaltungen  an  die  Gläubigen  verkauft 
worden  sein  dürften,  seitens  des  schlichten  Volkes  eine  gewisse  Ver- 
ehnmg  zuteil,  aber  diese  Bilderverehrung  bildete  in  keiner  Weise  den 
Kern  des  babylonischen  Gottesglaubens,  wie  ja  die  Propheten  Judas 
selbst  von  einem  geheimnisvollen  Götterberge  im  Norden  wissen,  auf 
welchem  die  babylonischen  Gottheiten  wohnen  (Jes  14^*,  vgl.  Ez  28"-  ^^), 
also  sehr  gut  den  Unterschied  zwischen  den  Gottheiten  selbst  und 
ihren  irdischen  Repräsentativmitteln  kannten".  —  Vgl.  noch  die  Worte 
in  einem  ,,Sions  Türmer"  unterzeichneten  Artikel  der  katholischen 
Zeitschrift  Zwanzigstes  Jahrhundert  (14.  März  1903):  ,,Die  Berechti- 
gung des  Bilderbrauches  nachzuweisen,  ist  nachgerade  überflüssig. 
Nur  das  sei  hier  hervorgehoben.  Der  geistig-sinnlichen  Menschennatur 
entsprechend  ist  der  Gebrauch  der  Bilder  als  Repräsentativmittel  der 
transzendentalen  Wahrheiten  vernünftig,  und  ihre  Hochschätzung  oder 
relative  Verehrung,  wie  die  Schule  sagt,  psychologisch  wohl  begründet". 

10.  Vgl.  Babel  und  Bibel  III,  S.  15  f:  „Es  wird  für  alle  Zeiten  eine 
hohe  Ruhmestat  der  neueren  alttestamentüchen  Wissenschaft  bleiben, 
daß  sie  in  rastlos  fortschreitender  Geistesarbeit  zu  der  jetzt  immer 
allgemeiner  anerkannten  Wahrheit  sich  durchgerungen  hat,  daß  die 
alttestamenthchen  Psalmen  in  ihrer  überwältigenden  Mehrzahl  der 
jüngsten  Periode  der  hebräischen  Literatur  angehören,  daß  speziell 
die  etwa  70  Psalmen  gegebenen  Überschriften  ,,von  David"  späte,  mit 
Sprache  und  Inhalt  meist  unvereinbare  Zusätze  sind,  daß  sich  über- 
haupt   für    keinen  einzigen  alttestamentlichen  Psalm  davidischer  Ur- 


Qa  Anmerkxmgen. 

sprang  beweisen  oder  auch  nur  wahrscheinlich  machen  läßt.  Und  es 
bleibt  nur  zu  wünschen,  daß  diese  Erkenntnis  in  immer  weitere  Kreise 
eindringe,  da  jene  Psalmüberschriften  ,,von  David"  ganz  besonders 
geeignet  sind,  den  Werdegang  der  Religion  Israels  gründlich  zu 
verschleiern". 

11.  Es  ist  längst  anerkannt,  daß  viele  prophetische  , .Reden",  z.  B. 
Ezechiels,  überhaupt  niemals  gehalten  worden  sind,  sondern  schrift- 
stellerische Arbeiten  darstellen.  Solche  Lieder  aber  wie  dieses  ver- 
meintlich jesaianische  Spottlied  auf  Sanheribs  Rückzug  von  Jerusalem 
bezeugen  wieder  eine  andere  Klasse  von  ,,Prophetieen",  nämlich  eine 
solche  frei  erfundener  Lieder  bzw.  Deklamationen,  wie  sie  mög- 
licherweise in  den  Prophetenschulen  als  Aufgaben  gestellt  wurden. 
Solche  rein  rhetorischen  Übungszwecken  dienende  Prophetieen  bilden 
vielleicht  auch  die  in  das  Buch  Jeremias  aufgenommenen  Reden  wider 
Moab,  Ammon,  Edom  u.  a.  (Kapp.  48,  49),  die  zwar  die  Zeit  der  syrischen 
Aktionen  Nebukadnezars  zum  historischen  Hintergrund  haben,  aber 
sich  tatsächlich  ausschließlich  in  allgemeinen  Phrasen  bewegen,  ohne 
irgendwelcher  konkreter  Geschehnisse  Erwähnung  zu  tun.  Speziell 
die  ungebührlich  lange  Rede  wider  Moab  {48^^-*^)  zeugt  zwar  von  fleißig- 
stem Studium  der  Geographie  des  moabitischen  Landes,  geht  aber  viel 
zu  sehr  ins  Detail,  um  nicht  ihren  doktrinären  Charakter,  ihren  Schul- 
ursprung zu  verraten. 

12.  Beachte  hierfür  das  bereits  in  Babel  und  Bibel  III  Anm.  22  Ge- 
sagte: „Warum  Jesus  gerade  den  Samariter  zum  Vorbild  allgemeiner,  alle 
Menschen  und  Völker  unterschiedslos  umfassender  Nächstenliebe  er- 
hoben hat,  kann  erst  jetzt  völlig  gewürdigt  werden.  Mit  Recht  über- 
rascht das  Gesetzbuch  Hammurabis  unter  anderm  auch  dadurch,  daß 
„ein  Unterschied  zwischen  In-  und  Ausländern  so  gut  wie  gar  nicht 
hervorbricht",  weshalb  die  in  Israel  ständige  Vorschrift,  den  fremden 
Schutzgenossen  gut  zu  behandeln,  dort  getrost  fehlen  kann.  ,,Es  scheint" 
—  bemerkt  Kohler,  Hammurabis  Gesetz  S.  139  —  ,,daß  in  dieser 
Beziehung  (in  Babylonien)  eine  vollständige  Nivellierung  eingetreten 
ist,  ganz  den  geschichtlichen  Vorgängen  gemäß,  indem  man  mehr  und 
mehr  fremde  Stämme  nach  Babylon  verpflanzte  und  hier  eine  unge- 
heure Verbindung  und  Vermischung  der  Völker  der  Erde  mit  ihren 
Kulturen  herbeiführte.  Dem  entspricht  auch  der  hochentwickelte 
Handelsverkehr,  die  internationalen  Beziehungen  und  der  Charakter 
der  Weltkultur,  welcher  der  babylonischen  Bildung  innewohnte.  Wir 
wissen,  daß  Hammurabi  sich  schon,  wie  die  späteren  babylonischen 
Könige,  als  Herr  der  Erde  fühlte  und  ebenso,  wie  später  die  deutschen 
Kaiser  des  Mittelalters,  alle  Stämme  mit  seiner  Herrschaft  zu  um- 
spannen und  darum  auch  den  Unterschied  zwischen  In-  und  Ausländern 
vollkommen  zu  verwischen  trachtete.  —  Auch  dadurch  unterscheidet 


Anmerkungen.  85 

sich  die  Rechtsknlhir  Babylons  von  der  Israels;  denn  der  Fremde 
blieb  in  Israel  Fremder  und  stand  dem  israelitischen  Staatsleben  fern; 
nur  der  fremde  Schutzgenosse,  der  gSr,  wurde  dort  in  den  Verband  auf- 
genommen, und  auch  er,  ohne  daß  er  im  Rechtsgenuß  völlig  dem  In- 
länder gleichgestellt  wurde.  Darum  auch  die  ständige  Vorschrift,  ihn 
gut  zu  behandeln,  eine  Vorschrift,  die  in  Babylon,  wo  man  Fremde  und 
Einheimische  nicht  unterschied,  nicht  am  Platz  gewesen  wäre.  Aber 
auch  welch  ein  Unterschied:  die  paar  fremden  Schutzbefohlenen  Israels, 
wohl  Überläufer,  Ausgestoßene,  flüchtige  Leute,  welche  Blutrache 
oder  Strafe  fürchteten,  im  Gegensatz  zu  den  Fremden  in  Babylon,  das 
sich  zur  Metropole  des  Welthandels  entwickeitel" 

13.  Für  die  auf  Ps  2'  sich  gründende  Bezeichnung  des  Messias  als 
,, Gottessohn"  und  die  dementsprechende  Selbstbezeichnung  Jesu 
(Matth  16^"  26"')  siehe  im  Anhang  zu  Ps  2  und  bereits  meine  Vor- 
träge Zur  Weiterbildung  der  Religion,  Stuttgart  1908,  S.  25  f.  Daß 
Jesus  selbst  diese  Bezeichnung  bildlich  gefaßt  wissen  wollte,  lehrt 
Joh  lo^ä  ft..  siehe  hierfür  im  Anhang  zu  Ps  82*- 

14.  Für  das  Verständnis  der  Selbstbezeichnung  Jesu  als  ,, Menschen- 
sohn" muß,  um  dies  gleich  vorweg  zu  nehmen,  die  babylonisch-ezechie- 
lische  Wortverbindung  ,, Menschensohn"  ganz  außer  Betracht  bleiben. 
Von  alters  her  finden  wir  in  der  babylonischen  (akkadischen)  Literatur 
eine  Bezeichnung  ,, Menschensohn"  (mär  awilint).  Da  die  Akkader 
einen  Sklaven  niemals  als  ,,Sohn  des  und  des"  bezeichnen  (vgl.  auch 
die  Bezeichnung  eines  Menschen  obskurer  Herkunft  als  mär  lä  maman 
«.  ä.,  d.  i.  ,,Sohn  von  niemand"),  gewann  bei  ihnen  die  Bezeichnung 
,, Menschensohn"  die  Bedeutung  eines  ehrenvollen  Ausdrucks,  nämlich 
den  BegriflE  eines  freien  Mannes.  In  der  Hammurabi-Zeit  haftete 
auch  dem  einfachen  awilu  eine  gewisse  Auszeichnung  an,  wie  die 
vielen  Briefe  lehren,  die  nicht  an  den  und  den  Namen  gerichtet  sind, 
sondern  ,,an  den  Menschen,  den  Marduk  mit  Leben  begaben  wird" 
(ana  awilim  sa  Marduk  uballatusu)  —  es  hat  den  Anschein,  als  hätte 
man  auch  noch  in  dem  einfachen  awtlum  den  Begriff  ,, Menschensohn" 
gespürt  (sum.  a-mu-lu  der  Ursprung  des  etymologisch  sonst  ganz 
dunkeln  awiluf).  Die  Anrede  Jahos  an  Ezechiel  als  ,, Menschensohn." 
(ben-ädäm)  gibt  sich  als  ein  Babylonismus,  als  eine  ehrenvolle  Um- 
schreibung statt  der  direkten  Namensnennung  —  ein  Zeichen,  wie 
sich  jener  Gebrauch  von  ,, Menschensohn"  durch  alle  Jahrhunderte  hin- 
durch in  Babylonien  erhalten  hat.  Ganz  falsch  läßt  Smend,  Der 
Prophet  Ezechiel,  2  Aufl.,  Leipzig  1880,  S.  17  den  Propheten  so  an- 
geredet sein  als  einen,  der  sich  der  Majestät  Gottes  gegenüber  lediglich 
als  ein  zufällig  gewähltes  Individuum  seiner  elenden  Gattung 
(Ps8*  lob  25  •)  und  nicht  mehr  als  eine  eigentümliche  Persönlichkeit 
fühlt   (vgl.  Am  7*  8 2  Jer  i"),  weshalb  auch  mit   Luther  genauer  (?) 


86  Anmerkungen. 

,, Menschenkind"  zu  übersetzen  sei.  Aber  diese  innerlich  unmögliche 
Erklärung  wird  schon  durch  die  Frage  erledigt,  warum  kein  anderer 
Prophet  jemals  von  Jaho  mit  ,, Menschensohn"  oder  „Menschenkind" 
angeredet  wird.  Vgl.  für  die  vorstehenden  Darlegungen  bereits  Bahd 
und  Bibel  III  Anm.  9.  Eine  ähnliche  auszeichnende  Bedeutung  wie 
das  babylonische  mär  awilim  zeigt  das  hebräische  ben  isch  (PS49*), 
PI.  b'nS  isch  (Ps  4*). 

Jesu  Selbstbezeichnimg  als  „Menschensohn"  gründet  sich  auf  zwei 
alttestamentliche  Stellen,  in  erster  Linie  auf  Dan  7^',  wo  mit  Bezug 
auf  den  Messias  gesagt  ist,  es  sei  in  den  Wolken  etwas  gekommen  wie 
ein  ,, Menschensohn";  richtiger  würde  übersetzt  sein:  wie  ein  Menschen- 
kind, d.  h.  wie  ein  Mensch,  wie  ein  Wesen  von  menschlicher  Gestalt. 
,, Menschenkind",  PI.  Menschenkinder,  ist  in  den  semitischen  Sprachen, 
näher  im  Hebräischen,  Aramäischen,  Akkadischen,  nichts  als  eine  Um- 
schreibung für  ,, Mensch",  genau  sowie  akkadisch-assyrisch  mär  ummdni 
Werkmeisterssohn  =  Werkmeister  ist  oder  wie  in  den  Psalmen  Götter- 
kinder, Göttersöhne  Götter  bezeichnet.  Vor  allem  im  parallelismus 
membrorum  ist  diese  Umschreibung  des  einfachen  Begrififs  beliebt,  wie 
z.  B.  in  Ps  72^  , .Königssohn"  Parallelglied  von  König  ist.  Auch  inner- 
halb der  Tierwelt  finden  sich  solche  Wortverbindungen  wie  ,,1/öwen- 
kind",  parallel  mit  ,,I,öwe".  Das  ben  üdäm,  womit  der  Engel  Gabriel 
Daniel  anredet  (Dan  8"),  wird  ebenfalls  als  Menschenkind  =  Mensch 
zu  fassen  sein.  Aber  die  Bezeichnung  des  Messias  als  ,, Menschensohn" 
geht  noch  auf  eine  andere,  unbegreiflicherweise  trotz  des  sonnenklaren 
Kontextes  vollkommen  mißverstandene  Stelle  des  Alten  Testamentes 
zurück,  nämlich  auf  PsS^"*,  wofür  im  Anhang  nachzulesen  ist.  Vgl. 
Franz  Delitzsch  zu  dieser  Stelle:  ,, Gerade  dieser  Psalm,  von  dem 
man's  am  wenigsten  denken  sollte,  wird  im  Neuen  Testament  öfter 
zitiert  und  messianisch  gedeutet,  ja  die  Selbstbenennung  Jesu  mit  o  ftös 
xov  avS-^cSnov,  wiefern  sie  auf  die  alttestamentliche  Schrift  zurückgeht, 
lehnt  sich  nicht  minder  an  diesen  Psalm  als  an  Dan  7^" . 

15.  Zu  der  Frage,  ob  die  obligatorische  Forderung  des  Studiums  des 
Hebräischen  für  die  evangelischen  Theologen  aufrecht  zu  erhalten  oder 
fallen  zu  lassen  sei,  siehe  jetzt  Prof.  D.  Paul  Feine,  Zur  Reform  des 
Studiums  der  Theologie,  Leipzig  1920,  S.  15 — 22.  Ich  freue  mich,  daß 
auch  Ad.  von  Harnack  in  seiner  auf  Veranlassung  des  Preußischen 
Ministeriimis  für  Wissenschaft,  Kunst  und  Volksbildung  verfaßten  Denk- 
schrift für  Streichung  des  Hebräischen  aus  dem  Lehrplan  der  christ- 
lichen Theologen  eintritt,  obschon  sein  Vorschlag,  das  Alte  Testament 
griechisch,  d.  h.  nach  der  griechischen  Bibelübersetzung  lesen  zu  lassen, 
von  Graf  von  Baudissin  mit  guten  Gründen  zurückgewiesen  wird. 
Aber  wenn  Baudissin  meint,  es  sei  „sehr  schwer,  den  Kandidaten  die 
erforderliche  Kenntnis  der  alttestamentUchen  Religionsgeschichte  zu 


Anmerkungen.  87 

vermitteln  ohne  Voraussetzung  einiger  Kenntnis  des  Hebräischen", 
80  ist  hierauf  7.U  erwidern,  daß  eine  wirklich  gute  deutsche  Über- 
setzung des  Alten  Testaments,  die  bei  allen  wichtigeren,  insbesondere 
theologisch  wichtigeren  Stellen  auch  die  griechische  Bibelübersetzung 
berücksichtigt,  auch  die  metrische  Form  vieler  Abschnitte  gebührend 
zur  Geltung  bringt,  in  Verbindung  mit  einer  Vorlesung  über  Geschichte 
und  Religion  Israels  vollkommen  hinreicht,  den  Studierenden  der  evange- 
lischen Theologie  das,  was  sie  vom  sogenannten  Alten  Testament  wissen 
müssen,  zu  vermitteln.  Speziell  müßte  dann  noch,  wie  auf  S.  70  f.  ge- 
fordert wurde,  ein  Lehrbuch  oder  ein  Kolleg  über  die  alttestament- 
lichen  Zitate  im  Neuen  Testamente  hinzutreten.  Auch  Jesu  Kenntnisse 
der  hebräischen  Bibel  beruhten  wesentlich  auf  deren  aramäischen 
Verdolmetschung.  Wenn  Baudissin  aber  weiter  bemerkt,  daß  ,,das 
Fallenlas.sen  des  Hebräischen  eine  Schädigung  des  Ansehens  und  damit 
auch  der  Wirksamkeit  des  geistlichen  Standes  nach  sich  ziehen  werde", 
so  werden  alle  die  Tausende  und  Abertausende  evangelischer  Pfarrer, 
die  ihre  mühselig  erworbenen  hebräischen  Brocken  schon  längst  ver- 
gessen haben,  gegen  eine  solche  Befürchtung  gewiß  einhelligen  Protest 
einlegen.  Selbst  wenn  man  mit  Paul  Feine  an  dem  veralteten  Irr- 
tume  festhält,  das  hebräische  Volk  für  ,,das  Volk  der  Offenbarung", 
den  ,, Träger  der  Offenbarungsreligion"  zu  halten,  und  es  für  notwendig 
erachtet,  ,,die  alttestamentliche  Anschauung  als  Vorstufe  des  Christen- 
tums behandeln  zu  lassen",  ist  hebräische  Sprachkenntnis  schlechter- 
dings nicht  vonnöten,  ganz  abgesehen  davon,  daß  sich  auch  nur  halb- 
wegs zureichende  Beherrschung  des  Hebräischen  nebenher,  neben  den 
übrigen  theologischen  Disziplinen,  binnen  eines  Trienniioms  überhaupt 
nicht  erreichen  läßt.  Da  Jesus  sein  Evangelium  in  der  palästinisch- 
aramäischen Sprache  verkündigt  hat  und  die  älteste  Predigt  seiner 
Jünger  aramäisch  gewesen  ist,  so  wird  es  für  die  Lehrer  der  neu- 
testamentlichen  Theologie  in  hohem  Grade  erwünscht  sein,  bei 
einem  tüchtigen  Semitisten  diesen  aramäischen  Dialekt  zu  erlernen, 
um  in  wichtigen  Fragen  selbständig  urteilen  zu  können. 

16.  Für  die  vermeintlich  Jes7i*-  1«  geweissagte  Jungfrauengeburt  Jesu 
(Matth  1 38-25  i^uk  1 26-38)^  ^uf  einem  Übersetzungsfehler  des  ®  (s.  S.  95) 
und  schwerem  exegetischen  Mißgriff  beruhend,  siehe  bereits  Zur  Weiter- 
bildung der  Religion.  S.  29  ff.  Für  das  mißdeutete  Zitat  Jes  40^  (Mark  i^; 
Matth  33;  Luk  3«;  vgl.  Joh  i23)  siehe  ebenda  S.  37.  Für  Ps  lö»*-,  miß- 
deutet von  Petrus  (Acta  2""-)  ebenso  wie  von  Paulus  (Acta  13^5), 
siehe  ebenda  S.  38  f.  Für  den  mit  Ho  ii^  getriebenen  Mißbrauch 
(Matth  2")  siehe  ebenda  S.39f.  —  Wenn  der  Apostel  Paulus  den 
Juden  zu  beweisen  sucht,  daß  die  Heiden völker  auch  schon  im  Alten 
Testament  zur  Verehrung  des  wahren  Gottes  berufen  worden  seien, 
und  hierfür  u,  a.  die  Stelle  Dt  32"  gemäß  ®  ins  Feld  fuhrt:  ,, Jubelt, 


33  Anmerkungen. 

ihr  Heiden,  samt  seinem  Volke"  (Rom  15^°),  so  wissen  wir  jetzt,  daß 

der  Urtext  lautet:  ,, Bejubelt,  Völker,  sein  Volk!"  (siehe  Weiterbildung 
Anm^.  26^  und  für  einen  analogen  vermeintlichen  Beweis  für  den 
Universalismus  der  Jaho-Religion  siehe  ,, Große  Täuschung"  I,  S.  73 
zu  Ps  117)-  —  Traurig  stimmt  es  zu  sehen,  wie  Paulus  sogar  Jesu 
eigenste,  gegen  die  Speisegebote  gerichtete  Lehre  bereits  für  das  Juden- 
tiun  in  Anspruch  zu  nehmen  wagt,  indem  er  den  Jubelruf  am  Anfang 
des  24.  Psalms:  ,,Jahos  ist  die  Erde  und  ihre  Fülle"  (beachte  für  die 
Bedeutung  dieser  Worte  Jes  34^)  i  Kor  10^'  '•  dahin  deutet,  daß,  weil 
die  Erde  J ahos  ist,  auch  das,  was  auf  den  Markt  gebracht  wird, 
gegessen  werden  dürfe,  ,,ohne  nachzuforschen  Gewissens  wegen".  — 
Für  andere  mißverstandene  vm^d  mißdeutete  Psahnstellen,  z.  B.  8'  ", 
s.  den  Anhang. 


Anhang 


Ausgewählte  Psalmen 

Bei  der  Übersetzung  der  nachfolgenden  ausgewählten 
Psalmen  leitete  mich  ausschließlich  die  Absicht,  den  ur- 
sprünglichen Psalmtext  möglichst  in  seiner  ursprünglichen 
Gestalt  wiederzugeben  und  so  genau  wie  möglich  ins 
Deutsche  zu  übertragen,  ohne  das  Metrum  der  einzelnen 
Gedichte,  d.  h.  die  Zahl  der  Hebungen  innerhalb  der  ein- 
zelnen Stichen,  nachahmen  zu  wollen.*  Von  den  hier  fol- 
genden Psalmen  dürften  nur  ganz  wenige,  etwa  Psalm  15 
und  obenan  Psalm  103,  Anspruch  auf  Aufnahme  in  ein 
christliches  Erbauungsbuch  erheben  dürfen  (s.  S.  78 
oben). 

Psalm  I. 
Prolog  zum  Psalter  (s.S. 39) :  Seligpreisung  der  Gesetzes- 
treuen im  Gegensatz  zu  den  ,, Frevlern". 

Selig  der  Mann,  der  nicht  wandelt  im  Rate  der  Frevler,  noch 
tritt  auf  den  Weg  der  Sünder,  noch  Platz  nimmt  in  der  Sitzung 
der  Spötter,  sondern  an  der  Furcht  (? )  Jahos  Gefallen  hat  und 
über  seine  Thora  sinnt  bei  Tag  und  bei  Nacht  —  er  ist  wie  ein 
Baum,  gepflanzet  an  Wasserbächen,  der  seine  Frucht  bringt  zur 
rechten  Zeit  und  dessen  Laub  nicht  verwelkt,  und  in  allem,  was 
er  tut,  hat  er  Gelingen. 

*)  Bei  der  Erfüllung  des  mir  mehrfach  geäußerten  Wunsches  einer 
Verdeutschung  sämtlicher  Psalmen  wird  natürlich,  obschon  in  knappester 
Form,  über  alle  Einzelheiten  der  Textbehandlung  imd  Übersetzung 
Rechenschaft  abzulegen  sein.  Die  kleine  Schrift  mit  ihrer  erstmaligen 
rationellen  Anordnung  der  Psalmen  wird,  hoffe  ich,  gleichzeitig  zur 
Verbreitung  der  Erkenntnis  mit  beitragen,  daß  es  für  den  evangelischen 
Theologen  vollkommen  ausreicht,  die  Psalmen  wie  überhaupt 
die  althebräischen  Literaturreste  in  deutscher  Übersetzung  mit  kurzem 
Kommentare  zu  lesen. 


02  Ausgewählte  Psalmen. 

*Nicht  so  die  Frevler,  sondern  wie  die  Spreu,  die  der  Wind 
verwehet.  Demgemäß  bestehen  die  Frevler  nicht  im  Gericht  noch 
die  Sünder  in  der  Gemeinde  der  Gerechten.  Denn  Jaho  nimmt 
sich  an  des  Wegs  der  Gerechten,  während  der  Weg  der  Frevler 
zugrunde^geht  ^oder:  zum  Abgrund  führt). 


Psalm  2. 

Alle  Welt  diene  Jaho  und  fürchte  sich  vor  seinem 
Zorn!  Ein  schreckendes  und  mahnendes  Ultimatum  an 
Israels  Feinde  von  selten  des  Messias,  diesem  selbst  in 
den  Mund  gelegt. 

(Vgl.  Acta  425-28^  -^o  David  als  Verfasser  des  Psalms  angenommen 
ist,  ferner  i3'^''  Hebr.  i^  5  5.) 

Warum  toben  die  Völker 

Und  sinnen  Eitles  die  Nationen? 

Treten  einher  die  Könige  der  Erde, 

Und  besprechen  sich  zusamt  die  Machthaber 

Wider  Jaho  und  wider  seinen  Gesalbten? 

,,Laßt  uns  zerreißen  ihre  Bande 

Und  von  uns  werfen  ihre  Stricke!" 

Der  im  Himmel  wohnt,  lachet, 
Der  Herr  spottet  ihrer. 

Und  dann  redet  er  zu  ihnen  in  seinem  Zorn 
Und  schreckt  sie  in  seinem  Grimm: 
,,Hab'  ich  doch  meinen  König  eingesetzt 
Auf  Zion,  meinem  heiligen  Berge". 
''Laßt  mich  erzählen  von  einem  Rechtsspruche  Jahos! 

Er  sagte  zu  mir:  ,,Mein  Sohn  bist  du, 

Ich  habe  dich  heute  gezeuget, 
^Fordre  von  mir,  daß  ich  dir  gebe 

Die  Völker  zu  deinem  Erbteil 

Und  zu  deinem  Eigentum  die  Enden  der  Erde.^ 
^Zerschmettern  sollst  du  sie  mit  eisernem  Zepter, 

Wie  ein  Töpfergefäß  sie  zerschmeißen!" 


Psalm  2,  6.  Q2 

Und  nun,  ihr  Könige,  seid  verständig, 

Laßt  euch  ermahnen,  ihr  Richter  der  Erde! 

Dienet  Jaho  mit  Furcht 

Und  gehorsamt  (? )  ihm  mit  Zittern, 

Daß  er  nicht  zürne  und  ihr  zugrunde  geht, 

Denn  um  ein  Haar  kann  sein  Zorn  entbrennen. 

Selig  alle,  die  in  ihm  Zuflucht  suchen! 

a)  Die  altbabylonischen  Rechtsurkunden,  desgleichen  das  Gesetz- 
buch Hammurabis  geben  uns  von  gewissen  kurzen  Fonneln  Kunde, 
mittels  deren  bestimmte  Willensäußeruneien  rechtskräftige,  unabänder- 
liche Geltung  erhielten.  Wenn  ein  Vater,  eine  Mutter  zum  Kinde 
sagt:  ,,Du  bist  nicht  mein  Kind",  so  ist  es  ebendamit  verstoßen  und 
enterbt.  Und  wenn  ein  Mann  zu  den  Kindern  der  Magd  sagt:  , .meine 
Kinder  (bzw.  Söhne)",  also  zu  einem  derselben:  „du  bist  mein  Sohn", 
so  wird  dieser  Sohn  kraft  dieser  juristischen  Formel  den  Söhnen  der 
legitimen  Gattin  gleichgestellt  und  gleich  diesen  erbberechtigt.  Es 
war  der  Rechtsspruch,  der  die  Erbberechtigung  gleich  einem 
leiblichen  Sohne  involvierte.  Der  Psalmist  läßt  hiemach  in  dem 
bedeutsamen  Verse  Ps  2 '  den  Messias  durch  Jahos  unverbrüchhchen 
Rechtsausspruch:  ,,Du  bist  mein  Sohn,  ich  habe  dich  heute  gezeuget" 
(d.h.:  ich  bin  heute  in  Vaterverhältnis  zu  dir  getreten),  bildUch  zu 
Jahos  Sohn  und  Erben,  nämlich  zum  Erben  der  Völker  bis  an  die 
Enden  der  Erde,  erklärt  sein.  Siehe  hierfür  bereits  meine  Vorträge 
Zur  Weiterentwicklung  der  Religion,  Stuttgart  1908,  S.  25  f.  (wo  auch 
auf  Ivukj"  hingewiesen  ist),  sowie  Ernste  Fragen,  ebenda  1912,  S.  20  f., 
auch  bereits  Babel  und  Bibel  III,  1905,  S.  12  f.  Für  die  Einheit  der 
Begriffe  ,,Sohn"  und  „Erbe"  im  vorderen  Orient  vgl.  Matth2i38; 
Mark  12^'-.    Babylonisch  aplum  bedeutet  sowohl  ,,Sohn"  als  ,,Erbe". 


Psalm  6. 

Gebet  um  endliche  Hilfe  in  Todesangst  vor  den  persön- 
lichen Feinden. 

(Vgl.  Ps  13.) 

Jaho,  in  deinem  Zorn  strafe  mich  nicht. 
Und  in  deinem  Grimm  züchtige  mich  nicht! 
Sei  mir  gnädig,  denn  zerrüttet  hin  ich, 
Heile  mich,  denn  verstört  sind  meine  Geheine, 
Und  meine  Seele  ist  sehr  verstört. 


QA  Ausgewählte  Psalmen. 

Und  du,  Jaho,  wie  lange? 

Wende  dich  zu,  entreiße  mein  Leben, 

Hilf  mir  um  deiner  Güte  willen! 

Denn  im  Totenreich  gedenkt  man  deiner  nicht. 

In  der  Unterwelt  —  wer  soll  dich  loben? 

''Ich  bin  ermüdet,  Jaho,  von  meinem  Seufzen, 
Ich  schwemme  mein  Lager  die  ganze  Nacht, 
Durchweiche  mein  Bett  mit  meinen  Tränen; 
Zernagt  ist  vor  Kummer  mein  Auge, 
Gealtert  infolge  aller  meiner  Dränger. 

Weichet  von  mir,  alle  Übeltäter! 

Denn  Jaho  hört  die  Stimme  meines  Weinens,^ 

Jaho  nimmt  mein  Gebet  an. 

Sehr  verstört  mögen  werden  alle  meine  Feinde, 

Sich  zurückwenden,  zuschanden  werden  im  Nu! 

a)  Var.:  Jaho  hört  mein  Flehen. 


Psalm  8. 

Lobpreis  Jahos  im  Hinblick  auf  Makro-  und  Mikro- 
kosmus: das  noch  lallende  Menschenkind,  vom  Welt- 
schöpfer so  unausdenkbar  hoch  begnadet,  begabt  und  be- 
vollmächtigt, als  ein  mächtiger  Zeuge  wider  die  Feinde 
Jahos. 

Jaho,  unser  Herr!  Wie  herrlich  ist 
Dein  Name  auf  der  ganzen  Erde! 

Du,  dessen  Glorie  die  Himmel  Überragt, 
Hast  durch  den  Mund  der  Kinder  und  Säuglinge 
Eine  Veste  gegründet  um  deiner  Gegner  willen. 
Zu  Ruhe  zu  bringen  Feind  und  Rachesüchtigen. ^ 

Wenn  ich  sehe  das  Werk  deiner  Finger, 
Mond  und  Sterne,  die  du  befestigt  — 
^Was  ist  der  Mensch,  daß  du  sein  gedenkest. 
Und  das  Menschenkind,  daß  du  seiner  achtest? 


Psuliii  6,  8,    II.  Qc 

'Ufui  ihn  nur  wenig  unteri^ötUich  machtest 
Und  mit  Majestät  und  Herrlichkeit  ihn  kröntest, 

'•Ihn  zum  Herrscher  machtest  über  die  Geschöpfe  deiner  Hand, 
A  lies  hast  du  unter  seine  Füße  getan:  ^ 

^Kleinvieh  und  Rinder  allzumal, 
Auch  die  Tiere  des  Feldes, 

Die  Vögel  des  Himmels  und  die  Fische  des  Meers, 
Die  dahinziehen  die  Straßen  des  Weltmeers. 

Jaho,  unser  Herr!  Wie  herrlich  ist 
Dein  Name  auf  der  ganzen  Erde! 

a)  Der  Sinu  dieser  Strophe  kann  nur  ein  ähnlicher  sein  wie  die  Aus- 
sage I  Kor  i":  Was  töricht  und  schwach  vor  der  Welt  ist,  hat  er  er- 
wählt, um  zuschanden  zu  machen  die  Weisen  und  was  stark  ist.  b)  Der 
klare  Wortsinn  der  Verse  5  f.  ist  von  (i)  (der  griechischen  Bibelüber- 
setzung) gründlich  mißverstanden  worden,  indem  sie  übersetzt  (ebenso 
Hebräerbrief  2 ''■'*);  „Was  ist  der  Mensch,  daß  du  sein  gedenkest?  oder 
des  Menschen  Sohn,  daß  du  sein  achtest  ?  du  hast  ihn  ein  kurzes 
neben  den  Engeln  erniedrigt,"  usw.  Man  sollte  eine  solche  Über- 
setzung des  hebräischen  Textes  nicht  für  möglich  halten,  und  für  noch 
unmöghcher  die  im  Hebräerbrief  2*  hieran  geknüpfte  Auslegung:  ,,Den 
aber,  der  ein  kurzes  neben  den  Engeln  erniedrigt  ist,  sehen  wir  in 
Jesus  um  des  Todesleidens  willen  mit  Herrlichkeit  und  Ehre  bekränzt, 
auf  daß  er  durch  Gottes  Gnade  für  jedermann  den  Tod  koste".  Daß 
diese  kaum  glaubliche  Mißdeutung  des  Urtextes  aber  bereits  zu  Jesu 
Zeit  synagogale  ÜberHeferung  war,  lehrt  Jesu  Selbstbezeichnung  als 
,, Menschensohn"  (s.  Anm.  14).  Vgl.  noch  i  Kor  15^7  mit  Bezug  auf 
Christus:  ,,Als  letzter  Feind  wird  der  Tod  vernichtet,  denn  (Ps8^'») 
er  hat  ihm  alles  unter  die  Füße  getan". 


Psalm  II. 

Klage    eines    Gerechten    über    Verfolgung   seitens    der 
Frevler  nebst  Verwünschung  der  letzteren. 

(Vgl.   zu  Ps  82.) 

In  Jaho  Hab'  ich  mich  geborgen  — 
Wie  mögt  ihr  sagen  zu  meiner  Seele: 
Flattre  nach  dem  Berg 
Wie  ein  Vogel! 


g5  Ausgewählte  Psalmen. 

Ja,  siehe!  die  Frevler 
Spannen  den  Bogen, 
Legen  ihren  Pfeil 
Auf  die  Sehne, 

Zu  schießen  aus  der  Finsternis 

Auf  die  rechtschaffnen  Herzens. 

Ja,  die  Fundamente  werden  niedergerissen, 

Der  Gerechte  —  was  hat  er  getan? 

Jaho,  in  seinem  Heiligtum, 
In  den  Himmeln  thronend  — 
Seine  Augen  schauen. 
Seine  Wimpern  prüfen, 

Jaho  prüft 

Gerechten  und  Frevler, 

Und  den,  der  Gewalttat  liebt. 

Hasset  seine  Seele. 

Er  regne  auf  die  Frevler 
Feurige  Kohlen  und  Schwefel, 
Und  Glutwind  sei 
Der  Teil  ihres  Becherst 

Denn  gerecht  ist  Jaho, 
Gerechtigkeit  lieht  er. 
Den  Rechtschaffnen  durchschauet 
Sein  Blick, 


Psalm  13. 

Gebet  um  endliche   Hilfe   in  Todesgefahr   durch   die 

persönlichen  Feinde. 

(Vgl.  Ps  6.) 

Wie  lange,  Jaho, 
Vergissest  du  mich  dauernd? 
Wie  lange  verbirgst  du 
Dein  Antlitz  vor  mir? 


Psuliu    II,    13,    15.  ^7 

Wie  lange  hege  ich 
Sorgen  in  meiner  Seele, 
Kummer  in  meinem  Herzen 
Bei  Tag  und  bei  Nacht? 

Wie  lange  soll  triumphieren 
Mein  Feind  über  mich? 
*  Siehe  doch,  erhöre  mich, 
Jaho,  mein  Gott! 

Erhalte  hell  meine  Augen, 
Daß  ich  nicht  Todes  entschlafe. 
Daß  nicht  sage  mein  Feind: 
Ich  habe  ihn  übermocht. 

Meine  Dränger  frohlocken. 
Daß  ich  zum  Wanken  gebracht  bin! 
*Ich  aber,  Jaho, 
Der  ich  auf  deine  Güte  traue  — 

Es  frohlocke  mein  Herz 
Ob  deiner  Hilfe, 
So  will  ich  Jaho  lobsingen, 
Dieweil  er  mir  Gutes  getan. 

Psalm  15. 

Die  zehn  Voraussetzungen  für  das  Bürgerrecht  auf  Zion . 

Jaho,  wer  darf  gasten  in  deinem  Zelte? 
Wer  wohnen  auf  deinem  heiligen  Berge? 
Wer  untadelig  wandelt  und  Recht  tut 
Und  Wahrheit  redet  aus  seinem  Herzen, 

Seinem  Mitmenschen  nicht  Böses  tut 

Und  Schmähung  nicht  ausspricht  wider  seinen  Nächsten,^ 

Mit  Verachtung  straft  den  Verworfenen, 

Aber  die  Jaho  Fürchtenden  ehrt. 

Sein  Geld  nicht  gegen  Wucher  gibt 
Und  Bestechung  wider  den  Unschuldigen  nicht  annimmt, 
Sich  zum  Nachteil  schwört  und  doch  nicht  ändert  — 
Wer  dieses  tut,  wird  in  Ewigkeit  nicht  wanken. 
a)  Var. :  wer  nicht  verleumden  geht  mit  seiner  Zunge. 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschung.     II  J 


q8  Ausgewählte   Psalmen . 

Psalm   19  A  (V.  2 — 7). 
Lobpreis  der  himmlischen   Wunderwerke   Jahos.     Ein 
Psalmfragment. 

Die  Himmel  erzählen  die  Majestät  Gottes, 
Und  das  Werk  seiner  Hände  verkündet  die  Himmelsveste; 
Ein  Tag  läßt  Rede  zukommen  dem  andern, 
Und  eine  Nacht  teilt  Wissen  mit  der  andern.^ 
^Über  die  ganze  Erde  ging  aus  ihre  Meßschnur, 
Und  bis  ans  Ende  des  Erdkreises  reicht  ihre  Ausdehnung}^ 
Dem  Sonnenball  hat  er  ein  Zelt  in  ihnen  gemacht. 
Und  der  geht  aus  wie  ein  Bräutigam  aus  seiner  Kammer, 
Freut  sich  wie  ein  Held  zu  laufen  die  Bahn. 
Vom  Ende  der  Himmel  ist  sein  Ausgang, 
Und  sein  Umlauf  erfolgt  über  ihre  Enden, 
Und  niemand  kann  sich  verbergen  vor  seiner  Hitze. 

a)  Randnote:  es  ist  nicht  Rede  und  sind  nicht  Worte,  unhörbar  ist 
ihre  Stimme,  b)  Diese  Übersetztmg  von  V.  5  wird  als  die  einzig  richtige 
durch  den  assyrischen  Sprachgebrauch  erwiesen.  Die  Übersetzung 
von  ®  und  Rom  10 1^:  ,,^s  ist  ihre  Stimme  ausgegangen  in  das  ganze 
Land  und  ihre  Worte  bis  zu  den  Enden  der  Welt"  ist  falsch.  Der  Apostel 
bezieht  den  Vers  auf  die  Kunde  von  Christi  Wort! 

Psalm  19  B  (V.  8—14). 
Lobpreis  der  Thora. 

Die  Thora  Jahos  ist  vollkommen, 

Seele  erquickend, 
Das  Gebot  Jahos  ist  verlässig, 

Den  Einfältigen  witzigend. 

Die  Vorschriften  Jahos  sind  recht. 

Herzerfreuend, 
Die  Satzung  Jahos  ist  lauter, 

Augen  erhellend. 

^"Die  Furcht  Jahos  ist  rein, 
Für  immer  bestehend, 
Die  Rechte  Jahos  sind  Wahrheit, 
Gerecht  allzumal, 


Psalm   lo,  24.  QQ 

Sie.  die  köstlicher  sind  als  Gold 

Und  viel  Feingold, 
Und  süßer  als  Honig 

Und  Honigseim. 

^'^Auch  dein  Knecht  wird  durch  sie  gewarnt. 
In  ihrer  Bewahrung  liegt  reicher  Lohn. 
Irrungen  —  wer  gewahrt  sie? 

Von  verborgenen  Sünden  halte  mich  frei! 

Auch  von  Aufbrausung  (?)  halte  zurück  deinen  Knecht, 

Sie  gewinne  nicht  über  mich  Herrschaft/ 
Dann  werde  ich  untadelig  sein  und  frei 
Von  viel  Frevel. 
Zusatz  V.  1 5 :   Mögen    wohlgefällig   sein   die  Worte   meines  Mundes 
und  das  Sinnen  meines  Herzens  vor  dir,   Jaho,  mein  Fels  und  mein 
Erlöser! 

Psalm  24. 
Festlied  beim  Einzug  in  den  Tempel  nach  errungenem  Siege. 

(Beim  Hinaufzug:    V.  i  f.  Chor  des  Festzugs,  V.  3 — 6  zwei  ab- 
wechselnde Stimmen.) 

^Jahos  ist  die  Erde  und  ihre  Fülle, 
Der  Erdkreis  und  seine  Bewohner.^ 
Denn  er  hat  über  dem  Ozean  sie  gegründet 
Und  über  Strömen  sie  gefestigt. 

^Wer  darf  hinaufsteigen  auf  den  Berg  JahosP 
Und  wer  stehen  an  seiner  heiligen  Stätte? 
Wer  rein  ist  an  Händen  und  lauteren  Herzens, 
Nicht  auf  Eitles  seinen  Sinn  richtet, 

Der  trägt  Segen  davon  von  Jaho 
Und  Rechtfertigung  von  dem  Gotte  seines  Heils. 
Das  ist  das  Geschlecht  derer,  die  nach  Jaho  fragen^ 
Die  das  Antlitz  des  Gottes  Jakobs  suchen. 

(Beim  Einzug:  Festzug  und  eine  Einzelstimme  abwechselnd.) 
'^Erhebet,  Tore,  eure  Häupter, 
Und  erhebt  euch,  ihr  ewigen  Pforten, 
Daß  der  majestätvolle  König  einziehe! 


'I(X)  Ausgewählte  Psalmen. 

Wer  ist  das,  der  majestätvolle  König? 
Jaho,  der  Starke  und  Held, 
Jaho,  der  Kriegsheld  I 

^Erhebet,  Tore,  eure  Häupter, 
Und  erhebt  euch,  ihr  ewigen  Pforten, 
Daß  der  majestätvolle  König  einziehe! 

Wer  ist  denn  das,  der  majestätvolle  König? 
Jaho   der  Kriegsscharen, 
Er  ist  der  majestätvolle  König/ 

a)  Für  den  von  Paulus  (i  Kor  lo^^f)   mit  dieser  Stelle   getriebenen 
Mißbrauch  s.  Anm.  i6  fin. 

Psalm  41. 

Gebet  auf  dem  Krankenlager. 

0  selig  Lied  an  den  Elenden: 

„Zur  Zeit  des  Unglücks  wird  Jaho  ihn  erretten, 

Jaho  wird  ihn  behüten  und  leben  lassen  auf  Erden, 

Und  du  wirst  ihn  nicht  geben  in  die  Gier  seiner  Feinde. 

Jaho  wird  ihn  stützen  auf  dem  Siechbett, 

Woran  immer  er  krank  liegt,  wendest  du". 

Ich  sprach:  Jaho,  sei  mir  gnädig. 

Heile  mein  Leben,  ich  habe  an  dir  gesündigt. 

Meine  Feinde  sprechen  schlecht  von  mir: 

„Wann  wird  er  sterben  und  zugrunde  gehen  sein  Name?" 

Und  wenn  einer  zu  Besuch  kommt,  ist  Falschheit  sein  Herz, 

Er  spickt  sich  mit  Unwahrheit,  geht  hinaus,  redet. 

Zusamt  tuscheln  wider  mich  alle  meine  Hasser, 
Ersinnen  Unglück  für  mich: 
„Etwas  ganz  Schlimmes  ist  ihm  angegossen, 
Und  wo  er  liegt,  steht  er  nicht  wieder  auf. 
^^Auch  mein  Intimus,  auf  den  ich  traute. 
Der  von  meinem  Brot  aß,  vermißt  sich  wider  mich  rücklings.^ 

Aber  du,  Jaho,  sei  mir  gnädig  und  lasse  mich  aufstehen, 

Daß  ich   ihnen   vergelte! 

Daran  erkenne  ich,  daß  du  mir  wohlwillst. 


Psalm  24,  41,  42/43.  lOI 

Daß  mein  Feind  nicht  über  mich  jauchzt, 

Du  aber  mich  festhältst  ob  meiner  Untadeligkeit 

Und  mich  stehen  lassest  vor  dir  auf  ewig. 

a)  Dies  die  sprachlich  allein  zulässige  Übersetzung  (s.  zu  higdtl  Ps  35** 
38^',  zu  'aqeb  „hinterrücks"  Gen  3i').  0):  ,,dcr  mein  Brot  ißt,  hat  große 
List  an  mir  verübt",  während  Joh  13I8  ebendiese  Worte,  frei  und  un- 
genau übersetzt:  ,,der  mit  mir  das  Brot  isset,  hat  seine  Ferse  wider 
mich  erhoben",  dazu  aus  ihrem  Zusammenhange  gelöst,  von  Jesus  auf 
den  Verrat  des  Judas  Ischarioth  bezogen  werden  (,,aber  es  soll  die 
Schrift  erfüllt  werden"). 


Psalm  42/43. 

Heimweh  nach  Zion.   Lied  auf  der  Reise  (zum  Teil  See- 
reise) zu  eigenem  Tröste  gesungen. 

Gleich  einer  Hindin,  die  schreiet 

Am  Ufer  von  Wasserrinnen^, 
So  schreiet  meine  Seele 

Zu  dir,  Jaho! 
Es  dürstet  meine  Seele  nach  Jaho, 
Nach  dem  lebendigen  Gott  — 
Wann  werde  ich  kommen  und  sehen 

Das  Antlitz  JahosP 
Meine  Tränen  waren  mir  Speise 

Bei  Tag  und  bei  Nacht, 
Da  man  immerfort  zu  mir  sagte: 

Wo  ist  dein  Gott? 
Daran  will  ich  denken  und  ausschütten 

Meine  Seele, 
Wenn  ich  mich  durch  die  sich  stauende  Menge  schriti- 

weis  bewege 

Bis  zum  Hause  Jahos, 
Unter  lautem  Jubel  und  Lobe  — 

Ein  festfeiernd  Getümmel. 

Was  bist  du  so  gebeugt,  meine  Seele, 

Und  was  so  unruhig  in  mir? 
Harre  auf  Jaho,  denn  noch  werde  ich  ihn  loben 

Als  meine^  Hilfe  und  meinen  Gott. 


102  Ausgewählte  Psalmen 

Gebeugt  in  meiner  Seele  — 

So  dachte  ich  dein 
Seit  dem  Jordanlande  und  Hermon, 

Seit  dem  Berge  Mis'ar  <=, 
Eine  Wassertiefe  ruft  die  andere 

Beim  Schall  deiner  Wasserstürze, 
Alle  deine  Brandungen  und  Wogen 

Gehen  hin  über  mich. 
Bei  Tag  bestellt  Jaho  seine  Güte, 

Und  bei  Nacht  ist  sein  Lied^  mein  Begleiter. 
Da  sage  ich  zu  Gott:  mein  Fels! 

Warum  hast  du  mich  vergessen? 
Warum  muß  ich  trauernd  wandeln 

Unter  Drangsalierung  des  Feindes? 
Meine  Gebeine  durchbohrend. 

Schmähen  mich  meine  Dränger, 
Da  sie  immerfort  zu  mir  sagen: 

Wo  ist  dein  Gott? 

Was  bist  du  so  gebeugt,  meine  Seele, 

Und  was  so  unruhig  in  mir? 
Harre  auf  Jaho,  denn  noch  werde  ich  ihn  loben 

Als  meine  Hilfe  und  meinen  Gott. 

Schaffe  mir  Recht,  Jaho,  und  führe  meinen  Streit/ 

Von  dem  unfrommen  Volke, 
Von  den  Leuten  des  Trugs  und  der  Ungerechtigkeit 

Mögest  du  mich  erretten! 
Ja,   du,  Gott  meiner  Zuflucht, 

Warum  hast  du  zornig  mich  verworfen? 
Warum  muß  ich  trauernd  einherwandeln 

Unter  Drangsalierung  des  Feindes? 
Sende  dein  Licht  und  deine  Wahrheit, 

Sie  mögen  mich  leiten, 
Mögen  mich  bringen  zu  deinem  heiligen  Berge 

Und  zu  deinen  Wohnungen, 
Daß  ich  komme  zum  Altar  Jahos, 

Zu  dem  Gott  meiner  Freude,^ 
Und  dich  lobe  auf  der  Zither, 

Jaho,  mein  Gott! 


Psalm  4-^/43.  45-  lOJ 

Was  bist  du  so  (gebeugt,  meine  Seele, 

Und  was  so  unruhig  in  mir? 
Harre  auf  Jaho,  denn  noch  werde  ich  ihn  loben 
Als  meine  Hilfe  und  meinen  Gott.* 
a)  Nämlich  ausgetrockneten,    b)  Wörtlich:  meine  persönliche  Hilfe, 
c) Wahrscheinlich  eine  letzte  Bergeshöhe,  von  der  der  Sänger  einen  Grufl 
nach  der  Heimat  senden  konnte,  bevor  er  sich  in  einem  phönikischen 
Hafenplatz  zu  einer  Seereise  einschiffte,    d)  Randnote:  das  Gebet  zu 
dem  Gotte  meines  Lebens,    e)  Var. :  meines  Frohlockens,    f)  Trotz  des 
gleichen  Kehrverses  ist  der  letzte  Dritteil  des  Psalms  als  ein  besonderer 
Psalm  (Ps  43)  im  hebräischen  Psalter  verselbständigt  und  vom  ersten 
und  zweiten  Drittel  (Ps  42)  losgerissen.  Ja,  (ij  läßt  sogar  diesen  vermeint- 
lichen Ps  43  von  David,  Ps  42  von  den  Söhnen  Qorachs  verfaßt  sein ! 

Psalm  45. 

Höfisches  Festlied  zu  Ehren  eines  Königs  nebst  könig- 
licher Familie. 

Vielleicht  zur  Wiederkehr  des  Thronbesteigungstages  bei 
gleichzeitiger  Aufnahme  einer  tyrischen  Prinzessin  in  den 
königüchen  Harem. 

Überquillt  mein  Herz 

Von  schöner  Rede. 

Ich  sage  mir: 

Mein  Tun  einem  König  zu  Ehren, 

Meine  Zunge  der  Griffel 

Eines  geschickten  Schreibers! 

^Weit  schöner  bist  du 
Als  die  Menschenkinder , 
Ausgegossen  ist  Anmut 
Auf  deine  Lippen  — 
Also  hat  dich  gesegnet 
Gott  in  Ewigkeit. 

Gürte  dein  Schwert 
An  die  Lende,  0  Held, 
In  deiner  Glorie  und  Pracht 
Fahre  siegreich  hindurch 
Um  der  Wahrheit  willen 
Und  .  .  .  der  Gerechtigkeit, 


104  Ausgewählte  Psalmen. 

Und  Furchtgebietendes  lasse  dich  sehen 

Deine  Rechte! 

Deine  Pfeile  geschärft, 

Die  Völker  dir  zu  Füßen, 

Entmutigt  werden 

Die  Feinde  des  Königs! 

''Dein  Thron  ist  göttlich, 

Immer  und  ewig. 

Ein  gerechtes  Zepter 

Dein  Herrschaftszepter. 
^Du  liehst  Gerechtigkeit 

Und  hassest  den  Frevel. 

Darob  hat  dich  gesalbt 
Jaho,  dein  Gott, 
Mit  Freudenöl 
Vor  deinen  Genossen. 
Myrrhe  und  Aloe^ 
Alle  deine  Gewänder. 

Aus  Elfenbeinpalaste 

Erfreuet  dich  Saitenspiel. 

Töchter  von  Königen 

Sind  deine  Kleinode. 

Die  Königin  zu  deiner  Rechten 

In  Feingold  aus  Ophir. 

Höre,  Tochter,  und  sieh 

Und  neige  dein  Ohr  • 

Und  vergiß  dein  Volk 

Und  dein  Vaterhaus, 

Und  läßt  sich  gelüsten 

Der  König  nach  deiner  Schönheit  — 

Denn  er  ist  dein  Herr  — , 
So  fall  vor  ihm  nieder. 
Und,  Tochter  von  Tyrus, 
Durch  Geschenk^ 
Laß  dich  begütigen 
Die  Reichen  des  Volks. 


Psalm  45.  49.  I05 

Drinnen  die  Tochter  des  Könif^s, 
In  goLddurchwirkten  Gewändern 
Wird  zum  König  gebracht, 
Jungfrauen  hinter  ihr  drein,^ 
Unter  Fröhlichkeit  und  Frohlocken 
Ziehen  sie  ein  in  des  Königs  Palast. 

An  Stelle  deiner  Väter '^ 

Treten  deine  Söhne, 

Du  machst  sie  zu  Fürsten 

Im  ganzen  Lande. 

Ich  will  rühmen  deinen  Namen 

In  jedem  Geschlecht  und  Geschlecht!  ^ 

a)  Var. :  Kassia.  b)  Randnote:  k'U  käböd  d.  i.  königliche  Gewänder 
und  Schmucksachen?  c)  Randnote:  ihre  Freundinnen  bzw.  Gespiehnnen 
werden  dir  zugebracht,  d)  Gemeint  die  Landes,, väter"  an  der  Spitze 
der  einzelnen  Provinzen  des  Landes,  e)  Var.:  die  Völker  mögen  dich 
loben  für  immer  imd  ewig! 

Der  Hebräerbrief  (i  ^ ' )  folgt  der  irrigen  targumischen  Übersetzung 
von  V.  3:  ,, Deine  Schönheit,  o  König  Messias,  ist  vorziighcher 
als  der  Menschenkinder",  und  läßt  dementsprechend  die  Worte  V.  7  i.: 
,, Dein  Thron,  o  Gott,  ist  für  alle  Ewigkeit"  usw.  zum  Messias  gesprochen 
sein!  ,,Die  Aufnahme  dieses  Psalms  in  den  Kanon  bliebe  ohne  die 
Voraussetzling  prophetisch-allegorischen  Sinnes  unerklärlich"  (Franz 
Dehtzsch). 

Psalm  49. 

Lebensweisheit:  rege  dich  nicht  auf  über  den  Reichen, 
denn  auch  er  muß  sterben  und  nimmt  seinen  Reichtum 
nicht  mit  ins  Grab. 

Höret  dies,  alle  Völker, 
Horchet,  alle  Bewohner  der  Zeitlichkeit, 
Sowohl  Menschenkinder  als  Herrensöhne, 
Zusamt  Reich  und  Dürftig! 

Mein  Mund  redet  Weisheitsfülle 

Und  das  Sinnen  meines  Herzens  ist  Fülle  von  Einsicht. 
'Ich  neige  zu  einem  Weisheitsspruch  meinen  Sinn, 
Erößne  unter  Zitherspiel  mein  Rätsel.'^ 


ir)5  Ausgewählte  Psalmen. 

Warum  soll  ich  mich  fürchten  in  bösen  Tagen, 
Da  die  Missetat  meiner  Nachsteller  mich  umringt, 
Die  vertrauen  auf  ihr  Vermögen 
Und  der  Menge  ihres  Reichtums  sich  rühmen? 

Loskaufen  kann  sich  keiner, 
Noch  Jaho  sein  Sühngeld  geben, 
^Zu  teuer  ist  der  Loskauf  seines  Lebens, 
Sodaß  er  davon  absteht  für  ewig. 

Und  lebte  einer  dauernd  für  immer, 
Nicht  sehend  das  Verderben, 
Fürwahr,  er  wird  die  Weisen  sterben  sehen, 
Zusamt  Tor  und  Dummen  zugrunde  gehen, 

Und  sie  lassen  anderen  ihr  Vermögen. 
^^Ihr  Grab  xv erden  ihre  Häuser  für  ewig, 
Ihre  Wohnungen  auf  Geschlecht  und  Geschlecht, "^ 
Nur  Erdschollen  nennen  sie  ihr  eigen. ^ 

Der  Mensch  trotz  seiner  Ehrung  ^  hat  nicht  seines  Bleibens, 
Er  wird  gleichgemacht  dem  Vieh,  das  man  umbringt.^ 

Das  ist  der  Weg  der  mit  Torheit  Begabten 
Und  an  deren  Mund  andere  Gefallen  finden  — 
Wie  Kleinvieh  müssen  sie  hinein  in  die  Unterwelt, 
Während  der  Tod  als  Hirte  sie  leitet. 

Und  fahren  schnurstracks  hinab, 
Ehestens  ist  ihre  Gestalt  zu  verfallen  bestimmt. 
^^Indes  wird  Jaho  meine  Seele  loskaufen. 
Aus  der  Gewalt  der  Unterwelt  fürwahr  wird  er  mich  holen. 

Fürchte  nicht,  wenn  reich  wird  ein  Mann, 
Wenn  groß  wird  der  Reichtum  seines  Hauses, 
Denn  nicht  nimmt  er  hei  seinem  Tod  das  Ganze  mit. 
Nicht  folgt  ihm  hinunter  sein  Reichtum. 

Mag  er  sich  beglückwünschen  bei  Lebzeiten, 

Und  mag  man  dich  loben,  daß  .du  dir's  wohl  sein  läßt  — 

Er  kommt  doch  zum  Geschlecht  seiner  Väter, 

Sieht  auf  ewig  nicht  mehr  das  Licht. 


Psalm  40,   54,  66  C-  I07 

Der  Mensch  trotz  seiner  Ehrung  hat  nicht  seines  Bleibens, 
Er  wird  gleichgemacht  dem  Vieh,  das  man  umbringt* 

a)  Mein  Philosophem.  b)  Die  Worte  erinnern  an  die  babylonisch- 
assyrisclie  Sitte,  die  Verstorbenen  im  eigenen  Hause  zu  begraben. 
c)  Wörtlich:  sie  rufen  ihren  Namen  aus  über  Erdschollen,  d)  Bezug 
nähme  auf  Gedanken  wie  jene  von  Ps  8  ?  c)  Ob  dieser  Kehrvers  auch 
hinter  den  V^ersen  5,  g,  und  16  wiederholt  sein  müßte? 


Psalm  54. 
Gebet  gegen  persönliche  Nachsteller  und  Dank  für  Hilfe. 

Jaho,  kraft  deines  Namens  errette  mich, 
Und  kraft  deiner  Stärke  schaffe  mir  Recht! 
Jaho,  erhöre  mein  Gehet, 
Horche  auf  die  Worte  meines  Mundes! 

^Denn  Frechlinge  stehen  wider  mich  auf. 
Und  Gewalttäter  trachten  mir  nach  dem  Leben, 
Halten  sich  Jaho  nicht  vor  Augen.^ 

^ Siehe!   Jaho  ist  mein  Helfer, 
Der  Herr  stützet  mein  Lehen. 
Er  wende  das  Böse  zurück  auf  meine  Gegner, 
Kraft  deiner  Treue,  Jaho,  vernichte  sie! 

So  will  ich  in  Freigebigkeit  dir  opfern. 
Deinen  Namen  lohen,  dieweil  er  freundlich. 
Denn  aus  aller  Not  hat  er  mich  befreit, 
Und  an  meinen  Feinden  labt  sich  mein  Auge. 

a)  V.  5  ziemlich  =  86". 


Psalm  66  C  (V.  13 — 20). 
Beim  Abtragen  eines  Gelübdes  im  Tempel. 

Ich  komme  in  dein  Haus  mit  Brandopfern, 

Bezahlend  meine  Gelübde, 
Zu  denen  sich  auftaten  meine  Lippen, 

Und  die  mein  Mund  geredet,  als  ich  in  Not  war. 


jQg  Ausgewählte  Psalmen. 

Brandopfer  von  Schafböckchen  bringe  ich  dir  dar 

Nebst  Rauchwerk  von  Widdern, 
Ich  opfere  dir  Rinder 

Nebst  Ziegenböcken. 

Wohlan/  Höret  und  laßt  mich  erzählen, 

Alle  Jaho-Fürchf enden/ 
Was  er  getan  hat  meiner  Seele, 

[Laßt  mich  euch  künden?] 

Zu  ihm  rief  ich  mit  meinem  Munde, 
Redlichkeit  (?)  unter  meiner  Zunge. 

Hätte  ich  Falschheit  gehegt  in  meinem  Herzen, 
Hätte  der  Herr  nicht  gehört. 

Aber  Jaho  hat  gehört. 

Hat  gemerkt  auf  die  Stimme  meines  Gebets. 
Gepriesen  sei  Jaho,  der  nicht  entfernt  hat 

Seine  Güte  von  mir/ 


Psalm  67. 

Dreifacher  Segen  über  Israel,  damit  alle  Völker  Jahos 
gerechtes  Walten  erkennen  und  Jaho  loben  und  fürchten. 
Ein  Bmtefestlied. 

Jaho  sei  uns  gnädig  und  segne  uns. 

Er  blicke  freundlich  nach  uns  hin. 

Daß  erkannt  werde  auf  Erden  dein  Walten, 

Unter  allen  Völkern  deine  Hilfe.^ 

Es  mögen  die  Völker  dich,  Jaho,  loben, 
Dich  loben  die  Völker  insgesamt/ 

Es  mögen  fröhlich  sein  und  jubeln  die  Nationen, 
Daß  du  den  Erdkreis  richtest  mit  Recht,^ 
Die  Völker  mit  Gerechtigkeit  richtest 
Und  die  Nationen  auf  Erden  leitest. 

Es  mögen  die  Völker  dich,  Jaho,  loben. 
Dich  loben  die  Völker  insgesamt/ 


Psalm  66  C,  67,  70,  73.  lOQ 

Die  Erde  hat  gegeben  ihren  Ertrag. 

Es  segne  uns  Jaho,  unser  Gott! 

Es  segne  uns  Jaho,  unser  Gott! 

Und  fürchten  mögen  ihn  alle  Enden  der  Erde! 

Es  mögen  die  Völker  dich,  Jaho,  loben, 
Dich  loben  die  Völker  insgesamt!^ 

a)  Die  Hilfe,  die  Jaho  je  und  je  seinem  Volke  erwiesen  hat.  b)  Ge- 
meint ist  das  „gerechte"  Strafgericht,  das  Jaho  an  den  Israel  feind- 
lichen Völkern  vollzieht,  siehe  Ps  96^  97^  98'.  c)  Im  hebräischen  Text 
fehlt  dieser  Kehrvers. 

Psalm  70. 
Gebet  gegen  lebenbedrohende  persönliche  Feinde.   (Auch 
dem  Psalm  40  als  Schluß  angefügt.) 

Laß  dir's  gefallen,  Jaho,  mich  zu  befreien, 

Eile  mir  zu  Hilfe! 
Beschämt  und  zuschanden  mögen  zusamt  werden, 

Die  nach  dem  Leben  mir  trachten. 

Zurückgewendet  und  mit  Schimpf  bedeckt  werden, 

Die  Lust  haben  an  meinem  Unglück, 
Es  mögen  mit  Schande  Kehrum  machen. 

Die  sagen:  ha!  ha! 

Es  mögen  in  dir  sich  freuen  und  fröhlich  sein 

Alle,  die  dich  suchen. 
Und  beständig  sagen:  Groß  ist  Jaho, 

Die  deine  Hilfe  lieben! 

Mir  aber,  der  elend  und  dürftig, 

Jaho,  eile  mir  zu! 
Meine  Hilfe  und  mein  Retter  bist  du, 

Jaho,  verzieh  nicht! 

Psalm  73. 
Der  Frevler  Glück,  aber  Ende  mit  Schrecken,  dagegen 
des  Frommen  Trost  seine  den  Tod  überdauernde  Gemein- 
schaft mit  Jaho. 


jjO  Ausgewählte  Psalmen. 

Eitel  gütig  zum  Rechtschaffenen  ist  Gott, 

Jaho  zu  denen  reinen  Herzens, 

Und  doch  wären  um  ein  Haar  zu  Fall  gekommen  meine  Füße,. 

Wie  nichts  hingeglitten  meine  Schritte, 

Da  ich  mich  ereiferte  wider  die,  die  es  toll  treiben, 
Sehend  die  Wohlfahrt  der  Frevler: 
Denn  keine  Beschwerden  haben  sie, 
Gesund  und  feist  ist  ihr  Wanst, 

In  irdischer  Mühsal  sind  sie  nicht, 

Und  gleich  dem  Menschen  werden  sie  nicht  betroffen^ 

Darum  ist  Hochmut  ihr  Halsschmuck, 

Gewalttat  das  Kleid,  das  sie  einhüllt. 

Es  tritt  aus  dem  Fette  ihr  Auge, 
Es  strömen  über  die  Gebilde  ihres  Herzens. 
Sie  höhnen  und  führen  schlechte  Reden, 
Bedrückung  reden  sie  von  oben  herab, 

Sie  legen  an  den  Himmel  ihr  Maul, 
Während  ihre  Zunge  auf  der  Erde  sich  breit  macht, 
^^ Darum  haben  sie  Lobredner  genug  (?), 
Und  wird  kein  Makel  an  ihnen  gefunden.^ 

Und  sie  sagen:  wie  sollte  Gott  wissen, 
Und  Wissen  eignen  dem  Höchsten? 
Siehe!  so  sind  die  Frevler, 
Und  die  ewig  Sorglosen  wachsen  an  Macht. 

^^Rein  umsonst  erhielt  ich  lauter  mein  Herz 
Und  wusch  in  Unschuld  meine  Hände, 
Und  ward  immerfort  geschlagen 
Und  Züchtigung  ward  mir  allmor gentlich. 

Wenn  ich  dachte:  ich  will  demgemäß  erzählen. 

Die  Generation  meiner  Söhne  (?) ^ 

Und  will  trachten  dies  zu  verstehen, 
So  schien  dies  mir  Mühsal, 

^'^Bis  ich  Eingang  fand  in  die  Geheimnisse  Gottes, 
Acht  gab  auf  ihr  Ende. 
Nur  auf  Glatteis  stellst  du  sie. 
Lassest  zu  Ruinen  sie  hinfallen. 


Psalm   7.^,  80.  III 

Wie  werden  nie  im  Nu  zum  Entsetzen, 
Nehmen  sie  ein  Ende  mit  Schrecken! 
Gleich  Träumen  nach  Erwachen  sind  sie. 
Deren  Gebild  du  im  Wachsein  verachtest. 

Fürwahr,  es  ward  mit  Herbheit  mein  Herz  erfüllt 
Und  ich  ward  gereizt  in  meinen  Nieren, 
Da  ich  ein  unverstätidiger  Dummkopf, 
Ein  Erzvieh '^  war  in  deinen  Augen. 

^^Bin  ich  doch  beständig  bei  dir, 
Hältst  du  doch  meine  Rechte, 
Leitest  mich  in  deinem  Rate 
Und  nimmst  mich  schließlich  in  Ehren  zu  dir. 

'^^Wen  habe  ich  im  Himmel  [außer  dir]? 

Und  neben  (?)  dir  habe  ich  kein  Gefallen  auf  Erden. 
^^ Schwindet  mein  Fleisch  und  mein  Herz, 

So  bleibt  Jaho  mein  Teil  auf  ewig. 

Ja  siehe!  die  dir  Fernen  gehen  zugrunde. 
Du  vertilgst  jeden,  der  von  dir  weghurt. 
Aber  mir  ist  wohl  in  Jahos  Nähe, 
Ich  habe  im  Herrn  meine  Zuflucht. 

a)  Die  Übersetzung  von   V.  10  ist  ganz  unsicher,    b)  Noch  unüber- 
setzbar,   c)  Das  nämliche  Wort  bezeichnet  auch  das  Rhinozeros. 


Psalm  80. 
Gebet  zu  Jaho,  seinem  Volke  Israel  in  schwerer  feind- 
licher Bedrängnis  zu  helfen. 

Hirte  Israels,  horche! 

Der  du  Joseph  leitest  wie  Kleinvieh, 

Auf  Kerubim  thronest,  strahle  auf 

Vor  Ephraim  her  und  Manasse, 

Erwecke  deine  Kraft 

Und  komm  uns  zu  Hilfe! 

*Jaho  Zebaoth,  bring  uns  wieder  zurecht 
Und  blicke  freundlich,  daß  wir  errettet  werden! 


112  Ausgewählte  Psalmen. 

'^Jaho  Zehaoth,  wie  lange 

Rauchst  du  trotz  Gebets  deines  Volkes? 

Du  speistest  uns  mit  Tränenbrot 

Und  tränkiest  uns  kannenweise  mit  Tränen, 

Machtest  uns  zum  Kopfschütteln  unsern  Nachbarn, 

Und  unsere  Feinde  spotten  unser. 

^Jaho  Zebaoth,  bring  uns  wieder  zurecht 

Und  blicke  freundlich,  daß  wir  errettet  werden! 

Einen  Weinstock  rissest  du  los  aus  Ägypten, 
Vertriebest  Völker  und  pflanztest  ihn, 
Du  schufest  Bahn  für  seine  Wurzeln 
Und  er  wurzelte  ein  und  füllte  die  Erde, 
Berge  wurden  bedeckt  von  seinem  Schatten 
Und  von  seinen  Ästen  die  Zedern  Gottes. 

Jaho  Zebaoth,  bring  uns  wieder  zurecht 

Und  blicke  freundlich,  daß  wir  errettet  werden!^ 

Er  entsandte  seine  Zweige  zum  Meer^ 
Und  zum  Euphrat  seine  Schößlinge  ^  — 
Warum  rissest  du  ein  seine  Mauern, 
Daß  ihn  berupften  alle  Vorbeigehenden, 
Ihn  abfraß  das  Schwein  aus  dem  Walde 
Und  das  Getier  des  Feldes  ihn  abweidete? 

^^Jaho  Zebaoth,  bring  uns  wieder  zurecht 
Und  blicke  freundlich,  daß  wir  errettet  werden! »^ 

Schaue  vom  Himmel  und  siehe 

Und  hege,  was  gepflanzt  deine  Rechte. 

Die  ihn  mit  Feuer  verbrannten,  wegkehrten, 

Mögen  zugrunde  gehen  vor  dem  Dräuen  deines  Blickes! 

Es  ruhe  deine  Hand  auf  dem  Mann  deiner  Rechten 

Und  auf  dem  Sohn,  den  du  dir  auf  erzogen  (?)! 

Jaho  Zebaoth,  bring  uns  wieder  zurecht 

Und  blicke  freundlich,  daß  wir  errettet  werden! 

a)  Kehrvers  fehlt   hier,   während  er  in    V.  15   nur   angedeutet  ist. 
b)  Siehe  hierfür  Teil  I,  S.  37  ff. 


Psalin  80,  82J  II  ^ 

Psalm  82. 

Wider  eine  ungerechte  Richterbehörde,  Jaho  selbst  in 
den  Mund  gelegt. 

Jaho  steht  da  in  göttlicher'^  Versammlung, 
Inmitten  von  Göttern'^  zu  richten: 
,,Wie  lange  werdet  ihr  ungerecht  richten 
Und  die  Partei  der  Frevler  nehmen? 

Schaffet  Recht  dem  Niedrigen  und  der  Waise, 
Elenden  und  Armen  sprechet  frei! 
Laßt  entrinnen  Niedrigen  und  Dürftigen. 
Aus  der  Hand  der  Frevler  befreit  ihn!" 

Sie  haben  kein  Wissen  und  keine  Einsicht, 
In  Finsternis  wandeln  sie, 
Demzufolge  kommen  ins  Wanken 
Alle  Grundvesten  des  Landes. 

^Ich  dachte:  Götter  wärt  ihr 
Und  Höchstensöhne^  allzumal, 
Indes  gleich  einem  Menschen  werdet  ihr  sterben, 
Und  wie  irgendeiner  der  Großen  hinfallen  s 

Zusatz  V.  8:  Auf!  Jaho,  richte  die  Erde,  denn  du  bist  Eigentümer 
aller  Völker. 

a)  Sarkastisch,  b)  ..Höchstensöhne"  =  Gottessöhne  =  Götter,  bildlich 
von  Richtern,  die  sich  göttliche  Würde  und  Autorität  anmaßen.  Beachte 
Joh  IG 33«-:  ,, Antworteten  Jesu  die  Juden:  wir  steinigen  dich  wegen 
Lästening  und  weil  du,  der  du  ein  Mensch  bist,  dich  zu  Gott  machst. 
Antwortete  ihnen  J  esus :  Steht  nicht  geschrieben  in  eurem  Gesetz  (gemeint 
ist  Ps  82  ^)  :  Ich  habe  gesagt :  Götter  seid  ihr  ?  Wenn  er  jene  Götter  nannte, 
an  welche  das  Wort  Gottes  kam  —  und  die  Schrift  darf  nicht  gelöst 
werden — ,  könnt  ihr  zu  dem,  den  der  Vater  geheiligt  und  in  die  Welt 
gesandt  hat,  sagen:  du  lästerst,  weil  ich  gesagt  habe,  ich  bin  Gottes 
Sohn?"  Also  auch  Jesus  woUte  seine  Selbstbezeichnung  als  , .Gottes- 
sohn" bildlich  aufgefaßt  sehen,  c)  Gleich  vielen  andern  Psalmen 
(11,  X2,  13,  58  usw.)  zeigt  dieser  Psalm,  daß  auch  im  nachexilischen 
Juda  die  nämhchen  an  Anarchie  grenzenden  Zustände  herrschten  wie 
in  den  vorexilischen  israehtischen  ,, Reichen". 

Delitzsch,  Die  grosse  Täuschnng.     II  8 


IIA  Ausgewählte  Psalmen. 

Psalm  90  (V.  I — 12). 
Pessimistische  Betrachtimg  über  das  rasche  Vergehen 
der  menschUchen  Generationen  wie  des  einzelnen  Menschen 
als  eine  Folge  des  furchtbaren  Zornes  des  ewigen  Gottes 
ob  der  menschlichen  Sündhaftigkeit. 

Herr!  eine  Veste  bist  du 

Uns  gewesen  in  Geschlecht  und  Geschlecht. 

Ehe  die  Berge  geboren  wurden 

Und  hervorgebracht  ward  die  Erde,  bist  du  Gott. 

Du  bringst  den  Sterblichen  zur  Strecke 

Und  sprichst:  Kehrt  zurück,  Menschenkinder ! 

Denn  tausend  Jahre  erscheinen  dir 

Wie  ein  gestriger  Tag  und  eine  Nachtwache. 

Du  säest  (?)  sie  jahraus,  jahrein, 

Sie  sind  wie  nachwachsend  Gras, 

Am  Morgen  blüht  es  und  wächst. 

Am  Abend  wird  es  abgekuppt  und  verdorret. 

'Ja,  alle  unsere  Tage  schwanden  in  deinem  Grimm, 
Wir  endeten  unsere  Jahre  wie  einen  Gedanken.^ 

^Du  stelltest  unsere  Missetaten  vor  dich. 
Unsere  verborgenen  Fehler  in  die  Beleuchtung  deines 

A  ngesichts. 

^^Die  Zahl  unserer  Jahre  sind  siebzig  Jahre, 
Und  wenn's  gar  groß  ist,  achtzig  Jahre, 
Und  ungewöhnlich  lang,  sind  sie  Mühsal  für  nichts. 
Denn  eilends  geht's  vorüber,  sind  wir  verflogen. 

Wer  ermisset  die  Stärke  deines  Zorns, 
Und  wer  wird  inne  (?)  die  Wucht  (?)  deines  Grimms? 
^2  Unsere  Tage  zu  zählen  —  solches  laß  erkennen, 
Daß  wir  davontragen  ein  Herz  der  Weisheit.^ 

a)  Obige  Übersetzung  ist  der  Wortlaut  von  V.  9,  vielleicht  einer 
Var.  zu  V.  7:  Ja,  wir  nahmen  ein  Ende  durch  deinen  Zorn  und  wurden 
verstört  durch  deinen  Grimm,  b)  Sehr  zu  Unrecht  ist  mit  diesem 
pessimistischen  Psahn  das  kleine  Lied  V.  13 — 17  verbunden  worden, 
welches  ganz  andern  Seelenstimmungen  Ausdruck  verleiht.  Es  lautet: 
,, Wende  dich  wieder  zu,  Jaho,  ach  endlich  1  Und  habe  Mitleid  mit 
deinen  Knechten !  Sättige  uns  ehestens  mit  deiner  Güte,  Daß  wir  jubeln 


Psalm  90,  96.  115 

(Var.  fröhlich  seien)  während  all  unserer  Tage.  Erfreue  uns  gleich  den 
Tagen,  da  du  uns  niederdrücktest.  Den  Jahren,  da  wir  Unglück  erlebten. 
Es  werde  offenbar  deinen  Knechten  dein  Tun,  Und  deine  Herrüchkeit 
ihren  Kindern,  Und  die  Huld  Jahos  ruhe  auf  uns.  Und  gib  Bestand  dem 
Werk  unserer  Hände!" 

Psalm  96. 
Im  Siegesjubel :  Jaho,  der  Gott  Israels,  König  über  alle 
Götter  und  Völker. 

(=  I  ehr  i623-33^   vyie  Ps  105  »-i»  =  i  Chr  168-22.) 

Singet  Jaho  ein  neues  Lied,^ 
Singet  Jaho,  alle  Erdbewohner ! 
Singet  Jaho,  preiset  seinen  Namen, 
Verkündet  von  Tag  zu  Tag  seine  Hilfe/ ^ 
Erzählt  unter  den  Völkern  seine  Majestät, 
Unter  allen  Völkern  seine  Wundertaten/ 

Denn  groß  ist  Jaho  und  sehr  rühmenswert, 
Zu  fürchten  ist  er  über  allen  Göttern. 
Denn  alle  Götter  der  Völker  sind  Nichtse, 
Während  Jaho  die  Himmel  geschaffen.*^ 
Glorie  und  Herrlichkeit  sind  vor  ihm  her, 
Macht  und  Pracht  in  seinem  Heiligtum. 

Gebet  Jaho,  ihr  Geschlechter  der  Völker, 

Gebet  Jaho  Majestät  und  Macht, 

Gebet  Jaho  die  Majestät  seines  Namens, 

Bringt  ein  Speiseopfer  und  kommt  in  seine  Höfe, 

Fallet  nieder  vor  Jaho  in  heiligem  Schmuck, 

Zittert  vor  ihm,  alle  Erdbewohner/ 

^^Sagt  unter  den  Völkern:  Jaho  ward  König/ 
'^^Es  freue  sich  der  Himmel  und  frohlocke  die  Erde,*^ 
Es  jauchze  das  Feld  und  alles  was  auf  ihm, 
Auch  alle  Bäume  des  Waldes  mögen  jubelnd 
^^Jaho  begrüßen,  da  er  gekommen  zu  richten 
Den  Erdkreis  mit  Recht  und  die  Völker  mit  seiner  Wahrhaftigkeit. 

a)  Vgl.  Jes  421°.  b)  Durch  Verleihung  des  Sieges,  c)  Eine  naive 
Begründung,  wenn  man  bedenkt,  daß  Propheten  und  Psalmisten 
(siehe  Babel  und  Bibel  I)  Marduks  Schöpfungstat  auf  Jaho  übertragen 
haben,  d)  Die  Verse  10  und  11,  zum  Teil  auch  13,  sind  mit  Zitaten  atis 
Ps  93I  98 '-9  überladen. 

Delitzsch,  Die     rosse  Täuschung.     II  8* 


II 6  Ausgewählte  Psalmen. 

Psalm  100. 
Aufruf  an  alle  Erdbewohner  zu  Jahos  Lobpreis  und  Ver- 
ehrung ob  der  seinem  Volke  erwiesenen  Güte  und  Treue. 

(Vgl.  Pss  67,   117.) 

Jauchzet  Jaho,  alle  Erdbewohner , 
Dienet  Jaho  mit  Fröhlichkeit, 
Kommet  vor  ihn  mit  Jubel! 

Erkennet,  daß  Jaho  Gott  ist: 

Er  hat  uns  gemacht  und  sein  sind  wir , 

Sein  Volk  und  das  Kleinvieh  seiner  Weide. 

Kommt  in  seine  Tore  mit  Loben, 
In  seine  Höfe  mit  Rühmen, 
Lobet  ihn,  preiset  seinen  Namen! 

Denn  freundlich  ist  Jaho, 

Denn  ewig  währt  seine  Güte 

Und  auf  Geschlecht  und  Geschlecht  seine  Treue. 

Psalm  103. 
IvObpreis  Jahos  als  des  Gnädigen  und  Gerechten.^ 

Preise,  meine  Seele,  Jaho, 

Und  alles,  was  in  mir  ist,  seinen  heiligen  Namen! 

Preise,  meine  Seele,  Jaho, 

Und  vergiß  nicht  alle  seine  Wohltaten: 

Der  alle  deine  Missetat  vergibt. 

Der  alle  deine  Gebrechen  heilet. 

Der  dein  Leben  vom  Verderben  erlöst, 

Der  dich  umgibt  mit  Güte  und  Barmherzigkeit. 

Der  dich  mit  Gutem,  so  viel  du  bedarfst  (?),  sättigt. 
Daß  sich  adlergleich  deine  Jugend  erneuert. 
Gerechtigkeit  tut  Jaho 
Und  Recht  allen  Bedrückten. 

''Er  ließ  Mose  seine  Wege  wissen. 

Die  Kinder  Israel  seine  Taten. 
^Barmherzig  und  gnädig  ist  Jaho, 

Langmütig  und  groß  an  Güte. 


Psalm    iO(i,    loj.  117 

Er  wird  nicht  dauernd  hadern 

Und  nicht  ewiglich  grollen. 

Nicht  nach  unser n  Sündin  tut  er 

Und  nicht  nach  unsern  Missetaten  vergilt  er, 

Sondern  so  hoch  der  Himmel  über  der  Erde, 
Ist  hoch  seine  Güte  über  die,  die  ihn  fürchten. 
So  fern  der  Osten  ist  vom  Westen, 
Läßt  er  fern  von  uns  sein  unsere  Frevel.^ 

Wie  sich  ein  Vater  über  Kinder  erbarmt, 
Erbarmt  sich  Jaho  über  die,  die  ihn  fürchten, 
Denn  er  kennt  unser  Gebilde, 
Ist  eingedenk,  daß  wir  Staub  sind. 

^^Der  Mensch  —  gleich  dem  Gras  ist  seine  Lebenszeit, 

Gleich  der  Blume  des  Feldes,  so  blüht  er. 
^*'Wenn  der  Wind  an  sie  streift,  so  ist  sie  nicht  mehr,'^ 

Und  nicht  erkennt  sie  m,ehr  ihre  Stätte.^ 

Abel"  die  Güte  Jahos  ruht  auf  denen,  die  ihn  fürchten, 
Und  seine  Gerechtigkeit  auf  Kindeskinder, 
Die  auf  die  Stimme  seines  Wortes  hören  ^ 
Und  seiner  Vorschriften  gedenken,  sie  zu  tun. 

Jaho  —  im  Himmel  ist  sein  Thron, 
Und  sein  Königtum  herrscht  über  alles. 
-"Preiset  Jaho,  seine  Engel, 
Ihr  starken  Helden,  die  ihr  sein  Wort  tut! 

Preiset  Jaho,  alle  seine  Heerscharen, 
Seine  Dinner,  die  ihr  seinen  Willen  tut! 
"Preiset  Jaho,  alle  seine  Geschöpfe 
An  allen  Orten  seiner  Herrschaft! 

Liturgischer  Zusatz  V.  22c :  Preise,  meine  Seele,  Jaho! 

a)  Trotz  seiner  aramäischen  Wortformen  und  seiner  Zitate  aus 
Deuterojesaia  und  lob  trägt  der  Psalm  die  Überschrift :  ,, Von  David", 
b)  Und  deren  Bestrafung.  Widerspruch  zu  Ps  90.  c)  Grundstelle  zu 
V.  15,  16^  ist  Jes  40«.  d)  Zitat  aus  lob  7"  („sie"  Akt.,  „ihre  Stätte" 
Nom.).      e)   Bessere  Var.   als:  „die  bewahren  seinen  Bund". 


Il8  Ausgewählte  Psalmen. 

Psalm  HO  (V.  i — 4). 

Orakelspnich  an  Simon,  den  Makkabäer,  als  den  Hohen- 
priester und  Führer  seines  Volks. 

Spruch  Jahos  an  meinen  Herrn: 
^  Setze  dich  zu  meiner  Rechten, 
Bis  daß  ich  mache  deine  Feinde 
Zum  Schemel  deinen  Füßen. 

"^Deinen  Siegesstab  wird  ausstrecken 

Jaho  aus  Zion: 
[Wohlan!]  herrsche 
Inmitten  deiner  Feinde! 

^Dein  Volk  ist  ganz  Freiwilligkeit 
An  deinem  Heertag. 
In  heiligem  Schmuck  aus  dem  Schöße  des  Morgenrots 
Perlt  der  Tau  deiner  jungen  Mannschaft. 

*  Geschworen  hat  Jaho  .^.  , 

Und  wird's  nicht  bereuen: 
Du  bist  Priester  für  ewig 

Nach  der  Weise  Melchizedeks. 

Diese  vier  Verse,  deren  Anfangsbuchstaben  den  Namen  Simon  er- 
geben, bilden  eine  zusammengehörige  Einheit,  während  die  anschließen- 
den Verse  5 — 7  ein  anderes  Orakel  aus  ebenjener  Zeit  enthalten.  Für 
den  Gebrauch,  den  Jesus  von  diesem  David  zugeschriebenen  Psalm 
machte,  siehe  oben  S.  68.  Als  Spruch  Jahos  an  den  Messias  ist  der 
Psalm  auch  gefaßt  Acta  2^^,  Hebr  i",  i  Kor  1520  ff.  —  Zum  histo- 
rischen Verständnis  des  Psalms  siehe  i  Makk  1431-47. 

Psalm  117. 
Aufruf  an  alle  Völker  zu  Jahos  Lobpreis  ob  der  seinem 
Volke  erwiesenen  Güte  und  Treue. 

(Vgl.  VSS67,  ;IOo.) 

Halleluja! 
Rühmet  Jaho,  alle  Völker, 
Lobpreiset  ihn,  alle  Nationen, 
^Denn  mächtig  ist  über  uns  seine  Güte 
Und  die  Treue  Jahos  währet  ewiglich. 
Halleluja! 
Zum.  Inhalt  des  Psalms  siehe  bereits  Teil  I,  8.  73. 


Psaliu   HO,   117,   118.  IIC^ 

Psalm   118. 
Festliturgie  bei  der  Rückkehr  des  jüdischen  Heeres  von 
einem  siegreichen  Feldzuge. 

(Chorfülirer  und  Chor  beim  Aufbruch  des  Festzugs.) 

Lohet  Jaho,  denn  er  ist  freundlich  — 

Fürwahr,  ewig  währt  seine  Güte; 
Spreche  doch  Israel  — 

Fürwahr,  ewig  währt  seine  Güte; 
Spreche  doch  das  Haus  Aarons  — 

Fürwahr,  ewig  währt  seine  Güte; 
Mögen  doch  sprechen  die  Jaho  Fürchtenden  — 

Fürwahr,  ewig  währt  seine  Güte. 

(Während  des  Festzugs:  V.  5 — 18.) 
^Aus  der  Drangsal  rief  ich  Jah, 
Es  erhörte  mich  Jah  mit  weitem  Plan.  — 
Ist  Jaho  für  mich,  fürchte  ich  mich  nicht, 
Was  könnte  mir  tun  ein  Mensch?  — 
Ist  Jaho  unter  meinen  Helfern, 

So  werde  ich  meine  Lust  sehen  an  meinen  Hassern.  — 
Besser  Zuflucht  zu  suchen  hei  Jaho 
Als  zu  vertrauen  auf  Menschen; 
Besser  Zuflucht  zu  suchen  hei  Jaho 
Als  zu  trauen  auf  Vornehme.  — 

(V.  10 — 12:  Gesänge  der  im  Festzug  mitziehenden  Soldaten.) 
^"Alle  Völker  hatten  mich  umringt  — 

In  Jahos  Namen  fürwahr  werd'  ich  sie  kuppen.'^  — 
^^Sie  hatten  mich  umringt,  ja  umringt  — 

In  Jahos  Namen  fürwahr  werd'  ich  sie  kuppen.  — 
''■^Sie  hatten  mich  umringt  gleich  Bienenschwärmen  — 

Wurden  ausgelöscht  wie  ein  Dornenfeuer.^  — 

"^^  An  gestoßen  hattest  du  mich  zu  fallen, 
Aher  Jaho  hat  mir  geholfen.  - — 
Meine  Stärke  und  mein  Lohgesang  ist  Jah, 
Und  er  ward  mir  zur  Hilfe.'^  — 
Lauter  Sieges juhel  erschallt 
In  den  Zelten  der  Gerechten.  — 


120  Ausgewählte  Psalmen. 

Die  Rechte  Jahos  wirket  Sieg, 
Die  Rechte  Jahos  erhöht.  — 
Ich  werde  nicht  sterben,  sondern  leben, 
Und  erzählen  die  Taten  Jahs.  — 
^^Gezüchtigt  hat  mich  Jaho, 
Aber  dem  Tode  nicht  preisgegeben. 

(Bei  der  Ankunft  vor  dem  Tempel:  Festzug,  eine  Priesterstimme.) 
öffnet  mir  die  Tore  der  Gerechtigkeit, 
Daß  ich  durch  sie  einziehe,  Jah  lobe. 
Dies  ist  das  Tor,  Jaho  geweiht  — 
Die  Gerechten  ziehen  dadurch  ein. 

(Beim  Einzug:  Wechselgesang  zwischen  Festzug  und  Priester?) 
Ich  lobe  dich,  daß  du  mich  erhört  hast 
Und  mir  wurdest  zur  Hilfe.'^ 
^'^Der  Stein,  den  die  Bauleute  verworfen, 

Ist  zum  obersten  Eckstein  geworden. 
^^Von  Seiten  Jahos  ist  dieses  geschehen, 
Es  ist  wunderbar  in  unsern  Augen. ^ 
Dies  ist  der  Tag,  den  Jaho  gemacht  — 
Laßt  uns  frohlocken  und  seiner  uns  freuen! 
Ach,  Jaho,  hilf  doch! 
Ach,  Jaho,  laß  doch  gelingen! 

(Segensgruß  der  Priester  und  Antwort  des  Festzugs.) 
Gesegnet  sei,  der  kommt  im  Namen  Jahos! 
Wir  segnen  euch  aus  dem  Hause  Jahos. 

Gott  ist  Jaho  und  freundlich  blickte  er  auf  uns. 

(Aufforderung  der  Priester  zum  Opfer.) 
2'  Bindet  das  Festopfer  mit  Stricken 
Bis  an  die  Hörner  des  Altars!^ 

(Zum  und  nach  dem  Opfer.) 
Mein  Gott  bist  du,  ich  lobe  dich, 
Mein  Gott,  ich  erhöhe  dich. 
^^Lobet  Jaho,  denn  er  ist  freundlich. 
Fürwahr  ewig  währt  seine  Güte. 


Psalm  118,   121,   124.  121 

a)  Burschikoser  Soldatenausdruck  für  köpfen,  um  einen  Kopf  kürzer 
machen,  b)  Vur. :  wie  10'',  11''.  c)  Gemeint  ist  die  Hilfe  durch  Ver- 
leihung des  Siegs,  d)  Der  Wortsinn  ist  nach  dem  klaren  Zusammenhang, 
daß  das  verachtete  jüdische  Volk  infolge  der  Makkabäersiege  plötzlich 
eine  hervorragende  Stellung  in  der  Völkerwelt  gewonnen  hat.  J  esus  selbst 
(Matth  41  *2;  Mark  12 '«  '■;  Luk  20I')  bezieht  die  von  (IJ  zum  Teil  falsch 
übersetzte  Stelle  auf  den  Sohn  und  Erben  Gottes,  den  Messias.  Ebenso 
Tetrus  (Acta  4").   Vgl.  i  Petri  2<-.'.  e)  Siehe  oben  S.  45  f. 


Psalm    121. 

Jaho  Israels  Helfer  und  Hüter. 

Ein  PilgerUed. 

Ich  hebe  meine  Augen  auf  zu  den  Bergen  — 

Woher  kommt  mir  Hilfe? 
Meine  Hilfe  kommt  von  Jaho, 

Dem  Schöpfer  von  Himmel  und  Erde. 

Er  wird  nicht  wanken  lassen  deinen  Fuß, 

Nicht  schlummert  dein  Hüter, 
Siehe!  nicht  schlummert  und  nicht  schläft 

Der  Hüter  Israels. 

Jaho  ist  dein  Hüter,  dein  Schatten 

Über  deiner  rechten  Hand, 
Daß  bei  Tag  die  Sonne  dich  nicht  verletze 

Noch  der  Mond  in  der  Nacht.  [ 

Jaho  wird  dich  behüten  vor  allem  Unglück, 

Wird  behüten  dein  Leben, 
Wird  behüten  deinen  Ausgang  und  Eingang 

Von  nun  an  bis  in  Ewigkeit. 

Psalm  124. 
Jaho  Israels  Helfer  wider  das  Wüten  der  Menschen. 

Ein  Pilgerlied. 

Wäre  nicht  Jaho  für  uns  gewesen  — 

Sage  doch  Israel  — , 
Wäre  nicht  Jaho  für  uns  gewesen, 

Wenn  die  Menschen  wider  uns  aufstunden. 


122  Ausgewählte  Psalmen. 

^Dann  hätten  lebendig  sie  uns  verschlungen. 

Da  ihr  Zorn  entbrannte, 
^Dann  wären  dahingegangen  über  unser  Leben 

Die  überschäumenden  Wasser.^ 

Gepriesen  sei  Jaho,  der  uns  nicht  gemacht  hat 

Zum  Raub  ihren  Zähnen! 
Unser  Leben  ist  gleich  einem  Vogel  entronnen 

Der  Falle  der  Vogler  — 

Die  Falle  ist  zerbrochen 

Und  wir  sind  entronnen! 
Unsere  Hilfe  ist  der  Name  Jahos, 
Des  Schöpfers  von  Himmel  und  Erde. 
a)  V.  4  enthält  zwei  kommentierende  Notizen  zu  V.  5. 

Psalm  127. 
Aller  Segen  kommt  von  Jaho,  die  höchste  Segnung  aber 

sind  Söhne. 

Ein  Pilgerlied. 

Wenn  Jaho  nicht  das  Haus  bauet, 

Arbeiten  die  Bauleute  umsonst. 
Wenn  Jaho  nicht  die  Stadt  hütet, 

Wachet  der  Hüter  umsonst. 

Umsonst  ist's,  daß  ihr  frühzeitg  aufsteht, 

Spät  euch  niedersetzt,^ 
Mühseliges  Brot  esset  — 

Das  Wahre  schenkt  er  seinem  Geliebten. 

Siehe,  das  Erbteil  von  Jaho  sind  Söhne, 

Seine  Belohnung  Leibesfrucht. 
Gleich  Pfeilen  in  eines  Helden  Hand, 

So  sind  Söhne  der  Jugendzeit. 

Selig  der  Mann,  der  gefüllt  hat 

Seinen  Köcher  mit  ihnen! 
Er  wird  nicht  zuschanden,  wenn  er  redet 

Mit  den  Feinden  im  Tor  ^. 

a)  Var. :  spät  schlafen  geht,    b)  Der  Gerichtsstätte  —  hübsches  Bild 
damaliger  Rechtspflege. 


Psalm  124,   127,   131.  123 

Psalm  131. 
Selbstbekenntnis  zu  Demut  und  Gleichmut. 

Ivin  Pilgcrlicd. 

Jaho!  nicht  ist  hoff  artig  mein  Herz 
Und  nicht  hochfahrend  meine  Augen, 

Und  nicht  ergehe  ich  mich  in  Dingen  zu  groß 
Und  außergewöhnlich  für  mich. 

Nein,  wahrlich/  ich  ebene 

Und  beschwichtige  meine  Seele, 
Gleich  einem  Entwöhnten  bei  seiner  Mutter, 

Gleich  dem  Entwöhnten  ist  meine  Seele. 

Liturgischer  Zusatz  V.  3:  Harre,  Israel,  auf  Jaho  von  nun  an  bis  in 
Kwigkeit  I 


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