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Full text of "Die grundsätze der reinen erkenntnisstheorie in der Kantischen philosophie"

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DIE  GRÜNDSÄTZE 


REINEN  ERKENNTNISSTHEORIE 


KANTISCHEN  PHILOSOPHIE. 


KRITISCHE  DARSTKLLÜNG 


AUGUST   STADLER 

Ph.  D. 


LEIPZIG 

VERLAG  VON    S.  HIRZEL. 
1876. 


k758 


77X85«. 


VOHWORT. 

In  vorliegender  Arbeit  habe  ich  versucht,  die  Fimctioii 
der  „CTriiiid.sätze  des  reiueu  Verstandes"  in  der  Kautischeu  Er- 
kenntuisstheorie  von  neuem  zu  i)rüfcn  und  in  systematischem 
Zusammenhang  zu  entwickeln.  In  denj  Umfange  dieser  Aufgabe 
schienen  mir  drei  Punkte  der  Aufklärung  besonders  bedürftig  zu 
sein:  die  specifischc  Leistung  jedes  einzelneu  Princips,  die  Recht- 
mässigkeit seiner  Annahme  und  das  einheitliche  Zusammenwirken 
aller  Grundsätze  im  Ganzen  des  erkenntnisstheoretischen  Processes. 

Das  so  bestimmte  Problem  glaubte  ich  nicht  dadurch  lösen 
zu  sollen,  dass  ich  die  Interpretation  der  Kantischen  Darstellung 
Schritt  für  Schritt  folgen  Hess.  Es  schien  instructiver,  die  inte- 
grirendeu  Gedanken  der  Vernunftkritik  zunächst  von  allem  hi- 
storisch-polemischen Beiwerke  zu  sondern  und  sie  hierauf,  in 
möglichster  Uebersichtlichkeit ,  zum  System  wieder  zusammen- 
zubauen. So  konnte  der  geschlossene  Mechanismus  der  Erfah- 
rungsbediugungeu  klarer  und  deutlicher  hervortreten.  —  Einem 
solchen  Versuche  ist  der  Boden  geebnet  durch  die  einschneiden- 
den Untersuchungen  H.  Cohen's  über  „Kant's  Theorie  der  Er- 
fahrung." Von  ihren  bedeutsamen  Resultaten  sei  hier  nur  an 
zwei  erinnert,  die  für  meine  Darstellung  besondere  Wichtigkeit 
besitzen:  die  Unterscheidung  des  „metaphysischen"  A  priori  von 
dem  ,,transscendentalen",  als  von  der  blossen  Beziehung  auf  die 
Möglichkeit  der  Erfahrung,  und  die  Aufzeigung  der  Kategorie 
als  Art  der  im  Urtheilsact  wirkenden  „transsceudentalen  Apper- 
ceptiou",  Beide  Auflassungen  haben  sich  mir  in  mehrjährigen 
eignen  Studien  nicht  nur  als  Kantisch,  sondern  auch  als  syste- 
matisch fruchtbar  bewährt. 

Es  ist  kaum  nötig  zu  erklären,  dass  sich  diese  Arbeit  keines- 
wegs als  ein  ausgeführtes  System  der  Erkenntuisstheorie  an- 
bieten will.  Ein  solches  Unternehmen  würde  eine  viel  breitere 
Anlage,  vor  Allem  aber  eine  (psychologische)  Ueberschreitung 
des  Kantischen  Gedankenkreises  erfordern.  Dies  liegt  nicht  im 
Plane  dieser  Untersuchung.  Wenn  sie  auch  an  Punkte  gelangte, 
wo  eine  Entfernung  vom  Kantischen  Wortlaute,    eine  genauere 


IV  Vorwort. 

Ausführung-  l)losser  Aiideutiuii;en,  selbst  eine  HinziifUg-ung  eigner 
Gedanken  zur  scharten  Kennzeichnung  des  Sinnes  niHig  wurde, 
so  glaubt  sie  doch  von  den  Intentionen  der  Vernunitkritik  nicht 
abgewichen  zu  sein.  Der  Leser  wird  die  Discussion  solcher 
Stellen  in  den  Anmerkungen  finden.  Mein  Ziel  war  in  erster 
Linie  die  immanente  Conseciuenz  der  kritischen  Theorie. 

Dass  die  Arbeit  trotzdem  nicht  bloss  dem  geschichtlichen 
Verständnisse  Kant's,  sondern  auch  dem  logischen  Reformbedürf- 
nisse  der  Gegenwart  zu  dienen  hofft,  zeigt  sie  durch  die  Wahl 
der  Methode;  sie  ist  bestrebt,  die  wissenschaftliche  Tragweite 
Kantischer  Sätze  nach  allen  Richtungen  wenigstens  anzudeuten. 
Und  ein  solcher  Anspruch  bedarf  in  Deutschland  zur  Zeit 
keiner  Motivirung.  Zwar  herrscht  Streit  in  der  Philosophie,  wie 
immer;  aber  die  Kämi)fenden  wenden  sich  mehr  und  mehr  von 
den  Epigonen  ab,  um  sich  für  oder  gegen  Kant  in  zwei  Lager 
zu  scharen.  Die  Geschichte  wird  das  Inventar  des  bleibenden 
Besitzes  aufstellen,  den  unser  logisches  und  unser  sittliches  Be- 
wusstsein  dem  kritischen  Idealismus  verdankt.  Jedenfalls  steht 
uns  kein  Urtheil  frei,  bevor  wir  uns  redlich  bemüht  haben,  seinen 
gesundesten,  besten  Sinn  zu  fassen.  Was  Kant  von  Piaton 
sagte,  gilt  von  ihm  selbst:  „dass  es  gar  nichts  Ungewöhnliches 
sei,-  sowohl  im  gemeinen  Gespräche,  als  in  Schriften,  durch  die 
Vergleichung  der  Gedanken,  welche  ein  Verfasser  über 
seinen  Gegenstand  äussert,  ihn  sogar  besser  zu  verstehen,  als  er 
sich  selbst  verstand,  indem  er  seinen  Begriff  nicht  genugsam  be- 
stimmte, und  dadurch  bisweilen  seiner  eigenen  Absicht  entgegen 
redete  oder  auch  dachte.**  (Kr.  d.  r.  V.  ed.  Hart.  p.  257.) 
Die  „mildere  und  der  Natur  der  Dinge  angemessene 
Auslegung'*  (ebd.  p.  258),  die  er  jenem  zugestand,  dürfen  wir  ihm 
selbst  nicht  vorenthalten.  Welche  Gedanken  der  Vernunftkritik 
und  in  welcher  Verbindung  sie  bei  einem  Fortschritt  der  Er- 
kenntnisstheorie zu  verwerten  seien,  kann  nicht  ausgemacht  wer- 
den, solange  man  über  den  Zweck  uneinig  ist,  den  sie  in  ihrem 
ursprünglichen  Organismus  zu  erfüllen  hatten.  Zur  Förderung 
dieser  Einsicht,  die  ich  als  die  fruchtbarste  Vorbereitung-  auf  den 
erkenntnisstheoretischen  Ausbau  der  Logik  betrachte,  möchte  nach- 
folgende Entwicklung  einen  Beitrag  Uefern. 

Berlin,  im  October  1S75.  August  Stadler. 


INHALTS-VERZEIiHMSS. 


E  i  n  1  e  i  t  II  n  i-'. 

°  Seite 

Die  Aufgabe  der  Philosophie 1 

1.  Erneute  Prüfung.  2.  Dogmatische  Versuche.  ','>.  Kritischer  Ver- 
such. 4.  Die  praktische  Philosophie.  5.  Die  theoretische  Philosophie, 
b.  Exacte  Stellung  der  Aufgabe.     7.  Vorerinnerung. 

I.  Die  Psjcholog-ie 6 

8.  Detinition.  lt.  Eigentümlichkeit  ihrer  Methode.  10.  Ziel.  11.  Er- 
klärende und  beschreibende  Psychologie.  12.  VerhiUtuiss  zur  Philosophie. 
Mangelhafte  Auffassung.     13.  Das  Princip  der  Arbeitstheilung. 

II.  Allgemeine  Theorie  des  Erkeuueiis. 

1 .  A  u  s  g  a  0  g  s  p  LI  n  k  t 1 U 

14.  Ergebnisse  der  Psychologie.  Das  Urtheil.  15.  Die  notwendigen 
Urtheile.  16.  Das  Problem  ihrer  Möglichkeit.  17.  Verhältniss  zur  Psycho- 
logie.    IS.  Ursprung  der  Erkenutuisstheorie. 

2.  Arten  der  Notwendigkeit 12 

19.  Psychologische  Vorarbeit.  20.  Formale  und  materiale  Notwen- 
digkeit.   21.  Der  wissenschaftliche  Beweis.    22.  Analytisch  und  synthetisch. 

III.   Die  formale  Logik. 

1.  Charakter 14 

23.  Hypothetische  Natur.  24.  Allgemeine  Aufgabe.  2b.  Vorarbeit 
der  Grammatik.     26.  Methode. 

2.  Die  Voraussetzungen  der  formalen  Logik 17 

27.  Grundproblem.  28.  Das  Axiom  der  durchgängigen  Verknüpfung. 
29.  Der  Satz  der  Identität.  30.  Das  negative  Urtheil.  31.  Der  Satz  des 
Widerspruchs.  32.  Der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten.  33.  Der 
Satz  vom  Grunde. 


VI  luluillbvcr/cichiiiss. 

Seite 

3.    Die  Logik  als  normative  Wissenschaft 23 

:54.  Zweite  llichtung  des  logischen  Interesse.  ."55.  Ungenaue  An- 
sichten.    'M.  Theile  der  Logik. 

IV.   Die  Erkenutuisstlicorie  im  eiig'eru  8iuue     ...    25 

37.  Die  Fragen,  welche  die  formale  Logik  otfeu  lässt.  38.  Aus- 
gangspunkt der  Erkcuntuisstheorie.     39.  Probleme. 

V.   Die  Vorstellung-. 

1.  Analyse  der  Vorstellung 27 

•10.  Ursprüngliche  Stellung  der  Aufgabe.  41.  Erste  Beantwortung. 
42.  Psychologische  Vorarbeit.  -13.  Raum  und  Zeit.  14.  Unterschied  der 
erkenntnisstheoretischen  von  der  psychologischen  Methode.  45.  Die  Ver- 
hältnissvorstellungen. 

2.  Der  Raum 31 

4H.  Verbaldctinition.  47.  Psychologische  Beschreibung.  4b.  Erkenut- 
nisstheoretische  Apriorität  des  Raumes.  49.  Unterschied  vom  physiolo- 
gischen A  priori.  51).  Notwendigkeit.  51.  Der  Raum  eine  Anschauung. 
52.  Unendlichkeit.  53.  Contiuuität.  Präcisiruug  des  Begriffs  der  Unend- 
lichkeit. Die  Grundbegriffe  der  Geometrie.  54.  Negativität  des  Resul- 
tates.    55.  Der  Raum  die  Form  des  äussern  Vorstelleus. 

3.  Die  Zeit 35 

56.  Verbaldetinition.  57.  Psychologische  Beschreibung.  5^.  Er- 
kenntnisstheoretische Apriorität.  59.  Notwendigkeit,  lio.  Die  Zeit  eine 
Anschauung,  (il.  Coiitinuität.  (i2.  Die  Zeit  die  Form  des  Vorstelleus 
überhaupt. 

4.  Erster  Grundsatz  der  Erkenntniss thcorie 37 

63.  Formel. 

5.  Das  Ding  an  sich 37 

64.  Resultat.  65.  Das  Ding  an  sich  ein  imaginärer  Bcgi'iÖ'.  66.  Seine 
Entwicklung. 

6.  Zweiter  Grundsatz 39 

67.  Positive  Seite  des  Resultates.    6S.  Formel. 

VI.   Das  Object. 

1.  Die  Synthesis -10 

69.  Die  Vorstellungselemente  und  ihre  Zusammenfassung.  70.  Ver- 
hältniss  zu  den  Formen  der  Anschauung.  71.  Function  und  Affection. 
72.  Die  Einheitsfunction. 

2.  Die  Erzeugung  des  Objects 42 

73.  Wendung  des  Problems.  74.  Formulirung.  75.  Die  Identität  des 
Bewusstseins  als  fundamentale  Voraussetzung.  76.  Die  Einheitsfunction 
als  Bedingung  der  Identität. 


Tnlialtsverzoirhniss.  VII 

Seito 

3.  Dritter  Grundsatz 45 

77.  Resultat.  7S.  Formel.  79.  Beziehung  zum  Idealismus,  so.  Be- 
ziehung zur  Psychologie. 

-1.    Das  Noumeno  n 4(i 

81.  Die  Einheitsfunction  und  das  Ding  an  sich.  S2.  Das  Noumenon 
als  erkenntnisstheoretischer  Trennungsbegrift'.  S3.  Das  Noumenon  in  jwsi- 
tiver  Bedeutung. 

VII.   Die  Arten  der  Eiiilieitsfnnctioii. 

1.  Die  Aufgabe       17 

S4.  Charakter  des  dritten  Grundsatzes.  S.o.  Allgemeine  Forderung 
desselben.  SK.  Die  einzelnen  Bedingungen.  S7.  Vollständigkeit  der  An- 
zahl. SS.  Forderung  der  Reinheit  der  besonderen  Gesetze.  89.  Befragung 
der  formalen  Logik. 

2.  Kaut's  Entdeckung 49 

90.  Die  Lösung.  91.  Sinn  derselben.  92.  Die  Kategorientafel  als 
tojMsches  Schema.  93.  Kritik  der  Ableitung.  94.  Notwendigkeit  scharfer 
Qualification  der  Angriffe.  9.3.  Einzig  möglicher  Standpunkt  der  Polemik. 
9ß,  Resultat. 

;i.   Systematische  Ableitung  der  Arten r>^ 

97.  Grundgedanke.  98.  Die  Zeiteinheit.  99.  Die  Raumeinheit,  loi».  Die 
Einheit  der  Empfindung.  101.  Ergebniss.  102.  Prüfung  der  Vorstellungs- 
analyse.    103.     Allgemeiner  Charakter  dieser  Gesetze. 

4.  Folgerungen       ,S9 

104.  Wirkungsart  der  drei  Gesetze.  105.  Grenzen  ihrer  Gültigkeit. 
lOf).  Anschauung.  Begrift'.  Wort.  107.  Exacter  Ausdruck  für  die  Auf- 
gabe der  formalen  Logik.  108.  Aequivalenz  von  Naturgesetz  und  Grund- 
begrifi'.     109.  Sinnlichkeit  aller  Begriffe  mit  Ausnahme  eines  einzigen. 

VIII.   Das  Priiicip  der  materiellen  Verknüpfung-. 

1.  Vierter  Grundsatz (>l 

1 1 0.  Methodologische  Vorbemerkung.  111.  Die  Empfindung.  1 1 2.  Con- 
tinuität  des  Bewusstscins.  113.  Die  intensive  Grösse.  114.  Mannigfaltig- 
keit der  Empfindungen.     Qualität.     115.  Foi-mel. 

2.  Erläuterungen  und  Folgerungen (57 

llfi.  Die  psychologische  Bewusstlosigkeit.     117.  Continuität  der  Zeit.     ^ 
US.  Der  Begriff  der  Realität.     119.  G^^enzbegritt"  der  absoluten  Negation. 
Objectiv   gültiger   Begrift"  der    relativen   Negation.     120.    Bedeutung  des 
Princips  für   die  formale  Logik.     121.  Qualität.     Grad.     122.  Das  Ding 
an  sich.     123.  Bedeutung  des  Princips  für  die  Naturphilosophie. 


VIII  Inhaltsverzeichniaa. 

Rpito 

IX.    I>as  IMMiioip  «l<M'  rnumliclKMi  Verknüpf  uns:. 

1.  l'"  Ulli  tor  (im  iids  atz       7.'? 

124.  Dio  riuimlirlioSynthoso.  12.").  Dor  Boffriff'doi  (oxtcnsivon)  rinisso. 
riCi.  Formel.  127.  Ansdolnimis'  dos  l^rinci]is  auf  dio  Zeit.  \2s.  Vorhält- 
niss  der  extensivou  (irösso  zur  i'ormaloii  Anscliaiiimsj. 

2.  Folgern  n  gen 75 

121».  Charakter  der  (Toomotrio.  l:',().  Redeutunu  des  Princips  für  iliro 
Apodicticitiit.  Die  Axiome.  KU.  KiiisrhraiikmiG;  der  Geometrie.  i:{2.  Der 
Begriff  der  Zahl  und  seine  objoctivo  liodontung.  Einheit.  Vielheit.  Allheit. 
\X\.  Objective  Bedeutung  der  Zahlenlehro.  TJnendlieho  Zahl.  Fiinachrän- 
kung.  131.  Reale  Gültigkeit  der  formal  logischen  Quantität.  Verhältniss 
der  Logik  zur  Mathematik.     Die  logische  Sphären vergleicliung. 

X.  Das  Priiicip  der  zeitlichen  Verknüprimjif. 

Sechster  Grundsatz fil 

i:^5.  Die  Aufgabe.  \'M'>.  Formel.  \M.  Charakter  des  rriiicips. 
13*5.  Arten  der  Zeiteinheit. 

XI.  Das  Princip  der  IJeharruns-  (Sul)stanzi. 

1.  Siebenter  Grundsatz 83 

13'.).  Wirkung  der  zeitlichen  Ordnung.  140.  Dio  Zeit  im  Verhältniss 
zu  ihren  Modi.  Beharrlichkeit  der  Zeit.  141.  Diese  Hestimmniig  als  Po- 
stulat der  Frkenntnisstheorie.  142.  Die  Substanz.  14:t.  Formel.  144.  Prä- 
cisirte  Formel. 

2.  firläuterungen  und  Folgerungen ^V> 

14'>.  Die  Zeit  als  extensive  Grösse.  14r).  Der  Begritt"  der  Verände- 
rung. 147.  Möglichkeit  einer  Geschichte  der  I']rfahrungsgegenstände.  Die 
synthetischen  Urtheile  a  posteriori.  14S.  Die  llnvergänglichkeit  der  Sub- 
stanz. 140.  Exacter  Begriff  der  Veränderung.  läO.  Neue  Bostinunung 
der  qualitativen  Negation.  151.  Bedeutung  des  Princips  für  die  formale 
Logik.  Objective  Gtiltigkeit  der  Bestandtheile  der  ITrtheilsform.  152.  Die 
symbolische  Verwertung  des  Substauzbegriffs  im  Denken.  I.')3.  Objective 
Gültigkeit  der  logischen  (irundhypothesen.  154.  Bedeutung  des  Princips 
für  die  Naturidiilosophie.  llnvergänglichkeit  der  Materie.  155.  Wichtig- 
keit des  Princips  für  das  Verständniss  des  kritischen  Idealismus.  15(i  Die 
Substanz  und  das  Noumenon. 

XII.  Das  Princip  der  Succession  iCausalität). 

1.    Achter  Grundsatz ^'^ 

1 57.  Begriff  der  Zeitfolge.  1 5s.  Subjectivität  der  Succession.  15!t.  Pro- 
blem ihrer  Objectivirung.  Kiu.  Lösung.  1('»l.  Formel.  1(12.  Analogie 
mit  der  Zeitanschauung.  l('.:t.  Der  Grundsatz  der  Succession  als  Cansal- 
gesetz.     H'il.  Apriorischer  Charakter. 


Inhaltsverzeichniss.  IX 

Seite 

2.    Folgerungen  und  Erläuterungen 101 

165.  Die  drei  Glieder  des  Causalverhältnisses.  166.  Das  Wesen  der 
Ursache.  167.  Die  Bewegungsursache  und  das  Trägheitsgesetz.  168.  Der 
kritische  Materialismus.  169.  Erkenntnisstheoretische  Ewigkeit  der  Ver- 
änderung. Die  Freiheit.  170.  Der  Begrjff  der  Kraft.  171.  Die  Conti- 
üuität  der  Veränderung.  Das  Moment.  172.  Die  objective  Bedeutung 
der  hypothetischen  Urtheilsform.  173.  Das  Ding  an  sich.  174.  Sogenannte 
Aeusserungsformen  des  Satzes  vom  Grunde.  175.  Das  Causalgesetz  und 
die  unhewussten  Schlüsse. 

XIII.   Das  Princip  der  Coexistenz  (Wechselwirkung). 

1.  Neunter  Grundsatz 116 

176.  Betrachtung  der  Aufgabe.  177.  Erkenntnisstheoretische  Wirk- 
lichkeit der  Simultaneität.  1 7S.  Function  des  neuen  Grundsatzes.  179.  Be- 
griff der  Gleichzeitigkeit.  180.  Falsche  D[sjiinction.  181.  Lösung.  182.  De- 
finition der  Wechselwirkung.     183.  Formel. 

2.  Erläuterungen  und  Folgerungen 119 

184.  Die  Fassung  der  zweiten  Ausgabe.  185.  Das  Princip  als  Be- 
dingung der  räumlichen  Ordnung.  186.  Die  Ableitung  des  Princips  aus 
dem  disjunctiven  Urtheil.  Der  Begriff  des  Ganzen  und  seiner  Theile. 
187.  Die  Einwürfe  Schopenhauer's.  188.  Bedeutung  des  Princips  für 
die  Naturphilosophie.  189.  Grenzen  seiner  Gültigkeit.  190.  Die  Welt- 
einheit. 

XIV.   Die  Natureinheit  und  die  besonderen  Naturgesetze  .    .  126 

191.  Kesultat.  192.  Begriff  der  Natur  und  ihrer  Gesetze.  193.  Rück- 
blick auf  die  allgemeinen  Naturgesetze.  194.  Das  empirische  Erkennen. 
195.  Erkenutnisstheoretischer  Charakter  seiner  Möglichkeit.  196.  Die 
Hypothese  von  der  Begreiflichkeit  der  Natur.  197.  Die  angewandte  Er- 
kenntnisstheorie. 

XV.   Die  modalen  Definitionen 130 

198.  Definition  der  Notwendigkeit.  199.  BegTiff  der  Wahrheit.  200. 
Definition  der  Wirklichkeit.    201.  Definition  der  Möglichkeit.   202.  Schluss. 

Anmerkungen 133 


D  ruck fe hier -Verzeichniss. 


SeiteT  Z.  17  v.  u.  lies^von  statt  vor. 

„    10  Z.  15  V.  0.  lies  vom  statt  von. 

,.    17  Z.  20  V.  u.  lies  Satz  statt  Statz. 

„    22  Z.  15  V.  u.  lies  Corollar  statt  Correlat. 

,.    30  Z.     3  V.  0.  lies  Erfahrungs  .  .  .  statt  Erfrahrungs  .  .  . 

„    45  Z.     8  V.  0.  lies  gewonnene  statt  genannte. 

„   46  Z.  14  V.  0.  lies  aufgelösten  statt  unaufgelösten. 

„   46  Z.     1  V.  u.  lies  unbestimmten  statt  bestimmten. 

y.  51  Z.  11  V.  u.  ist  nach  „nicht"  einzuschieben:  auf  die  Eintheilung  selbst, 
sondern. 

„   56  Z.  10  V.  u.  lies  räumliche  Synth,  statt  Synthesis. 

„    59  Z.  12  V.  0.  lies  Erapfindungsproduct  Raum  statt  Empfindungsproduct. 

„    63  Z.  16  V.  0.  lies  dritten  statt  zweiten. 

„  1 1 1  Z.  9  V.  u.  lies  lieber  die  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichen- 
den Grunde,  statt  üeber  die  einfache  Wurzel  des  Satzes 
von  zureichendem  Grunde. 


■^ 


EINLEITUNG. 


Die  Aufgabe  der  Philosophie. 

1 .  Die  Aufgabe  der  Philosophie  bildet  das  stets  wieder- 
kehrende Grnndthema  der  neuem  philosophischen  Literatur. 
Diese  Thatsache  ist  leicht  zu  erklären.  Wem  Philosophie  am 
Herzen  liegt,  der  kann  sich  der  nüchternen  Einsicht  nicht  ver- 
schliessen,  dass  seine  Wissenschaft  immer  noch  kein  anerkanntes 
Gemeingut  besitzt.  In  den  andern  Discipliuen  herrscht  Streit 
über  einzelne  Theorien,  in  der  Philosophie  beginnt  die  Ent- 
zweiung beim  wissenschaftlichen  Grundbegriif.  Das  erwachende 
Bewnisstsein  von  der  Unhaltbarkeit  eines  solchen  Zustandes  ver- 
dankt die  Philosophie  der  Nichtbeachtung  der  Zeitgenossen,  So 
lange  die  Turniere  der  Systeme  noch  Zuschauer  fanden,  so  lange 
auch  die  Naturwissenschaft  noch  ernsthaft  in  den  Kampf  mit- 
eingrifif,  erfreute  sich  die  Philosophie  auch  bei  der  unfrucht- 
barsten Polemik  eines  hinreichenden  Vitalgefühls.  Als  aber  die 
exacte  Forschung  in  ihrem  grossartigeu  Aufschwung  sich  ganz 
von  ihr  abwandte,  und  der  esoterische  Wafifenlärm  von  den 
Gebildeten  ignorirt  wurde,  da  musste  sie  notwendig  nach  und 
nach  um  das  Erlöschen  ihres  Lebens  besorgt  werden,  sie  musste 
fühlen,  dass  es  sich  um  wissenschaftliches  Sein  oder  Nichtsein 
handle.  So  sehen  wir  denn,  dass  die  neueste  Philosophie  theils 
vollständig  auf  das  Niveau  des  Vegetirens  herabgesunken  ist, 
theils  aber  sich  zu  einer  ernstlichen  Selbstprüfung  aufzuraifen 
scheint.  Ob  die  letztere  in  absehbarer  Zeit  zur  fruchtbaren 
Selbsterkenntniss  führen  wird,  lässt  sich  nicht  entscheiden.  Die 
alte  philosophische  Methode  ist  zu  sehr  eingewurzelt,  als  dass 
nicht  jeder  Vertreter   auch  diese  reformatorischen  Bestrebungen 

Stadler,  Erkenntnisstlieorie.  1 


2  Einleitung. 

zunächst  auf  eigene  Hand  und  unbekümmert  um  seine  Mitarbeiter 
unternehmen  sollte.  Aber  das  Streben  als  solches  bürgt  für  die 
allmälig'c  Verbesserung  der  Methode.  Wenn  nur  erst  die  wissen- 
schaftliche Neugestaltung  ernstlich  gewollt  wird,  so  wird  sich 
auch  die  Forderung  einer  bewussten  Continuität  des  Arbeitens 
mehr  und  mehr  Geltung  verschaffen. 

2,  In  den  Versuchen,  das  Arbeitsfeld  der  Philosophie  zu 
bestimmen,  tritt  fast  überall  die  Neigung  hervor,  einen  recht  an- 
sehnlichen Bereich  abzugrenzen.  Dass  bei  dieser  Tendenz  die 
Leistungen  vorwiegend  dogmatisch  gefärbt  sind,  ist  leicht  er- 
klärlich, wenn  man  bedenkt,  in  wie  enge  Schranken  die  Specu- 
lation  durch  den  Kriticismus  gebannt  werden  sollte.  Aber  auch 
diese  Arbeit  ist  nicht  verloren.  Theils  befördert  sie  nur  die 
Zerbröckelung  der  morschen  Systeme,  theils  führt  sie  selbst,  ohne 
es  zu  wollen,  auf  Quellen  fruchtbarer  Neugestaltung. 

Als  dogmatisch  kennzeichnen  sich  vor  Allem  die  Versuche, 
welche  einen  falschen  Frieden  mit  den  Naturwissenschatten 
proclamiren  und  die  Versöhnung  mit  der  exacten  Forschung  als 
Aufgabe  der  philosophischen  Methode  hinstellen.  Dieser  Begriff 
der  Versöhnung  ist  unter  allen  Umständen  verweiilich.  Die 
Philosophie  ist  entweder  zu  einer  selbstständigen  wissenschaft- 
lichen Existenz  berechtigt  oder  nicht.  Im  ersten  Falle  hat  sie 
ihr  Recht  zu  verfechten  und  braucht  weder  Gunst  noch  Dul- 
dung von  einer  andern  Wissenschaft  zu  verlangen.  Werden 
ihre  legalen  Ansprüche  bestritten,  so  entsteht  eben  ein  Kampf, 
dessen  Entscheidung  der  Geschichte  der  Wissenschaften  anheim- 
fällt. Im  zweiten  Falle  aber  ist  der  Wunsch  nach  Versöhnung 
vollends  lächerlich.  Die  Grossmut  der  Empirie  kann  ihr  zwar 
das  Sterben  erleichtern,  sie  jedoch  nie,  auch  nur  vorübergehend 
zur  Wisslnschaft  erheben.  Dies  findet  vornehmlich  AnAvenduug 
auf  die  dogmatische  Naturphilosoi)hie.  Kant  hat  endgültig  dar- 
gethan,  dass  die  philosophische  Methode  für  die  sachliche  Er- 
weiterung unserer  Naturerkenntniss  nichts  zu  leisten  vermag. 
Wenn  die  Missverständnisse  der  Epigonen  diesen  theoretischen 
Fort>ichritt  illusorisch  machten,  so  hat  der  gewaltige  Einfluss  des 
naturwissenschaftlichen  Aufschwungs  für  seine  Verwirklichung 
gesorgt. 

Die  dogmatische  Natuii)hilosophie  ist  glücklicherweise  von 
der  Physik  so  entscheidend  niedergeworfen,  dass  sie  kaum  jemals 


Die  Aufgabe  der  Philo.soi)liie.  3 

im  Ernst  daran  denken  kann,  sich  wieder  aufzurichten.  Fühlt 
aber  Jemand  das  Gemiitsbedürfniss ,  sich  in  die  Lücken  der 
exacten  Forschung-  einzunisten  und  im  Schatten  der  noch  nicht 
gelösten  Probleme  eine  Philosophie  des  Uugewussten  aufzurichten, 
so  ist  das  ein  harmloses  Spiel,  das  nicht  einmal  der  Aufsicht 
bedarf. 

3.  Die  kritischen  Versuche,  die  Stellung-  der  Philosophie 
in  der  modernen  Wissenschaft  zu  bestimmen,  werden  in  erster 
Linie  rückhaltlos  auf  den  Boden  verzichten,  zu  dessen  Bebauung 
nur  die  physikalische  Forschung  befugt  ist  und  nach  anerkannten 
Principien  nur  befugt  sein  kann.  Andrerseits  werden  sie  prüfen, 
ob  es  in  der  Gesammtarbeit  der  menschlichen  Forschung  Func- 
tionen gibt,  welche  nur  durch  die  philosophische  Methode  voll- 
zogen werden  können.  Führt  die  Untersuchung  zu  einem  posi- 
tiven Resultat,  so  ist  dann  der  naturwissenschaftliche  Dilet- 
tantismus ebenso  energisch  aus  dieser  Arbeitsgruppe  wegzuweisen, 
wie  der  philosophische  aus  der  physikalischen  Gruppe  wegge- 
wiesen werden  musste. 

Zu  einer  erspriesslichen  Behandlung  der  Frage  wird  man 
nicht  gelangen,  wenn  man  von  vornherein  den  Gesammtbegriflf 
der  Philosophie  gewinnen  will;  dieser  Weg  hat  noch  nie  über 
vage  Allgemeinheiten  hinausgeführt.  Meiner  Ansicht  nach  ist 
es  das  sicherste  und  fruchtbarste  Verfahren,  wenn  man  von  der 
herkömmlichen  Eintheilung  der  Philosophie  ausgeht  und  die  Be- 
rechtigung jeder  einzelnen  Discipliu  untersucht. 

4.  In  diesem  Sinne  müssen  vor  Allem  die  praktische  und 
die  theoretische  Philosophie  auseinander  gehalten  werden.  Wir 
finden  in  dem  reichen  Inhalt  unseres  BcAvusstseins  Vorstellungen 
von  Etwas,  das  sein  soll.  Diese  Vorstellungen  sehen  wir  in 
der  erfahrungsmässigen  Wirklichkeit  nicht  nur  äusserst  selten 
realisirt,  sondern  sie  enthalten  sogar  in  den  meisten  Fällen  einen 
Gegensatz  mit  den  Thatsachen  der  Natur.  Wir  sagen  von  realen 
Erscheinungen  der  physischen  und  der  psychischen  Welt,  dass 
sie  nicht  so,  dass  sie  anders  sein  sollten.  Den  Charakter,  die 
Berechtigung  und  Geltung  dieser  Beurtheilungsart  zu  prüfen,  ist 
Aufgabe  der  praktischen  Philosophie.  Die  specifische 
Verschiedenheit  der  zu  dieser  Forschung  nötigen  Methode  ist 
so  evident,  tlass  auf  diesem  Gebiete  die  wissenschaftliche  Selbst- 
ständigkeit der  Philosophie  niemals  bestritten  wurde.     Sie  wäre 

1* 


4  Einleitung. 

eine  Wissenschaft,  auch  wenn  sie  kein  weiteres  Arbeitsfeld  be- 
herrsclicn  würde.  Die  Gesetzmässigkeit  des  Soll,  welche  die 
praktische  Philosophie  entwickelt,  ist  die  denkbar  vollkommenste 
Daseinsform  vcrnünftig-cr  Wesen.  Mit  dem  Verzicht  auf  das  Er- 
ringen ihrer  Walirhciten  würde  der  Mensch  seine  höchste  AVürde 
opfern.  Die  praktische  Philosophie  zerfällt  in  einen  reinen 
und  einen  angewandten  Theil.  Der  erste  stellt  die  allge- 
meinsten, von  dem  empirischen  Wechsel  unabhängigen  Principien 
auf.  Seine  Arbeit  ist  somit  endlich,  ihrem  Inhalt  nach  erschöpf- 
bar. Es  muss  eine  Zukunft  gedacht  werden,  in  welcher  die 
reine  praktische  Philosophie  als  Forschimg  aufgehört  hat;  ihre 
Resultate  sind  vollständig  gewonnen,  sie  braucht  nur  bewahrt 
und  vor  Trübungen  geschützt  zu  werden.  Dann  bilden  ihre 
Wahrheiten  ein  unvergängliches  Gemeingut,  das  jede  Generation 
des  Menschengeschlechts  in  ihrer  Erziehung  empfangen  wird.  — 
Der  angewandte  Theil  betrachtet  Alles,  was  wir  wissen  und  können, 
im  Verhältniss  zu  jener  inneni  Gesetzmässigkeit;  er  ordnet  unsern 
ganzen  Lebensinhalt  nach  dem  ethischen  Zweck  des  Menschen- 
daseins. Seine  Arbeit  ist  unendlich ;  sie  folgt  Schritt  für  Schritt 
den  empirischen  Wissenschaften,  die  sie  alle  umfasst.  Sie  be-' 
stimmt  den  Wert  jeder  Errungenschaft  und  weist  ihr  die  ent- 
sprechende Rolle  im  Haushalt  unserer  Gedanken  zu.  Hier  wird 
Philosophie  Weltweisheit  im  umfassendsten,  aber  gleichzeitig 
bestimmtesten  Sinne  des  Wortes. 

5.  Weit  schwieriger  ist  der  Begriff  der  theoretischen 
Philosophie  zu  bestimmen.  Sie  hat  mit  den  Naturwissen- 
schaften die  gemeinsame  Aufgabe,  ein  Gebiet  des  Seienden  zu 
erforschen.  Will  sie  dessenungeachtet  diesen  gegenüber  eine 
besondere  Stellung  einnehmen,  so  muss  sie  die  Eigentümlichkeit 
ihrer  Methode,  die  den  specifischen  Qualitäten  des  ihr  gegebenen 
Materials  entspricht,  in  zwingender  Weise  darthun.  Man  hat  sich 
die  Einsicht  in  ihren  Charakter  sehr  oft  dadurch  erschwert, 
dass  mau  die  soeben  entworfenen  Grundzüge  der  angewandten 
praktischen  Philosophie  der  Philosophie  überhaupt  und  folglich 
auch  der  theoretischen  beilegte.  Auch  die  letztere  sollte  alle 
anderen  Wissenschaften  begreifen,  ihre  Ergebnisse  verarbeiten 
und  zu  einem  lichtvollen  System  zusammenbauen.  Damit  wurde 
aber  nicht  eine  Wissenschaft,  sondern  vielmehr  eine* Kunst  bald 
der  bloss  encyklopädischen  Vereinigung,  bald  einer  mehr  ästheti- 


Die  Aufgabe  der  Philosophie.  5 

sehen  Gestaltung  begründet,  eine  Kunst,  die  zwar  neben  um- 
fassender Bildung  und  allgemeinem  Interesse  einen  das  Ganze 
beherrschenden  Blick,  nicht  aber  eine  eigene  Forschungsmethode 
erfordert.  Wenn  der  Naturwissenschaft  die  Gewinnung  aller  Einzel- 
erkenntnisse zukommt,  so  könnte  eine  solche  Philosophie  unsere 
Einsicht  wohl  leichter  und  angenehmer  machen,  niemals  aber  er- 
weitern. Hat  diese  Auffassung  der  theoretischen  Philosophie  wenig- 
stens einen  Sinn  als  Bestimmung  einer  künstlerisch  gestaltenden 
Thätigkeit,  so  würde  jene  Ansicht  dagegen  völlig  wertlos  sein, 
welche  der  Naturwissenschaft  überhaupt  blos  die  Aufhäufung  iso- 
lirter  Thatsachen  überlässt,  sich  selbst  aber  das  Schlussverfahren 
anmasst,  durch  welches  aus  dem  gesammelten  Rohstoff  allgemeinere 
Einsichten  herausgehoben  werden.  Die  Beschaffung  des  Materials 
ist  überall  nur  die  Vorarbeit  der  Forschung,  Wissenschaft  wird 
sie  erst  dann,  wenn  sie  es  systematisch  verbindet.  Die  wahre 
Naturwissenschaft  vollzieht  ihre  Generalisationen  selbst,  und  ist 
auch  allein  dazu  berechtigt  und  befähigt. 

6.  Um  den  Begriff  der  theoretischen  Philosophie  in  un- 
zweideutiger Weise  zu  bestimmen,  muss  man  die  einzelnen 
Wissenschaften  in  Betracht  ziehen,  die  gewöhnlich  zu  ihr  ge- 
rechnet werden.  Wenn  ich  weiss,  was  Psychologie,  Logik 
und  Metaphysik  ist,  so  weiss  ich  auch,  was  theoretische  Phi- 
losophie ist.  Die  nachfolgende  Untersuchung  hat  sich  die  Auf- 
gabe gestellt,  über  die  Bedeutung  der  letztgenannten  Disciplin 
eine  zusammenhängende  Ansicht  zu  entwickeln.  Die  Vollständig- 
keit der  Lösung  erfordert  aber  auch  ihre  scharfe  Abgrenzung 
gegen  die  ersten  beiden.  Es  sind  also  zunächst  auch  die 
Psychologie  und  die  Logik  in  Kürze  zu  charakterisiren. 

7.  Damit  nun  über  den  Sinn  der  Aufgabe  von  vornherein 
kein  Zweifel  möglicb  sei,  muss  vorangeschickt  werden,  was  man 
denn  unter  dem  historisch  vieldeutigen  Ausdruck  Metaphysik 
zu  untersuchen  gedenke.  Ich  spreche  als  Voraussetzung  alles 
Folgenden  die  Ansicht  aus,  dass  man  seit  Kant  unter  Meta- 
physik überhaupt  nichts  Anderes  verstehen  dürfe,  als  das  Problem 
der  Möglichkeit  wissenschaftlicher  Erfahrung.  Die  Untersuchung 
richtet  sich  also  auf  den  Begriff  einer  Wissenschaftstheorie.  In- 
sofern sie  aber  nicht  die  Möglichkeit  einer  speciellen,  sondern 
die  Möglichkeit  der  Wissenschaft  überhaupt  prüfen  soll,  be- 
schränke ich  sie  auf  die  reine  Wissen  Schafts  theo  rie.    Ihr 


Q  I.   Die  Psychologie. 

steht  die  Lehre  von  den  Bedingungen  der  besonderen  Wissen- 
schaften als  angewandte  Wissenschaftstheorie  gegen- 
über; die  letztere  entspricht  dem,  was  in  der  alten  Sprache  als 
Philosophie  der  Natur,  der  Mathematik  u.  s.  w.  oder  als  meta- 
physische Anfangsgründe  der  einzelnen  Wissenschaften  bezeichnet 
wurde.  In  gleicher  Bedeutung  mit  Wissenschaftstheorie  und 
wissenschaftstheoretisch  werden  im  Folgenden  die  Ausdrücke 
Erkenntuisstheorie  und  erkenntnisstheoretisch  gebraucht.  Nur  ist 
ein  für  alleraal  zu  l)emerken,  dass  niemals  die  psychologische 
Theorie  der  Sinnes-Wahrnehmung  darunter  mit  verstanden  wird. 


I.    Die  Psvcholosie. 


»' 


8.  Ueber  die  Stellung  der  Ps^^chologie  ist  es  gegenwärtig 
nicht  mehr  schwer  sich  Klarheit  zu  verschaffen.  Sie  hat  für  den 
ihr  gebührenden  wissenschaftlichen  Platz  definitive  Anerkennung 
erobert.  Die  Psychologie  ist  die  Kunde  von  den  Lebenserschei- 
uungen,  welche  mau  unter  dem  Namen  der  psj'chischen  zusam- 
meufasst.  Mit  vollem  Kecht  nimmt  sie  heutzutage  für  ihre 
Untersuchung  ausschliesslich  die  Methoden  in  Anspruch,  welche 
von  der  Naturwissenschaft  überhaupt  als  gültige  anerkannt  werden. 
Ihre  Organe  sind  Zahl,  Maass,  Experiment,  vergleichende  em- 
pirische Beobachtung,  Statistik  und  wissenschaftliches  Schluss- 
verfahren. 

9.  Allein  die  Psychologie  befindet  sich,  den  übrigen  Natur- 
wissenschaften gegenüber,  in  einer  ganz  eigentümlichen  Lage. 
Das  Geschehen,  das  sie  zu  schildern  und  zu  erklären  hat,  ist 
zunächst  nicht  das  physikalische  Geschehen  im  Räume,  d.  h. 
die  materielle  Bewegung,  sondern  das  sogenannte  innere  Ge- 
schehen, der  zeitliche  Verlauf  des  Bewusstseins  lebender  Wesen. 
Diese  Beschaffenheit  ihres  Stoffes  bringt  es  mit  sich,  dass  sie 
einer  Beobachtungsart  bedarf,  welche  in  der  übrigen  Wissenschaft 
nicht  zu  finden  ist.  Die  Psychologie  erfordert  auch  eine  „  innere ", 
d.  h.  eine  Beobachtung  eigner  und  fremder  Bewusstseinsvorgänge. 
Wenn  nun  auch  eine  solche  mit  grossen  Schwierigkeiten  und 
wissenschaftlichen  Gefahren  verbunden  und  vorläufig  fast  keiner 
exacteu  Messungen  fähig  ist,  so  ist  sie  darum  doch  nicht  an  und 


I.    Die  Psychologie.  7 

für  sich  unwisseuschaftlich.  Durch  Sammlung  und  Vergleichung- 
ihrer  einzehien  Aufzeichnungen,  durch  Anwendung  der  statisti- 
schen Methode  ist  sie  im  Stande,  brauchbare  Resultate  zu  liefern. 
Innere  Beobachtung  soll  einfach  heissen :  Erforschung  von  Regel- 
mässigkeiten im  eigenen  oder  fremden  Vorstellungsverlaufe  ohne 
Rücksicht  auf  die  entsprechenden  materiellen  Gehirnproeesse. 
Man  darf  diesen  vollkommen  nüchternen  Begriff  aus  berechtigter 
Abneigung  gegen  den  „Innern  Sinn",  der  gar  nichts  damit  zu 
schaffen  hat,  nicht  vei'werfen.  ^) 

10.  Es  ist  nun  einleuchtend,  dass  es  Aufgabe  der  vrissen- 
schaftlichen  Psychologie  sein  muss,  das  innere  Geschehen  mit  dem 
körperlichen  im  Räume  unter  einem  einheitlichen  Gesichtspunkte 
zu  beobachten.  Sie  wird  die  Einwirkung  des  einen  auf  das  an- 
dere, ihre  Berührungspunkte,  die  Begieitungs-  und  Uebergangs- 
erscheinungeu  beider  studiren,  und  ihr  ideales  Ziel  würde  sein, 
den  gesetzmässigen  Zusammenhang,  den  gemeinsamen  Grund  der 
doppelseitigen  Erscheinungen  zu  enthüllen. 

11.  Die  Naturforscher  pflegen  eine  doppelte  Arbeit  zu  unter- 
scheiden :  die  des  Beschreibens  und  die  des  Erklärens.  Die  Be- 
schreibung recognoscirt,  sichtet  und  classificirt  den  Stoff,  die  Er- 
klärung forscht  nach  den  Gesetzen  seiner  Entstehung  und  Ver- 
änderung. Der  Zusammenhang  beider  Thätigkeiten  gestaltet  sich 
so,  dass  die  Beschreibung  erst  systematisch  wird,  wenn  sie  von 
der  Erklärung  Plan  und  Direction  erlangt. 

Auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  erhält  diese  Unterschei- 
dung ihr  besonderes  Gewicht.  Die  Erklärung  ist  hier  das, 
was  soeben  als  schliessliche  Aufgabe  der  Psychologie  bezeichnet 
worden  ist.  Von  einer  Lösung  dieses  Problems  dürfen  wir  vor- 
läufig auch  im  bescheidensten  Sinne  nicht  reden.  Die  Fälle, 
für  welche  ein  naturgesetzlicher  Causalnexus  nachgewiesen  ist, 
sind  noch  höchst  selten,  und  zu  der  eigentlichen  theoretischen 
Befriedigung,  die  sich  erst  mit  der  Gewinnung  längerer  Causal- 
reiheu  einstellt,  werden  -svir  sobald  nicht  gelangen.  Aber  auch 
ganz  abgesehen  davon,  ist  es  hier  für  uns  von  höchstem  theoreti- 
schen und  praktischen  Interesse ,  wenigstens  ein  wohlgeordnetes 
anschauliches  Bild  von  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  der 
psychischen  Vorgänge  zu  besitzen.  Die  erklärende  Psychologie 
selbst,  Logik  und  Ethik,  sowie  die  ganze  angewandte  Philo- 
sophie lassen  die  sorg-faltige  Charakteristik  und  Classification  der 


8  I.    Die  Psychologie. 

Seelentliätigkeiten  gleicher  Weise  als  notwendige  Voraussetzung 
ihres  leichteren  und  sicheren  Verfahrens  erscheinen.  Diesem  Be- 
dürfiiiss  entspricht  die  Arbeit  einer  Naturbeschreibung  der 
Seele,  welche  man  als  den  einen  grossen  Haupttheil  der  Psycho- 
logie betrachten  kann.  2) 

12.  Für  unsern  Zweck  handelt  es  sich  nun  vor  Allem  um 
die  Frage,  ob  und  warum  man  überhaupt  berechtigt  sei  die 
Psychologie  der  Philosophie  zuzutheilen.  Die  kurze  Bezeichnung 
ihrer  Aufgabe  und  Methode,  wie  sie  oben  gegeben  ist,  zeig! 
wohl  hinlänglich,  dass  man  mindestens  im  Zweifel  sein  kann, 
ob  man  sie  nicht  einfach  als  einen  Theil  der  Naturwissenschaften 
zu  betrachten  habe. 

Es  wird  oft  versucht,  die  Psychologie  dadurch  der  Philo- 
sophie zu  erhalten,  dass  man  auf  ihre  Verschmelzung  mit  den 
Geisteswissenschaften  hinweist.  Man  sagt,  dass  Geschichte, 
Rechts-  und  Staatslehre,  Kunst-  und  Religionsphilosophie  auf 
psychologische  Erklärungsgründe  zurückführen.  Als  grundlegende 
Lehre  der  Geisteswissenschaften  könne  man  sie  jedenfalls  nicht 
in  die  Naturwissenschaft  stellen.  Dieses  Bemühen  geht  aus  von 
einem  durchaus  falschen  Gesichtspunkt.  Alle  Wissenschaften 
ergänzen  einander  und  helfen  sich  gegenseitig  aus  mit  ihren 
Ergebnissen.  Diesen  Umstand  zu  einem  Eintheilungsprincip  zu 
machen,  heisst  die  Grenzen  aller  Gebiete  verwischen.  Daraus 
Hesse  sich  auch  der  Grund  entnehmen,  Logik  und  Mathematik 
unter  die  Naturwissenschaften  zu  reihen.  Ja  man  kann  dadurch 
geradezu  das  Gegentheil  trefflich  motiviren,  nämlich  die  Psycho- 
logie in  den  Verein  der  Naturwissenschaften  aufzunehmen.  Sie 
ist  nämlich  auch  für  die  letztere  Fundamentaldisciplin ;  Medicin, 
Physik,  Astronomie  sind  voll  von  Erscheinungen,  die  sich  nur 
psychologisch  begreifen  lassen. 

Die  letztere  Thatsache,  dass  man  die  Psychologie  als  Basis 
aller  Wissenschaft  überhaupt  betrachten  kann,  zeigt  einen 
andern  Weg,  auf  dem  man  versucht  hat,  sie  der  Philosophie 
zuzuführen.  Sie  liegt  allen  Wissenschaften  zu  Grunde,  was  alle 
Wissenschaften  umfasst,  heisst  Philosophie ;  also  ist  Psychologie 
Philosophie.  Diese  Ableitung  gründet  sich  auf  eine  Auffassung 
der  Philosophie,  die  oben  (§  5  und  G)  als  vag  und  unfruchtbar 
abgewiesen  werden  musste. 

13.  Das   einzige  Princip,   das   ich  als  massgebend   für  die 


I.   E)ie  Psycliologie.  9 

Griippiruiig  der  versebiedenen  Wissenschaften  anerkenne,  ist  das 
einer  rationellen  Theilimg  der  Arbeit.  Die  Frage  ist  also:  bat 
die  Psychologie  eine  Tbätigkeit  aiTSzuüben,  welche  sich  von  der 
der  Naturwissenschaft  specitisch  unterscheidet?  Eine  solche 
Tbätigkeit  liegt  vor  in  ihrem  beschreibenden  Tbeil.  Der  Stoff 
der  Innern  Beobachtung  sind  die  Modificationen  des  Zustandes 
lebender  Wesen,  den  wir  mit  dem  Ausdruck  Bewusstsein  be- 
zeichnen. Diese  Modificationen  heissen  Vorstellungen.  Die  Vor- 
stellungen müssen  auch  abgesehen  von  ihrer  physiologischen 
Geschichte  als  psychische  Gebilde,  als  Reflexe  beliebiger  Pro- 
cesse  in  unserm  Bewusstsein,  beobachtet  werden.  Sie  sind  zu 
analysiren,  auf  ihre  Bestandtheile  zu  untersuchen ;  sie  sind  ihrer 
Gleichartigkeit  und  Verschiedenheit  nach  zu  schildern.  Die  Vor- 
stellungen erscheinen  in  Verbindungen;  diese  Complexe  müssen 
wiederum  zergliedert  werden;  ihre  Bewegungen  und  Wechsel- 
wirkungen bilden  einen  neuen  Gegenstand  der  Betrachtung;  das 
Suchen  von  Regelmässigkeiten  in  der  Verbindung  und  Trennung 
der  Vorstellungen  wird  zur  bedeutsamsten  Aufgabe. 

Diese  Tbätigkeit  scheint  mir  von  der  übrigen  Naturbetrach- 
tuug  specifisch  verschieden  zu  sein  und  ihre  eigene  Begabung 
zu  erfordern.  Die  Selbstbeobachtung,  das  Wägen  und  Schätzen 
der  Vorstellungen  ist  ein  anderes  Können  als  das  des  Physio- 
logen. Talent  und  Neigung  zu  dieser  Arbeit  wird  sich  im  All- 
gemeinen bei  den  Forschern  finden,  die  sich  anderweitig  mit 
unserm  Bewusstseinsinhalt  zu  beschäftigen  haben. 

Das  ist  der  Grund,  aus  dem  ich  die  Berechtigung  ableite, 
die  Psychologie  eine  philosophische  Wissenschaft  zu  nennen. 
Die  Psychologie  ist  ein  Ganzes,  das  aus  zwei  für  unser  jetziges 
Verständniss  noch  heterogenen  Theilen  besteht.  Man  kann  ihr 
die  Stellung  nach  dem  einen  oder  dem  andern  anweisen.  Receptiv 
müssen  Physiologe  und  Philosoph  im  Stande  sein,  das  Ganze 
zu  verarbeiten;  liir  die  productive  Tbätigkeit  tritt  die  Theilung 
der  Arbeit  ein.  Das  eine  Gebiet  erfordert  physiologische  und 
psychiatrische  Fachbildung;  das  andere  ein  logisch  geübtes 
geistiges  Auge,  das  fähig  ist,  in  dem  Gewirr  der  psychischen 
Bewegung  die  Regel  zu  entdecken.  Ich  nenne  das  Ganze  nach 
dem  ersten  Theil,  weil  die  Leistung  des  Naturforschers,  obwohl 
au  sich  die  wissenschaftlich  höhere,  in  letzter  Linie  nur  dazu 
dient,  die  eigentümliche  Vorarbeit  des  Philosophen  zu  erklären. 


10  II.    Die  allgemeine  Theorie  des  Erkeiinens. 

11.   Die  iilli^eiiHMiic  Theorie  des  Erkeiinens. 

1.  Ausgangspunkt. 

14.  Die  Psychologie  enthält  die  Gesammtgeschichte  unseres 
Seelenlebens;  es  gibt  keine  inneren  Vorgänge,  welche  sie  nicht 
zu  beschreiben  und  zu  erklären  hätte. 

Da  von  den  Problemen  der  theoretischen  Philosophie,  welcher 
Art  sie  auch  sein  mögen,  jedenfalls  so  viel  feststeht,  dass  sie 
an  Bewusstseinsvorgänge  anknüpfen,  so  müssen  alle  psychologi- 
schen Ergebnisse  von  höchster  Bedeutung  für  sie  sein.  In  erster 
Linie  hat  sie  ihre  Aufmerksamkeit  auf  den  Abschnitt  von  der 
Verbindung  der  Vorstellungen  zu  richten.  Das  Bewusstsein  er- 
füllt sich  in  seinem  zeitlichen  Verlauf  mit  unendlich  verschie- 
denen Aneinanderreihungen  von  Vorstellungen.  In  diesen  Reihen 
erscheinen  Glieder,  welche  sich  von  den  andern  abheben  und, 
mit  einander  verschmelzend,  als  eine  Einheit  vom  Bewusstsein 
umfasst  werden.  Die  Fähigkeit,  verschiedene  Vorstellungen  zu 
einer  Einheit  im  Bewusstsein  zu  verknüpfen,  heisst  denken,  und 
die  Vorstellung  einer  solchen  Einheit  das  Urtheil.  Das  Urtheil 
ist  die  Quelle  jeder  höheren  psychischen  Thätigkeit. 

15.  Unter  den  Urtheilen  gibt  es  nun  solche,  deren  Einheit 
sich  im  weiteren  Verlaufe  des  psychischen  Geschehens  wieder 
auflöst;  andere,  deren  Verknüpfung  im  Bewusstsein  festgehalten 
oder  bei  neuem  Zusammentreffen  der  entsprechenden  Vorstel- 
lungen wiederum  ejzeugt  wird ;  eine  dritte  Klasse  endlich,  deren 
Synthesis  das  Beti^üsstsein  begleitet  oder  begleiten  kann,  dass 
siö  unauflöslich  sei  und  bei  jeder  Succession  der  gleichen  Ele- 
mente gebildet  werden  müsse.  Die  Verbindungen  der  letzten 
Art  heissen  notwendige  Urtheile. 

16.  Die  notwendigen  Urtheile  bilden  den  Inhalt 
unseren^Erkenntniss.  Die  Frage:  Sind  und  wie  sind  sie  möglich? 
heisst  nichts  Geringeres  als:  Gibt  es  eine  Wissenschaft?  Mit 
dem  Studium  dieses  Problems  verbindet  sich  das  höchste  Inter- 
esse, das  die  menschliche  Würde  und  die  menschliche  Glück- 
seligkeit« berühren  kann. 

Man  nehme  keinen  Anstoss  an  dem  Widerspruch,  der  sich 
eingeschlichen  zu  haben  scheint.  Einmal  benützten  wir  das  Be- 
wusstsein   der  Notwendigkeit    als   Kriterium    für    die  Auswahl 


♦  1.   Ausgangspunkt.  11 

unseres  Stoffes  aus  der  Psychologie.  Deiinocli  fragen  wir  nachher 
nicht  bloss,  wie,  sondern  auch  ob  solche  Urtheile  überhaupt 
möglich  seien.  Die  Sache  verhält  sich  so,  das«  wir  allerdings 
das  Factum  der  Psychologie  entnehmen,  nicht  aber,  ohne  uns 
die  Prüfung  des  Thatbestandes  vorzubehalten.  Es  wäre  denkbar, 
dass  man  von  einer  neuen  Seite  her  der  Psychologie  beweisen 
könnte,  dass  ihre  Behauptung  einer  solchen  Notwendigkeit  eine 
Täuschung  sei,  die  vor  einer  anderweitigen  Betrachtung  zerfliesse. 
Wir  nehmen  also  die  Thatsache  als  eine  vorläufige  auf.  Gelingt 
es  uns  dann  nicht,  ihre  Möglichkeit  befriedigend  zu  erklären, 
so  werden  wir  auch  an  ihre  Wirklichkeit  nicht  mehr  glauben 
können. 

17.  Aber  nun  müssen  wir  uns  fragen:  Greift  denn  dieses 
Problem  überhaupt  aus  der  Psychologie  hinaus  und  in  ein  neues 
Gebiet  über?  Ist  denn  die  Erklärung  irgend  eines  Bewusstseins- 
zustandes  nicht  eine  rein  psychologische  Aufgabe?  Wir  beob- 
achten naturwissenschaftlich  die  Entwicklung  des  Bewusstseins 
von  seinen  ersten  Anfängen  bis  zur  vollendeten  Keife,  wir  unter- 
suchen die  psychischen  Processe,  folgen  der  Trennung  und  Ver- 
bindung der  Vorstellungen,  und  suchen  auf  diese  Weise  ein  Gesetz 
zu  entdecken,  das  die  Stärke  unserer  üeberzeugung  bedingt. 

Allerdings  ist  auch  dieses  Bemühen  sehätzensw^erth.  Wir 
lernen  dabei,  dass  von  den  zahllosen  Associationen  unserer  Vor- 
stellungen einige  immer  wiederkehren  und  dass  sie  unserem  Be- 
wusstsein  um  so  mehr  als  zusammengehöwg  erscheinen,  je 
häufiger  sie  sich  wiederholen,  je  mehr  sie  sich  von  anderen 
lockeren  Verbindungen  abheben  und  mit  neuen  festeren  vereinigen. 
Daraus  lässt  sich  schliessen,  dass  unser  Glaube  an  die  Zusam- 
mengehörigkeit gewisser  Vorstellungen  sich  steigere  mit  der  Ge- 
wohnheit, diese  Synthesen  im  Bewusstseiusinhalt  immer  wieder 
entstehen  zu  sehen.  Allein  damit  ist  entfernt  nicht  die  Not- 
wendigkeit erklärt,  wie  sie  oben  beschrieben  wurde,  das  Be- 
wusstsein  einer  Einheit  bestimmter  Vorstellungen,  die  durch 
keinen  empirischen  Fall  aufgehoben,  von  keinem  individuellen 
Bewusstsein  geleugnet  werden  kann.  Diese  Notwendigkeit  ist 
psychologisch  schlechtbin  unbegreiflich.  Die  Psychologie  bleibt 
uns  jede  Bürgschaft  schuldig,  dass  wir  nicht  früher  oder  später 
einmal  durch  irgend  eine  Unregelmässigkeit  der  Erfahrung  aus 
unserer  Gewohnheit  aufgerüttelt  werden.    Sobald  man  also  diese 


12  II.    Die  allgemeine  Theorie  des  Erkenncns.  ♦ 

Erklärung  als  die  einzig  mögliehc  ansieht,  nuiss  man  folgerichtig 
der  Psychologie  verkünden,  dass  sie  ihren  Urtheilen  eine  solche 
Notwendigkeit  nur  „angedichtet"  habe.')  Die  wissenschaftliche 
Skepsis  ist  der  einzige  Standpunkt,  zu  welchem  man  auf  diesem 
Wege  gelangen  kann. 

Wer  also  an  der  Lösung  der  Aufgabe,  die  Älöglichkeit  der 
Erkenntniss  zu  erklären,  nicht  verzweifeln  will,  muss  zugeben, 
dass  hier  aus  dem  Schooss  der  Psychologie  eine  neue  Wissen- 
schaft hervorspringt,  welche  ihre  eigentümliche  Methode  zu  er- 
fordern scheint.  Damit  eröffnet  sich  das  zweite  grosse  Arbeits- 
feld der  theoretischen  Philosophie.  Man  kann  ihm  den  Namen 
geben:  Allgemeine  Logik  oder  Allgemeine  Theorie  des  Er- 
kennens. 

2.    Arten  der  Notwendigkeit. 

19.  Die  erste  Aufgabe  dieser  logischen  Wissenschaft  ist  es 
nun,  den  fundamentalen  Begriff  der  Notwendigkeit  einer  genauen 
Prüfung  zu  unterwerfen.  Dies  geschieht  durch  die  vergleichende 
Analyse  der  Urtheile,  die  mit  dem  Anspruch  auf  Notwendigkeit 
auftreten.  Der  Inbegriff  derselben,  die  Wissenschaft,  muss  ihrem 
ganzen  Bestände  nach  durchforscht  werden.  Wir  vergleichen  die 
mathematische  Gewissheit  mit  der  physikalischen,  wir  unter- 
suchen die  Ansprüche  theologischer  Sätze,  wir  zergliedern  die 
Behauptungen  der  Geschichte,  der  Jurisprudenz,  und  wir  be- 
trachten die  Notwendigkeit,  welche  die  Maximen  unseres  Han- 
delns begleitet.  Andererseits  wenden  wir  uns  nicht  nur  an  die 
gegenwärtige  Wissenschaft,  sondern  auch  an  ihre  Geschichte. 
Wir  schauen  auf  die  Entwicklung  der  heute  anerkannten  Ge- 
setze zurück  und  beobachten  ihren  Kam])f  mit  den  früher  gültigen. 
Indem  wir  die  Ursache  ihres  Sieges  und  die  Gründe  der  irrtüm- 
lichen Ucberzeugung  der  Vergangenheit  kennen  lernen,  werden 
wir  mit  dem  Wesen  und  den  verschiedenartigen  Ansprüchen  der 
Notwendigkeit  näher  vertraut. 

20.  Hier  muss  Ein  Ergebniss  dieser  Prüfung  hervorgehoben 
werden,  das  für  die  Begriffsbestimmung  unserer  Wissenschaft 
von  der  grössten  Tragweite  ist.  Das  Bewusstsein  der  Notwendig- 
keit, das  alle  möglichen  Urtheile  begleitet,  lässt  sich  in  zwei 
Arten  theilen.  Wenn  ich  das  Urtheil  ausspreche:  die  Luft  ist 
schwer,   so   beruht  meine   Ueberzeugung   von    der   notwendigen 


2.    Arten  der  Notwendigkeit.  13 

Verknüpfung  dieser  beiden  Vorstellungen  entweder  darauf,  dass 
ich  an  zwei  andere  in  meinem  Bewusstseiu  befindliche  Urtheile 
denke:  die  Kchper  sind  schwer,  und:  die  Luft  ist  ein  Körper. 
Oder  ich  denke  unmittelbar  an  das  durch  die  Vorstellung  be- 
zeichnete Diug,  und  an  die  Beobachtungen,  die  mir  seine  Schwere 
klar  machten.  Im  ersten  Falle  denke  ich  mir  die  vorliegende 
Verknüpfung  als  bereits  enthalten  in  der  durch  jene  andern  beiden 
Urtheile  beschriebenen  Einheit ;  im  zweiten  Falle  berufe  ich  mich 
für  die  Gültigkeit  meiner  Synthese  auf  die  Einheit  eines  Gegen- 
standes. Das  Urtheil  selbst  ist  jedesmal  durchaus  das  gleiche; 
nur  sein  Zusammenhang  mit  anderm  Bewusstseinsinhalt  ist  in 
beiden  Fällen  yei*schieden. 

Da  das  Bewusstsein  im  ersten  Falle  durch  die  Stellung,  die 
das  Urtheil  in  der  übrigen  Erkenntniss  einnimmt,  durch  seine 
Verknüpfung  mit  andern  Urtheilen  bestimmt  ist,  so  mag  diese 
Notwendigkeit  passend  _for male  genannt  werden.  Insofern  es 
sich  im  zweiten  Falle  von  der  sachlichen  Bedeutung  der  zu  ver- 
knüpfenden Vorstellungen  direct  abhängig  erklärt,  ist  diese  Not- 
wendigkeit als  materiale;^)  von  der  ersteren  zu  unterscheiden. 

Jede  Art  des  logischen  Rechtsanspruches  erfordert  ihre  ge- 
sonderte Untersuchung.  Dadurch  begründet  sich  die  Theilung 
unserer  allgemeinen  Logik  in  eine  formale  und  eine  materiale 
Logik.  Der  gefundene  Unterschied  ist  in  der  That  „  classiscb "  ^) 
für  die  Theorie  des  menschlichen  Erkennens,  indem  er  der  For- 
schung zwei  ganz  bestimmte,  von  einander  sich  abzweigende 
Bahnen  anweist. 

21.  Die  Darlegung  der  Möglichkeit  eines  notwendigen  Ur- 
theils  nennt  man  Beweis.  Die  allgemeine  Logik  lässt  sich  kurz 
als  Theorie  der  Beweise  kennzeichnen.  Damit  ist  also  bereits 
eine  allgemeine  Einsicht  in  die  Natur  alles  Beweisens  gewonnen. 
Den  Arten  der  Notwendigkeit  entsprechend,  gibt  es  zwei  Arten 
von  Beweisen.  Der  erste  Schritt  des  Verfahrens  muss  also  stets 
die  Feststellung  der  Art  der  Notwendigkeit  sein,  mit  welcher  es 
der  Beweis  zu  thun  hat. 

22.  Die  Kantischen  Termini  Analytisch  und  Synthetisch 
habe  ich  vermieden,  theils  um  den  an  sie  sich  knüpfenden  Vor- 
urtheilen  zu  entgehen,  theils  um  direct  zu  dem  gebräuchlichen 
Titel  der  formalen  Logik  zu  gelangen.  Der  Sache  nach  decken 
sie  sich  genau  mit  der  oben  gemachten  Eintheihmg.    Ich   be- 


14  in.    Die  formale  Logik. 

merke  noch,  dass  mau  jene  Ausdrücke  dadurch  am  besten  vor 
Missverständnissen  schützt,  dass  man,  anstatt  von  dem  Unter- 
schiede analytischer  und  synthetischer  Urtheile  zu  reden,  von  dem 
Unterschiede  analytischen  und  synthetischen  Urtheilcns  spricht. 
Ueber  die  zulässige  Auffassung  des  fertigen  Urtheils  kann  Streit 
sein;  die  gleiche  Einheit  kann  sich  analytisch  und  synthetisch 
legitimiren.  Ueber  den  Bewusstseinsvorgang  aber,  durch  welchen 
das  Urtheil  wissenschaftlich  gewonnen  wurde  und  bei  vollstän- 
diger Ableitung  immer  wieder  gewonnen  werden  muss,  steht  eine 
dauernde  Entzweiung  nicht  zu  befürchten. 


III.    Die  formale  Logik. 

1.    Charakter  der  formalen  Logik. 

23.  Da  die  formale  Notwendigkeit  entsteht  durch  Beziehung 
eines  Urtheils  auf  andere  Vorstellungsverbindungen,  setzt  ihr  Er- 
scheinen jederzeit  eine  vorhandene  Erkenutniss  voraus.  Die 
formale  Notwendigkeit  ist  hypothetisch. '')  Wenn  die  Einheit  A 
gilt,  so  gilt  auch  die  Einheit  B;  dieser  Bezug  beider  ist  not- 
wendig. Dabei  bleibt  unausgemacht,  ob  mit  A  selbst  das  Be- 
wusstsein  der  Notwendigkeit  verbunden  sei  oder  nicht.  Im  geo- 
metrischen Beweise,  in  der  physikalischen  Induction  und  im 
[)hantastischen  Zaubermärchen  wird  gleicherweise  formale  Not- 
wendigkeit erzeugt. 

24.  Die  formale  Logik  ist  also  die  Wissenschaft  der  gegen- 
seitigen Beziehung  der  Urtheile.  Sic  hat  zu  untersuchen,  in 
welchen  Fällen  die  Relation  zweier  Urtheile  das  Bewusstsein 
der  Notwendigkeit  hervorbringe  und  in  welchen  nicht.  Ihre 
Hauptaufgabe  wird  sein,  diese  Abhängigkeit  der  Vorstcllungs-, 
bewegungen  auf  allgemeine  Sätze  zu  bringen. 

Schon  aus  der  allgemeinen  Bestimmung  der  formalen  Logik 
geht  hervor,  dass,  wenn  auch  ihre  Untersuchung  an  ein  vorhan- 
denes Wissen  geknüpft  ist,  sie  doch  kein  besonderes  Wissen, 
keine  bestimmte  Wissenschaft  voraussetzen  darf.  Sie  soll  ja 
eben  eine  vom  Inhalt  unal)hängige  blosse  ßewegungsbeziehung 
zwischen  den  Vorstellungen   auifinden.     Sie  soll  das  zusammen- 


1.    Charakter  ilcr  formalen  Logik.  15 

hängende  Denken  als  solches,  als  Function  unseres  Bewusstseins, 
aber  mit  stetem  Hinblick  auf  die  dadurch  erzeugte  Notwendig- 
keit untersuchen. 

25.  Diese  Aufgabe  ist  in  ihrer  ganzen  Allgemeinheit  lösbar, 
ja  die  Logik  braucht  die  milhsame  Vorarbeit  der  Abstraction 
von  dem  in  Wirklichkeit  allein  existirendeu  besondern  Denken 
nicht  einmal  selbst  vorzunehmen.  Alle  Vorstellungsbewegungen 
verbiaden  sieb  mit  dem  linguistischen  Ausdruck ;  die  Sprache  ist 
gleichsam  das  Wachs,  in  welches  sich  der  Bewusstseinsvorgang 
einzeichnet.  Die  Grammatik  geht  aus  von  dem  in  der  Sprache 
enthaltenen  Schatz  von  Symbolen  des  Vorgestellten  und  sucht 
nach  Gesetzen  der  gegenseitigen  Verknüpfung  und  Bestimmung 
dieser  Zeichen ;  schon  sie  betrachtet  die  Vorstellungsverknüpfung 
als  solche  und  hat  sie  im  „Satz"  in  abstracto  dargestellt  und 
analysirt.  Die  Grammatik  bietet  nun  der  Logik  das  empirische 
Rohmaterial  zu  weiterer  Bearbeitung.  Wenn  es  auch  nur  die 
sprachliche  Aeusserungsform  ist,  die  sie  aufzeichnet,  so  liegt  doch 
in  jeder  elementaren  Art  derselben  eine  Hindeutung  auf  eine 
fundamentale  Bewusstseinsfunction,  und  die  Logik  findet  in  den 
grammatikalischen  Kategorien  die  vollständige  Uebersicht  über 
den  von  ihr  anderweitig  zu  classificirenden  Stoff. 

Die  Logik  kann  zu  einer  Ansicht  über  das  gegenseitige 
Verhältniss  der  Verknüpfungseinheiten  nur  gelangen ,  wenn  sie 
das  Wesen  der  Einheit  selbst  und  die  Arten  der  Vereinigung 
ergründet.  Sie  geht  daher  am  zweckmässigsten  aus  vom  gram- 
matikalischen Satze.  Indem  sie  dessen  Bestandtheile  als  Zeichen 
vom  Vorgestellten  auffasst,  lernt  sie  den  eigentümlichen  Cha- 
rakter der  Componenten  kennen,  welche  die  Einheit  verschie- 
dener Vorstellungen  zu  Stande  bringen.  Indem  sie  ferner  die 
verschiedenen  Regeln  beachtet,  nach  welchen  die  Elemente  des 
grammatikalischen  Satzes  verknüpft  erscheinen,  wird  sie  auf  die 
verschiedenen  Formen  hingewiesen,  in  welchen  die  Bewusst- 
seinseinheit  der  Vorstellungen  sich  äussert. 

26.  Damit  hat  nun  aber  auch  die  formale  Logik  die  Spur 
der  Grammatik  zu  verlassen,  Avenn  sie  ihr  Ziel  erreichen  will. 
Es  handelt  sich  nunmehr  darum,  durch  Reflexion  die  formalen 
Eigenschaften  aufzufinden,  welche  man  dem  Vorgestellten  beilegen 
muss,  wenn  es  in  die  durch  die  grammatikalischen  Sinnbilder 
angedeuteten  Verhältnisse  eingehen  soll. 


16  III.    Die  formale  Lo?ik. 

Welcher  Art  auch  die  Verknüpfung  sein  möge,  die  durch 
das  Urtheil  dargestellte  Einheit  kann  nicht  anders  gedacht 
werden,  denn  als  eine  neue  Vorstellung,  welche  wahrnehmbare 
Theile  cuthält,  ein  psychisches  Gebilde,  in  welchem  jene  ur- 
sprüugliclien  Vorstellungen  des  betreffenden  Urtheils  als  zu- 
sammenhängende Elemente  erscheinen.  Eine  solche  Vorstel- 
lung, welche  dem  Bewusstsein  als  mehrere  andere  Vorstellungen 
umfassend  und  in  sich  enthaltend  erscheint,  heisst  Begriff. 
Nun  können  wir  annehmen,  dass  die  Vorstellungen,  durch 
deren  Verknüpfung  wir  einen  solchen  Begriff  entstanden  denken, 
selbst  schon  zusammengesetzt  gewesen  seien;  also  müssen  auch 
sie  aus  Urtheilen  hervorgegangen  sein.  Die  Elemente  dieser 
Urtheile  können  wiederum  Begriffe  sein  u.  s.  w.  u.  s.  w.,  bis  wir 
zuletzt  zu  Urtheilen  gelangen,  deren  Bestandtheile  sich  als  un- 
zerlegbare Vorstellungen  erweisen.  In  dieser  Kette  von  Syn- 
thesen stellt  sich  die  Gesammtarbeit  des  formalen  Denkens  dar, 
und  man  kann  auf  diesem  Standpunkt  die  Logik  bestimmen  als 
die  Lehre  vom  Zusammenhang  der  Begriffe. 

Nehmen  wir  nun  an,  die  Bestandtheile  eines  Urtheils  seien 
selbst  aus  einer  sehr  grossen  Anzahl  von  Vorstellungen  zusam- 
mengesetzt. Durch  die  Synthese  jener  beiden  Glieder  werden 
also  alle  die  Bestandtheile  zweiter,  dritter  u.  s.  w.  Ordnung  mit- 
verknüpft. Mit  der  Einheit  des  Urtheils  werden  somit  gleich- 
zeitig eine  Menge  anderer  Einheiten  erzeugt,  welche  ihrer  Festig- 
keit und  Geltung  nach  alle  Eigenschaften  der  sie  umfassenden 
theileu  müssen.  Ich  kann  nun  diese  ereignissreiche  Handlung 
des  Bewusstseins  in  ihre  einzelnen  Leistungen  zergliedern;  ich 
kann  aus  dem  Einen  Urtheile  die  ganze  Reihe  der  in  ihr  voll- 
zogenen besonderen  Urtheile  entwickeln. 

Die  Arten  und  Möglichkelten  dieser  Entwicklung  zu  be- 
schreiben ist  Aufgabe  der  Logik,  welche  sie  theils  durch  em- 
pirisches Ablesen,  theils  unabhängig  von  der  Erfahrung  durch 
Combination  der  gefundenen  Elemente  mit  befriedigender  Vollstän- 
digkeit lösen  kann.  Aber  der  Haui)tpunkt  des  Problems  ist  nun, 
die  Bedingung  klar  zu  formuliren,  unter  der  bei  einer  solchen 
Entwicklung  das  Bewusstsein  der  Notwendigkeit  entstehen  kann. 
Diese  Bedingung  wird  dann  das  Kriterium  bilden,  nach  welchem 
wir  unter  allen  möglichen  Combinationen  die  gültigen  zu  be- 
stimmen haben. 


2.    Die  Voraussetzungen  der  formalen  Logik.  17 

2.    Die  Voraussetzungen  der  formalen  Logik. 

27.  Wenn  ein  Urtheil  mit  zusammengesetzten  Bestandtheilen 
und  von  einer  bestimmten  Gültigkeit  gegeben  ist,  so  sollen  die 
Bedingungen  aufgesucht  werden,  unter  welchen  den  aus  ihnen 
entwickelten  Urtheilen  formale  Notwendigkeit  zukommt,  d.  h. 
unter  welchen  sie  an  der  Gültigkeit  des  ursprünglichen  Urtheils 
participiren, 

2S.  Der  Zweifel  an  der  Gültigkeit  eines  abgeleiteten  Urtheils 
wird  dadurch  gehoben,  dass  man  zeigt,  dass  es  in  einem  andern 
Urtheil,  dessen  Gültigkeit  in  der  Voraussetzung  zugestanden  wird, 
mitgebildet  wurde.  Das  Bewusstseiu  der  Notwendigkeit  beruht 
daher  in  erster  Linie  auf  der  klaren  Einsicht,  dass  durch  die 
Synthesis  zusammengesetzter  Vorstellungen  wirklich  auch  deren 
Theile  verbunden  werden.  Wir  haben  also  das  Axiom  voraus- 
zuschicken : 

Was  mit  dem  Ganzen  im  Bewusstsein  verknüpft  wird,  wird 
auch  mit  seinen  Theilen  verknüpft.  Was  vom  Ganzen  im  Be- 
wusstsein getrennt   wird,   wird  auch  von  den  Theilen  getrennt. 

Dieser  SXatz  ist  unmittelbar  evident,  sobald  man  die  Natur 
des  'Begriffes  erkannt  hat.  Er  ist  selbstverständlich;  aber  man 
ist  darum  nicht  weniger  gezwungen,  ihn  zu  formuliren  und  an 
richtiger  Stelle  in  die  Entwicklung  der  Logik  einzureihen.  Die 
Wissenschaft  hat  sich  durch  seine  Vernachlässigung  einen  nicht 
unwichtigen  Fehler  in  der  Schärfe  der  Begründung  zu  Schulden 
kommen  lassen. 

Dies  Axiom  ist  enthalten,  wenn  auch  in  zu  speciellem  Ausdruck, 
in  dem  alten  dictum  de  omni  et  uullo:  „quidquid  de  omnibus 
valet,  valet  etiam  de  quibusdam  et  siugulis;  quidquid  de  nuUo 
valet,  *nec  de  quibusdam  vel  singulis  valet, " ')  Die  neuere  Logik 
hat  dieses  Princip  im  Allgemeinen  kaum  der  Beachtung  wert 
gefunden. 

29.  Das  Enthaltensein  des  abgeleiteten  Urtheils  in  dem  ur- 
sprünglichen kann  nur  dadurch  evident  werden,  dass  unser  Be- 
wusstsein die  Fähigkeit  hat,  der  Gleichheit  von  Begriffen  inne 
zu  werden.  Ich  muss  im  Stande  sein,  den  entwickelten  Begriff 
als  Bestaudtheil  des  gegebenen  wiederzuerkennen.  Die  Mög- 
lichkeit der  Recog-nition  von  Begriffen  ist  eine  Thatsache,  welche 
die  formale  Logik  der  Psychologie  entlehnt  und  als  fundamentale 

Stadler,  Erkenntnisstheorie. 


18  ni     Die  formale  Logik. 

< 

Vorausi-etzmig    ihrer    systematischen    Ableitung    zu    Grunde    zu 

legen  hat. 

Die  Formel,  welche  dieses  Postulat  enthält,  ist  das  Priucip 

der  Identität : 

A  =  A. 

Dieser  Ausdruck  ist  somit  durchaus  keine  Tautologie;  son- 
dern er  muss  aufgefasst  werden  als  Darstellung  des  psychologi- 
schen Ergebnisses,  das  die  Entstehung  der  formalen  Notwendig- 
keit allein  ermögliclit.  Vollständig  lieisst  das  Gesetz:  A  =  A 
als  Bewusstseinszustand  ist  möglich. 

Aber  das  Princip  verschärft  sich  durch  die  Beschränkung, 
die  es  von  anderer  Seite  erfährt,  zu  einer  w^eiteren  Leistung. 
Die  Erkenntnisstheorie,  die  sich  nicht  mit  dem  bloss  formalen 
Bau,  sondern  mit  dem  inhaltlichen  Wert  der  Vorstellungen  be- 
schäftigt, liefert  das  Resultat,  dass  trotz  der  psychologischen 
Fähigkeit,  Vorstellungen  als  gleiche  zu  erkennen,  in  Hinsicht 
auf  ihre  Bedeutung  eine  absolute  Identität  nicht  zugestanden 
werden  kann.  Alle  Vorstellungen  treten  in  zeitlicher  Ordnung 
im  Bewusstsein  auf.  Soweit  nun  auch  die  Uebereinsthnmung 
zweier  Vorstellungen  gehen  mag,"  sie  werden  stets  durch  ihre 
Stellung  in  der  Zeit  einen  unverwischbaren  Unterschied  behalten. 
Für  die  formale  Logik,  wo  wir  die  Gesammtheit  aller  Urtheile 
und  Begriffe  gleichsam  als  ein  Ganzes  betrachten,  dessen  Gliede- 
rung wir  enthüllen  sollen,  ist  die  zeitliche  Ditferenz  irrelevant. 
Wir  können  sie  vernachlässigen  und  alle  Deductionen  vornehmen, 
als  ob  es  im  Denken  keine  Zeitbestimmung  gäbe.  Damit  ist 
ein  neues  Postulat  für  die  Möglichkeit  der  formalen  Notwendig- 
keit gemacht,  das  ebenfalls  im  Princip  der  Identität  enthalten 
ist.  Die  Formel  sagt  in  diesem  Falle:  A  soll  gleich  A  |;elten, 
obwohl   es   sich  in  Wirklichkeit  zeitlich  von  ihm  unterscheidet. 

In  dieser  Voraussetzung  liegt  zugleich  eine  Einschränkung 
der  logischen  Wahrheit,  welche  sich  mit  der  der  mathematischen 
anhaftenden  vergleichen  lässt.  Die  Gesetze  gelten,  soweit  die 
in  der  Voraussetzung  angenommene  Abstraction  mit  der  Wirk- 
lichkeit nicht  in  Widerspruch  gerät. 

Das  ist  der  doppelte  Inhalt  und  meiner  Ansicht  nach  der 
einzig  bedeutungsvolle,  den  man  dem  Princip  der  Identität  zu 
geben  hat.  Man  verkannte  seinen  wirklichen  Sinn,  indem  man 
ihm  bald  zu  viel,  bald  zu  wenig  zumutete. '') 


2.   Die  Voraussetzungen  der  formalen  Logik.  19 

30.  Damit  ist  nun  aber  die  Möglichkeit  der  Erzeugung  for- 
maler Notwendigkeit  keineswegs  erschöpft.  Es  kann  sich  näm- 
lich die  Aufgabe  der  Entwicklung  auch  im  umgekehrten  Sinne 
darbieten.  Es  kann  ein  ürtheil  mit  dem  Anspruch  auf  Not- 
wendigkeit gegeben  sein  und  verlangt  werden,  dazu  die  Voraus- 
setzung d.  h.  das  Urtheil  zu  suchen,  in  welchem  sich  die  vor- 
liegende Synthese  als  bereits  geschehen  darstellt.  Findet  sich 
ein  solches  Urtheil,  so  lässt  sich  die  prätendirte  Notwendigkeit 
des  gegebenen  nach  dem  Satz  der  Identität  als  wirklich  darthun. 
Stellen  wir  uns  dagegen  vor,  dass  sich  in  der  Gesammtheit  aller 
vorhandenen  Verknüpfungen  keine  finde,  als  deren  Bestandtheil 
sich  die  gegebene  darstellen  lässt.  In  diesem  Fall  muss  die 
Möglichkeit  die  betreffenden  Vorstellungen  zu  einer  Einheit  zu- 
sammenzufassen formal  verneint  werden  und  es  entsteht  ein  ne- 
gatives Urtheil.  In  demselben  werden  die  Bestandtheile  als 
keine  Gesammtvorstellung  bildend,  gesondert  vorgestellt.  Dazu 
ist  es  unnötig,  eine  neue  psychologische  Fähigkeit  vorauszusetzen. 
Die  negativen  Urtheile  entspringen  aus  der  blossen  Unmöglich- 
keit, das  Princip  der  Identität  zur  Geltung  zu  bringen. 

Nehmen  wir  nun  an,  es  sei  eine  Anzahl  solcher  verneinter 
Synthesen  vorhanden,  so  können  wir  mit  formaler  Notwendigkeit 
nach  dem  Satz  der  Identität  eine  Reihe  neuer  Urtheile  daraus 
entwickeln.  Dabei  ist  wiederum  die  erste  Voraussetzung,  das 
erweiterte  dictum  de  omni  et  nullo  in  Betracht  zu  ziehen  (§  28). 
"Was  von  dem  Ganzen  getrennt  wird,  wird  auch  von  den  Theilen 
getrennt.  Wenn  wir  also  die  complexen  Vorstellungen  eines 
negativen  Urtheils  in  ihre  Bestandtheile  auflösen ,  so  stellen  sich 
in  der  Einen  Negation-  eine  Reihe  von  particularen  Negationen 
als  enthalten  dar  und  wir  gewinnen  daraus  die  entsprechende 
Menge  gültiger  negativer  Urtheile. 

31.  Denken  wir  uns  nun,  wir  seien  durch  die  Entwick- 
lung zweier  Reihen  schliesslich  zu  zwei  Urtheilen  gelangt,  in 
welchen  die  Sj^nthesis  der  gleichen  Vorstellungen  im  einen  be- 
hauptet, im  andern  verneint  wird.  Beide  Urtheile  haben  formale 
Notwendigkeit,  da  sie  nach  dem  Satze  der  Identität  aus  Ge- 
gebenem abgeleitet  sind.  Trotzdem  können  die  beiden  Urtheile 
nicht  neben  einander  bestehen.  Denn  wenn  ich  das  eine  an- 
nehme, hebe  ich  zwar  nicht  dessen  Voraussetzung,  aber  doch  das 
andere  auf,  an  das  ich  doch  eben  so  sehr  geneigt  bin  zu  glauben; 


20  III-    I^i*"  formale  Logik. 

dieses  aber  liebt  seinerseits  das  erste  auf.  Wir  stehen  also  hier 
vor  einem  Falle,  wo  die  formale  Notwendigkeit  nicht  mehr  im 
Stande  ist,  unsere  Ueberzeugung  zu  bestimmen.  Das  formale 
Denken  kann  uns  keine  Resultate  mehr  liefern,  sobald  die  Ver- 
knüpfung und  ihre  Negation  mit  gleichem  Anspruch  auftreten. 
Wollen  wir  also  die  Möglichkeit  der  logischen  Ableitung  aufrecht 
erhalten,  so  müssen  wir  einen  Grundsatz  aufstellen,  welcher  das 
Eintreten  solcher  Fälle  überhaupt  für  unmöglich  erklärt.  Im 
Interesse  der  Sicherung  der  formalen  Entwicklung  stellen  wir 
daher  das  Gesetz  auf: 

Es  ist  unmöglich,  dass  A,  welches  A  ist,  nicht  A  sei. 

Dieser  Grundsatz  reiht  sich  als  dritte  logische  Voraussetzung 
an  die  übrigen  an  und  muss  mit  ihnen  zusammen  bestehen. 
Wenn  uns  daher  das  Princip  der  Identität  in  der  formalen  Ab- 
leitung auf  solche  Fälle  führt,  welche  das  neue  Gesetz  verbietet, 
so  bleibt  uns  nichts  Anderes  übrig,  als  eine  der  Voraussetzungen, 
aus  welchen  die  beiden  Urtheile  ursprünglich  deducirt  wurden, 
für  unmöglich  zu  erklären.  Die  gegebenen  ersten  Synthesen 
müssen  nun  selbst  auf  ihre  logische  Abstammung  untersucht 
werden,  und  alle  weitere  Arbeit  bleibt  suspendirt,  bis  sich  her- 
ausgestellt hat,  wo  in  der  Ableitung  der  einen  Prämisse  gegen 
das  Princip  der  Identität  Verstössen  wurde.  Sollte  ein  solcher 
Fehler  überhaupt  nicht  gefunden  werden,  sollte  die  formale 
Gültigkeit  der  Prämissen  auf  allen  Stufen  der  Ableitung  be- 
stehen bleiben,  so  ist  man  gezwungen,  ganz  einfach  die  Bedeu- 
tung der  ursprünglichen  Begriffe  selbst  umzuarbeiten,  falls  man 
auf  die  Möglichkeit  der  Logik  nicht  verzichten  will. 

Der  Grundsatz  des  Widerspruchs  enthält  keine  psycholo- 
gische Thatsache.  Er  ist  eine  Hypothese  über  das  gegenseitige 
Verhältniss  der  Begriffe,  das  eine  formale  Logik  allein  möglich 
machen  kann. 

Dagegen  muss  wohl  beachtet  werden,  dass  auch  dieses 
Princip  erst  der  Erkenntnisstheorie  gegenüber  seinen  Hauptnach- 
druck bekommt.  Die  Erkenntnisstheorie  könnte  sich  ermächtigt 
glauben,  der  formalen  Logik  über  die  obige  Schwierigkeit  hin- 
wegzuhelfen. Eure  formal  richtig  abgeleiteten  Sätze,  könnte  sie 
sagen,  sind  in  der  That  richtig,  sie  widersprechen  sich  gar  nicht. 
Die  Verneinung  der  Synthesis  gilt  eben  so  gut  als  ihre  Bejahung, 
nur  jede   zu   einer  andern   Zeit.     Diese  Ausflucht  soll   durch 


2.   Die  Voraussetzungen  der  formalen  Logik.  21 

den  Grundsatz  des  Widerspruchs  abgeschnitten  werden,  das  eben 
ist  das  Heilmittel,  das  die  formale  Logik  unter  keinen  Umständen 
anwenden  darf.  In  der  formalen  Logik  gibt  es  überhaupt  keine 
Rücksicht  auf  die  Zeit.  So  wenig  gleiche  Vorstellungen  durch 
Berücksichtigung  der  Zeitdififerenz  verschieden  werden  sollen 
(§  29),  ebensowenig  sollen  verschiedene  Vorstellungsverkuüpfungen 
durch  Vernachlässigung  der  Zeit  übereinstimmend  werden.  Ein- 
flüsse, welche  die  Zeit  auf  die  Gültigkeit  der  formalen  Processe 
ausüben  kann,  sind  als  nicht  vorhanden  anzusehen. 

Mit  dem  feinen  Sinne,  der  überall  die  Grenzen  der  Wissen- 
schaften herzustellen  und  rein  zu  halten  suchte,  hat  Kant  das 
.,  zugleich "  aus  dem  Satze  des  Widerspruchs  eliminirt. ")  Diese 
Zeitbestimmung  muss  auch  auf  immer  daraus  entfernt  bleiben. 
Der  Satz:  es  ist  unmöglich,  dass  etwas  zugleich  sei  und  nicht 
sei,  ist  erkeuntnisstheoretisch  und  widerspricht  geradezu  der  Ab- 
sicht der  formalen  Logik.  Er  spricht  etwas  aus,  das  sie  nicht 
interessirt  und  nicht  interessiren  darf.  ^^) 

32.  Wenn  wir  das  Verhältniss  der  Vorstellungen  im  All- 
gemeinen betrachten,  so  sehen  wir,  dass  dasselbe  nur  zwei  Arten 
hat.  Die  Vorstellungen  können  entweder  zu  einer  Einheit  ver- 
bunden oder  von  einander  getrennt  sein.  Die  erste  Beziehung 
wird  durch  die  bejahenden,  die  zweite  durch  die  verneinenden 
Urtheile  ausgedrückt.  Eine  dritte  Art  des  Verhältnisses  ist  nicht 
vorhanden  und  auch  nicht  denkbar.  Denn  in  den  sogenannten 
unendlichen  Urtheilen  ist  kein  neues  Resultat  der  Synthese,  son- 
dern nur  ein  zweites  Verfahren  des  Bewusstseins,  zu  dem  gleichen 
Ergebniss  der  negativen  Urtheile  zu  gelangen,  enthalten. 

Indem  wir  diese  Thatsache,   die   sich  aus   der  Betrachtung 
des  Gesammtzusammenhanges  der  Vorstellungen  ergibt,  in  einem 
Grundsatze  festhalten,   gewinnen  wir  eine   neue   Bedingung  für 
die  Möglichkeit  formaler  Notwendigkeit.     Der  Satz  lautet: 
A  ist  entweder  B  oder  A  ist  nicht  B. 

DasPrincip  des  ausgeschlossenen  Dritten  gestattet 
der  formalen  Entwicklung  eine  Erweiterung.  Wenn  ich  mit  for- 
maler Notwendigkeit  zu  dem  Urtheil  gelange:  Es  ist  unwahr, 
dass  A  B  ist,  so  erhalte  ich  nach  dem  obigen  Grundsatz  unmit- 
telbar das  notwendige  Urtheil:  A  ist  nicht  B.  Ebenso  folgt  aus 
dem  Ergebniss:  Es  ist  unwahr,  dass  A  nicht  B  ist,  das  Urtheil: 
A  ist  B.     Nicht  minder  ergibt  sich  mit  der  Wahrheit  der  einen 


•>■>  III.    Die  formale  Logik. 

Verknüpfung-   auf  Grund    unseres   Princips   die   Unwahrheit   der 
entgegengesetzten. 

Das  Princip  des  ausgeschlossenen  Dritten,  das  zuweilen  als 
leer  bezeichnet  wurde,  hat  also  eine  ganz  fruchtl)are  Function. 
Es  begründet  eine  Anzahl  von  Yorstellungsverknüpfimgen,  welche 
durch  das  blosse  Princip  der  Identität  weit  langsamer  erhalten 
Avürdcn.  Man  thut  gut,  auf  die  eigentümliche  Art  seiner  Gel- 
tung zu  achten.  Es  ist  kein  Axiom,  wie  die  erste  Voraussetzung, 
keine  einschränkende  Hypothese,  wie  der  Satz  des  Widerspruchs, 
kein  Postulat,  wie  das  Princip  der  Identität.  Es  ist  nicht  un- 
mittelbar evident;  seine  Gültigkeit  erfordert  eine  Begründung, 
wie  schon  aus  den  Angriffen,  denen  sie  ausgesetzt  war,  hervor- 
geht. Aber  der  Beweis  kann  nicht  durch  Berufung  auf  die  Mög- 
lichkeit der  Logik  geleistet  werden;  denn  das  formale  Denken 
ist  denkbar  ohne  diesen  Satz ;  es  würde  durch  seine  Ungültigkeit 
nur  an  Leichtigkeit  und  Eleganz  verlieren.  Die  Deduction,  die 
gegeben  werden  kann  und  gegeben  werden  muss,  besteht  eben 
in  dem  Hinweis  auf  den  Inbegriff  unserer  Vorstellungsbewegungen, 
in  welchen  neben  Verknüpfung  und  Trennung  ein  dritter  Modus 
theils  thatsächlich  sich  nicht  findet,  theils  auch  als  Möglichkeit 
nicht  construirt  werden  kann. 

Man  hat  erfolglos  versucht,  das  Princip  des  ausgeschlossenen 
Dritten  aus  dem  Satze  des  Widerspruchs  abzuleiten.  Es  ist  ein 
Grundsatz,  der  nicht  als  Correlat  der  übrigen  aufgefasst  werden 
kann.  ^ ') 

33.  Es  bleibt  uns  der  Grundsatz  zu  betrachten  übrig,  der 
in  der  Logik  gewöhnlich  als  der  wichtigste  augesehen  wird.  Ich 
reihe  ihn  der  Uebersichtlichkeit  wegen  an  die  übrigen  an ,  ob- 
wohl er  mit  denselben  nicht  auf  gleicher  Stufe  steht  und  eigent- 
lich an  einer  andern  Stelle  hätte  angeführt  werden  sollen. 

Der  Satz  vom  Grunde  ist  ein  Princip,  welches  sich  un- 
mittelbar aus  der  Definition  der  formalen  Logik  ergibt  und 
welches  daher  an  den  Beginn  der  ganzen  Logik  zu  stellen  ist. 
Ich  habe  es  nicht  gethan,  um  gerade  in  der  Nebeneinander- 
stellung dieser  Grundsätze,  wie  sie  bisher  üblich  war,  ihren  Unter- 
schied und  dadurch  den  Charakter  der  formalen  Logik  klar  zu 
macheu.  Sobald  wir  die  Aufgabe  und  das  Wesen  des  formalen 
Denkens  festgestellt  haben,  kann  uns  der  Satz  vom  Grunde  nichts 


3.    Die  Logik  als  normative  Wissenschaft.  23 

Neues  mehr  lehren;  er  ist  der  blosse  Ausdruck  der  Competenz 
unserer  Wissenschaft. 

„Sage  Nichts  ohne  Grund"  heisst  einfach:  Erinnere  dich  an 
die  Art  des  formalen  Denkens.  Achte  stets  darauf,  dass  es  hypo- 
thetisch ist,  dass  ein  Urtheil  nur  dadurch  gelten  kann,  dass  ein 
anderes  Urtheil  vorherging,  in  dem  es  enthalten  war.  Alles  Ur- 
theilen  ist  bloss  eine  Folge  auf  anderes  Urtheilen.  Dieser  Zu- 
sammenhang von  Vorhergehendem  und  Folgendem,  von  Grund 
und  Folge  in  den  Begriifsverbindungen  ist  das  Feld  der  Logik; 
dieser  Zusammenhang  ist  der  Quell  der  bewussten  Notwendig- 
keit, und  selbst  die  allgemeinsten  Grundsätze  sind  nichts  Anderes, 
als  die  Bedingungen,  unter  welchen  sie  daraus  entspringen  kann. 
Nur  für  diese  Relation  gelten  alle  logischen  Gesetze,  und  wer 
dieselbe  aus  dem  Gedächtniss  verliert,  wird  letztere  missver- 
stehen und  vergeblich  auf  die  Sicherheit  hoffen,  die  sie  ver- 
heissen. 

Das  ist  der  Inhalt  des  grossen  Princips  vom  Grunde  und 
dieser  Inhalt  ist  für  die  Bedürfnisse  der  Wissenschaft  vollkommen 
zureichend.  Wer  mehr  hineinlegt,  wird  die  Klarheit  der  Logik 
nicht  fördern.  ^-) 

3.   Die  Logik  als  normative  Wissenschaft. 

34.  Die  formale  Logik  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  aus  der 
Psychologie  hervorgegangen,  indem  wir  diejenigen  Vorstellungs- 
verbiudungen  betrachteten,  welche  von  dem  Bewusstsein  der 
Notwendigkeit  begleitet  waren.  Indem  wir  dieses  Bewusstsein 
zunächst  als  wirklich  annahmen,  suchten  wir  seine  Möglichkeit 
zu  erklären.  Der  Begriff  der  formalen  Notwendigkeit  leitete  die 
ganze  Untersuchung,  er  war  die  Eichtschnur,  nach  welcher  wir 
aus  der  Gesammtheit  der  natürlichen  Vorstellungscombinatiouen 
die  Auswahl  trafen,  der  Massstab,  an  dem  wir  das  Bedürfniss 
allgemeiner  Postulate  und  Grundsätze  messen  konnten.  In  diesen 
Voraussetzungen  erhielten  wir  die  fundamentalen  Gesetze,  nach 
denen  das  formale  Denken  sich  vollziehen  muss,  insofern  es  uns 
wenigstens  begreiflich  sein  soll.  Damit  ist  nun  noch  etwas 
Weiteres  erreicht.  Indem  wir  den  Zusammenhang  der  Vorstel- 
lungssynthesen erforschten,  welche  vorhanden  sind,  haben  wir 
gleichzeitig   auch   Regeln   gewonnen,    nach   denen  wir   bei    der 


24  III.   I)ic  formale  Logik. 

bewussten  Neultilduiii;'  von  Verknüpfungen  uns  ricliten  können. 
Die  Logik  erhält  dadurch  unmittelbar  eine  technische,  praktische 
Richtung;  sie  wird  /ur  Methodenlehre  unseres  Denkens.  Das 
System  der  Logik  bildet  das  Gesetzbuch  des  Verstandes,  das 
tiir  alle  seine  Handlungen  die  Normen  enthält. 

35 .  Diese  zweite  Bedeutung  der  Logik  hat  so  grosse  Wich- 
tigkeit, dass  man-  sie  oft  und  gewöhnlich  als  einzige  bezeichnet 
und  in  ihr  das  Wesen  der  Logik  erschöpft  glaubt.  Darin  be- 
stehe eben  ihr  Unterschied  von  der  Psychologie,  dass  sie  das 
Denken  schildere,  nicht  wie  es  ist,  sondern  wie  es  sein  soll. 
Dieses  Soll  gebe  ihr  einen  Charakter,  der  sie  aus  allen  theo- 
retischen Wissenschaften  heraushebe;  sie  sei  nicht  eine  Physik, 
sondern  vielmehr  eine  Ethik  des  Denkens,  eine  demonstrative, 
nicht  eine  descriptive  Wissenschaft. 

Diese  Autfassung  ist  äusserst  ungenau  und  setzt  die 
logische  Methode  grossen  Missverständnissen  aus.  Gewiss  ist 
die  Logik  keine  beschreibende  Wissenschaft  im  Sinne  der  de- 
scriptiven  Psychologie  (§  1 1).  Beschreiben  würde  ihr  sehr  wenig 
helfen,  da  man  nicht  aufhören  würde  die  Wirklichkeit  ihres 
Gegenstandes  anzuzweifeln.  Sie  ist  erklärend  in  eminentem 
Sinne.  Sie  erklärt  eine  Möglichkeit,  aber  die  Möglichkeit  von 
etwas  empirisch  Vorhandenem,  die  Möglichkeit  von  sich  für  not- 
wendig ausgebenden  Urtheilen.  Diese  Möglichkeit  sucht  sie  mit 
grösster  Evidenz,  welche  der  mathematischen  gleichkommt,  ob- 
wohl sie  der  Art  nach  specifisch  von  ihr  verschieden  ist,  dar- 
zuthun.  Dabei  bedient  sie  sich  ähnlicher  Mittel  wie  die  Natur- 
wissenschaft, wenn  sie  Grundsätze  aufsucht,  die  eine  befriedigende 
Deduction  ermöglichen  sollen.  Hat  man  aber  die  Bedingungen 
erkannt,  unter  denen  ein  Object  zu  Stande  kommen  kann,  so 
bietet  man  sie  demjenigen  als  Regeln,  der  das  Object  nach- 
schaffen will.  Die  Mathematik  untersucht  den  Zusammenhang 
der  Grössen;  wer  ein  bestinmites  Grösscnverhältniss  construiren 
will,  findet  in  ihr  die  Normen  für  sein  Verfahren.  Die  Mechanik 
erforscht  das  Verhältniss  der  Kräfte,  bei  ihr  findet  der  Ingenieur 
Aufschluss  über  das  „Soll",  das  ihm  der  Begriff  einer  Maschine 
auflegt.  Die  Physiologie  enthält  die  Gesetze  des  Stoffwechsels, 
sie  überliefert  sie  der  Gesundheitslehre  als  Regulativ  für  die 
Erreichung  ihres  Zwecks.  So  wird  jedes  naturwissenschaftliche 
Gesetz  zu  einem  praktischen  Kanon.     Ganz  gleich    verhält    es 


IV.    Die  Erkenntnisstheorie  im  engern  Sinne.  25 

sich  mit  der  Logik;  sie  ist  iu  erster  Linie  eine  Physik  des 
Denkens,  eine  Physik  allerdings,  die  sich  durch  einen  bestimmten 
Begriff  ihrer  Aufgabe  das  Arbeitsfeld  begrenzt  (wodurch  sie 
sich  von  der  Psychologie  unterscheidet).  Wie  es  eine  Anatomie 
des  gesunden  Körpers,  eine  Mechanik  des  Gleichgewichts,  eine 
Chemie  des  Organischen  gibt,  so  gibt  es  eine  Psychologie  des 
notwendigen  Denkens,  welche  dann  eben  zu  einer  besondern 
Methode  führt;  wie  jene  Wissenschaften,  eine  jede  sich  zu  einem 
praktischen  Organon  gestaltet,  so  entwickelt  sich  auch  die  Logik 
zu  einer  Gesundheitslehre  des  menschlichen  Denkens. 

36.  So  zerfällt  die  Logik  in  zwei  Theile.  In  dem  einen,  den 
man  passend  den  analytischen  Theil  nennen  kann,  zerglie- 
dert sie  die  complexen  Vorstellungen  und  sucht  die  Bedingungen 
auf,  unter  welchen  die  formale  Ableitung  im  Allgemeinen 
möglich  ist.  Im  zweiten,  dem  normativen  Theil  legt  sie 
jene  Bedingungen  als  Norm  zu  Grunde  und  stellt  darnach  mit 
möglichster  Vollständigkeit  alle  einzelnen  Entwicklungen  auf, 
welche  man  von  den  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  mit  den 
zusammengesetzten  Vorstellungen  vornehmen  kann.  Der  letzte 
Abschnitt  geht  in  die  angewandte  Logik  über,  sobald  man 
an  die  Stelle  der  allgemeinen  Begriffe  bestimmte  Begriffe  aus 
besonderen  Wissenschaftsgebieten  setzt  und  die  logische  Bear- 
beitung an  diesen  Specialfällen  versucht.'*) 


IV.    Die  Erkenntnisstheorie  im  engern  Sinne. 


»' 


37.  Dass  die  formale  Logik,  wie  wir  sie  ausgeführt  haben, 
mit  ihren  Mitteln  nicht  im  Stande  ist  die  Möglichkeit  der  Er- 
kenntniss  vollständig  zu  erklären,  liegt  auf  der  Hand.  Ihre 
ganze  Arbeit  beruht  ja  auf  einer  Abstraction,  sie  sieht  ab  von 
dem  wirklichen  Inhalt  der  Vorstellungen  und  reflectirt  bloss 
auf  deren  Verbindung.  Schon  aus  ihrem  Begriffe  folgt  daher, 
dass  wir  über  den  materiellen  Wert  der  Vorstellungen  Nichts 
erfahren,  und  das  ist  doch  gerade  das  Endziel  der  Erkenntniss. 

Sodann  gibt  sie  ihr  Wissen  selbst  als  ein  hypothetisches. 
Alle  Notwendigkeit,  die  sie  erzeugt,  setzt  andere  Notwendigkeit 


26  IV.    Die  Krkcnntnissthoorie  im  cngern  Sinne. 

voraus ;  ihre  Eesultate  enthalten  bloss  Bearbeitung ,  Verwendung 
von  Erkenntniss.  So  vollkommen  daher  auch  die  Logik  ihre 
Einsichten  begründet,  immer  bleibt  noch  das  Wissen  zu  erklären, 
aus  dem  sie  abgeleitet  sind. 

Aber  selbst  wenn  ein  ursprünglicher  Besitz  von  Urtheilen 
gesichert  und  gerechtfertigt  wäre,  aus  denen  sich  ein  Schatz  von 
formalen  Wahrheiten  entwickeln  Hesse,  so  würde  die  Frage  offen 
bleiben:  haben  die  abgeleiteten  Verknüpfungen  nun  auch  einen 
Bezug  auf  ein  Dasein  ausser  uns,  oder  sind  sie  eine  blosse  Er- 
kenntniss unseres  eigenen  Selbst? 

Die  formale  Logik  stellt  den  gesetzmässigen  Zusammenhang 
unserer  Begriffe  dar.  Insofern  unsere  Erkenntniss  in  die  Form 
der  Begriffe  eingeht,  ist  sie  dieser  Gesetzmässigkeit  unter- 
worfen, welche  aus  der  Natur  der  Begriffe  folgt.  Wenn  eine 
Erkenntniss  sich  in  einer  Verknüpfungsart  darbieten  würde, 
welche  die  Logik  für  unmöglich  erklärt,  so  wäre  sie  schon  des- 
halb bedeutungslos ;  denn  wir  würden  unfähig  sein,  sie  mit  dem 
übrigen  Bestand  unseres  Bewusstseins  in  Verbindung  zu  setzen. 
Eine  weitere  Sicherheit  aber  über  den  Wert  unserer  S^-nthesen 
vermag  uns  die  Logik  nicht  zu  bieten. 

Man  hat  das  für  eine  Unvollkommenheit  der  Logik  er- 
klärt und  darum  ihre  wissenschaftliche  Leistungsfähigkeit  über- 
haupt in  Frage  gestellt.  Man  versuchte  sie  dadurch  zu  einer 
Wissenschaft  zu  ergänzen,  dass  man  die  zum  Zweck  der  Unter- 
suchung gemachte  Abstraction  immer  wieder  aufhob  und  die 
Formen  des  Denkens  gleichzeitig  nach  ihrer  Beziehung  auf  das 
Sein  erforschte.") 

Dem  gegenüber  muss  man  immer  wieder  an  den  oft  citirten 
Ausspruch  Kant's  erinnern:  ,, Es  ist  nicht  Vermehrung,  sondern 
Verunstaltung  der  Wissenschaften,  wenn  man  ihre  Grenzen  in 
einander  laufen  lässt."'"')  Die  Logik  leistet,  was  sie  ihrer 
richtig  bestimmten  Aufgabe  nach  leisten  soll,  vollkonmen,  so 
vollkommen  wie  jede  exacte  Wissenschaft.  Sie  bedarf  keiner 
Hülfe  innerhalb  ihrer  eigenen  Grenzen.  Lassen  ihre  Resultate 
Lücken  in  unserem  Wissen  unausgefüllt,  so  müssen  wir  unsere 
Fragen  an  anderer  Stelle,  bei  einer  andern  Abtheilung  der  Ge- 
sammtforschung  vor])ringen. 

38.  Eine  neue  Wissenschaft  reiht  sich  an  die  formale  Logik 
und  unternimmt  es  die  Probleme   zu  lösen,  die  jener  unzugäng- 


V.   Die  Vorstellung.  27 

lieh  bleiben.  Wenn  es  ihr  gelingt,  ergänzt  sie  in  der  That  die 
Errungenschaften  der  Logik,  aber  nicht,  indem  sie  ihrem  Gange 
folgt  und  bei  jedem  Schritt  nachliilft.  Sie  begründet  sich 
vielmehr  als  nebengeordnete  Mitarbeiterin  an  der  Gesammtauf- 
gabe ihre  eigene  Methode  und  wählt  selbstständig  ihre  Aus- 
gangspunkte.    Sie  beginnt  da,  wo  die  Logik  aufhört. 

39,  Wie  wir  eben  gesehen,  hat  die  Logik  zu  drei  Haupt- 
fragen Eaum  gelassen.  Was  kommt  dem  Inhalt  unserer  Vor- 
stellungen im  Hinblick  auf  die  Erkenntniss  für  eine  Bedeutung 
zu?  Wie  ist  es  möglich,  dass  Urtheile,  die  nicht  von  anderen 
abgeleitet  sind,  notwendige  Geltung  haben?  Was  kann  die 
logische  Entwicklung  für  unser  materielles  Wissen  bedeuten? 

Diese  Probleme  sind  die  Anknüpfungspunkte  für  die  neue 
Wissenschaft.  Ich  nenne  sie  die  Lehre  von  der  materialen  Not- 
wendigkeit oder  Erkenntnisstheorie  im  engern  Sinne. 

Damit  ist  der  theoretischen  Philosophie  ein  drittes  Feld  er- 
öffnet, dessen  Arbeitsprogramm  so  präcis  und  dessen  Begrenzung 
so  scharf  ist,  dass  es  dem  jeder  Naturwissenschaft  ebenbürtig 
zur  Seite  steht. 

Aufgabe  des  Folgenden  wird  es  sein,  durch  Darlegung  ihrer 
Fundamentalsätze  den  Begriff  dieser  Wissenschaft  zu  unanfecht- 
barer Klarheit  zu  erheben. 


V.    Die  Vorstelliiug. 

1.    Analyse  der  Vorstellung. 

40.  Auf  das  Problem,  welches  die  Erkenntnisstheorie  sich 
stellt,  hat  die  naive  Weltansicht  eine  rasche  Antwort:  Warum 
unsere  Urtheile  notwendig  sind?  —  „Weil  sie  sich  nach  Gegen- 
ständen richten."  Vorstellungen  können  nicht  mehr  willkürlich 
verbunden  werden,  sobald  sie  ein  Ding  beschreiben.  Wenn  ich 
auf  den  Inhalt  eines  Urtheils  sehe,  so  bildet  es  in  seiner  Be- 
grififsverknüpfung  einfach  den  Zusammenhang  nach,  den  die 
Eigenschaften  an  dem  Object  aufweisen.  Ein  Urtheil  ist  dann 
notwendig  und  allgemein  gültig,  wenn  es  sich  nicht  bloss  auf 
mein  Bewusstsein,  sondern  auf  einen  ausser  mir  liegenden  Gegen- 


28  V.    Die  Vorstellung. 

stand  bezieht,   der  mich  imd  alle  aiuleni  Suhjecte  zu  einer  be- 
stimmten Form  der  Aussage  zwingt. 

Es  ist  ungemein  wichtig,  sich  diesen  Ausgangs})unkt  der 
Erkenntnisstheorie  recht  klar  zu  machen.  Ein  verbreiteter  Irr- 
tum glaubt,  ihre  Untersuchung  entspringe  speciell  bei  der  Be- 
trachtung der  eigentümlichen  Notwendigkeit,  welche  die  mathe- 
matischen Urtheile  vor  den  Sätzen  jeder  andern  Wissenschaft 
auszeichnet.  So  entspinnt  sich  dann  an  verfrühter  Stelle  ein 
uuerspriesslicher  Streit  über  das  factische  Vorhandensein  der 
mathematischen  Apodicticität.  Die  Aufstellung  der  letzteren  ist, 
wie  wir  später  sehen  werden  (vgl.  unten  §  130),  ein  bedeutsames 
Nebenergebniss,  allein  eben  nur  ein  Nebenergebniss,  Ihr  syste- 
matisches Hauptziel  ist  die  Erklärung  aller  materialen  Notwen- 
digkeit und  sie  sieht  ihre  allgemeine  Aufgabe  zunächst  darge- 
stellt in  der  Beurtheilung  von  Objecten  überhaupt. 

41.  Die  Erkenntnisstheorie  mag  also  untersuchen,  was  ein 
Gegenstand  ist,  und  sie  hat  ihre  Aufgabe  gelöst.  Das  Urtheil: 
Der  Stein  ist  hart",  ist  notwendig.  Warum?  Weil  die  Wahr- 
nehmung des  Dinges  ausser  mir  mich  nötigt  die  Vorstellungen 
so  zu  verknüpfen.  Was  ist  dieses  Ding?  Es  ist  grau,  spitzig, 
schwer,  es  hat  eine  rauhe  Oberfläche,  einen  erdigen  Geruch,  auf 
die  Zunge  gebracht  einen  eigentümlichen  Geschmack,  beim  Zu- 
sammenstoss  mit  andern  Dingen  verursacht  es  einen  Schall. 
Alle  diese  Eigenschaften  machen  zusammen  das  Ding  aus. 

So  löst  die  Antwort  den  Gegenstand  auf  in  eine  Summe 
von  Vorstellungen. 

Es  bleibt  uns  demnach  Nichts  übrig,  als  die  Vorstellung 
selbst  zu  aualysiren  und  zu  sehen,  ob  wir  in  ihr  eine  Beziehung 
auf  etwas  Objectives  entdecken  können.  Diese  Analyse  brauchen 
wir  nicht  selbst  vorzunehmen,  sie  ist  eine  Aufgabe  der  Psycho- 
logie, imd  von  ihr  können  wir  die  Resultate  borgen. 

42.  Die  Psychologie  lehrt  uns,  dass  die  letzten  Bestand- 
theile  der  Vorstellungen  Empfindungen  sind. 

Empfindung  ist  diejenige  Vorstellung,  welche  entsteht,  wenn 
der  Zustand  der  Ccntraltheile  des  Nervensystems  durch  einen 
äussern  oder  innern  Reiz  verändert  wird.  Somit  kann  nur  der 
äussere  Reiz  die  Quelle  des  Objectiven  in  der  Vorstellung  sein. 
Allein  wenn  wir  uns  von  der  Psychologie  die  verschiedenen 
Reize  beschreiben  lassen,   so  machen  wir  noch  einmal  die  eben 


1.    Analyse  der  Vorstellung.  29 

gemachte  Eifahriiug.  Als  Reiz  der  Tastempfindung  zeigt  sie 
dem  Auge  den  Stein,  den  der  Finger  berührt;  um  uns  den 
Gegenstand  eines  Netzhautbildes  vorzuführen,  gibt  sie  der  Hand 
eine  Tastempfindung.  Bald  stellt  sie  den  Reiz  der  Gehörsem- 
pfindung mit  Hilfe  des  Gesichts,  und  bald  durch  Berufung  auf 
eine  Druckempfindung  dar.  So  führt  sie  die  Welt  des  einen 
Sinus  auf  die  Welt  der  übrigen  zurück  und  die  Vorstellung  be- 
hält sich  selbst  zum  Inhalt. 

43.  Nach  einer  Seite  scheint  sich  ein  Ausweg  zu  eröffnen. 
Wenn  wir  die  eben  beschriebenen  Reize,  die  wir  wiederum  als 
Empfindungen  wahrnehmen,  mit  einander  vergleichen,  so  be- 
merken wir  au  allen  ein  gemeinsames  Kennzeichen.  Welcher 
Klasse  auch  eine  Empfindung  angehören,  mit  welcher  Stärke  sie 
auch  auftreten  möge,  eine  jede  erscheint  unserem  Bewusstseiu 
begleitet  von  der  Vorstellung  des  Raumes  und  von  der  Vor- 
stellung der  Zeit.  Jeder  Reiz  tritt  irgendwann  ein  und  wirkt 
irgendwo.  Es  scheint,  als  ob  wir  auch  diese  Betrachtung  un- 
mittelbar der  Psj'chologie  hätten  entnehmen  können.  Die  Psy- 
chologie hat  in  der  That  alle  Reize  unter  den  allgemeinen  Titel 
der  Bewegung  gebracht  und  Bewegung  setzt  sich  aus  der  An- 
schauung von  Raum  und  Zeit  zusammen.  Aber  eben  weil  Be- 
wegung eine  Summe  von  Empfindungen  voraussetzt,  dürfen  wir 
hier  nicht  von  ihr  ausgehen.  Unsere  Aufgabe  ist  es,  in  der 
einzelnen  Vorstellung  das  objective  Element  zu  entdecken;  wir 
untersuchen  daher  die  einzelne  Empfindung  für  sich.  Indem  wir 
dann  die  einzelnen  verschiedener  Qualität  vergleichen  (nicht  zu- 
sammensetzen),  gelangen  wir  zu  der  Beobachtung,  dass  allen 
als  gemeinsames  Merkmal  die  Verschmelzung  mit  der  Raum- 
und  Zeitvorstellung  anhaftet. 

44.  Hier  ist  nun  der  Ort,  eindringlich  auf  den  Unterschied 
aufmerksam  zu  machen,  welcher  zwischen  der  Methode  der  Er- 
kenntnisstheorie und  derjenigen  der  Psychologie  besteht.  Die 
Psychologie  betrachtet  das  Entstehen  der  Erfahrung;  sie  sucht 
die  verwickelten  Verbindungen  des  inneren  Geschehens  aus 
seinen  einfachsten  Erscheinungen  zu  erklären.  Sie  untersucht 
daher  die  einfachen  Empfindungen  losgetrennt  von  allen  Be- 
ziehungen des  entwickelten  Bewusstseins.  Psychologisch  hat  die 
reine  Empfindung  keinen  zeitlichen  oder  räumlichen  Charakter,  ^ß) 
Ganz  anders   die   Erkenntnisstheorie.     Sie  prüft,    mit  Kant   zu 


30  V.   Die  Vorstellung. 

reden,  ,, Erfaliriiug  überhaupt",  um  zu  sehcu,  „was  iu  diesem 
Product  der  Sinuc  und  des  Verstandes  enthalten,  und  wie  das 
Efrahrung-surtheil  selbst  möglich  sei."'')  Sie  zergliedert  also 
den  fertigen  Bestand  unseres  Wissens ;  sie  macht  gleichsam  einen 
Querschnitt  durch  den  Bau  der  menschlichen  Erkenutniss,  um 
die  Construction  darzulegen,  die  dem  begrifflichen  Gefüge  seineu 
Halt  verleiht.  Für  sie  sind  die  complicirtesten  und  die  ein- 
fachsten Vorstellungen  gleichzeitig  da.  Die  Fiction  der  Condil- 
lac'schen  Statue,  deren  verschiedene  Sinnesorgane  successiv  zu 
functioniren  beginnen,  hat  für  ihr  Verfahren  keinen  Wert.  Sie 
wendet  sich  nicht  an  das  Seelenleben  der  Thiere,  des  Kindes 
oder  der  wilden  Völker.  Das  Bewusstsein,  das  sie  analysirt, 
ist  das  denkbar  vollkommenste,  es  ist  das  Bewusstsein  der 
Wissenschaft.  Die  Erkenntnisstheorie  analysirt  das  psychische 
Geschehen  in  der  Phase  seiner  Entwicklung,  in  welcher  es  schon 
die  ganze  Gesetzmässigkeit  der  formalen  Logik  und  der  Mathe- 
matik zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Und  dann  fragt  sie:  Wie 
kann  dieses  entwickelte  Bewusstsein  vor  dem  Tribunal  seiner 
eigenen  Eeflexion  die  Ansprüche  seiner  Urtheile  begründen? 

Wenn  also  die  Erkenntnisstheorie  die  Empfindung  betrachtet, 
so  betrachtet  sie  dieselbe  als  Element  in  dem  entwickelten  Be- 
wusstsein. Die  Empfindung  erscheint  als  das  Einzelne  in  der 
Mannigfaltigkeit  des  Bewusstseiusinhaltes;  sie  ist  die  Einheit 
des  Materiales,  aus  welchem  das  Bewusstsein  seine  Verknüpfungen 
herstellt. 

45.  Alle  Empfindungen  haben  nun  also  das  gemein,  dass 
sie  eine  Stelle  in  Raum  und  Zeit  einnehmen.  Diese  Eigenschaft 
behält  der  Reiz,  gleichviel  durch  welches  der  Sinnesorgane  er 
unseru  Bewusstseinszustaud  verändert.  Der  Zusammenhang  des 
Reizes  mit  diesen  Kennzeichen  wird  durch  unsere  individuelle 
Organisation  nicht  modificirt.  Somit  dürfen  wir  hoffen,  wenn 
irgendwie,  durch  diese  Eigenschaften  der  Vorstellung  das  be- 
schreiben zu  können,  was  als  Gegenstand  die  Verknüpfung 
unserer  Urtheile  bestimmt.  Vielleicht  liegt  hier  die  Möglichkeit, 
einen  Ausblick  aus  unserem  Selbst  zu  gewinnen. 

Wir  haben  also  vor  Allem  die  Vorstellungen  von  Zeit  und 
Raum  in  Betracht  zu  ziehen.  Zunächst  können  wir  ihren  ge- 
meinschaftlichen Charakter  dahin  beschreiben,  dass  sie  von  der 
Empfindung  den  Platz   in   einer   bestimmten  Ordnung  aussagen, 


2.   Der  Raum.  31 

sie  stellen  eine  Qualität  vor,  welche  die  Empfiuduug  iu  einer 
Relation  zu  andern  Empfindungen  erhält.  Sie  sind  das,  welches 
vorstellt,  dass  das  Mannigfaltige  der  Erscheinungen  in  gewissen 
Verhältnissen  geordnet  istJ^)  Wir  nennen  sie  daher  vorläufig 
am  besten  VerhältnissvorstelluugenJ'') 

2.    Der  Raum. -'^') 

46.  Der  Eaum  ist  die  Vorstellung  des  Nebeneinander.  So- 
bald wir  durch  Vorstellungen  ein  Ding  bezeichnen,  beziehen  wir 
sie  auf  Etwas  ausser  uns,  denken  wir  mehrere  Objecte,  so 
stellen  wir  sie  als  ausser  einander  vor.  Dieses  Verhältniss 
der  Vorstellung  eines  Gegenstandes  zur  Vorstellung  unseres  Selbst 
imd   zur  Vorstellung  von   anderen  Objecten   nennen  wir  Raum. 

47.  Psychologisch  entwickelt  sich  die  Raum  Vorstellung  durch 
die  Zusammenfassung  von  Reihen  der  verschiedensten  Empfin- 
dungen. Als  Thatsache  der  Psychologie  stehen  fest  seine  soge- 
nannten drei  Dimensionen,  welche  sich  nicht  anders  als  durch 
die  Gegensätze  links  und  rechts,  oben  und  unten,  vorn  und 
hinten  beschreiben  lassen.  Das  Verhältniss  irgend  einer  ge- 
gebenen Bewegung  zu  diesen  ursprünglichen  Raumgegeuden 
nennt  man  die  Richtung  der  Bewegung. 

48.  Die  Entwicklung  der  Rauravorstellung  fällt  mit  der 
Entwicklung  des  Bewusstseins  zusammen.  Das  reife,  erkennt- 
nisstheoretische Bewusstsein  kann  sich  nicht  denken,  dass  es, 
als  solches,  die  Raumvorstellung  erworben  habe,  wie  es  z.  B. 
Allgemeinvorstellungen  oder  Begriffe  erwirbt.  Denn  in  seinem 
innern  Zustande  findet  es  keine  Empfindungen  in  verschiedenen 
Oertern.  Sobald  es  aber  ausserhalb  sich  selbst  (und  wäre  es 
auch  nur  am  eigenen  Körper)  Etwas  suchen  wollte,  so  würde 
es  die  Raumvorstellung  schon  besitzen.  Erkenntnisstheoretisch 
ist  äussere  Erfahrung  erst  möglich,  wenn  die  Raumvorstellung 
bereits  da  ist;  die  letztere  ist  Bedingung  jener.  Man  kann 
daher  sagen,  der  Raum  sei  vor  der  äusseren  Erfahrung,  oder 
er  sei  in  Bezug  auf  die  Erfahrungsmöglichkeit  a  priori. 

.49.  Allerdings  muss  diese  Apriorität  durchaus  in  scharfem 
Sinne  gefasst  werden,  wenn  sie  nicht  fortwährend  zu  Irrtümern 
Veranlassung  geben  soll.  Auch  die  Empfindungselemente  ver- 
danken ihre  Eigenschaften   apriorischen  Bedingungen;   denn  sie 


32  V   Die  Vorstellung. 

berubou  auf  uuserer  pbysiscbeii  Organisation;  sie  sind,  was  sie 
sind,  durch  die  specifische  Energie  unserer  Nervenfasern.  So 
kann  ich  sagen  nicht  nur,  dass  jede  äussere  Anschauung  aus- 
gedehnt, sondern  auch  dass  sie  gefärbt  sei;  denn  die  Lichtem- 
l)tindung,  die  wir  Farbe  nennen,  ist  die  Art,  wie  wir  den  Er- 
regungszustand der  Opticusfascrn  wahrnehmen.  Allein  während 
dieses  physiologische  A  priori  Organ  ist,  wird  das  räumliche 
A  priori  im  Bewusstsein  entdeckt.  Aus  der  Vorstellung  rot  kann 
ich  nicht  eine  andere  Vorstellung  herauslesen,  die  vorhanden 
sein  muss,  bevor  mein  Bewusstsein  jene  begreifen  kann.  Da- 
gegen enthält  die  Vorstellung  Dreieck  die  Raumvorstellung  als 
Bedingung  ihrer  Möglichkeit.  Da  sich  nun  die  Erkenntnisstheorie 
nur  mit  den  Erfahrungsbedingungen  beschäftigt,  welche  sich  zu 
Vorstellungen  ausprägen,  so  fällt  das  physiologische  A  priori 
nicht  in  ihren  Bereich. 

50.  Das  entwickelte  Bewusstsein  stellt  sich  diese  Erfahrungs- 
bedingung aber  auch  als  eine  notwendige  vor;  es  kann  sich  nicht 
denken,,  dass  sie  nicht  vorhanden  wäre.  Der  Raum  bleibt  un- 
verändert, wenn  es  sich  Gegenstände  im  Räume  durch  andere 
ersetzt  denkt,  er  bleibt  auch  unverändert,  wenn  es  sich  dieselben 
ganz  weg  denkt.  Dagegen  ist  es  unmöglich,  sich  Gegenstände 
ohne  Raum  vorzustellen.  Der  Raum  ist  also  die  notwendige 
Bedingung  der  objectiven  Vorstellung,  während  er  selbst  von 
Gegenständen  unabhängig  ist. 

51.  Da  der  Raum  sich  dem  entwickelten  Bewusstsein  nicht 
darstellt  als  aus  einzelnen  Erfahrungen  erworben,  so  kann  er 
ihm  auch  nicht  als  zusammengesetzt  erscheinen.  Der  Raum  ist 
daher  keine  complexe  Vorstellung,  kein  BegTitf,  sondern  eine 
Einzelvorstellung  oder  Anschauung.  Wir  können  uns  nicht  zu- 
erst einzelne  Räume  und  hierauf,  sie  zusammensetzend,  den  Raum 
vorstellen.  Die  einheitliche  Raumanschauung  erscheint  uns  viel- 
mehr als  Gegebenes,  ihr  Theil  als  Gewordenes.  Die  Räume 
sind  Zerlegungen,  Eintheilungen  des  Raumes.  Diese  Eigenschaft 
hat  dem  Räume  den  mit  einem  sclieinbaren  Widerspruch  behaf- 
teten Titel  einer  Anschauung  a  priori  verschafft.  Das  heisst 
freilich  nichts  Anderes,  als  dass  das  entwickelte  Bewusstsein  in 
dem  Räume  eine  Anschauung  erblickt,  welche  vorhanden  sein 
muss,  bevor  irgend  eine  objective  Anschauung  von  ihm  apper- 
cipirt  werden  kann. 


2.  Der  Raum.  33 

52.  Da  jeder  bestimmte  Raum,  so  gross  er  auch  sein  mag, 
im  Einheitsraume  enthalten  sein  muss,  wird  letzterer  notwendig 
als  eine  unendliche  Grösse  vorgestellt.  Das  soll  nicht  heissen, 
dass  die  Unendlichkeit  wirklich  angeschaut  wird,  was  psycho- 
logisch unmöglich  ist,  sondern  nur,  dass  auch  die  denkbar  grösste 
Anschauung  stets  noch  als  vom  Raum  umfasst  erscheint.  Diesen 
kritischen  Begriff  der  räumlichen  Unendlichkeit  kann  ich  psycho- 
logisch noch  näher  bestimmen.  Ich  kann  eine  gegebene  Räum- 
lichkeit unendlich  wachsen  lassen,  entweder  bloss  in  einer  Dimen- 
sion oder  in  zweien  oder  gleichzeitig  auch  in  der  dritten,  und 
zwar  jedesmal  entweder  bloss  in  einer  oder  auch  in  der  ent- 
gegengesetzten Richtung  (vergl.  §  47).  Wir  sagen  daher,  die 
Unendlichkeit  muss  wie  der  Raum  selbst  in  drei  Dimensionen 
und  sechs  Grundrichtungen  gedacht  werden.  Da  ferner  jeder 
Theil  dadurch  entsteht,  dass  man  den  allgemeinen  Raum  zwischen 
Grenzen  einschliesst,  so  ist  auch  dieser  Theil  immer  selbst  wieder 
Raum.  So  nah  wir  auch  diese  Grenzen  zusammenrücken  lassen, 
so  klein  wir  uns  auch  den  Theil  vorstellen,  seine  Einschränkung 
setzt  immer  schon  die  räumliche  Anschauung  voraus,  welche 
durch  sie  bestimmt  wird;  auch  nicht  der  kleinste  Theil  kann 
vor  dem  Räume  gegeben  werden.  Es  gibt  keinen  Punkt,  in 
W'elchem  die  Einschränkung  Halt  machen  müsste;  der  Raum  ist 
ohne  Ende  theilbar.  Die  Eigenschaft  des  Raums,  dass  keine 
kleinsten  Theile  in  ihm  vorgestellt  werden  können,  heisst  seine 
Stetigkeit  oder  Continuität.  ^  •) 

53.  Aus  dieser  Betrachtung  ergibt  sich  eine  weitere  Bestim- 
mung des  räumlichen  Unendlichkeitsbegriffs.  Man  kann  vom 
Räume  nicht  sagen,  dass  er  unendlich  viele  Theile  enthalte.  Da 
seine  Theile  durch  Einschränkung  entstehen,  so  ist  jede  noch  so 
grosse  Zahl  derselben  bestimmt,  endlich.  Jede  empirisch  gegebene 
Theilung  ist  erzeugt  durch  eine  endlich  wiederholte  Handlung. 
Unendlich  ist  bloss  die  Theilbarkeit  des  Raums ;  es  kann  für  den 
Fortschritt  der  Eintheilung  keine  in  der  Natur  des  Raums  lie- 
gende Schranke  angegeben  werden.  -2) 

Aus  dem  Begriffe  der  Grenze  fliessen  auch  unmittelbar  die 
Definitionen  der  elementaren  Raumbegriffe  der  Geometrie.  Ein 
abgegrenzter  Raumtheil  heisst  Körper  (solidum).  Die  Grenze 
dieses  Körpers  heisst  Fläche  und  die  Grenze  der  Fläche  heisst 
Linie.  ^3)    Die  gewöhnlich  in  der  Geometrie  gegebenen  Defini- 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  3 


34  V.   Die  Vorstellung. 

tioncn  geben   auf  eine   unigekchrte  Genese  dieser  Raumbegriife 
und  sind  erkenntnissthcoretiscli  unhaltbar. 

54.  Mit  der  Erkeuntniss  dieser  Eigenschaften  des  Kaums 
gewinnen  wir  gleichzeitig  die  Einsicht,  dem  eigentlichen  Ziele 
unserer  Untersuchung  nicht  näher  gekommen  zu  sein.  Der  Kaum 
war  die  Vorstellung,  von  der  wir  ihrer  Constanz  wegen  hoffen 
durften,  dass  sie  die  von  unserer  subjectiven  Beschaffenheit  un- 
abhängige Eigenschaft  des  Gegenstandes  abbilde.  Jetzt  erfahren 
wir,  dass  der  Raum  so  wenig  vom  äussern  Gegenstande  sich  in 
das  Bewusstsein  projicirt,  dass  ein  äusserer  Gegenstand  über- 
haupt erst  erscheint,  wenn  der  Raum  im  Bewusstsein  vorhanden 
ist.  Nun  kann  das  Bewusstsein  eine  Eigenschaft,  welche  vor 
dem  Gegenstande  angeschaut  wird,  doch  nicht  als  unabhängige 
Bestimmung  des  Gegenstandes  betrachten.  Die  räumliche  Be- 
stimmung des  Objects  erscheint  als  nichts  weiter,  denn  als  das 
Verhältniss,  in  welchem  die  Vorstellung  des  Objects,  was  letzteres 
nun  auch  sein  möge,  zu  einer  im  Bewusstsein  bereits  vorhandenen 
Vorstellung  steht.  Fast  alle  Eigenschaften,  welche  am  Räume 
gefunden  werden,  sind  mit  seiner  Auffassung  als  unabhängiger 
Bestimmung  der  Materie  unvereinbar.  Die  Vorstellung  einer 
objectiven  Bedingung  aller  Oerter,  die  selbst  bleibt,  wenn  ihr 
Inhalt  wechselt,  ist  ein  Unding.  Der  Begriff  eines  realen  Ganzen, 
was  vor  seinen  Th eilen  wäre,  ist  uns  unfassbar. 

Somit  sind  wir  nicht  berechtigt,  die  Raumvorstellung  für 
objectiver  als  alle  andern  Vorstellungen  zu  halten.  Die  Subjec- 
tivität  des  Raums  durchschneidet  den  Faden,  der  alle  andern 
Vorstellungen  noch  mit  dem  Gegenstande  zu  verbinden  schien. 
Als  wir  die  Psychologie  über  die  Objectivität  der  Emi)findungen 
befragten,  hiess  es,  sie  sei3n  darum  nur  Eigenschaften  des  Sub- 
jects,  weil  der  gleiche  äussere  Reiz  bald  so,  bald  anders  erscheine. 
Jetzt  wird  auch  noch  das  „Aeussere"  des  Reizes  für  subjectiv 
erklärt.  Das  reflectirende  Bewusstsein  zieht  sich  also  noch  mehr 
als  auf  jener  Stufe  der  Betrachtung  in  sich  zurück.  Was  den 
Raum  von  den  übrigen  Vorstellungen  unterscheidet  und  ihm 
gleichsam  eine  höhere  Würde  beilegt,  ist  die  Erkeuntniss,  dass 
ohne  ihn  jedenfalls  keine  Empfindung,  welchen  Inhalts  sie  auch 
sei,  auf  etwas  Aeusseres  bezogen  werden  kann. 

55.  Vor  dem  Gegenstande  kann  Nichts  vorhergehn  als  das 
Bewusstsein.    Was  vor  den  Gegenständen  vorhanden  ist,  gehört 


3.    Die  Zeit.  35 

zum  Bewusstseiu;  was  vor  ihnen  vorhanden  sein  muss,  ist  eine  Be- 
dingung der  Function  des  Bewusstseins,  insofern  es  Gegenstände 
denken  will.  Der  Raum  als  diese  Bedingung  gibt  uus  erst  das 
Recht,  von  einem  „  äussern  Sinne"  zu  reden.  Der  Raum  ist  diejenige 
Form  des  Vorstellens,  in  welcher  es  zum  äussern  Sinne  wird.^^) 
Daraus  folgt,  dass  wir  nur  aus  dem  Standpunkte  des  ent- 
wickelten Bewusstseins  von  Gestalt  und  Grösse  reden  können. 
Denke  ich  mir  das  Bewusstsein  weg,  „  so  bedeutet  die  Vorstellung 
vom  Räume  gar  nichts." -■>) 

3.  Die  Zeit.^c) 

5ü.  Wir  Laben  uns  nun  zu  der  zweiten  Verhältniss Vorstellung- 
zu  wenden.  An  allen  Wahrnehmungen  beobachtet  das  Bewusst- 
seiu die  Aufeinanderfolge  und  das  Zugleichsein;  die  eine  Vor- 
stellung erscheint  als  die  frühere,  die  zweite  als  die  spätere, 
eine  andere  als  zugleich.  Diese  Ordnung  des  Nacheinander  und 
Zugleich  heisst  Zeit. 

57.  Psychologisch  entwickelt  sich  die  Zeitvorstellung  aus 
der  Fähigkeit,  Erinnerungsbilder  mit  unmittelbaren  Eindrücken 
zu  associiren.  Sobald  wir  uns  eines  Zustandes  bewusst  werden, 
in  welchem  ein  Eindruck  uns  afficii'te,  und  eines  andern  Zustandes, 
in  welchem  nur  das  Erinnerungsbild  vorhanden  ist,  haben  wir 
die  Zeit  Vorstellung  erworben.  -')  Indem  ein  neuer  Eindruck  den 
ersten  reproducirt,  entsteht  die  Vorstellung  der  durch  Anfangs- 
punkt und  Endpunkt  markirten  Zeitstrecke;  durch  die  Zusam- 
menfassung von  Zeitstrecken  entsteht  die  Zeitreihe.  Die  Psycho- 
logie lehrt  von  der  Zeit,  sie  habe  eine  einzige  Richtung,  die 
Richtung  vom  Vorher  zum  Nachher.  Insofern  wir  uns  die  Zeit 
nur  durch  das  Bild  einer  graden  Linie  veranschaulichen  können 
(vergl.  §  127  und  §  145),  legen  wir  ihr  symbolisch  eine  Dimen- 
sion und  zwei  Richtungen  bei. 

58.  Im  entwickelten  Bewusstsein  lebt  die  Zeit  nicht  als 
etwas  Erworbenes.  Es  scheint  demselben  unmöglich,  überhaupt 
Vorstellungen  als  verschiedene  in  sich  aufzunehmen,  so  lange  es 
die  Zeitvorstelluug  noch  nicht  besitzt.  Es  ist  undenkbar,  dass 
man  das  Zugleich  und  die  Aufeinanderfolge  bewusst  wahrnehmen 
und  daraus  einen  Zeitbegriff  abstrahiren  könnte.  Die  Urtheile 
über  Simultaneität  und  Succession  sagen:  es  sind  Vorstellungen 


36  V.  Die  Yorstelluug. 

ZU  derselben  oder  zu  verschiedener  Zeit;  sie  messen  die  Vor- 
stellungen an  einer  bereits  vorhandenen  Vorstellungsvvcise  des 
Bewusstseins.  Erkenntnisstheoretisch  ist  also  auch  die  Zeit 
a  priori,  d.  h,  Grundlage  der  Wahrnehmung  (vergl.  §  49). 

59.  Das  Bewusstsein  kann  sich  ferner  nicht  denken,  dass 
die  Zeitvorstellung  jemals  durch  irgend  eine  Erfahrung  aufge- 
hoben würde.  Es  kann  sehr  wohl  in  Gedanken  an  Stelle  der 
einen  Wahrnehmung  andere  setzen,  ohne  dass  sich  ihm  die  Zeit 
verändert.  Es  kann  mit  Ausnahme  des  Subjects  alle  Gegen- 
stände aus  der  Zeit  wegdenken,  ohne  dass  die  Zeit  selbst  weg- 
fällt. "-^)  Sie  ist  nicht  die  Vorstellung  eines  Aggregats,  sondern 
eines  einheitlichen  Gegenstandes.  Die  Zeit  ist  demnach  eine  An- 
schauung. Verschiedene  Zeiten  werden  nur  als  Theile  derselben 
Einheitsanschauung  vorgestellt.  Bei  den  Begriffen  gehen  die 
Theilvorstellungen  (auch  erkenntnisstheoretisch)  vorher,  hier  ist 
das  Ganze  das  Frühere. 

60.  Daraus  folgt,  dass  die  Zeit  als  unendliche  Grösse  vor- 
gestellt werden  muss.  So  weit  wir  auch  in  die  Vergangenheit 
zurück  oder  in  die  Zukunft  vorgreifen,  der  grösste  Zeitraum  ist 
nur  eine  Abgrenzung  der  immer  wieder  grösseren  Einheitsan- 
schauung. Da  wir  uns  eine  gegebene  Zeitgrösse  sowohl  nach 
der  Seite  des  Vorher,  wie  nach  der  des  Nachher  unendlich 
wachsend  denken  können,  so  sagen  wir  von  der  Unendlichkeit 
der  Zeitanschauung,  sie  habe  zwei  Richtungen  (vgl,  §  57). 

61.  Daraus  folgt  ferner,  dass  die  Zeit  als  eine  continuirliche 
Grösse  vorgestellt  werden  muss.  Denn  es  kann  nur  dadurch  ein 
Theil  der  Zeit  gegeben  werden,  dass  man  ihn  zwischen  zwei 
Augenblicke  einschliesst.  Augenblicke  sind  aber  nur  Stellen  der 
Zeit,  setzen  also  diese  Anschauung  immer  schon  voraus,  um  sie 
dann  zu  beschränken.  So  klein  wir  auch  eine  Zeitstrecke  an- 
nehmen, wir  bleiben  doch  in  der  Zeit  selbst,  wir  können  zu  keinem 
Punkte  gelangen,  der  nicht  selbst  Zeit  wäre.  Die  Zeit  ist  ohne 
Ende  theilbar.  2'')  Deswegen  darf  aber  keineswegs  gesagt  wer- 
den, dass  die  Zeit  aus  einer  unendlichen  Anzahl  von  Theilen 
besteht.  Die  Theile  der  Zeit  entstehen  erst  durch  successive  Ab- 
grenzung. Für  den  Fortgang  dieser  Handlung  ist  eine  Grenze 
nach  der  Natur  der  Zeit  nicht  denkbar;  aber  auf  jeder  beliebigen 
Stufe  der  Einthcilung  ist  stets  eine  bestimmte,  endliche  Anzahl 
von  Theilen  gegeben  (vgl.  §  53). 


4.   Erster  Grundsatz  der  Erkenntnisstheorie.     5.   Das  Ding  an  sich.      37 

62.  Auch  in  dieser  Erörterung  haben  wir  nichts  weniger 
gewonnen  als  einen  Einblick  in  die  vom  Subject  unabhängige 
Objectivität.  Was  Bedingung  der  Gegenstände  ist,  kann  ihnen 
nicht  als  objective  Bestimmung  anhaften.  Eine  solche  Bedingung 
kann  nur  Eigenschaft  des  Bewusstseins  sein.  Wie  der  Raum  die 
Vorstellungsform  des  Bewusstseins  ist,  insofern  Vorstellungen  als 
äussere  wahrgenommen  werden  können,  so  ist  die  Zeit  die  Vor- 
stellungsform, insofern  Vorstellungen  überhaupt  als  von  einander 
unterschiedene  Bewusstseinszustände  appercipirt  werden.  Mit 
einer  Analogie  kann  man  sagen,  dass  die  Zeit  gleichsam  die 
Wahrnehmungsform  eines  „innern"  Sinnes  sei.  So  ist  die  Zeit 
als  Bedingung  dem  Baume  nicht  neben-,  sondern  tibergeordnet. 
Als  Form  aller  inneren  Zustände  wird  sie  auch  Form  derjenigen, 
welche  auf  äussere  Verhältnisse  gehen. 

4.  Erster  Grundsatz  der  Erkenntnisstheorie. 

63.  Wenn  wir  die  Ergebnisse  der  vorigen  beiden  Nummern 
zusammenfassen,  so  erhalten  wir  den  „obersten  Grundsatz  der 
Möglichkeit  aller  Anschauung".  3o) 

Die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Vorstellungen  ist  bedingt 
durch  die  Vorstellungsformen  des  Raums  und  der  Zeit  und  er- 
scheint nach  deren  Verhältnissen  geordnet. 

5.    Das  Ding  an  sieh. 

64.  Die  Untersuchung  über  die  Bedeutung  des  Vorstellungs- 
inhaltes hat  ergeben,  dass  unser  Bewusstsein  in  seinen  Vorstel- 
lungen keine  Qualitäten  der  Gegenstände  enthält,  die  von  der 
Vorstellungsform  des  Subjects  unabhängig  wären.  Der  „Gegen- 
stand" verlor  zuerst  seine  Farbe,  seine  Härte,  seinen  Ton  an 
die  wahrnehmende  Seele,  dann  zeigte  sich,  dass  er  ihr  auch  sein 
räumliches  Verhältniss  und  seinen  Platz  in  der  Zeit  verdanke. 
Wenn  wir  auch  die  verschiedenen  Empfindungen  psychologisch 
auf  das  feinste  zergliedern  und  uns  die  vorhandene  Anschauung 
ihrer  Verhältnisse  zur  höchstmöglichen  Deutlichkeit  bringen,  nie- 
mals können  wir  zu  dem  von  dem  Einfluss  unserer  Vorstellungen 
befreiten  „Ding"  gelangen.  Es  bleiben  ihm  alle  seine  Eigen- 
schaften entzogen  und  es  verblasst  zuletzt  zu  einer  Vorstellung, 
welcher  nicht  der  geringste  Inhalt  mehr  zukommt. 


38  V.    Difi  Vorstellun!?. 

G').  Diese  übrig  bleibende,  leere  Vorstellung  si)ielt  in  iin- 
serm  Denken  eine  grosse  Rolle.  Wir  müssen  in  ihr  die  erste 
Phase  des  sogenannten  „  Ding  an  sich "  erkennen,  das  sich  später 
(§§  81 — S3)  zu  dem  ebenso  inhaltlosen  Begriff  des  Noumenon 
weiter  entwickelt.'^')  Die  Wissenschaftstheorie  kann  unter  dem 
Ding  an  sich  nichts  weiter  verstehen,  als  die  Bezeichnung  ihrer 
ursprünglichen  Aufgabe.  Insofern  sie  darunter  auch  das  Ergeb- 
niss  denken  will,  ist  es  ein  imaginärer  unwirklicher  Begriff,  der 
nur  gebraucht  werden  kann,  um  die  gegensätzliche  Natur  der 
wahren  Realität  aufs  schärfste  hervortreten  zu  lassen.  Die  Miss- 
verständnisse, welche  unsern  Grenzbegriff  fortwährend  begleiten, 
wären  unmciglich,  wenn  man  darauf  achten  wollte,  dass  das  Ding 
an  sich  gerade  an  dieser  Stelle  der  erkenntnisstheoretischen  Ent- 
wicklung geboren  wird. 

66.  Die  Untersuchung  geht  naturgemäss  aus  von  der  An- 
sicht des  gemeinen  Realismus,  die  den  Gegenstand  als  wirklich 
gegeben  betrachtet.  Der  Ausgangspunkt  wird  Ursache  einer 
Täuschung,  die  sich  mit  der  weitern  Reflexion,  sogar  nachdem 
sie  als  Täuschung  enthüllt  ist,  unauflöslich  verkettet.  Wenn  sich 
nämlich  nach  und  nach  alle  Bestimmungen  des  Objects  als  Be- 
stimmungen des  Subjects  zu  erkennen  geben,  so  erscheint  das 
dem  Verstände  nicht  als  ein  Auflösen  des  Gegenstandes  in  das 
Bewusstsein,  sondern  nur  als  ein  Ablösen  der  Eigenschaften  von 
einem  real  existirenden  Etwas.  Zuletzt  ist  Alles,  was  ihm  an- 
hängt, abgepflückt,  aber  es  muss  doch  das  geblieben  sein,  dem 
es  anhieng.  Der  Verstand  vergisst,  dass  sein  Object  ja  von  An- 
fang an  nur  eine  hypothetische  Existenz  besass.  Wie  im  Auge 
ein  Nachbild  l)leibt,  während  der  Gesichtseindruck  aufgehört  hat, 
so  dauert  im  Bewusstsein  eine  Vorstellung  fort,  deren  Gegen- 
stand es  selbst  vernichtete.  Gerade  die  Einsicht,  dass  die  meisten 
für  objectiv  gehaltenen  Qualitäten  nur  subjective  Eindrücke  sind, 
erzeugt  im  Verstände  wie  durch  Contrastwirkung  das  negative 
Streben,  sich  Eigenschaften  zu  denken,  die  er  seinem  Etwas 
gleichsam  hinter  dem  Rücken  des  Subjects  anheften  könnte.  Das 
Unternehmen  misslingt,  wie  es  auch  in  Angriff  genommen  werde, 
auch  der  vorsichtigste  Versuch  führt  jedesmal  durch  Empfindung, 
Raum  und  Zeit  in  das  Subject  zurück.  Das  Etwas  zerfliesst  zu 
einem  Nichts,  sowie  es  überhaupt  vorgestellt  werden  soll. 

Das  Ding  an  sich  ist  nichts  weiter  als  der  Ausdruck  für 


6.  Zweiter  Grundsatz.  39 

das  vergebliche  Bemühen  des  Verstandes,  dieses  sich  ihm  natür- 
lich darbietende  unmögliche  Problem  zu  lösen.  Von  einer  Wir- 
kung der  Causalitätskategorie  ist  beim  Ursprung  dieses  rein  nega- 
tiven Begriffs  gar  nicht  die  Rede,  während  er  freilich  später 
vor  den  erkenntnisstheoretischen  Grundgesetzen  eine  schärfere  Zu- 
spitzung erhält.  Wer  sein  Wesen  und  sein  Entstehen  begreifen 
v\'ill,  suche  sich  dasselbe  zunächst  aus  Kants  transscendentaler 
Aesthetik  allein  kar  zu  machen  ^2)^  ohne,  vv^ie  es  stets  geschieht, 
die  transscendentale  Logik  schon  vorauszusetzen.  Das  Ding  an 
sich  vrurzelt  ganz  in  der  Aesthetik  und  lässt  sich  daraus  wider- 
spruchslos entwickeln. 

6.    Zweiter  Grundsatz. 

67.  In  dem  Ding  an  sich  erscheint  die  ganze  Negativität 
unserer  bisherigen  Untersuchung  zusammengefasst.  Aber  wir 
haben  damit  doch  ein  positives,  erkenntnisstheoretisches  Resultat 
gewonnen.  Wenn  es  überhaupt  unmöglich  ist,  durch  den  Vor- 
stellungsinhalt das  absolute  Sein  zu  erkennen,  so  ist  es  auch 
unmöglich,  die  Objecte  falsch  dadurch  zu  erkennen.  In  der  Vor- 
stellung gibt  es  weder  Trug  noch  Schein,  denn  sie  ist  nur  ein 
Element  des  Bewusstseins,  das  zu  keinem  Urtheil  über  Gegen- 
stände berechtigt.  Eine  Täuschung  kann  nur  in  der  Beziehung, 
auf  etwas  Objectives  liegen,  welche  also  jedenfalls  in  der  Vor- 
stellung selbst  nicht  enthalten  ist. 

68.  Wir  fassen  dieses  Ergebniss  in  den' Satz  zusammen: 

Alle  Vorstellungen  sind  wirklich, 
welcher  der  weitern  Entwicklung  der  Erkenntnisstheorie  als 
Princip  zu  Grunde  liegt.  Er  ist  insofern  unmittelbar  evident, 
als  die  Wirklichkeit  der  Vorstellungen  nicht  weiter  abgeleitet 
werden  kann,  sondern  durch  ihr  Bewusstwerden  schlechthin  ge- 
geben wird.  Wir  haben  ihn  an  dieser  Stelle  auszusprechen, 
weil  nunmehr  die  Erwartung  beseitigt  ist,  dass  gewisse  Vor- 
stellungen mehr  seien  als  blosse  Vorstellungen,  dass  ihnen  ausser 
ihrer  unmittelbaren  Realität  noch  eine  Wirklichkeit  in  höherer, 
sachlicher  Bedeutung  beizulegen  sei. 


40  VI.   Das  Object. 

VI,    Das    Object. 

1.    Die  Synthesis. 

69.  Wir  öffnen  uns  den  Weg  für  den  Fortgang  der  Unter- 
siicliimg  durch  die  Ueberlegung,  dass  die  Analyse  des  Vorstel- 
lungsinhaltes,  so  vollständig  sie  auch  gewesen  sein  mag,  den 
Begriff  unseres  Gegenstandes  keineswegs  erschöpft  hat.  Denn 
auch  durch  das  sorgfältigste  Aufzählen  der  Eigenschaften  würde 
noch  nicht  die  Vorstellung  zu  Stande  kommen,  welche  uns  ein 
Object  bezeichnet.  Zur  Wahrnehmung  der  einzelnen  Qualitäten 
muss  ihre  Zusammenfassung  treten,  die  verschiedenen  Vor- 
stellungen müssen  „unter  einer  gemeinschaftlichen"-'^)  geordnet 
sich  als  Einheit  im  Bewusstsein  abheben. 

Nun  sind  die  Vorstellungen  nichts  als  Modificationen  des 
Bewusstseins,  und  selbst  das  Gemeinsame  dieser  Modificationen, 
das  räumliche  und  zeitliche  Verhältniss,  ist  nur  die  Form  ihres 
Innewerdens.  Wenn  aber  die  Glieder  Bewusstseinselemente 
sind,  so  kann  auch  der  Summe  keine  andere  Art  des  Daseins 
zukommen;  wir  müssen  also  jedenfalls  von  dieser  Einheit  in  der 
Vorstellung  des  Objects  behaupten,  dass  auch  sie  nichts  weiter 
sei  als  ein  Bewusstseinszustand. 

70.  Nun  fragt  sich  bloss,  ob  diese  Einheit  nicht  immer  schon 
durch  die  Einheitsanschauungen  Raum  und  Zeit  gegeben  sei.  Raum 
und  Zeit  sind  allerdings  die  Grundbedingungen,  dass  Vorstellungen 
überhaupt  in  ein  Verhältniss  zu  einander  gesetzt  werden  können, 
aber  die  Bestimmung  des  Verhältnisses  liegt  nicht  in  ihnen  selbst. 
Um  eine  Einheit  aus  Vorstellungen  zu  bilden,  muss  ich  fähig  sein 
Gleichzeitiges  ins  Bewusstsein  aufzunehmen;  aber  die  Verbindung 
des  einen  Gleichzeitigen  und  seine  Sonderung  von  anderem,  wo- 
durch erst  die  Anschauung  der  Gegenstände  hervorgebracht  wird, 
ist  nicht  in  der  Zeitvorstellung  enthalten.  Die  Einheit  kann  ferner 
nur  zu  Stande  kommen,  wenn  die  „  Möglichkeit  des  Beisammen- 
seins" gesichert  ist.  Aber  die  besondere  Grenze  geht  nicht  aus 
der  räumlichen  Ordnung  selbst  hervor.  Schon  die  einfachste 
Raumform,  das  einfachste  ZeitverhUltniss  führen,  wenn  sie  als 
Object  vorgestellt  werden  sollen,  auf  die  Vorstellung  des  Zu- 
sammengesetzten.     Wir    können    uns    keine    Räumlichkeit  vor- 


1.   Die  Synthesis.  41 

stellen,  ohne  sie  zu  bilden,  d.  li.  einen  Raumtheil  zu  dem  andern 
hinzuzufügen,  und  ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Zeit.  ^4) 

71.  Die  in  Raum  und  Zeit  sich  einreihende  Mannigfaltigkeit 
müssen  wir  uns  ihrer  Möglichkeit  nach  als  unendlich  vorstellen, 
wie  diese  Anschauungen  selbst.  Verbindung  dieses  Mannigfaltigen 
heisst,  dass  hier  zwei  bestimmte  Punkte,  dort  die  Grenzen  der 
Dimension  fixirt ,  und  jedesmal  die  zwischenliegenden  Elemente 
als  ein  Ganzes  aufgeiasst  werden.  Kant  hat  die  Synthesis  der 
Begriffe  als  Function  der  Anschauung  als  Affection  gegen- 
über gestellt.^'')  Unsere  Fähigkeit,  die  letzteren  aufzunehmen, 
nennt  er  „  Receptivität  der  Eindrücke  ",  das  Vermögen,  die  erstere 
zu  Stande  zu  bringen,  „Spontaneität  des  Denkens".  ^'0  Beide 
Bezeichnungen  haben  ihren  guten  Sinn,  und  ich  zögere  nur  sie 
aufzunehmen,  weil  sie  oberflächlichen  Missdeutungen  zu  sehr 
ausgesetzt  sind.  Der  ganze  Process  des  Erkennens  besteht  aus 
Functionen  des  Bewusstseins ;  will  man  aber  die  Verbindung  als 
Function  par  excellence  bezeichnen,  so  muss  man  den  engeren 
Sinn  des  Wortes  genau  definiren.  Die  zweite  Unterscheidung 
hat  den  Vortheil,  dass  sie  den  wichtigen  Gegensatz  zwischen 
Anschauung  und  Verbindung  ungemein  scharf  hinstellt;  allein 
es  steht  ihr  das  Bedenken  entgegen,  dass  das  Wort  Spontaneität 
einen  Begriff  bezeichnet,  der  psychologisch  überhaupt  nicht  und 
erkenntnisstheoretisch  jedenfalls  nicht  an  dieser  Stelle  gerecht- 
fertigt werden  kann. 

72.  Ich  nenne  diejenige  Function  des  Bewusstseins,  durch 
welche  die  Vorstellungselemente  in  einen  einheitlichen  Zusam- 
menhang gebracht  werden,  Einheitsfunction  oder  Synthesis 
schlechthin.  Psychologisch  beruht  sie  auf  der  Einbildungskraft 
oder  der  Fähigkeit,  sich  einmal  gehabter  Vorstellungen  immer 
wieder  bewusst  zu  werden  und  dieselben  mit  neuen  oder  anderen 
reproducirten  zu  associiren.  Erkenntnisstheoretisch  bedeutet 
Function  nichts  weiter  als  Aenderung  des  Bewusstseins.  Indem 
wir  nun  die  Einheitsfunction  mit  den  übrigen  Modificationen 
vergleichen,  sehen  wir,  dass  wir  zwei  Stufen  der  Bewusstseins- 
änderung  zu  unterscheiden  haben.  Einmal  bemerken  wir  das 
Kommen  und  Gehen  der  Vorstellungen,  das  wechselnde  Er- 
scheinen der  psychischen  Elemente:  das  Subject  dieser  Verän- 
derung ist  das  in  Raum  und  Zeit  vorstellende  Bewusstsein.  Nun 
wird  aber  dieses  Bewusstsein  Prädicat  einer  weiteren  Aenderung, 


42  VI.   Das  Object. 

welclie  über  jene  gleichsam  iil)ergreift.  Aus  seinem  in  Zeit  und 
Rnnm  sich  ausbreitenden  Inhalt  werden,  ohne  dass  er  selbst 
dadurch  modificirt  wird,  einzelne  Stücke  herausgehoben,  anein- 
ander gefügt  und  als  Einheit  vorgestellt.  Jenes  Bewusstsein 
geht  über  in  das  räumlich-zeitliche  Einheitsbewusstsein,  an  die 
Stelle  der  Thatsache:  ich  nehme  Mannigfaltiges  wahr  in  Raum 
und  Zeit,  tritt  die  neue :  ich  werde  mir  der  Einheit  von  Mannig- 
faltigem bewusst  oder  ich  denke.  Das  Subject  dieser  Ver- 
änderung heisst  das  Ich,  das  ich  nicht  weiter  beschreiben,  aber 
auch  nicht  selbst  wieder  als  Prädicat  einer  noch  höheren  Ver- 
änderung darstellen  kann.  Insofern  die  Einheitsfunctiou  die  Ver- 
änderung dieser  ärmsten,  leersten,  aber  auch  höchsten  Bewusst- 
seinsstufe  bedeutet,  nenne  ich  sie  ursprünglich.  Will  man 
sich  das  hier  dargestellte  Verhältniss  anschaulich  machen,  so 
wird  man  der  Sache  am  nächsten  kommen,  wenn  man  die  Er- 
kenntniss  des  Gegenstandes  durch  das  Symbol  einer  coraplicirten 
mathematischen  Function  F  {cp  [x])  bezeichnet.  Dann  würde  x 
die  variable  Empfindung,  der  Bau  von  tp  die  Verhältniss  Vor- 
stellungen und'  F  endlich  das  letzte  Subject  der  Veränderung 
bedeuten.  Auch  der  Titel  spontan  mag  gerechtfertigt  sein,  wenn 
man  darunter  nichts  weiter  als  die  Veränderung  des  reinen 
Selbst  verstehen  will.^')  Sobald  man  dabei  freilich  an  eine 
willkürliche  Handlung  des  Selbst  denkt,  befindet  man  sich  auf 
dogmatischem  Abweg.  Von  Handlung  kann  nur  insofern  die 
Rede  sein,  als  man  damit  den  „synthetischen  Einfluss"^'^)  be- 
zeichnet, den  das  Mannigfaltige  dadurch  erleidet,  dass  es  sich 
als  wechselnder  Zustand  auf  das  Ich  als  beharrlichen  Träger 
bezieht. 

2.    Die  Erzeugung  des  Objeets. 

73.  Erst  durch  die  Einheitsfunction  kommt  der  Begriff  des 
Objeets  zu  Staude.  Die  Antwort  des  gewöhnlichen  Realismus, 
dass  unsere  Urtheile  notwendig  seien,  weil  sie  sich  nach  den 
Gegenständen  richten  (§  40),  hat  also  jede  Bedeutung  verloren. 
Sie  würde  lauten:  Die  Vorstellungsverknüpfuugen  sind  notwendig, 
weil  sie  sich  nach  den  Vorstellungseinheiten  richten.  Aber  diese 
Einheiten  werden  eben  selbst  erst  durch  die  Verknüpfungen  erzeugt. 
Es  hat  sich  herausgestellt,  „dass  wir  uns  nichts  als  im  Objecto 
verbunden  vorstellen  können,  ohne  es  vorher  selbst  verbunden  zu 


2.   Die  Erzeugung  des  Ohjects.  43 

Laben; "^■')  es  ist  nicht  gelungen,  die  Einlieitsfunetion  als  ent- 
halten in  der  empirischen  Veränderung  des  Bewusstseins  vor- 
zustellen. 

Wenn  es  also  unmöglich  ist,  die  Verknüpfung  dadurch  als 
notwendig  zu  erkennen,  dass  wir  sie,  als  Nachbild,  mit  dem 
Gegenstande,  als  Urbild,  vergleichen,  so  bleibt  nur  noch  die  Frage 
übrig,  ob  der  Grund  der  Notwendigkeit  der  Verknüpfung  nicht 
im  Subjecte  selbst  gefunden  werden  kann.  Ist  die  Frage  zu 
verneinen,  so  sind  damit  auch  die  Urtheile  von  ursprünglicher 
Notwendigkeit  für  unmöglich  erklärt.  Kann  sie  aber  bejaht 
werden,  so  sind  wir  damit  zu  einer  grossen  Wendung  der  Ge- 
danken gelangt.  Während  wir  bis  dahin  glaubten,  das  notwen- 
dige Urtheil  sei  nach  dem  Object  gebildet  worden,  sehen  wir 
mm,  dass  der  Gegenstand  vielmehr  aus  dem  notwendigen  Ur- 
theil heraus  erzeugt  wird.  Wir  sagen  nicht  mehr:  Wo  ein 
Gegenstand  vorhanden  ist,  da  haben  wir  ein  notwendiges  Urtheil, 
sondern:  Wo  das  letztere  vorhanden  ist,  da  haben  wir  einen 
Gegenstand.  „Ob  wir  gleich  das  Object  an  sich  nicht  kennen, 
so  ist  doch,  wenn  wir  ein  Urtheil  als  gemeingültig  und  mithin 
notwendig  ansehn,  eben  darunter  die  objective  Gültigkeit  ver- 
standen, "^o)  Der  sogenannte  Gegenstand  der  Vorstellungen  ist 
nichts  weiter,  als  der  „Inbegriff  dieser  Vorstellungen ;" ^ i)  seine 
ganze  „Dignität"^-)  besteht  darin,  dass  dieser  Inbegriff  oder  die 
Einheit  auf  irgend  eine  Art  notwendig  gemacht  wird. 

74.  Somit  wird  uns  der  Weg  der  ferneren  Betrachtung  durch 
den  Satz  vorgezeichnet:  Erkenntniss  von  Gegenständen  ist  er- 
klärbar unter  der  Bedingung,  dass  eine  Notwendigkeit  der  Ein- 
heitsfunction  eingesehen  werden  kann. 

75.  Diese  Einsicht  wollen  wir  in  folgender  Weise  zu  ge- 
winnen versuchen.  Es  ist  unmittelbar  einleuchtend,  dass  alle 
Vorstellungen  die  Eigenschaft  haben  müssen,  meine  Vorstel- 
lungen zu  sein;  ich  muss  sie  alle  mit  der  Vorstellung  „mein" 
begleiten  können;  denn  eine  Vorstellung,  bei  der  das  nicht  ge- 
schehen könnte ,  ist  etwas  Undenkbares.  Darin  bestand  ja  die 
Wirklichkeit  der  Vorstellungen  und  nur  dadurch  konnte  sie  de- 
finirt  werden  (§  63),  dass  dieselben  als  Bestandtheile  eines 
Bewusstseins  gegeben  werden.  Nun  sind  wir  weder  durch 
empirische  noch  durch  erkenntnisstheoretische  Gründe  berechtigt, 
unter  Bewusstsein  etwas  Anderes  zu  verstehen,  als  das  Bewusst- 


44  VI.   Das  Object. 

sein  des  denkenden  Individuums.  Die  Vorstellung  „mein"  be- 
deutet diese  Beziehung  einer  Vorstellung  auf  das  Ich,  auf  das 
denkende  Subjeet;  sie  sagt  aus,  dass  die  Vorstellung  von  dem 
Subject  vorgestellt  werde,  d.  h,  dass  sie  wirklich  sei.  Nun 
kann  von  einem  Zusammenhang  der  Vorstellungen  überhaupt 
nur  unter  der  Bedingung  die  Rede  sein,  dass  man  annimmt, 
dieses  Subject  des  Vorstellens  sei  wirklich  absolut  unveränder- 
lich, dieses  „  mein ",  das  die  Vorstellungen  muss  begleiten  können, 
sei  überall  dasselbe,  es  werde  wirklich  jede  einzelne  Vorstellung 
von  dem  gleichen  Ich  aufgenommen.  Denn  sonst  könnte  ja  jede 
Vorstellung  einem  besonderen  Bewusstsein  angehören  und  ich 
müsste  „ein  so  vielfarbiges  Selbst  haben,  als  ich  Vorstellungen 
habe."  Die  Identität  des  Selbstbewusstseins  ist  evidente  Fun- 
damentalannahme aller  Logik. ^3)  Jedes  Resultat  der  Unter- 
suchung, das  mit  dieser  Identität  in  Widerspruch  tritt,  ist 
schon  darum  unmöglich.  Jede  Hypothese  dagegen,  ohne  welche 
die  Identität  nicht  gedacht  werden  kann,  ist  schon  darum  not- 
wendig. 

70.  Nun  behaupte  ich,  dass  die  Einheitsfunction  eine  Ver- 
änderung ist,  ohne  welche  das  Ich  nicht  zum  Bewusstsein  seiner 
Identität  gelangen  kann.  Die  Identität  des  Selbstbewusstseins 
enthält  schon  „  eine  Synthesis  der  Vorstellungen  und  ist  nur  durch 
das  Bewusstsein  dieser  Synthesis  möglich."  Denn  in  dem  Be- 
wusstsein der  empirischen  Veränderungen  in  Raum  und  Zeit  liegt 
keine  Beziehung  auf  die  Identität  des  Subjects.  Auch  wenn  ich 
die  einzelnen  Vorstellungen  mit  Bewusstsein  begleite,  so  bleibt 
dieses  Bewusstsein  zerstreut,  jedes  seiner  Momente  isolirt  und 
von  den  andern  getrennt.  Ich  muss  vielmehr  die  eine  Vor- 
stellung so  zu  der  andern  hinzusetzen,  dass  eine  Vorstellung 
aus  ihnen  wird.  Ich  reihe  einzelne  Punkte  aneinander  und  ge- 
winne die  Gesammtvorstellung  der  Linie.  Indem  ich  mir  dieser 
ihrer  Einheit  bewusst  werde,  sehe  ich  erst,  dass  die  verschie- 
denen Vorstellungen  zu  einem  Bewusstsein  gehören,  dass  das 
Ich,  auf  welches  die  einzelnen  bezogen  wurden,  identisch  war. 
Jetzt  erst,  nachdem  die  einzelnen  Vorstellungen  zu  einer  Summe 
addirt  sind,  sondert  sich  das  „mein",  das  sie  begleitete,  als  con- 
stanter  Factor  ab.  So  ist  das  analytische  Bewusstsein  der  Ein- 
heit des  Ich  nur  unter  der  Voraussetzung  eines  synthetischen  Be- 
wusstseins  der  Einheit  von  Vorstellungen  möglieh.    Die  Einheits- 


3.   Dritter  Grundsatz  der  Erkenntnisstheorie.  45 

function  des  Bewusstseins  ist  also  Bedingung  seiner  Identität  und 
als  solche  notwendig.  ^^) 

Somit  lässt  sich  die  Notwendigkeit  ursprünglicher  Vorstel- 
lungsverkuUpfungen  im  Allgemeinen  beweisen.  Die  Möglichkeit 
notwendiger  Urtheile  ist  gesichert.  Es  gibt  Erkenutniss  von 
Oesenständen. 


3.   Dritter  Grundsatz  der  Erkenntnisstheorie. 

77.  Das  genannte  Ergebniss  zusammenfassend,  können  wir 
Yon  vornherein  über  alle  Objecte,  welche  uns  in  der  Erfahrung 
vorkommen  mögen,  ein  Urtheil  aussprechen.  Wir  können  be- 
haupten, dass  sie  keine  Eigenschaften  besitzen,  welche  der  Mög- 
lichkeit einer  Synthesis  im  Wege  stehen  würden.  Alle  Vorstel- 
lungen, sofern  ihnen  objective  Bedeutung  zukommen  soll,  müssen 
fähig  sein  zu  Einheiten  verbunden  zu  werden.  Wir  haben  also 
den  Grundsatz: 

78.  Jeder  Gegenstand  der  Erfahrung  entspricht  den  not- 
wendigen Bedingungen  der  Einheitsfunctiou.^^) 

Der  Satz  ist  bloss  analytisch,  weil  es  ja  eben  schon  im  Be- 
griffe des  Gegenstandes  liegt,  diesen  Bedingungen  gemäss  zu 
sein.  Aber  es  ist  die  Fundamentalerklärung ,  auf  welcher  sich 
alle  weitere  Ableitung  aufbaut. 

79.  Es  ist  wichtig  hervorzuheben,  dass  dieses  Princip  un- 
abhängig von  der  Ansicht  über  Raum  und  Zeit  abgeleitet  worden 
ist.  So  wird  es  zu  einer  selbstständigen  Grundlage,  von  welcher 
aus  wir  die  Idealität  von  Raum  und  Zeit  postuliren  können. 
Denn  es  ist  sinnlos,  von  Eigenschaften  der  Gegenstände,  die 
ganz  unabhängig  von  unserm  Vorstellen  vorhanden  sind,  aus- 
zumachen, dass  sie  unter  den  Bedingungen  des  Bewusstseins 
stehen.  ^'^) 

80.  In  diesem  obersten  Princip  ist  auch  eine  Forderung  der 
Psychologie  gegenüber  enthalten.  Indem  wir  verlangen,  dass 
die  Vorstellungen  unter  die  Einheit  des  Bewusstseins  gebracht 
werden,  setzen  wir  voraus,  dass  nach  den  psychologischen  Natur- 
gesetzen dieser  Vorgang  möglich  ist.  Wie  auch  die  Psychologie 
ihre  Processe  beschreibe  und  eiutheile,  ob  sie  mit  Kant  eine  Syn- 
thesis der  Apprehension,  der  Reproduction  und  der  Recognition 
unterscheide^'),  oder  Alles  auf  die  Fähigkeit  der  Reproduction 


46  VI.   Das  Object. 

ziirtlckl'ühre,  das  ist  tiir  die  ErkeDntnisstlieorie  gleichgültig'.  Die 
letztere  fordert  nur,  dass  durch  die  Bewegungen,  welche  die  Psy- 
chologie darstellt,  die  Möglichkeit  der  synthetischen  Einheit  er- 
klärt werde. 

4.  Das  Noumenon. 

51.  Das  ist.  nun  die  Stelle,  wo  das  Ding  au  sich  in  seine 
zweite  Phase  eintritt.  Jene  bloss  negative  Vorstellung  eines  un- 
bekannten Restes  (§  64— 6G)  scheint  hier  eine  bestimmte  Form 
zu  erlangen,  jen/js  imaginäre  Etwas  scheint  sich  im  Reflexe  der 
Einheitsfunction  zu  einem  positiven  Ding  zu  verdichten.  Auch 
diese  Steigerung  der  Täuschung  ist  ganz  natürlich.  Das  Bewusst- 
seiu  hat  sich  nunmehr  den  Besitz  einer  notwendigen  Eiuheits- 
vorstelluug  gesichert.  Nun  bezieht  es  diese  Einheit  auf  jenen 
trügerischen  Rückstand  des  unaufgelöstcn  Objects  und  glaubt  den 
Begriff  für  die  Form  gefunden  zu  haben,  die  sich,  nachdem  die 
Materie  aufgelöst  w^ar,  seinem  Begreifen,  seinem  Denken  entzog. 
Dieser  Begriff  hat  keine  subjectiven  Eigenschaften,  wir  erkennen 
folglich  in  seiner  Einheit  ein  Object  au  sich,  ein  Wesen,  das  nicht 
durch  die  modificirenden  Einflüsse  unserer  Sinne  verkleidet  ist.  So 
entsteht  der  Begriff  von  einem  Gegenstande  überhaupt,  das  Nou- 
menon, das  Verstandesdiug.  Die  Illusion  ist  ebenso  leicht  zu 
zerstören,  als  sie  schwer  zu  vermeiden  ist.  Die  leiseste  Bestim- 
mung darüber,  was  wir  denn  eigentlich  dadurch  erkennen,  lässt 
die  ganze  Materie  zu  Nichts  zerfliessen;  der  geringste  Versuch 
zu  sehen,  ob  irgend  Etwas  wirklich  durch  die  Einheit  lestgehalten 
werde,  zeigt,  dass  sie  verscliwunden  ist.  Wir  müssen  immer 
wieder  entdecken,  dass  unser  Begriff  trotz  der  vermeinten  Füllung 
leer  blieb.  Der  Begriff  aber  ist  ohne  Inhalt  sinnlos.  Einheit 
bedeutet  gar  nichts,  wenn  sie  nicht  eine  Einheit  von  Etwas  ist. 
Niemals  kann  also  aus  dem  beziehungslosen,  reinen  Denken 
einer  Verknüpfung  überhaupt  Erkenntuiss  entspringen. 

52.  Man  wirft  der  kritischen  Philosophie  vor,  sie  habe  ge- 
rade ihren  Fundamentalbegriff  von  der  logischen  Trennung  zwi- 
schen Erscheinungen  und  an  sich  selbst  vorhandenen  i)iugen  im 
Dunkel  belassen.  Denn  irgend  ein  Begriff  müsse  es  doch  sein, 
durch  welchen  diese  Trennung  vollzogen  werde.  ^'^)  Dieser  Be- 
griff ist  eben  das  Noumenon,  aus  dessen  negativem  Ursprung 
schon  folgt,  dass  es  eigentlich  ein  Verhältniss  (des  Subjects  zur 


4.    Das  Noiimeiion.  47 

Form  seiner  Vorstellimg-en)  darstellt.  Das  Noiimenou  ist  eben 
die  Vorstellung  der  Aufgabe,  ein  Etwas  überhaupt  zu  denken 
und  davon  allen  Empfindungsstoff  abzusondern. 

83.  Aber  selbst  aus  der  kritischen  Vernichtung  springt  das 
Noumenon  immittelbar  in  einer  dritten  doch  ungefährlicheren 
Gestalt  wieder  hervor.  Wenn  das  negative  Bestreben  der  Abs- 
traction  von  allen  sinnlichen  Qualitäten  uns  keinen  wirklichen 
Inhalt  übrig  lässt,  so  kann  uns  ein  solcher  vielleicht  anders 
woher  von  unserer  Subjectivität  unabhängig  gegeben  werden. 
Von  diesem  unsinnlichen  Erwerb  suchen  wir  uns  denn  mit  Hülfe 
der  verschiedensten  Worte  Vorstellungen  zu  machen,  die  alle 
gleich  mystisch  sind,  sei  es  Offenbarung  oder  spontanes  Setzen 
oder  intellectuelle  Anschauung.  So  entsteht  das  Trugbild  des 
Noumenon  in  positiver  Meinung.  Seine  Nichtigkeit  als  Erkenntniss 
ist  evident.  Denn  wir  können  uns  nicht  einmal  von  der  Mög- 
lichkeit dieses  „anderswoher"  den  mindesten  Begriff  machen. 
Schon  am  Anfang  des  Versuchs  würden  wir  unsere  Gedanken  in 
der  Zeit,  also  in  der  Sinnenwelt  entdecken.  ^■') 


YII.    Die  Arten  der  Eiuheitsfunctiou. 

1.    Die  Aufgabe. 

84.  In  dem  Ergebniss:  dass  unsere  Vorstellungen  zu  Ein- 
heiten verknüpft  werden  müssen,  besitzen  wir  ein  Urtheil,  das, 
ohne  in  einem  andern  enthalten  zu  sein,  den  Anspruch  auf  not- 
wendige und  allgemeine  Geltung  erheben  kann.  Denn  es  ist 
notwendig,  weil  auf  seiner  Wahrheit  die  Identität  des  Bewusst- 
seins  beruht,  ohne  welche  von  der  Möglichkeit  der  Erfahrung 
überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann.  Es  ist  allgemeingültig, 
weil  das  identische  Ich  von  dem  Bewusstsein  dieses  oder  jenes 
einzelnen  Subjects  vollkommen  unabhängig  ist.  Das  Ich  ist 
eine  absolut  einfache  Vorstellung,  sie  enthält  kein  Mannigfaltiges, 
das  durch  Erfahrung  in  verschiedener  Weise  gegeben  werden 
könnte.  Sie  bezeichnet  die  einfache  Thatsache  des  Daseins  eines 
Subjects,  die  Existenz  eines  Denkens.    In  dem  absolut  bestimmten 


48  Vn.   Die  Arten  der  Einheitsfunction. 

Factum  des  blossen  Vorhandenseius  kann  aber  kein  Unterschied 
der  Subjecte  gedacht  werden.  Also  muss  ein  Urtheil,  das  bloss 
dieses  Factum  zur  Voraussetzung  hat,  allgemein  gültig  sein, 

85.  Die  Identität  des  Bewusstseins,  welche  die  Bedingung 
ist,  unter  der  überhaupt  aus  Wahrnehmungen  Erfahrung  werden 
kann,  fordert  also  für  die  Möglichkeit  ihres  eignen  Daseins,  dass 
in  dieser  Erfahrung  ein  einheitlicher  Zusammenhang  der  Vor- 
stellungen besteht.  Diese  Notwendigkeit  des  Zusammenhangs, 
oder  mit  einem  gleichbedeutenden  Wort,  diese  Gesetzmässigkeit 
der  Vorstellungsverbiudung  ist  die  allgemeine  Voraussetzung, 
welcher  die  Einheitsfunction  zu  genügen  hat. 

86.  Von  der  Erzeugung  dieser  Erfahrungseinheit  wissen 
wir  bis  jetzt  nichts,  als  dass  sie  vorhanden  sein  muss;  ihre  be- 
sondere Gestaltung  ist  uns  unbekannt.  Um  sie  kennen  zu  lernen, 
müssten  wir  die  einzelnen  Bedingungen  der  Identität  des  Be- 
wusstseins, die  verschiedenen  Arten  der  Einheitsfunction  zu  er- 
gründen suchen.  Wenn  uns  das  gelänge,  so  hätten  wir  dadurch 
ebenso  viele  Urtheile  von  ursprünglicher  Notwendigkeit,  also 
eine  Keihe  objectiver  Erkenntnisse  gewonnen.  Denn  alle  Be- 
dingungen der  Möglichkeit  der  Erfahrung  sind  ja  auch  Be- 
dingungen der  Möglichkeit  ihrer  Gegenstände.  In  diesen  Regeln 
der  Einheitsfunction  würden  wir  somit  Principien  erkennen,  von 
denen  die  Gesammtheit  der  für  uns  erkennbaren  Dinge  abhän- 
gig ist. 

87.  Die  Aufgabe  gehört  zu  den  wichtigsten  und  schwierig- 
sten der  Erkenntnisstheorie.  Wir  müssen  streng  daran  festhalten, 
dass  diesen  Gesetzen  die  Notwendigkeit  nur  als  Bedingungen  der 
Bewusstseinsidentität  zukommen  kann.  Auf  welche  Weise  aber 
soll  es  denn  möglich  sein,  die  Zahl  dieser  Bedingungen  fest- 
zustellen? Wie  soll  hier  die  Gefahr  speculativer  Willkür  ver- 
mieden werden?  Soviel  können  wir  von  vornherein  behaupten, 
dass  wir  jedenfalls  über  die  Zahl  absolute  Gewissheit  erlangen 
müssen.  Denn  weil  die  Gesetze  Bedingungen  der  Erfahrung 
überhaupt  sind,  kann  ihre  Zahl  durch  die  Erfahrung  nicht  ver- 
ändert werden;  daher  muss  sie  auch  endgültig  autgezeigt 
werden  können.  Die  Lösung  kann  nur  Eine  sein.  So  lange 
die  Zahl  der  reinen  Denknotwendigkeiten,  welche  verschiedene 
Forscher  aufstellen,  variirt  und  variiren  kann,  ist  die  Methode 
falsch.     Ein    hypothetisches    Verfahren  ist   hier   nicht    statthaft. 


1.    Die  Aufgabe.      2.    Kaufs  Entdeckiiug.  49 

Mau  darf  nicht  versuchsweise  verschiedene  Zahlen  annehmen 
und  schliesslich  diejenige  behalten,  vs^elche  zu  dem  relativ  be- 
friedigendsten Systeme  führt.  Die  Ableitung-  hat  nur  dann  Wert, 
wenn  sie  mit  Bewusstsein  aus  einem  erkenntnisstheoretischen 
Princip  hervorgeht.  ^  ^) 

88.  Dazu  kommt  eine  zweite  Schwierigkeit.  Die  Allgemein- 
gültigkeit  kann  den  besondern  Gesetzen  nur  unter  der  Bedingung 
anhaften,  dass  sie  keinen  empirischen,  d.  h.  erfahrungsmässig 
variablen  Factor  enthalten.  Wie  sollen  wir  aber  in  dem  Be- 
griff der  Eiuheitsfunction  überhaupt  eine  Besonderuug  entdecken, 
ohne  uns  an  die  Erfahrung  zu  wenden? 

89.  Vielleicht  können  wir  von  anderer  Seite  her  Hülfe  be- 
kommen. Unter  der  Einheitsfunction  verstehen  wir  denjenigen 
Vorgang  im  Bewusstsein,  durch  welchen  verschiedene  Vorstel- 
lungen zu  einer  Einheit  verbunden  werden.  Nun  ist  aber  das 
Urtheil  nichts  Anderes  als  unsere  Erkenntniss-  und  Ausdrucks- 
form eben  dieser  Function.  Das  Urtheil  ist  die  entwickelte  Vor- 
stellung der  Bewusstseinseinheit  verschiedener  Vorstellungen.  Der 
Gang  unserer  Untersuchung  hat  uns  ja  über  das  Urtheil  niemals 
hinausgeführt.  Wir  suchten  für  die  Verbindung  der  Eigen- 
schaften des  Gegenstandes  einen  objectiveu  Grund  und  fanden 
dafür  einen  subjectiven,  die  Verbindung  selbst  blieb  die  gleiche. 
Nun  wissen  wir,  dass  die  formale  Logik  die  verschiedenen  Arten 
dieser  Verbindung  genau  zu  studiren  hat,  um  daraus  die  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  abzuleiten,  welche  fiir  die  Gewinnung- 
formaler  Notwendigkeit  vorhanden  sind.  Wo  könnten  wir  daher 
die  gewünschte  Anzahl  unserer  Functionen  sicherer  und  voll- 
ständiger erfahren?  Wir  lesen  sie  ab  aus  der  formalen  Logik 
und  besitzen  nun  für  die  zureichende  Lösung  der  Aufgabe  wenig- 
stens die  Garantie,  welche  diese  so  hoch  entwickelte  Wissen- 
schaft zu  leisten  vermag. 

Das  ist  der  Weg,  den  Kant  eingeschlagen  hat.  Die  Wich- 
tigkeit des  Punktes  macht  ein  besonderes  Besprechen  der  Kant- 
schen  Darstellung  notwendig. 

2.  Kant's  Entdeckung. 

90.  Kant  geht  zur  Aufstellung  seiner  Kategorien  mit  dem 
Satze  über:   „Die  Functionen  des  Verstandes  können  also  ius- 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  4 


50  VII.   Die  Arten  der  Eiuheitsfuuction. 

gesammt  gefiiiuleii  werden,  wenn  man  die  Functionen  der  Einheit 
iu  den  Urtheileu  vollständig  darstellen  kann.  Dass  dies  aber 
sich  ganz  wohl  bewerkstelligen  lasse,  wird  der  folgende  Ab- 
schnitt vor  Augen  stellen."'^')  Somit  wird  die  Gültigkeit  der 
ganzen  Methode  davon  abhängen,  ob  dies  wirklich  vor  Augen 
gestellt  worden  ist. 

„Wenn  wir  von  allem  Inhalte  eines  Urtheils  überhaupt 
abstrahiren  und  nur  auf  die  blosse  Verstandesform  darin  Acht 
geben,  so  finden  wir,  dass  die  Function  des  Denkens  in  dem- 
selben unter  4  Titel  gebracht  werden  könne  etc. "  •>-)  So  finden 
wir?  Soll  das  etwa  eine  Rechtfertigung  sein?  Suchen  wir  die 
Tendenz  des  Satzes  zu  verstehen.  Sein  Sinn  ist  folgender:  Wenn 
wir  von  allem  Inhalt  eines  Urtheils  überhaupt  abstrahiren  und 
nur  auf  die  blosse  Verstandesform  darin  Acht  geben,  so  — 
stehen  wir  in  der  formalen  Logik  und  da  finden  wir  die  Ein- 
theilung  der  Urtheile.  Damit  ist  aber  auch  genügend  erwiesen, 
dass  sich  das  Versprochene  bewerkstelligen  lasse.  Das  „vor 
Augen  stellen"  besteht  in  dem  Hinweis,  dass  man  sich  einfach 
an  eine  schon  bestehende  Wissenschaft,  an  die  formale  Logik, 
zu  wenden  habe,  um  die  Aufgabe  zu  lösen.  Und  der  Hinweis 
ist  darum  so  wertvoll,  weil  diese  Wissenschaft  anerkannt  und 
unerschütterlich  ist.  Die  Arbeit  der  Logiker  ist  eine  „schon 
fertige  ".^3)  Seit  ältesten  Zeiten  her  ist  die  Logik  einen  sicheren 
Gang  gegangen,  so  sicher,  „dass  sie  seit  dem  Aristoteles  keinen 
Schritt  rückwärts  hat  thun  dürfen,  wenn  man  ihr  nicht  etwa  die 
Wegschaffung  einiger  entbehrlichen  Subtilitäten  oder  deutlichere 
Bestimmung  des  Vorgetragenen  als  Verbesserungen  anrechnen 
will,  welches  aber  mehr  zur  Eleganz,  als  zur  Sicherheit  der 
Wissenschaft  gehört. "  ^ ')  Auch  jetzt  zwar  ist  die  Logik  nicht 
ganz  „von  Mängeln  frei".^^)  Allein  sie  werden  verbessert,  die 
Correcturen  durch  einige  „Verwahrungen  wider  den  besorglichen 
Missverstaud  geschützt,  und  schliesslich  weicht  die  ürtheilstafel 
nur  in  „  nicht  wesentlichen "  Stücken  von  der  „  gewohnten  Technik 
der  Logiker"  ab. 

91.  Die  angeführten  Stellen  zeigen  deutlich,  dass  sich  Kant 
auf  die  Logik  beruft,  als  auf  eine  Wissenschaft,  deren  Grund- 
warliheiten  unzweifelhaft  feststehen.  Wenn  daher  gesagt  wird, 
dass  Kant  die  Vollständigkeit  der  Ürtheilstafel  nicht  selbst  be- 
gründet habe,  so  trete  ich  dieser  Ansicht  bei.    Er  hat  das  über- 


2.   Kant's  Entdeckung.  51 

baupt  niclit  für  nötig  gehalteu.  Will  man  aber  daraus  den 
Vorwurf  ableiten,  Kaut  habe  sich  in  seiner  Umwandlung  der 
Rhapsodie  in  ein  System  selbst  getäuscht  und  sich  mit  einem 
„Priucip"  gebrüstet,  das  er  nicht  besessen  habe,  so  macht  man 
sich  eines  starken  Missverständnisses  schuldig.  Man  verwechselt 
dann  die  Kategorien tafel  mit  der  Urtheilstafel.  Kant  hatte  sich 
gerühmt,  ein  Princip  entdeckt  zu  haben  für  die  Eintheilung  jener 
allgemeinen  Begriffe,  an  deren  Feststellung  die  Philosophie  bis- 
lang verzweifelt  war.  Seit  Aristoteles  hatte  man  sich  bemüht, 
„aus  dem  gemeinen  Erkenntnisse  die  Begriffe  herauszusuchen, 
welche  gar  keine  besondere  Erfahrung  zum  Grunde  liegen  haben, 
und  gleichwohl  in  aller  Erfahrungserkenntniss  vorkommen. "  ^^) 
Aber  weil  die  au  und  für  sich  so  wertvolle  Idee  niemals  hatte 
regelmässig  ausgeführt  werden  können,  so  musste  die  Arbeit 
immer  wieder  als  unnütz  verworfen  werden.  Es  fehlte  das 
Princip,  „nach  welchem  der  Verstand  völlig  ausgemessen  und 
alle  Functionen  desselben,  daraus  seine  reinen  Begriffe  ent- 
springen, vollzählig  und  mitPräcision  bestimmt  werden  konnten."  ■'') 
Da  entdeckte  Kant  das,  worauf  unsere  Untersuchung  un- 
mittelbar gerichtet  war,  die  Einheitsfuuction  in  den  Urtheilen. 
Er  erkannte,  dass  jene  gesuchten  allgemeinen  Begriffe  nichts 
Anderes  seien  als  die  Verstandeshandluugen ,  welche  auch  den 
verschiedenen  Vorstellungen  in  einem  Urtheile  Einheit  geben. 
Um  „ein  solches  Princip  auszufinden,  sah  ich  mich  nach  einer 
Verstandeshandlung  um,  die  alle  übrigen  enthält  und  sich  nur 
durch  verschiedene  Modificatiouen  oder  Momente  unterscheidet, 
das  Mannigfaltige  der  Vorstellung  unter  die  Einheit  des  Denkens 
überhaupt  zu  bringen,  und  da  fand  ich,  diese  Verstandeshandlung 
bestehe  im  Urtheilen."  Das  Princip  gieng  somit  nicht  auf  die 
Wesensbestimmung  dessen,  was  eingetheilt  werden  sollte.  Das 
Entscheidende  war,  dass  „die  wahre  Bedeutung  der  reinen 
Verstandesbegriffe  und  die  Bedingung  ihres  Gebrauchs  genau 
bestimmt  werden  konnte ".ö"»)  Das  „gemeinschaftliche  Princip" 
war  das  „Vermögen  zu  urtheilen".  •^■')  Durch  diese  Entdeckung 
wurde  nun  die  Aufgabe  der  Eintheilung  mitgelöst.  Sie  wurde 
von  dem  schwankenden  Boden  der  Metaphysik  auf  den  uner- 
schütterlichen Boden  der  formalen  Logik  hinüber  gespielt.  Die 
anerkannte  Systematik  der  letzteren  konnte  nun  auch  jener  zu 
Gute  kommen. 


52  VII.    Die  Arten  der  Eiuheitst'imction. 

92.  In  diesem  Sinn  muss  man  die  Freude  begreifen,  welche  Kant 
über  seine  Entdeckung  eniptand.  Sie  gieng  nicht  auf  die  entdeckte 
Eiutheilung  überhaupt,  sondern  auf  die  entdeckte  Notwendigkeit 
seiner  metaphysischen  Eintheiiung.  Und  da  es  gebräuchlich  ist,  au 
dieser  Stelle  die  erste  Aeusserung  von  Kaut's  Symmetrieleiden- 
schaft und  gothischer  Zahlenfreude  aufzuzeigen,  so  sei  hier  ein 
weiterer  N'orwurf  zurückgewiesen.  Man  wende  gegen  Kant  ein, 
dass  er  eine  unwissenschaftliche  Ansicht  von  der  formalen  Logik 
gehabt  habe,  und  es  bleibt  dann  vorläufig  dahingestellt,  ob  und 
welche  Resultate  seiner  Forschung  dadurch  unbrauchbar  gemacht 
werden.  Aber  nachdem  man  seine  Auffassung  einmal  zu  Grunde 
gelegt  hat,  —  und  das  muss  man,  wenn  man  das  Weitere  kritisiren 
will,  —  ist  es  methodisch  unrichtig,  sich  bei  Jedem  folgenden 
Erscheinen  der  ursprünglichen  Eintheiiung  über  Künstelei  zu  be- 
klagen.'^ö)  yIqy  f[Q^  Zusammenhang  nur  eiuigermassen  gefolgt 
ist,  kann  doch  nicht  verkennen,  dass  die  Kategorientafel  in  der 
That  eine  systematische  Topik  begründe  für  alle  Untersuchungen, 
deren  Stoff  von  den  verschiedenen  Functionen  des  Bewusstseins 
wesentlich  abhängig  ist. '^')  Denn  ihre  Vollkommenheit  beruht 
darautj  dass  sie  nicht  „von  der  Sache  selbst  auf  dogmatische 
Weise "«^-^j  sondern  „aus  der  Natur  des  Verstandes  selbst  nach 
kritischer  Methode "  genommen  ist.  Wenn  Andere  das  auch  auf 
empirisch  beeinflusste  Objecte  ausdehnen  wollten,  so  ist  dafür 
jedenfalls  Kant  nicht  verantwortlich  zu  machen.  Das  mögen 
tblgende  Stellen  belegen:  Kant  hat  ausdrücklich  eingeschärft, 
dass  das  Schema  bloss  der  Metaphysik,  bloss  „aller  Behandlung 
eines  jeden  Gegenstandes  der  reinen  Vernunft" ^3)  zu  Grunde 
liegen  könne  und  zwar  „sofern  er  philosophisch  und  nach  Grund- 
sätzen a  priori  erwogen  werden  soll."*^')  Denn  allein  in  der 
Metaphysik  wird  der  Gegenstand  „nur,  wie  er  bloss  nach  den 
allgemeinen  Gesetzen  des  Denkens  ....  vorgestellt  werden  muss, 
betrachtet. "  ''•')  Da  muss  er  jederzeit  mit  allen  notwendigen  Denk- 
gesetzen verglichen  werden  und  stets  die  gleiche,  erschöpfende 
Zahl  von  Erkenntnissen  liefern.  So  zeichnet  sich  die  Meta- 
physik „  unter  allen  Wissenschaften  dadurch  ganz  besonders  aus, 
dass  sie  die  einzige  ist,  die  ganz  vollständig  dargestellt 
werden  kann;  so  dass  für  die  Nachwelt  nichts  übrig  bleibt  hin- 
zuzusetzen .  .  ."'-''),  während  „Vollständigkeit  der  Eintheiiung  des 
Empirischen  aber  unmöglich  ist.'"^") 


2.   Kant's  Entdeckung.  53 

93.  Damit  ist  der  Angriff  auf  den  riclitigen  Punkt  gewiesen. 
Nun  freilich  müssen  wir  fragen,  wie  sich  das  „System  verhalte, 
wenn  wir  der  formalen  Logik  das  Vertrauen,  das  Kant  ihr 
schenkte,  nicht  gewähren  können.  Da  das  metaphysische  Er- 
gebniss  seine  Sicherheit  der  Bürgschaft  der  Logik  verdankt,  so 
wird  mit  dieser  Garantie  auch  jener  Ertrag  dahinfallen.  Diese 
bedenkliche  Behauptung  würde  unzweifelhaft  feststehen,  wenn 
nicht  inzwischen  mit  dem  der  Logik  entlehnten  Schema  ander- 
weitige Operationen  vorgenommen  worden  wären.  Das  an  den 
Bau  der  Logik  angelehnte  Gerüste  kijnnte  durch  neue  Verbin- 
dungen so  gestützt  worden  sein,  dass  es  sich  selbst  aufrecht 
erhält,  auch  wenn  man  jene  Mauer  niederreisst.  "Wer  den  obigen 
Einwurf  erhebt,  vergisst  nichts  Geringeres  als  die  ganze  trans- 
sceudentale  Deduction.  ''^)  Wenn  Kant  im  guten  Glauben  eine 
zweifelhafte  Eiutheilung  aufgenommen,  aber  dazu  den  unab- 
hängigen Beweis  geliefert  hat,  dass  diese  Eintheilung  in  der 
betreffenden  Verwendung  einen  Sinn  hat,  so  stehen  wir  eben 
vor  einem  jener  Fälle,  wo  der  unrichtige  Ausgangspunkt  die 
Wahrheit  des  Resultates  nicht  beeinfiusseu  konnte.  Angenommen 
die  Notwendigkeit  der  Urtheilstafel  sei  eine  Täuschung,  so  fragt 
es  sich  nur,  ob  Kant  jede  einzelne  der  darin  verzeichneten  Ein- 
heitsfunctionen  als  eine  Bedingung  der  Erfahrung  nachgewiesen 
habe.  Ist  dies  geschehn,  so  bedeutet  das  gleichzeitig  eine  Eman- 
cipatiou  der  Kategorientafel  von  dem  Einfluss  der  Urtheile.  Die 
vermeintliche  UnSelbstständigkeit  hat  sich  als  unbegründet,  die 
Ableitung  als  überflüssig  herausgestellt.  Wenn  eine  Abhängigkeit 
stattfindet,  so  hat  sie  jedenfalls  ihren  Sinn  verändert:  die  em- 
pirische Eintheilung  der  Urtheile  wird  sich  nach  dem  System 
der  Eriährungsbedingungen  zu  richten  haben.  Wer  also  die  Be- 
rechtigung der  Urtheilstafel  anzweifelt,  täuscht  sich,  wenn  er 
glaubt,   dass  seine  Bedenken  die  Kategorien  noch  mitberühren. 

94.  In  diesem  Punkt  muss  man  die  in  historischem  Sinne 
geführten  Angriffe  von  denen  mit  absolut  systematischer  Tendenz 
wohl  unterscheiden.  Cohen  z.B.  sagt:  „Zuerst  wurde  nach  den 
Grundsätzen  gefragt.  Die  Anzahl  derselben  war  nicht  bekannt; 
aber  die  Apriorität  derselben  sollte  nur  in  den  Begriffen  liegen 
können:  daher  wurden  zweitens  Grundbegriffe  angenommen. 
Wenn  anders  nun  eine  erschöpfende  Uebersicht  der  ersteren  er- 
reicht werden  sollte,  so  musste  für  die  letzteren  eine  solche  her- 


54  VII.    Die  Arten  der  Einhoitsfunction. 

gestellt  werden.  So  kam  er  zu  der  Tafel  der  Urtheile,  und  von 
dieser  zu  der  gesuchten  Tafel  der  Grundbegriffe  und  Grund- 
sätze."''") Dass  dies  der  Gang  der  Kautisclien  Systematik  ge- 
wesen sei,  stehe  ich  nicht  an  zu  glauben,  aber  ich  bestreite  die 
Möglichkeit,  aus  dieser  Entwicklung  Momente  für  ihre  absolute 
Vertheidigung  zu  gewinnen.  Wenn  daher  Cohen  zu  allgemein  fort- 
fährt: „Jeder  Angriff  auf  die  Ordnung  und  Anzahl  dieser  beiden 
muss  demnach  immer  auf  die  Ordnung  und  Anzahl  der  Urtheils- 
arten  gerichtet  werden ",  so  darf  dies  nur  auf  bestimmte  geschicht- 
liche Missverständnisse  bezogen  werden;  in  systematischer  Hin- 
sicht muss  man  vielmehr  behaupten:  Jeder  Angriff  aber  gegen 
die  Ordnung  und  Anzahl  der  Urtheilsarten,  der  demnach  Ord- 
nung und  Anzahl  jener  beiden  mitzutreffen  vermeinte,  würde 
abgeschlagen  werden.  Die  Kantische  Systematik  hat  sich  wäh- 
rend ihrer  Entwicklung  auf  eigene  Füsse  gestellt  und  ist  fortan 
im  Stande,  die  Hand  ihres  Führers,  dessen  Sicherheit  nicht 
unzweifelhaft  war,  zu  missen. 

95.  Gegner,  welche  die  Vollkommenheit  der  formalen  Logik 
im  Kantischen  Sinn  anerkennen,  führen  richtige  Angriffe  gegen 
die  Kategorien,  wenn  sie  zeigen,  dass  sich  dieselben  mit  den 
Urtheilsformen  nicht  wirklich  decken.  Gegner  aber,  welche  die 
Aufstellungen  der  Logik  überhaupt  nicht  als  fest  begründet  an- 
sehen, müssen  sich  noch  ausserdem  gegen  das  eigene  Fundament 
der  Kategorie  richten.  Das  ist  die  grosse  Frage,  ob  die  ein- 
zelne Kategorie  als  Bedingung  der  Erfahrung  nachgewiesen  sei. 
Die  Frage  muss  von  denjenigen  verneint  werden,  welche  die 
transscendentale  Deduction  nur  in  der  „Analytik  der  Begriffe" 
suchen.  Allein  es  vollendet  sich  cl)en,  wenn  auch  nicht  in  Kant's 
deutlich  ausgesprochener  Absicht,  so  doch  thatsächlich  die  trans- 
scendentale Deduction  erst  in  der  Analytik  der  Grundsätze.  Die 
Analytik  der  Begriffe  deducirt  die  Kategorie,  die  Analytik  der 
Grundsätze  die  Kategorien .  Und  nur  insoweit  die  letztere 
dies  thut,  kann  die  Kategorientafel  angenommen  werden.  Doch 
ist  hier  nicht  der  Ort,  das  Verhältniss  dieser  Ansicht  zur  Kanti- 
schen Darstellung  näher  zu  bestimmen.  Es  liegt  mir  hier  bloss 
daran,  sie  im  systematischen  Fortgange  der  Abhandlung  zur  Er- 
reichung sicherer  Resultate  zu  verwerten.'"^) 

90.  Ich  halte  somit  das  Ablesen  der  Einheitsfunctionen  aus 
der  Tafel   der    Urtheile   für   vollkommen   bedeutungslos.     Was 


3.    Systematische  Ableitung  der  Arten.  55 

mau  da  findet,  muss  nur  anderswo  noch  einmal  gesucht  werden. 
Die  Urtheilstafel  aber  nach  metaphysischen  Gesichtspunkten  fest- 
stellen und  sie  hierauf  der  Ableitung  der  Metaphysik  zu  Grunde 
legen  zu  wollen,  das  wäre  ein  so  plumper  Cirkel,  dass  dieser  Fall 
kaum  der  Warnung  bedarf  Der  formalen  Logik  muss  zunächst 
die  Unabhängigkeit  ihrer  Methode  gCM^ährleistet  und  die  unbe- 
schränkte Breite  ihres  empirischen  Gebietes  überlassen  werden. 
Nur  vergesse  sie  nicht,  dass  die  objective  Gültigkeit  ihrer  Ge- 
setze eine  besondere  Deduction  erfordert.  Ihre  Aufstellungen 
werden  wie  die  der  Mathematik  ein  blosses  Spiel,  wenn  ihre  reale 
Bedeutung  nicht  mehr  begriffen  werden  kann.  Und  das  ist  der 
bleibende  Wert  der  Entdeckung  Kaut's,  dass  er  den  dunkeln 
Charakter  jener  Grundbegriffe  der  alten  Metaphysik  aufgeklärt 
und  sie  als  Einheitsfunctionen  des  Urtheilens  enthüllt  hat.  Für 
die  formale  Logik  entspringt  daraus  nichts  Geringeres  als  die 
Möglichkeit  ihrer  erkenntnisstheoretischen  Begründung. 

3.   Systematische  Ableitung  der  Arten. 

97.  Da  uns  die  formale  Logik  einen  befriedigenden  Auf- 
schluss  über  das  Princip  ihrer  Eintheilung  der  Eiuheitsfiinction 
nicht  zu  bieten  vermag,  so  bleibt  uns  nichts  Anderes  übrig,  als 
die  Lösung  des  Problems  selbstständig  zu  versuchen.  Und  dazu 
sehe  ich  nur  Ein  Mittel.  Wir  müssen  uns  das  identische  Be- 
wusstsein  mit  Inhalt  erfüllt  denken  und  untersuchen,  ob  aus  der 
Natur  dieses  Inhaltes  selbst  die  Forderung  einer  Mehrheit  von 
Bedingungen  hervorgehe.  Wir  müssen  die  Gleichung  des  Er- 
kenntnissprocesses ,  in  welcher  das  Ich  die  alle  Variabein  um- 
fassende Function  bildet,  dahin  analysiren,  ob  das  Bestehen  der 
Function  den  einzusetzenden  Werten  von  vornherein  gewisse 
Beschränkungen  auflege.  Nun  sollen  wir  aber  zugleich  auf  das 
strengste  vermeiden  das  Gebiet  der  Empirie  zu  betreten,  sonst 
würde  den  Urtheilen,  welche  wir  suchen,  die  Eigenschaft  der 
Notwendigkeit  verloren  sein,  wegen  welcher  sie  uns  gerade  ent- 
deckenswert  erscheinen.  Wir  brauchen  also  für  die  Einheits- 
function  einen  Inhalt,  der  nicht  empirisch  ist.  Hat  diese  Auf- 
gabe überhaupt  einen  Sinn? 

Was  uns  befähigt  dieser  Forderung  trotz  ihres  scheinbaren 
Widerspruchs  gerecht  zu  werden,  ist  die  vollzogene  Analyse  des 


56  VII.    Die  Arten  der  Einheitsfunction. 

Vorstellung'sinlialtes  (Cap.  V,).  Wir  haben  gesehen,  dass,  wo 
ein  Gegenstand  gedacht  wird,  der  Inhalt  jeder  Vorstelhmg,  wie 
er  auch  sonst  beschaifen  sei,  in  eine  allgemeine  Vcrhältnissvor- 
stellung  sich  einordnet,  welche  Bedingung  seiner  Aufnahme  ins 
Bewusstsein  ist  und  allen  Vorstellungen  in  gleicher  Weise  zu 
Grunde  liegt.  Diese  Form,  in  welche  wir  alle  empirischen  Data 
aufnehmen,  ist  die  Anschauung  der  Zeit.  Diese  Gcsammtvor- 
stellung  stellt  den  Inbegriff  aller  denkbaren  Erfahrungen  dar, 
sie  ist  das  unbestimmte  aber  eischöpfendc  Bild  alles  Inhalts, 
der  uns  überhaupt  gegeben  werden  kann. 

98.  Es  ist  somit  unzweifelhaft  gewiss,  dass,  an  welchem 
Erfahrungsinhalt  auch  die  Einheitsfunction  die  Identität  des  Be- 
wusstseins  erzeuge,  sie  diesen  Inhalt  zu  einer  in  der  Zeit  ent- 
haltenen Einheit  verknüpfen  muss.  Jede  Vorstellungseinheit  ist 
eine  Zeiteinheit.  Wir  können  also  behaupten,  dass  unter  der 
Zahl  unserer  Erfahrungsbedingungen  jedenfalls  die  sein  muss, 
dass  aller  Vorstellungsinhalt  zu  einheitlichen  Anschauungen  in 
der  Zeit  verknüpft  wird.  Dieser  Satz  aber  enthält  nichts  Empi- 
risches; denn  es  ist  bewiesen  worden,  dass  die  Zeit,  wenn  sie 
auch  in  jeder  empirischen  Vorstellung  enthalten  ist,  doch  nicht 
aus  ihnen  gezogen  worden  sein  kann  (§  5S). 

99.  Wir  wissen  ferner,  dass,  wo  ein  Gegenstand  gedacht 
wird,  jeder  beliebige  Vorstellungsinhalt  dem  entwickelten  Be- 
wusstsein in  dem  Verhältniss  des  Nebeneinander  erscheint.  Alle 
Vorstellungen,  sofern  sie  überhaupt  in  einer  Association  erscheinen, 
sind  in  der  Gesammtvorstellung  des  Raumes  enthalten.  Jede 
Einheitsfunction  bringt  daher  unter  allen  Umständen  eine  räum- 
liche Einheit  hervor.  Wir  haben  somit  eine  zweite  unzweifel- 
hafte Bedingung  der  Bewusstseinsidentität.  In  aller  Vorstellungs- 
verknüpfiing  findet  eine  Synthesis  statt.  Auch  dieser  Satz  ist 
ohne  empirische  Beimischung;  denn  auch  der  Raum  wurde  als 
eine  Anschauung  nachgewiesen,  welche  vorhanden  sein  muss, 
bevor  die  bewusste  Erfahrung  Geltung  hat  (§  48). 

100.  Damit  scheinen  die  Arten  der  Einheitsfunction  erschöpft 
zu  sein.  Wir  besitzen  keine  weitere  Kenntniss  empirisch  un- 
veränderlicher Eigenschaften  des  Erkenntnissinhaltes.  Raum  und 
Zeit  sind  die  einzigen  Qualitäten,  die  als  Bedingungen  des  Be- 
wusstseins  dargestellt  werden  können.  Das,  was  in  der  Ordnung 
der  Verhältnissvorstellungen  angeschaut  wird,   die  Empfindungs- 


3.    Systematische  Ableitung  der  Arten.  57 

demente ,  ist  das  eigentlich  Empirische,  der  Stoff,  aus  dem  Er- 
fahrung producirt  wird.  Von  der  einzelnen  Empfindung  lässt 
sich  keine  Bestimmung  mehr  als  Bedingung  des  Bewusstwerdens 
und  daher  als  apriorisch  absondern.  Aus  ihr  wird  sich  daher 
auch  kein  neuer  Einblick  in  die  Vielseitigkeit  der  Einheits- 
function  gewinnen  lassen.  Und  doch!  Eines  können  wir  von 
der  Empfindung  a  priori  behaupten.  Sie  muss  gegeben  sein. 
Das  heisst  nichts  Anderes  als :  Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass 
wir  Raum  und  Zeit  nur  durch  Abstraction  aus  der  fertigen  Erfah- 
rung isolirt  haben.  Sie  besitzen  nicht  in  der  wirklichen  Erfah- 
rung eine  reine,  gesonderte  Existenz,  so  dass  wir  mit  ihnen  un- 
abhängig von  allem  Empfindungsinhalt  Operationen  vornehmen 
könnten.  Ihr  Name  Verhältnissvorstellung  weist  mit  Recht  dar- 
auf hin,  dass  sie  nur  durch  die  Beziehung  auf  etwas  Anderes 
Bedeutung  erlangen.  Dem  Leser,  der  bis  hierher  gefolgt  ist, 
wird  die  Behauptung  nicht  paradox  erscheinen,  dass  erst  Etwas 
da  sein  muss,  bevor  sich  die  apriorischen  Formen  erzeugen. 
Allerdings  kann  ich  aus  Raum  und  Zeit  alle  Gegenstände  weg- 
nehmen, ohne  genötigt  zu  sein,  sie  selbst  wegzudenken ;  aber  so 
wie  ich  das  thue,  werden  auch  die  Einheitsanschauungen  völlig 
bedeutungslos,  ich  besitze  nicht  mehr  die  mindeste  Erkenntniss  in 
ihnen,  ich  kann  gar  nichts  über  sie  aussagen,  sie  sind  gleichsam 
blind.  Ich  könnte  nicht  einmal  die  drei  Dimensionen  des  Raumes 
aus  ihnen  selbst  erkennen,  d.  h.  ohne  dass  ich  Etwas,  z.  B.  drei 
Linien,  in  ihn  hineinsetzte.  Denn  die  Verhältnissvorstellungen  ent- 
halten absolut  kein  Mannigfaltiges,  können  keins  enthalten,  wenn 
wir  sie  richtig  der  ursprünglichen  Abstraction  gemäss  denken. 
Eine  Verknüpfung,  an  Raum  und  Zeit  allein  vollzogen,  ist  etwas 
Unmögliches,  weil  gar  nichts  zu  Verknüpfendes  da  wäre.  Wenn 
also  die  Einheitsfunction  überhaupt  stattfinden  soll,  so  muss  Em- 
pfindungsmaterial gegeben  sein.  Damit  ist  die  dritte  in  der 
Einheitsfunction  enthaltene  Bedingung  der  Bewusstseinsidentität 
entdeckt.  In  jeder  Vorstellungsverknüpfung  wird  eine  Einheit 
der  Empfinduugselemente  erzeugt.  Auch  dieser  Satz  enthält  nichts 
Empirisches,  obgleich  er  über  das  schlechthin  Empirische  ur- 
theilt.  Was  er  voraussetzt,  ist  bloss  das  Dasein  einer  Empfin- 
dung überhaupt,  deren  specifische  Qualität  ganz  beliebig  sein 
mag.  Die  Thatsache  der  Existenz  selbst  kann  durch  die  wech- 
selnde Bestimmung  der  Erfahrung  nicht  verändert  werden. 


58  VII.    Die  Arten  der  Einheitsfunction. 

101.  So  nimmt  vor  der  uäliern  Untersuchung  die  unbe- 
stimmte Einheitsfunction  eine  schart  gezeichnete  Dreigestalt  au; 
das  allgemeine  Gesetz  der  synthetischen  Einheit  offenbart  seine 
Natur  als  eine  Zusammenfassung  dreier  Grundsätze.  Wir  haben 
ein  Princip  der  materiellen,  ein  Princip  der  räumlichen  und  ein 
Princip  der  zeitlichen  Verknüpfung.  Diese  Zahl  verdanken  wir 
weder  der  formalen  Logik,  noch  einem  speculativen  Einfall,  son- 
dern wir  haben  sie  aus  den  Grundgedanken  unserer  eigenen 
Wissenschaft  methodisch  abgeleitet.  ■!)  Das  Princip  der  Einthei- 
lung  ist  die  erkenntnisstheoretische,  abstracte  Zerlegung  der  Vor- 
stellung in  Emptindung,  Raumanschauung  und  Zeitverhältniss. 
Wenn  diese  Bestandtheile  gut  gezählt  sind,  so  sind  es  auch  die 
Bedingungen  der  Erfahrung.  Wer  mir  die  Anzahl  der  Grund- 
sätze bestreitet,  den  weise  ich  einfach  an  die  Analyse  der  An- 
schauung. Die  synthetische  Einheit  im  Allgemeinen  gedacht  ist 
fähig  —  das  wissen  wir  —  sich  selbst  zu  vertheidigen ;  die  be- 
sonderu  Arten  bedürfen  zur  Anerkennung  ihrer  Ansprüche  einer 
Bürgschaft,  die  ihnen  nun  von  unabhängiger  Seite  geleistet  wird. 
Um  die  Grundsätze  zu  überwinden,  muss  man  erst  das  ästhetische 
Vorwerk  der  Erkenntnisstheorie  stürmen. 

102.  An  dieser  Stelle,  wo  wir  ihre  Tragweite  einsehen, 
werden  wir  allerdings  versucht,  die  Stichhaltigkeit  jener  ur- 
sprünglichen Sonderung  von  Neuem  zu  prüfen.  Ist  sie  wirklich 
im  Wesen  der  Sache  begründet  oder  wurde  sie  nicht  vielmehr 
willkürlich  etwa  als  Schema  der  weitern  Untersuchung  ange- 
nommen? Wir  kennen  ihre  Genese.  Aus  allen  Bestandtheilen 
der  Vorstellung  ragten  von  vornherein  Raum  und  Zeit  durch 
ihre  charakteristischen  Eigenschaften  hervor.  Nachher  wurden 
ihnen  diese  Eigenschaften  durch  einen  Beweis  als  recht- 
mässig zugesprochen.  Da  dieser  Beweis  für  keine  andern  Be- 
standtheile geleistet  werden  konnte,  so  erweist  sich  die  Ab- 
sonderung von  Raum  und  Zeit  als  völlig  Ijegründet.  Nun 
zeigten  sich  aber  in  der  Summe  der  übrigen  Bestandtheile  keine 
erkenntnisstheoretisch  wirkenden  Differenzen,  sie  konnten  also 
zu  einer  gemeinschaftlichen  Gruppe  zusammengefasst  werden.  Die 
Zergliederung  ist  also  streng  auf  die  Natur  des  Vorstellungsinhaltes 
gegründet.  Wer  die  drei  Einheitsfunctionen  verwirft,  verwirft 
mit  ihnen  die  Kantische  Auffassung  von  Raum  und  Zeit. "'-) 

Es  muss  noch  hinzugefügt  werden,   dass  diese  Gruppirung 


4.   Folgerungen.  59 

von  psychologischen  Voraussetzungen  durchaus  unabhängig  ist. 
Wir  vennessen  uns  nicht  den  psychischen  Vorgang  in  seinem 
Verlaufe  zu  beobachten,  sondern  wir  zergliedern  nur  seine 
im  Vorstellungsresultat  gegebene  Leistung.  "Wenn  wir  Raum  und 
Zeit  als  -Formen"  dem  Mannigfaltigen,  als  der  -Empfindung", 
gegenüberstellen,  so  ist  damit  keineswegs  gesagt,  dass  jene  Vor- 
stellungen nicht  der  Empfindung  ihren  Ursprung  verdanken.  Lehrt 
uns  die  Psychologie,  dass  die  Raum  Vorstellung  sich  in  irgend 
einer  Weise  nach  und  nach  aus  dem  Empfinduugsstoffe  ent- 
wickelt, so  ist  das  für  die  Erkenutnisstheorie  nur  von  secun- 
därem  Interesse.  Sie  sagt  dann,  Erfahrung  sei  erst  auf  der 
Stufe  möglich,  wo  das  Empfindungsproduct  so  vollkommen  ge- 
worden sei,  dass  alle  andern  Empfindungen  sich  in  ihm  ordnen 
können.  '^)  Die  erkenntnisstheoretische  Rolle  von  Raum  und 
Zeit  bleibt  davon  unberührt  und  wir  sind  nichtsdestoweniger 
berechtigt  die  Einheitsanschauungen  im  Verhältuiss  zur  „  Empfin- 
dung" als  empirische  Vorstellungen  abzusondern.  (Vgl.  §§  44, 
48,  58.)      • 

So  erwachsen  die  Grundgesetze  der  Erfahrung  unmittelbar 
aus  den  ureigenen  Wurzeln  des  transscendentalen  Idealismus  und 
eine  consequente  Auffassung  findet  in  dem  kritischen  System 
keine  künstliche  aufgepfropfte  Verzweigung. 

103.  In  diesen  Gesetzen  haben  wir  drei  weitere  Urtheile 
von  ursprünglicher  Notwendigkeit.  Und  zwar  ist  ihre  Not- 
wendigkeit eine  zweifache.  Sie  sind  notwendig,  insofern  sie 
s^^nthetische  Einheit  bewirken,  sie  sind  aber  auch  notwen- 
dig, jede  Art  als  solche,  insofern  diese  besondere  Einheit 
Bedingung  der  Anschauung  ist.  Ihre  specielle  Formulirung  und 
Tragweite  zu  begründen,  soll  Aufgabe  des  Folgenden  sein.  Vor- 
her mögen  noch  einige  unmittelbar  sich  ergebende  Consequenzen 
besprochen  werden. 

4.   Folgerungen. 

104.  Es  Lst  zu  hoffen,  dass  die  gegebene  Ableitung  einen 
Irrtum  unmöglich  mache,  durch  welchen  das  erkenntnisstheo- 
retische Verständniss  überhaupt  vernichtet  wird.  Sie  gibt  deut- 
lich genug  zu  erkennen,  die  Zerlegung  der  Einheitsfunction  sei 
nicht  so  gemeint,  dass  die  verschiedenen  Gesetze  sich  in  das 
Gebiet  der  Erfahrung  theilen.     Unsere  Specification  kann  nicht 


00  VII.   Die  Arten  der  Einheitsfunctioii. 

bedeuten,  (lass  durch  die  eine  Art  diese,  durch  die  andere  jene 
und  durch  die  letzte  eine  dritte  Klasse  von  Vorstellungen  zur 
Einheit  verknüpft  wird.  Die  verschiedenen  Functionen  haben 
vielmehr  bei  jeder  Synthese  alle  mitgespielt;  sie  sind  nur  drei 
AVirkungsäusserungen  derselben  Kraft.  Bloss  dadurch  erlangen 
sie  den  Schein  einer  selbstständigen  Existenz  im  Bewusstsein, 
dass  jede  einzelne  Function  Grundlage  eines  notwendigen  Urtheils 
werden  kann.  Es  genügt,  sich  einer  Seite  des  Erkenntniss- 
processes  bewusst  zu  werden,  um  ein  Urtheil  von  ursprünglicher 
Notwendigkeit  zu  bilden. 

loö.    Aus  der  Entwicklungsgeschichte  unserer  Grundgesetze 
lässt  sich   ferner  die  Grenze  ihrer  Gültigkeit  auf  das  schärfste 
bestimmen,     Sie  wurden  aus  unserm  Bewusstsein  geboren,   aber 
nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  ein  Anschauungsstoff  das  völlig 
unproductive  Ich  befruchtete.    Die  Einheitsfunction  entfaltet  sich 
nur  an  den  drei  Formen  irgend  eines  Daseins.     Ihre  Arten  ver- 
schwinden wieder,  sobald  wir  diese  gegebene  Materie  wegdenken, 
und  es  bleibt  uns  nur  übrig,  was  wir  früher  schon  hatten,   die 
gänzlich    unbestimmte   Vorstellung   einer    synthetischen    Einheit 
überhaupt  (§  7G).     Nun  besitzt  aber  das  entwickelte  Bewusstsein 
einmal  die  Kenntniss  der  einzelnen  Gesetze  und  gibt  ihnen  Fas- 
sung und  Namen,  welche  keineswegs  an  den  ursprünglichen  Sinn 
erinnern.     So  lösen  sie  sich  mehr  und  mehr  von  allem  Inhalt  ab 
imd  scheinen  schliesslich  eine  absolute  Geltung  mid  Bedeutung  zu 
besitzen.      Das   unkritische  Denken  kann   sich  dadurch  zu  dem 
Wahn  verleiten  lassen,  diese  Gesetze  liefern  ihm   eine  Erkennt- 
niss,  die  nicht  nur  von  allem  Empirischen   unabhängig  sei,  son- 
dern  auch    über    das  Gebiet    des   erfahrungsmässig   Gegebenen 
liinausreiche.     Indem  es  in  diesen  von  ihren  Existenzbedingungen 
emancipirten  Einheiten  Gegenstände  anzuschauen  glaubt,   ergeht 
es  sich   in  Fictionen,  die,   wenn   auch   äusserst  nebelhaft,   doch 
eine  Welt  von  Schein  hervorzuzaubern  im  Stande  sind.     Da  ge- 
nügt denn  der  schlichte  Hinweis  auf  obige  Deduction,  um  den 
ganzen  Spuk  zu  bannen.     Es  ergibt  sich  unmittelbar,   dass  alle 
solche  Versuche    nichts    weiter    als    psychologische    Spielereien 
oder,  wenn  der  Ausdruck  gestattet  ist,  innere  Sinnestäuschungen 
sind,    die   nicht  einmal   den   erkenntnisstheoretischen  Wert   von 
Träumen  besitzen.     Denn  im  Traume  ist  wenigstens  das  Material 
gegeben,  an  welchem  die  Einheiten  fungiren  können. 


4.   Folgerungen.  61 

106,  Die  bisherigeu  Untersuchungen  nehmen  die  ganze  Abs- 
tractionsfähigkeit  unserer  Einbildungskraft  in  Anspruch.  Bei 
der  synthetischen  Einheit  überhaupt  mussten  wir  uns  die  Ver- 
knüpfung als  eine  notwendige  Bedingung  vorstellen,  aber  ohne 
sie  auch  nur  im  mindesten  charakterisiren  zu  können.  Es  schien 
ein  grosser  Fortschritt  zur  Anschaulichkeit,  als  wir  die  Einheits- 
functiou  wenigstens  an  dem  allgemeinen  Inhalt  erzeugen  durften. 
Allein  auch  dieser  Versuch  war  weit  entfernt  uns  ein  wirkliches 
Bild  zu  liefern.  An  der  allgemeinen  Anschauung  von  Raum  und 
Zeit  oder  von  der  Empfindung  überhaupt  können  wir  unserer 
psychologischen  Beschaffenheit  nach  keine  wirkliche  Einheit  zu 
Stande  bringen.  Ich  muss  stets  eine  Linie,  eine  bestimmte  Ver- 
änderung, einen  Ton  oder  eine  Farbe  reproducireu,  um  wirklich 
eine  Vorstellungseinheit  zu  schauen. 

Das  Bild  springt  erst  aus  dem  empirisch  bestimmten  Stoff 
hervor.  Insofern  wir  aus  der  Wirkung  die  Kraft  erdenken,  hat 
es  einen  uneigentlicheu  Sinn,  wenn  wir  die  hier  wirkende  psycho- 
logische Fähigkeit  Einbildungskraft  nennen.  Man  müsste  sich 
eher  mit  dem  Titel  Schematisirungskraft  begnügen.  Die  Vor- 
stellung der  Einheitslünction  überhaupt  ist  gleichsam  nur  ein 
Schema,  nach  welchem  eine  wirkliche  Verknüpfuugseinheit  not- 
wendig zu  denken  ist.  Aber  auch  die  räumliche,  zeitliche  und 
die  Empfindungseinheit  sind  nur  Vorstellungen  einer  allgemeinen 
Methode,  wirkliche  notwendige  Synthesen  zu  produciren.  Erst 
wenn  mir  ein  Körper  gegeben  wird  und  ich  seinen  Fall  sehe, 
sein  Gewicht  fühle,  habe  ich  ein  Bild  meiner  3  Einheiten. 
Diese  empirisch  bestimmte  Vorstellungsverknüpfung  heisst  An- 
schauung. 

Aber  dieses  Bild  wird  sofort  wieder  eine  Quelle  der  Abstrac- 
tion,  der  Schematisiruug.  Ich  kann  von  dem  Bilde  zu  meiner 
allgemeinen  Vorstellung  der  Verknüpfungsbedingung  zurück- 
kehren, und  zwar  so,  dass  ich  einige  seiner  Bestandtheile  mit 
mir  nehme,  andere  zurücklasse.  Die  so  entstehende  Vorstellung 
ist  dann  einerseits  mit  dem  Bilde  verwandt,  indem  sie  empirische 
Bestimmungen  enthält,  andererseits  mit  der  Einheitsfunction,  in- 
sofern sie  in  keine  wirkliche  Gestalt  gebannt,  nicht  augeschaut 
werden  kann.  Stelle  ich  z.  B.  die  Eaumeinheit  in  concreto  dar, 
indem  ich  ein  Dreieck  zeichne,  so  kann  ich  mich  nachher,  be- 
reichert  durch  die  Vorstellung  dreier  sich  schneidender  Linien, 


62  VII.    Die  Arten  der  Einheitsfuuction. 

zur  allgemeinen  Räumlichkeit  zurückwenden,  die  Grö.sse  und 
Richtung  der  gezeichneten  Linie  dagegen  unberücksichtigt  lassen. 
Eine  entsprechende  Anschauung  aber  kann  ich  dadurch  un- 
möglich erreichen.  Jeder  Versuch  die  dreieckige  Räumlichkeit 
nur  als  solche  vorzustellen,  fliesst  sofort  in  ein  bestimmtes  Bild 
zusammen.  Was  wir  erhalten,  ist  nur  eine  etwas  weniger  all- 
gemeine Regel  der  Wirkung  der  räumlichen  Einheitsfunction, 
eine  Vorstellung  der  Methode,  eine  besondere  Raumeinheit  dar- 
zustellen. Ein  solches  Schema  ist  gleichsam  das  Inventar  aller 
Stücke,  welche  notwendig  sind,  um  die  betreffende  Synthese 
vollziehen  zu  können. 

Damit  sind  wir  um  eine  w^ichtige  Einsicht  reicher  gewor- 
den. Die  Vorstellung  einer  synthetischen  Einheit  von  Vorstel- 
lungen, bei  welcher  von  einigen  Bedingungen  der  empirischen 
Verknüpfung  abgesehen  wird,  heisst  Begriff.  Wir  sind  also 
nunmehr  in  den  Stand  gesetzt,  die  erkenntnisstheoretische  Ab- 
leitung des  Begriffes  zu  würdigen.  Der  Begriff  lebt  nicht  als 
eine  wirkliebe  Einheit  von  Vorstellungen  in  unserem  Bewusst- 
sein;  er  ist  nicht  das  psychische  Gebilde,  dessen  Einheit  wir 
auf  ein  Ding  beziehen;  er  ist  vielmehr  das  mehr  oder  minder 
allgemeine  Gesetz  der  objectiven  Anschauung,  eine 
blosse  Anweisung  auf  Gegenstände.  Das  Urtheil  stellt  den  Vor- 
gang, die  Handlung,  der  Begriff  das  Resultat  der  Synthese  dar. 
Im  Begriffe  lassen  sich  mehrere  durch  Urtheile  vollzogene  oder 
zu  vollziehende  Verknüpfungen  zusammenfassen.  Ein  solcher 
complexer  Begriff  ist  dann  die  Gesammtvorstellung  einer  Summe 
von  Gesetzen  der  Einheitsfunction ,  einem  mathematischen  Aus- 
druck ähnlich,  der  vorschreibt,  das  und  das  zu  thun,  wenn  man 
das  und  das  erhalten  will.  Der  complexe  Begriff  kann  selbst 
wieder  Element  eines  weitern  Gesetzes  werden,  das  in  seiner 
Action  als  Urtheil,  in  seinem  Ergebniss  als  anderer  Begriff  auf- 
gefasst  wird.  In  diesem  Combiniren  von  Regeln  bestehen  die 
psychischen  Bewegungen,  welche  man  Denken  nennt.  Indem 
man  jeden  Begriff  mit  der  Vorstellung  eines  Lautsymbols  als 
Erkennungszeichen  verbindet,  bedient  man  sich  der  Sprache. 

107.  Wie  nun  die  formale  Logik  aus  der  Natur  der  Ver- 
knüpfungshandlung abgesehen  von  allem  Inhalt  Gesetze  ab- 
leiten kann  (vgl.  §  2()),  nach  welchen  die  einen  Handlungen  als 
durch  die  andern  mitvollzogen  erscheinen,  so  kann  sie  ebensogut 


4.    Folgerungen.  63 

aus  dem  gegenseitigen  Verhältniss  der  Begriffe  Kegeln  ge- 
winnen, nach  welchen  die  einen  durch  die  andern  mitgesetzt 
sind.  Die  Untersuchung  leistet  natürlich  in  beiden  Fällen  das- 
selbe, ist  aber  dennoch  für  beide  Gesichtspunkte  durchzuführen, 
da  eben  das  Denken  in  der  mannigfaltigen  Combination  vom 
Urtheilsresultat  und  Urtheil  besteht. 

So  können  wir  jetzt  die  Aufgabe  der  formalen  Logik  noch 
exacter  als  früher  bestimmen  und  sagen:  die  formale  Logik 
lehrt  uns  Regeln  der  Eiuheitsfunction  auseinander  abzuleiten, 
ohne  die  Beschaffenheit  des  Stoffes  in  Betracht  zu  ziehen.  Ueber 
die  ursprünglichen  Regeln  aber,  welche  der  Entwicklung  der 
übrigen  zu  Grunde  liegen,  kann  sie  uns  Nichts  eröffnen. 

lOS.  Wir  können  ferner  je  nach  unserer  Auffassung  sagen: 
es  gibt  drei  fundamentale  Gesetze  der  Eiuheitsfunction  oder  es 
gibt  drei  Grundbegriffe  derselben.  Und  mit  Beziehung  auf  den 
zweiten  Grundsatz  der  Erkenntnisstheorie,  wonach  die  Bedin- 
gungen der  Erfahrungen  zu  Bestimmungen  der  Objecte  werden, 
können  wir  der  Natureiuheit  ebensowohl  drei  Naturgesetze,  wie 
drei  Typen  oder  Schemata  zu  Grunde  liegen  lassen.  '•^) 

109.  Es  ist  ein  eigen thümliches  Resultat  dieser  Wendung 
Kantischer  Gedanken,  dass  wir  berechtigt  sind  zu  behaupten: 
Wir  besitzen  einen  einzigen  Begriff,  der  wirklich  eine  Abs- 
traction  von  allem  Inhalt  darstellt,  und  das  ist  die  Vorstellung 
jener  allgemeinsten  Bedingung  der  Bewusstseinsidentität ,  der 
synthetischen  Einheit  überhaupt.  Schon  die  erste  Mehrheit  von 
Begriffen,  zu  welcher  wir  überhaupt  gelangen,  gibt  uns  nicht 
mehr  bloss  Verbindung,  sondern  bereits  Verbindung  von  Etwas. 
Und  wenn  auch  dieses  Etwas  durch  so  umfassende  Allgemeinheit 
sich  auszeichnet,  dass  es  in  allem  Empirischen  enthalten  ist,  so 
sind  eben  doch  diese  Synthesen  keine  abgelösten  Gedanken- 
formen mehr.  Damit  scheint  sich  die  gewöhnliche  Autfassung 
der  formalen  Logik,  die  vorgibt  sich  nur  mit  den  Verknüpfungs- 
formen zu  beschäftigen,  als  eine  Täuschung  herauszustellen.  In 
der  That  ergibt  sich  eine  Berichtigung  dieser  Ansicht.  Die  Logik 
kann  allerdings  nicht  mehr*  formal  in  dem  Sinne  genannt  werden, 
dass  sie  es  bloss  mit  der  absoluten  Verknüpfuugshandlung  zu 
thun  hätte,  denn  diese  ist  gar  nicht  bei  ihr  zu  finden.  Selbst 
ihre  allgemeinsten  Functionen  sind  schon  Verschmelzungen  der 
Synthesis  mit  den  Verhältnissvorstellungen.      Es   genügt,    dafür 


Gl  VIII.    Das  Priiicip  der  nuiteriellen  Verknüpfung. 

auf  den  Begriff  der  Quantität  hinzuweisen.  Ja  man  muss  viel- 
mehr sagen,  die  Mögliehlieit  dieser  Wissenschaft  beruht  gerade 
darauf,  dass  sie  nicht  formal  in  dem  abgelehnten  Sinne  ist.  Denn 
nur  dadurch,  dass  sie  sich  auf  eine  Mannigfaltigkeit  des  Inhalts 
beziehen  kann,  ist  sie  im  Stande  von  einer  Handlung  zu  sagen, 
dass  eine  Mehrheit  anderer  Handlungen  in  ihr  enthalten  sei.  Wenn 
man  also  die  Logik  formal  nennt,  so  muss  darunter  vielmehr 
nur  verstanden  werden,  was  früher  (§  20)  aufgestellt  worden 
ist,  dass  sie  die  Notwendigkeit  ihrer  Urtheile  nicht  von  der  Au- 
scliauung  von  Gegenständen,  sondern  von  andern  Urtheilen  ab- 
leitet, über  deren  objective  Gültigkeit  sie  selbst  nicht  entscheidet. 


Vin.    Das  Priucip  der  materielleu  Verkuüpfiiug. 

1.    Vierter  Grundsatz. 

IIU.  Wir  gehen  nun  dazu  über,  die  entdeckten  drei  Be- 
dingungen der  Erfahrung  genauer  zu  prüfen  und  womöglich  in 
eine  Fassung  zu  bringen,  welche '  den  Charakter  und  die  Trag- 
weite ihrer  Forderung  in  ganzer  Schärfe  zum  Ausdruck  bringt. 
Um  aber  ein  richtiges  Kesultat  zu  gewinnea,  müssen  wir  uns 
immer  wieder  die  alte  Vorsichtsmassregel  ins  Gedächtniss  zurück- 
rufen, dass  diese  Gesetze  ihre  ursprüngliche  Notwendigkeit  nur 
so  lange  bewahren,  als  wir  ihnen  auch  nicht  die  Spur  eines  Ge- 
dankens beimischen,  der  für  die  Möglichkeit  einer  zusammen- 
hängenden Erfahrung  entbehrlich  ist.  Im  Hinblick  auf  diese 
Einschränkung  unserer  weitern  Bearbeitung  haben  wir  daher  jede 
neue  Formulirung  sorgfältig  zu  begründen,  '•''j 

111.  Jede  Synthese  von  Vorstellungen  enthält  auch  eine 
Synthese  von  Empfindungen.  Denn  Raum  und  Zeit,  in  abstracto 
vorgestellt,  können  keiner  Verknüpfung  zu  Grunde  liegen,  da 
sie  nichts  Mannigfaltiges  enthalten. 

Unter  Empfindung  versteht  die  Erkenntnisstheorie  die  letzten 
Bestandtheile  der  Vorstellungen.  Empfindungen  sind  die  einfach- 
sten, nicht  weiter  zerlegbaren  Zustände  des  Bewusstseins.  Das 
Bewusstsein  kann  zwar  in  Wirklichkeit  eines  solchen  Elementar- 
zustandes niemals  iuiie  werden;  al>er  die  erkenntnisstheoretische 


1.    Vierter  Grundsatz.  65 

Analyse   des   Vorstellungsinhaltcs    nötigt  uns,   sein   Dasein  vor- 
auszusetzen (§  42), 

112.  Jede ,  Vorstellungsverknüpfung  iuvolvirt  also  eine  Syn- 
these solcher  einfachsten  Bewusstseinszustände.  Aus  den  Zu- 
ständen muss  ein  Zustand  werden.  Wie  ist  eine  solche  Einheit 
möglich?  Sie  kann  nur  dadurch  zu  Stande  kommen,  dass  von 
dem  Zeitpunkt  an,  wo  die  Verknüpfung  beginnt,  bis  zu  dem,  wo 
sie  endet,  diese  einfachen  Zustände  sich  so  aneinanderreihen, 
dass  ein  ununterbrochenes  Bewusstsein  entsteht.  Es  darf 
sich  zwischen  die  einzelnen  Elemente  Nichts  einschieben,  was 
kein  Bewusstseinszustand  wäre.  Denn  an  einem  solchen  Punkte 
würde  die  S}Tithese,  da  ihr  das  Material  fehlte,  nicht  fortgesetzt 
werden  können ,  sie  würde  aufhören  und  beim  Wiedereintritt 
eines  Bewusstseinszustandes  neu  beginnen  müssen.  Es  würde 
also  niemals  eine  Einheit  des  Bewusstseins ,  sondern  nur  eine 
Summe  zusammenhangloser  Bewusstseinselemente  entstehen.  Die 
Verbindung  von  Bewusstseinszuständen,  welche  über  keine  Lücken 
springen  darf,  durch  keine  Punkte  der  Bewusstlosigkeit  unter- 
brochen wird,  heisst  stetig  oder  continuirlich.  Somit  können 
wir  sagen:  Die  Continuität  der  Verknüpfung  ist  Bedingung  der 
Bewusstseinsidentität  oder  die  Vorstellungseinheit  ist  nur  durch 
continuirliche  Synthesis  der  Empfindungen  möglich. 

113.  Man  kann  das  bildlich  so  ausdrücken,  dass  man  sagt: 
Alle  Bestandtheile  der  Vorstellungseiuheit  müssen  über  dem  Null- 
punkt des  Bewusstseins  stehn.  Sie  müssen  ein  Plus,  eine  be- 
stimmte Stärke,  eine  positive  Grösse  des  Bewusstseins  haben. 
Brauche  ich  den  Ausdruck  Grösse,  so  ist  allerdings  auch  das 
uneigentlich  zu  deuten.  Jede  Grösse  ist  zusammengesetzt.  Das 
Empfindungselemeut  kann  sich  aber  nicht  wieder  als  ein  Com- 
positum darstellen,  da  es  ja  sonst  gar  nicht  Element  wäre  und 
die  Untersuchung  sich  von  ihm  ab  zu  seinen  Urbestandtheilen 
zu  wenden  hätte.  Unter  Grösse  kann  hier  nur  eine  Quantität 
verstanden  werden,  die  in  einem  einzigen  Zeitmoment  wahr- 
nehmbar ist.  Wir  müssen  sie  daher  genauer  innerliche,  inten- 
sive Grösse  nennen.  Mit  Benutzung  dieses  Begriffs  können  wir 
das  Urtheil  aussprechen:  Alle  Empfindungen  haben  intensive 
Grösse, 

114.  Wenn  wir  nun  das  bisherige  Ergebniss  aufmerksam 
betrachten,   so  scheint  sich  mit  dem  Gewinn  ein  sehr  bedenk- 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  5 


66  VIII.    Das  Princip  der  inateriellen  Verknüpfung. 

licher  Verlust  zu  verbinden.  Scheinen  wir  nicht  durch  die  Forde- 
rung der  Continuität  der  Empfindungen  gleichzeitig  die  für  die 
Bewusstseinsidentitjit  ebenso  unentbehrliche  Mannigfaltigkeit 
des  Vorstellungsinhaltes  aufzuheben?  Denn  wenn  die  Mannig- 
faltigkeit nicht  darin  besteht,  dass  der  Inhalt  durch  Punkte  der 
Bewusstlosigkeit  eingetheilt  wird,  wenn  ich  mir  also  die  einzelnen 
Bewusstseinszüstände  nicht  getrennt  denken  darf,  so  gibt  es  eben 
keine  einzelnen. 

Die  synthetische  Einheit  braucht  gar  nicht  erst  zu  werden, 
sie  ist  schon  gegeben.  Das  Bewusstsein  kann  sich  nicht  als 
Einheit  erkennen,  da  es  sich  nicht  als  constante  Bestimmung 
einer  Vielheit  findet. 

Es  fragt  sich  also :  Kann  ich  eine  ununterbrochene  Synthese 
der  Bewusstseinselemente,  aber  doch  zugleich  eine  Mannigfaltig- 
keit derselben  postuliren?  Ich  kann  es,  weil  ich  es  muss.  Beide 
Bedingungen  sind  für  die  Identität  des  Bewusstseins  gleich  not- 
wendig. 

Wenn  die  Mehrheit  des  Inhalts  nicht  in  der  räumlichen  und 
zeitlichen  Trennung  gesucht  werden  darf,  so  bleibt  nur  Eine  Quelle 
für  sie.  Die  Empfindungselemente  müssen,  obgleich  sie  sich 
eontinuirlich  aneinander  reihen,  dadurch  gesondert  erscheinen, 
dass  sie  sich  dem  Bewusstsein  in  verschiedenen  Arten  einver- 
leiben, mannigfache  Weisen  des  Einflusses  darstellen.  Die  Fähig- 
keit der  Empfindungen,  sich  ohne  bewusstlose  Intervalle  von  ein- 
ander zu  unterscheiden,  nennt  man  ihre  Qualität.  Von  diesem 
Begriff  kann  man  sich  a  priori  nicht  die  mindeste  Vorstellung 
machen;  denn  er  bezieht  sich  ja  auf  das  specifisch  Empirische. 
Aber  seine  allgemeine  Aufstellung  hat  durchaus  keinen  empiri- 
schen Ursprung,  ist  nicht  aus  der  Erfahrung  abgelesen  und  kann 
daher  auch  nicht  durch  sie  umgestossen  werden.  Doch  muss 
man  sich  auch  streng  davor  hüten,  die  Qualität  irgendwie  und 
wäre  es  auch  ganz  allgemein  bestimmen  zu  wollen.  Schon  ein 
Urtheil  darüber,  ob  die  Qualität  vielleicht  in  die  Verschiedenheit 
der  intensiven  Grösse  oder  noch  ausserdem  in  eine  andere  Diffe- 
renz zu  setzen  sei,  würde  nicht  den  mindesten  Anspruch  auf 
absolute  Notwendigkeit  haben. 

115.  So  müssen  wir  also  antccipando  dem  Vorstellungs- 
inhalt zwei  Eigenschaften  zuschreiben:  einerseits  muss  er  stetig 
verknüpfl^ar,    andererseits    qualitativ    verschieden    sein.      Unser 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  67 

Princip  der  materiellen  Verknüpfung  lautet  also  In  voller  Prä- 
cision:  Jede  Vorstellungsverknüpfung-  enthält  eine  continuirliche 
Synthesis  von  Empfindungs-Qualitäten.  Oder:  Jeder  Gegenstand 
der  Erfahrung  ist  eine  stetige  Einheit  qualitativ  verschiedener 
Empfindungen. '') 

2.    Erläuterungen  und  Folgerungen. 

1 1 6.  Es  ist  nützlich,  dieses  Princip  durch  Abweisung  einer 
naheliegenden,  scheinbaren  Instanz  zu  illustriren.  Mau  könnte 
einwerfen:  Wie  soll  denn  Erfahrung  nur  durch  eine  continuir- 
liche Synthese  der  Wahrnehmungen  möglich  sein,  während  doch 
in  Wirklichkeit  das  Bewusstsein  die  häufigsten  Unterbrechungen 
erleidet?  Erstreckt  sich  unsere  Erfahrung  nur  über  den  Zeitraum 
eines  Tages,  machen  nicht  Schlaf  oder  Ohnmacht  oder  irgend 
eine  Narkose  die  Einheit  des  Bewusstseins  zu  nichte? 

Dieses  Missverständniss  bekundet  sich  unmittelbar  als  Ver- 
wechslung erkenntuisstheoretischer  mit  psychologischer  Wahrheit. 
Der  Grundsatz  behauptet  durchaus  nicht,  dass  von  der  psycho- 
logischen Geschichte  unseres  Ich  die  Zustände  der  Bewusstlosig- 
keit  ausgeschlossen  seien  —  das  wäre  ein  nur  empirisch  zu  be- 
stätigendes Urtheil  — ;  er  sagt  vielmehr,  dass  solche  Zustände 
in  keiner  Bewusstseinsfolge,  die  eine  objective  Geltung  hat,  als 
Glieder  enthalten  sind.  Notwendig  ist  diejenige  Synthese,  au 
welcher  sich  die  Einheit  des  Bewusstseins  erzeugt.  Letztere 
kommt  aber  nur  dadurch  zu  Stande,  dass  nicht  das  kleinste 
Moment  der  Bewusstlosigkeit  zwischen  zwei  Punkten  der  Ver- 
knüpfung enthalten  ist. 

Wenn  nun  aus  psychologischen  Gründen  der  Process  der 
Synthese  unterbrochen  wird,  so  braucht  darum  noch  nicht  die 
erkenntnisstheoretische  Stetigkeit  der  synthetischen  Einheit  ver- 
loren zu  sein.  Ja  nur  insoweit  sie  es  nicht  ist,  wird  Einheit 
des  Bewusstseins,  also  zusammenhängende  Erfahrung  möglich. 
Gegenstände  der  Erfahrung  können  uns  nur  gegeben  werden, 
wenn  auch  dafür  physiologische  Bedingungen  vorhanden  sind, 
dass  die  factisch  vorkommenden  Zustände  der  Bewusstlosigkeit 
die  Continuität  der  Synthesis  nicht  zerstören.  Wenn  ich  erwache, 
kann  ich  mir  meiner  als  identischen  Subjects  nur  dadurch  be- 
wusst  werden,  dass  ich  die  Vorstellungen,  welche  mein  Bewusst- 


68  VIII.  Das  Princip  der  materkUcu  Verknüpfung. 

sein  vor  dem  Einschlafen  besetzt  li.atten,  mit  denen  nach  dem 
Erwachen  in  continuirlichen  Zusammenhang  setze.  Ich  verknüpfe 
die  Empfindungen  nicht  discret,  wie  sie  in  den  wirklich  auf- 
einanderfolgenden Bewusstseinszuständen  (des  Einschlafens  und 
Erwachens)  enthalten  smd,  sondern  ich  verknüpfe  sie  so ,  wie  sie 
in  den  continuirlich  sich  aneinander  reihenden  Bewusstseinszu- 
ständen enthalten  gewesen  wären.  Was  in  meinem  Bewusstsein 
sich  folgte,  war  der  helle  Tag  auf  die  tiefe  Nacht.  Aber  ich 
bin  weit  entfernt  für  diese  Succession  objective  Gültigkeit  zu 
behaupten.  Ich  suche  mir  vielmehr  mit  Hülfe  der  mir  zu  Gebote 
stehenden  empirischen  Methoden  diejenige  Succession  von  Em- 
pfindungen vorzustellen,  welche  stattgefunden  hätte,  wenn  mein 
Bewusstsein  nicht  auf  den  Nullpunkt  hinabgesunken  wäre.  Und 
dieses  Urtheil  gebe  ich  allein  für  allgemein  gültig,  d.  h.  ob- 
jectiv  aus. 

An  diesem  Beispiele  zeigt  sich  recht  scharf  die  eigentüm- 
liche Herrschaft  erkenntnisstheoretischer  Grundsätze.  Auf  die 
blosse  Einheit  des  Bewusstseins  gründen  wir  Urtheile  über  den 
stetigen  Zusammenhang  unserer  Vorstellungen  und  sind  von  ihrer 
Notwendigkeit  überzeugt,  selbst  in  den  Fällen,  wo  die  Erfahrung 
uns  zu  widersprechen  scheint.  Wir  wissen,  dass  alle  unsere  Vor- 
stellungen so  beschaffen  sein  müssen,  dass  wir  sie  in  diesen  Zu- 
sammenhang bringen  können.  Sobald  wir  urtheilen,  beziehen 
wir  die  Vorstellungen  auf  ein  identisches  Bewusstsein  und  in 
diesem  erscheint  aller  Inhalt  so  unter  der  einheitlichen  Zeit- 
anschauung zusammeugefasst,  dass  auch  nicht  ein  einziger  Zeit- 
punkt von  Empfindung  leer  ist.  Selbst  unsere  Zustände  der  Be- 
waisstlosigkeit  erscheinen  als  zeitliche  Ereignisse,  die  einen  An- 
fang und  ein  Ende  haben;  wir  reproduciren  die  Wahrnehmung 
von  uns  selbst,  wie  wir  allmälig  das  Bewusstsein  verlieren,  bis 
wir  uns  schlafend  als  ein  nur  äusseres  Object  erscheinen.  Dieses 
bringen  wir  zu  den  anderen  Gegenständen  in  die  gesetzmässigen 
Beziehungen  und  reproduciren  nun  das  ganze  äussere  Geschehen 
jenes  Zeitabschnittes,  als  ob  es  sich  damals  in  unserm  bewusst- 
losen  Innern  hätte  spiegeln  können.  In  diesem  Vorgang  enthüllt 
sich  die  allertiefste  und  Avunderbarste  Wirkung  der  synthetischen 
Bewegung  des  Erkenntnissprocesses.  Wenn  es  bei  seiner  Vor- 
stellungsverknüpfung an  unbewusste  Zustände  gelangt,  so  löst 
sich  das  erkenntnisstheoretische  Bewusstsein  gleichsam  von  dem 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  69 

zum  blossen  Körper  gewordenen  Subjecte  und  glaubt  dieses 
letztere  mit  seinen  Objeeten  als  unabhängiger  Zuschauer  zu  er- 
kennen. Das  höhere,  letzte  Subject  übernimmt  hier  gleichsam 
die  Function  des  empirischen  (vgl.  §  72),  und  die  inneren  Zu- 
stände des  letzteren,  welche  gleich  Null  sind,  werden  nicht  als 
Factor  in  das  Ertahrungsgesetz  mit  aufgenommen. 

117.  Von  diesen  Bemerkungen  lässt  sich  noch  eine  wichtige 
Anwendung  machen.  Wenn  die  Psychologie  Ursache  zu  haben 
glaubt'')  die  Zeit  als  ein  discretes  Gebilde  aufzufassen,  und  sich 
dafür  auch  auf  die  „zeitlosen"  Zustände  des  Schlafes  und  der 
Ohnmacht  beruft,  so  folgt  aus  dem  Obigen  unmittelbar,  dass 
diese  Ansicht  jedenfalls  für  den  erkenntnisstheoretischen  Begriff 
der  Zeit  keine  Geltung  hat.  Wenn  Avir  die  Continuität  der  Zeit 
auch  nicht  schon  direct  aus  ihrer  Beschaffenheit  darthun  könnten 
(§  61),  so  würde  sie  aus  unserm  Grundsatz  folgen.  Wenn  die 
Zeit  die  Form  der  Wahrnehmung  ist,  d.  h.  wenn  alle  Bewusst- 
seinszustände  als  Theile  der  Zeit  erscheinen,  so  ist  sie  stetig; 
denn  nach  unserm  Princip  können  zwei  Bewusstseinszustände 
nicht  durch  einen  Nullpunkt  des  Bewusstseins  getrennt  sein;  nun 
kann  aber  bloss  ein  solcher  Nullpunkt  eine  Unterbrechung  der 
Zeit  bewirken,  denn  alle  Bewusstseinszustände  sind  Theile  von 
ihr;  also  ist  sie  eine  contiuuirliche  Grösse. 

118.  Aus  diesem  Grundsatz  entspringt  nun  ein  sehr  wich- 
tiger Begriff.  Die  Vorstellung  von  der  Einheit  der  Empfindungen 
ist  nichts  Anderes  als  die  Vorstellung  des  Seins.  In  der  Vor- 
stellungseinheit, welche  wir  Gegenstand  nennen,  kommt  der 
Synthese  als  solcher  kein  Dasein  zu;  sie  existirt  erst  an  der 
zu  verbindenden  Materie.  Dieser  Stoff  sind  aber  nicht  die 
Verhältnissvorstellungen  Kaum  und  Zeit,  die  selbst  erst  an  einem 
Mannigfaltigen  ins  Leben  treten  müssen.  Erst  in  der  Empfin- 
dung erhalten  wir  etwas  Ursprünglich  -  Gegebenes ,  ein  Selbst- 
ständig-Seiendes,  dessen  Existenz  nicht  wieder  ein  Datum  an- 
derer Beschaffenheit  voraussetzt.  Die  Empfindung  bildet  den 
subjectiveu  Urstoff,  den  das  formende  Subject  zur  Objectivität 
zusammenordnet.  Unter  Kealität  eines  Gegenstandes  müssen 
wir  im  scharfen  Sinne  die  Vorstellung  seiner  materiellen  oder 
Empfindungseinheit  verstehen. 

Dieser  Begriff  der  Kealität  fällt  also  nicht  etwa  zusammen 
mit  jener  subjectiven  Wirklichkeit,   welche   durch  den  zweiten 


70  \UL   Das  Priiicip  der  matcrielleu  Verknüpfung. 

Grundsatz  (§  G7)  von  jeder  Vorstellung  vorausgesetzt  wurde. 
Er  entsteht  erst  aus  dem  Gegensatz  der  verschiedenen  Factoren, 
welche  das  Object  produciren.  Subjectiv  wirklich,  d.  h.  frei 
von  Schein  ist  jede  Empfindung  für  sich;  real  im  Sinne  des 
vierten  Grundsatzes  ist  sie  nur  als  Eigenschaft  des  Objectes,  als 
Bestandtheil  der  materiellen  Verknüpfung. 

Es  muss  hier  hervorgehoben  werden,  dass  in  dem  BegriflF  der 
Realität  nichts  darüber  enthalten  ist,  ob  die  Empfindung  repro- 
ducirte  oder  unmittelbare  sei.  Diese  zeitlich  räumliche  Bestim- 
mung des  Realen  muss  der  Erfahrung  überlassen  bleiben. 

1 1 9.  Wenn  wir  uns  denken,  dass  an  irgend  einem  Punkte 
der  Erfahrung  Empfindung  nicht  gegeben  sei,  so  erhalten  wir 
die  allgemeine  Vorstellung  des  Nichtseins,  der  Negation.  Aber 
da  eine  solche  Vorstellung  in  eine  Einheit  nicht  eingehen  kann, 
so  kann  sie  sich  niemals  auf  einen  Gegenstand  beziehen.  Sie  hat 
also  bloss  subjective  Bedeutung  als  Ergänzung  des  Begriffs  der 
Realität.  Indem  wir  uns  ein  Aufhören,  einen  Nullpunkt  der 
intensiven  Grösse  vorstellen,  machen  wir  uns  den  inhaltleeren 
Begriff  der  Negation. 

Einen  Sinn  erlangt  die  Vorstellung  des  Nichtseins  erst  durch 
die  zweite  Bedingung,  welche  im  Princip  der  materiellen  Ver- 
knüpfung enthalten  ist  (§  114).  Ausser  der  Intensität  wurde  von 
der  Empfindung  auch  Qualität  gefordert.  Insofern  wir  nun  in 
einer  Vorstellungseinheit  ein  Nichtsein  denken,  nicht  in  Bezug 
auf  die  Existenz  der  Empfindung  überhaupt,  sondern  in  Bezug 
auf  eine  bestimmte  Qualität  derselben,  kommt  der  Negation  eine 
objective  Bedeutung  zu.  Eine  bestimmte  Empfindung  kann  als 
zu  einer  gemachten  Synthese  nicht  gehörig  erscheinen,  sie  ist 
also  an  dem  durch  die  Synthese  erzeugten  Object  nichtseiend. 
Somit  gibt  es  ein  objectives  Nichtsein  von  Qualitäten.  "^)  Der 
so  dcfinirte  Begriff  spielt  eine  besondere  Rolle  bei  der  Betrach- 
tung der  Veränderung,  wo  die  Qualität  eines  Gegenstandes  auf 
ihr  vorangehendes  Nichtsein  bezogen  wird. 

120.  Die  erkenntnisstheoretischen  Begriffe  der  Realität  und 
Negation  garantiren  der  formalen  Logik  die  objective  Gültigkeit 
ihrer  fundamentalsten  Handlungen.  Es  hat  einen  Sinn  zu  sagen: 
Ein  Urtheil  oder  ein  Begriff  ist  schon  in  einem  andern  oder  ist 
in  ihm  nicht  enthalten;  denn  dieser  Satz  ist  nur  die  Beschrei- 
bung einer  vorhandenen   Synthese.     Diese  Synthesen  aber,   auf 


2.    Erläuterungen  und  Folgerungen.  71 

welche  die  formale  Logik  alle  ihre  Resultate  gründet,  sind  die 
gleichen  Functionen,  durch  welche  die  Objecte  der  Erfahrung 
erzeugt  werden,  und  zeigen  die  Eigentümlichkeit,  eine  Mehr- 
heit von  Realitäten  zu  einer  Vorstellung  zu  vereinigen,  eine  an- 
dere Mehrheit  aber  in  einzelnen  Fällen  nicht  zu  umfassen.  Das 
analytische  Bejahen  und  Verneinen  von  Vorstellungsverknüpfungen 
In  der  formalen  Logik  deckt  sich  also  mit  dem  synthetischen 
Sein  und  Nichtsein  der  ursprünglichen  materiellen  Einheit  und 
vermag  also  in  der  That  ein  Bild  des  Sachverhaltes,  des  ob- 
jectiven  Zusammenhangs  zu  liefern. ''') 

121.  lieber  den  dritten  in  unserm  Princip  enthaltenen  Be- 
griff von  der  Qualität  ist  wenig  hinzuzufügen.  Wenn  ich  ihn 
dritten  Begriff  nenne,  so  soll  damit  nicht  etwa  eine  Nebenord- 
nung von  Realität,  Negation  und  Qualität  angedeutet  sein.  Eigent- 
lich sind  es  zwei  Grundbegriffe,  unter  welche  alle  Vorstellungen 
subsumirt  erscheinen:  Realität  und  Qualität.  Dazu  tritt  als 
blosser  Grenzbegriff  des  ersteren  die  Negation.  Indem  wir  die 
Negation  auf  die  Qualität  anwenden,  erhalten  wir  den  Begriff 
des  Nichtseins  der  bestimmten  Qualität.  ^^}  Man  kann  aber  auch 
die  Qualität  als  eine  fundamentale  Bestimmung  der  Realität  auf- 
fassen und  beide  Begriffe  vereinigen.  Dann  hat  man  zwei  Grund- 
begriffe: qualitative  Realität  und  Negation.  =^1) 

Unter  Qualität  darf  man  nichts  Anderes  verstehen  als  die 
allgemein  vorgestellte  Verschiedenheit  des  Realen.  Sie  ist  ein 
Grundbegriff  als  Bedingung  der  Erfahrungsmöglichkeit.  Ausser 
dem  Dasein  wird  auch  ein  Anderssein,  ausser  der  Intensität 
eine  Verschiedenheit  der  Reize  erfordert. 

Worin  die  Qualität  besteht,  kann  nur  empirisch  bestimmt 
werden,  weil  es  für  die  Erfahrungsmöglichkeit  vollkommen  gleich- 
gültig ist.  Es  kann  sich  herausstellen,  dass  die  Empfindungen 
auch  ihrer  intensiven  Grösse  nach  verschieden  sind  oder  viel- 
leicht, dass  die  Qualität  überhaupt  nur  in  der  Differenz  der  In- 
tensität liegt  —  unser  Princip  wird  dadurch  seinem  Wesen  nach 
nicht  berührt,  und  könnte  höchstens  in  seiner  Fassung  einige 
Vereinfachungen  erleiden. 

Die  Qualität  der  intensiven  Grösse,  welche  sich  empirisch 
als  mannigfaltig  herausstellt,  heisst  Grad.  Der  Grad  gehört  nicht 
in  einen  allgemeinen  erkenntnisstheoretischen  Grundsatz,  da  er 
sich  nicht  aus  dem  reinen  Begriff  der  Erfahrung  ergibt.     Noch 


72  VIII.    Das  Princip  der  materiellen  Verkuüpfung. 

weniger  aber  irgend  eine  Eigenschaft  desselben,  z.  B.  die  Con- 
tinnitilt,  die  vielleicht  nur  inductiv  nach  Untersuchung  der 
einzelnen  Empfindungen,  jedenfalls  aber  deductiv  erst  nach  Auf- 
nahme des  empirischen  Begriffs  der  Materie  in  der  Naturphilo- 
sophie aufgestellt  und  behauptet  werden  kann. 

122.  Nachdem  das  Bewusstsein  einmal  in  den  Besitz  dieser 
Begriffe  gelangt  ist,  bedarf  es  auch  der  strengsten  Disciplin,  um 
von  ihrem  Missbrauch  abgehalten  zu  werden.  Gerade  hier  tritt 
die  Gefahr,  welche  oben  (§  105)  im  allgemeinen  angedeutet 
wurde,  recht  offen  zu  Tage.  An  dem  Begriffe  eines  mannig- 
faltigen Realen  ist  das  Gepräge  der  Herkunft  unkenntlich  ge- 
worden; er  scheint  eine  bedingungslose  Herrschaft  zu  üben.  Das 
forschende  Bewusstsein,  dessen  Trieb,  den  vermeintlichen  Schleier 
der  Sinnen  weit  zu  lüften,  nicht  ausgelöscht  werden  kann,  meint 
in  ihm  einen  Ausblick  zu  gewinnen  und  freut  sich,  doch  noch 
ein  Mittel  gefanden  zu  haben,  um  das  zu  glauben,  was  es  so 
gern  glauben  möchte.  Es  überredet  sich,  dass  dieser  Begriff 
eine  klare  und  deutliche  Erkenntniss  sei,  die  keine  Spuren  der 
Abhängigkeit  von  subjectivem  Einflüsse  an  sich  trage.  Der  Be- 
griff von  einem  Gegenstande  überhaupt,  an  welchen  seine  Hoff- 
nungen noch  geknüpft  waren,  von  welchem  es  sich  aber  nicht 
die  mindeste  Vorstellung  hatte  machen  können,  ist  nun  bestimmt : 
Das  Ding  an  sich  ist,  und  es  ist  als  ein  mehrfaches!  Selbst- 
verständlich zieht  dieser  übersinnliche  Genuss  eine  Zerrüttung 
des  ganzen  Erfahrungs- Organismus  nach  sich.  Die  Erkenntniss- 
theorie schützt  vor  dieser  Schwärmerei  durch  die  einfache  kri- 
tische Erinnerung,  dass  Realität  und  Qualität  nichts  sind  als 
Bestimmungen  der  Empfindung.  Sie  verlieren  jeden  Sinn,  sobald 
sie  aus  diesem  Verbände  gelöst  werden. 

123.  Die  Naturphilosophie  oder  allgemeine  Naturwissen- 
schaft, welche  sich  auf  gewisse  Grunderfahrungen  aufbaut,  findet 
in  dem  Princip  der  materiellen  Verknüpfung  bedeutsame  Ein- 
schränkungen ihrer  Untersuchung.  Wenn  nichts  Existirendes  ohne 
intensive  Grösse  gedacht  werden  kann,  so  folgt,  dass  die  Natur- 
philosophie zu  ihren  Erklärungen  die  Vorstellung  eines  leeren 
Raumes  und  einer  leeren  Zeit  nicht  verwerten  darf.  Denn  die 
leeren  Anschauungen  wären  eben  Wahrnehmungen  von  einem 
Realen  ohne  intensive  Grösse.  Und  zwar  kann  sie  nicht  nur 
die  wirkliche  Wahrnehmung  davon  nicht  behaupten,  sondern  sie 


IX.   Das  Princip  der  räiiralichen  Verknüpfung.    1.  Fünfter  Grundsatz.      73 

darf  auch  nicht  versuchen  durch  Schlüsse,  durch  notwendige 
Hypothesen  dazu  zu  gelangen.  Denn  was  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung  überhaupt  widerspricht,  kann  niemals  eine  besondere 
Erfahrung  bedingen. 

Ebenso  unmittelbar  geht  ein  Zweites  aus  dem  Princip  her- 
vor. Die  Naturphilosophie  kann  nicht  hoffen,  in  der  Reduction 
ihrer  Annahmen  auf  eine  möglichst  geringe  Anzahl  jemals  dahin 
zu  kommen,  dass  sie  Alles  aus  einem  qualitativ  identischen  Da- 
sein in  Raum  und  Zeit  erklärt.  Schon  die  Erkenntnisstheorie 
fordert  eine  von  den  Verhältnissvorstellimgen  unabhängige  Ver- 
schiedenheit des  Realen;  die  allgemeine  Naturwissenschaft  ver- 
sucht es  vergeblich,  sich  von  der  Notwendigkeit  dieser  Mehrheit 
von  Grundprincipien  loszumachen.  ^-) 

Für  diese  Einschränkung  ihrer  Hypothesenfreiheit  wird  aber 
die  Naturwissenschaft  reichlich  entschädigt  durch  den  Antheil 
an  unbedingter  Gewissheit,  welchen  sie  diesem  Princip  ver- 
dankt. Es  sichert  ihr  eine  objective  Grundlage,  auf  welcher  sie 
ihre  empirischen  Urtheile  aufbauen  kann.  Es  begründet  die 
letzten  Annahmen,  die  ihr  zur  Erklärung-  ihrer  Beobachtungen 
unentbehrlich  sind.  Man  kann  sagen,  dass  die  Natur,  welche 
die  Wissenschaft  erforschen  will,  erst  durch  dieses  Princip  mit 
Inhalt,  mit  Gegenständen  erfüllt  wird.  *•') 


I\.    Das  Princip  der  räiimlicheii  Verknüpfung. 

1.    Fünfter  Grundsatz. 

124.  Die  Einheit  der  Empfindung-,  das  reale  Object  ist  con- 
stituirt.  Wir  haben  nun  zu  untersuchen,  was  mit  dieser  Synthese 
gleichzeitig  vollzogen  wurde. 

Alle  Empfindungen,  welche  zu  einem  Object  zusammen- 
gesetzt werden,  erscheinen  in  der  Ordnung  der  räumlichen  An- 
schauung. Mit  dem  Bewusstsein  der  Einheit  der  gegebenen 
Elemente  muss  daher  auch  das  Bewusstsein  einer  Einheit  des 
Raumes  erzeugt  werden.  Denn  damit  wird  ja  überhaupt  erst 
die  Bedingung  geschaffen,  unter  welcher  wir  die  mannigfaltigen 


7-i  IX.    Das  Princip  iler  räumlitheu  Verknüpfung. 

Empfiudiingen  als  zusammengehörig  vorstellen  können.  Die  Mög- 
lichkeit des  Beisammenseins  hängt  davon  ab,  dass  die  Elemente 
in  einen  Raum  gesetzt  werden.  Die  Identität  des  Bewusstseins 
ist  also  nur  dadurch  möglich,  dass  die  erzeugende  Verknüpfung 
vor  Allem  eine  einheitliche  Raumanschauung  producirt.  Alle 
Vorstellungselemente,  welche  auf  ein  Object  bezogen  werden 
sollen,  müssen,  daher  so  beschaffen  sein,  dass  das  Gleichartige 
an  ihnen,  welches  macht,  dass  sie  im  Räume  erscheinen,  zu 
einer  Einheit  zusammengesetzt  werden  kann.  Die  einzelnen  räum- 
ichen  Beziehungen  müssen  zu  einer  Beziehung  verschmolzen 
werden  können.  Um  z.  B.  eine  einheitliche  Verbindung  von 
Eindrücken  als  Linie  zu  objectiviren,  muss  ich  die  Eigenschaft, 
welche  diese  Eindrücke  zu  Punkten  macht,  zu  einem  Ganzen 
der  Anschauung  zusammensetzen. 

125.  Die  Vorstellung  dieser  Methode,  die  räumlichen  Be- 
stimmungen zu  einem  Ganzen  zusammenzufassen,  heisst  der  Be- 
griff der  Grösse.  '^^)  Da  die  Grösse  hier  nicht  schon  in  dem 
einzelnen  Theil,  sondern  erst  in  ihrer  Aneinanderreihung,  in 
ihrem  Aussereiuander  liegt,  mag  sie  extensive  Grösse  ge- 
nannt werden. 

126.  Durch  Einführung  dieses  Begriffs  ergibt  sich  nun  für 
das  Princip  der  räumlichen  Synthese  die  Fassung:  Jede  Vor- 
stellungsverknüpfung erzeugt  eine  extensive  Grösse.  Oder:  Jeder 
Gegenstand  der  Erfahrung  ist  eine  extensive  Grösse. 

127.  Au  dieser  Formel  möchte  zunächst  auffallen,  dass  sie 
ihre  Geltung  auf  alle  Objecto  der  Erfahrung  ausdehnt.  Nun  be- 
sitzen wir  aber  doch  Anschauungen,  die  bloss  in  zeitlicher  Ord- 
nung erscheinen.  Ist  der  Ton  kein  Gegenstand  der  Erfahrung, 
und  ist  der  Ton  eine  extensive  Grösse?  Wenn  also  der  Satz 
diese  Allgemeinheit  beansprucht,  muss  er  jedenfalls  noch  für  die 
Zeit  bewiesen  werden.  Die  Rechtfertigung  lässt  sich  erst  später 
beibringen.  Hier  nur  so  viel ,  dass  sich  nicht  etwa  der  Begriff 
der  extensiven  Grösse  verändern  wird.  Derselbe  bleibt  für  den 
Raum  definirt.  Aber  es  wird  sich  zeigen,  dass  die  zeitliche 
Einheit  ebenfalls  die  Erzeugung  einer  Grösse  voraussetzt,  welche 
^vir  Dauer  nennen.  Von  dieser  Grösse  aber  können  wir  uns  nur 
unter  der  Bedingung  eine  Vorstellung  machen,  dass  wir  sie  als 
extensive  autfassen.  So  müssen  schliesslich  auch  die  „inneren" 
Anschauungen   unter  diesen  Begriff  siibsumii-t  werden,   und   das 


2.  Folgerungeu.  75 

Priucip  der  räumlichen  Verknüpfung  beherrscht  auch  die  Synthese 
der  Zeit.  »^) 

•  128.  Das  Priucip  muss  aber  unmittelbar  ein  zweites  Be- 
denken erregen.  Während  in  der  Analyse  des  Vorstellungs- 
inhaltes als  Hauptertrag  hervorgehoben  wurde,  die  Einheits- 
anschauung des  Raumes  liege  aller  Wahrnehmung  zu  Grunde 
(Erster  Grundsatz  §  63),  scheint  jetzt  die  räumliche  Einheit  erst 
durch  das  Zusammensetzen  der  Wahrnehmungen  zu  Stande  zu 
kommen.  Ja  die  Definition  der  extensiven  Grösse  setzt  sich  mit 
der  Erklärung  des  Raumes  in  directen  Widerspruch,  wenn  sie 
sagt,  dass  die  Theile  erst  das  Ganze  möglich  machen,  während 
doch  ausdrücklich  eingeschärft  wurde,  dass  die  Theile  des  Raumes 
nur  Einschränkungen  des  gegebenen  Ganzen  seien  (vgl.  §  51). 
Die  Inconsequenz  ist  blosser  Schein.  Nicht  nur  die  extensive 
Grösse  als  Ganzes,  sondern  auch  jeder  einzelne  Bestandtheil 
derselben  kann  nur  vorgestellt  werden  als  Einschränkung  des 
allgemeinen,  allumfassenden  Raumes.  Nun  wird  aber  die  exten- 
sive Grösse  nicht  bloss  als  Bestimmung  des  Raumes,  sondern 
gleichzeitig  in  ihrer  Verbindung  mit  der  Empfindungseinheit  als 
Bestimmung  eines  Objectes  gedacht.  Die  extensive  Grösse  kam 
nur  zu  Stande  in  der  Verbindung  realer  Elemente.  Ihre  Bedeu- 
tung gewinnt  sie  nur  dadurch,  dass  sie  als  Theil  auf  den  als 
vor  ihr  vorhanden  gedachten  Raum  bezogen  wird;  ihr  Dasein 
aber  erst  durch  die  Verbindung  vor  ihr  gegebener  Theile.  Der 
Raum  ist  erkeuntniss theoretisch  a  priori,  die  Räumlichkeit,  an 
welcher  jener  erst  zur  Function  gelangt,  a  posteriori.  Die  be- 
stimmte Gestalt  wird  durch  den  Raum  ermöglicht,  nicht  gegeben ; 
sie  ist  das  räumliche  Bild  einer  synthetischen  Handlung.  Wenn 
ich  eine  Linie  ziehe,  so  ist  der  Raum,  den  sie  einnimmt,  nur 
eine  Abgrenzung  der  reinen  Anschauung;  die  Linie  als  Object 
aber  ist  das  gewonnene  Ganze  empirisch  gegebener  Theile.  Die 
Widersprüche  lösen  sich  also  unmittelbar,  wenn  man  sich  vor 
Augen  hält,  dass  es  sich  bei  diesem  Princip  nicht  um  die  Pro- 
ductiou  des  Raumes,  sondern  des  Gegenstandes  im  Räume  handelt. 

2.   Folgerungen. 

129.    Dieser  Grundsatz  hat  eine  Anwendung  von  allergrösster 
Wichtigkeit.     Er  bildet  das  Fundament,  auf  welchem  die  reine 


76  IX.   Das  Princip  der  räumliclicu  Verknüpfung. 

Grössenlehre  ihre  Apodicticität  erbaut.  ^'')  Die  Synthese,  welche 
nach  ihm  an  jeder  Anschauung  vollzogen  werden  muss,  ist  die 
gleiche  Function,  durch  welche  die  Geometrie  ihre  Objecte  con- 
struirt.  Die  Geometrie  ist,  genau  gesprochen,  die  Wissenschaft 
von  der  Construction  der  Grössen.  Sie  betrachtet  an  den  Gegen- 
ständen, die  sie  sich  selbst  erzeugt,  nur  die  Eigenschaften,  welche 
nach  einer  gewissen  (in  der  Definition  gegebeneu)  Regel  der 
Verknüpfung  producirt  werden  mussten.  Ob  sie  das  Dreieck  in 
der  blossen  Einbildung,  oder  im  Sande,  oder  mit  dem  feinsten 
Instrument  auf  einer  Tafel  entwirft,  ist  gleichgültig;  an  dem 
Bilde  vergegenwärtigt  sie  sich  bloss  die  Function,  durch  welche 
eine  von  drei  geraden  Linien  eingeschlossene  RäumUchkeit  er- 
zeugt wird.  Nur  was  von  dieser  Function  abhängig,  was  durch 
sie  mitgegeben  ist,  liefert  ihr  Stoff  zu  ihren  allgemeinen  Ur- 
theilen  über  das  Dreieck.  Die  übrigen  Eigenschaften  der  ein- 
zelnen Figur  lässt  sie  unbeachtet.  Ihre  Ableitungen  gründen  sich 
nur  auf  das  Schema,  nicht  auf  das  Bild.  Darauf  beruht  ihre 
Allgemeingültigkeit.  Was  sie  an  einem  Dreieck  beweist,  beweist 
sie  nur  scheinbar  an  diesem  bestimmten,  sie  beweist  es  an  der 
in  ihm  dargestellten  Constructionshandlung,  welche  die  Bedin- 
gung für  alle  Dreiecke  überhaupt  ist.  Daher  muss  es  auch  von 
allen  gelten. 

Von  dieser  Allgemeingültigkeit  muss  man  aber  die  Apodic- 
ticität wohl  unterscheiden,  mit  welcher  die  Geometrie  die  Gel- 
tung ihrer  Sätze  für  das  ganze  Gebiet  der  Erfahrung  behauptet. 
Was  sie  über  ihr  willkürlich  construirtes  Dreieck  ausmacht,  soll 
sich  auch  auf  alle  dreieckigen  Körper  beziehen,  die  je  in  der  Natur 
vorkommen  mögen.  Sie  will  a  priori  die  Gestalten  aller  em- 
pirischen Erscheinungen  untersuchen.  Wenn  diese  Anmassung 
unbegründet  ist,  so  bietet  uns  die  Geometrie  keine  Erkenntniss 
von  Objecten,  sondern  höchstens  einen  Einblick  in  den  regel- 
mässigen Zusammenhang  unserer  räumlichen  Vorstellungen. 

130.  Die  Rechtmässigkeit  eben  dieser  Ajiodicticität  ist  es 
nun,  welche  durch  das  Frincip  der  räumlichen  Verknüpfung  ge- 
sichert wird.  Indem  es  den  Objecten  der  Erfahrung  die  näm- 
liche Synthese  als  Bcdingurg  ihrer  Wahrnehmung  auflegt,  welche 
den  Gegenstand  der  Geometrie  bildet,  macht  es  diese  auf  die 
Erscheinungen  der  Natur  anwendbar.     Wenn  wir  diese  Synthese 


2.   Folgerungen.  77 

Studiren  und  erkennen,  so  erforschen  wir  damit  gleichzeitig  die 
Verhältnisse  der  empirischen  Anschauungen.  Unser  Princip  macht 
die  Bedingungen  der  Geometrie  zu  Bedingungen  der  sinnlichen 
Anschauung.  Ohne  die  Gültigkeit  des  Satzes,  dass  zwischen 
zwei  Punkten  nur  Eine  gerade  Linie  möglich  ist,  kann  die  Geo- 
metrie keine  Wissenschaft  sein.  Nun  enthält  aber  dieser  Satz 
nichts  als  eine  Eigenschaft  der  räumlichen  Synthese.  Da  aber  alle 
Gegenstände  dieser  Synthese  unterworfen  sind,  so  hat  er  ob- 
jective  Gültigkeit.  Der  Grundsatz  der  räumlichen  Verknüpfung 
heisst  daher  mit  Recht  das  Princip  der  (objectiven  Gültigkeit 
der)  Axiome.  ^ ") 

Die  geometrischen  Axiome  sind  Aussprüche  über  die  ein- 
fachsten Eigenschaften  des  Raums,  welche  auf  Grund  der  un- 
mittelbaren Anschauung,  ohne  Berufung  auf  vorhergegangene  An- 
schauungen geglaubt  werden.  Sie  sind  notwendig,  weil  wir  uns 
den  Raum  überhaupt  nicht  mehr  vorstellen  können,  wenn  wir 
sie  nicht  gelten  lassen;  sie  sind  allgemeingültig,  weil  der  Raum, 
dessen  allgemeine  Natur  sie  beschreiben,  eine  einheitliche,  ho- 
mogene Anschauung  ist.  (Da  alle  Räume  Theile  des  einen  Raumes 
sind,  so  können  sie  nicht  für  den  einen  Raum  gelten,  für  den 
andern  aber  nicht.)  Als  Principien  der  Geometrie  sagen  sie, 
dass  man  überall  diese  Grundverhältnisse  wieder  finden  muss 
und  voraussetzen  darf,  zu  welchen  Anschauungen  man  auch  fort- 
schreite, welche  Räumlichkeiten  man  auch  construire.  **)  Aber 
mit  alle  dem  ist  über  ihre  reale  Bedeutung  nichts  gesagt.  Erst 
unser  Grundsatz,  der  den  Raum  mit  allen  seinen  Eigenschaften 
objectivirt,  macht  aus  den  Bedingungen  der  abstracten  Geometrie 
allgemeine  Naturgesetze,  aus  den  Beschreibungen  räumlicher 
Formen  Schilderungen  von  Gegenständen. 

131.  Damit  ist  allerdings  auch  eine  Einschränkung  der  Geo- 
metrie verbunden.  Sie  wird  ihre  objective  Gültigkeit  nur  so 
lange  behalten,  als  sie  innerhalb  des  von  dem  Princip  der  Axiome 
beherrschten  Gebietes  bleibt.  Die  extensive  Grösse  ist  definirt 
für  den  Raum,  welchen  die  Analyse  des  Vorstellungsinhaltes  als 
Bedingung  der  Erfahrung  aufgezeigt  hat.  Sollte  sich  die  Grössen- 
lehre  veranlasst  finden,  auch  über  einen  anders  beschafi'enen 
Raum  zu  urtheilen,  so  muss  sie  auch  von  diesem  Punkte  an 
jeden  Anspruch  aufgeben,  Erkenntniss  von  Gegenständen  zu 
liefern.     Der  erkenntnisstheoretische  Raum  ist  nicht  nur  ein  mög- 


7S  I^^-    I^i^s  rrincii»  der  räumlichen  Verknüpfung. 

lieber  Be2,i'ift',  sondern  ausserdem  eine  gegel)ene  Anschauung. 
Ein  Kaum  von  n  Dimensionen  mag  ein  logiscli  tadelloser,  d.  li. 
widerspruchsfreier  Begriff  sein;  so  lange  er  nicht  angeschaut 
werden  kann,  muss  ihm  jede  Gültigkeit  für  die  Natur  abge- 
sprochen werden.  Die  Mathematik  stellt  in  diesem  Falle  nur 
noch  logisch  richtige  Folgerungen  aus  der  Verbindung  blosser 
Regeln  dar,  ohne  sie  in  ihrer  Anwendung  zeigen  7A\  können. 
Sie  ist  dann  ebensogut  übersinnlich  geworden  wie  die  Physik, 
wenn  sie  leere  Räume,  oder  die  Metaphysik,  wenn  sie  leere  Be- 
griffe combiuirt. 

lo2.  Au  dieser  Stelle  entspringt  nun  ein  anderer  wichtiger 
Begriff,  Die  Vorstellung  der  extensiven  Grrösse  führt  zur  Vor- 
stellung des  „AVie  gross?"  Wenn  ich  eine  räumliche  Synthese 
vollzogen  habe  und  hierauf  noch  eine  andere  producire,  so  kann 
ich  fragen,  welche  einen  grössern  Theil  des  Raums  einnehme, 
ich  kann  sagen,  dass  die  eine  so  und  so  viel  mal  grösser  sei 
als  die  andere.  Diese  aus  der  Vergleichuug  zweier  Synthesen 
entstehende  Vorstellung  der  relativen  Grösse  heisst  die  Zahl. 
Die  erste  Synthese  wird  als  einfaches  Element  einer  neuen  Ver- 
knüpfung angesehen.  Ein  anderer  Begriff  der  Gleichartigkeit 
tritt  auf.  Die  Bestandtheile  der  neuen  Zusammensetzung  sind 
nicht  mehr  bloss  gleichartig,  weil  sie  alle  räumliche  Stellen, 
sondern  weil  sie  alle  dieselben  Grössen  sind.  Die  neue  Syn- 
these bildet  ein  neues  Ganzes  aus  gleichen  Theilen.  ^")  Aus  der 
Betrachtung  des  Elementes,  seiner  successiven  Zusammensetzung 
und  des  erzeugten  Ganzen  fliessen  die  Begriffe  der  Einheit,  der 
Vielheit  und  der  Allheit.  Es  sind  das  keine  Grundbegriffe,  denn 
sie  enthalten  keine  Bedingungen  der  Erfahrungsmöglichkeit;  aber 
nichts  destoweniger  sind  sie  rein  von  aller  empirischen  Bei- 
mischung, denn  sie  setzen  nichts  voraus,  ausser  der  ganz  all- 
gemeinen Synthese  der  extensiven  Grösse.  ■^^) 

133.  Indem  die  Mathematik  für  die  relative  Grösse  und 
die  verschiedenen  Möglichkeiten  der  Vergleichuug  nach  allge- 
meinen Regeln  eine  feste  Bezeichnung  einführt,  kann  sie  die 
Verhältnisse  der  Zahlen  untersuchen,  ohne  sie  im  Räume  wirk- 
lich darzustellen.  Zunächst  kann  sie,  anstatt  Räumlichkeiten  an- 
einanderzureihen, Punkte  hintereinandersetzen;  dann  mag  sie  diese 
Bilder  durch  die  bequemeren  Zeichen  der  Ziffern  vertreten  lassen, 
die  Verbindungsarten   der  Ziffern   endlich   durch  Corabinationen 


2.   Folgerungen.  79 

von  Buchstaben  —  iminer  wird  sie  die  blosse  Handlung'  der 
Synthese  mit  gleicher  Präcision  fixirt  und  anschaulich  gemacht 
haben.  So  gelaugt  die  Mathematik  zur  Wissenschaft  der  Rech- 
nung, welche  nichts  Anderes  ist  als  eine  symbolische,  aber 
durchgängig  gesetzmässige  Construction  der  relativen  Grössen. 

Ob  die  Mathematik  die  Zahl  als  continuirliches  oder  als 
discretes  Gebilde  aufzufassen  habe,  ist  hier  nicht  zu  erörtern. 
Es  genügt  die  Bemerkung,  dass  nach  der  obigen  Ableitung  beide 
Auffassungen  einen  Sinn  haben.  In  einem  Falle  bedeutet  das 
Zählen  das  Aneinanderreihen  von  räumlichen  Grössen  in  der 
Weise,  dass  sie  sich  au  ihren  Grenzen  berühren ;  im  andern  Falle 
sind  die  Einheiten  durch  Räume  getrennt  zu  denken,  welche  bei 
der  Zählung  nicht  in  Betracht  kommen  sollen. 

Es  folgt  von  selbst,  dass  auch  die  Zahlenlehre  für  ihre  ob- 
jective  Gültigkeit  sich  allein  auf  das  Princip  der  räumlichen 
Verknüpfung  berufen  kann.  Dass  Gegenstände  sich  zählen  lassen, 
beruht  nur  darauf,  dass  sie  extensive  Grössen,  d.  h.  Theile  Eines 
Raumes  sind.  *")  Weil  sie  selbst  nur  als  Einschränkungen  eines 
Ganzen  erscheinen,  kann  ich  sie  als  ein  Ganzes  von  Einschrän- 
kung betrachten;  weil  sie  nur  Beschränkungen  einer  einheit- 
lichen, homogenen  Anschauung  sind,  ist  es  möglich  sie  zu  ver- 
gleichen. So  begründen  die  Axiome  der  Anschauung  nicht  nur 
die  Gültigkeit  der  Geometrie,  sondern  auch  die  der  Arithmetik. 
Die  genauere  Untersuchung  gehört  nicht  in  die  reine  Erkennt- 
nisstheorie. Zur  Illustration  der  relativen  Grösse  sei  hier  noch 
auf  die  Axiome  hingewiesen,  dass  das  Ganze  grösser  als  sein 
Theil  und  gleich  der  Summe  seiner  Theile  sei ;  ferner  dass  zwei 
Grössen  dann  gleich  seien,  wenn  sie  aufeinandergelegt  in  ihrer 
ganzen  Ausdehnung  zusammenfallen. 

Wenn  wir  der  Zahl  diese  erkenntnisstheoretische  Bedeutung 
zugestehen,  so  wird  für  uns  die  unendliche  Zahl  oder  das  un- 
endliche Zählen  eine  Vorstellung,  der  wir  objective  Gültigkeit 
nicht  versagen  dürfen.  Ein  unendlich  fortgesetztes  Hinzufügen 
von  Einheiten  zu  einer  gegebenen  Zahl  bedeutet  für  die  Wirk- 
lichkeit ein  unaufhörliches  Aneinanderreihen  räumlicher  Gebilde. 
Dass  es  aber  für  die  Ausdehnung  des  Raumes  eine  wissenschaft- 
liche Schranke  nicht  gibt,  hat  schon  seine  anfängliche  Analyse 
gelehrt  Aus  demselben  Grunde  folgt,  dass  die  Vorstellung  einer 
Zahlenreihe,   die  nach   zwei   Seiten  hin  unendlich  wird,   nichts 


80  IX.    Das  Priiicip  der  räuniliclicn  Verknüpfung. 

Widersinniges  enthält;  wir  können  jede  Raumdimension  in  zwei 
Ricbtung-en  durclimessen,  nach  zwei  Richtungen  Raumelemente 
aneinanderreihen. 

Die  frühere  Beschränkung  ist  also  selbstverständlich  auch 
für  die  Zahlenlehre  zu  wiederholen.  Ihre  Resultate  sind  an- 
wendbar auf  die  Erfahrung,  so  lange  sie  auf  den  erkenntniss- 
theoretischen Raum  reducirt  werden  können.  Schweift  aber  die 
symbolische  Construction  darüber  hinaus  und  wird  sie  genötigt 
zur  Rechtfertigung  ihrer  Bedeutung  einen  andern  Raum  voraus- 
zusetzen, so  enthüllt  sie  nicht  mehr  Eigenschaften  der  Natur, 
sondera  nur  noch  der  gesetzmässigen  Combinationsfähigkeit  un- 
serer Vorstellungen. 

134.  Mit  der  objectiven  Gültigkeit  der  Zabl  ist  auch  die 
reale  Bedeutung  der  quantitativen  Urtheilsform  der  Logik  ge- 
wonnen. Da  es  einen  Sinn  hat  von  einer  Einheit,  Mehrheit 
und  Allheit  der  Gegenstände  zu  reden,  so  ist  es  auch  wertvoll 
zu  untersuchen,  was  für  Urtheile  sich  mit  Rücksicht  auf  diese 
Begriffe  aus  ursprünglichen  Verknüpfungen  ableiten  lassen.  Das 
geschieht  in  der  formalen  Logik.  Man  kann  sie  daher  in  dieser 
Hinsicht  Grössenlehre  der  Begriffe  nennen.  Aber  man  darf  sich 
durch  diesen  Titel  nicht  verführen  lassen  die  Logik  etwa  als 
allgemeine  Grössenlehre  der  Mathematik  überzuordnen  und  letz- 
tere nur  als  eine  specielle  Anwendung  derselben  zu  betrachten. 
Beide  Wissenschaften  sind  gründlich  verschieden.  Die  Mathe- 
matik hat  einen  eminent  materialen  Charakter.  Denn  einmal 
prüft  sie  (mit  Ausnahme  der  metaphysischen  Principien)  stets  die 
Notwendigkeit  der  ursprünglichen  Urtheile,  aus  denen  sie  ihre 
Resultate  entwickelt.  Ferner  besteht  die  Ableitung  selbst  nicht, 
wie  bei  der  formalen  Logik,  bloss  in  der  Aufzählung  der  iu  der 
ursprünglichen  Synthese  mitenthaltenen  Handlungen,  sondern  sie 
betrachtet  die  ursprüngliche  Synthese  mit  Rücksicht  auf  die  durch 
sie  erzeugten  Data  der  Anschauung.  Die  Logik  fragt  bloss: 
Was  liegt  in  dem  gegebenen  Urtheil?  die  Mathematik:  Was 
schafft  es  für  Bedingungen  der  Anschauung?  Sie  zieht  die  An- 
schauung als  Medium  herbei,  um  das  neue  Urtheil  mit  dem 
ursprünglichen  zu  verbinden.  Sie  kann  daher  aus  diesem  heraus- 
treten und  nicht  nur  eine  deutlichere,  sondern  auch  eine  erwei- 
terte Kenntniss  gewinnen.  Während  die  Logik  die  wenigen 
Formen  der  Verknüpfung  leicht  erschöpfen  und  sich  daher  rasch 


X.  Das  Princip  der  zeitlichen  Verknüpfung.    Sechster  Grundsatz.        Sl 

ZU  einer  extensiv  vollkommenen  Wissenschaft  abschliessen  kann, 
bietet  der  Mathematik  die  Beobachtung  ihrer  räumlichen  oder 
symbolischen  Constructionen  ein  unendliches  Material  für  stets 
neue  Entwicklung. 

Aus  diesem  Zusammenhang  ergibt  sich  auch ,  dass  die  in  der 
Logik  übliche,  bald  verspottete,  bald  vertheidigte  '■^-)  Darstellung 
der  Urtheilsverhältnisse  durch  geometrische  Figuren  mehr  ist  als 
ein  Gängelband  des  abstractiousträgen  Verstandes.  Sie  kann  sich 
erkenntnisstheoretisch  rechtfertigen  als  Erinnerung  an  die  objec- 
tive  Bedeutung  der  Zahl.  Die  Sphärenvergleichuug  greift  zurück 
auf  die  Entstehung  der  Zahl  aus  der  extensiven  Grösse  und  er- 
klärt die  Quantität  als  relatives  Quantum. 


X.    Das  Priucip  der  zeitliclieii  Yerkiiüpfiiiig. 

Sechster  Grundsatz. 

135.  Da  sich  alle  Wahrnehmungen  in  der  Form  der  Zeit 
dem  Bewusstsein  einverleiben,  so  ist  jede  Vorstellungseinheit 
notwendig  eine  zeitliche  Einheit. 

Es  fragt  sich,  ob  es  nötig  ist,  diese  Einheit  in  einem  eigenen 
Grundsatze  zu  fordern,  oder  ob  sie  nicht  schon  in  dem  Priucip 
der  materiellen  Verknüpfung,  das  die  Continuität  des  Bewusst- 
seins  aufstellt,  enthalten  sei.  Man  könnte  glauben,  dass,  wenn 
die  Empfindungen  in  der  Zeit  erscheinen  und  sich  stetig  anein- 
anderreihen, damit  auch  die  einheitliche  Verknüpfung  der  Zeit 
gegeben  sei.  -''*) 

Dem  ist  nicht  so.  Die  continuirliche  Zusammensetzung  der 
Wahrnehmungen  ist  keineswegs  selbst  schon  die  Vorstellung  ihrer 
zeitlichen  Einheit;  sie  ist  bloss  ihre  conditio  sine  qua  non.  Jenes 
Gesetz  bewirkt  erst,  dass  überhaupt  ein  Stoff  für  die  Synthese 
gegeben  werden  kann.  Dass  ich  aber  successive  verschiedene 
Eindrücke  empfange,  das  ermöglicht  mir  noch  nicht  die  Be- 
hauptung, dass  dieselben  Bestandtheile  einer  einzigen  Zeitan- 
schauuug  ausmachen.  Das  Nacheinander  meines  Bewusstwerdens 
ist  noch  nicht  das  Bewusstwerden  eines  Nacheinander.     Wenn 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  6 


82  X.    Das  Priiicip  der  zeitlichen  Verknüpfung. 

wirdie  empirisch  zusammenkommenden  Wahrnehmungen  einfacli 
aufnähmen,  so  würden  wir  gleichsam  nur  Buchstaben,  nicht  Worte 
von  allgemeiner  Bedeutung,  Erfahrung,  lesen.  Eine  Zeiteinheit 
erkenne  ich  erst  dann,  wenn  ich  das  Bewusstsein  habe,  dass 
mehrere  Momente  meines  Vorstellens  zeitlich  so  zusammenge- 
hören, dass  ich  den  einen  ohne  die  entsprechende  Zuordnung 
des  andern  überhaupt  nicht  reproduciren  kann.  Sobald  ich  mir 
denk^,  dass  die  Vorstellung  eines  Zeitpunktes  die  eines  andern 
unausbleiblich  nach  sich  zieht,  werden  mir  beide  zu  etwas  Zu- 
sammenhängendem, zu  einem  Ganzen,  bilden  Theile  Einer  An- 
schauung, gehören  zu  Einer  Zeit.  Eine  solche  untrennbare  Zu- 
sammengehörigkeit der  Wahrnehmungen  kann  ich  aber  niemals 
aus  der  Erfahrung  ablesen.  Da  würde  sich  höchstens  zeigen, 
dass  sie  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Verhältnisse,  und  im 
einen  häufiger  als  im  andern  erscheinen;  niemals  aber  könnte 
geschlossen  werden,  dass  eine  solche  Verbindung  überhaupt  un- 
auflöslich sei.  Die  V^orstellung  einer  notwendigen  Zusammen- 
gehörigkeit von  Erscheinungen  kann  also  nur  aus  dem  Bewusst- 
sein entspringen,  dass  die  Handlung  der  Synthese  nach  einer 
unumgänglichen  Kegel  geschehe.  Die  für  die  Identität  des  Be- 
wusstseins  erforderliche  Zeiteinheit  kann  somit  nur  unter  Vor- 
aussetzung einer  Notwendigkeit  der  Verknüpfung  erzeugt  werden. 
Wir  müssen  also  den  Grundsatz  aufstellen: 

136.  Jede  Vorstellungsverknüpfung  enthält  eine  notwendige 
Verknüpfung  der  Wahrnehmungen  in  der  Zeit.  Oder:  Jeder 
Gegenstand  der  Erfahrung  ist  seinem  Zeitverhältnisse  nach  ge- 
setzmässig  bestimmt.  ■'^) 

137.  Damit  haben  wir  ein  neues  Urtheil  von  ursprünglicher 
Notwendigkeit  gewonnen;  wir  können  a  priori  behaupten,  dass 
alle  emi)irischen  Verhältnisse  einer  allgemeinen  Regelmässigkeit 
der  Zeitbestimmung  entsjjrechen  werden.  Nun  ist  auch  die  letzte 
Quelle  objectiven  Urtheilens  erreicht.  Dieses  Princip  bildet  den 
Schlussstein  in  der  erkenntnisstheoretischen  Construction  des 
Gegenstandes.  Bisher  wussten  Avir  von  dem  Sein,  dass  es  aus 
intensiven  Qualitäten  bestehe  und  jedenfalls  zu  extensiven  Grössen 
zusammengesetzt  werden  müsse.  Aber  damit  war  immer  bloss 
die  Möglichkeit  des  Objects  erklärt.  Sein  wirkliches  Dasein 
aber  blieb  zweifelhaft,  so  lange  nicht  bewiesen  war,  dass  der 
in  der  Zeit  verlaufende  Nexus   der  Empfindungen  nach  Regeln 


XL  Das  Princip  der  Beharrung  (Substanz).     1.  Siebenter  Grundsatz.     83 

geschehe.  Denn  auch  die  räumliche  Synthese  ist  ja  uur  gleich- 
sam die  äussere  Ansicht  der  einen  Verkuüpfungshaudlung,  deren 
wahres  Mass  die  Zeit  ist.  Wenn  also  keine  Zeiteinheit  producirt 
wird,  so  kann  es  auch  keine  räumliche  geben.  Der  letzte  Grund- 
satz schafft  also  erst  die  Bedingung,  unter  welcher  die  früher 
betrachteten  Bedingungen  in  Thätigkeit  treten  können.  ■'■') 

138.  Solcher  gesetzraässigen  Zeitbestimmungen  wird  es  so 
viele  geben,  als  die  Zeit  Arten  des  Verhältnisses  umfasst.  Nun 
lehrt  uns  die  Psychologie  zwei  Modi  zeitlicher  Beziehung  (§  57): 
das  Nacheinander  und  das  Zugleich.  Also  werden  wir  zwei 
neue  Principien  der  synthetischen  Einheit  zu  Ibrmuliren  haben.'"') 
Zunächst  aber  müssen  wir  einen  Grundsatz  voranschicken,  ohne 
welchen  uns  die  Lösung  dieser  Aufgabe  nicht  möglich  sein 
würde.  ■'')  . 


XI.    Das  Princip  der  Beharrung 

(Substanz). 
1.    Siebenter  Grundsatz. 

1 39.  Zeitbestimmung  ist,  wie  schon  im  Anfange  der  Unter- 
suchung erörtert  wurde,  die  Abgrenzung  einer  einheitlichen  An- 
schauung. Wenn  wir  sagen,  dass  Erscheinungen  einander  folgen, 
so  heisst  das :  sie  sind  benachbarte  Theile  der  Einen  Zeit.  Werden 
andere  Erscheinungen  als  zugleich  bezeichnet,  so  bedeutet  das, 
dass  sie  sich  an  derselben  Stelle  der  Zeitreihe  befinden.  Die 
Zeit  ist  die  Vorstellung,  welche  alle  andern  Vorstellungen  bei 
ihrem  Entstehen  ins  Bewusstsein  einordnet ;  sie  ist  wie  ein  Faden, 
an  'dem  Wahrnehmungen  abgewickelt,  oder  wie  ein  Stab,  an 
welchem  sie  aufgereiht  werden. 

140.  Diese  Ausdrücke  charakterisiren  die  Zeit  nach  der 
Wirkung  ihrer  Function.  Bedeutend  schwieriger  ist  es,  für  ihr 
eigenes  Wesen  als  reine  Anschauung  das  treffende  Wort  zu 
finden.  Es  wäre  falsch,  die  Zeit  selbst  eine  Folge  zu  nennen; 
denn  um  sie  so  zu  begreifen,  müssten  wir  wieder  eine  andere 
Zeit  dazu  denken,  in  welcher  dieses  Nacheinander  möglich  wäre. 
Und  so  weiter  ins  Unendliche.      Die  Succession  ist  vielmehr  ein 

6* 


84  XI.   Das  Princip  der  Beharrung  (Substanz). 

Verhältniss  des  Mannigfaltigen,  das  in  der  Zeit  empirisch  ge- 
geben wird.  Noch  weniger  statthaft  ist  es,  der  Zeit  selbst  das 
Zuglcichsein  beizulegen;  denn  das  ist  ja  gerade  der  s])eeifiscbe 
Unterschied  der  Zeit  vom  Räume,  dass  ihre  Theilc  nacheinander 
sind.  Auch  die  Simultaneität  ist  erst  ein  Verhältniss,  welches 
das  Mannigfaltige  empirischen  Inhalts  durch  die  Beziehung  auf 
die  Zeit  darstellt. 

Genau  gesprochen,  dürfen  wir  somit  die  Zeit  nur  als  das- 
jenige begreifen,  in  welchem  Succession  und  Coexistenz  als 
Bestimmungen  der  Objcctc  vorgestellt  Averden  können;  sie  ist 
die  Grundanschauung,  in  welche  Alles,  was  zugleich  sein  oder 
aufeinander  folgen  kann,  aufgenommen  wird.  Daher  muss  sie 
als  eine  Vorstellung  aufgefasst  werden,  welche  bei  jedem  Mo- 
ment des  empirischen  Vorstellens  als  schon  gegeben  erscheint. 
Sie  lebt  in  uns  als  etwas,  das  in  Bezug  zu  dem  unendlichen 
Wechsel  der  Wahrnehmungen  jederzeit  ist.  Die  Zeit  ist  ein 
Bleibendes,  ein  Beharrliches.  Durch  den  Begriff  der  Be- 
harrlichkeit wird  erklärt,  was  das  Wesen  der  reinen  Anschauung 
im  Gegensatz  zur  empirischen  Zeitbestimmung  ausmacht.  Die 
Zeit  ist  die  beständige  Begleitungsvorstellung  alles  Daseins.  Sie 
ist  die  Anschauung  eines  dem  empirischen  Wechsel  gegenüber- 
gestellten Nichtwechseluden. 

141.  Nur  diese  Auffassung  der  zeitlichen  Function  kann 
uns  die  Möglichkeit  der  Zeitbestimmung  zureichend  erklären. 
All  unser  Wahrnehmen  ist  eine  stets  wechselnde  Folge  von  Be- 
wusstseinszuständen.  Die  Succession  der  Vorstellungen  würde 
aber  niemals  zu  einer  Vorstellung  der  Succession  werden,  wenn 
Avir  nicht  das  frühere  und  das  spätere  Element,  jedes  auf  eine 
Vorstellung  beziehen  könnten,  die  sowohl  beim  ersten  als  beim 
zweiten  vorhanden  war;  denn  die  Vorstellungen  Avürden  anders 
nicht  zu  Tb  eilen  Einer  Anschauung  werden.  Erst  Aveun  mir  die 
succedirenden  Elemente  a  und  b  als  Bestimmungen  eines  Blei- 
benden erscheinen,  erst  wenn  ich  das  Bewusstseiu  habe,  dass 
die  Zeit,  die  a  Avar,  b  ist,  erhalten  a  und  b  einen  einheitlichen 
Zusammenhang.  Ebensowenig  würde  mich  die  blosse  Wahr- 
nehmung jemals  zur  Vorstellung  der  Gleichzeitigkeit  von  Vor- 
stellungen führen.  Denn  die  Wahrnehmung  geschieht  durch- 
gängig als  Succession.  Lege  ich  dagegen  eine  bleibende  An- 
schauung zu  Grunde  und  stelle  mir  vor,  dass  die  Zeit,  welche 


I.   Siebenter  Grundsatz.  85 

b  ist,  auch  a  ist,  lasse  ich  also  mehrere  Elemente  als  einheit- 
liche Bestimmungen  meines  Beharrlichen  erscheinen,  so  kann  ich 
zur  Vorstellung  des  Simultanen  gelangen.  Somit  müssen  wir 
sagen,  dass  alles  Zeitverhältniss  Yerhältniss  des  Wechselnden  zu 
einem  Bleibenden  ist.  Die  Beharrlichkeit  ist  die  fundamentale 
Regel  der  Zeitordnung ,  welche  sich  bei  dem  Problem,  die  syn- 
thetische Einheit  der  Zeit  zu  erzeugen,  als  Postulat  ergibt. 

142.  Nun  wissen  wir,  dass  die  Zeit  als  solche,  inhaltleer, 
nicht  wahrgenommen  werden  kann;  sie  ist  ja  bloss  die  Form 
der  Wahrnehmungen.  Das  Bleibende,  das  ihre  Grundbedingung 
ausmacht,  darf  also  nicht  etwa  als  etwas  für  sich  Bestehendes, 
von  der  empirischen  Mannigfaltigkeit  Unabhängiges  angesehen 
werden.  Das  Beharrliche  kann  nichts  Anderes  sein  als  die  Art,  wie 
dieses  Mannigfaltige  zusammengefasst ,  verknüpft,  geformt  wird. 
Es  wiederholt  sich  also  der  Vorgang,  der  jeden  Fortschritt  un- 
serer Untersuchung  begleitet,  dass  die  subjective  Bedingung  der 
Erfahrung  Eigenschaft  der  Erscheinungen  wird.  Die  unveränder- 
liche Grundlage  alles  Wechsels,  welche  conditio  sine  qua  non 
der  Zeitbestimmung  ist,  erscheint  in  die  Objecte  der  Erfahrung 
hineinprojicirt.  Die  realen  Data  der  Wahrnehmung  müssen  so 
beschaffen  sein,  dass  man  sich  vorstellen  kann,  sie  enthalten  als 
Grundlage  ihres  Zusammenhangs  ein  bleibendes  Substrat  alles 
Wechsels  in  sich.  Das  Bleibende  der  Zeit  producirt  in  ihrer 
empirischen  Bestimmung,  gleichsam  als  ein  Spiegelbild,  das  Un- 
wandelbare des  Daseins.  Der  beharrlichen  Zeit  correspondirt 
der  beharrliche  Gegenstand. 

Diese  Vorstellung-  eines  in  die  Natur  hineinverlegten,  blei- 
benden Subjects  nennt  man  Substanz.  — 

143.  Wir  können  nun  unser  Ergebuiss  in  den  Grundsatz 
zusammenfassen : 

Jeder  Vorstellungsverknüpfung  liegt  die  Vorstellung  der  be- 
harrlichen Zeitanschauung  zu  Grunde. 

Oder:  Jeder  Gegenstand  der  Erfahrung  ist  die  Bestimmung 
einer  Substanz. 

144.  Der  Begriff  der  Substanz  lässt  sich  unmittelbar  durch 
eine  höchst  wichtige  Bestimmung  bereichern.  Ich  darf  nämlich 
statt  Substanz  schlechthin  bestimmter  sagen:  Substanz  im 
Räume.  Denn  ich  kann  mir  nicht  vorstellen,  dass  das  Beharr- 
liche Etwas  in  mir  sei.    Alle  Bestimmungen  meiner  Exist^z,  die 


86  ^I-   Pas  Priucip  der  Beharrung  (Substanz). 

in  mir  ani;ctroffen  werden  können,  sind  Vorstellungen  und  be- 
dürfen, als  solche,  etwas  von  ihnen  Unterschiedenes,  Beharrliches. 
Mein  eigenes  Dasein,  das  aus  dem  Zeitverlauf  sich  als  Einheit 
hervorhebende  Ich  kann  ja  überhaupt  erst  an  diesem  Beharr- 
lichen sich  erzeugen,  durch  dasselbe  bestimmt  werden.  Ich  muss 
also  ein  Ding  ausser  mir  vorstellen,  um  die  Substanz  wahrnehmen 
zu  können.  Folglich  liegt  es  schon  im  Begriffe  der  Substanz, 
eine  Substanz  im  Räume  zu  sein.  •'^) 

Unser  Princip  heisst  also  genauer:   Jeder  Gegenstand   der 
Erfahnine:  ist  die  Bestimmune;  einer  Substanz  im  Räume. 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen. 

145.  Auf  Grund  dieses  Princips  ist  es  nun  möglich,  den 
Objecten  der  Erfahrung  eine  zeitliche  Grösse  beizulegen.  In 
der  Succession  der  Wahrnehmungen  selbst  liegt  nicht  die  min- 
deste Grösse;  denn  jedes  durch  sie  gegebene  Dasein  entsteht 
und  verschwindet  in  einem  Augenblick.  Sobald  ich  aber  meine 
Wahrnehmungen  auf  eine  Substanz  beziehe,  kann  ich  diese  durch 
jene  messen.  Durch  eine  endliche  Folge  von  Empfindungen,  die 
ich  zusammensetze,  wird  ein  Theil  der  Beharrlichkeit  abgegrenzt ; 
ich  kann  ihn  als  relative  Grösse  bestimmen  und  in  einer  Zahl 
ausdrücken.  Die  Zeitgrösse  des  Beharrlichen  nennt  man  Dauer. 
Im  Begriffe  der  Dauer  fassen  wir  die  Zeitmomente  zu  einem 
Ganzen  zusammen,  als  ob  sie  nebeneinander  wären,  wie  die 
Punkte  einer  Linie.  So  bewirkt  die  Substanz,  dass  wir  auch 
die  Zeitanschauung  als  extensive  Grösse  zu  denken  haben.  "0 

146.  Ein  wichtiger  Ertrag  dieses  Grundsatzes  ist  nun,  dass 
aus  ihm  eine  objective  Bedeutung  für  den  Begriff  der  Ver- 
änderung entspringt.  Bis  jetzt  konnten  wir  nur  von  einer 
Veränderung  des  Subjects  sprechen;  das  Ich  allein  schien  ein 
unwandelbarer  Träger  für  die  in  den  Vorstellungen  enthaltenen 
Bestimmungen  zu  sein.  In  den  Eindrücken  selbst  gab  es  bloss 
einen  Wechsel.  (Grunds.  IV.  §  115.)  Durch  unsern  Grundsatz 
nun  wird  die  Beharrlichkeit  auch  in  den  Gegenstand  als  Be- 
dingung seiner  Möglichkeit  gelegt;  das  Object  selbst  wird  blei- 
bende Grundlage  von  Veränderungen, 

So  schliesst  sich  jetzt  erst  der  mühsam  errungene  Begriff 
des    Objects    befriedigend  ab.      In   unserm   Denkprocess  spaltet 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  87 

sieb  der  Gegenstand  in  zwei  Hälftenj  in  den  „Gegenstand  selbst" 
und  dessen  „blosse  Bestimmung";  in  das  Beharrlicbe,  das  sieb 
verändert,  und  in  seine  Bestimmungen,  welcbe  wecbseln.  Im 
Begriffe  der  Substanz  und  ibrer  Accidenzen  erreicben  wir  die 
letzte  Stufe  der  ObjectiA'^ation  der  Natur.  Der  Gegenstand  der 
Erfahrung  ist  zum  „Ding  mit  mannigfaltigen  Eigen- 
s  c  b  a  f t  e  n "  ausgereift, '  f' ") 

147.  Damit  wird  das  Princip  die  Basis  aller  unserer  Urtbeile 
über  die  empiriscbe  Gescbicbte  der  Objecte.  Da  die  ursprüng- 
licbe  Syntbese  der  Vorstellungen  etwas  Bebarrlicbes  verknüpft 
so  können  die  einzelnen  Realitäten,  welcbe  die  Zeitmomente  er- 
füllen, nacb  und  naeb  durcb  andere  ersetzt  werden,  obne  dass 
die  Syntbese  selbst  aufgeboben  wird. 

An  dieser  Stelle  erbalten  wir  einen  wichtigen  Einblick  in 
den  Zusammenbang  der  empirischen  Synthesen  mit  den  ursprüng- 
lichen, welcbe  die  Möglichkeit  unserer  Erfahrung  begründen.  Es 
bedürfen  nämlich  auch  die  sogenannten  synthetischen  Urtbeile 
a  posteriori  einer  Erklärung  ihrer  Möglichkeit.  Denn  wollte  man 
sich  einfach  bei  dem  Gedanken  beruhigen,  dass  ja  für  sie  die 
Erfahrung  die  Gewähr  der  Zusammengehörigkeit  der  in  ihnen 
enthaltenen  Vorstellungen  liefere,  so  würde  man  auf  den  Staud- 
punkt der  gemeinen  Weltansicht  zurückfallen,  welche  die  Be- 
ziehung auf  das  Object  als  etwas  Selbstverständliches  ansieht,  ^'^i) 

Ein  synthetisches  Urtbeil  a  posteriori  liegt  vor,  wenn  ich 
mit  einem  Objecte  S  eine  Vorstellung  P  verbinde,  welche  in 
der  ursprünglichen  Vorstellungs Verknüpfung  nicht  enthalten  war. 
Seien  die  dem  Gegenstande  S  seinem  Begriffe  nach  zukommenden 
Eigenschaften  a,  b,  c,  d,  so  urtbeile  ich  synthetisch,  wenn  ich 
von  S  (a,  b,  c,  d)  das  durch  empiriscbe  Beobachtung  gefundene 
Merkmal  e  prädicire.  Ich  bilde  dabei  in  meinem  Bewusstsein 
die  Einheit  S  P  (e),  für  deren  Geltung  ich  mich  nicht  formal  logisch 
auf  den  Begriff  S  (a,  b,  c,  d)  beziehen  kann;  denn  dieser  be- 
rechtigt mich  bloss,  die  Urtbeile  SP(a)  bis  SP(d)  zu  entwickeln. 
Nun  kann  mir  aber  der  Gegenstand  des  Begriffs  nur  dadurch 
gegeben  werden,  dass  ich  seine  Merkmale  auf  eine  Substanz  be- 
ziehe, a,  b,  c,  d  erscheinen  als  Accidenzen  eines  Beharrlichen. 
Damit  ist  aber  nicht  der  Nebengedanke  verbunden,  dass  die 
Substanz  durch  diese  Kennzeichen  erschöpfend  bestimmt  sei. 
Es  ist  kein  erkenntnisstheoretischer  Grund  vorbanden,   der  die 


88  XI.   Das  Princii)  der  I>oliarriuig  (Substanz). 

Aufikahme  neuer  Elemente  in  die  einmal  gebildete  Vorstellungs- 
einheit eines  Gegenstandes  verbieten  würde.  Auf  dieser  Un- 
bestimmtheit beruht  eben  die  Möglichkeit  der  Empii-ie.  Wir 
dürfen  erwarten,  dass  uns  die  Ertahrung  weitere  Eigenschaften 
vorführen  wird,  durch  die  wir  unsere  Substanz  bestimmen  können. 
So  beziehen  wir  die  neu  angeschaute  Qualität  unmittelbar  auf 
die  durch  S  (a,  b,  c,  d)  bezeichnete  Substanz.  Man  muss  daher 
nicht  sagen,  dass  der  Rechtsgrmid  der  Einheit  SP(e)  die  An- 
schauung sei;  denn  diese  liefert  uns  gar  nichts  als  die  beiden 
durch  die  Wahrnehmungen  S  und  e  bezeichneten  Zeitmomente. 
Grund  der  Einheit  ist  vielmehr  die  vom  Verstände  in  die  An- 
schauung hineingedachte  Substanz,  welche  durch  die  neue  Eigen- 
schaft nicht  verwandelt,  sondern  nur  nach  einer  unbezeichnet 
gelassenen  Seite  bestimmt  wird.  Die  Substanz  trägt  das  neue 
Merkmal  mit  und  spannt  es  gleichsam  in  den  durch  ihren  Be- 
griff gebildeten  Rahmen. 

148.  Aus  ihrem  Begriffe  folgt  schon,  dass  wir  uns  die  Sub- 
stanz nicht  als  ein  veränderliches  Quantum  vorstellen  dürfen. 
Da  sie  nichts  ist  als  ein  Abbild  der  Zeit,  theilt  sie  auch  deren 
Eigenschaften.  Sie  erscheint  nicht  als  ein  Aggregat  von  Theilen, 
sondern  als  ein  Ganzes,  dessen  Theile  durch  Einschränkung  ent- 
stehen. Es  können  die  Theile  niemals  vergehen  oder  neu  ge- 
schaffen werden.  Als  ein  Correlat  der  Zeit  muss  die  Substanz 
etwas  sein,  an  dem  alle  Bestimmungen  haften,  welche  in  jeder 
vergangenen  oder  zukünftigen  Zeit  gegeben  werden  können.  In 
einem  Objecte  darf  nur  dasjenige  Substanz  genannt  werden, 
dessen  Existenz  zu  aller  Zeit  vorausgesetzt  wird.  Wenn  man 
sich  die  Erschaffung  oder  Entstehung  neuer  Substanz  denken 
wollte,  so  würde  man  damit  die  Einheit  der  Zeit  aufheben. 
Denn  wir  müssten  uns  doch  den  Uebergang  jener  Substanz  aus 
dem  Nichtsein  ins  Sein  vorstellen;  einen  Uebergang  aus  dem 
einen  Zustande  in  den  andern  können  wir  aber  nur  als  Wechsel 
der  Bestimmungen  eines  Beharrlichen  erkennen;  denn  eine  vor- 
hergehende leere  Zeit  ist  nicht  wahrnehmbar.  Wir  müssten 
also  die  werdende  Substanz  mit  etwas  verbinden,  was  vorher 
war  und  bis  zu  ihrem  Entstehen  fortdauert.  Also  wäre  sie  gar 
nicht  Substanz,  sondern  nur  Bestimmung  eines  andern  Beharr- 
lichen. Würde  man  aber  diese  Bestimmung  nachträglich  doch 
als  Substanz  betrachten,  so  wäre  damit  die  Identität  des  Sub- 


2.   Erläuteruugeu  und  Folgerungen.  89 

jccts  und  damit  auch  die  durcbgäng-ig-e  Einheit  der  Zeitbestim- 
mung' zerstört;  die  Erscheinuugeu  würden  sich  alsdann  auf  zwei 
verschiedene  Zeiten  beziehen  und  ein  doppeltes  Dasein  würde 
sich  zusammenhanglos  abwickeln.  Ebenso  verhält  es  sich  mit 
dem  Vergehen  der  Substanz.  Um  es  zu  erkennen,  müssten  wir 
entweder  eine  leere  Zeit  wahrnehmen  können,  oder  die  vermeint- 
liche Substanz  würde  sich  in  blosse  Bestimmung  einer  andern 
verwandeln. 

Wir  können  also  aus  unserm  Princip  die  Folgerung  ziehen : 
In  der  Natur  gibt  es  weder  Entstehen  noch  Vergehen  von 
Substanz,  ^o^)  Es  braucht  kaum  noch  bemerkt  zu  werden,  dass, 
wo  im  Folgenden  von  einer  Mehrheit  von  Substanzen  die  Rede 
ist,  darunter  immer  die  mannigfach  bestimmten  Theile  der  ein- 
heitlichen Substanz  verstanden  werden. 

149.  Auf  Grund  dieses  Folgesatzes  kann  nun  auch  der  Be- 
griff der  Veränderung  noch  schärfer  bestimmt  werden.  Man  kann 
niemals  von  Etwas,  das  entsteht  oder  vergeht,  sagen,  dass  es 
sich  verändert ;  denn  eine  solche  Vorstellung  bezieht  sich  niemals 
auf  eine  Substanz,  kann  also  auch  nicht  Träger  der  Veränderung 
sein.  Veränderung  ist  die  Existenzform  eines  Gegenstandes, 
welche  auf  eine  andere  Existenzform  desselben  Gegenstandes  folgt. 
Was  entsteht  und  vergeht,  das  sind  diese  verschiedeneu  Existenz- 
formen des  Objects,  das,  was  sich  verändert,  ist  das  Bleibende. 
Wer  den  Begriff  der  Veränderung  verstanden  hat,  wird  die  Be- 
hauptung nicht  paradox  finden,  dass  das  Wandelbare  keine  Ver- 
änderung und  das  Veränderliche  keinen  Wechsel  erleidet. 

150.  Hier  lässt  sich  nun  auch  die  objective  Bedeutung  der 
Negation  auf  einen  andern  Ausdruck  bringen  (vgl.  §  119).  Ne- 
gationen sind  Bestimmungen,  welche  aussagen,  dass  gewisse 
Accidenzen  anderer  Substanzen  einer  gegebenen  Substanz  nicht 
anhaften. 

151.  Das  Princip  der  Beharrlichkeit  ist  von  besonderer 
Wichtigkeit  für  die  Begründung  der  formalen  Logik.  Es  bietet 
den  Schlüssel  zum  Verständniss  der  Urtheilsform  überhaupt. 

Das  Urtheil  ist  der  Ausdruck  der  bewussten  Einheit  ver- 
schiedener Vorstellungen.  Das  Urtheil  enthält  also  mindestens 
zwei  Bestandtheile,  welche  zu  einer  Einheit  verknüpft  erscheinen. 
Nun  lehrt  uns  die  Logik,  dass  jeder  dieser  Bestandtheile  einen 
eigentümlichen  Charakter  habe,   und  unterscheidet  beide  durch 


90  XI.    Das  Princip  der  Beharrung  (Substanz). 

die  Namen  Siibjeet  und  Prüdicat.  Der  erste,  das  Subjeet,  ist 
derjenige  Bestandtheil ,  welcher  dem  Bewusstsein  als  gegeben 
erscheint;  er  ist  das  Datum  der  Aufgabe,  auszusagen,  was  für 
andere  Vorstellungen  mit  einer  bestimmten  verbunden  seien.  Die 
gefundene  Vorstellung  sodann,  welche  mit  der  gegebenen  in  Be- 
ziehung gesetzt  wird,  lieisst  eben  Prädicat.  Wenn  ich  urtheile : 
Die  Rose  duftet,  so  betrachte  ich  die  Rose  als  schon  vorhan- 
dene, gegebene  Vorstellung  und  verbinde  mit  ihr  die  gefundene 
des  Duftens.  Eine  andere  Erklärung  des  Subjects  und  Prädi- 
cats  darf  ich  von  der  formalen  Logik  nicht  fordern. 

Nun  fragt  es  sich  aber,  ob  die  Gegenüberstellung  dieser  Be- 
standtheile,  auf  welchen  die  ganze  Logik  beruht,  eine  reale  Be- 
deutung habe.  Hat  die  Rose  in  der  Natur  ein  von  der  Eigen- 
schaft des  Duftens  gesondertes  Dasein,  oder  kommt  dem  Duften 
eine  von  der  Rose  unabhängige  Existenz  zu  ?  In  der  Wirklichkeit 
ist  die  Rose  etwas  Duftendes,  Blühendes,  Rotes  u.  s.  w.,  sie  ist 
die  Zusammenfassung  aller  dieser  Eigenschaften.  Aber  wo  lässt 
sich  ein  Prädicat  selbstständig  suchen  oder  wo  ist  ein  Subject 
neben  seinem  Prädicate  gegeben? 

Auf  diese  Fragen  kann  nur  die  Erkenntnisstheorie  mit  Hülfe 
ihres  Grundsatzes  antworten,  'f'^)  In  der  That  liegt  die  Spal- 
tung, welche  die  formale  Logik  fordert,  in  der  Sache  selbst; 
denn  die  Sache  kann  uns  nur  gegeben  werden,  wenn 
sie  sich  spaltet.  Die  formale  Bewegung  des  Denkens  ist  Er- 
kenntniss  der  Materie,  weil  sie  dieselbe  Bewegung  ist,  durch 
welche  unser  Bewusstsein  die  Materie  allein  erzeugen  kann.  Die 
Rose  ist  gesondert  von  ihrem  Zustande ;  denn  wir  erkennen  die 
Rose  nur  dadurch,  dass  wir  diese  Zustände  als  Zustände  von 
Etwas,  als  haftend  an  einem  Beharrlichen,  als  Bestimmungen 
der  Substanz  verknüpfen. 

Damit  ist  für  Subject  und  Prädicat  die  objective  Gültigkeit 
gesichert  und  wir  können  sie  auch  erkenntnisstheoretisch  defi- 
niren.  In  einem  Urtheil  heisst  derjenige  Bestandtheil,  der  eine 
Substanz  bezeichnet,  Subject,  und  der,  welcher  ihre  Bestimmung 
ausdrückt,  Prädicat. 

Es  geht  also  aus  dem  Prineip  der  Beharrlichkeit  hervor, 
dass  die  Urtheilsform  als  eine  Verbindung  von  Subject  und 
Prädicat  auf  den  Erfahrungsinhalt  anwendbar  ist.  Es  findet  sich 
für  beide  Functionen   der  passende  Stoff,   und   wir  haben   ein 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  91 

sicheres  Kriteriiini  für  die  Subsuintion  der  Vorstellungen  unter 
den  einen  oder  den  andern  Begriff. 

152.  Ein  Einwurf  scheint  diese  Bemerkungen  leicht  um- 
stossen  zu  können.  Im  logischen  Processe  vertauschen,  doch  die 
Begriffe  ihre  Stellen  ganz  willkürlich!  Wir  machen  dieselbe 
Vorstellung  bald  zum  Subject  und  bald  zum  Prädicat,  Wir 
sagen:  jeder  Mensch  ist  sterblich,  aber  wir  urtheilen  auch:  Jeder 
Neger  ist  ein  Mensch.  Ebenso  können  wir  die  blosse  Eigen- 
schaft der  Rose  zum  Subject  machen:  Der  Duft  der  Rose  ist 
angenehm.  Ja  nach  der  Logik  können  wir  aus  dem  obigen 
Urtheile  richtig  folgern:  Einiges  Sterbliche  ist  Mensch,  wo  also 
beide  Bestandtheile  ihre  Stellung  gewechselt  haben.  In  der 
ersten  Schlussfigur  wird  der  Begriff,  der  im  Major  Subject  ist, 
im  Minor  Prädicat.  Wo  bleibt  da  die  gerühmte  Arbeitstheilung 
der  Vorstellungen? 

Darauf  ist  zu  entgegnen,  dass  das  Princip  weder  behauptet, 
dass  dies  nicht  geschieht,  noch  dass  es  nicht  geschehen  soll, 
sondörn  nur,  dass  es  keine  unmittelbare  objective  Gültigkeit 
habe.  Urtheile,  die  eine  dem  Grundsatz  widersprechende  Dis- 
position ihrer  Bestandtheile  enthalten,  sind  nicht  Erkenntnisse 
realer  Verhältnisse  und  bedürfen,  um  einen  Sinn  zu  bekommen, 
einer  eigentümlichen  Interpretation.  Das  formale  Denken  adoptirt 
für  seine  Entwicklungen  eine  Ausdrucksweise,  welche  man  sym- 
bolische Synthese  nennen  kann.  Es  substantivirt  ein  beliebiges 
Eigenschaftswort  und  begreift  darunter  die  Existenz  des  den  ver- 
schiedensten Gegenständen  anhaftenden  Zustandes  als  ein  selbst- 
ständiges Dasein  und  setzt  dasselbe  als  Subject.  Für  diese  in 
der  Abstraction  erzeugte  Sonderexistenz  der  Eigenschaften  lässt 
sich  keine  erkenntnisstheoretische  Gültigkeit  nachweisen;  man 
kann  Eigenschaften  wohl  zum  Subject,  niemals  aber  zur  Sub- 
stanz machen.  Doch  lassen  diese  Abstracta  eine  symbolische 
Beziehung  auf  reale  Verhältnisse  zu.  Indem  ich  ein  Accidens 
zum  Subject  mache,  muss  ich  darunter,  falls  das  einen  objectiven 
Sinn  haben  soll,  die  Gesammtheit  derjenigen  Substanzen  ver- 
stehen, welche  an  jener  Eigenschaft  Antheil  haben.  Was  ich 
von  der  Röte  aussage,  prädicire  ich  von  Allem,  was  rot  ist. 
Umgekehrt  kann  ich  nach  den  Regeln  der  Logik  ein  Substan- 
tivum  mit  der  Copula  verbinden  und  zum  Prädicat  machen.  Auch 
diese  Form   bildet  mir  kein   objectives  Verhältniss  nach;    eine 


92  XI.  Das  Priiuip  der  Beharrung  (Substanz). 

Substanz  kann  niemals  Bestimmung  einer  andern  Substanz  werden. 
Allein  auch  hier  ist  eine  fruchtbare  symbolische  Definition  mög- 
lich. Wenn  ich  eine  Substanz  als  Prädicat  verwende,  so  denke  ich 
mir  dieselbe  als  Repräsentant  aller  Eigenschaften,  durch  welche 
sie  selbst  bestimmt  ist.  Wenn  ich  von  einem  Ding  aussage, 
dass  es  Mensch  sei,  so  soll  das  nur  heissen,  dass  es  alle  Eigen- 
schaften besitzt,  durch  welche  die  Substanz  Mensch  bestimmt 
wird.  Es  ist  klar,  dass  diese  symbolische  Erweiterung  der  gül- 
tigen Vorstellungsverknüpfung  dem  Denken  eine  weit  grössere 
Eleganz  und  Uebersichtlichkeit  ermöglicht. 

153.  Endlich  niuss  noch  bemerkt  werden,  dass  durch  das 
Princip  der  Beharrlichkeit  auch  jener  Grundsatz  der  Identität 
(§  29),  welcher  das  Fundament  der  ganzen  Logik  bildet,  eine 
reale  Bedeutung  erlangt.  Da  die  Natur  von  der  Constanz  unserer 
Begriffe  abhängig  geworden  ist,  so  erscheint  es  nicht  mehr  als 
ein  Postulat,  dem  die  empirische  Erfüllung  versagt  bleibt.  Wenn 
die  Logik  die  Unwandelbarkeit  ihrer  Begriffe  fordern  musste^ 
so  hat  die  Erkenntnisstheorie  in  den  Objecten  ein  beharrliches 
Substrat  entdeckt.  Die  beiden  unabhängig  gewonnenen  Resultate 
begegnen  sich.  Daraus  folgt  auch  die  reale  Bedeutung  analy- 
tischer Urtheile  und  die  Berechtigung  des  Grundsatzes  der  Iden- 
tität als  ihres  Princips.  Die  Identität  eines  Prädicats  mit  einem 
im  Subject  enthaltenen  Begriffe  stellt  die  Zugehörigkeit  eines 
Accidens  zu  einer  Substanz  dar.  Analytisches  Urtheilen  bedeutet 
fürs  Erkennen  das  Innewerden  einer  Seite  des  Resultats,  welches 
durch  die  Einigung  des  Mannigfaltigen  in  dem  Begriff  einer  Sub- 
stanz bei  der  Erzeugung  des  Objectes  erhalten  wurde.  Analysis, 
als  objectives  Urtheilen,  ist  nicht  das  Gegentheil  der  Synthese, 
sondern  vielmehr  eine  partielle  Wiederholung  derselben  unter 
Voraussetzung  ihres  Gesammtergebnisses.  Das  letztere  wird  durch 
den  Inhalt  des  Subjectsbegriffs  repräsentirt;  die  Identität  des 
Prädicats  entsteht,  indem  es,  als  in  jener  ersten  Synthesis  ent- 
haltenes Accidens,  auf  dieselbe  Substanz  bezogen  wird. 

In  gleicher  Weise  ergibt  sich  auch  für  die  beiden  andern 
Voraussetzungen  der  formalen  Logik,  die  einer  Deduction  be- 
dürfen, dass  ihre  realen  Wurzeln  im  Princip  der  Beharrlichkeit 
enthalten  sind.  So  können  wir  jetzt  den  Satz,  welchen  wir  er- 
weitertes dictum  de  omni  et  nullo  genannt  haben  (§  18),  material 
erklären.    Es  findet  die  reale  Beziehung  statt,  dass,  was  mit 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  93 

einer  Mehrheit  von  Substanzen  verbunden  wird,  auch  mit  der 
einzelnen  verbunden  wird;  denn  eine  Mehrheit  von  Substanzen 
ist  ja  nur  eine  Summe  von  Theilen  der  einheitlichen  Substanz. 
Das  für  die  formale  Function  geltende  Gesetz  findet  eine  Ver- 
wirklichung in  der  Natur,  weil  wir  die  Substanzen  in  gleicher 
Weise  zusammensetzen  und  als  Theile  eines  Ganzen  betrachten 
können,  wie  unsere  Vorstellungen.  —  Ebenso  erkennen  wir  nun 
das  objective  Verhältniss,  das  der  Satz  des  Widerspruchs  dar- 
stellt (§  31).  Zwei  contradictorisch  entgegengesetzte  Urtheile 
würden  bedeuten,  dass  ein  Accideus  der  betreffenden  Substanz 
nicht  angehört.  Ich  würde  in  ihnen  eine  Einheit  aussprechen 
und  die  Bedingung  der  Möglichkeit  dieser  Einheit  aufheben. 

154.  Der  allgemeinen  Naturwissenschaft  liefert  das  Princip 
der  Beharrlichkeit  eine  ihrer  wichtigsten  Grundeinsichten.  Das 
Bedürfniss  der  empirischen  Forschung  nach  einem  solchen  Satze 
machte  sich  lange  geltend,  bevor  man  ihn  beweisen  konnte.  Vor 
Kant  legte  man  ihn  als  uuwidersprechlich  zu  Grunde,  ohne  ihn 
zu  deduciren,  ja  ohne  einen  Beweis  auch  nur  zu  versuchen. 
Die  alten  Glaubensformeln  gigni  de  nihilo  nihil,  in  nihilum 
nil  posse  reverti,  legen  Zeugniss  ab  von  seiner  Wirksamkeit. 

Nun  aber  erkenntnisstheoretisch  bewiesen  ist,  dass  Sub- 
stanzen weder  entstehen  noch  vergehen  können,  so  handelt  es 
sich  bloss  darum,  den  Punkt  aufzuzeigen,  wo  dieses  Ergebniss 
mit  dem  der  Naturforschung  in  wissenschaftlichen  Zusammen- 
hang tritt.  Es  muss  gezeigt  werden,  was  Substanz  in  der  Natur- 
wissenschaft bedeute. 

Die  Mechanik  sieht  sich  in  ihren  allgemeinen  Betrachtungen 
über  die  Materie  veranlasst,  in  jeder  Materie  das  Bewegliche  im 
Baume  als  letztes  Subject  aller  ihr  anhaftenden  Bestimmungen  an- 
zunehmen. Nun  gibt  es  in  der  Natur  nichts ,  was  unter  den  Be- 
griff eines  letzten  Subjects  subsumirt  werden  könnte,  als  die 
Substanz.  In  der  Naturwissenschaft  ist  also  Substanz  das  Be- 
wegliche im  Räume.  Die  Grösse  dieses  Beweglichen  kann  nun 
bloss  eine  extensive,  die  Menge  ausserhalb  einander  befindlicher 
gleichartiger  Theile  sein;  denn  der  Begriff  des  letzten  Subjects 
im  Baume  lässt  keine  andere  Bestimmung  zu  ausser  dem  blossen 
Dasein  im  Räume.  Also  ist  die  Grösse  der  Materie,  ihrem  letzten 
Subjecte  nach,  nichts  Anderes  als  die  Menge  substantieller  Theile, 


94  XI.    Das  rriiirip  der  BehaiTuiig  (Substanz). 

aus  welchen  sie  besteht.  Die  Grösse  der  Materie  könnte  also 
nur  dadurch  vermehrt  oder  vermindert  werden,  dass  neue  Sub- 
stanz entsteht  oder  vergeht.  Nun  kann  nach  der  reinen  Er- 
keuntnisstheorie  bei  allem  Wechsel  der  Bestimmungen  die  Sub- 
stanz weder  entstehen  noch  vergehen.  Also  kann  auch  die 
Quantität  der  Materie  als  Ganzes  nicht  vermehrt  oder  vermindert 
werden,  wenn  auch  eine  bestimmte,  abgegrenzte  Materie  durch 
HinzufUgung  oder  Abtrennung  von  Theilen  sich  quantitativ  ver- 
ändern kann.  Materie  als  Ganzes  muss  als  ewig  gedacht 
werden.  '*") 

So  wird  ein  Satz,  den  die  Mechanik  sonst  als  Axiom  auf- 
nehmen müsste,  durch  die  Beziehung  auf  das  allgemeine  Princip 
der  Beharrlichkeit  zum  scharf  deducirten  Lehrsatz. 

155.  Eine  nicht  zu  unterschätzende  Leistung  unseres  Priu- 
cips  ist  ferner,  dass  es  als  sichere  "Waffe  selbst  gegen  die  ge- 
fährlichsten skeptischen  Angriffe  dient.  Der  verhältnissmässig 
bedeutsamste  Einwurf,  den  der  kritische  Idealismus  immer  noch 
zu  ertragen  hat,  ist  der,  dass  er  schliesslich  doch  nicht  aus- 
machen könne,  ob  dem  Ich  etwas  Aeusseres  correspoudire  oder 
nicht.  Was  ich  unmittelbar  ins  Bewusstsein  aufnehme,  seien 
immer  nur  meine  Vorstellungen  äusserer  Dinge;  auf  ein  wirk- 
liches Aeussere  werde  nur  geschlossen ;  immer  bleibe  es  also 
unerweislich,  folglich  zum  mindesten  zweifelhaft,  ob  dasselbe 
mehr  als  blosse  Einbildung  sei.  Nun  ergibt  sich  aber  aus  dem 
Princip  der  Beharrlichkeit,  dass,  wenn  ich  mir  meines  Daseins 
in  der  Zeit  bewusst  werde,  ich  mir  damit  auch  des  Daseins  der 
Dinge  ausser  mir  notwendig  bewusst  werde.  Denn  das  Bewusst- 
sein meiner  zeitlichen  Existenz  ist  doch  mit  dem  Bewusstsein 
der  Möglichkeit,  dieselbe  wahrzunehmen,  notwendig  verbunden. 
Diese  Möglichkeit  beruht  aber  auf  der  Substanz  und  die  Sub- 
stanz auf  einem  Dasein  im  Räume ;  also  ist  mit  dem  Bewusstsein 
meiner  selbst  das  Bewusstsein  von  Gegenständen  ausser  mir 
notwendig  verbunden.  Wenn  es  also  Einbildung  ist,  dass  äussere 
Dinge  existiren,  dann  ist  es  auch  Einbildung,  dass  ich  selbst  in 
der  Zeit  vorhanden  bin;  denn  ohne  Substanz  kann  ich  wohl 
einzelne  Vorstellungen,  niemals  aber  eine  in  der  Zeit  zusammen- 
hängende Bestimmung  meines  Ich,  d.  h.  Erfahrung,  gewinnen. 
Die  Realität  des  räumlichen  Daseins  beruht  also  auf  der  Realität 
der  Erfahrung  selbst.     Das  ist  aber  der  stärkste  Fels,   auf  den 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  95 

wir  sie  erbauen  können;  diese  Realität  wird  dadurch  geradezu 
unerschütterlich. 

Da  es  also  in  der  Entwicklung  des  Bewusstseins  keine  Stufe 
gibt,  auf  welcher  wir  uns  von  der  Vorstellung  des  Aussen  eman- 
cipiren  und  sie  als  blossen  in  uns  lebenden  Schein  erkennen 
können,  so  dürfen  wir  uns  beim  kritischen  Idealismus  vollständig 
beruhigen.  Ob  es  vielleicht  irgendwo  höhere  Intelligenzen  gebe 
mit  der  Einsicht,  dass  die  menschliche  Wahrnehmung  im  Räume 
Illusion  sei,  ist  eine  mystische  Speculation  ohne  philosophischen 
Wert.  Der  Wunsch  nach  einer  solchen  Einsicht  kommt  dem 
kindischen  Verlangen  gleich,  etwas  Anderes  als  Mensch  zu  sein. 
Für  uns,  die  wir  es  bleiben  wollen,  genügt  das  Bewusstsein, 
dass  wir  die  räumliche  Wirklichkeit  niemals  verlieren  werden. 
Was  uns  in  keiner  Erfahrung  gegeben  werden  kann,  ist  für  uns 
nichts.  '"^)  Durch  diesen  Gedanken  wird  der  kritische  Idealismus 
für  die  Skepsis  unangreifbar,  'ou)  Etwas  ganz  Verschiedenes  und 
Berechtigtes  ist  natürlich  die  Aufgabe,  die  Wahn-  und  Traum- 
vorstellungen von  den  Vorstellungen  der  realen  Räumlichkeit  zu 
unterscheiden.  Das  hat  aber  mit  dem  Grundsätze  des  Idealismus 
nichts  zu  schaffen;  denn  da  wird  die  Wirklichkeit  der  äussern 
Erfahrung  immer  schon  vorausgesetzt.  Die  bloss  subjectiven 
Wahrnehmungen  sind  Reproductionen  ehemaliger  äusserer  Wahr- 
nehmungen und  diese  beruhen  dann  aber  auf  der  Wirklichkeit 
äusserer  Gegenstände.  Das  Kriterium,  nach  welchem  entschieden 
wird,  ob  diese  oder  jene  bestimmte  Wahrnehmung  wirklich  Er- 
fahrung, oder  blosse  Einbildung  sei,  kann  nur  aus  dem  empi- 
rischen Zusammenhange  der  Vorstellungen  gewonnen  werden. 

156.  Es  ist  das  Schicksal  der  kritischen  Erkenntnisstheorie, 
dass  sie  die  Fata  Morgana  des  Dings  an  sich  auf  jeder  Stufe 
ihres  Fortschrittes  von  Neuem  erblickt.  Allein  es  wird  ihr  auch 
fortwährend  leichter  den  Schein  zu  zerstören.  So  lange  wir  uns 
vor  Augen  halten,  dass  die  Substanz  nur  eine  Bedingung  der 
zeitlichen  Wahrnehmung  ist,  können  wir  allerdings  kaum  ver- 
gessen, dass  sie  mitten  in  der  sinnlichen  Anschauung  liegt.  Aber 
in  dem  fertigen  Begriff,  der  ein  selbstständiger  Besitz  unseres 
Bewusstseins  geworden  ist,  liegt  keine  Erinnerung  an  diesen  Ur- 
sprung. Es  scheint  uns  vielmehr,  dass  wir  gerade  hier  jenen  Rück- 
stand des  Objects,  der  uns  entschwand  (vgl.  §  64 — 66,  §  81—83), 
wiedergefunden   haben.      Deckt   sich   die  Substanz   nicht  genau 


96  XII.    Das  Princip  der  Succession  (Causalität). 

mit  dem  Etwas,  von  dem  wir  die  versebiedeneu  Eigenscliafteu 
des  Dings  ablösten  ?  Und  ist  sie  nicbt,  da  sie  selbst  keine  sinn- 
liche Bestimmung  ist,  von  unserni  Erkennen  gänzlich  unabhän- 
gig V  Diese  Meinung  wird  noch  verstärkt  durch  den  Sprach- 
gebrauch, w^elcher  die  Bestimmungen  der  Substanz  gesondert 
betrachtet  und  ihr  Dasein,  als  ob  es  selbststäudig  wäre,  Inhärenz 
nennt;  dem  setzt  er  dann  ein  anscheinend  unabhängiges  Dasein 
der  Substanz  in  dem  Namen  Subsistenz  entgegen.  '^■)  Wir  wollen 
nun  zugeben,  die  Subsistenz  könne  mit  dem  Ding  an  sich  zu- 
sammenfallen (was  wegen  der  disparateu  Natur  beider  Begriffe 
unsinnig  ist),  und  einfach  fragen:  Was  wäre  denn  damit  für 
eine  Erkenntniss  gewonnen?  Die  Substanz  ist  nichts  als  eine 
Art,  die  empirischen  Data  im  Bewusstsein  zu  ordnen;  was  wir 
von  der  Substanz  Positives  wissen,  heisst  Accidens.  Accidenzen 
aber  werden  uns  allein  durch  die  Empfindung  gegeben.  Somit 
kann  von  einem  Erkennen  der  Substanz  unabhängig  von  der 
Anschauungsweise  des  Subjects  nicht  die  Rede  sein.  Isolirt 
gedacht,  ist  die  Substanz  kein  Gegenstand  der  Erfahrung,  son- 
dern ein  gänzlich  leerer  Begriff  von  einem  Gegenstande  über- 
haupt, gleich  unbestimmt  und  imbestimmbar,  wie  er  uns  früher 
begegnet  ist.  i""^) 


\1I.    Das  Princip  der  Succession 

(Causalität). 
1.    Achter  Grundsatz. 

157.  Nachdem  die  allgemeine  Bedingung  gefunden  ist,  unter 
der  die  Zeit  als  Einheit  erkennbar  wird,  können  wir  nun  die 
Regeln  aufsuchen,  welche  die  Erkenntniss  der  beiden  Zeitver- 
hältnisse ermöglichen. 

Der  erste  Modus  der  Zeit  ist  die  Folge.  Zunächst  sind  wir 
nun  durch  das  vorige  Princip  in  den  Stand  gesetzt,  den  Begriff 
der  Succession  genauer  zu  bestimmen.  So  viel  wissen  wir  sicher, 
dass  wenn  wir  hoffen  wollen,  eine  in  der  Erfahrung  gegebene 
Folge   zu  beurtheilen,    dies  niemals   eine   Succession  von  Sub- 


1.   Achter  Grundsatz.  97 

stanzen  sein  kann.  Aller  We(;hsel  ist  nur  Veränderung,  das  lehrt 
der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit.  Der  Gegenstand  selbst  geht  in 
dem  Flusse  der  Wahrnehmungen  nicht  unter;  nur  seine  Eigen- 
schaften fangen  an  und  hören  auf.  "Was  sich  folgen  kann,  ist 
blosse  Bestimmung. 

Unter  Succession  verstehen  wir  also  das  zusammenhängende 
Sein  und  Nichtsein  der  Bestimmungen  einer  Substanz. 

Somit  nehme  ich  eine  Folge  wahr,  indem  ich  zuerst  einen 
Zustand  a  wahrnehme  und  hierauf  einen  Zustand  b,  und  beide 
auf  dieselbe  Substanz  beziehe.  Diese  Verknüpfung  in  dem  Be- 
griffe der  Substanz  geschieht  psychologisch  durch  denjenigen  Pro- 
cess,  den  wir  mit  dem  Namen  Einbildimgskraft  bezeichnen.  Durch 
die  Einbildungskraft  werden  Vorstellungen,  auch  nachdem  das 
sie  erzeugende  äussere  Datum  verschwunden  ist,  im  Bewusstsein 
festgehalten  und  mit  unmittelbaren  oder  anderen  reproducirten 
verbunden.  Eine  solche  Verbindung  kann  nur  unter  Erzeugung  der 
Zeitvorstellung  in  unser  Bewusstsein  eintreten;  sie  erfüllt  einen 
Theil,  repräsentirt  eine  besondere  Einschränkung  der  Einheits- 
Anschauung  der  Zeit.  Jedes  solche  Product  der  Einbildungs- 
kraft stellt  also  eine  Bestimmung  unseres  Bewusstseins  hinsicht- 
lich des  Zeitverhältnisses  dar. 

158.  Nun  sind  in  jedem  einzelnen  Falle  zwei  Arten  der 
Verbindung  möglich.  Von  zwei  Zuständen  kann  entweder  der 
eine  oder  der  andere  in  der  Zeit  vorausgehen ;  es  kann  die  Zeit- 
folge ab  oder  die  Zeitfolge  ba  erzeugt  werden.  Nun  findet  die 
für  die  Zeiteinheit  unerlässliche  Beziehung  auf  die  Substanz  nur 
statt,  wenn  ich  sagen  kann,  entweder:  die  Substanz,  die  a  war, 
ist  b,  oder :  die  Substanz ,  die  b  war,  ist  a.  Und  zwar  so ,  dass 
ich  nicht  im  Zweifel  bin,  welches  der  beiden  Urtheile  im  ge- 
gebenen Falle  für  die  Substanz  gilt.  Mein  Urtheil  muss  notwen- 
dig sein;  denn  eine  Zeitfolge  kann  mir  unmöglich  als  Bestim- 
mung eines  Beharrlichen  im  Raum  erscheinen,  wenn  es  in  meinem 
Belieben  steht,  sie  in  der  einen  oder  in  der  entgegengesetzten 
Richtung  zu  verknüpfen.  Allein  wo  soll  ich  eine  solche  Not- 
wendigkeit für  mein  Urtheil  hernehmen?  Ich  kann  ja  die  Suc- 
cession nicht  von  meinem  beharrlichen  Object  gleichsam  ablesen ; 
denn  die  Zeit  ist  ja  nur  die  Form,  nach  welcher  die  Empfin- 
dungen in  meinem  Innern  geordnet  werden.  In  einer  Succes- 
sion werde  ich  mir  unmittelbar  bloss   einer  zeitlich  bestimmten 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  ' 


98  XII.   r>as  Princip  der  Succession  (Causalität). 

Fimctiou  meiner  Einbildungskralt  ^bewusst.  Die  Zeitfolgen  ab 
und  b  a  sind  für  mich  nichts  weiter  als  Andeutungen  zweier  ver- 
schiedener psychischer  Vorgänge,  und  es  fliesst  daraus  kein 
Recht,  die  eine  oder  die  andere  als  Bestimmung  meines  sub- 
stantiellen Objects  zu  betrachten.  Wenn  mir  die  Vorderseite 
und  dann  die  Rückseite  eines  Hauses  erscheint,  oder  wenn  ich 
den  Blitz  sehe  und  hierauf  den  Donner  höre,  so  kann  ich  zu- 
nächst nur  sagen,  dass  diese  meine  Wahrnehmungen,  nicht  aber, 
dass  die  Theile  des  Hauses  oder  dass  Blitz  und  Donner  aufein- 
anderfolgen. Ich  erkenne  Modificationen  meines  Innern,  nicht 
Veränderungen  der  Natur,  und  der  Anspruch,  dass  mein  Urtheil 
auch  einem  andern  Bewusstsein  als  notwendig  erscheine,  ist  un- 
begründet. Ohne  eine  weitere  Bedingung  wäre  ich  in  Bezug  auf 
das  Erkennen  des  Zeitverhältnisses  dem  Spiele  meiner  Vorstel- 
lungen preisgegeben.  Da  die  Folge  ja  allen  meinen  Wahrneh- 
mungen gemein  und  allerwärts  dieselbe  ist,  so  könnte  ich  nicht 
einmal  bestimmen,  dass  diese  Substanz  sich  von  jener  durch  die 
Aufeinanderfolge  ihrer  Accideuzen  unterscheidet. 

159.  Wenn  also  die  Notwendigkeit  nicht  unmittelbar  in  den 
Bestimmungen  der  Substanz  gegeben  wird,  so  kann  sie  nur  in 
unserem  Bewusstsein  erzeugt  werden.  Wie  auf  der  früheren,  so 
wird  Erfahrung  auch  auf  dieser  Stufe  nur  dadurch  möglich  sein, 
dass  sich  die  Willkür  der  Synthese  durch  ein  Gesetz  beschränkt. 
Wir  stehen  wieder  vor  dem  alten  Schauspiel,  das  sich  immer 
darbietet  1"''),  wo  aus  der  wechselnden  Reihe  unserer  Vorstel- 
lungen etwas  Objectives  herausgehoben  werden  soll.  Wir  müssen 
eine  Regel  als  Bedingung  der  Einheitsfunction  entdecken.  So- 
bald irgend  eine  Verknüpfungsweise  des  mannigfaltigen  Inhalts  für 
notwendig  erklärt  wird,  tritt  das  Ding  als  unterschiedenes  Object 
in  ein  „Gegenverhältniss"  i^^')  zu  den  subjectiven  Bewusstseins- 
zuständen,  obwohl  es  nichts  weiter  als  ihr  Inbegriff  ist.    (§  73.) 

11)0.  Doch  haben  wir  hier  einen  günstigem  Fall  als  je  zu- 
vor. Das  räumliche  Object  unserer  Erkeuntniss  ist  bereits  pro- 
ducirt,  wir  brauchen  es  bloss  zu  bestimmen.  Der  Begrift'  der 
Substanz  würde  uns  allerdings  völlig  wertlos  sein,  wenn  wir 
keine  objectiveu  Eigenschaften  an  ihr  erkennen  könnten.  Das 
gewonnene  Object  wird  erst  dann  eine  reale  Bedeutung  für  uns 
haben,  wenn  wir  ihm  auch  die  Succession  seiner  Qualitäten  an- 
heften können. 


l.   Achter  Grundsatz.  99 

Daraus  ergibt  sich  nun  der  Inhalt  für  einen  neuen  Grund- 
satz. Die  Einheitsfunction,  durch  welche  der  Gegenstand  erzeugt 
wird,  muss  sich  mit  dem  Bewusstseiu  verbinden,  dass  die  Zeit- 
folge der  Verknüpfung  so  und  nicht  anders  habe  stattfinden 
können.  Das  Verhältniss  zweier  Wahrnehmungseindrücke  zu  einer 
Substanz  muss  so  gedacht  werden,  „  dass  dadurch  als  notwendig 
bestimmt  wird,  welcher  derselben  vorher,  welcher  nachher,  und 
nicht  umgekehrt  müsse  gesetzt  werden. " ' '  ^)  Sobald  ich  mir  bei 
einer  Succession  ab  bewusst  werde,  dass  b  nach  einer  Regel 
auf  a  folgt,  und  a  erscheint  als  Accidens  meiner  Substanz,  so 
ist  auch  die  Folge  ab  als  Bestimmung  an  die  Substanz  gebun- 
den. Diese  Verknüpfung  wird  dadurch  aus  der  Reihe  meiner 
subjectiven  Successionen  herausgehoben  und  die  Einbildungskraft 
stellt  sich  als  durch  den  Zusammenhang  der  Zustände  bestimmt 
dar.  Diese  Regel  der  Zusammengehörigkeit  liefert  uns  die  objec- 
tive  Folge  an  der  Substanz,  von  welcher  wir  die  subjective  Folge 
der  Erscheinungen  ableiten  können. 

161.  Wir  müssen  also  den  Satz  aufstellen:  Falls  ab  die 
Veränderung  einer  Substanz  sein  soll  (und  das  muss  alle  objee- 
tive  Succession  jedenfalls  sein),  so  muss  b  nach  einem  Gesetze 
auf  a  folgen.  Das  heisst:  Es  muss  sich  in  jedem  a  eine  Be- 
dingung aufzeigen  lassen,  unter  welcher  b  sich  jederzeit  mit  ihm 
verbindet. 

Veränderung  oder  objective  Succession  nennt  man  Ereigniss, 
Begebenheit,  Geschehen.  Wir  können  also  sagen:  Alle  Verände- 
rung geschieht  auf  Grund  einer  Bedingung  der  Zusammenge- 
hörigkeit der  aufeinanderfolgenden  Zustände. 

162.  Auch  dieser  Grundsatz  enthält  nur  eine  Analogie  mit 
den  Verhältnissen  der  reinen  Anschauung.  Die  Zeitorduung  ist 
die  Reihe.  In  der  unendlichen  Zeitreihe  ist  jeder  Punkt  ge- 
setzmässig  mit  einem  andern  verbunden.  Jeder  Punkt  enthält 
als  Theil  des  Ganzen  die  Bedingung,  unter  welcher  der  Nach- 
barpunkt allein  erzeugt  werden  kann.  Die  Existenz  einer  be- 
stimmten Stelle  ist  nur  möglich,  wenn  die  bestimmte  andere  da 
war,  und  führt  selbst  unausbleiblich  zum  Dasein  der  dritten. 
Ein  ähnliches  Verhältniss  fordert  der  neue  Grundsatz  vom  Dasein 
der  Accidenzen.  Es  soll  „eine  Reihe  der  Erscheinungen"  ent- 
stehen, deren  einzelne  Stellen  sich  gegenseitig  in  analoger  Weise 
bestimmen  wie  ein  Punkt  der  Zeitreihe  den  andern.     Die  reale 


100  XII.    Das  Princip  der  Succession  (Causalität). 

Erfüllung  eines  Zeitmomentes  erhält  eine  „Beziehung"  auf  die 
Erfüllung  des  vorhergehenden;  wie  jeder  Moment  auf  seinen 
Nachbarn,  so  weist  sein  Inhalt  auf  den  Inhalt  des  letzteren 
als  sein  „Correlatum".  So  wird  es  möglich,  dass  Naturbegeben- 
heiten und  subjective  Zeit  in  ihrer  Ordnung  gleichwertig  sind, 
mit  einander  „übereinkommen".  So  werden  Form  und  Inhalt 
durch  ein  neues  Band  geeinigt.  Wie  früher  die  Beharrlichkeit 
erscheint  jetzt  die  Zeitordnung  auf  die  Gegenstände  und  deren 
Dasein  „übertragen"."'^) 

163.  Den  Begriff  einer  realen  Bedingung,  auf  deren  Ein- 
treten jederzeit  etwas  Anderes  folgt,  nennt  der  Sprachgebrauch 
Ursache,  das  Erfolgende  selbst  Wirkung.  Mit  Benutzung 
dieser  Termini  können  wir  unseren  Grundsatz  formuliren: 

Alle  Veränderungen  geschehen  nach  dem  Gesetze  der  Einheit 
von  Ursache  und  Wirkung. 

Nach  dieser  Fassung  heisst  dieses  Princip  gewöhnlich  Cau- 
salitätsgesetz.  Dabei  muss  man  sich  allerdings  eutschliesseu,  den 
letzten  Rest  von  anthropomorphen  Vorstellungen  wegzuwerfen,  der 
mit  diesem  Worte  verbunden  zu  werden  pflegt.  Bei  Kant  be- 
deutet Causalität  nichts  als  der  reale  Nexus,  der  eine  Erschei- 
nung an  eine  andere  heftet.  Jede  andere  Veranschaulichung 
dieses  Zusammenhangs,  in  welcher  gewöhnlich  die  Analogie  mit 
dem  menschlichen  Handeln  zu  finden  ist,  muss  als  mystischer 
Zusatz  von  der  Wissenschaft  verworfen  werden.  "3) 

1(34.  Damit  ist  ein  neues  Urtheil  von  allgemeiner  Geltung  und 
ursprünglicher  Notwendigkeit  gewonnen.  Es  bedarf  weder  einer 
Bestätigung  durch  Erfahrung,  noch  kann  es  empirisch  widerlegt 
werden;  denn  überall,  wo  eine  Erfahrung  gegeben  ist,  da  wissen 
wir  auch,  dass  das  Causalgesetz  wirksam  war.  Da  die  Gegen- 
stände, ohne  sich  ihm  zu  fügen,  gar  nicht  erscheinen  können, 
so  ist  jedes  Object  durch  sein  blosses  Vorhandensein  schon  ein 
Beweis  seiner  Wirkung.  Wo  immer  wir  erfahren,  dass  etwas 
geschieht,  da  nehmen  wir  stets  an ,  dass  etwas  vorausgieng ,  wor- 
auf es  folgen  musste;  jede  Begebenheit  beziehen  wir  von 
vorneherein  auf  eine  Bedingung,  durch  welche  sie  bestimmt 
wurde. 


2.   Folgerungen  und  Erläuterungen.  101 

2.    Folgerungen  und  Erläuterungen. 

165.  Es  ist  unmittelbar  ein  gefährliches  Missverständniss  des 
CausalgesetzeS  abzuwehren.  Man  wirft  ein,  es  gebe  eine  Reihe 
von  Successionen,  an  deren  objeetiver  Geltung  nicht  der  leiseste 
Zweifel  herrsche  und  die  wir  doch  weit  entfernt  seien,  nach  dem 
Princip  von  Ursache  und  Wirkung  aufzufassen.  Man  weist  auf 
die  Folge  von  Tag  und  Nacht,  auf  die  Reihe  der  musikalischen 
Töne  und  Aehnliches  hin.  Ob  die  Nacht  die  Wirkung  des  Tages, 
der  Ton  c  die  Ursache  des  Tones  d  sei?  Der  Einwand  beruht 
auf  der  allerdings  erschreckend  oberflächlichen  Ansicht,  dass  man 
nur-  zwei  in  das  Causalgesetz  eingehende  Glieder  zu  unterscheiden 
habe.  Diese  Auffassung  liefert  für  das  Causalgesetz  die  schöne 
Interpretation,  dass  die  Veränderung  einer  Substanz  von  dem 
Zustande  A  in  den  Zustand  B  nur  geschehen  könne,  insofern  A 
die  Ursache  von  B  sei! 

Nach  der  obigen  Deduction  können  wir  die  Zurechtweisung 
kurz  fassen.  In  der  Causalität  sind  drei  Glieder  zu  unterschei- 
den: 1)  der  Zustand  A  der  Substanz,  2)  der  auf  ihn  folgende 
Zustand  B  derselben,  3)  die  Ursache  U,  welche  die  Bedingung 
darstellt,  dass  B  notwendig  auf  A  folgt.  Somit  heisst  das  voll- 
ständig explicirte  Causalgesetz:  Jede  Veränderung  AB  geschieht 
auf  Grund  einer  Ursache  U,  welche  sie  notwendig  macht.  Die 
Folge  AB  erscheint  meinem  Bewusstsein  dadurch  als  objectiv, 
dass  sie  der  Gleichung  genügt: 

(A  B)  =  Wirkung  von  U. 

Nicht  der  Zustand  B,  sondern  der  Uebergang  (AB)  ist  das 
causal  bedingte  Ereigniss.  Jedesmal  wenn  A  unter  der  Bedingung 
U  steht,  folgt  B  auf  A. 

Diese  Erörterung  des  Begriffs  der  Begebenheit  geht  in  keinem 
Punkte  über  Kant's  eigene  Darstellung  hinaus.  Uebrigens  ver- 
dient die  Sache  auf  das  Genaueste  belegt  zu  werden.  Man  achte 
zunächst  auf  die  Formel  der  ersten  Ausgabe:  „Alles,  was  ge- 
schieht (anhebt  zu  sein) ,  setzt  etwas  voraus ,  worauf  es  nach 
einer  Regel  folgt."  i^^)  Hier  sind  A,  B  und  die  Regel,  deren 
Bedingung  U  ist,  nacheinander  aufgezählt.  Kant  sagt  nämlich 
ausdrücklich:  es  „muss  in  dem,  was  überhaupt  vor  einer  Be- 
gebenheit vorhergeht,  die  Bedingung  zu  einer  Regel  lie- 
gen. "'^^)    Diese  Bedingung  zu  einer  Regel  ist  der  exacte  Be- 


102  -^ll-   r»as  Princip  der  Succession  (Causalität). 

griif  der  Ursache  U.  Ferner :  Es  geschieht  „  immer  in  Rücksicht 
auf  eine  Regel "  (also  auch  auf  ihre  Bedingung  U),  „  nach  welcher 
die  Erscheinungen"  (A  und  B)  „in  ihrer  Folge"  (AB)  „durch 
den  vorigen  Zustand"  (A)  „bestimmt  sind  u.  s.  w. "i"')  Nicht 
minder  instructiv  ist  die  Stelle :  „  Wenn  ich  also  wahrnehme,  dass 
etwas  geschieht"  (der  Ucbergang  in  B),  „so  ist  in  dieser  Vor- 
stellung erstlich  enthalten,  dass  etwas  vorhergehe"  (A)  .... 
„  Aber  ihre  bestimmte  Zeitstelle  in  diesem  Verhältnisse  kann  sie 
nur  dadurch  bekommen,  dass  im  vorhergehenden  Zustande  etwas 
vorausgesetzt  wird"  (U).  i>")  Ausserdem  füge  ich  hinzu,  dass 
weiterhin  „die  Succession  der  Zustände"  ausdrücklich  als  „das 
Geschehene"  bezeichnet  wird.  ^1*^1  Schliesslich  wolle  man  be- 
merken ,  dass  Kant  auch  in  allen  Beispielen ,  die  er  gibt ,  das 
Vorhandensein  der  drei  Glieder  deutlich  macht.  „  Ich  sehe  z.  B. 
ein  Schiff  den  Strom  hinabtreiben  (U).  Meine  Wahraehmung 
seiner  Stelle  unterhalb  (B)  folgt  auf  die  Wahrnehmung  der  Stelle 
desselben  oberhalb  (A). "^i-')  „Wenn  ich  die  Kugel  auf  das 
Kissen  lege  (U),  so  folgt  auf  die  vorige  glatte  Gestalt  des- 
selben (A)  das  Grübchen  (B)."  „Das  Glas  ist  die  Ursache  von 
dem  Steigen  des  Wassers  (AB)  über  seine  Horizontalfläche."'-") 

Es  steht  also  jedenfalls  fest,  dass  bei  der  Causalität  drei 
verschiedene  Glieder  in  Betracht  zu  ziehen  sind. '-')  Nun  bleibt 
aber  die  Frage  übrig,  was  denn  eigentlich  das  U  für  eine  Stel- 
hmg  in  der  Wirklichkeit  einnehme.  A  und  B  sind  die  Zustände 
der  Substanz.  Was  bedeutet  die  Ursache'?  Wo  haben  wir  U  zu 
suchen? 

166.  Ueber  die  Beschaffenheit  des  U  können  wir  eine  ein- 
zige unmittelbare  Aussage  machen.  Wir  kiJnuen  die  Zeitstelle 
von  U  bestimmen.  Wir  wissen  sicher,  dass  U  in  dem  Zeit- 
moment, welcher  dem  Anfangspunkte  der  Veränderung  vorher- 
geht, vorhanden  sein  muss.  Nachher  kann  es  nicht  erst  an- 
langen, denn  die  Verändenmg  kann  ja  erst  zu  Stande  kommen, 
wenn  es  da  ist;  vorher  aber  kann  es  nicht  gegeben  sein,  denn 
sonst  hätte  auch  die  Veränderung  schon  früher  begonnen.  U 
liegt  also  in  dem  Zeitpunkte,  wo  A  aufhört  und  B  anfängt. 

Dieser  Zeitmoment  ist  erfüllt  von  der  ganzen  Breite  des 
räumlichen  Geschehens;  von  Allem,  was  sich  im  Räume  verän- 
dert, bezeichnet  er  einen  Durchgangspunkt.  Durch  die  Fixirung 
ihrer  Zeitstelle  ist  also  nichts  über  das  räumliche   Verhältniss 


2.   Folgerungen  und  Erläuterungen.  103 

der  Ursache  mitbestimmt.  Nun  fragt  es  sieh,  ob  wir  nicht  auch 
darüber  Etwas  ausmachen  können,  ohne  die  Erfahrung  zu  be- 
fragen. Vielleicht  gestattet  uns  der  Begriff  der  Ursache  einen 
sicheren  Schluss  auf  diese  Art  ihrer  Existenz.  Da  wir  alles 
objective  Dasein  nur  als  Bestimmung  eines  Beharrlichen  wahr- 
nehmen können,  so  folgt,  dass  unsere  Ursache  jedenfalls  au  einer 
Substanz  gesucht  werden  muss.  Wir  dürfen  somit  das  U  ge- 
nauer charakterisiren  als  die  im  Zeitpunkte  des  Uebergangs  A  B 
vorhandene  Bestimmung  irgend  einer  Substanz.  Nun  ist  a  priori 
überhaupt  nur  noch  Eine  weitere  Frage  zu  stellen,  nämlich  die, 
ob  ein  erkenntnisstheoretischer  Grund  vorhanden  sei,  dass  U  der 
Substanz  S,  welche  sich  verändert,  selbst,  oder  aber  einer  von 
ihr  verschiedenen  Substanz  S'  zukommen  müsse.  Im  ersten 
Falle  wäre  die  Ursache  eine  innere,  im  letzten  eine  äussere  zu 
nennen. 

Die  Frage  ist  in  der  reinen  Erkenntnisstheorie  nicht  zu  ent- 
scheiden. ^--)  Für  die  Möglichkeit  der  Zeitbestimmung  reicht 
es  hin,  überhaupt  eine  Ursache  anzunehmen;  sie  ist  denkbar, 
wenn  die  Ursache  im  Object  selbst  und  wenn  sie  ausserhalb 
desselben  liegt.  Unsere  Reflexion  kann  hier  nur  durch  empirische 
Rücksichten  bestimmt  werden.  Ueberhaupt  können  wir  uns  ja 
im  blossen  Denken  von  der  Möglichkeit  der  Veränderung  nicht 
die  mindeste  Vorstellung  machen;  wir  vermögen  wohl  ihre  con- 
ditio sine  qua  non  zu  entdecken,  aber  sie  selbst  wird  uns  nur 
begreiflich ,  wenn  wir  uns  au  ein  Beispiel ,  an  die  Anschauung 
wenden,  i--^) 

167.  Wenn  wir  die  Substanz  empirisch  bestimmen,  so  er- 
halten wir  den  Begriff  der  Materie,  der  bereits  eine  Erfahrung, 
wenn  auch  die  allgemeinste  von  allen  möglichen,  darstellt.  Ma- 
terie ist  die  Substanz,  sofern  ich  sie  sehe,  fühle,  höre,  die  Sub- 
stanz, wie  sie  mir  sinnlich  erscheint.  Die  fundamentale  Be- 
stimmung der  Materie,  auf  welche  wir  alle  anderen  Bestimmungen 
zurückführen,  ist  ihr  Verhältuiss  im  Räume.  Alle  Veränderung 
der  Materie  ist  also  Veränderung  ihres  Raumverhältnisses.  Nun 
nennt  man  aber  die  räumliche  Veränderung  Bewegung.  i2^) 
Das  allgemeine  Problem,  das  U  zu  finden,  specialisirt  sich  also 
hier  zu  der  Aufgabe,  die  Bewegungsursache  zu  entdecken.  Viel- 
leicht können  wir  jetzt  die  Frage  beantworten,  ob  die  Bewegungs- 
ursache eine  äussere  oder  eine  innere  sei.   Wenn  die  materielle 


104  XII.    Das  Princip  der  Succcssion  (Causalität). 

Substanz  M  sich  bewegt,  so  fragt  es  sich,  ob  wir  eine  ihrer 
Accidcnzeu  als  Bedingung  ansehen  können,  welche  die  Succes- 
sion  ihrer  Lagen  im  Räume  notwendig  macht.  Die  Frage  muss 
verneint  werden.  Die  Eigenschaften,  welche  einen  brauchbaren 
Begriif  der  Materie  constituiren,  eignen  sich  nicht  zu  dieser  Func- 
tion. Wir  wissen,  dass  die  Materie  extensive  Grösse  hat;  wir 
wissen  ferner,  .dass  sie  etwas  Bewegliches  sein  muss;  wir  müssen 
ihr  die  Fähigkeit  zuschreiben,  andere  Materie  vom  Eindringen 
in  ihren  Raum  abzuhalten;  endlich  sagen  wir  auch,  dass  sie  im 
Stande  sei,  dem  Wegnehmen  anderer  Materie  aus  ihrer  Umge- 
bung zu  widerstehen.  Nun  enthalten  alle  diese  Bestimmungen 
nicht  ein  Verhältniss  der  Materie  zu  ihren  eigenen  Accidenzen, 
sondern  zu  denen  von  Materie  ausser  ihr.  Die  Substanz  im 
Räume  ist  nichts  als  ein  „Inbegriff  von  lauter  Relationen".'-^) 
Somit  sind  wir  genötigt,  die  Beweguugsursache  einer  Materie  in 
eine  von  ihr  verschiedene  Substanz  zu  verlegen,  und  wir  haben 
also  den  Satz: 

Alle  Bewegung  der  Materie  hat  eine  äussere  Ursache. 

In  diesem  Grundsatze  liegt  also,  dass  jeder  Wechsel  von 
Ruhe  mit  Bewegung  oder  umgekehrt  und  von  einem  Bewegungs- 
zustande mit  einem  andern  auf  eine  äussere  Ursache  bezogen 
werden  müsse.  Andererseits  können  wir  annehmen,  dass,  wo  wir 
eine  solche  äussere  Ursache  nicht  zu  finden  vermögen,  die  Ma- 
terie ihren  betreffenden  Zustand  nicht  verändere. '") 

Das  ist  der  logische  Gehalt  des  Priucips,  das  unter  dem 
Namen  des  Trägheitsgesetzes  (lex  inertiae)  der  Mechanik  zu 
Grunde  gelegt  wird.  '-•) 

16S.  Ein  methodisch  richtiger  Einwand  gegen  die  Notwen- 
digkeit des  Princips  der  Trägheit  findet  sich  bei  der  dualistischen 
Naturphilosophie.  Allerdings,  sagt  sie,  kennen  wir  eine  schlecht- 
hin innere  Eigenschaft,  welche  die  Substanz  befähigt,  selbst  Be- 
dingung ihrer  Veränderung  zu  sein.  Es  sei  nämlich  die  Fähig- 
keit des  Begehrens  eine  Bestimmung  der  organisirten  Materie, 
und  in  den  sogenannten  Handlungen  stelle  sich  eine  materielle 
Veränderung  dar,  die  aus  einer  inneren  Ursache  geschehe.  Ent- 
weder müsse  man  also  eine  belebte  und  eine  unbelebte  Materie 
unterscheiden  und  die  Inertie  nur  für  die  letztere  aufstellen. 
Oder  aber  man  habe  die  Notwendigkeit  des  Trägheitsgesetzes 
überhaupt  zu  verwerfen  und  es  nur  als  stark  bewährte  inductive 


2.   Folgerungen  und  Erläuterungen.  105 

Wahrheit  anzunehmen.  Die  inneren  Qualitäten  seien  aller  Ma- 
terie überhaupt  zuzugestehen  und  die  lex  inertiae  erscheine  nur 
als  Generalisation  aus  den  Fällen,  in  welchen  sich  dieselben 
unserer  Wahrnehmung  entziehen  oder  wenigstens  bisher  entzogen 
hätten.  Durch  die  letztere  Wendung  rettet  diese  Ansicht  trotz 
der  Zweiheit  ihrer  Principien  wenigstens  die  Einheit  der  Natur. 

Die  kritische  Philosophie  stellt  dieser  Ausführung  einfach 
die  Frage  entgegen,  an  welcher  Materie  denn  eigentlich  diese 
innere  Qualität  entdeckt  worden  sei.  Etwa  an  einer  besonderen 
Materie?  Bestehen  die  begehrenden  Wesen  aus  anderen  mate- 
riellen Substanzen  als  die  unorganische  Welt  ?  —  Nein.  —  Also 
gibt  uns  die  Erfahrung  jedenfalls  kein  Recht,  zwei  Arten  von 
Materie  anzunehmen.  Ist  ferner  Empfindung  und  Begehren  viel- 
leicht an  den  chemischen  Elementen  wahrgenommen  worden, 
welche  den  lebenden  Körper  zusammensetzen?  —  Auch  das 
nicht.  —  Dann  ist  aber  auch  der  andere  Weg,  diese  Eigenschaf- 
ten zu  allgemeinen  Bestimmungen  der  Materie  zu  machen,  uner- 
laubt. Denn  es  handelt  sich  hier  leider  nicht  um  Erfahrungs- 
möglichkeit, d.  h.  um  apriorisches  Urtheilen  (Erfahrung  überhaupt 
ist  bei  all  diesen  Hypothesen  möglich),  sondern  wir  bedürfen 
einen  empirisch  brauchbaren  Begriff  der  Materie.  Nun  sagt  uns 
aber  die  Erfahrung  nichts  mehr,  als  dass  überall,  wo  gewisse 
Compositionen  und  complicirte  Relationen  der  allgemeinen.  Einen 
Materie  stattfinden,  wir  gleichzeitig  auch  „innere"  Qualitäten 
beobachten.  Nun  sind  wir  allerdings  unendlich  weit  entfernt, 
diesen  Zusammenhang  wirklich  zu  erkennen.  Aus  der  Kette 
des  Geschehens,  als  deren  letzte  Glieder  uns  die  den  ersten 
äusserst  unähnlichen  psychischen  Bewegungen  erscheinen,  ist 
uns  die  grösste  Zahl  der  Zwischenglieder  unbekannt.  Aber  es 
ist  durchaus  unwissenschaftlich,  aus  unserer  gegenwärtigen  Igno- 
ranz und  der  ungemein  hohen  Unwahrscheinlichkeit  künftigen 
Wissens  auf  die  Unmöglichkeit  dieser  Erkenntniss  zu  schliessen.  ^-^) 
Da  das  Princip  der  Trägheit  aus  den  allgemeinen  Eigenschaften 
der  Materie  abgeleitet  wurde,  so  muss  Jeder,  der  sich  in  seiner 
Ueberzeugung  nur  erkenntnisstheoretisch  bestimmen  lässt,  an 
seine  unbeschränkte  Notwendigkeit  glauben,  sobald  er  weiss, 
dass  die  materiellen  Bedinguugen  in  der  Natur  überall  die 
gleichen  sind,  i^'*) 

Wo   die  Naturphilosophie  zwar  zugibt,    dass    der  Materie 


10(3  XII.    Das  Princip  der  Succcssion  (Causalität). 

keine  inneren  Qualitäten  angeheftet  werden  dürfen,  zu  der  eben 
begründeten  Ueberzeugung  aber  nicht  durchdringt,  wird  sie  sagen, 
dass  sie  Empfindung  und  Willen  als  Bestimmung  eines  ganz  hetero- 
genen Princips,  als  die  innere  Seite  des  äusseren  Geschehens,  mit 
einem  Wort,  als  Accidenzen  des  Bewusstseins  ansehe.  Das  Be- 
wusstsein,  das  sich  nun  einmal  nicht  wegmikroskopiren  und  ver- 
dam])fen  lässt.,  ist  dann  die  Maske  für  die  proscribirte  Seele. 
Kant  hat  uns  glücklicherweise  in  den  Stand  gesetzt,  diese  Auf- 
fassung durch  ein  blosses  Citat  zu  stürzen.  ^^'') 

Wir  weisen  sie  an  die  „  Paralogismen  der  reinen  Vernunft ", 
wo  sie  eine  mit  endgültiger  Gründlichkeit  verarbeitete  Seelen- 
substanz findet. 

Für  unseren  Zweck  genügen  folgende  Bemerkungen:  Wir 
wissen,  dass  nicht  nur  Begehren  und  Empfinden,  sondern  über- 
haupt alle-  Qualitäten ,  die  wir  kennen ,  „  innere "  Wahrnehmung, 
Vorstellung,  sind.  Wir  wissen  aber  auch,  dass  keine  innere 
Wahrnehmung  als  solche  Erfahrung,  d.  h.  Erkenntniss  eines 
Gegenstandes  ist.  Erfahrung  gibt  es  erst,  wenn  wir  aus  unserem 
Innern  heraus  eine  äussere  Anschauung  producirt  haben.  Denn 
die  für  alle  Erkenntniss  notwendige  Substanz  können  wir  nicht 
in  unser  Bewusstsein  setzen.  Sobald  wir  uns  einmal  diese  Be- 
dingung der  Erfahrung  klar  gemacht  haben,  kann  auch  das  so- 
genannte Bewusstsein  oder  Ich  kein  Gegenstand  der  Erkenntniss 
mehr  für  uns  sein,  insofern  wir  es  durch  innere  Wahrnehmung 
erkennen  wollen;  denn  da  würde  nicht  weniger  als  die  Haupt- 
sache zu  einem  Objecte  fehlen,  nämlich  die  Substanz.  Die  Ur- 
thatsache,  welche  den  Inhalt  unseres  zweiten  Grundsatzes  bildet, 
dass  alle  Vorstellungen  als  solche  wirklich  seien,  ist  das  Einzige, 
was  wir  als  Erkenntniss  der  Innern  Wahrnehmung  gelten  lassen. 
Alles  Weitere  erfordert  äussere  Anschauung.  Wenn  es  uns  also 
im  Laufe  der  Erfahrung  nicht  mehr  genügt,  von  dem  blossen 
Factum  des  Bewusstseins  überzeugt  zu  sein,  und  wir  es  als  Ob- 
ject  erkennen,  d.  h.  als  Accidens  einer  Substanz  darstellen  wollen, 
so  müssen  wir  nach  den  allgemeinen  Bedingungen  des  Erken- 
nens  verfahren,  wir  müssen  die  dem  Bewusstsein  entsprechende 
Materie  zu  erforschen  suchen. 

So  entwickelt  sich  innerhalb  des  erkenntnisstheoretischen 
Idealismus  ein  kritischer  Materialismus  der  Naturerklärung.  Die 
beiden  Naturansichten  sind  kein  Widerspruch,  sondern  eine  Er- 


2.   Folgerungen  und  ErLäutefungen.  107 

g-änzung.  Wir  sind  uns  bewusst,  dass  auch  die  Materie,  wie 
alles  Andere,  blosse  Vorstellung  ist ;  aber  wir  sind  uns  auch  be- 
wusst, dass  wir  auf  die  Materie  alle  anderen  Vorstellungen  be- 
ziehen müssen,   insofern  aus  ihnen  Eine  Erfahrung  werden  soll. 

169.  Kant  hat  bemerkt,  dass  das  Causalgesetz  dii-ect  auf  den 
Begriff  der  Substanz  führen  würde,  auch  wenn  wir  ihn  nicht 
schon  vorher  aus  der  Forderung  eines  Beharrlichen  gewonnen 
hätten.  Denn  die  Causalität  sei  immer  der  erste  Grund  von  allem 
"Wechsel  der  Erscheinungen  und  könne  also  nicht  in  einem 
Subject  liegen,  das  selbst  wechsle,  weil  sonst  wieder  andere 
Handlungen  und  ein  anderes  Subject,  welches  diesen  Wechsel 
bestimme,  erforderlich  wären.  Demnach  sei  die  Causalität  ein 
hinreichendes  empirisches  Kriterium  der  Substantialität.  i-^i)  Ich 
kann  dieser  Ansicht  nicht  beitreten.  Wenn  das  Subject,  durch 
welches  wir  eine  Succession  bestimmt  sehen,  selbst  wechselt, 
so  folgt  daraus  nur,  dass  wir  auch  für  diesen  Wechsel  eine 
Ursache  aufsuchen  und  nachher  auch  deren  Zeitfolge  bestimmen 
müssen  u.  s.  w.  Wir  gelangen  also  auf  diese  Weise  bloss  zu 
einer  unendlichen  Kette  von  Ursachen,  nicht  aber  zu  einer 
beharrlichen  Bedingung  derselben.  Aber  auch  wenn  man,  wie 
wir  es  gethau  haben,  die  Substanz  bereits  voraussetzt,  so  ent- 
geht man  dadurch  keineswegs  döm  unendlichen  Regressus  auf 
frühere  Ursachen  Denn  wenn  ich  auch  in  der  Substanz  ein 
beharrliches  Subject  meiner  Causalität  besitze,  so  muss  doch 
das  Eintreten  seines  Accidens,  in  welchem  ich  die  Ursache  er- 
kenne, durch  eine  andere  Substanz  bedingt  sein,  und  bei  dieser 
findet  das  Nämliche  statt,  und  so  müssen  wir  immer  wieder  auf 
eine  andere  Bedingung  zurückgreifen.  Kant  hat  den  Verlauf 
dieses  Processes  in  der  dritten  Antinomie  ausführlich  dargestellt. 

Somit  ergibt  sich  aus  dem  Causalgesetz,  dass  wir  einen  An- 
fang der  Veränderung  nicht  zu  erkennen  vermögen.  Verände- 
rung hat  in  der  Natur  nicht  begonnen;  sie  war  immer  da.  Die 
Bewegung  ist  ewig.  ^  •-)  Selbstverständlich  gilt  das  nur  von  der 
Veränderung  überhaupt.  Sobald  man  den  empirischen  Begriff 
eines  bestimmten  Wechsels  betrachtet,  hat  man  auch  für  dessen 
Causalreihe  ein  erstes  Glied  zu  suchen.  Das  allgemeine  Gesetz 
sagt  bloss,  dass,  wenn  ein  solcher  Anfang  gefunden  wird,  dieser 
wiederum  als  letztes  Glied  einer  andern  Reihe  angesehen  wer- 
den müsse  u.  s.  f.  ins  Unendliche. 


108  XII.    Das  Princip  der  Succession  (Causalitiil). 

Aus  dieser  Betrachtung  folgt  unmittelbar  das  wichtige  Resul- 
tat, dass  es  in  der  Natur  keine  Freiheit  gibt.  Freiheit  bedeutet 
die  Möglichkeit,  dass  eine  Substanz  Ursache  einer  Veränderung 
werde,  ohne  selbst  in  ihrer  Function  zeitlich  bestimmt  zu  sein. 
Die  kritische  Deductiou  des  Causalgesetzes  schliesst  eine  solche 
Möglichkeit  aus.  Wie  auch  die  Ethik  den  zur  Idee  erhobenen 
Freiheitsbegriff  verwerten  möge,  in  der  theoretischen  Philosophie 
ist  er  schlechthin  bedeutungslos.  ^^■^) 

170.  Die  allgemeine  empirische  Bestimmung  des  Causal- 
gesetzes gestattet  uns  die  exacte  Definition  des  Begriffs  der 
Kraft,  der  in  der  Naturforschung  eine  so  grosse  Rolle  spielt. 
Kraft  ist  die  Vorstellung  der  Möglichkeit  der  Function,  durch 
welche  die  eine  Substanz  die  Veränderung  der  andern  bedingt. 
Es  ist  ungenau,  die  Materie  selbst,  und  ebenso  ungenau,  ihr 
Accidens  Kraft  zu  nennen ;  denn  die  Möglichkeit  liegt  in  keinem 
dieser  Stücke  allein,  da  ja  die  Substanz  nur  durch  ihre  Eigen- 
schaft und  diese  nur  an  der  Substanz  erkennbar  wird.  Kraft 
ist  vielmehr  das  Verhältniss  einer  Substanz  zu  ihrer  Eigenschaft, 
insofern  diese  als  Ursache  erscheint;  Kraft  bezeichnet  die  Inhä- 
renz  der  Ursache.  '^4)  So  bedeutet  bewegende  Kraft  nur  das 
Vorhandensein  einer  Eigenschaft  an  der  Substanz,  durch  welche 
sie  die  Orts  Veränderung  einer"  andern  Substanz  bestimmt. 

Aus  dieser  Definition  fliesst  eine  disciplinarische  Vorschrift^ 
welche  die  mystische  Hypostasirung  der  Kräfte  unmöglich  macht. 
Kraft  gibt  es  nur  da,  wo  Substanz  und  Veränderung  ist.  Wir 
können  eine  Kraft  nicht  anders  erkennen,  begreifen  und  benennen, 
als  nach  den  Wirkungen  von  Ursachen.  Wo  wir  diese  nicht 
sehen  und  doch  an  das  Vorhandensein  einer  Kraft  glauben,  da 
träumen  oder  dichten  wir. 

Bewegende  Kräfte  haben  wir  nur  da,  wo  „gewisse  succes- 
sive  Erscheinungen"  sie  anzeigen;  sie  sind  nichts  als  die  „Ge- 
setze, nach  denen  diese  Veränderung  bestimmt  wird.  "''^) 

Die  Frage  nach  der  Anzahl  der  Grundkräfte  in  der  Natur 
und  ihrem  Verhältniss  zu  den  abgeleiteten  Kräften  gehört  in  die 
angewandte  Erkenntnisstheorie.  —  Die  Frage  nach  der  Möglich- 
keit der  Kraft  überhaupt  ist  eine  Frage  nach  der  Möglichkeit 
der  psychischen  Organisation,  welche  uns  zur  Erkenntniss  be- 
fähigt; die  Erkenntnisstheorie  hat  sie  abzuweisen  und  der  Psy- 
chologie zu  überliefern. 


2.   Folgerungen  und  Erläuterungen.  109 

171.  Da  die  Zeitreibe  eine  stetige  Grösse  ist  (vgl.  §  61), 
so  muss  auch  ihre  Bestimmung  continuirlich  sein.  Wenn  eine 
Substanz  aus  dem  Zustande  A  in  den  Zustand  B  übergeht,  so 
nimmt  diese  Veränderung  eine  Zeitstrecke  ein,  welche,  so  klein 
sie  auch  sein  mag,  eine  Grösse  hat.  Denken  wir  uns  nun  die 
Dauer  (vgl.  oben  §  145)  der  Veränderung  in  beliebig  viele 
Theile  getheilt,  so  muss  nach  dem  vierten  Grundsatze  (vgl. 
§115)  jeder  dieser  Zeittheile  real  erfüllt  sein.  Der  Uebergang 
von  einem  dieser  Theile  zum  andern  stellt  also  eine  partielle 
Veränderung  der  Substanz  dar.  Da  das  Causalgesetz  für  alle 
Veränderungen  gilt,  so  gilt  es  auch  für  diese  partiellen,  und  es 
muss  auch  für  sie  gelten,  wenn  wir  die  Anzahl  der  Theile 
unendlich  gross  annehmen.  Somit  können  wir  die  Continuität 
aller  Veränderungen  behaupten. 

Allein  man  darf  dieses  Gesetz  nicht  dahin  missverstehen, 
dass  man  glaubt,  es  stelle  den  stetigen  Uebergang  des  Zustandes 
A  in  den  Zustand  B  durch  alle  zwischen  0  und  B  liegenden 
Grade  der  Realität  auf  (vgl.  oben  §  121).  Die  Gültigkeit  dieser 
Continuität  lässt  sich  nur  empirisch  mit  comparativer  Allgemein- 
heit darthun.  Die  Stetigkeit  wird  hier  nur  insofern  behauptet, 
als  für  jeden  Durchgangspunkt  der  Veränderung,  einen  wie 
kleinen  Zeitraum  er  auch  abgrenzen  mag,  eine  wirkende  Ur- 
sache gedacht  werden  muss.  i^"'») 

Durch  die  Einsicht,  dass  die  Veränderung  nur  nach  einer 
continuirlichen  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  geschehen 
könne,  hebt  sich  ein  Bedenken  gegen  die  Ableitung  des  Causal- 
gesetzes.  Man  könnte  glauben,  die  Succession  sei  schon  deshalb 
nicht  sein  eigentliches  Kriterium,  weil  in  der  Natur  Wirkung 
und  Ursache  häufig  zugleich  seien.  Diese  scheinbare  Coexi- 
stenz  beruht  darauf,  dass  die  Wirkung  schon  nach  einer  ver- 
schwindend kleinen  Zeit,  die  dann  vernachlässigt  und  gleich 
Null  betrachtet  wird,  auf  die  Ursache  folgt.  Allein  das  Zeit- 
verhältniss  beider  bleibt  nichtsdestoweniger  bestimmbar ;  es  lässt 
sich  in  jedem  Falle  feststellen ,  welcher  der  Zustände  nur  voran- 
gehen und  welcher  nur  folgen  könne.  Und  nur  darum  handelt 
es  sich  bei  dem  Causalgesetz.  Wo  ein  solches  Gesetz  nicht 
erkannt  werden  kann,  da  ist  dann  nicht  das  Causalprincip,  son- 
dern die  objective  Gültigkeit  der  Succession  anzuzweifeln;  es  ist 


110  XII.   Das  Princip  der  Succession  (Causalität). 

dann  einlach  die  Anwendung  des  Cansalgesetzes  und  folglich  die 
Erkenntniss  einer  Veränderung  unmöglich.  '■'■) 

Die  in  einer  unendlich  kleinen  Zeit  wirkende  Ursache  einer 
partiellen  Veränderung  heisst  ein  Moment.  An  den  Momenten^ 
als  deren  Wirkung  die  Veränderung  erzeugt  wird,  können  wir 
nichts  wahrnehmen,  als  ihre  intensive  Grösse '^M  und  ihre  Ver- 
schiedenheit.  • 

172.  Der  Einheitsbegriif  von  Ursache  und  Wirkung  ist  die- 
selbe Function  des  Bewusstseins,  welche  die  Logik  in  der  hypo- 
thetischen Urtheilsform  beschreibt;  denn  auch  durch  das  hypo- 
thetische Urtheil  wird  eine  solche  Verknüpfung  zweier  Glieder 
gedacht,  dass,  wenn  das  eine,  der  Grund,  gesetzt  wird,  das  an- 
dere, die  Folge,  notwendig  gesetzt  werden  muss,  und  zwar  so, 
dass  die  beiden  Glieder  nicht  verwechselt  werden  können.  Da 
nun  also  nach  dem  Causalgesetz  auch  in  der  Natur  „  eine  Regel 
des  Verhältnisses  angetroffen  wird,  die  da  sagt:  dass  auf  eine 
gewisse  Erscheinung  eine  andere  (obgleich  nicht  umgekehrt)  be- 
ständig folgt"  i-^'J),  so  weiss  ich,  dass  mir  die  Wahrnehmung  für 
diese  Verknüpfungsform  einen  adäquaten  Inhalt  liefern  wird,  und 
ihre  objective  Gültigkeit  ist  gesichert.  Das  hypothetische  Urtheil 
ist  nicht  mehr  eine  blosse  Combiuation  von  Gedanken,  sondern 
das  Bild  eines  realen  Verhältnisses,  die  „Form"  einer  Er- 
kenntniss. 

Aus  der  Betrachtung  der  Causalität  geht  unmittelbar  her- 
vor, dass,  wenn  das  hypothetische  Urtheil  mit  diesem  Inhalt  voll- 
ständig congruiren  soll,  stets  zwei  Urtheile  in  ihm  enthalten  sein 
müssen.  In  der  Causalität  erscheint  eine  Relation  zweier  Sub- 
stanzen; ihr  Ausdruck  erfordert  also  die  Formen  zweier  Inhärenz- 
verhältnisse,  d.  h.  zwei  Urtheile,  zwei  Sätze.  Wenn  die  Sonne 
scheint,  wird  der  Stein  warm.  Der  Vordersatz  beschreibt  die 
Function  der  bedingenden,  der  Nachsatz  die  Veränderung  der  be- 
dingten Substanz.  Allein  wir  können  dieselbe  Beziehung  auch  auf 
einen  kürzeren  Ausdruck  bringen,  indem  wir  schlechtweg  die 
beiden  Substanzen  setzen  und  die  Art  ihrer  Verknüpfung  durch 
ein  „transitives"  Verbuni  symbolisiren.  Dadurch  erhalten  wir  das 
Urtheil :  Die  Sonne  erwärmt  den  Stein.  In  dieser  Fassung  tritt 
die  Entstellung  der  Consoquenz  aus  der  Succession  zurück,  die 
reale  Function  dagegen,  der  Einfluss  der  ersten  Substanz  auf 
die   zweite,   in   den  Vordergrund.     Dieser  Satz,  den  die  Gram- 


2.    Folgerungen  und  Erläuterungen.  111 

matik  als  emfach  bezeichnet,  ist  also  logisch  zusammeng-esetzt, 
indem  er  den  objectiven  Zusammenhang  zweier  Substanzen  dar- 
stellt. Es  ist  bedauerlicli,  dass  die  Logik  diese  Beziehungen, 
über  welche  allerdings  erst  die  erkeuntuisstheoretische  Begrün- 
dung volles  Licht  verbreiten  kann,  zu  ignorireu  pflegt. 

173.  Dass  das  dogmatische  Denken  auch  den  Begriff  der 
Ursache  zu  Gunsten  des  Dings  au  sich  missbrauchen  kann,  ist 
selbstverständlich.  Man  vergisst,  dass  die  Causalität  nur  zur 
Zeitbestimmung  dient,  dass  die  Ursache  allein  im  vorhergehen- 
den Zeitmoment  gesucht  und  dieser  nur  durch  seine  intensive 
Erfüllung  wahrgenommen  werden  kann.  Man  ist  davon  über- 
zeugt, dass  unsere  Vorstellungen  doch  eine  Ursache  haben  müssen 
und  lässt  sich  die  Freude  an  dieser  Einsicht  nicht  durch  die 
nüchterne  ßeflexiou  stören,  dass  diese  Ursache  wieder  nur  unsere 
Vorstellung,  ausserdem  aber  ein  für  uns  bedeutungsloses  Un- 
ding ist. 

Wer  die  Ableitung  des  Causalgesetzes  begriffen  hat,  für  den 
werden  nicht  nur  diese  Offenbarungen  des  common  sense  höchst 
unschädlich  sein,  sondern  er  wird  auch  die  ungeheuerliche  Zu- 
mutung würdigen,  Kant  habe  das  Ding  an  sich  als  Ursache  er- 
schlossen, i^ö)  In  Hinsicht  auf  diese  stets  fortlebende  Interpre- 
tation habe  ich  im  Verlaufe  der  Abhandlung  betont,  dass  das 
Ding  an  sich  (natürlich  als  Begriff  und  nicht  als  „Gegenstand", 
der  überhaupt  nirgends  vorhanden  ist)  vor  aller  Deduction  des 
Causalgesetzes  in  einem  unabhängigen  Gedankengange  erzeugt 
wird.     (§  64—66.) 

174.  Unter  dem  Namen  des  Satzes  vom  Grunde  cursiren  im 
philosophischen  Sprachgebrauch  eine  Reihe  von  Prineipien,  ohne 
deren  strenge  Souderung  eine  wissenschaftliche  Erkeuutnisstheorie 
unmöglich  ist.  Ihre  systematische  Unterscheidung  hat  Schopen- 
hauer in  seiner  Abhandlung  „Ueber  die  einfache  Wurzel  des 
Satzes  von  zureichendem  Grunde"  durchzutühren  gesucht. i^^)  Er 
will  zeigen,  dass  dieser  Grundsatz  aus  vier  verschiedenen  Grund- 
erkenntnissen unseres  Geistes  fliesse  und  nur  der  gemeinschaft- 
liche Ausdruck  für  den  Grund  des  Geschehens,  des  ErkSnueus, 
des  Seins  und  des  Handelns  sei.  Es  ist  nützlich  anzumerken, 
wie  sich  unser  Princip  zu  diesen  vier  Grundsätzen  verhalte. 

Den  Inhalt  des  Kantischen  Causalgesetzes  lässt  Schopen- 
hauer durch  die  erste  Aeusserungsform  seines  allgemeinen  Grund- 


1 1  2  XII.   Das  Priucip  der  Successiou  (Causalität). 

Satzes  vertreten,  welche  er  das  prineipium  rationis  sufficientis 
tiendi  ueimt.  —  Daran  reiht  er  zunächst  das  prineipium  rationis 
sufficientis  cognoscendi.  Dass  diese  Gestalt  von  der  ersten  sehr 
verschieden  sei,  ist  auf  Kantischem  Standpunkte  ohne  Weiteres 
zuzugeben;  nur  muss  man  hinzufügen,  die  Verschiedenheit  sei 
so  gross,  dass  man  beide  Arten  überhaupt  nicht  mehr  als  Func- 
tionen des  gleichen  allgemeinen  Grundsatzes  betrachten  darf. 
Der  Satz  vom  Erkenntnissgrunde  ist  für  uns  nichts  weiter  als 
das  oben  (§  33)  angeführte,  aus  der  Definition  der  Logik  sich 
ergebende  formale  Princip.  Es  sagt  einfach :  Erinnere  dich,  dass 
die  logische  Wahrheit  bloss  hypothetisch  ist;  jedes  formale  Ur- 
theil  ist  bloss  ein  Nachsatz,  zu  dem  ein  Vordersatz  gegeben 
sein  muss.  Dieser  Grundsatz  ist  also  dem  vorigen  durchaus 
nicht  coordinirt,  sondern  bloss  insofern  von  ihm  abhängig,  als 
die  hypothetische  Urtheilsform  ohne  das  Causalgesetz  überhaupt 
keine  objective  Geltung  haben  würde.  (§  172.)  Kant  hat  auch 
das  -logische  (formale)  Princip  der  Erkenntuiss " :  Ein  jeder  Satz 
muss  seinen  Grund  haben ,  aufs  schärfste  geschieden  von  dem 
„ transscendentalen  (materiellen)":  Ein  jedes  Ding  muss  seinen 
Grund  haben.  In  dieser  Hinsicht  vertheidigt  er  Leibnitz  gegen 
das  Gespött  missverstehender  Gegner;  wenn  Leibnitz  dem  Satze 
des  zureichenden  Grundes  eine  gewisse  Wichtigkeit  beigelegt 
habe,  so  habe  er  jedenfalls  nicht  dieses  formale  Princip  als 
Naturgesetz  verstanden  wissen  wollen;  denn  es  sei  ja  so  allge- 
mein bekannt  gewesen,  dass  damit  auch  der  schlechteste  Kopf 
nicht  eine  neue  Entdeckung  gemacht  zu  haben  glauben  konnte. 
Er  habe  vielmehr  gefordert,  dass,  wenn  Urtheile  über  das  Object 
etwas  aussagen  wollen,  was  nicht  schon  in  seinem  Begrifi'e  liegt, 
„sie  ihren  besondern  Grund  haben"  müssen.  '^■-) 

Untei'  der  dritten  Gestalt,  dem  prineipium  rationis  suffi- 
cientis essendi,  versteht  Schopenhauer  das  Gesetz,  nach  welchem 
die  Theile  der  Eiuheitsanschauungen  einander  ihre  Verhältnisse 
bestimmen.  Dieser  Satz  bezieht  sich  auf  Lage  und  Folge  und 
enthält  die  Eigenschaften,  welche  Kant  in  der  transscendentalen 
Aesthetik  an  Raum  und  Zeit  entdeckt  hat.  An  und  für  sich 
lässt  sich  nichts  dagegen  sagen,  wenn  man  jedes  dieser  Resultate 
in  einem  Satze  formulirt.  Allein  es  ist  einmal  unrichtig,  dieses 
Princip  Grund  des  Seins  zu  nennen ;  denn  die  reinen  Anschauungen 
stellen  selbst  kein  Sein  dar,  sondern  sind  blosse  Formen  alles 


2.   Folgerungen  und  Erläuterungen.  113 

Realen.  Sobald  es  sieb  um  ein  wirkliebes  Dasein  bandelt,  bat 
dieser  Satz  keine  Bedeutung  mebr  und  es  tritt  unser  fünfter 
(§  126)  und  secbster  (§  136)  Grundsatz  in  Function.  Dann  ver- 
stösst  es  nutzloser  Weise  gegen  den  Spracbgebraucb,  diese  er- 
kenntnisstbeoretiscbe  Tbatsacbe  überhaupt  Satz  vom  Grunde  zu 
nennen.  Es  widerstrebt  uns,  die  vierte  Stunde  Folge  der  dritten, 
den  Norden  Grund  des  Südens  zu  nennen.  Der  Begriff  der  Ur- 
sacbe  tritt  erst  ein,  wo  es  sieb  um  die  reale  Bestimmung  einer 
Veränderung  bandelt. 

Man  kann  die  Frage  nach  dem  Seinsgrund  in  einem  andern 
Sinne  stellen  und  sagen,  Kant  babe  wobl  für  die  Veränderung, 
nicht  aber  für  das,  was  sich  verändert,  die  Ursache  angegeben. 
Durch  die  blosse  Annahme,  das  Reale  sei  gegeben,  werde  unser 
Erkennen  nicht  befriedigt,  wir  müssen  auch  wissen,  wann,  warum 
es  gegeben  worden.  Die  Antwort  lautet,  dass  die  Frage  an 
Kant  überhaupt  nicht  gerichtet  werden  darf.  Das  kritische 
Denken  fordert  die  Ewigkeit  der  Substanz;  es  betrachtet  nur 
das  bewegliche  Sein  und  kennt  kein  substantielles  Nichtsein, 
kein  Werden  von  Materie  (§  148).  Somit  kann  es  den  Seins- 
grund entbehren.  Wenn  der  Dogmatiker  den  Samen  die  Ursache 
des  Baumes  nennt,  so  wird  sich  der  kritische  Idealist  vor  diesem 
Gedanken  hüten.  Ihm  ist  der  Samen  die  Substanz,  die  sich 
verändert  und  im  allmäligeu  Keimen  und  Wachsen  zum  Baume 
wird.  Ursache  dieser  Veränderung  nennt  er  die  Gesammtbeit 
der  äusseren  Lebensbedingungen,  deren  Fehlen  das  Wachstum 
unmöglich  macht.  Wird  er  aber  nach  der  Ursache  des  Samens 
gefragt,  so  forscht  er  nach  den  physikalischen  Bedingungen  der 
Veränderungen,  Avelche  die  allgemeine  Materie  zu  dem  machen, 
was  wir  Samen  nennen.  Von  der  Materie  selbst  aber  sagt  er, 
dass  sie  zu  aller  Zeit  in  gleichem  Quantum  dagewesen, sei. 

Die  letzte  von  Schopenhauer  aufgezählte  Gestalt  des  Satzes 
vom  Grunde,  das  principium  rationis  sufficientis  agendi,  bedeutet  die 
Motivation  oder  die  „Causalität,  von  innen  gesehen".  Ein  solches 
Princip  kennt  die  kritische  Erkenntnisstheorie  nicht.  Da  sie 
leider  die  Substanz  nicht  im  Innern  anzuschauen  vermag,  ge- 
bricht es  ihr  auch  an  der  Innenansicht  der  Causalität.  Sie  stellt 
unsere  Handlungen  als  Momente  des  allgemeinen  Geschehens 
unter  das  gewöhnliche ,  die  ganze  Natur  umfassende  Causalgesetz. 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  o 


114  XII.    Das  Priucip  der  Successiou  (Causalität). 

Ob  und  wie  dagegen  die  praktisclie  Philosophie  ein  Princip  der 
Motivation  zu  verwerten  habe,  ist  hier  nicht  zu  besprechen. 

175.  Wir  sind  noch  genötigt,  unsern  Grundsatz  gegen  einen 
Irrtum  zu  schützen,  der  durcli  Schopenhauer  veranlasst  und  in 
neuerer  Zeit  durch  das  Missverständniss  einer  naturwissenschaft- 
lichen Theorie  getördert  worden  ist. 

Schopenhauer  wirft  Kant  vor,  dass  er  „  die  Vermittlung  der 
empirischen  Anschauung  durch  das  uns  vor  aller  Erfahrung  be- 
wusste  (sie)  Cäusalitätsgesetz  entweder  nicht  eingesehen,  oder, 
weil  es  zu  seinen  Absichten  nicht  passte,  geflissentlich  umgangen 
hat".  1^3)  Ob  er  sie  eingesehen  hat,  weiss  ich  nicht;  davon  aber 
bin  ich  überzeugt,  dass,  wenn  er  sie  einsah,  er  unzweifelhaft  die 
Ausführung  im  Sinne  Schopenhauers  „geflissentlich"  umgieng. 
Es  war  allerdings  eine  wesentliche  Eigenschaft  Kaut's,  dass  er 
Alles,  was  „zu  seinen  Absichten  nicht  passte",  zu  seinen  Ab- 
sichten nämlich,  eine  Aufgabe  reinlich  und  gewissenhaft  zu 
lösen,  von  seiner  Betrachtung  ausschloss.  Es  muss  ein  für  alle- 
mal erklärt  werden,  dass  das  Kantische  Causalgesetz  und  seine 
Deduction  mit  dem  in  der  Sinneswahrnehmung  mitwirkenden 
psychischen  Vorgange  nichts  zu  schaffen  hat. 

Die  wichtige  Beobachtung,  dass  die  sinnliche  Vorstellung 
Eigenschaften  zeigt,  welche  sich  aus  den  Factoren  des  „phy- 
sischen "  Processes  nicht  erklären  lassen  und  zur  Annahme  einer 
„psychischen"  Einwirkung  nötigen,  wurde  zuerst  von  Schopen- 
hauer ausgeführt  1")  und  dann  von  der  Sinnesphysiologie  unter 
Ignorirung  des  Vorgängers  aufgenommen  oder  neu  gemacht.  Die 
psychische  Function  wurde  bald  als  intellectuelle  Anschauung, 
bald  als  unbewusstes  Schliessen  oder  unbewusste  Association  be- 
zeichnet, welche  Namen  alle  gleich  unglücklich  sind.  Hier 
handelt  es  sich  bloss  darum,  dass  gewisse  Resultate  der  Sinnes- 
wahrnehmung uns  zur  Annahme  von  Operationen  zwingen,  welche 
wir  uns  nur  nach  Analogie  unserer  logischen  Functionen  vorstellen 
können.  ^^■>)  So  nimmt  eine  physiologische  Theorie  zur  Erklärung 
der  Gesichtsvorstelluugen  an,  dass  die  Empfindungen  durch  einen 
mechanischen  Vorgang  in  analoger  Weise  verbunden  werden,  wie 
sie  im  bewussten  Denken  nach  dem  Causalgesetz  verknüpft  er- 
scheinen. Sie  stellt  also  mit  vollem  Recht  den  Satz  auf,  dass  der 
Sinnesvorstellung  ein  mechanisches  Gesetz  zu  Grunde  liege,  das 
dem  von  Ursache  und  Wirkung  entspreche.  Geht  man  aber  so  weit, 


2.    Folgerungen  und  Erläuterungen.  115 

zu  sagen:  „Demgemäss  müssen  wir  das  Gesetz  der  Causalitäty 
vermöge  dessen  wir  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  schliesseu, 
auch  als  ein  aller  Erfahrung  vorausgehendes  Gesetz  unseres  Den- 
kens anerkennen",  so  müssen  wir  allerdings  um  einige  Auf- 
klärung ersuchen.  Wie  so  folgt  aus  dem  Umstände,  dass  es  in 
der  Natur  unserer  physischen  Organisation  liegt,  die  Empfin- 
dungen mechanisch  in  einen  Causalzusammenhang  zu  setzen,  die 
Notwendigkeit,  dass  es  auch  die  Natur  des  bewussten  Erkennt- 
nissprocesses  fordere,  diese  Synthese  vorzunehmen?  Warum  muss 
ich,  nachdem  ein  in  mir  wirkendes  mechanisches  Gesetz  mir 
zum  Besitz  der  Raumvorstelluug  verholfen  hat,  nachher  fort- 
fahren, mich  bei  der  bewussten  Synthese  an  dieses  Gesetz  zu 
halten?  Ist  die  Vorstellung  der  Aussenwelt  einmal  gebildet,  was 
brauche  ich  dann  noch  weiter  auf  äussere  Objecte  zu  schliessen? 
Oder  wenn  jeder  Wechsel  meiner  Empfindungen  den  Schluss 
auf  ein  äusseres  Object  erfordert,  wie  komme  ich  darum  dazu, 
den  Wechsel  der  Zustände  an  einem  äussern  Object  auf  eine 
Ursache  zi3  beziehen?  Wenn  ich  auch  einsehe,  dass  in  dem 
Vorstellen  des  Kindes,  welches  nach  dem  Monde  greift,  und  des 
Hühnchens,  das  nach  den  Körnern  pickt,  eine  Function  des  psy- 
chischen Causalmechanismus  sich  äussert,  so  bin  ich  darum  nicht 
im  mindesten  überzeugt,  dass  der  vermittelst  dieser  Causalfunction 
zur  höchsten  Reife  des  Bewusstseins  entwickelte  Physiker  beim 
experimentellen  Studium  der  Natur  an  den  notwendigen  Causal- 
zusammenhang aller  Erscheinungen  glauben  muss.  Dies  mag 
uns  die  Psychologie  zunächst  deutlich  machen,  bis  zur  vollen- 
deten Arbeit  aber  ihre  Schlüsse  auf  das  „  exacte "  Mass  reduciren. 
Man  kann  vorläufig  der  logisch-genetischen  Theorie  der  Physio- 
logen beitreten,  und  dabei  Anhänger  Hume's  oder  Kantianer  sein. 
Wenn  sich  daher  Physiker  für  diese  Theorie  anstatt  auf 
Schopenhauer  auf  Kant  berufen,  so  ist  das  ein  systematischer 
Irrtum.  *")  Man  sagt:  Kant  hat  „die  Apriorität  des  Causalgesetzes 
verfochten.  Merkwürdigerweise  ist  ihm  das  einfachste  und  schla- 
gendste Argument  entgangen,  das  in  der  soeben  angedeuteten 
Ueberlegung  (über  das  unreflectirte  Schliessen)  besteht".  ^^')  Dass 
dies  in  der  That  höchst  merkwürdig  ist,  unterschreibe  ich,  sobald 
mir  gezeigt  wird,  dass  dieses  einfache  und  schlagende  Argument  für 
den  erkenntnisstheoretischen  Grundsatz  überhaupt  anwendbar  ist. 


llü  XIII.    I>as  rrincip  der  Cocxisteuz  (Wechselwirkung). 

\lll.    Diis  Princip  der  Cocxisteuz 

(Wecbselwlrkiuig). 
1.    Neunter  Grundsatz. 

1 76.  Indem  wir  nun  dazu  übergehen,  für  die  zweite  Art  der 
zeitliehen  Synthese  die  Regel  aufzustellen,  müssen  wir  vor  Allem 
die  Frage  aufwerfen,  ob  der  Modus  des  Zugleichseiiis,  den  wir 
zunächst  problematisch  als  Thatsache  angenommen  haben  (§  ö7, 
§  138),  auch  wirklich  existire,  oder  ob  er  sich  vielleicht  vor  der 
genaueren  Untersuchung  als  blosser  Schein  herausstelle.  So- 
viel ist  nach  dem  allgemeinen  Grundsatz  (§  136)  sicher,  dass 
wenn  in  der  Zeit  eine  Simultaneität  enthalten  ist,  die  objective 
Gültigkeit  dieses  Verhältnisses  ihr  besonderes  Princip  der  realen 
Verknüpfung  erfordert. 

Die  Bejahung  der  Frage  ist  durchaus  nicht  selbstverständ- 
lich, "^j  Da  uns  die  erkenntnisstheoretische  Analyse  das  Wesen 
der  Zeit  dahin  beschreibt,  dass  alle  ihre  Theile  oder  Einschrän- 
kungen nacheinander  vorgestellt  werden,  so  liegt  das  skeptische 
Bedenken  nahe,  dass  die  Vorstellung  einer  Coexistenz  etwas  Un- 
mögliches sei. 

177.  Wir  besitzen  die  Mittel,  diesen  Zweifel  zu  heben. 
Erfahrungsobjecte  können  uns,  wie  wir  wissen,  nur  dadurch 
gegeben  werden,  dass  sie  unter  der  einheitlichen  Anschauung 
des  Raumes  erscheinen.  Nun  liegt  aber  die  Grundeigenschaft 
dieser  Anschauung  in  der  Simultaneität  all  ihrer  Theile.  Falls 
Erfahrung  zu  Stande  kommen  soll,  muss  es  also  jedenfalls  mög- 
lich sein,  das  Zugleichsein  von  Räumen  vorzustellen.  Nun  wissen 
wir  aber  ferner,  dass  alle  Vorstellungen  empirische  Modificationen 
unseres  Bewusstseins  sind,  die  uns  nur  in  der  Form  der  Zeit 
gegeben  werden  können;  somit  müssen  auch  die  räumlichen 
Anschauungen  bei  ihrem  Eintritt  ins  Bewusstseiu  in  die  Zeit- 
vorstellung aufgenommen  werden.  Folglich  muss  es  möglich 
sein,  in  der  Zeit  eine  Coexistenz  vorzustellen.  So  wird  die  Mög- 
lichkeit des  Zugleichseins  schon  durch  die  Möglichkeit  des  Bei- 
sammenseins erfordert;  die  Simultaneität  wird  durch  den  Be- 
griff der  Erfahrung  selbst  für  notwendig  erklärt. 

178.  Diese  Ueberlegung  ist  der  Schlüssel  zum  Verständniss 


I.    Neunter  Grundsatz.  117 

des  verkanuten  Princips  der  Wechselwirkung.  Das  ist  der  eigent- 
liche Sinn  und  die  erkenntnisstheoretische  Function  des  neuen 
Grundsatzes,  dass  er,  indem  er  das  Verhältniss  der  Gleichzeitig- 
keit objectivirt,  die  Raumanschauung  ermöglicht.  Ein  paradoxes 
Ergebniss!  Nachdem  uns  die  ursprüngliche  Analyse  den  Raum 
als  Bedingung  der  Erfahrung  enthüllt,  nachdem  der  fünfte  Grund- 
satz seine  ohjective  Geltung  begründet  hat,  gelangen  wir  jetzt, 
nahe  dem  Schlüsse  der  erkenntnisstheoretischen  Untersuchung, 
zu  einem  Gesetze,  das  uns  überhaupt  erst  zur  räumlichen  Vor- 
stellung befähigt!  An  dieser  Stelle  lernt  mau  die  organische 
Einheit  und  Solidarität  der  kritischen  Deductionen  verstehen. 
Hier  wird  mau  sich  so  recht  bewusst,  wie  die  zum  Zweck  der 
Beschreibung  gesonderten  Fimctionen  von  allen  Seiten  wieder 
zusammenstreben,  sich  gegenseitig  ergänzen  und  schliesslich  in 
dem  Begriffe  der  Erfahrung  verschmelzen.  In  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  sind  Aesthetik  und  Analytik  so  wenig  künstlich 
gebildete  Pendants,  dass  ohne  das  eine  nicht  einmal  die  Mög- 
lichkeit des  andern  eingesehen  werden  kann. 

179,  Was  sollen  wir  uns  nun  aber  nach  den  allgemeinen 
Eigenschaften  der  Zeit  unter  dem  Begriffe  des  Simultanen  eigent- 
lich denken?  Wenn  wir  sagen,  Dinge  oder  Zustände  oder  Er- 
eignisse seien  zugleich,  so  verstehen  wir  darunter,  dass  das 
Dasein  des  einen  in  die  gleiche  Zeitstrecke  fällt  wie  das  Dasein 
des  andern.  Wie  soll  ich  aber  von  verschiedenen  Vorstellungen 
constatiren,  dass  sie  den  Inhalt  desselben  Zeittheils  bilden  ?  Die 
Zeit  ist  nicht  wahrnehmbar;  ich  kann  nicht  von  den  Dingen 
ablesen,  ob  sie  in  denselben  Abschnitt  gehören.  Meine  Vor- 
stellungen aber  sind  alle  nacheinander.  Wenn  ich  auch  nur  zwei 
Gegenstände  wahrnehme,  so  ist  die  Wahrnehmung  des  einen 
früher,  die  Wahrnehmung  des  andern  später.  Allein  nun  kommt 
uns  der  andere  Grundsatz  zu  Hülfe.  So  viel  können  wir  ja  be- 
haupten, dass  die  Folge  dieser  Wahrnehmungen  jedenfalls  nur 
dann  objectiv  ist,  wenn  sie  unter  dem  Causalgesetz  erscheint. 
Im  andern  Falle  deutet  sie  mir  bloss  eine  Function  der  Einbil- 
dungskraft an,  die  ich  nachher  ebensogut  iu  umgekehrter  Ord- 
nung wiederholen  kann.  Nun  gibt  es  ausser  der  notwendigen 
und  der  nicht  notwendigen  Folge  keine  andere  Vorstellung  des 
Zeitverhältuisses.  Es  steht  also  jedenfalls  fest,  dass  wir  uns 
unter    der    Gleichzeitigkeit    nur    ein    Zeitverhältniss    vorstellen 


118  Xlll.    Das  Princip  der  Coexistenz  ("Wechselwirkung). 

könueu,  bei  dem  die  Ordnung  der  Suecession  nicht  durch  das 
Causalgesetz  fixirt  ist;  soweit  muss  sie  also  als  das  Verhältniss 
von  Dingen  definirt  werden,  nach  welchem  die  Wahrnehmung 
des  einen  ebensogut  auf  die  des  andern  folgen,  als  ihr  voran- 
gehen kann.  Verschiedene  Objecte  A  bis  E  können  nur  dann 
gleichzeitig  heisseu,  wenn  ich  im  Stande  bin,  von  A  durch  B, 
C,  D  zu  E  oder  auch  umgekehrt  von  E  zu  A  zu  gelangen. 

150.  Nun  fragt  es  sich  aber,  ob  wir  nicht  durch  diese  De- 
finition für  unsere  Zeltbestimmung  hinreichend  ausgerüstet  sind 
und  einen  neuen  Grundsatz  überhaupt  nicht  brauchen.  Da  es 
nur  diese  zwei  Verhältnisse  in  der  Zeit  gil)t,  so  sind  wir  doch 
überall  da  zu  einem  Urtheil  über  die  Gleichzeitigkeit  der  Er- 
scheinungen berechtigt,  wo  wir  ihre  Folge  nicht  als  objectiv 
beurtheilen  können.  Der  Schluss  ist  falsch.  Aus  dem  Bewusst- 
sein,  dass  eine  Folge  nicht  notwendig  sei,  fliesst  bloss  das  Bc- 
wusstsein,  dass  gewisse  Bedingungen  für  die  Gleichzeitigkeit  vor- 
handen sind,  nicht  aber  die,  diesen  Bedingungen  entsprechende 
notwendige  Zusammengehörigkeit  der  Vorstellungen.  Wenn  meine 
Einbildungskraft  die  Ordnung  umkehren  kann,  so  liegt  darin 
noch  keine  Notwendigkeit,  die  Erscheinungen  wechselweise  als 
eine  Einheit  vorzustellen.  Wenn  ich  mich  vom  Zwange  frei 
fühle,  B  auf  A  folgen  zu  lassen,  so  fühle  ich  mich  nicht  eben- 
dadurch  unter  den  Zwang  gestellt,  die  zwei  Einheiten  A  B  und 
BA  zu  bilden.  Es  findet  keineswegs  die  Disjunction  statt:  Alle 
Zeitverhältnisse  sind  entweder  objective  Suecession  oder  objec- 
tive  Coexistenz.  Wir  wissen  bloss:  Alle  Zeitordnung  ist  Sue- 
cession und  diese  hat  entweder  nur  subjective  oder  sie  hat  auch 
objective  Geltung.  Im  ersteren  Falle  ist  die  Folge  umkehrbar; 
allein  wenn  ich  sie  umkehre,  so  weiss  ich  weiter  nichts,  als 
dass  die  eine  und  hierauf  die  andere  Vorstellung  im  Bewusstsein 
ist,  nicht  aber,  dass  die  Umkehrung  auf  der  in  jeder  Richtung 
gleich  notwendigen  Einheit  dieser  Vorstellungen  beruht. 

151.  Mein  Urtheil  über  die  wechselseitige  Zusammenge- 
hörigkeit der  Vorstellung  kann  somit  nur  dadurch  notwendig, 
die  Gleichzeitigkeit  also  nur  dadurch  objectiv  werden,  dass  sich 
in  meinem  Bewusstsein  eine  Regel  erzeugt,  durch  welche  meine 
Synthese  beherrscht  erscheint. 

Der  Inhalt  eines  solchen  Grundsatzes  ist  leicht  zu  finden. 
Die  wechselseitige  Folge  meiner  Wahrnehmungen  kann  ich  mir 


2.    Erläuterungen  und  Folgerungen.  119 

nur  dann  als  notwendig  vorstellen,  wenn  ich  annehme,  dass  ihr 
Inhalt  so  bestimmt  sei,  dass  mit  dem  Uebergange  von  einem  zum 
andern  auch  der  umgekehrte  Uebergang  gegeben  werde.  Es 
muss  A  dem  B  und  umgekehrt  auch  B  dem  A  die  Stelle  in  der 
Zeit  bestimmen.  Fange  ich  bei  B  an,  so  sehe  ich,  dass  es  nur 
vorhanden  sein  kann,  wenn  vorher  A  war,  aber  so,  dass  auch 
das  Dasein  von  A  schon  die  Existenz  von  B  voraussetzt.  Diese 
Vorstellung  führt  in  der  That  auf  das  unmittelbar  nicht  wahr- 
nehmbare Verhältniss  einer  mehrfachen  Erfüllung  der  gleichen 
Zeit.  Denn  in  der  Zeitstrecke,  während  welcher  A  das  B  be- 
stimmt hat,  muss  es  auch  von  B  bestimmt  worden  sein,  sonst 
wäre  weder  B  noch  A  vorhanden. 

182.  Nun  nannten  wir  im  vorigen  Grundsatz  den  der  Zeit- 
ordnung analogen  Einfluss  einer  Substanz  auf  eine  andere  das 
Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung.  Dem  entsprechend  können 
wir  die  hier  erforderliche  doppelseitige  Bestimmung  als  das  Ver- 
hältniss der  Wechselwirkung  bezeichnen.  Wir  müssen  also  sagen, 
dass  wir  das  Zugleichsein  der  Substanzen  nur  unter  der  Be- 
dingung wahrnehmen  können,  dass  wir  in  jeder  Substanz  die 
Causalität  gewisser  Bestimmungen  der  anderen,  und  gewisse 
Wirkungen  der  Causalität  dieser  anderen  wahrnehmen.  Somit 
erhalten  wir  den  Grundsatz: 

183.  Alle  Substanzen  stehen  in  durchgängiger  Wechselwir- 
kung. 14«) 

2.   Erläuterungen  und  Folgerungen. 

184.  Die  Wechselwirkung  ist  das  Aschenbrödel  unter  den 
Kategorien  und  Grundsätzen.  Kant  selbst  hat  sie  weniger  aus- 
führlich behandelt,  als  die  Substanz  und  Causalität,  und  die 
Mehrzahl  seiner  Erklärer  hat  überhaupt  nur  den  Begriff  von 
Ursache  und  Wirkung  einer  eingehenden  Betrachtung  gewürdigt. 
Wir  müssen  daher  noch  einige  Hauptpunkte  der  Kantischen  Dar- 
stellung besonders  hervorheben. 

Zunächst  sei  auf  die  schon  im  Titel  hervortretende  erkennt- 
nisstheoretische Verschärfung  der  zweiten  Ausgabe  hingewiesen. 
Der  fünfte  „Grundsatz  der  Gemeinschaft"  wird  deutlicher  an- 
gekündigt als  „Grundsatz  des  Zugleichseins,  nach  dem  Ge- 
setze der  Wechselwirkung  oder  Gemeinschaft".     Die  Aenderung 


120  XIII.    Das  Princip  der  Cooxistenz  (Wechselwirkung). 

entspricbt  genau  der  Aendening  bei  der  Causalität,  wo  „Grund- 
satz der  Erzeugung"  ersetzt  wurde  durch  „Grundsatz  der  Zeit- 
folge nach  dem  Gesetz  der  Verknüpfung  der  Ursache  und  Wir- 
kung". '•'")  In  derselben  Tendenz,  den  Grundgedanken  der 
erkenntnisstheoretischen  Ableitung  schärfer  hervortreten  zu  lassen^ 
wurde  auch  statt  „Substanzen,  sofern  sie  zugleich  sind"  ge- 
schrieben „Substanzen,  sofern  sie  .  .  .  als  zugleich  wahrge- 
nommen werden  können".  Die  zweite  Fassung  will  sich 
von  vornherein  gegen  die  Frage  wehren ,  wie  man  denn  über- 
haupt zu  dem  neuen  Grundsatze  komme. 

185.  Das  Verständniss  des  Grundsatzes  hängt  von  der  Ein- 
sicht ab,  dass  derselbe  für  die  Objectivirung  der  llaumanschauung 
notwendig  sei.  Kant  hat  diesen  Gedanken  nicht  seiner  Bedeu- 
tung entsprechend  betont,  aber  immerhin  zum  klaren  Ausdruck 
gebracht.  Vor  Allem  ist  die  Formel  der  zweiten  Ausgabe  durch 
den  Zusatz  „  im  Räume "  (sofern  sie  im  Räume  als  zugleich  wahr- 
genommen werden  können)  bereichert.  Diese  pleonastische,  aber 
epexegetisch  bedeutsame  Bestimmung  findet  sich  auch  im  Schluss- 
satze des  hinzugekommeneu  Beweises  wiederholt.  ^•>^)  lieber 
jeden  Zweifel  erhebt  uns  die  Bemerkung,  dass  Kant  sich  des 
Wortes  Gemeinschaft  in  der  Bedeutung  einer  dynamischen  Ge- 
meinschaft bediene,  „ohne  welche  selbst  die  locale(com- 
munio  spatii)  niemals  empirisch  erkannt  werden 
könnte",  ''''^)  Da  tritt  die  erkenntnisstheoretische  Function  der 
Wechselwirkung  im  Sinne  der  obigen  Darstellung  unverkennbar 
zu  Tage.  Und  nun  beachte  man  die  folgenden  Beispiele.  „  Unseren 
Erfahrungen  ist  es  leicht  anzumerken,  dass  nur  die  continuir- 
lichen  Einflüsse  in  allen  Stellen  des  Raumes  unsern  Sinn  von 
einem  Gegenstande  zum  andern  leiten  können. "  „  Dass  wir  keinen 
Ort  empirisch  verändern  (diese  Veränderung  wahrnehmen)  können, 
ohne  dass  uns  allerwärts  Materie  die  Wahrnehmung  unserer 
Stelle  möglich  mache."  „Ohne  Gemeinschaft  ist  jede  Wahr- 
nehmung (der  Erscheinung  im  Raum)  von  der  andern  abge- 
brochen." „Den  leeren  Raum  will  ich  hierdurch  gar  nicht 
widerlegen. "  i'''')  Man  sieht,  es  handelt  sich  hier  überall  um 
die  Möglichkeit  empirischer  Beurthcilung  von  räumlichen  Ver- 
hältnissen. 

1S6.  Eine  Hauptschwierigkeit  für  das  Verständniss  der 
Wechselwirkung  bildet  dann  die  Ableitung  aus  dem  disjunctiven 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  121 

Urtbeil,  von  welcher  Kant  selbst  sagt,  dass  sie  ,,  nicht  so  in  die 
Allgen  fallend"  ^^J)  sei,  wie  bei  den  übrigen  Kategorien.  Der 
Leser  weiss,  dass  dieser  Znsammenhang  der  Grundsätze  mit  der 
logischen  Tafel  für  meine  Auffassung  kein  Gewicht  hat,  aber, 
das  Princip  einmal  zugegeben,  so  muss  erklärt  werden,  dass  Kant 
die  Identität  der  Wechselwirkung  mit  der  disjunctiveu  Urtheils- 
form  in  völlig  zwangloser  Weise  dargethan  hat.  '^^')  Für  uns 
ergibt  sich  daraus  das  Resultat,  dass  der  betreffenden  Urtheils- 
form  die  objective  Gültigkeit  gesichert  ist. 

Wenn  wir  die  Function  und  den  Ertrag  des  Princips  der 
Wechselwirkung  logisch  ausdrücken  wollen,  so  müssen  wir  sagen, 
dass  es  den  Begriff  des  Ganzen  und  seiner  Theile  möglich 
macht:  Alles  logische  Erkennen  beruht  auf  der  Eintheilung  eines 
Begriffs  als  eines  Ganzen  in  Unterbegriffe  als  seine  Theile ;  denken 
heisst  wissen,  was  in  einem  Begriffe  enthalten  und  was  von 
ihm  ausgeschlossen  ist.  Die  Form,  in  welcher  wir  uns  dieses 
Baues,  dieser  Gliederung  der  Begriffe  bewusst  werden,  ist  das 
disjunctive  Urtheil;  es  stellt  die  Theile  eines  gegebenen  Be- 
griffes dar,  insofern  sie  „einander  in  dem  Ganzen  oder  zu 
einem  Ganzen,  als  Ergänzungen  (complementa)  bestimmen "i-^'^); 
es  zeigt,  wie  „die  Sphäre  eines  jeden  Theils  ein  Ergänzungs- 
stück der  Sphäre  des  andern  zu  dem  ganzen  Inbegriff  der 
eigentlichen  Erkenntniss  ist",  i^")  Ganz  analog  beruht  nun  das 
reale  Erkennen  darauf,  dass  wir  die  Erscheinungen  als  Theile 
eines  Ganzen  betrachten,  ohne  welches  alle  anderen  Erfahrungs- 
bedingungen unzureichend  sind.  Dieses  GanzeistderRaum. 
Wir  müssen  uns  die  Dinge  „als  theilbar" '■'''')  und  die  Theile  als 
solche  vorstellen  können,  „deren  Existenz  (als  Substanzen)  jedem 
auch  ausschliesslich  von  den  übrigen  zukommt,"  die  aber 
doch  „in  einem  Ganzen  verbunden"  sind.  Dies  ermöglicht  uns 
die  Wechselwirkung;  durch  sie  stellen  wir  uns  die  Dinge  „als 
Theile  eines  realen  Ganzen"  ^•^")  vor;  durch  sie  „machen  die  Er- 
scheinungen, sofern  sie  ausser  einander  und  doch  in  Verknüpfung 
stehen,  ein  Zusammengesetztes  aus  (compositum  reale) '".  ^*'^')  Das 
ist  also  die  natürliche  Erklärung  des  künstlichen  Zusammen- 
hangs, dass  der  Sphäre  des  Oberbegriffs  der  erkenntnisstheo- 
retische Raum,  der  logischen  Specification  die  reale  Theilung 
entspricht.  Damit  erhalten  wir  eine  neue  Bestätigung  der 
früher  geäusserten  Ansicht  (§  134),  dass  die  geometrische  Dar- 


122  XIII.    Das  Princip  der  Coexistenz  (Wechselwirkung). 

Stellung  logischer  Vorgänge  einen  über  die  blosse  Veranschau- 
liclmng  hinausgehenden  Wert  als  Hinweis  auf  die  objective  Gel- 
tung besitze. 

Für  Schopenhauer  ist  die  Ableitung  der  Wechselwirkung 
ein  „recht  grelles  Beispiel  von  den  Gewaltthätigkeiten "  Kanti- 
scher Symmetrielust.  Die  Wechselwirkung  sei  dem  disjunctiven 
Urtheile  sogar  entgegengesetzt,  da  hier  „  das  wirkliche  Setzen  des 
einen  der  beiden  Eintheilungsglieder  zugleich  ein  notwendiges 
Aufheben  des  andern  ist;  hingegen  wenn  man  sich  zwei  Dinge 
im  Verhältuiss  der  Wechselwirkung  denkt,  das  Setzen  des  einen 
aber  ein  notwendiges  Setzen  des  andern  ist,  und  vice  versa."  '"»O 
Schopenhauer  vergisst,  dass  wenn  ich  den  Theil  eines  realen 
Ganzen  der  einen  Stelle  des  Raumes  zuweise,  ich  sie  dadurch 
von  der  andern  ausschliesse.  Er  vergisst  zweitens,  dass  wenn 
ich  ein  Urtheil  als  Theil  einer  Disjunction  ansehe,  ich  dadurch 
alle  übrigen  Theile  mitsetze. 

1S7.  Es  lohnt  der  Mühe,  auch  auf  die  übrigen  Punkte  der 
scheinbar  gründlichen  Polemik  Schopenhauer's  einzugehen.  Nach 
ihm  enthält  der  Begriff  der  Wechselwirkung  den  „  Ungedanken ", 
dass  jeder  der  beiden  sich  gegenseitig  bestimmenden  Zustände  „der 
frühere  und  aber  auch  der  spätere  ist".  ^•''')  Den  in  diesem  Satze 
allerdings  enthaltenen  Widerspruch  hat  Schopenhauer  hinein- 
gelegt, indem  er  die  absolute  Zeitordnung  mit  dem  Zeitverhält- 
niss  verwechselte.  Das  Princip  führt  nirgends  auf  die  unsinnige 
Behauptung,  dass  in  dem  Ablauf  unserer  Wahrnehmungen  der 
Zustand  B  auf  den  Zustand  A  folgt,  ihm  aber  dessenungeachtet 
vorausgehe.  Es  sagt  vielmehr,  dass  A  und  B  notwendig  eine 
Einheit  bilden,  aber  sich  als  Theile  dieser  Einheit  so  verhalten, 
dass  ich  ebensowohl  von  A  zu  B  als  von  B  zu  A  übergehen 
könne. 

Ferner  lasse  sich  nicht  annehmen,  dass  beide  Zustände  zu- 
gleich seien,  „  weil  sie  als  notwendig  zusammengehörend  und  zu- 
gleich seiend,  nur  einen  Zustand  ausmachen";  das  ist  aller- 
dings selbstverständlich,  dass,  wo  uns  Etwas  als  Eines  gegeben 
wird,  das  Problem  der  Gleichzeitigkeit  überhaupt  aufhört.  Von 
Simultaneität  kann  erst  die  Rede  sein,  wenn  eine  Mannigfaltig- 
keit gegeben  wird.  Ist  sie  aber  gegeben  (was  unser  vierter 
Grundsatz    fordert),    so    muss    der    Begriff    der   Gleichzeitigkeit 


2.   Erläuterungen  und  Folgerungen.  123 

wissenschaftlich  definirt  und  die  Möglichkeit  seiner  Realisirung 
darg-ethan  werden.  Und  gerade,  weil  sich  dabei  herausstellt, 
dass  hier  „gar  nicht  mehr  von  Veränderung  und  Causalität" 
(d.  h.  objectiver  Succession)  die  Rede  ist,  nicht  die  Bede  sein 
kann,  so  muss  eben   ein  neuer  Grundsatz  angenommen  werden. 

Schopenhauer  behauptet  nun  weiterhin,  dass  der  Begriff  der 
Wechselwirkung  auch  durch  kein  einziges  Beispiel  zu  belegen 
sei.  Damit  gesteht  er  eine  Verlegenheit  ein,  in  welcher  sich 
die  meisten  Erklärer  befunden  zu  haben  scheinen.  Mau  trifft 
selten  auf  einen  Versuch,  das  Gesetz  in  seiner  Wirksamkeit  zu 
beschreiben.  Für  die  Causalität  besass  man  Beispiele  in  Fülle, 
und  es  war  leicht,  ihrer  Betrachtung  eine  gewinnende  Anschau- 
lichkeit zu  verschaffen.  Bei  der  Wechselwirkung  wusste  man 
überhaupt  nicht,  an  welche  concreten  Vorgänge,  an  was  für  em- 
pirische Beziehungen  man  sich  wenden  solle.  Da  man  die  er- 
kenntnisstheoretische Leistung  des  Princips  verkannte,  konnte 
man  auch  das  Gebiet  seiner  Anwendung  nicht  entdecken. 

So  fällt  es  Schopenhauer  nicht  ein,  sich  an  die  von  Kaut 
gegebenen  Beispiele  zu  halten,  sondern  er  erfindet  seine  eigenen 
Illustrationen.  Kant  hatte  gesagt:  „So  kann  ich  meine  Wahr- 
nehmung zuerst  am  Monde  und  nachher  au  der  Erde,  oder  auch 
umgekehrt,  zuerst  an  der  Erde  und  dann  am  Monde  anstel- 
len ..."  Schopenhauer  dagegen  citirt  das  Gleichgewicht  der 
Wagschalen,  an  denen  er  „gar  kein  Wirken"  entdeckt.  Dann 
denkt  er  an  „  das  Fortbrennen  eines  Feuers ",  dessen  Verbrennen 
Wärme  und  dessen  Wärme  erneute  Verbrennung  bewirkt!  Er 
führt  auch  „ein  artiges  Beispiel"  aus  Humboldt  an,  von  der 
Sandwüste  als  Ursache  der  Trockenheit,  während  die  Trocken- 
heit ihrerseits  wieder  die  Sandwüste  verursacht.  Auch  das 
Schwingen  des  Pendels  und  die  Selbsterhaltuug  des  organischen 
Körpers  werden  herbeigezogen.  In  all  diesen  Beispielen  nun  ent- 
deckt er  die  ausschliessliche  Wirksamkeit  der  Causalität.  „  Aber 
immer  sehen  wir  nur  eine  Anwendung  des  einzigen  und  ein- 
fachen Gesetzes  der  Causalität  vor  uns,  welches  der  Folge  der 
Zustände  die  Regel  gibt,  nicht  aber  irgend  etwas,  das  durch  eine 
neue  und  besondere  Function  des  Verstandes  gefasst  werden 
müsste. "  Man  beweist  also  die  Nichtexistenz  eines  Gesetzes 
dadurch,  dass  man  Beispiele  der  Anwendung  eines  anderen  Ge- 
setzes aufzählt!    Schopenhauer  leistet  hier  eine  vollständige  igno- 


124  XIII.    Das  Prinoip  der  Cooxistcnz  (Wechselwirkung). 

ratio  eleiiclii.  Anstatt  /.u  bewcit^en,  dass  wir  die  Gleichzeitigkeit 
ohne  Wechselwirkung  wahrnehmen  können,  zeigt  er  uns,  das» 
Ursache  und  Wirkung  zuweilen  als  simultan  erscheinen. 

Die  bereits  (§  lS5j  angeführten  Kantischen  Beispiele  zeigen 
klar,  was  jene  „gewissen  Bestimmungen""''^)  sind,  die  durch 
das  Gesetz  der  Wechselwirkung  beherrscht  werden.  Sein  Gebiet 
ist  der  Raum,  die  durch  dasselbe  bestimmten  Zustände  sind  die 
Eaumverhältnisse  der  Substanzen.  Wenn  eine  Substanz  das  Orts- 
verhältniss  einer  andern  bedingt,  so  ist  diese  gleichzeitig  Be- 
dingung der  räumlichen  Relation  von  jener.  Alle  Ortsverhält- 
nisse  sind  von  einander  abhängig,  und  die  localen  Accidenzen 
haben  die  Eigenschaft,  von  einander  wechselseitig  Ursache  und 
Wirkung  zu  sein. 

1S8.  Wer  diesen  Zusammenhang  verstanden  hat,  für  den 
kann  es  nun  nicht  mehr  auffallend  sein,  wenn  Kant  in  den  „  Meta- 
physischen Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft"  als  „aus  der 
allgemeinen  Metaphysik  entlehnt'-  den  Satz  zu  Grunde  legt, 
„dass  alle  äussere  Wirkung  in  der  Welt  Wechsel- 
wirkung sei.""'^)  Für  uns  sagt  dieser  Satz  nichts  Anderes, 
als  dass  alle  Wirkung  in  der  Welt,  sofern  sie  eine  äussere 
ist,  Wechselwirkung  sein  müsse,  denn  sonst  können  wir  sie  ja 
als  äussere  Wirkung  gar  nicht  wahrnehmen. 

Und  nun  betrachte  man  die  durchgeführte  Anwendung  dieses 
Satzes,  wie  sie  die  Natur  unseres  Princips  auf  das  klarste  ent- 
hüllt. Die  ]\rctnphysik  lehrt,  dass  alle  äussere  Wirkung  Wechsel- 
wirkung sei;  die  allgemeine  Naturwissenschaft  sagt,  dass  alle 
materielle  Wirkung  äussere  sei:  alle  thätigen  Verhältnisse  der 
Materien  finden  ..im  Räume"  statt,  alle  Veränderungen  dieser 
Verhältnisse  sind  Bewegung.  Es  kann  also  a  priori  der  Satz 
behauptet  werden,  dass  alle  Bewegung  eine  wechselseitige  sei. 
Nun  wird  dieses  Resultat  auf  die  phoronomischen  und  dynami- 
schen Grundbegritfe  angewandt  und  dadurch  der  wichtige  Satz 
abgeleitet,  dass  in  aller  Mittheilung  der  Bewegung  Wirkung  und 
Gegenwirkung  einander  jederzeit  gleich  seien.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  das  mechanische  Princip  näher  zu  erörtern. 

Jedenfalls  ergibt  sich  aus  der  Anwendung  auf  das  allgemeine 
Beispiel  der  Materie,  dass  Causalität  und  Wechselwirkung  so 
wenig  identisch  sind,  dass  wir  ohne   die   erstere   die  Bewegung 


2.    Erliuiteruugen  und  Folgerungen.  125 

als  allgemeines  Geselielien,  oliue  die  letztere  die  Beweglichkeit  i"-') 
als  allgemeine  Eigenschaft  der  Materie  nicht  zu  begreifen  ver- 
möchten. Oder  mit  anderen  Worten:  Der  Process  des  natür- 
lichen Geschehens  wird  durch  beide  Grundsätze  nach  seineu  zwei 
verschiedenen  Seiten  bestimmt.  Nach  dem  Causalgesetze  be- 
stimmen sich  die  Substanzen  die  Existenz  ihrer  Zustände,  ihr 
Eintreten  und  Vergehen  in  der  Zeitreihe.  Nach  der  Wechsel- 
wirkung bestimmen  sich  die  Substanzen  die  Ordnung  ihrer  exi- 
stirenden,  wechselnden  Zustände  im  Räume. 

189.  Dass  durch  die  Wechselwirkung  keine  irgendwie  von 
unserer  Sinnesauschauung  unabhängige  Verknüpfung  gedacht  wer- 
den könne,  folgt  schon  daraus,  dass  sie  ja  nichts  weiter  ist, 
als  die  zeitliche  Bedingung  räumlicher  Verhältnisse.  Aber,  auch 
wenn  wir  von  dem  erkeuntuisstheoretischeu  Ursprünge  des  Be- 
griffs absehen  imd  ihm  ein  selbstständiges  Dasein  beilegen,  so 
künueu  wir  uns  doch  die  Möglichkeit  seiner  objectiven  Realität, 
die  Möglichkeit,  dass  er  irgend  etwas  bedeute,  ohne  Anschauung 
im  Räume  schlechterdings  nicht  vorstellen.  „  Denn  wie  will  mau 
sich  die  Möglichkeit  denken,  dass,  wenn  mehrere  Substanzen 
existiren,  aus  der  Existenz  der  einen  auf  die  Existenz  der  an- 
deren wechselseitig  etwas  (als  Wirkung)  folgen  könne,  und  also, 
weil  in  der  ersteren  etwas  ist,  darum  auch  in  der  anderen  etwas 
sein  müsse,  was  aus  der  Existenz  der  letzteren  allein  nicht  ver- 
standen werden  kann?"  Es  fehlt  uns  jedes  Begreifen,  wenn 
wir  die  verschiedenen  Substanzen  nicht  als  Theile  des  einen 
Raumes  betrachten.  Es  bleibt  uns  dann  nur  übrig,  mit  Leibnitz 
eine  Gottheit  zur  Vermittlung  zu  brauchen.  ^^^')  Wir  müssten 
„den  Urheber  des  Daseins  als  einen  Künstler  annehmen,  der 
diese  an  sich  völlig  isolirten  Substanzen  ....  schon  im  Welt- 
anfange so  modificirt,  oder  schon  eingerichtet,  dass  sie  unter- 
einander, gleich  der  Verknüpfung  von  Wirkung  und  Ursache,  so 
harmonirten,  als  ob  sie  in  einander  wirklich  einflössen."  So 
würde  das  System  der  prästabilirten  Harmonie  entspringen, 
„das  wunderlichste  Figment,  das  je  die  Philosophie  ausgedacht 
hat."!'-) 

Im  Räume  dagegen  können  wir  die  Gemeinschaft  sehr  wohl 
fassen,  weil  derselbe  schon  als  Form  aller  Anschauung  Ver- 
hältnisse erzeugt,  welche  den  physischen  Einfluss  möglich 
machen,  i'^"-) 


126  XIV.   Die  Natiireinhcit  und  die  besonderen  Naturgesetze. 

11)0.  Als  Dicht  dogmatische,  sondern  kritisch  berechtigte 
Folgerung  ergibt  sich  aus  dem  Princip  der  Wechselwirkimg  die 
Einheit  des  Weltganzen;  denn  als  coexistirende  Dinge  im  Räume 
macheu  alle  Wesen  nur  Eine  Welt  aus,  und  ein  Aussereinander 
von  mehreren  Welten  kann  überhaupt  nicht  vorgestellt  werden. 
Aber  die  Vorstellung  der  Welteinheit  führt  auch  notwendig  auf 
unseren  Gnindsatz  zurück  und  kann  ohne  ihn  nicht  dargethan 
werden.  Denn  man  kann  die  Erscheinungen  gar  nicht  als  Theile 
eines  Ganzen  denken,  wenn  man  sie  isolirt,  ohne  Verknüpfung 
vorstellt.  Die  Verknüpfung  aber  könnte  man  niemals  als  ob- 
jectiv  beurtheilen,  wäre  sie  nicht  schon  um  des  Zugleichseins 
willen  notwendig.  ^'''*) 


\IV.    Die  \atnreiiiheit  und  die  besonderen  Naturgesetze 


o' 


191.  Durch  die  Betrachtung  des  vorigen  Grundsatzes  hat 
die  Erkenntnisstheorie  ihre  allgemeine  Autgabe  vollendet.  Die 
Einheit  des  Bewusstseins  ist  gesichert;  die  Function,  in  welcher 
sie  sich  erzeugt,  ist  ihrer  Zusammensetzung  nach  erklärt,  das 
Ineinandergreifen  ihrer  Regeln  beschrieben,  das  Umspannen  des 
dreigestaltigen  Inhalts  begründet.  Mit  der  Einheit  des  Bewusst- 
seins haben  wir  die  Einheit  der  Erfahrungen  gewonnen;  wir  be- 
greifen die  Gesammtheit  aller  Erscheinungen  in  einem  durch- 
gängigen Zusammenhange. 

192.  Den  zusammenhängenden  Inbegriff  alles  Daseins  nennen 
wir  Natur.  Aus  dem  Begriffe  der  Erfahrung  erkennen  -wir  die 
Einheit  der  Natur.  „Alle  Erscheinungen  liegen  in  einer  Natur 
und  müssen  darin  liegen,  weil  ohne  diese  Einheit  a  priori  keine 
Einheit  der  Erfahrung,  mithin  auch  keine  Bestimmung  der  Gegen- 
stände in  derselben  möglich  wäre." '■")  Die  Regeln,  nach  denen 
sich  die  Mannigfaltigkeit  des  empirischen  Stoffs  zur  einheitlichen 
Erfahrung  umbildet,  sind  auch  die  Gesetze,  nach  denen  die  Natur 
ihre  Erscheinungen  gestaltet.  ..Die  Möglichkeit  der  Erfahrung 
überhaupt  ist  also  zugleich  das  allgemeine  Gesetz  der  Natur, 
und  die  Grundsätze  der  erstem  sind  selbst  die  Gesetze  der 
letztern."  '"') 


XIV.   Die  Xatureinlieit  und  die  besonderen  Naturgesetze.  127 

193.  So  besitzen  wir  in  den  Urtlieileu  von  urspriiugliclier 
Notwendigkeit,  welche  wir  als  Grundlage  unserer  Erfahrung  ent- 
deckten, einen  Schatz  allgemeiner  Naturerkenntnisse,  die  uns 
kein  Fortschritt  empii-ischer  Forschung  w^iderlegen  kann.  Alle 
Naturerscheinungen  sind  Vorstellungen,  welche  in  der  Vorstellung 
von  Raum  und  Zeit  zusammengefasst  werden  (Erster  Grundsatz). 
Die  Elemente  dessen,  was  Raum  und  Zeit  erfüllt,  sind  so,  wie 
wir  sie  wahrnehmen;  sie  sind  weder  getrübt,  noch  verworren; 
aus  der  blossen  Empfindung  entspringt  keine  Täuschung  über  das 
Wesen  der  Natur  (^Zweiter  Grundsatz).  Alle  Dinge,  alle  erkenn- 
baren Objecte  stellen  eine  Einheit  von  Vorstellungen  dar  (Dritter 
Grundsatz).  Diese  Einheit  ist  ununterbrochen;  leerer  Raum  und 
leere  Zeit  sind  in  der  Natur  nicht  vorhanden.  Aber  die  Einheit 
ist  eine  Einheit  qualitativ  verschiedener  Empfindungen  (Vierter 
Grundsatz).  Alle  Objecte  sind  extensive  Grössen  (Fünfter  Grund- 
satz). Sie  erscheinen  ihrem  Zeitverhältniss  nach  gesetzmässig 
bestimmt  (Sechster  Grundsatz),  indem  jedes  Ding  die  unwandel- 
bare Substanz  enthält  (Siebenter  Grundsatz),  und  seine  Verände- 
rungen als  Wirkungen  von  Ursachen  darstellt  (Achter  Grundsatz), 
und  sein  Zugieichsein  mit  anderen  Dingen  durch  den  gegen- 
seitigen Einfluss  gewisser  Bestimmungen  kund  gibt  (Neunter 
Grundsatz). 

194.  Nach  diesen  Grundsätzen  müssen  wir  die  Natur  be- 
urtheilen.  Alle  einzelnen  Erfahrungen  sind  nur  Aeusserungen 
der  Grundgesetze;  alles  empirische  Erkennen  entdeckt  nur  die 
bestimmte  Wirksamkeit  der  fundamentalen  Erfahrungsbedin- 
gungen, ist  nur  ein  Einsetzen  besonderer  Werte  in  die  allge- 
meine Function. 

Somit  ist  jedes  empirische  Urtheil  insoweit  notwendig  und 
allgemein  gültig,  als  es  Erfüllung  eines  letzten  Princips  sein 
muss  und  an  dessen  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit  par- 
ticipirt.  Wenn  der  Stein  warm  wird,  so  muss  diese  Veränderung 
eine  Ursache  haben;  sage  ich  nun:  der  Stein  wird  warm,  weil 
die  Sonne  scheint,  so  ist  dieses  Urtheil  zunächst  der  Versuch 
der  Lösung  einer  notwendigen  Aufgabe  und  kann  seinen  Anspruch 
auf  Anerkennung  durch  Berufung  auf  das  Causalgesetz  begrün- 
den. Allein  seiner  speciellen  Fassung  nach,  als  besondere  Lösung 
der  Aufgabe,  als  Synthese  dieser  bestimmten  Wahrnehmungen 
kann  das  Urtheil  sich  nicht  mit  dem  Bewusstsein  der  Notwendig- 


128         XIV.    Die  Naturoiiilicit  und  die  besonderen  Naturgesetze. 

keit  verbinden.  Ob  gerade  die  Sonne  die  Ursache  der  Tempe- 
ratiirveränderung  des  Steines  war,  das  kann  die  Logik  nicht 
entscheiden.  Der  Grund  der  Gewis.sheit  und  das  Mass  der  An- 
erkennung, welche  den  einzelnen  Moditicatiouen  der  allgemeinen 
Gesetze  zuzutheilen  sind,  können  nach  gewissen  Methoden  be- 
.stinimt  und  erhöht,  niemals  aber  zu  der  Notwendigkeit  erhoben 
werden,  welche,  die  Bedingungen  der  Erfahrung  auszeichnet. 

195.  Mit  diesen  Methoden  hat  sich  die  reine  Erkenntniss- 
theorie nicht  zu  beschäftigen.  Ob  wir  auch  in  den  Theilen  der 
einheitlichen  Natur  wiederum  Einheit  finden  werden,  oder  ob 
uns  die  Natur  an  dem  einen  Punkte  gesetzmässig,  an  dem  an- 
dern regellos  entgegentrete,  oder  ob  sie  sich  in  einem  ausnahms- 
losen unendlichen  Wechsel  gefalle,  darüber  kann  uns  nur  die 
Erfahrung  belehren.  Einheit  des  Bewusstseins  wird  in  allen 
Fällen  erreicht,  Gegenstände  können  uns  dabei  jedesmal  gegeben 
werden.  Wir  dürfen  uns  hierin  durch  den  gewohnten  Anblick 
der  Naturordnung  nicht  täuschen  lassen.  Die  besondere  Gesetz- 
mässigkeit ist  durchaus  nicht  selbstverständlich.  Ebensogut  wie 
die  Natur  eine  gewisse  Aehnlichkeit  ihrer  Objecto  und  Gesetze 
zeigt,  welche  uns  deren  Subsumtion  unter  Gattungen  oder  höhere 
Gesetze  ermöglicht,  ebensogut  könnte  sie  eine  unvergleichbare 
Mannigfaltigkeit  enthalten,  die  aller  Bemühungen  unseres  zu- 
sammenfassenden Denkens  spotten  würde;  ebensogut  könnte  sie 
andererseits  eine  Dürftigkeit  der  Gestaltung  zeigen,  durch  welche 
der  Bereicherung  unserer  Einsicht  ein  nahes  Ziel  gesteckt 
wäre.  Diese  im  Uebrigen  wertlosen  Speculationen  zeigen  hin- 
länglich, dass  die  organische  Gliederung  der  Natureinheit  dem 
kritischen  Denker  etwas  ganz  Zufälliges  ist.  Er  muss  sich  der 
angeblich  naturwissenschaftlichen,  in  der  That  aber  dogmatischen 
Denkart  verschliessen,  welche  die  logische  Gestaltung  der  Welt 
a  priori  zu  erkennen  behauptet.  Wohl  ist  es  die  gleiche  Natur, 
welche  die  Mannigfaltigkeit  der  Aussendinge  hervorbringt,  und 
welche  die  kunstvollen  Begriffe  schafft,  die  wir  in  unserm  Be- 
wusstsein  finden.  Ol)  aber  diese  beiden  Producte  ihrer  all- 
gemein gesetzmässigen  Thätigkeit  in  der  Weise  zusammenhängen, 
dass  das  eine  die  entsprechende  Projection  des  andern,  sein  Ab- 
druck, sein  verjüngtes  Spiegelbild  sei,  das  ist  eine  Betrachtung, 
welche  die  Grenzen  kritischer  Philosophie  tiberfliegt.  Sie  er- 
kennt   und    behauptet    die   Identität    von   Natur  und  Geist    nur 


XIV.  Die  Natureinheit  und  die  besonderen  Naturgesetze.  1 29 

soweit,     als     unser    Denken    Bedingung    des    uns    gegebenen 
Seins  ist. 

196.  Aber  unser  Wissenschaftstrieb,  der  diese  Ordnung  von 
der  Natur  niclit  fordern  kann,  nimmt  sie  von  ihr  als  eine  Gunst 
in  Anspruch.  Wii*  machen  uns  eine  Idee  von  derjenigen 
besonderen  Bescbaöenheit  der  Natur,  welche  der  Möglichkeit 
unseres  empirischen  Begreifens  am  besten  entspricht.  Das  ist  die- 
jenige Gestaltung,  welche  die  empirischen  Naturerkenntnisse  zur 
Einfügung  in  ein  logisches  System  geeignet  macht.  Das  System 
ist  die  Form,  durch  welche  uusere  Erfahrungen  zur  Wissenschaft 
im  engeren  Sinne,  d.  h.  zu  einer  Erkenntniss  werden,  die  einen 
gesetzmässigen  Zusammenhang  all  ihrer  Theile  enthält.  Die 
Möglichkeit  der  systematischen  Naturerkenntniss  hängt  davon  ab, 
dass  die  Erscheinungen  zwar  unendlich  verschieden,  aber  durch- 
gängig und  continuirlich  zu  höheren  Einheiten  verknüpf  bar  seien. 
Da  wir  Wissenschaft  gewinnen  wollen,  treten  wir  mit  der  Vor- 
aussetzung an  die  Natur  heran,  dass  sie  wissenschaftlich  fassbar 
sei ;  da  wir  unser  Ziel  nur  erreichen,  wenn  sie  so  ist,  erforschen 
wir  sie,  als  ob  sie  so  sei.  Da  wir  aber  keinen  theoretischen 
Grundsatz  haben,  schaifen  wir  uns  eine  Hypothese  und  legen 
sie  als  praktisches  Princip  der  Naturbetrachtung  zu  Grunde. 

197.  Mit  der  Hypothese  von  der  Begreiflichkeit  der  Natur 
eröffnet  sich  das  Gebiet  der  angewandten  Erkenntniss- 
theorie, das  wir  nicht  weiter  zu  betreten  haben.  Ihre  Auf- 
gabe ist,  den  erkenntnisstheoretischen  Wert  der  Ideen,  die  Be- 
dingungen ihrer  approximativen  Verwirklichung  und  die  logischen 
Methoden  der  systematischen  Naturforschuug  zu  untersuchen.  ^'-) 
Als  wichtigstes  Beispiel  sei  hier  nur  die  Theorie  der  Analogie 
und  Induction  hervorgehoben.  Dass  diese  nicht,  wie  6s  gewöhn- 
lich geschieht,  in  der  formalen  Logik  behandelt  werden  kann, 
ist  nach  unserer  Darstellung  selbstverständlich.  Die  Schlüsse 
der  Induction  und  Analogie  gehen  auf  Urtheile  von  comparativer, 
materialer  Notwendigkeit,  welche  die  formale  Logik  weder  zu 
liefern  noch  zu  erklären  vermag.  Der  angewandten  Erkeuntniss- 
theorie  dagegen  stehen  zur  Begründung  dieser  Methoden  die  zu- 
reichenden Mittel  zu  Gebote.  ^'^) 


Stadler,  Erkenntuisstheorie. 


130  XV.   Die  modalen  Definitionen. 


\V.    Die  luodalou  Oefiiiitioiicn. 

19S.  Am  Schlüsse  unserer  Untersucliimg  angelangt,  sind 
wir  nun  im  Staude,  ihren  Gegenstand  zu  definiren.  Da  die  Philo- 
sophie sich  nicht,  wie  die  Mathematik,  ihre  Begriffe  selbst  gibt, 
sondern  die  in  der  Erfahrung  gegebenen  zu  bearbeiten  hat ,  so 
kann  sie  ihr  Werk  auch  nicht  mit  der  vollständigen  Erklärung 
derselben  beginnen.  In  der  Philosophie  bildet  die  Definition  das 
Endresultat. '"') 

So  übernimmt  die  Erkenntnisstheorie  den  Begriff  der  ma- 
terialen  Notwendigkeit  aus  der  Erfahrung  und  forscht  nach  den 
Bedingungen  seiner  Möglichkeit.  Erst  nachdem  diese  festgestellt 
sind,  kann  sie  wissenschaftlich  erklären,  ob  und  was  er  ist.  Seine 
Definition  lautet: 

In  der  Natur  ist  das  notwendig,  dessen  Existenz  durch  die 
erkenntnisstheoretischen  Grundsätze  gefordert  wird. 

Insofern  wir  also  ein  Object  als  notwendig  beurtheilen,  be- 
trachten wir  es  im  Verhältniss  zu  unserer  gesammten  Erkennt- 
nissfähigkeit; wir  schreiben  ihm  dadurch  nicht  eine  neue  ob- 
jective  Bestimmung  zu,  sondern  wir  prüfen  die  Relation  seiner 
Bestimmungen  zum  Subject.  Die  Notwendigkeit  ist  nicht  ein  Ac- 
cidens,  das  wir  an  der  Substanz  erkennen,  sondern  die  Qualität 
der  Einheitsfunction  des  Subjects  in  Bezug  auf  den  gegebenen 
Gegenstand. 

Die  Notwendigkeit  fliesst  nicht  aus  einem  Grundsatze,  z.  B. 
der  Causalität  allein,  sondern  aus  allen  Bedingungen,  welche  der 
Möglichkeit  der  Erfahrung  zu  Grunde  liegen.  ''■') 

199.  Mit  der  Notwendigkeit  deckt  sich  der  kritische  Begriff 
der  Wahrheit.  Eine  Erkenntniss  ist  wahr,  wenn  sie  mit  dem 
Object  übereinstimmt.  Dafür  uns  dasjenige  objectiv  ist,  dessen 
wir  uns  nach  den  erkenntnisstheoretischen  Gesetzen  bewusst 
werden,  so  fallen  Wahrheit  und  Notwendigkeit  zusammen. 

200.  Wenn  ich  die  Vorstellungen,  welche  eine  Erkenntniss 
bilden  sollen,  nicht  im  Verhältniss  zum  ganzen  Begriff  der  Er- 
fahrung, sondern  nur  im  Verhältniss  zu  einem  seiner  Hauptcom- 
ponenten,  entweder  zur  Empfindung  oder  zur  Einheitsfunction 
betrachte,  so  entstehen  die  anderen  beiden  Definitionen,  die  man 
als   Erklärungen   der   partiellen  oder   unvollständigen   Modalität 


XV.    Die  modalen  Definitionen.  131 

bezeichnen  könnte.  Die  erste  lautet:  Wirklich  ist  dasjenige, 
was  empfunden  wird  oder  als  empfindbar  notwendig  vorausge- 
setzt werden  muss. 

Die  eine  Hauptforderung  der  Erfahrungsmöglichkeit  ist,  dass 
Empfindung  gegeben  sei;  sonst  könnten  Begriffe  iiberhau])t  nicht 
zur  Function  gelangen ;  es  würde  ihnen  der  Stoff  fehlen,  den  sie 
verknüpfen  sollen.  Dieses  Gegebensein  der  Empfindung  ist  das 
einzige  Kennzeichen  der  Wirklichkeit.  Aber  um  etwas  als  wirk- 
lich zu  beurtheilen,  ist  es  nicht  erforderlich,  dass  es  unmittelbar 
gegeben  sei ;  es  genügt,  aus  seinem  notwendigen  Zusammenhange 
mit  anderem  Realen  auf  sein  Dasein  zu  schliesseu.  So  ist  auch 
die  nicht  wahrgenommene  Ursache  einer  wirklichen  Veränderung 
oder  die  nicht  empfundene  Wirkung  einer  realen  Ursache  wirk- 
lich. Der  Begriff  des  Wirklichen  umfasst  also  nicht  nur  die 
Wahrnehmung,  sondern  auch  die  zur  erkenntnisstheoretischen  Be- 
stimmung der  Wahrnehmung  nötige  Yoraussetziing.  Damit  ist 
die  Hypothese  als  ein  vollberechtigtes  Glied  in  den  Erkenntniss- 
process  mit  aufgenommen.  •''') 

201.  Aus  dem  Verhältniss  der  Dinge  zu  der  in  aller  Er- 
fahrung wirkenden  Einheitsfuuction  ergibt  sich  die  Definition  der 
Möglichkeit : 

Möglich  ist  das,  was  den  Bedingungen  der  Vorstellungs- 
S}Tithese  entspricht. 

Ein  anderes  Kriterium  der  materiellen  Möglichkeit  als  die 
Verknüpfung  gibt  es  nicht.  Der  Satz  des  Widerspruchs  macht 
bloss  Begriffe,  aber  keine  Dinge  möglich;  er  sichert  nur  die 
Möglichkeit  der  formal  logischen  Entwicklung. 

Nach  dieser  Definition  hat  sich  jede  Neubildung  von  Be- 
griffen zu  richten.  Substanzen,  Eigenschaften,  Kräfte,  deren 
Vorstellung  eine  dem  Begriffe  der  Erfahrung  widersprechende 
Verknüpfung  erfordert,  sind  nicht  möglich.  Eine  Hypothese,  so 
kunstvoll  und  logisch  vollendet  sie  auch  sein  mag,  ist  wertlos, 
so  lauge  sie  nicht  das  Postulat  der  Möglichkeit  erfüllt  hat.  i'') 


202.  Die  modalen  Definitionen  sind  der  compendiöse  Kanon 
jeder  Erkenntnisstheorie;  sie  stellen  den  Ertrag  dar,  den  die 
Untersuchung  unserem  wissenschaftlichen   Bewusstsein   gebracht 


132  XV.    Die  modalen  Definitionen. 

hat.  Sie  beschreiben  das  ganze  Gebiet  der  Erfahrung.  Wenn 
wir  wissen,  was  möglich,  wirlilich  und  notwendig  ist,  so  wissen 
wir  auch,  was  wir  an  Erkenntniss  besitzen  können  und  wa.s  wir 
suchen  sollen.  Sie  sind  auch  die  einzige  Basis,  von  der  aus 
die  praktische  Philosophie  rechtmässige  Forderungen  erheben 
kann.  Jeder  Angriff  gegen  den  kritischen  Idealismus  wird  nach 
dem  Erfolge  zu  .  schätzen  sein ,  mit  dem  er  seine  modalen  Be- 
stimmungen tiberwindet  und  durch  andere  ersetzt. 


ANMERKUNGEN. 


Die  Schriften  von  Kant  citire  ich  nach  der  Ausgabe  von  Rosenkranz  u. 
Schubert  (W.),  die  in  der  letztern  vergriffene  Kritik  der  reinen  Vernunft 
(Kr.)  nach  der  Separatausgabe  von  Hartenstein.     1868. 

It  Vgl.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus,  2.  Aufl.  II,  394.  ,.Man 
kann  nämlich  die  Lehre  vom  Vorstellungswechsel,  d.  h.  vom  Einflüsse  vor- 
handener oder  neu  in  das  Bewusstsein  getretener  Vorstellungen  auf  die  nach- 
folgenden nicht  nur  theoretisch  entwickeln,  sondern  auch  in  einem  bei  weitem 
grössern  Masse,  als  es  bisher  geschehen  ist,  auf  Experimente  und  Beobach- 
tung stützen,  ohne  sich  um  die  physiologische  Grundlage  weiter  zu  kümmern."' 

2)  Zur  beschreibenden  Psychologie  würde  z.  B.  auch  die  ,.Pragmatische 
Anthropologie"  im  Sinne  Kant's  gehören;  ebenso  das  grossartig  entworfene 
..System  der  Demologie"  des  Statistikers  Engel;  ferner  die  „Associationspsy- 
chologie'-  der  Engländer.     (Vgl.  Lauge,  a.  a.  0.  11,  395 — 401.) 

3)  W.  III,  74. 

4)  Der  Ausdruck  ist  Kantisch.  Vgl.  Kr.  200.  —  Auch  vorkritisch  „üia- 
teriale  Grundsätze".  (Unters,  üb.  d.  Deutlichkeit  der  nat.  Theol.  und  Moral. 
W.  I,  103.) 

5)  W.  lU,  21. 

6)  Es  ist  nützlich,  dass  dieser  hypothetische  Charakter  neuerdings  wieder 
stark  betont  wird.    So  von  Sigwart. 

7)  Kant  hat  dem  dictum  de  omni  et  nuUo  eine  hei'vorragende  Stelle  an- 
gewiesen. „Die  falsche  Spitzfindigkeit  etc.",  §  2  (W.  I,  60)  und  Logik  §  63. 
(W.  in,  309.)  Er  leitete  dasselbe  von  den  allgemeinen  Regeln  ab:  nota 
notae  est  nota  rei  ipsius  und  repugnans  notae  repugnat  rei  ipsi.  (W.  I,  59 
und  III,  309.)  In  der  Logik  ordnete  er  den  letztern  noch  ein  „Allgemeines 
Prineip"  über:  Was  unter  der  Bedingung  einer  Regel  steht,  das  steht  auch 
unter  der  Regel  selbst.  (W.  III.  305.)  Aber  alle  die  Formeln  tragen  ihre 
Rechtfertigung  nicht  in  sich  selbst;  man  weiss  nicht,  wie  man  dazu  kommt, 
sie  anzunehmen.  Aus  der  von  mir  gegebenen  Fassung  lässt  sich  unmittelbar 
erkennen,  dass  die  Festsetzung  aus  der  Anschauung  der  logischen  Function 
hervorgegangen  ist.    Ich  darf  dieses  Prineip  daher  mit  Recht  Axiom  nennen. 


1 34  Anmerkungen. 

S)  Von  den  Erklärungen,  die  ich  gefunden,  gefällt  mir  diejenige  am 
besten,  welche  Lange  (a.  a.  0.  II,  569)  gegeben  hat.  „Der  Satz  A  =  A  ist 
zwar  die  Grundlage  alles  Erkennens,  aber  selbst  keine  Erkenntniss,  sondern 
eine  That  des  Geistes,  ein  Act  ursprünglicher  Synthesis,  durch  welchen  als 
notwendiger  Anlang  alles  Denkens  eine  Gleichheit  oder  ein  Beharren  gesetzt 
werden,  die  sich  in  der  Natur  nur  vergleichsweise  oder  annähernd,  niemals 
aber  absolut  und  vollkommen  vorfinden."  Nur  wird  durch  den  Ausdruck 
„notwendiger  Anfang"  der  Charakter  des  Princips  als  bewusster  logischer  Be- 
dingung zu  wenig  hervorgehoben ;  sodann  ist  es  schärfer,  das  „Beharren"  als 
Beharren  der  Begriffe  zu  bestimmen  und  nicht  der  „Natur"  im  Allgemeinen, 
sondern  speciell  der  psychologischen  Ungleichheit  der  Vorstellungen  ent- 
gegenzusetzen. 

Sobald  man  diese  von  mir  aufgestellten  Beziehungen  übersieht,  ist  man  in 
Verlegenheit,  was  man  mit  dem  Satze  beginnen  soll.  So  findet  Drobisch  (Neue 
Darstellung  der  Logik,  III.  Aufl.  62),  „er  würde  jedoch  ohne  weitere  Folge 
und  daher  ein  völlig  unfruchtbares  Princip  sein,  wenn  er  sich  nur  auf  die 
absolute  Einerleiheit  zweier  Begriffe  bezöge,  bei  welcher  der  eine  nur  eine 
Wiederholung  des  andern  im  Denken  ist."  Gewiss,  wenn  wir  uns  nicht  der 
Psychologie  und  Erkenntuisstheorie  gegenüber  sicher  zu  stellen  hätten.  Er 
bezieht  den  Satz  auf  eine  relative  Identität,  derselbe  besage,  das  Urtheil  sei 
formal  gültig,  „wenn  und  wiefern  Subject  und  Prädicat  sich  als  identisch 
nachweisen  lassen."  Diese  relative  Einerleiheit  ist  aber  nur  eine  unklare  Ver- 
hüllung der  absoluten;  denn  die  Entdeckung  des  „wenn  und  wiefern"  führt 
uns  eben  nur  zu  einzelnen  Bestandtheilen,  von  deren  absoluter  Identität 
schliesslich  doch  die  Geltung  des  Urtheils  abhängt. 

Ueberweg  sagt,  dass  der  Grund  der  Wahrheit  dieses  Satzes  darin  liege, 
„dass  das  im  Inhalt  des  Begriffs  vorgestellte  Merkmal  dem  durch  eben  diesen 
Begriff  vorgestellten  Gegenstände  iuhärirt,  das  Inhärenzverhältniss  aber  durch 
das  prädicative  repräsentirt  wird."  (System  der  Logik,  III.  Aufl.  1S:3.)  Diese 
erkenntnisstheoretische  Begründung  des  Princips  ist  in  der  formalen  Logik 
unstatthaft,  wenn  ihr  nicht  wenigstens  die  formale  vorangeht.  Von  der  ob- 
jectiven  Bedeutung  der  Begriffe  darf  in  erster  Linie  gar  nicht  die  llede  sein. 
Der  Grund  der  logischen  Wahrheit  dieses  Princips  liegt  vielmehr  darin,  dass 
es  conditio  sine  qua  non  der  formalen  Notwendigkeit  ist.  Ohne  dasselbe  ist 
eine  mit  sich  selbst  zusammenstimmende  Verknüpfung  der  Vorstellungen  un- 
möglich; deshalb  hat  es  in  der  formalen  Logik  unbeschränkte  Geltung. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  vor  einer  Verwechslung  gewarnt.  Wenn  man 
sagt,  dass  dieses  Princip  und  verwandte  „nicht  an  die  Spitze  der  ganzen 
Logik  gesetzt  werden  dürfen,  da  sie  erst  dann  in  ihrer  wahren  Bedeutung 
verstanden  werden  können,  wenn  man  die  Form  der  Begriffe  und  das  Ver- 
hältniss  von  Subject  und  Prädicat  im  Urtheil  schon  kennen  gelernt  habe" 
(ebd.  1S2),  so  theile  ich  diese  Ansicht  vollkommen,  sofern  sie  unter  „Spitze" 
den  Anfang  einer  Darstellung  versteht.  Ich  bin  allerdings  der  Meinung,  dass 
man  die  Logik  organisch  entwickeln  und  die  Axiome  gerade  da  einführen 
soll,  wo  ihre  Function  von  Nöten  wird;  nur  dann  kann  die  Art  ihrer  Leistung 
ins  richtige  Licht  treten.  Sollte  man  sich  aber  unter  „Spitze"  das  logische 
Fundament  der  Wissenschaft  denken,  dann  muss  ich  entschieden  behaupten. 


Anmerkungen.  135 

dass  sie  an  der  Spitze  stehn.  Sie  bilden  die  allgemeinsten  Kriterien  der 
logischen  Wahrheit,  deren  Geltung  von  keinen  weitern  Voraussetzungen  mehr 
abhängig  ist. 

Eingehender  würdigt  Sigwart  das  Princip  der  Identität;  allein  auch  seine 
Darstellung  ist  mit  Elementen  durchsetzt,  welche  den  Sinn  der  formalen  Logik 
trüben,  und  auch  der  Grundgedanke  seiner  Ableitung  ist  so  beschafi'en,  dass 
ich  mich  demselben  unmöglich  anschliessen  kann.  Sigwart  postulirt  für  die 
Logik  „die  Fähigkeit  objectiv  notwendiges  Denken  von  nicht  notwendigem 
zu  unterscheiden,  und  diese  Fähigkeit  mauifestirt  sich  in  dem  unmittelbaren 
Bewusstsein  der  Evidenz,  welches  notwendiges  Denken  begleitet."  (Logik  1, 
§  (i3.)  Diese  Notwendigkeit  ist  zunächst  eine  „subjectiv  erfahrene";  dann 
aber,  „indem  wir  eine  allen  gemeinsame  Vernunft  voraussetzen,  sind  wir 
überzeugt,  dass,  was  wir  mit  dem  Bewusstsein  unausweichlicher  Notwendigkeit 
denken,  auch  von  andern  so  gedacht  werde"  (ebd.).  Aus  diesem  Grunde 
gilt  uns  unmöglich,  dass  „in  dem  Innern  Acte  des  Einssetzens  Verschiedenes 
mögUch  wäre,  und  der  Eine  gleiche  Vorstellungen  nicht  gleich  setzte,  der 
Andere  verschiedene  gleich"  (ebd.  §  14,  p.  80).  Ein  Urtheil  ist  uns  also 
„darum  objectiv  gültig,  weil  es  notwendig  ist,  Uebereinstimmeudes  in  Eins 
zu  setzen."  Diesem  „Grundsatz  der  Uebereinstimmung"  wird  dann  als  Be- 
dingung noch  das  „Princip  derConstanz"  hinzugefügt,  welches  die  Fähigkeit 
behauptet,  „Subjects-  und  Prädicatsvorstellung  jede  für  sich  festzuhalten" 
(ebd.  p.  82). 

Die  Unklarheit  in  diesem  Gedankenzusammenhang  beruht  darauf,  dass 
der  Begriff  der  formalen  Notwendigkeit  nicht  festgehalten  ist.  In  der  for- 
malen Logik  heisst  notwendig  das,  was  der  Voraussetzung  wegen  nicht  anders 
sein  kann.  Schon  aus  diesem  Begriff  folgt,  dass  die  formale  Logik  auf  den 
Unterschied  eines  individuellen  und  allgemeinen  Bewusstseins  gar  keine  Rück- 
sicht zu  nehmen  braucht.  Die  Entwicklung  gilt  eben  für  jedes  Bewusstsein, 
das  die  Voraussetzung  anerkennt.  Es  ist  also  überflüssig  und  daher  un- 
richtig, dem  Princip  der  Identität  noch  eine  Beziehung  zu  der  Analogie  der 
Bewusstseinsvorgänge  in  verschiedenen  Individuen  geben  zu  wollen.  Die  Frage 
ist  vielmehr:  Wie  ist  in  einem  Bewusstsein,  das  die  Voraussetzung  aner- 
kennt, ein  notwendiger  Fortschritt  zu  andern  Urth eilen  möglich?  Die  Ant- 
wort lautet:  Auf  Grund  des  Princips  der  Identität.  Somit  wird  dieses 
Princip  allgemeine  Voraussetzung  der  Logik,  nicht  aber  ein  dasselbe  be- 
gleitendes Bewusstsein  der  Evidenz.  Die  „Erfahrung  dieses  Bewusstseins" 
dürfen  wir  nicht  als  Urthatsache  zu  Grunde  legen,  denn  ihre  Möglichkeit 
soll  ja  eben  erklärt  werden.  Das  allgemeine  Postulat  bei  Sigwart  beruht 
also  entweder  auf  einer  falschen  Ansicht  von  der  Aufgabe  der  formalen 
Logik,  oder  es  fällt  zusammen  mit  dem  Princip  der  Identität.  Anstatt  zu 
sagen:  „Das  Urtheil  ist  uns  darum  objectiv  gültig,  weil  es  notwendig  ist, 
Uebereinstimmendes  in  Eins  zu  setzen",  muss  gesagt  werden:  Ein  Urtheil 
ist  uns  darum  notwendig,  weil  es  in  einem  andern  enthalten  ist.  Dieses  Ent- 
haltensein ist  darum  möglich,  weil  der  Satz  der  Identität  gilt.  Was  ferner 
das  Princip  der  Coustanz  anbelangt ,  so  kann  ich  nicht  einsehen ,  dass  es 
„wesentlich"  oder  unwesentlich  von  dem  der  Uebereinstimmung  verschieden 
sei;  denn  Vorstellungen,   „jede   für  sich  festzuhalten"  heisst,  soweit  es  die 


136  Anmerkungen. 

Logik  interessiit,  nichts  Anderes,   als   sie  in  jedem  beliebigen  Momente  als 
identisch  wiedererkennen. 
;t)  Kr.   i4i). 

1(1)  Sigwart  unterscheidet  den  Satz  des  Widerspruchs  (.,A  ist  B"  und 
..A  ist  nicht  13"  können  nicht  zugleich  wahr  sein)  von  dem  „gewöhnlich  so- 
genannten „Principium  contradictionis"  (A  ist  nicht  non  A)  (a.  a.  0.  144). 
Diese  Unterscheidung  ist  ganz  unnötig,  denn  der  Satz,  welcher  das  Ver- 
hältniss  eines  Prädicats  zu  seinem  Subjecte  betreffen  soll,  bezieht  sich  eben- 
falls auf  zwei  Urtheile,  die  nicht  beide  bestehen  können;  er  sagt  nämlich, 
dass  ein  gegebenes  Urtheil  einem  andern  Urtheil,  welches  aus  dem  Subjects- 
begriff  folgt,  widerspricht.  Wir  erkennen  den  Widerspruch  mit  dem  Begrifi'e 
des  Subjects  ül)erhaupt  ja  nur  dadurch,  dass  wir  aus  dem  letztern  das  ent- 
gegengesetzte Urtheil  entwickeln.  Er  gil)t  aber  direct  den  letzten  Grund, 
die  mangelnde  Identität,  in  seiner  Formel  an. 

Vollständig  müsste  auch  sein  Ausdruck  lauten:  „A  ist  A"  und  „A  ist 
nicht  A"  können  nicht  beide  wahr  sein.  In  dieser  Fassung  legt  das  Princip 
seine  ganze  Genesis  dar;  man  erkennt  sofort,  dass  man  ohne  es  gezwungen 
wäre.  Identisches  für  nichtidentisch  zu  erklären.  Weil  beide  Formeln  durch- 
aus das  Gleiche  bedeuten,  ist  es  begreiflich,  dass  die  Logiker  in  ihrem  Ge- 
brauche schwanken,  und  je  nach  Bedarf  den  für  den  einzelnen  Fall  be- 
quemem Ausdruck  gebrauchen. 

Sigwart  gibt  die  Formel  als  theoretisch  richtig  zu;  aber  sie  sei  ,,in  der 
Praxis  unbrauchbar.  .  .  .  Denn  so  nackt,  dass  gesagt  würde  Gold  ist  Nicht- 
Gold ,  grün  ist  nicht  -  grün ,  Sein  ist  Nicht  -  Sein,  tritt  uns  der  W^iderspruch 
nicht  leicht  entgegen"  (p.  154).  Nun  denke  ich,  wird  es  sich  in  der  Wis- 
senschaft der  Logik  zunächst  um  theoretisch  Richtiges  handeln;  für  die 
Praxis  lässt  sich  dann  die  exacte  Formel  als  Ideal  betrachten ;  zuletzt  wird 
es  doch  wohl  Aufgabe  der  angewandten  Logik  sein,  die  Widersprüche  so 
„nackt"  als  möglich  darzustellen. 

Für  das  ..Zugleich",  welches  nach  Kant  ,. aus  Unvorsichtigkeit"  (Kr.  149) 
in  die  Formel  gemischt  worden,  ertheilt  Sigwart  dem  Aristoteles  das  Prä- 
dicat  „vorsichtig"  (a.  a.  0.  p.  146).  Er  erklärt  Kaut's  Polemik  gegen  Ari- 
stoteles für  einen  „Schlag  in  die  Luft"  (ebd.  149).  Ich  meinerseits  glaube 
nicht,  dass  Kant  den  Aristoteles  hat  schlagen  wollen.  Wen  er  ins  Auge  ge- 
fasst  und  getroffen  hat,  sind  vielmehr  Diejenigen,  welche  einen  dem  Aristo- 
teles entlehnten  Satz  zu  einem  Zwecke  verwenden,  den  er  gar  nicht  erfüllen 
kann.  Ueber  die  Sache  selbst  braucht  nach  dem  Obigen  nicht  mehr  ge- 
sprochen zu  werden. 

11)  Sigwart  versuchte  es  in  folgender  Weise  (a.  a.  0.  p.  157  u.  158). 
Nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  sei  von  den  beiden  Urtheilen  A  ist  B  und 
A  ist  nicht  B  eines  notwendig  falsch,  „Dass  aber  das  eine  notwendig  wahr 
ist,  ergibt  sich  sofort,  weil  nicht  beide  zugleich  verneint  werden  können." 
Warum  nicht  ?  Hören  wir  den  Grund.  Wollte  ich  „verneinen,  dass  A  B  ist, 
und  verneinen,  dass  A  nicht  B  ist,  so  würde  ich  mit  jener  Verneinung  sagen 
A  ist  nicht  B,  mit  dieser  A  ist  B,  also  in  Widerspruch  fallen."  Nein!  ich 
würde  nicht  in  Widerspruch  fallen,  sondern  im  Widerspruch  bleiben.  Ich 
hätte  bloss  mit   dem  vorhandenen  Widerspruch  einige  Operationen  gemacht 


Anmerkungen.  137 

und  den  Satz  des  Widerspruchs  vernachlässigt,  der  mir  verbietet,  mit  solchen 
Urtheilen  überhaupt  Eutwicklunsjeu  vorzunehmen.  Aber  geben  wir  das  zu 
und  betrachten  die  Folgerung.  „Somit  bleibt  also  zwischen  Bejahung  und 
Verneinung  kein  Mittleres  übrig,  das  eine  Beziehung  des  Prädicates  B  auf 

das  Subject  A  enthalten  könnte, "    Ich  gestehe,   dass   ich  unfähig 

bin,  einzusehen ,  worauf  sich  dieser  Schluss  gründet ;  ich  sehe  in  den  Prä- 
missen nicht  das  mindeste  Hinderniss,  anzunehmen ,  dass  es  irgend  ein  Mitt- 
leres gebe.  Der  einzige  Schluss,  den  ich  aus  der  Ableitung  ziehen  kann, 
ist:  Somit  war  das  nicht  der  richtige  Weg,  den  Widerspruch  aufzuheben, 
und  wir  müssen  einen  neuen  suchen.  Der  Begriff  des  Mittleren,  der  weder 
in  dem  des  Widerspruchs  noch  in  dem  der  Verneinung  enthalten  ist,  ist  eben 
die  Ursache,  dass  unser  Princip  als  selbständiger  Grundsatz  mit  unmittel- 
barer Ableitung  dastehen  muss. 

Ausserdem  hat  Sigwart  bei  dem  obigen  Ableitungsversuche  einen  Satz 
vorausgesetzt,  den  ich  nun  meinerseits  für  abgeleitet  halte,  und  zwar  ab- 
geleitet aus  dem  Princip  des  ausgeschlossenen  Dritten.  Es  ist  der  Satz  der 
doppelten  Verneinung  (duplex  negatio  affirmat)  (ebd.  p.  155).  In  dem  Urtheil: 
A  ist  nicht  nicht  B  liegt  unmittelbar  nichts  Positives;  es  sagt  bloss,  dass 
das  Urtheil  A  ist  nicht  B  ungültig  sei;  über  die  Gültigkeit  des  correspon- 
direnden  Urtheils  A  ist  B  wird  gar  nichts  ausgemacht.  Erst  wenn  ich  weiss, 
dass  ein  drittes  Verhältniss  nicht  möglich  ist,  sondern  dass  Begriffe  entweder 
in  einander  enthalten  sind  oder  nicht,  kann  ich  in  der  Ungültigkeit  der  Ver- 
neinung einen  positiven  Ertrag  erblicken,  indem  dann  das  bejahende  Urtheil 
als  die  eine  Hälfte  der  möglichen  Erkenutniss  übrig  bleibt.  So  ist  der  Satz 
der  doppelten  Verneinung  eine  allgemeine  Folgerung  aus  dem  Princip  des 
ausgeschlossenen  Dritten. 

1 2)  Wer  sich  über  Kant's  Auffassung  des  logischen  Princips  vom  zureichen- 
den Grunde  ausführlich  orientiren  will,  lese  die  vorkritische  Schrift:  „Ver- 
such, d.  Begriff  d.  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzuführen."  AUg. 
Anm.,  wo  bereits  die  vollständige  Klarheit  des  späteren  Standpunktes  herrscht. 
Ich  hebe  hier  nur  Eine,  für  die  Function  des  Princips  der  Identität  wichtige, 
Stelle  hervor  (I,  15S):  „Eine  logische  Folge  wird  eigentlich  nur  darum  ge- 
setzt, weil  sie  einerlei  ist  mit  dem  Grunde." 

13)  Der  Grundgedanke  dieser  Eintheilung  findet  sich  in  dem  Werke  von 
Sigwart  (I,  §  4,  p.  16)  zur  Ausführung  gebracht,  dem  ich  auch  die  Bezeich- 
nungen „Analytisch"  und  „Normativ"  entnommen  habe. 

14)  Die  consequenteste  Durchführung  dieses  Gedankens  ist  meines  P^r- 
achtens  das  „System  der  Logik"  von  Ueberweg.  An  diesem  Buch,  das  Nie- 
mand aus  der  Hand  legen  wird,  ohne  reichliche  Anregung  gewonnen  zu 
haben,  kann  man  den  zweifelhaften  Erfolg  der  Durchkreuzung  zweier  ver- 
schiedenen Methoden  am  besten  beobachten. 

15)  Kr.  14. 

16)  Vergl.  Wundt,  Physiologische  Psychologie  1874,  p.  272. 

17)  W.  III,  60. 

18)  Kr.  56. 

19)  Kr.  76. 

20)  Vgl.  dazu  Kr.  58  ff.  —  Cohen,  Kant's  Theorie  der  Erfahrung,  Berlin 


138  Anmerkungen. 

IS71,  Cap.  I— III.  —  Es  ist  sehr  instructiv,  neben  den  entsprechenden  Ab- 
schnitten der  transscendentalen  Aestlictik  auch  die  sectio  III  der  Habili- 
tationsschrift De  mundi  sensibilis  etc.  W.  I,  316  zu  beachten.  Vgl.  auch 
Cohen,  Die  systematischen  Begritfe  in  Kant's  vorkritischen  Schriften  etc. 
Berlin  1873.    Namentlich  Abschn.  IV. 

21)  Kant  hat  Raum  und  Zeit  nicht  in  der  transscendentalen  Aesthetik 
als  quanta  continua  nachgewiesen,  sondern  erst,  als  er  die  Stetigkeit  der  in- 
tensiven Grössen  darlegte  "(Kr.  Ifil).  Daraus  darf  aber  nicht  gefolgert  werden, 
dass  es  erst  dort  eingesehen  werden  könne.  Wenn  es  überhaupt  möglich 
ist,  Raum  und  Zeit  in  abstracto  von  der  Synthesis  abzusondern,  so  kann 
man  auch  ihre  Continuität  davon  unabhängig  betrachten.  —  Vgl.  auch 
Kr.  365—368. 

22)  Dieser  Gedanke  ist  am  klarsten  zu  finden  in  den  Antinomien  Kr. 
365  und  366. 

23)  Vgl.  Kant's  Habilitationsschr.  De  mundi  etc.    W.  L  322. 

24)  Veluti  Schema,  omnia  omnino  externe  sensa  sibi  coordinandi. 
W.  I,  322. 

25)  Kr.  62. 

26)  Vgl.  Kr.  64  ff.  —  Cohen,  a.  a.  0.  Cap.  I— IV. 

27)  Wundt,  p.  6S2  ff. 

2S)  Baumann  (Die  Lehren  von  Raum,  Zeit  und  Mathematik  II,  667) 
wirft  ein,  man  könne  zwar  die  Aufeinanderfolge  der  Vorstellungen  wegdenken, 
..dann  bleibt  nicht  die  Zeit,  sondern  die  einfache  Empfindung  des  Ich  als 
seiend,  aber  ohne  Aufeinanderfolge,  ohne  Verlauf  und  merkliche  Unter- 
schiede, das  ist  vielmehr  die  Idee  der  Ewigkeit,  diese  im  wirklichen  Sinne 
gefasst  und  nicht  mit  der  Unendlichkeit  der  Zeit  verwechselt,  und  ist  nicht 
das,  was  wir  alle  mit  Zeit  meinen."  Gewiss  bleibt  die  Zeit  so  wenig  wie 
der  Raum  als  eine  deutliche  Vorstellung  zurück,  denn  es  liegt  ja  in  der 
Natur  der  Verhältnissvorstellung,  dass  ihre  Function  nur  an  einem  gegebenen 
]\Iannigfaltigen  zu  Tage  treten  kann.  Aber  der  Sinn  dieses  Bestehen-Bleibens 
ist  auch  nur  der,  dass,  wenn  alle  besonderen  Zeitbestimmungen  weggedacht 
werden,  damit  die  Zeit  als  Ganzes  nicht  aufgehoben  wird;  es  bleibt  die  un- 
bestimmte, allgemeine  Anschauung,  von  welcher  nur  noch  die  Beharrlichkeit 
des  Subjects  einen  ebenfalls  unbestimmten  Theil  abgrenzt. 

29)  Wenn  Kant  sagtj  Wir  „stellen  die  Zeitfolge  durch  eine  ins  Unend- 
liche fortgehende  Linie  vor,  in  welcher  das  Mannigfaltige  eine  Reihe  aus- 
macht, die  nur  von  einer  Dimension  ist,  und  schliessen  aus  den  Eigenschaften 
dieser  Linie  auf  alle  Eigenschaften  der  Zeit"  (Kr.  67),  ist  darunter  nicht  zu 
verstehn.  dass  wir  die  Stetigkeit  der  Zeit  nur  aus  der  des  Raumes  folgern. 
Sie  geht  vielmehr  unmittelbar  aus  ihrer  Eigenschaft  als  bedingende  Ver- 
hältnissvorstellung hervor.     Gegen  Wundt,  a.  a.  0.  p.  6S4. 

30)  Ich  mache  auf  diese  Bezeichnung  der  Kritik,  p.  Ils  aufmerksam, 
um  zu  zeigen,  dass  es  ganz  im  Sinne  Kant's  gedacht  ist,  wenn  man  auch  die 
Resultate  der  Aesthetik  in  transscendentale  Grundsätze  zusammenfasst. 

31)  Vgl.  meine  Schrift:  Kaut's  Teleologie  und  ihre  erkenntnisstheoretische 
Bedeutung.    Berlin  1874.  —  Cohen,  a.  a.  0.  Cap.  XIV. 


Anmcrkungeu.  139 

32)  Man  studire  namentlich  die  „Allgemeinen  Anmerkungen-'  zur  transsc. 
Aesthetik  p.  72. 

33)  Kr.  92.  —  Vgl.  dazu  die  vorkritische  Stelle  aus  der  Habilitations- 
schrift, W.  1,310:  Nam  per  formam  seu  speciem  objecta  sensus  non  feriunt; 
ideoque,  ut  varia  objecti  seusum  afticientia  in  totum  aliquod  repraesentationis 
coalescant,  opus  est  interno  mentis  priucipio  per  quod  varia  illa  secundum 
stabiles  et  innatas  leges  speciera  quandani  induant." 

34)  Vgl.  die  ungemein  klare  Kantische  Stelle,  W.  I,  502:  ..Der  Kaum, 
als  Gegenstand  vorgestellt,  (wie  mau  es  in  der  Geometrie  bedarf,)  enthält 
mehr,  als  blosse  Form  der  Anschauung,  nämlich  Zusammenfassung  des 
Mannigfaltigen  etc." 

35)  „Alle  Anschauungen  als  sinnlich  beruhen  auf  Affectionen,  die  Be- 
griffe also  auf  Functionen."  Kr.  92.  Vgl.  übrigens  Cohen  a.  a.  0.  Cap.  X, 
besonders  p.  1 66  ff. 

36)  Kr.  93. 

37)  Vgl.  W.  I,  50S  (Fortschr.  d.  Metaph.):  „Alle  Vorstellungen,  die  eine 
Erfahrung  ausmachen,  können  zur  Sinnlichkeit  gezählt  werden,  eine  einzige 
ausgenommen,  d.  i.  die  des  Zusammengesetzten  als  eines  solchen." 
—  Ganz  annehmbar,  wenn  vorsichtig  interpretirt .  ist  auch  die  vorkritische 
Definition:  „Etenim  spontaneitas  est  actio  a  principio  interno  profecta." 
W.  I,  24. 

38)  Kantischer  Ausdruck.     Kr.  128. 

39)  Kr.  114. 

40)  W.  ni,  59. 

41)  Kr.  176. 

42)  Kr.   179. 

43)  Die  „synthetische  Einheit  der  Apperception  aller  Erscheinungen" 
ist  die  „wesentliche  Form"  der  Erfahrung.    Kr.  192. 

44)  Die  vorstehende  Ableitung  enthält  den  einfachen  Grundgedanken 
des  durch  seine  „Dunkelheit"  berühmten  §  16  der  transscendentalen  Ana- 
lytik (p.  115).  Ich  habe  das  ..ich  denke"  durch  ...meine"  ersetzt,  weil  durch 
letztern  Ausdruck  die  hier  erforderliche  Beziehung  genauer  gegeben  wird. 

45)  Meines  Erachtens  beruht  das  Verständniss  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  zum  grossen  Theil  darauf,  dass  mau  hinter  ..dem  obersten  Grund- 
satze aller  synthetischen  Urtheile"  (Kr.  150)  nichts  Anderes  sucht,  als  hinter 
dem  „Grundsatz  der  synthetischen  Einheit  der  Apperception."  Da  dieser 
Punkt  wichtig  ist,  will  ich  hier  die  verschiedenen  Fassungen  des  Princips 
bei  Kant  nebeneinander  stellen. 

1.  Kr.  p.  117.  Verbindung  „ist  allein  eine  Verrichtung  des  Verstandes, 
der  selbst  nichts  weiter  ist,  als  das  Vermögen,  a  priori  zu  verbinden  und 
das  Mannigfaltige  gegebener  Vorstellungen  unter  die  Einheit  der  Appercep- 
tion zu  bringen,  welcher  Grundsatz  der  oberste  im  ganzen  menschlichen 
Erkenntniss  ist." 

2.  Kr.  p.  HS.  -Der  oberste  Grundsatz  ebenderselben  (der  Möglichkeit 
aller  Anschauung)  in  Beziehung  auf  den  Verstand  ist:  dass  alles  Mannig- 
faltige der  Anschauung  unter  Bedingungen  der  ursprünglich -synthetischen 
Einheit  der  Apperception  steht." 


140  Anmerkungen. 

3.  Kr.  i>.  152:  ..Das  oberste  Priucipium  aller  synthetischen  Urtheile  ist 
also:  ein  jeder  Gegenstand  steht  unter  den  notwendigen  Bedingungen  der 
synthetischen  Einheit  des  Mannigfaltigen  in  einer  möglichen  Erfahrung." 

4.  Kr.  p.  573:  Es  wird  ..die  objective  Realität  unserer  empirischen  Er- 
kenntniss  auf  dem  transscendentalen  Gesetze  beruhen,  dass  alle  Erschei- 
nungen, sofern  uns  dadurch  Gegenstände  gegeben  werden  sollen,  unter 
Regeln  a  priori  der  synthetischen  Einheit  derselben  stehen  müssen  .  .  .'• 

5.  Kr.  p.  5TS.  ..Der  synthetische  Satz,  dass  alles  verschiedene  empirische 
Bewusstsein  in  einem  einigen  Selbstbewusstsein  verbunden  sein  müsse,  ist  der 
schlechthin  erste  und  synthetische  Grundsatz  unseres  Denkens  überhaupt." 

6.  W.  III,  66.  „Erfahrung  besteht  in  der  synthetischen  Verknüpfung 
der  Erscheinungen  (Wahrnehmungen)  in  einem  Bewusstsein,  sofern  dieselbe 
notwendig  ist." 

7.  W.  I.  470.  (Ueb.  e.  Entd.  etc.)  Nun  sieht  man,  dass  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  „das  Princip  synthetischer  Urtheile  überhaupt,  welches  not- 
wendig aus  ihrer  Detinition  folgt,  mit  aller  erforderlichen  Ausführlichkeit 
darlege,  nämlich:  dass  sie  nicht  anders  möglich  sind,  als  unter  der  Bedin- 
gung einer  dem  Begriffe  ihres  Subjects  untergelegten  Anschauung." 

46)  ,,Denn  dieser  Satz  kann  unabhängig  von  der  Ableitung  der  Vorstel- 
lungen des  Raumes  und  der  Zeit  bewiesen  werden,  und  so  der  Idealität  der 
letztern  zum  Beweise  dienen,  noch  ehe  wir  sie  aus  deren  innerer  Beschaffen- 
heit gefolgert  haben."  W.  I,  470.  —  Vgl.  dazu:  weil  die  Kategorien  „nur 
in  Beziehung  auf  die  Einheit  der  Anschauungen  in  Raum  und  Zeit  Bedeu- 
tung haben,  sie  aber  diese  Einheit  auch  nur  wegen  der  blossen  Idea- 
lität des  Raumes  und  der  Zeit  durch  allgemeine  Verbindungsbegriffe 
a  priori  bestimmen  können."    Kr.  220. 

47)  Vgl.  die  Deduction  in  der  ersten  Auflage.     Kr.  507  ff". 

ib)  Diesen  methodisch  annehmbaren  Einwand  macht  Dühring,  Kritische 
Geschichte  d.  Phil.    2.  Aufl.  p.  414. 

49)  Vgl.  Von  d.  Grunde  d.  Unterscheidg.  etc.  Kr.  209—224. 

50)  Ich  muss  diese  Ansicht  Lange  gegenüber  aufrecht  erhalten,  obgleich 
ich  nicht  der  unwissenschaftlichen  Meinung  bin,  ..dass  die  Stammbegrift'e 
unserer  Erkenntnisse  a  priori  sich  auch  a  priori,  durch  reine  Deduction  aus 
notwendigen  Begriffen  müssen  entdecken  lassen"  (a.  a.  0.  II,  30),  sondern 
mit  ihm  annehme,  „dass  die  Reflexion  über  die  Erfahrung  ebenfalls  ein  in- 
ductives  Verfahren  ist  und  kein  anderes  sein  kann"  (ebd.  p.  124).  Allein 
daraus  folgt  nach  meiner  Auffassung  nicht,  „dass  der  Anspruch  an  die  Ge- 
wissheit der  vollständigen  Auffindung  alles  Apriorischen  unhaltbar  ist"'-(ebd.). 
Es  ist  nämlich  die  Induction,  durch  welche  wir  die  Grundsätze  ableiten,  eine 
vollständige,  wie  wir  bald  sehen  werden.  Angenommen,  es  sei  die  in  der 
Mathematik  vorliegende  Erfahrung  zu  erklären,  so  suche  ich  iuductiv  die 
Anzahl  der  Postulate,  die  erfüllt  werden  müssen,  wenn  diese  Wissenschaft 
bestehen  soll.  Nun  ist  allerdings  möglich,  dass  ich  in  der  Aufzählung  un- 
sorgfältig zu  Werke  gehe,  dass  ich  irre;  aber  es  liegt  kein  Grund  in  der 
Sache,  dass  ich  sie  überhaupt  nicht  vollständig,  oder  zu  irgend  einer  spätem 
Zeit  vollständiger  als  gerade  jetzt  entdecken  könne.  Eine  Theorie,  welche 
die  Möglichkeit  der  Mathematik  erklären  will,  muss  mit  dem  Anspruch  auf- 


Anmerkungen.  141 

treten,  die  dazu  nötigen  Hypothesen  absolut  vollständig  beigebracht  zu 
haben;  denn  sonst  würde  sie  ja  zugeben,  irgend  etwas  unerklärt  zu  lassen. 
Es  wäre  ja  widersinnig,  den  Grund,  warum  ich  einen  notwendigen  Satz  jetzt 
für  wahr  halte,  erst  in  der  künftigen  Erfahrung  suchen  zu  wollen.  —  Vgl. 
übrigens  Anm.  72. 

51)  Kr.  [O.  —  Vgl.  dazu  Cohen,  a.  a.  0.  Cap.  VIII.  —  Lange,  a.  a.  0. 
II,  50—52. 

52)  Kr.  94. 

53)  W.  III,  90. 

54)  Kr.  131. 

55)  Kr.  94. 

56)  W.  III,  S8. 

57)  W.  III,  89. 

58)  W.  III,  90. 

59)  Kr.  101. 

60)  Vgl.  dazu  Schopenhauer,  Werke  II,  557 — 559.  Diese  Kategorien- 
lehre „ist  auch  recht  eigentlich  das  Bett  des  Prokrustes  geworden,  in  welches 
Kant  jede  mögliche  Betrachtung  hineinzwängt  etc.-  —  Die  Ansicht  von  der 
Künstlichkeit  der  Kategorien  muss  überhaupt  als  herrschende  bezeichnet 
werden;  sie  wird  überall  aufgenommen,  ohne  dass  man  eine  nähere  Begrün- 
dung für  nötig  hält.  —  Auch  Lange  tritt  ihr  bei  (a.  a.  0.  II,  132).  — 
Wundt  sagt  (a.  a.  0.  p.  675):  „Die  Ausführung  dieser  Ordnung  ist  ein 
logisches  Geschäft,  wie  es  denn  auch  Kant  aufgefasst  hat,  dessen  Tafel  der 
Kategorien  jedoch  ihre  Form  zum  Theil  dem  Streben  nach  einer  rein  äusser- 
lichen  Symmetrie  verdankt,  die  mit  der  inneni  Notwendigkeit  der  Begriffe 
nichts  zu  thun  hat."  — 

61)  Kr.  102. 

62)  W.  III,  70.  —  Vgl.  W.  IV,  39  die  Anmerkung. 

63)  W.  III,  91. 

64)  W.  lU,  92. 

65)  W.  V,  313. 

66)  W.  I,  563. 

67)  W.  IX,  3.  —  Vgl.  auch  IX,  332. 

68)  Vgl.  Cohen  gegen  Herbart,  a.  a.  0.  p.  108  und  109. 

69)  Cohen,  p.  209  und  210. 

70)  Auch  in  diesem  Punkte  muss  ich  zu  der  Darstellung  Cohen's  einen 
Zusatz  machen.  Er  behauptet  „die  Apriorität  nicht  sowohl  der  Kategorien, 
als  vielmehr  der  Kategorie"  p.  101,  Nur  in  erweiterter,  übertragener  Be- 
deutung könne  die  Apriorität  der  Kategorien  behauptet  werden.  „Denn  die 
einzelnen  Kategorien,  olischon  sie  in  ihrer  logischen  Qualität  nicht  notwen- 
dige Deukformen  sein  mögen  —  insofern  sie  eine  synthetische  Einheit  in 
der  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen  enthalten,  sind  sie  sämmtlich  a  priori." 
Wenn  diese  Bestimmung  ausreichend  wäre,  so  würde  der  Begriff  der  Aprio- 
rität das  ganze  P'eld  der  Empirie  umspannen.  Jedes  Urtheil  enthält  „eine 
synthetische  Einheit  in  der  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen" ;  „insofern"  sind 
also  sämmtliche  Urtheile  a  priori,  und  es  ist  eitel  Täuschung,  wenn  noch 
einzelne  Urtheile  sich  vor  anderen  einer  besondern  Notwendigkeit  rühmen. 


142  Anmerkungen. 

Denn  das  einzige  Kriterium  der  Notwendigkeit  ist  ja  eben  die  Apriorität, 
die  sich  nunmehr  über  alles  ergiesst.  Alsdann  darf  „unbeschadet  dem  aprio- 
rischen Charakter  der  Kategorie  selbst  Streit  sein",  nicht  nur  darüber,  „ob 
die  Gemeinschaft  eine  notwendige,  fiir  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  not- 
wendige Denkform  sei,  oder  nur  die  Causalität  oder  auch  die  Zweckver- 
bindung", sondern  es  kann  auch  Streit  sein  darüber,  ob  es  der  pythagoreische 
Lehrsatz  oder  das  Gesetz  der  Lichtbrechung  sei.  Ein  Rangunterschied  kann 
höchtens  noch  in  der  comparativen  Allgemeinheit  bestehn.  Ich  behaupte 
aber:  Entweder  soll  man  darauf  verzichten,  in  der  reinen  Wissenschafts- 
theorie einzelne  apriorische  Kategorien  aufzustellen,  oder  man  muss  es  in 
einer  Weise  thun,  dass  über  ihre  Aiizahl  kein  Streit  sein  kann.  Denn  wenn 
man  sie  annimmt,  nimmt  man  sie  an,  wie  Cohen  hervorhebt,  als  formale  Be- 
dingungen der  Erfahrung.  Die  Erkenntniss  ihrer  Tollstandigkeit  ist  also 
unabhängig  vom  Fortgange  der  Erfahrung;  ihre  Anzahl  muss  zu  jeder  Zeit 
aus  dem  Begritfe  der  Erfahrung  herausgehoben  werden  können.  Die  Frage 
ist  eben,  ob  die  synthetische  Einheit  in  Arten  zerlegt  werden  könne,  ohne 
dass  man  die  Unterschiede  in  der  Erfahrung  suche.  IVIuss  die  Frage  ver- 
neint werden,  so  gibt  es  keine  Kategorien.  Cohen  hätte  daher  seine  Be- 
stimmung des  besondern  a  priori  wenigstens  negativ  in  folgender  W^eise  er- 
gänzen sollen:  Die  einzelnen  Kategorien  sind  sämmtlich  a  priori,  insofern 
sie  eine  synthetische  Einheit  in  der  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen  und 
ausserdem  nichts  Empirisches  enthalten.  Wenn  Cohen  zu  seiner  Er- 
klärung hinzufügt:  ,.Und  mehr  Apriorität  darf  nirgend  behaujjtet  werden, 
mehr  hat  auch  der  Eaum  nicht.  Die  Synthesis  des  Räumlichen  ist  das 
a  priori  des  Raumes"  (ebd.),  so  bringt  ihn  dieser  Ausdruck  in  Widerspruch 
mit  seiner  eigensten  Ansicht.  Das  a  priori  des  Raumes  liegt  nicht  allein 
in  der  Handlung  der  Synthesis,  sondern  laut  transsc.  Aesthetik  auch  in  dem, 
was  verknüpft  wird,  im  räumlichen  Verhältniss;  auch  das  Material  der  Syn- 
thesis muss  schon  als  formale  Bedingung  der  Erfahrung  betrachtet  werden. 
Ich  illustrire  dagegen  meine  Wendung  durch  den  Satz:  Die  Kategorie  der 
Grösse  ist  insofern  a  priori,  als  sie  die  synthetische  Einheit  und  ausserdem 
nichts  Empirisches,  nämlich  bloss  die  reine  Anschauung  des  Raumes  enthält. 

Ich  füge  hieran  den  wichtigen  Kantischen  Satz:  Wir  haben  gesehn, 
..dass  reine  Begriffe  a  priori  ausser  der  P'unction  des  Verstandes  in  der 
Kategorie,  7ioch  formale  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  (namentlich  des 
Innern  Sinnes)  a  priori  enthalten  müssen,  welche  die  allgemeine  Bedingung 
enthalten,  unter  der  die  Kategorie  allein  auf  irgend  einen  Gegenstand  an- 
crewandt  werden  kann  "     (Kr.   142.) 

Darnach  ist  es  methodisch  vollkommen  richtijf,  die  Kategorie  der  Cau- 
salität dadurch  anzugreifen,  dass  man  zeigt,  der  in  ihr  enthaltene  Begriff 
der  Veränderung  sei  aus  der  Erfahrung  gezogen.  Dann  ist  sie  nämlich  for- 
male Bedingung  des  Denkens  nur,  insofern  sie  die  Synthesis  ausdrückt,  in- 
sofern sie  eine  synthetische  Einheit  in  der  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen 
der  Anschauung  darstellt."  (Cohen,  p.  10-2.)  Nichtsdestoweniger  behauptet 
Cohen  mit  Recht  (ebd.),  dass  das  kein  Rückfall  zu  Hume  wäre;  denn  wir 
hätten  Diesem  gegenüber  schon  einen  gewaltigen  Ertrag,  nämlich  die  Aprio- 
rität  der  Synthesis   überhaupt  gerettet.     AVir  können  die  Möglichkeit  von 


Anmerkungen.  143 

notwendigen  Urtlieilen,    also  von   Gegenständen   im   Allgemeinen   beweisen, 
■woran  Hume  verzweifeln  musste. 

71)  Damit  sind  die  besondern  Einheitsfunctiouen  allerdings  weder  als 
„ Stammbegriffe '%  noch  auch  nur  als  Elemente  unserer  „Organisation"  im 
Sinne  von  Lauge  (a.  a.  0.  II,  125  ff.)  abgeleitet.  Ich  will  auch  nichts  weiter 
erreichen,  als  was  Cohen  (a.  a.  0.  p.  20S)  von  den  Grundsätzen  sagt  und  was 
ich  übrigens  für  durchaus  Kantisch  halte:  „Wirklich  aber  sind  sie  nicht  als 
„..Eigenschaften  unseres  Organismus"",  sondern  als  Formen  der  gegebenen 
Erfahrung,  mit  deren  Aufhebung  die  „„Möglichkeit  der  Erfahrung"",  die 
„„mögliche  Erfahrung""  aufgehoben  würde."  Lange  hält  das  (ebd.  und  auch 
p.  131)  für  eine  „Tautologie,  dass  die  Erfahrung  zu  erklären  ist  aus  den 
Bedingungen  überhaupt  möglicher  Erfahrung.  Soll  die  transscendentale  De- 
duction  statt  dieser  Tautologie  ein  synthetisches  Resultat  ergeben,  so 
müssen  die  Kategorien  notwendig  noch  etwas  sein,  ausserdem  dass  sie  Be- 
dingungen der  Erfahrung  sind."  Ich  dagegen  behaupte  keineswegs,  dass  die 
Erkenntnisstheorie  ein  „synthetisches  Resultat"  ergebe;  ihr  Endergebniss  ist 
ein  analytisches  Urtheil:  auf  der  einen  Seite  der  gegebene  Begriff  der  Erfahrung, 
auf  der  andern  seine  Explication  (vgl.  unten  §  igsöj.  Aber  dies  darf  so 
wenig  Tautologie  genannt  werden,  als  irgend  eine  andere  gute  Erklärung. 
Gelfngt  die  interessante  Untersuchung,  die  Einheitsfunctionen  als  „noch 
etwas"  nachzuweisen,  so  ist  dieses  Resultat  nicht  mehr  ein  erkenntnisstheo- 
retisches, sondern  ein  psychologisches. 

72)  Aus  diesem  Princip  lässt  sich  die  gegen  Lange  behauptete  (vgl.  Anm.  5U) 
Notwendigkeit  der  vollständigen  Anzahl  hinreichend  rechtfertigen.  Die  Auf- 
stellung geschieht  allerdings  inductiv,  durch  die  psychologische  Induction, 
welche  die  Vorstellungselemente  aufzählt.  Aber  diese  Induction  ist  vollstän- 
dig, wie  jede  Aufzählung  der  Glieder  eines  eingetheilten  Ganzen ;  wir  wissen, 
dass  der  Inhalt  der  Erfahrung  durch  Raum,  Zeit  und  Empfindung  erschöpft 
ist.  Belehrt  uns  nun  Mill,  dass  man  schon  viele  Inductionen  für  complet 
gehalten  habe,  die  sich  später  als  sehr  unvollständig  erwiesen,  so  sind  wir 
nicht  so  dogmatisch,  zu  bestreiten,  dass  es  nicht  vielleicht  irgendwo  oder  zu 
irgend  einer  Zeit  Geschöpfe  geben  könne,  bei  welchen  die  Vorstellungselcmente 
andere  seien;  aber  wir  behaupten,  die  Erfahrungsbedingungen  absolut  voll- 
ständig für  alle  Wesen  gefunden  zu  haben,  in  deren  Wahrnehmung  sich  die 
beschriebenen  drei  Factoren  unterscheiden  lassen.  Die  Zahl  unserer  Principien 
bleibt  und  ist  zur  Begründung  unseres  wissenschaftlichen  Bewusstseins  not- 
wendig, so  lange  der  menschlichen  Natur  diese  Verschiedenheit  ihrer  Vorstel- 
lungsform anhaftet. 

73)  Der  Satz,  den  Lange  bei  Kant  für  bedenklich  hält,  „dass  Empfindung 
sich  nicht  wieder  an  Empfindung  ordnen  könne",  braucht  also  durchaus 
nicht  aufgestellt  zu  werden  (a.  a.  0.  II,  33.  Vgl.  übrigens  auch  p.  35  und 
36  ebd.). 

71)  Es  ist  nützlich,  hier  die  Springpunkte  unserer  Auffassung  zu  recapi- 
tuliren,  unter  welcher  sich,  wie  ich  glaube,  die  Kantischen  Gedanken  als 
eine  consequente  und  geschlossene  Theorie  darstellen.  Vor  Allem  muss 
festgehalten  werden,  dass  die  synthetische  Einheit  überhaupt  als  Bedingung 
der  ursprünghchen  Apperception  postulirt  wird,  und  dass  dieselbe   die   in 


144  Anmerkungen, 

den  Urtheilen  wirkende  Einheitsfuuctiou  ist.  Einheitsfunctiou  und  synthe- 
tische Einheit  sind  nur  wie  Process  und  Resultat  zu  unterscheiden,  ohne  dass 
etwa  heiden  eine  verschiedene  Rolle  im  Erkennen  zugetheilt  werden  darf. 
Die  Einheitsfunction  deckt  sich,  wie  gezeigt  wurde,  mit  Kant's  oberstem 
Grundsatze  oder  mit  der  Kategorie  als  Gattungsbegrift'.  Während  nun  Kant 
aus  der  Urtheilstat'el  zunächst  eine  formal  bleibende  Besonderung  seiner 
Kategorie  gewinnen  will,  verzichten  wir  darauf,  weil  sie  schliesslich  dem 
Principe  nach  doch  nur  materiell,  ob  zwar  apriorisch  sein  kann.  Daraus 
folgt  aber,  dass  wir  bei  den  einzelnen  Einheitsfunctionen  nicht  mehr  von 
..Kategorien"  im  Sinne  der  'l'afel  sprechen  können;  denn  „blosse  Gedanken- 
formen" kennen  wir  auch  als  Abstractiou  nicht,  weil  aus  der  Einen  blossen 
Gedankenform  die  Mehrheit  überhaupt  erst  dadurch  entsteht,  dass  wir  sie 
aus  ihrer  Isolirung  in  die  Anschauung  hinüberziehen.  Was  wir  Einheits- 
functionen nannten,  heisst  bei  Kant  schematisirte  Kategorien,  Schemata 
reiner  Verstandesbegriffe,  Grundsätze.  Und  ich  kann  nicht  etwa  durch 
nachträgliche  Abstractiou  die  reinen  Vei'standesbegrifte  dennoch  gewinnen. 
Denn  die  einzelneu  Functionen  haben  nicht  nur  objectiv,  sondern  auch  sub- 
jectiv  bloss  einen  Sinn  in  Verbindung  mit  der  Anschauung.  Sobald  ich  von 
letzterer  abstrahire,  verlieren  sie  auch  ihre  gedankliche  Sonderexistenz  und 
lösen  sich  wieder  auf  in  die  allgemeine  synthetische  Einheit. 

Ich  kann  diese  Wendung  durch  eine  kleine  Aenderung  eines  Satzes  der 
Kritik  der  r.  Vern.  sehr  deutlich  machen.  Kant  sagt:  „Es  hat  aber  die 
Transscendental-Philosophie  das  Eigentümliche,  dass  sie  ausser  der  Regel 
(oder  vielmehr  der  allgemeinen' Bedingung  zu  Regeln),  die  in  dem  reinen  Be- 
griffe des  Verstandes  gegeben  wird,  zugleich  a  priori  den  Fall  anzeigen 
kann,  worauf  sie  angewandt  werden  sollen"  (p.  140).  W^ir  ziehen  es  vor 
zu  sagen:  dass  sie  zugleich  a  priori  die  Fälle  anzeigen  kann,  worauf  sie 
angewandt  werden  soll.  Aus  den  verschiedenen  Fällen,  worauf  die  Regel 
angewandt  wird,  entspringen  die  Regeln.  Kant  schematisirt  in  seiner  Dar- 
stellung die  anderswo  gefundene  Anzahl  der  Kategorien ,  um  sie  in  ihrer 
Anwendung  zu  zeigen;  wir  sagen  aber,  dass  die  allgemeine  Kategorie  ange- 
wendet worden  sei,  damit  man  ihre  Arten  entdecke.  Bei  Kant  tritt  das 
transscendentale  Schema  nur  als  die  restringirende  und  realisirende ,  sinn- 
liche Bedingung  der  Kategorie  (vgl.  Cohen,  p.  188)  hervor,  wir  betrachten 
es  in  erster  Linie  als  ihre  speciticirende.  Wie  mächtig  aber  eben  dadurch 
seine  einschränkende  Kraft  sich  kund  gibt,  ist  in  §  105  gezeigt  worden. 

Ib)  Für  das  Vcrständniss  der  Kritik  d.  r.  V.  kann  das  Studium  eines  an 
ungemein  wichtiger  Stelle  befindlichen  Satzes  nicht  genug  empfohlen  werden. 
Im  zweiten  Abschnitt  der  Grundsätze  p.  152  heisst  es:  „Da  also  Erfahrung, 
als  empirische  Synthesis,  in  ihrer  Möglichkeit  die  einzige  Erkenntnissart  ist, 
welche  aller  andern  Synthesis  Realität  gibt,  so  hat  diese  als  Erkenntniss 
a  priori  auch  nur  dadurch  Wahrheit  (Einstimmung  mit  dem  Object),  dass 
sie  nichts  weiter  enthält,  als  was  zur  synthetischen  Einheit  der  Erfahrung 
überhaupt  notwendig  ist." 

7G)  Erst  nach  langer  Prüfung  habe  ich  mich  zu  so  wichtigen  Ab- 
weichungen von  der  Kantischen  Darstellung  entschlossen.  Ich  habe  das 
Hauptgewicht  der  Ableitung  in  zwei  Sätzen  erblickt,   die  Kant  ohne  beson- 


Anmerkungen.  145 

dere  Betonung  anführt.  Er  sagt:  „Wenn  die  Synthesis  des  Mannigfaltigen 
der  Erscheinung  unterbrochen  ist,  so  ist  dieses  ein  Aggregat  von  vielen  Er- 
scheinungen, und  nicht  eigentlich  Erscheinung  als  ein  Quantum,  welches 
nicht  durch  die  blosse  Fortsetzung  der  productiven  Synthesis  einer  gewissen 
Art,  sondern  durch  Wiederholung  einer  immer  aufhörenden  Synthesis  erzeugt 
wird."  (Kr.  IGI.)  Dieser  Satz  enthält  den  Beweis  in  nuce.  Weil  die  Einheit 
des  Gegenstandes  nur  durch  stetige  Synthesis  möglich  ist,  hat  alle  Realität 
intensive  Grösse.  Kant  hat  die  Continuität  des  Bewusstseins  und  damit  das 
eine  Element  der  Qualität,  die  Intensität,  endgültig  deducirt.  Für  die  Klarheit 
dieses  Theils  der  Darstellung  ist  nur  zu  bedauern,  dass  er  nicht  auch  die 
transscendentale  Beziehung  auf  die  Einheit  der  ursprünglichen  Apperception 
ausführlich  wiederholt  hat.  —  Der  zweite  Satz  lautet:  Es  erregt  „einiges 
Bedenken,  dass  der  Verstand  einen  dergleichen  synthetischen  Satz,  als  der 
von  dem  Grad  alles  Realen  in  den  Erscheinungen  ist,  und  mithin  der  Mög- 
lichkeit des  Innern  Unterschiedes  der  Empfindung  selbst,  wenn 
man  von  ihrer  empirischen  Qualität  abstrahirt,  anticipirt."  (Kr.  164.)  Darin 
wird  das  zweite  Ergebuiss  der  Deduction  auf  das  schärfste  ausgesprochen. 
Auch  der  innere  Unterschied  ist  eine  apriorische  Bestimmung  der  Empfin- 
dung. Damit  ist  das  zweite  Element  der  Qualität,  der  Ergänzungsbegriff  der 
Intensität,  die  Verschiedenheit  des  Realen  gefunden.  Dieses  Resul.it 
entspringt  durch  bündigen  Schluss  aus  einer  notwendigen  Disjunction.  Die 
erforderliche  Mannigfaltigkeit  besteht  entweder  im  innern  oder  im  äussern 
Unterschied  der  Empfindung.  Nun  ist  bewiesen,  dass  der  äussere  (als  dis- 
creter  Bewusstseinszustände)  nicht  möglich  ist,  also  gibt  es  einen  innern. 
Ueber  diesen  Punkt  nun  geht  Kant  noch  zwei  Schritte  hinaus,  die  ich  ihm  nicht 
folgen  kann.  Einmal  legt  er  den  innern  Unterschied  in  die  intensive  Quan- 
tität. Dafür  habe  ich  den  reinen  transscendentalen  Grund  vergebhch  ge- 
sucht. Zweitens  schreibt  er  dieser  intensiven  Quantität  ausserdem  noch 
Stetigkeit  zu.  Auch  dieses  Moment  lässt  die  Kritik  unbewiesen.  Es  heisst 
einfach:  „Nun  hat  jede  Empfindung  einen  Grad  oder  eine  Grösse,  wodurch  sie 

dieselbe  Zeit mehr  oder  weniger  erfüllen  kann,  bis  sie  in  nichts 

aufhört."  (Kr.  144.)  Jede?  Warum?  Ferner:  „Nun  ist  vom  empi- 
rischen Bewusstsein  zum  reinen  eine  stufenartige  Veränderung  möglich  .  .  .  . " 
(Kr.  159.)  Immer?  „Nun  ist  aber  jede  Empfindung  einer  Verringerimg 
fähig  .  .  .  ."  (Kr.  160.)  Weshalb  denn  jede?  Doch  wohl  nur,  weil  es  die 
Erfahrung  so  zeigt.  In  der  That  antworten  die  Prolegomenen  auf  diese 
Frage  in  §  25  (W.  III,  68)  durch  Aufzählung  der  einzelnen  Empfindungen. 
Und  dennoch  irrt  man,  wenn  man  glaubt,  Kant  habe  die  Stetigkeit  des 
Grades  nur  durch  Induction  aus  der  Erfahrung  entlehnt.  Er  hat  sie  viel- 
mehr in  den  Metaphys.  Anfängsgr.  d.  Naturw.  im  zweiten  dynamischen  Lehr- 
satze für  den  allgemeinen  Begriff  der  Materie  deducirt.  (W.  V,  340.)  Aber 
es  darf  eben  diese  Deduction,  da  sie  die  Materie  voraussetzt,  nicht  für  den 
reinen  erkenntnisstheoretischen  Grundsatz  verwertet  werden. 

77)  Vgl.  z.  B.  Wundt,  a.  a.  0.  p.  684.  „Aber  die  Zeit  an  sich  ist  ein 
discretes  Gebilde."  — •  „Die  von  Vorstellungen  freien  Zustände  des  Schlafes 
und  der  Ohnmacht  sind  für  uns  vollständig  zeitlos." 

78)  Es  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden,    dass  diese  Bestimmung  mit 

Stadler,  Erkenntnisstheorie.  \Q 


1 46  Anmerkungen. 

dem  Begriffe  der  „Kcalrepugnanz'*  nichts  zu  scbaftcn  hat,  deren  Behandlung 
nicht  in  die  reine,  sondern  in  die  angewandte  Erkenntnisstheorie  gehört. 
Die  Realrepugnanz  ist  der  Begriff  der  relativen  identischen  Negation,  der 
gegenseitigen  Aufhebung  realer  Grade,  wozu  die  Kenntniss  wirklicher  Kräfte 
aus  der  Erfahrung,  d.  h.  aus  einem  spccicUen  Wissenschaftsstoffe  geschöpft 
werden  muss.  Das  deutlichste  Beispiel  derselben  ist  das  Plus  und  Minus 
der  Mathematik.  Vgl.  Kaut's  „Versuch,  den  Begriff'  der  negativen  Grössen 
in  die  Wcltweisheit  einzuführen."     Erster  Abschn.  W.  I,  121. 

79)  Ueberweg  hat  es  allerdings  viel  leichter;  er  legt  das  Bewusstsein 
der  objectiven  Gültigkeit  der  formalen  Verknüpfung  gleich  in  die  Definition 
des  Urtheils.  Das  Urtheil  ist  ..das  Bewusstsein,  ob  zwischen  den  entsprechen- 
den objectiven  Elementen  die  analoge  Verbindung  bestehe"  (a.  a.  0.  p.  150). 
Wie  es  aber  komme,  dass  das  Bewusstsein  sich  über  dieses  „ob"  Gewissheit 
verschaffen  kann,  lässt  er  gänzlich  unerklärt.  Das  Bewusstsein  darf  eben 
nicht  skeptisch  sein.  Dann  mag  man  freilich  ruhig  weiterdeiiniren:  „Der  Be- 
griff" der  Bejahung  ist  das  Bewusstsein  der  Uebereiustimmung  der  Vorstel- 
lungscombination  mit  der  Wirklichkeit,  der  Begriff  der  Verneinung  das  Be- 
wusstsein der  Abweichung  der  Vorstellungscombination  von  der  Wirklichkeit." 
lebd.  p.  164.)  In  dieser  Fassung  bleiben  die  Begriffe  als  logische  und  als 
erkenntnisstheoretische  Werte  gleich  unklar. 

80)  Meiner  Auffassung  gemäss  kann  ich  also  die  „Limitation"  unter  die 
Zahl  der  Kategorien  nicht  aufnehmen.  Ich  lasse  hier  dahingestellt,  ob  sie 
die  formale  Logik  mit  Nutzen  in  der  Urtheilstafel  bewahrt.  Kant  hatte  dies 
mit  den  Worten  empfohlen:  „Diese  unendlichen  ürtheile  also  in  Ansehung 
des  logischen  Umfangs  sind  wirklich  bloss  beschränkend  in  Ansehung  des 
Inhalts  der  Erkenntniss  überhaupt,  und  in  so  fern  müssen  sie  in  der  trans- 
scendentalen  Tafel  aller  Momente  des  Denkens  in  den  ürtheilen  nicht  über- 
gangen werden,  weil  die  hiebei  ausgeübte  Function  des  Verstandes  vielleicht 
in  dem  Felde  seiner  reinen  Erkenntniss  a  priori  wichtig  sein  kann."  (Kr. 
p.  96.)  Dieses  „vielleicht"  hat  aber  Kant  für  die  Erkenntnisstheorie  weder 
bei  den  Kategorien,  noch  bei  den  Schemata  (vgl.  Kr.  14 J),  noch  bei  den 
Grundsätzen  entschieden.  Ebensowenig  habe  ich  selbst  die  transscendentale 
Rolle  dieser  Kategorie  entdecken  können. 

81)  Diese  Begriffe  würden  dann  ihrer  Function  nach  den  ersten  beiden 
Kantischen  Kategorien  der  Qualität  entsprechen. 

82)  Vgl.  Kr.  p.  164  und  16.5.  —  Met.  Anf.  der  Naturw.  Dynamik. 
W.  V,  342  ff. 

83)  Daher  nennt  es  Kant  Princip  der  Anticipationen.  Notwendig  ist 
nur,  was  anticipirt  werden  kann.  Nun  sind  alle  Erscheinungen  insofern 
Anticipationen,  als  sie  unter  diesem  Gesetze  stehen.  Somit  ist  es,  wie  die 
erste  Auflage  ausführlicher  sagt,  „der  Grundsatz,  welcher  alle  Wahnieh- 
mungen  als  solche  anticipirt."  (Kr.  158.)  —  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auf 
die  transscendentale  Vertiefung  der  zweiten  Auflage  hingewiesen.  Während 
die  Fassung  der  ersten  „die  Empfindung  und  das  Reale"  einfach  nebenein- 
ander stellt,  sagt  die  zweite:  „Das  Reale,  was  ein  Gegenstand  der  Empfin- 
dung ist",  d.  h.  das  Reale,  die  Beziehung  worauf  die  Empfindung  erst  ob- 
jectiv  macht. 


Ainncrkiingen.  147 

84)  Sehr  bemerkenswert  ist  die  Stelle  der  Kritik,  dass  Grösse  die  Art 
ist,  „wie  ein  Ding  mit  vielen  zusammen  einerlei-'  sein  könne,    p.  205. 

85)  Der  Leser,  der  diese  Ableitung  mit  der  sachlich  identischen  Kant's 
vergleicht  (Kr.  155 — 156),  wird  sich  überzeugen,  dass  das  Verständniss  dieses 
Grundsatzes  viel  leichter  wird,  wenn  man  seine  Wurzel,  die  räumliche  Be- 
ziehung rein  herausschält,  und  die  Uebertragung  auf  die  Zeit,  die  eine  ander- 
weitig zu  begründende  Folgerung  ist,  hier  als  vorläufig  darstellt,  Kant  hat 
die  Uebertragung  auf  die  Zeit  einfach  gemacht,  ohne  sie  an  dieser  Stelle  zu 
begründen,  ja  ohne  sie  an  dieser  Stelle  begründen  zu  können.  Er  sagt  bloss, 
nachdem  er  von  dem  Ziehen  der  Linie  gesprochen:  „Ebenso  ist  es  auch  mit 
jeder,  auch  der  kleinsten  Zeit  bewandt.  Ich  denke  mir  darin  nur  den  suc- 
cessiven  Fortgang  von  einem  Augenblick  zum  andern,  wo  durch  alle  Zeit- 
theile  imd  deren  Hinzuthun  endlich  eine  bestimmte  Zeitgrösse  erzeugt  wird." 
(Kr.  156.)  Aber  es  ist  ja  eben  nichts  weniger  als  selbstverständlich,  dass 
wir  genötigt  sind,  das  Nacheinander  der  Zeit  zu  einer  Grösse,  d.  h.  zu 
einem  Nebeneinander  zu  machen.  Erst  die  Behandlung  der  zeitlichen  Einheit 
kann  diese  Notwendigkeit  aufzeigen. 

S6)  Die  Interpretation  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  sollte  stets  darauf 
achten,  dass  das  volle  Verständniss  der  „Transscendentalen  Erörterung  des 
Begriifs  vom  Räume"  (p.  60)  und  Nummer  3  der  Metaphysischen  Erörterung 
in  der  ersten  Ausgabe  (p.  59  Anm.)  erst  an  dieser  Stelle  zu  erreichen  ist. 

87)  Cohen  warnt  mit  Recht  (a.  a.  0.  p.  210)  davor,  das  „Princip"  selbst 
„Axiom"  zu  neimen.  Doch  muss  ich  bemerken,  dass  Kant  auch  durch  die 
erste  Auflage  nicht  zu  dieser  Oberflächlichkeit  seiner  Geschichtschreiber 
Veranlassung  gegeben  hat.  Zwar  sagt  er  in  der  Uebersichtstafel :  ..Alle 
Grundsätze  des  reinen  Verstandes  sind  demnach  1)  Axiomen  der  Anschauung 
etc."  (Kr.  154),  fügt  aber  nachher  hinzu:  „Man  wird  aber  wohl  bemei'ken, 
dass  ich  hier  eben  so  wenig  die  Grundsätze  der  Mathematik  im  einen  Falle, 
als  die  Grundsätze  der  allgemeinen  (physischen)  Dynamik  im  andern,  sondern 

nur  die  des  reinen  Verstandes vor  Augen  habe.  .  .  .     Ich 

benenne  sie  also  mehr  in  Betracht  ihrer  Anwendung,  als  um  ihres  Inhalts 
willen."  Auch  die  Formel  selbst  hat  schon  in  der  ersten  Auflage  das  Genaue: 
„Von  den  Axiomen  der  Anschauung.  —  Grundsatz  des  reinen  Verstandes." 
(Kr.  155),  wo  Grundsatz  in  deutlichem  Gegensatz  zu  Axiom  gesetzt  ist. 
Ebenfalls  in  der  ersten  Auflage  steht  folgende  treö'liche  Stelle:  „Der  da- 
selbst (in  der  Analytik)  angeführte  Grundsatz  war  selbst  kein  Axiom,  son- 
dern diente  nur  dazu,  das  Principium  der  Möglichkeit  der  Axiomen  über- 
haupt anzugeben,  und  war  selbst  nur  ein  Grundsatz  aus  Begriffen." 
iKr.  489.)  Auch  in  den  Prolegomenen  heisst  er  „einPrincip  der  Anwendung 
der  Mathematik  auf  Erfahrung."     (W.  III,  6S.) 

88)  Vgl.  Lange,  a.  a.  0.  II,  21 — 25.  Mit  Recht  bezeichnet  es  Lange  als 
grossen  Irrtum,  „wenn  man  glaubt,  mit  den  wenigen  Sätzen,  welche  man 
als  Axiome  oder  auch  als  eine  Beschreibung  der  allgemeinen  Natur  des 
Raumes  voranschickt,  seien  die  synthetischen  Bestandtheile  der  Geometrie 
erschöpft."  Sie  sagen  vielmehr  bloss  bestimmte  Eigenschaften  aller  weitern 
Synthesen  voraus. 

89)  Kant   hat  diese  Bedeutung  der  Zahl  nicht  selbst  entwickelt,   aber 

10* 


148  Aumerkungen. 

alles  Material  zur  Ausführung  gegeben.  Er  nennt  die  Zahl  „eine  Vorstel- 
lung .  .  .,  die  die  successive  Addition  von  Einem  zu  Einem  (Gleichartigen) 
zusammenbefasst."  (Kr.  141.)  Ferner  bezeichnet  er  (Kr.  4S4)  als  Zahl  „die 
daraus  (sc.  aus  dem  Allgemeinen  der  Synthesis  von  einem  und  demselben  in 
der  Zeit  und  im  Räume)  entspringende  Grösse  einer  Anschauung  überhaupt." 

90)  Kant  hat  die  Arten  der  Quantität  nicht  als  Erfahrungshedingungen 
nachgewiesen.  Sie  sind  weder  bei  den  Schemata  (Kr.  144i  noch  bei  den  Grund- 
sätzen behandelt.  Somit  sind  sie  als  Kategorien  in  seinem  Sinne  nicht  auf- 
recht zu  erhalten. 

91)  Ich  will  hier  die  wichtige  Stelle  nachtragen:  „Ebenso  kann  leicht 
dargethan  werden,  dass  die  Möglichkeit  der  Dinge  als  Grössen  und  also  die 
objective  Realität  der  Kategorie  der  Grösse  auch  nur  in  der  äussern  An- 
schauung könne  dargelegt  und  vermittelst  ihrer  allein  hernach  auch  auf  den 
inneni  Sinn  angewandt  werden."    (Kr.  2US.) 

92)  Vgl.  Ueberweg  a.  a.  0.  p.  234.  Lange  will  überhaupt  „die  Apodic- 
ticität  der  Logik  durchaus  auf  Kaümbilder  des  Vorgestellten  zurückführen" 
und  glaubt,  dass  die  viel  verachteten  Eselsbrücken  der  logischen  Kreise  „den 
Grund  der  Apodicticität  der  logischen  Regeln  in  sich  schliessen"  (a.  a.  0. 
II,  128).  Diese  Ansicht  involvirt  eine  Reduction  aller  logischen  Kategorien 
auf  die  Quantität. 

93)  Heisst  doch  bei  Kant  die  schematisirte  Kategorie  der  Qualität  „die 
Synthesis  der  Empfindung  (Wahrnehmung  mit  der  Vorstellung  der  Zeit  oder 
die  Erfüllung  der  Zeit)."     Kr.  145. 

94)  Diese  Stelle  gibt  Gelegenheit,  auf  die  Gonsequenz  der  Verbcsserungen 
der  zweiten  Auflage  d.  Kr.  d.  r.  V.  hinzuweisen.  In  der  zweiten  Ausgabe 
der  Kr.  verdankt  das  Princip  seine  einfache  Fassung  dem  Begriff  der  Ver- 
knüpfung. (Kr.  165.)  Dieser  Begriff  findet  sich  aber  im  Vorhergehenden  in 
einer  Anmerkung  eingeführt  und  erläutert  (p.  155),  welche  ebenfalls  Zusatz 
der  zweiten  Ausgabe  ist. 

95)  Indem  ich  diesen  Unterschied  der  Principieu  betone,  bemerke  ich 
gleichzeitig,  dass  ich  der  von  Kant  nachdrücklich  hervorgehobenen  (Kr. 
103,  154,  166  ff.)  Differenz  mathematischer  und  dynamischer  Grundsätze 
eine  weitere  Bedeutung  nicht  beilege.  Wie  jene  Raum  und  Materie,  so 
constituiren  diese  die  Anschauung  der  Zeit;  in  beiden  Phallen  gibt  ..die 
Regel  ihrer  Synthesis  zugleich  diese  Anschauung  a  priori  in  jedem  vorliegen- 
den empirischen  Beispiele"  (Kr.  167);  ich  kann  eine  allgemeine  Wesens  Ver- 
schiedenheit der  Rollen  nicht  anerkennen.  Dagegen  begründet  allerdings  ihre 
specielle  Fassung  jenen  gegenüber  einen  Unterschied,  der  bei  Kant  nament- 
lich später  in  der  Dialectik  wichtig  wird.  Ich  verweise  auf  die  Stellen  W.  I, 
530,  I,  571.     Kr.  3i)9. 

96)  Um  in  der  Kr.  d.  r.  V.  das  Verhältniss  dieses  Princips  zu  seinen 
speciellen  Aeusserungsformen  nicht  zu  verkennen,  achte  man  auf  den  Aus- 
druck der  ersten  Ausgabe:  „Die  Analogien  der  Erfahrung.  —  Der  all- 
gemeine Grundsatz  derselben  ist  .  ."  (Kr.  165.)  Bei  den  Axiomen  heisst 
es:  „Grundsatz  des  reinen  Verstandes."  (Kr.  155.)  Im  vorliegenden  Falle  ge- 
hören auch  die  einzelnen  Arten  dem  reinen  Verstände  an  und  sind  Bedin- 
gungen der  Möglichkeit  der  Erfahrung. 


Aumerknngen.  149 

97)  Man  vergleiche  zu  dem  Ganzen  die  „Transscendentale  Erörterung  des 
Begriffs  der  Zeit"  (Kr.  6f))  und  Nummer  3  der  metaphysischen  (Kr.  H5). 

9S)  Kant  hat  leider  diese  folgenreiche  Ausführung  in  die  Darstellung 
der  Substanz  nicht  aufgenommen  (vgl.  Kr.  169 — 173),  während  sie  für  den 
organischen  Zusammenhang  des  Systems  gerade  hier  recht  wertvoll  wird. 
Doch  ist  der  Gedanke  selbst  an  andern  Orten  erschöpfend  entwickelt.  Ich 
verweise  nur  auf  die  „Widerlegung  des  Idealismus"  (Kr.  p.  197),  auf  die  dazu 
gehörige  Anmerkung  der  Vorrede  zur  zweiten  Ausgabe  (p.  29)  und  auf 
?}  49  der  Prolegomena  (W.  III,  iOö);  ferner  auf  die  „Allgemeine  Anmerkung 
zum  System  der  Grundsätze"  (Kr.  205).  Wir  tinden,  dass  „um  dem  Be- 
griffe der  Substanz  correspondiiend  etwas  Beharrliches  in  der  Anschauung 
zu  geben  (und  dadurch  die  objective  Realität  dieses  Begriffs  darzuthun),  wir 
eine  Anschauung  im  Räume  (der  Materie)  bedürfen,  weil  der  Raum  allein 
beharrlich  bestimmt,  die  Zeit  aber,  mithin  alles,  was  im  Innern  Sinne  ist, 
beständig  fliesst."    (Kr.  207.) 

99)  Kant  macht  schon  in  der  transsc.  Aesthetik  auf  die  Verschmelzung 
der  zeitlichen  mit  der  räumlichen  Anschauung  aufmerksam.  Weil  die  „innere 
Anschauung  keine  Gestalt  gibt,  suchen  wir  auch  diesen  Mangel  durch  Ana- 
logien zu  ersetzen,  und  stellen  die  Zeitfolge  durch  eine  ins  Unendliche  fort- 
gehende Linie  dar,  .  .  .  ."  (Kr.  67.)  —  Aber  es  fehlt  die  Bemerkung,  dass 
diese  Analogie  notwendig  ist,  weil  wir  uns  sonst  überhaupt  von  der  aus  der 
Substanz  sich  ergebenden  Zeitgrösse  keine  Vorstellung  machen  können.  — 
Interessant  ist  auch  die  vorkritische  Stelle:  „Herum  quidem  couceptuum 
alter  (spatium)  proprie  intuitum  objecti,  alter  (tempus)  statum  concernit,  im- 
primis  repraesentationem.  Ideo  etiara  spatium,  temporis  ipsius  conceptui, 
ceu  typus,  adhibetur,  repraeseutando  hoc  per  lineam  ejusque  terminos  (mo- 
menta)  per  puncta."    De  mundi  sens.  etc.    (W.  I,,p.  325.) 

100)  Der  Begriff"  der  Substanz  liegt  „aller  Bestimmung  des  Daseins,  als 
ein  Begriff  vom  Dinge  selbst,  zum  Grunde."    (W.  III,  69.) 

Die  Fassung  des  Princips  in  der  ersten  Ausgabe  ist  mit  Rücksicht  auf 
dieses  Hauptergebniss  gewählt.     (Kr.  169.  Anm.) 

101)  Zwar  sagt  Kant:  Die  Möglichkeit  synthetischer  Sätze  a  posteriori 
bedarf  auch  keiner  besondern  Erklärung;  denn  Erfahrung  ist  selbst  nichts  an- 
deres, als  eine  coutinuirliche  Zusammenfügung  der  Wahrnehmungen.  (111,2^.) 
Aber  der  Nachsatz  selbst  enthält  eben  die  Erklärung;  sobald  wir  allerdings 
wissen,  was  Erfahrung  ist,  brauchen  wir  keine  besondere  Deduction  für  jene; 
sie  sind  dann  schon  mitbegrüudet.  Immerhin  aber  ist  es  sehr  nützlich  aus- 
zuführen, wie  sie  es  sind.    Vgl.  auch  Kr.  40  und  41. 

102)  Diesen  Gedanken  hat  Kant  in  der  zweiten  Ausgabe  in  die  Formel 
des  Princips  aufgenommen.  (Kr.  169.)  Cohen  hat  gezeigt,  dass  die  stark 
realistische  Fassung  von  Dogmatismus  gänzlich  frei  ist  (a.  a.  0.  p.  220). 

Für  die  systematische  Klarheit  des  Princips  ist  es  übrigens  besser,  das 
Corollar  nicht  in  den  allgemeinen  Hauptsatz  aufzunehmen;  dieser  soll  nur 
die  reine  transscendentale  Bedingung  unvermischt  mit  Folgerungen  enthalten. 

103)  Sehr  zuversichtlich  sagt  Ueberweg  einfach:  „Das  analoge  reale 
Verhältniss  ist  das  der  Subsistenz  und  Inhärenz."    (a.  a.  0    p.  156.) 

104)  Vgl.  Metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  W.  V,  p.  4ü4. 


150  Anmerkungen. 

105)  In  diesem  Punkt  kann  man  neuen  Auffassungen  gegenüber  nichts 
Besseres  thun,  als  den  erst  beute  recht  zu  würdigenden  Ausspruch  Lambert's 
aus  dem  Jahre  IT'o  anführen:  „Bisher  h:ibe  ich  der  Zeit  und  dem  Baume 
noch  nie  alle  Realität  absprechen  noch  sie  zu  blossen  Bildern  und  Schein 
machen  können.  Ich  denke,  dass  jede  Veränderungen  auch  Schein  sein 
müssten Können  Sie,  mein  Herr,  mich  hierin  eines  Andern  be- 
lehren, so  glaube  ich  nicht  viel  zu  verlieren.  Zeit  und  Baum  werden  reeller 
Schein  sehi,  wobei  etwas  zum  Grunde  liegt,  das  sich  so  genau  und  beständig 
nach  dem  Schein  richtet,  als  genau  und  beständig  die  geometrischen  "Wahr- 
heiten immer  sein  mögen.  Die  Sprache  des  Scheins  wird  also  eben  so  genau 
statt  der  unbekannten  Sprache  dienen.  Ich  muss  aber  doch  sagen,  dass  ein 
so  schlechthin  nie  trügender  Schein  wohl  mehr  als  nur  Schein  sein  dürfte." 
(Kaufs  und  Lambert's  Philosoph.  Briefe.    W.  I,  369.) 

100)  Vgl.  Kant,  Kr.  l'.lSli'.  —    p.  2',».  Aum.   Proleg.  §  49.    (W.  III,   loö.i 

107)  Diese  uneigentliche  Absonderung  ist  die  Ursache,  dass  bei  Kant 
„auch  diese  Kategorie  unter  dem  Titel  der  Verhältnisse  steht".  Aber  man  be- 
achte die  Stelle,  auf  welche  auch  Cohen  nachdrücklich  hingewiesen  hat:  Die 
Kategorie  steht  unter  diesem  Titel  „mehr  als  die  Bedingung  derselben,  als 
dass  sie  selbst  ein  Verhältniss  enthielte-'  (Kr.  172).  Sie  verdient  diese  Ein- 
reihung, nicht,  weil  sie,  wie  die  andern  Kategorien,  ein  Verhältniss  real  ge- 
trennter Objecte,  sondern  weil  sie  ein  Verhältniss  ideal  gesonderter  Theile 
eines  Objects  enthält,  welches  die  Bedingung  von  jenem  ist.  Es  wäre  daher 
schärfer,  die  Kategorien  der  Relation  dichotomisch  so  zu  gruppiren: 

I.  Verhältniss  der  Bestandtheile  einer       II.  Verhältniss  der  Erscheinungen  zu 
Erscheinung :  einander : 

Subsistenz  und  Iiihärenz.  a)  Causalität  und  Dependenz. 

b)  Wechselwirkung. 

108)  Leider  ist  es  überall  nötig,  Kant  gegen  die  Zumutung  zu  verthei- 
digen,  dass  er  die  Kategorien  auf  das  Ding  an  sich  angewandt  habe.  In 
Betreff  der  Substanz  mag  das  Citat  genügen:  „Es  fehlt  so  viel,  dass  man 
diese  Eigenschaften  aus  der  blossen  reinen  Kategorie  einer  Substanz  schliessen 
könnte,  dass  wir  vielmehr  die  Beharrlichkeit  eines  gegebenen  Gegenstandes 
aus  der  Erfahrung  zum  Grunde  legen  müssen,  wenn  wir  auf  ihn  den  empi- 
risch brauchbaren  liegriff  einer  Substanz  anwenden  wollen."  (Kr.  587.)  — 
„Wie  1)  etwas  nur  als  Subject,  nicht  als  blosse  Bestimmung  anderer  Dingo 

existiren,  d.  i.  Substanz  sein  könne lässt  sich  gar  nicht  aus  blossen 

Begriffen  einsehen  etc."  (Kr.  205.)  —  Vgl.  auch  die  charakteristische  Be- 
zeichnung der  Materie  als  „eine  gewisse  Vorstelluugsart"  (Kr.  Ü07),  auf 
welche  Cohen  aufmerksam  gemacht  hat  (a.  a.  0.  p.  245). 

109)  Sobald  ich  wenigstens,  von  der  gemeinen  Weltansicht  ausgehend, 
„meine  Begriffe  von  einem  Gegenstände  bis  zur  trausscendentalen  Bedeutung 
steigere"  (Kr.  175). 

110)  Dieser  ungemein  klare  und. kritisch  vorsichtige  Ausdruck  steht  Kr.  1 7f>. 

111)  Kr.  174. 

112)  Die  charakteristischen,  durch  Anführungszeichen  hervorgehobenen 
Ausdrücke  stehen  bei  Kant  Kr.  p.  180  und  ISI. 

113)  Vgl.  Lange,  a.  a.  0.  p.   130:   „Wenn  z.  B.  Comte   den  Begriff  der 


Anmerkungen.  151 

Ursache  gilnzlich  beseitigt  und  diirch  den  einer  constanten  Folge  der  Er- 
eignisse ersetzt,  so  ist  dies  Verfabren  keineswegs  auf  Grund  der  Apriorität  des 
Causalbegriffes  anzufechten."  Lange  scheint  darin  einen  Fortschritt  Kant 
gegenüber  zu  erblicken.  Meiner  Ansicht  nach  hätte  Comte  einfach  Kant's 
Causalbegriff  annehmen  können,  der  bereits  nicht  mehr  die  mindesten  Zu- 
thaten  der  Einbildungskraft  enthält. 

114)  Kr.  na. 

115)  Kr.   177. 

116)  Kr.  178. 

117)  Kr.  150. 
IIS)  Kr.  1S5. 

119)  Kr.   176. 

120)  Kr.  183. 

121)  Hier  sind  nun  einige  Bemerkungen  gegen  die  Polemik  einzufügen, 
welche  Schopenhauer  in  der  Abhandlung  „üeber  die  vierfache  Wurzel  des 
Satzes  vom  zureichenden  Grunde"  §  23  gegen  Kant's  Beweis  des  Causal- 
gesetzes  geführt  hat.  Ich  verweise  dafür  auf  die  Abwehr  Cohen's  (a.  a.  0. 
p.  224— 22S),  halte  es  aber  für  nötig,  einige  Zusätze  zu  derselben  zu  machen. 

Wenn  Schopenhauer  p.  8"  sagt,  dass  auch  die  Bewegung  des  Auges  so 
gut  wie  das  Fahren  des  Schiffes  eine  Begebenheit  sei,  so  ist  das  nicht  nur 
ohne  weiteres  zuzugeben,  sondern  es  muss  noch  viel  schärfer  behauptet 
werden,  dass  auch  die  ,. bloss  subjective  Folge"  unserer  Vorstellungen  einen 
Theil  der  objectiven  Erscheinungswelt  ausmacht.  Allein  dessen  ist  sich  Kant 
sehr  klar  bewusst.  „Nun  kann  mau  zwar  alles,  und  sogar  jede  Vorstellung, 
sofern  man  sich  ihrer  bewusst  ist,  Object  nennen;  allein  was  dieses  Wort 
bei  Erscheinungen  zu  bedeuten  habe,  nicht,  in  so  fern  sie  (als  Vorstellungen) 
Objecte  sind,  sondern  nur  ein  Object  bezeichnen,  ist  von  tieferer  Unter- 
suchung." (Kr.  175.)  Diese  tiefere  Untersuchung  ist  Schopenhauer  ver- 
borgen geblieben. 

Wenn  Schopenhauer  p.  sS  die  musikalischen  Töne  und  Tag  und  Nacht 
als  objective  Folgen  anführt,  die  ohne  das  Causalgesetz  erkannt  werden, 
so  ist  ihm  nichts  weiter  als  die  Frage  entgegenzuhalten:  Wo  ist  hier  die 
Substanz,  die  sich  verändert?  Sobald  er  zur  erkenntnisstheoretisch-präcisen 
Fassung  seines  Einwurfs  gezwungen  wird,  liegt  der  Irrtum  zu  Tage.  Diese 
Instanzen  heissen  alsdann:  Die  Erde  verändert  sich  von  der  Beleuchtung 
Tag  in  die  Beleuchtung  Nacht;  das  Instrument  geht  von  dem  einen  Zustand 
des  Tönens  in  einen  andern  über.  Von  diesen  Veränderungen  wird  Niemand 
mehr  behaupten,  dass  sie  nicht  auf  eine  Ursache  bezogen  seien.  Bei  dieser 
Gelegenheit  sei  noch  die  hübsche  Kautische  Stelle  angeführt  (W.  VII,  412): 
„Tage  sind  gleichsam  Kinder  der  Zeit,  weil  der  folgende  Tag,  mit  dem,  was 
er  enthält,  das  Erzeugniss  des  vorigen  ist." 

Ein  anderer  Einwurf  Schopenhauer's  ist  nicht  unwichtig  und  verdient 
besprochen  zu  werden.  Er  ei'innert  dai*an,  dass  eben  das,  was  wir  Zufall 
nennen,  ein  Aufeinanderfolgen  von  Begebenheiten  sei,  die  nicht  in  Causal- 
verbindung  stehen.  „Ich  trete  vor  die  Hausthür  und  darauf  fallt  ein  Ziegel 
vom  Dach,  der  mich  trifft;  so  ist  zwischen  dem  Fallen  des  Ziegels  und 
meinem  Heraustreten  keine  Causalverbindung,  aber  dennoch  die  Succession, 


152  Anmerkungen. 

dass  mein  Heraustreten  dem  Fallen  des  Ziegels  vorherging,  in  meiner  Ap- 
prehension  objectiv  bestimmt  .  .  .  ."  (88.)  Wie  haben  wir  diesen  Fall  nach 
unserer  Auffassung  darzustellen?  Wir  wissen,  dass  Successiouen  für  unser 
Bewusstsein  notwendig,  d.  h.  objectiv  werden,  indem  wir  sie  als  durch  eine 
Ursache  bestimmte  Veränderungen  einer  Substanz  ansehen.  Nun  gibt  es  aber 
auch  Successionen,  deren  einzelne  Glieder  Veränderungen  verschiedener  Sub- 
stanzen sind.  Wenn  die  Substanz  S  ihren  Zustand  A  in  B  wegen  der  Ur- 
sache u,  S'  ihren  Z.ustand  A'  in  B'  wegen  u'  verwandelt,  und  ich  die  erste 
Veränderung  V,  die  zweite  V  nenne,  so  fragt  sich,  wie  sich  die  Objectivität 
der  Succession  V  V  zum  Causalgesetz  verhalte.  Zeitfolgen  von  der  Art  V  V 
sind  in  der  That  sehr  häufig  und  unser  Bewusstsein  ihrer  Notwendigkeit  ist 
unerschütterlich.  Verdanken  wir  dieses  Bewusstsein  derselben  Regel,  wie  in 
allen  andern  Fällen? 

Allerdings.  Der  Unterschied  ist  kein  qualitativer,  sondern  beruht  nur 
auf  der  grossem  Complication  jener  Veränderung.  Die  Zeitfolge  V  V  kann 
nur  dadurch  objectiv  werden,  dass  ich  sie  als  notwendige  Verknüpfung  denke. 
Sie  muss  so  bestimmt  sein,  dass  V  nur  auf  V  in  jedem  Bewusstsein  folgen 
kann.  Es  muss  ein  U  geben,  dessen  Eintreten  bewirkt,  dass  V  auf  V  folgt. 
Für  diese  Ueberzeugung  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  ich  das  U  wirklich  kenne 
oder  nicht.  Ich  weiss,  dass  jedesmal  das  Eintreten  von  U  die  Succession 
W  bewirkt.  Natürlich,  wie  immer,  nur,  wenn  alle  Data  der  in  Betracht 
kommenden  Zustände  A  und  A'  die  gleichen  sind.  Ob  aber  diese  Data  sehr 
einfach  oder  unendlich  verwickelt  sind,  ob  sie  sich  wahrscheinlicher  Weise 
oft  oder  nur  äusserst  selten  zusammenfügen,  ist  für  die  Objectivirung  in- 
different. Nicht  die  Wahrnehmung  des  U,  sondern  seine  Voraus- 
setzung macht  die  Veränderung  notwendig. 

In  der  Einen  Zeitreihe  sind  unendlich  viele  Causalreihen  enthalten, 
jede  eine  Seite  der  Geschichte  einer  Substanz  darstellend.  Betrachte  ich 
nun  nicht  mehr  Eine  solche  Reihe  ABC....,  sondern  ihr  Verhältniss 
zu  einer  zweiten  A'  B'  C  .  .  .  .,  so  prädicire  ich  das  Zeitverhältniss  nicht 
mehr  von  den  Substanzen  S  und  S',  sondern  das  erkenntnisstheoretisch-wirk- 
liche Subject  meines  Urtheils  wird  eine  neue  Substanz  2.',  und  S  und  S' 
werden  (symbolisch)  zu  ihren  Bestimmungen.  (Vgl.  §  152.)  Die  Frage  nimmt 
also  die  Gestalt  an:  Wird  das  Zeitverhältniss  zwischen  mehreren  Verände- 
rungen derselben  Substanz  ebenfalls  durch  das  Causalgesetz  bestimmt? 
2:  muss  man  sich  vorstellen  als  das  Substrat  des  von  den  beiden  Causalreihen 
gebildeten  räumlichen  Systems.  Denn  nur  unter  diesem  Bilde  kann  ich  mir 
den  gleichzeitigen  Verlauf  zweier  Reihen  von  Begebenheiten  vorstellen.  Wir 
wissen,  dass  es  wohl  gestattet  ist,  verschiedene  Substanzen  zu  einer  zusam- 
menzusetzen, da  ja  die  Mehrheit  der  Substanzen  überhaupt  nur  durch  Ein- 
schränkung der  Einen  Substanz  entsteht.  Das  U  ist  die  Regel,  nach  welcher 
die  Bewegung  beider  Linien  so  bestimmt  ist,  dass  auf  die  Bewegung  V  der 
einen  jedesmal  eine  V  der  andern  folgen  muss. 

Die  Täuschung,  als  ob  dieser  Fall  eine  Ausnahme  vom  Causalgesetz 
wäre,  entsteht  daraus,  dass  uns  hier  das  U  von  vorneherein  als  ein  X,  als  eine 
unbekannte  Grösse  erscheint.  Wir  werden  nämlich  durch  diese  Betrachtung 
unmittelbar  vor   die  unmögliche  Aufgabe  hingestellt,  die  Totalität  der  Er- 


Anmerkungen.  153 

fahrung  zu  begreifen.  Die  Veränderung  A  B  beziehen  wir  einfach  auf  die 
Ursache  u  und  beruhigen  uns  dabei.  Dass  dieses  U  wieder  eine  Ursache  ge- 
habt habe  etc.,  ist  selbstverständlich,  aber  der  Regress  ist  eine  weitere,  von 
der  ersten  unabhängige  Betrachtung.  Suchen  wir  dagegen  bei  der  Verände- 
rung VV  das  U,  so  beobachten  wir  zunächst,  dass  die  Ursache  u  von  V 
vor  der  Ursache  u  von  V  eingetreten.  Schon  der  erste  Schritt,  den  wir 
thun,  ist  ein  Zurückschieben.  Wir  begründen  die  Successionen  der  Wir- 
kungen durch  die  Successionen  der  Ursachen;  es  eröffnet  sich  also  unserm 
Denken  sofort  die  ins  Unbestimmte  laufende  Kette.  Es  richtet  sich  un- 
mittelbar auf  die  beiden  Anfänge  der  Reihen  hin.  Nun  verbindet  sich,  wie 
anderswo  ausgeführt  worden  (Kant's  Teleologie,  Cap.  II,  §  12—14),  jeder 
Versuch,  eine  Totalität  der  Erfahrung  zu  denken,  mit  dem  Bewusstsein  der 
Zufälligkeit.  Indem  wir  also  das  aus  jener  Perspective  entspringende  Be- 
wusstsein der  Zufälligkeit  falsch  interpretiren,  entsteht  die  Täuschung,  dass 
die  Succession  V  V  keiner  causalen  Bestimmung  unterliege.  Vor  der  philo- 
sophischen Besinnung  verschwindet  der  Schein;  denn  da  zeigt  sich,  dass,  im 
absoluten  Sinne,  die  Reihe,  in  welcher  AB  liegt,  gerade  so  zufällig  ist,  wie 
die  Doppelreihe  von  VV.  Dass  das  Schiff  unter  gegebenen  Bedingungen 
sich  bewegt,  ist  an  sich  nicht  notwendiger,  als  dass  ein  Raumcomplex  sich 
unter  gegebenen  Bedingungen  so  verändert,  dass  ich  zuerst  aus  der  Thür 
trete  und  nachher  ein  Ziegel  fällt. 

Noch  ein  Wort  über  die  modalen  Betrachtungen  Schopenhauer's.  Er 
sagt  zunächst  ganz  richtig,  dass  wir  aus  der  Form  der  Zeit  die  Kenntniss 
der  blossen  Möglichkeit  der  Succession  schöpfen.  Die  Zeit  ist  in  der  That 
die  blosse  Möglichkeit  des  Nacheinanderseins.  Ferner  erkennen  wir  die  em- 
pirisch gegebene  Succession  als  wirkhch.  Aber  bei  Leibe  nicht  die  Suc- 
cession der  „realen  Objecte"  (S.  v.  Grund  p.  90),  sondern  die  der  Vorstel- 
lungen. Erst  wenn  wir  die  Folge  der  Vorstellungen  als  notwendig  erkannt 
haben,  wird  die  der  realen  Objecte  wirklich.  Dazu  will  ich  noch  eine  Frage 
fügen.  Wenn  die  Notwendigkeit  der  Vorstellungen  das  Kriterium  der  Wirk- 
lichkeit der  Objecte  ist,  was  bleibt  uns  denn  für  eine  Berufung  für  die  Not- 
wendigkeit der  Objecte?  Die  Antwort  ist  leicht:  Die  transscendentale  De- 
duction,  die  Beziehung  auf  die  Möglichkeit  der  Erfahrung. 

122)  Man  lasse  sich  durch  den  Ausdruck  Zustand  nicht  zu  dem  Irrtum 
verleiten,  Kant  habe  die  Ursache  in  den  Zustand  A  hineingelegt.  Unter 
Zustand  versteht  er  in  diesen  Fällen  ganz  allgemein  den  Zustand  des  Ge- 
schehens überhaupt  in  dem  durch  A  bezeichneten  Zeitmoment.  Man  beachte 
die  Stellen:  „in  welcher  das  Gegenwärtige,  sofern  es  geworden,  auf  irgend 
einen  vorhergehenden  Zustand  Anweisung  gibt,  als  ein,  obzwar  noch  un- 
bestimmtes Correlatum  dieser  Ereigniss."  Kr.  180.  —  „das,  was  im 
vorigen  Zustand  enthalten  war."  Kr.  181.  —  „indem,  was  vorhergeht."  ebd. 
—  „etwas  notwendig  vorausgehn  —  das  Andre  notwendig  folgen."     Kr.  182. 

123)  Kr.  185  und  207.  —  W.  V,  318. 

124)  Kr.  66  und  76. 

125)  Kr.  228. 

126)  W.  V,  407. 

127)  Die   mechanischen   Handbücher   pflegen   sich  nicht   stark    um   die 


154  Anmerkungen. 

logischen  Eigenschaften  dieses  Princips  zu  kümmern.  Z.  B.  das  „Handbuch  d. 
theoret.  Physik"  v.  Thomson  und  Tait  (übers,  v.  Ilclmholtz)  weiss  über  die 
Trägheit:  ..Der  Materie  wohnt  das  Bestreben  (!)  inne,  äussern  Einflüssen  zu 
widerstehen;  deshalb  bleibt  jeder  Körper,  so  lange  er  es  vermag,  in  Ruhe, 
oder  er  bewegt  sich  gleichförmig  in  gerader  Richtung. 

Dieses  Streben,  die  Trägheit  der  Materie  ist  der  im  Körper  enthaltenen 
Stoffmenge  proportional.  Es  ist  also  irgend  eine  Ursache  erforderlich,  um 
die  Gleichförmigkeit  der  Bewegung  eines  Körpers  zu  stören,  oder  um  den- 
selben von  seiner  natürlichen  geradlinigen  Bahn  abzulenken."     I,  183. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  an  den  Ausspruch  Kaut's  erinnert,  dass  die 
Benennung  der  ..Trägheitskraft"  aus  der  Naturwissenschaft  gänzlich  weg- 
geschafft werden  müsse,  „vornämlich  weil  dadurch  die  irrige  Vorstellung 
Derer,  die  der  mechanischen  Gesetze  nicht  recht  kundig  sind,  erhalten  und 
bestärkt  wird,  nach  welcher  die  Gegenwirkung  der  Körper,  von  der  unter 
dem  Namen  der  Trägheitskraft  die  Rede  ist,  darin  bestehe,  dass  die  Be- 
wegung dadurch  in  der  Welt  aufgezehrt,  vermindert  oder  vertilgt, 
nicht  aber  die  blosse  Mittheilung  dadurch  bewirkt  werde."     (W.  V,  416.) 

Befriedigender  lässt  sich  Sturm,  cours  de  mecanique.  p.  HO  über  die 
Trägheit  aus:  „II  est  evident,  que  si  un  point  materiel  est  en  repos,  il  ne 
peut  se  mettre  en  mouvement  de  lui-meme  et  sans  une  cause  exte  ri  eure, 
car  il  n'y  a  pas  de  raison  pour  que  ce  point  se  meuve  de  lui-meme  dans 
un  certain  sens  plutot  que  dans  un  autre."  Hier  ist  wenigstens  der  Gegensatz 
der  äussern  und  innern  Ursache  und  die  Beziehung  zum  allgemeinen  Causal- 
gesetz  angedeutet.  Dagegen  fehlt  die  Unterscheidung  des  logischen  und  des 
empirischen  Bestandtheils  und  die  Bemerkung,  warum  wir  nicht  einfach 
eine  innere  Ursache  annehmen  können. 

\2S)  So  bin  ich  der  Ansicht,  dass  die  „Grenzen  des  Naturerkennens" 
von  Du  Bois-Reymoud,  auch  nachdem  Lange  sie  vertheidigt  hat,  nicht  vor 
dem  Vorwurf  der  petitio  principii  geschützt  sind.  Du  Bois  hat  die  Uner- 
kennbarkeit  der  geistigen  Vorgänge,  anstatt  sie  zu  beweisen,  vorausgesetzt. 
Lange  sagt  (a.  a.  0.  H,  156):  Wenn  zwei  Welten  sich  nur  darin  unter- 
scheiden, ..dass  in  der  einen  der  ganze  Mechanismus  ahliefe,  wie  die  Mechanik 
eines  Automaten,  ohne  dass  irgend  etwas  dabei  empfunden  oder  gedacht 
würde,  während  die  andre  unsre  Welt  ist;  dann  würde  die  Weltformel 
für  diese  beiden  Welten  durchaus  dieselbe  sein."  Dass  dies  so 
sein  muss,  dafür  linde  ich  nirgends  einen  Grund  angegeben;  ich  bin  also 
vorläufig  berechtigt,  auch  das  Gegentheil  zu  glauben.  Aber  ich  kann  sogar 
positiv  beweisen,  dass  beide  Welten  von  der  erkenntnisstheoretischen  Reflexion 
unterschieden  werden  müssen.  Der  von  Laplace  gedachte  Geist  könnte,  im 
Besitze  seiner  W\'ltformel,  z.  B.  jeden  Zeitpunkt  genau  angeben,  in  welchem  er 
einschlafen,  und  jeden ,  'in  welchem  er  erwachen  wird.  Für  diesen  Ueber- 
gang  seines  Ichs  aus  dem  bewussten  Zustand  in  den  des  Schlafens  muss 
er,  wie  für  alle  Veränderungen,  eine  Ursache  angeben;  das  Uebei-treten  der 
Substanz  aus  der  einen  in  die  andre  Welt  muss  causal  bestimmt  werden. 
Angenommen,  er  berechne  für  zwei  verschiedene  Zeitpunkte  die  Verände- 
rungen seines  Körpers,  welche  beidemal  absolut  gleich  sein  sollen,  nur  dass 
das  eine  Mal  auch  das  Eintreten  des  Bewusstseins  stattfindet,  das  andre  Mal 


Anmerkungen.  155 

nicht,  dann  niuss  im  ersten  Fall  eine  Ursache  mehr  vorhand'^n  sein,  als  im 
^.weiten,  d.  h.  die  Weltformel  ist  jedesmal  verschieden.  Da  wir  aber  unter 
Krkemien  wissenschaftlicher  Weise  nichts  Anderes  verstehen  können,  als 
die  Subsumtion  unter  das  Causalgesetz ,  so  folgt  schon  aus  dessen  AUge- 
meingiiltigkeit  die  (theoretische)  Erkennbarkeit  der  geistigen  Vorgänge. 

129)  Kr.  22'!.  _  w.  V,  408. 

130)  Kr.  273  ff.  und  erste  Auflage  p.  5S5  ff. 

131)  Kr.   184. 

132)  Dagegen  können  wir  die  Unvergänglichkeit  nicht  (wie  bei  der  Sub- 
stanz) auch  von  ihrem  Quantum  a  priori  behaupten.  Das  physikalische 
l'rincip  von  der  P]rhaltung  der  Energie  ist  ein  iuductiver  Satz.  Wir  haben 
hier  nicht  bewiesen,  dass  kein  Zuwachs,  sondern  nur,  dass  keine  erste  Be- 
wegung entstehen  kann. 

Man  hat  sich  in  neuerer  Zeit  darüber  gewundert,  dass  Kant  zwar  die 
Erhaltung  der  Materie  bewiesen,  aber  die  so  wichtig  gewordene  Erhaltung 
der  Kraft  vernachlässigt  habe.  Dieser  Verzicht  ist  aber  vielmehr  ein  Beweis 
seiner  bewundernswerten  kritischen  Sicherheit.  Das  Princip  der  Erhaltung 
der  Kraft  hat  er  im  Jahre  1763  metaphysisch  abgeleitet;  denn  es  liegt  in 
dem  Satze:  ,.In  allen  natürlichen  Veränderungen  der  "Welt  wird  die  Summe 
des  Positiven,  insofern  sie  dadurch  geschätzt  wird,  dass  einstimmige  (nicht 
entgegengesetzte)  Positionen  addirt  und  real  entgegengesetzte  von  einander 
abgezogen  werden,  weder  vermehrt  noch  vermindert."'  (Vers.  d.  Begr.  d. 
neg.  Grössen  etc.  W.  I,  148.)  Dieses  grossartige  Princip  konnte  vor  der 
„Berichtigung  des  Begriffs  der  Veränderung",  welche  Substanz  und  Accidens 
scharf  auseinanderhält,  nicht  bestehen,  und  findet  sich  folgerichtig  auch 
nicht  in  der  Kritik,  obwohl  Kant  noch  in  der  citirten  Schrift  von  den  vor- 
zutragenden Sätzen  gesagt  hatte,  dass  sie  ihm  „von  der  äussersten  Wichtig- 
keit zu  sein"  scheinen  (ebd.  I,  14G). 

133)  Kr.  370—373. 

134)  Vgl.  Kaut's  Teleologie  Cap.III  und  die  dort  augeführten  Stellen. — 
Meine  Definition  ist  präciser  als  die,  welche  Kant  (W.  I,  p.  448)  gibt.  Dort 
heisst  es:  „Die  Ki'aft  ist  nicht  das,  was  den  Grund  der  Existenz  der  Acci- 
denzen  enthält  (denn  den  enthält  die  Substanz):  sondern  ist  der  Begriff  von 
dem  blossen  Verhältnisse  der  Substanz  zu  den  letztern,  soferne  sie  den 
Grund  derselben  enthält,  .  .  .  ."  Diese  Bestimmung  enthält  einen  doppelten 
Mangel.  Einmal  geht  die  Kraft  überhaupt  nicht  auf  den  Grund  der  Acci- 
denzen,  sondern  auf  den  Grund  ihrer  Succession.  Dann  geht  sie  auch  nicht 
auf  die  Accidenzen  der  Substanz,  welche  die  Kraft  hat,  sondern  derjenigen, 
auf  welche  sie  wirkt. 

Lange  nennt  Kräfte  „diejenigen  Eigenschaften  des  Dings,  welche  wir 
durch  bestimmte  Wirkungen  auf  andere  Dinge  erkannt  haben"  (a.  a.  0.  II, 
217),  wo   der  Begriff'  der  Eigenschaft  in   einem  weitem  Sinne  gefasst  ist. 

135)  Die  ersten  Worte  stehen  Kr.  185,  die  letzten  p.  70. 

136)  Ich  weiche  auch  hierin  von  Kant  ab,  welcher  sagt,  dass  „auch  die 
Grösse  der  Realität  durch  alle  kleinern  Grade,  die  zwischen  den  ersten  und 
letzten  enthalten  sind,  erzeugt  wird."  Nachher  wiederholt  er:  Es  „erwächst 
der  neue  Zustand   der  Realität  von   dem  ersten  an,    darin   diese  nicht  war. 


156  Anmerkungen. 

durch  alle  unendliche  Grade  derselben  .  .  ."  (Kr.  lS(i,)  Da  Kant  die  Stetig- 
keit des  Grades  als  Krfahrungsbedingung  nicht  nachgewiesen  hat,  so  kann 
ihm  auch  die  continuirliche  Veränderung  des  Grades  nicht  zugestanden  wer- 
den. —  Dagegen  hat  Kant  die  lex  continui  mechanica  unabhängig  von  der 
metaphysischen  Stetigkeit  aus  dem  Trägheitsgesetze  abgeleitet.  Vgl.  „Allge- 
meine Anmerkung  zur  Mechanik"  W.  V,  4 17, namentlich  auch  denSchluss.  p.420. 

137)  Kr.  182. 

ISS)  Kr.  160  und  186. 

139)  W.  III.  75. 

14tt)  Vgl.  dartiber  Kant's  Teleologie  Cap.  I,  §  l(i,  wo  die  wichtigsten 
Stellen  angeführt  sind. 

141)  Die  Abhandlung  befindet  sich  im  Bandl  seiner  sämmtlichen  Werke. 

142)  Ueber  e.  Entdeckg.  etc.   W.  I,  409  und  410  und  ebd.  478  und  479. 

143)  Ueber  die  vierf.  Wurzel  etc.  p.  SO. 

144)  Ebd.  —  Ferner:  „Ueber  das  Sehen  und  die  Farben."  Cap.  1. 
Band  I  der  Werke. 

145)  Vgl.  Wundt  a.  a.  0.  p.  708  und  709.  —  Mit  Recht  hat  Lange  (a. 
a.  0.  II,  426)  auf  Grund  der  Thatsache,  dass  die  Wahrnehmungen  so  zu 
Stande  kommen,  als  ob  sie  durch  Schlüsse  gebildet  wären,  den  wichtigen 
Satz  aufgestellt: 

„Gibt  es  im  rein  sinnlichen  Gebiet,  wo  für  alle  Erscheinungen  orga- 
nische Bedingungen  anzunehmen  sind,  Vorgänge,  welche  mit  den  Verstandes- 
schlüssen wesensverwandt  sind,  so  wird  es  dadurch  bedeutend  wahrschein- 
licher, dass  auch  die  letztern  auf  einem   physischen  Mechanismus  beruhen." 

146)  „Ueber  das  Sehen  des  Menschen"  1855.  Vgl.  Vorrede  v.  Fraueu- 
städt  zu  Schopenhauer  „Ueber  das  Sehen  und  die  Farben."    Werke,  Band  I. 

147)  Fick,  „Die  Welt  als  Vorstellung."  Würzburg  1870.  Ich  würde 
nicht,  wie  Cohen  (a.  a.  0.  p.  222),  diese  Bemerkung  durch  den  Hinweis  be- 
richtigen, dass  es  ja  das  Kriterium  der  Causalität  sei,  „den  Begriff  des  Gegen- 
standes nicht  bloss  deutlich,  sondern  erst  möglich  zu  machen."  Gegen  die 
Physiologie  gesagt,  bekommt  dieser  Satz  einen,  von  der  Kantischen  Aufgabe 
abliegenden  Sinn.  Das  Object,  das  die  Causalität  möglich  macht,  heisst  in 
der  reinen  Erkenntnisstheorie  „objective  Succession",  in  der  Physiologie 
„äusseres  Ding". 

148)  Schopenhauer  zeiht  Kant  des  handgreiflichsten  Widerspruchs  (Werke 
11,  560).  Nachdem  er  das  Zngleichsein  zuerst  fälschhch  als  einen  Modus 
der  Zeit  aufgestellt  habe  (Kr.  166),  sage  er  später  „ganz  richtig:  „..Das 
Zugleichsein  ist  nicht  ein  Modus  der  Zeit,  als  in  welcher  gar  keine  Theile 
zugleich  sind,  sondern  alle  nacheinander.""  Diese  Stelle  findet  sich  in  der 
Hartensteinschen  Ausgabe  p.  70  und  würde  allerdings  einen  Widerspruch 
mit  dem  Frühern  enthalten,  wenn  Schopenhauer  —  richtig  citirt  hätte.  Die 
erste  Stelle  sagt,  dass  man  drei  verschiedene  Zeitverhältnisse  oder  Modi 
unterscheiden  müsse;  die  zweite  Stelle  dagegen  erklärt,  es  sei  „das  Zugleich- 
sein nicht  ein  Modus  der.Zeit  seihst,  als  in  welcher  etc."  Indem  öch.  das 
„selbst"  weglässt,  legt  er  den  Widerspruch  hinein.  Das  Zngleichsein  ist  zwar 
ein  Modus  der  Zeit,  aber  es  lässt  sich  nicht  aus  der  Zeit  selbst  begreifen, 
es  muss  noch  etwas  hinzukommen,  um  es  möglich  zu  machen. 


Anmerkungen.  157 

149)  Der  Lehrsatz  selbst  darf  nichts  Entbehrliches  enthalten;  die  Ex- 
plication  der  Begriffe  hat  der  Beweis  zu  geben.  Das  „Zugleich"  und  das 
Dasein  „im  Räume"  liegt  schon  im  BegriÖ'  der  Substanz.  Dies  zur  Moti- 
virung  meiner  Abweichung  von  der  Kantischen  Fassung  der  Formel. 

150)  Es  ist  interessant,  dass  schon  in  der  ersten  Dissertation  diese  beiden 
metaphysischen  Principien  „principium  successionis''  und  ,.priucipium  coexi- 
stentiae"'  genannt  werden. 

151)  Kr.  ISS. 

152)  Kr.   1S9. 

153)  Kr.  190.  —  Man  vergleiche  hier  die  vorkritische  Darstellung:  ..Quo- 
niam  locus,  situs,  spatium,  sunt  relationes  substantiarum,  quibus  alias  a  se 
realiter  distinctas  determinationibus  mutuis  respiciunt  etc.''     (W.  I,  41.) 

154)  Kr.   104. 

155)  Vgl.  dazu  die  Darstellung  Cohen's  (a.  a.  0.  22S — 232),  welcher  hier 
nur  einige  Bemerkungen  hinzuzufügen  sind. 

156)  Kant's  Logik  (W.  III,  22S).  Der  Gedanke  des  Ganzen  wirkt  im 
disjunctiven  Urtheil  nicht  „dunkel",  wie  Cohen  p.  129  sagt,  sondern  man 
muss  sich  des  Ganzen  so  deutlich  bewusst  sein,  dass  man  weiss,  es  lasse 
sich  ausser  seiner  Sphäre  in  gewisser  Beziehung  nichts  denken. 

157)  Kr.  96.  —  Vgl.  Kr.  104. 

158)  Kr.  104. 

159)  W.  IIL  74. 

160)  Kr.  190. 

161)  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  —  Werke  II,  544.  —  Dasselbe 
gilt  auch  gegen  Trendelenburg,  der  im  disjunctiven  Urtheil  „nur  das  Bild  einer 
feindlichen  Wechselwirkung,  nicht  das  befreundete,  wechselseitige  Ueber- 
greifen  der  Theile  erblickt."     Log.  Untersuchgn.  3.  Aufl.  I,  369  imd  370. 

162)  A.  a.  0. 11,  545.  Alle  weiterhin  angeführten  Stellen  stehen  auf  den 
folgenden  drei  Seiten.     II,  546— 54S. 

163)  Kr.  1S9. 

164)  W.  V,  409.  —  Schopenhauer  dagegen  meint,  dass  Kant  hier  un- 
bedachtsamer Weise  geradezu  ausgesprochen  habe,  dass  die  Wechselwirkung 
nur  ein  überflüssiges  Synonym  der  Causalität  sei  (a.  a.  0.  II,  54S).  „Wie 
sollen  denn  für  einfache  Causalität  und  für  Wechselwirkung  verschiedene 
Functionen  a  priori  im  Verstände  liegen,  ja,  sogar  die  reale  Succession  der 
Dinge  nur  mittelst  der  erstem  und  das  Zugleichsein  nur  mittelst  der  letz- 
tern möglich  und  erkennbar  sein  ?  Danach  wäre,  wenn  alle  Wirkung  Wechsel- 
wirkung ist,  auch  Succession  und  Simultaneität  das  Selbe,  mithin  alles  in 
der  Welt  zugleich."  Diese  absurden  Consequenzen,  welche  Schopenhauer 
dem  Kantischen  Satze  zumutet,  charakterisiren  hinlänglich  die  Tiefe,  bis  zu 
welcher  er  in  das  Genie  seines  Meisters  eingedrungen  ist. 

165)  Kr.  W.  V,  413.     Zusatz  1. 

166)  Kr.  20S. 

167)  „Ueb.  d.  Fortschr.  der  Metaph.  etc."    W.  I,  519. 

16S)  Kr.  20S.  —  W.  I,  519.  —  Vgl.  dazu  W.  I,  570:  „Raum  und  Zeit 
enthalten  Verhältnisse  des  Bedingten  zu   seinen  Bedingungen,  z.  B.  die  be- 


158  Anmerkungen. 

stimmte  Grösse  eines  Eaumes  ist  nur  bedingt  möglich,  nämlich  dadurch,  dass 
ihn  ein  anderer  Raum  einschliesst." 

lt)9)  Kr.  192.  Anm.  —  W.  I,  519,  Vgl.  dagegen  die  vorkritische  An- 
sicht in  der  nova  dilucidatio  (W.  I,  42):  „Hacque  ratione  plures  esse  posse 
muudos  etiam  senso  metaphysico,  si  Deo  ita  volupe  l'uerit,  haud  absoimra  est."' 

170)  Kr.  191. 

171)  W.  III,  82. 

172)  Zu  diesem  Gedankengang  vergleiche  Kant's  Teleologie,  speciell 
Abschn.  II  ..Das  Princip  der  formalen  Zweckmässigkeit-',  wo  ich  den  Zu- 
sammenhang dieser  Hypothese  mit  der  Kritik  der  reinen  Vern.  ausführlich 
nachgewiesen  habe. 

173)  Kant  hat  beide  Functionen  als  Schlüsse  der  Urtheilskraft  in  seine 
Logik  aufgenommen.  W.  III,  319.  -  Ueber  die  Bedeutung  der  Urtheilskraft 
vgl.  Kant's  Teleologie  11,  §  4  und  §  7.     Ueber  die  Induction  ebd.  III,  §  2. 

174)  Kr.  488. 

175)  Wie  denn  auch  Kant  in  der  Definition  sagt:  ..Dessen  Zusammen- 
hang mit  dem  Wirklichen  nach  allgemeinen  Bedingungen  der  Erfah- 
rung bestimmt  ist,  ist  (existirt)  notwendig."  (Kr.  193.)  Dagegen  könnte 
man  aus  der  „Erläuterung"  p.  200  den  Schluss  ziehen,  Kaut  habe  das  Postulat 
der  Notwendigkeit  nur  auf  das  Dasein  der  Wirkungen  bezogen  wissen  wollen. 
..Da  ist  nun  kein  Dasein,  was  unter  der  Bedingung  anderer  gegebener  Er- 
scheinungen als  notwendig  erkannt  werden  könnte,  als  das  Dasein  der  Wir- 
kungen aus  gegebenen  Ursachen  nach  Gesetzen  der  Causalität  etc."  Ich 
glaube  es  heisst  im  Sinne  Kant's  denken ,  wenn  mau  diese  Stellen  dahin  er- 
klärt, dass  zur  Charakteristik  der  Notwendigkeit  eben  der  wichtigste  Grund- 
satz gewählt  worden  sei,  aber  ohne  die  Absicht,  sie  auf  diesen  zu  beschränken. 

176)  Kr.  im. 

177)  Kr.  193. 


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