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DIE GRÜNDSÄTZE
REINEN ERKENNTNISSTHEORIE
KANTISCHEN PHILOSOPHIE.
KRITISCHE DARSTKLLÜNG
AUGUST STADLER
Ph. D.
LEIPZIG
VERLAG VON S. HIRZEL.
1876.
k758
77X85«.
VOHWORT.
In vorliegender Arbeit habe ich versucht, die Fimctioii
der „CTriiiid.sätze des reiueu Verstandes" in der Kautischeu Er-
kenntuisstheorie von neuem zu i)rüfcn und in systematischem
Zusammenhang zu entwickeln. In denj Umfange dieser Aufgabe
schienen mir drei Punkte der Aufklärung besonders bedürftig zu
sein: die specifischc Leistung jedes einzelneu Princips, die Recht-
mässigkeit seiner Annahme und das einheitliche Zusammenwirken
aller Grundsätze im Ganzen des erkenntnisstheoretischen Processes.
Das so bestimmte Problem glaubte ich nicht dadurch lösen
zu sollen, dass ich die Interpretation der Kantischen Darstellung
Schritt für Schritt folgen Hess. Es schien instructiver, die inte-
grirendeu Gedanken der Vernunftkritik zunächst von allem hi-
storisch-polemischen Beiwerke zu sondern und sie hierauf, in
möglichster Uebersichtlichkeit , zum System wieder zusammen-
zubauen. So konnte der geschlossene Mechanismus der Erfah-
rungsbediugungeu klarer und deutlicher hervortreten. — Einem
solchen Versuche ist der Boden geebnet durch die einschneiden-
den Untersuchungen H. Cohen's über „Kant's Theorie der Er-
fahrung." Von ihren bedeutsamen Resultaten sei hier nur an
zwei erinnert, die für meine Darstellung besondere Wichtigkeit
besitzen: die Unterscheidung des „metaphysischen" A priori von
dem ,,transscendentalen", als von der blossen Beziehung auf die
Möglichkeit der Erfahrung, und die Aufzeigung der Kategorie
als Art der im Urtheilsact wirkenden „transsceudentalen Apper-
ceptiou", Beide Auflassungen haben sich mir in mehrjährigen
eignen Studien nicht nur als Kantisch, sondern auch als syste-
matisch fruchtbar bewährt.
Es ist kaum nötig zu erklären, dass sich diese Arbeit keines-
wegs als ein ausgeführtes System der Erkenntuisstheorie an-
bieten will. Ein solches Unternehmen würde eine viel breitere
Anlage, vor Allem aber eine (psychologische) Ueberschreitung
des Kantischen Gedankenkreises erfordern. Dies liegt nicht im
Plane dieser Untersuchung. Wenn sie auch an Punkte gelangte,
wo eine Entfernung vom Kantischen Wortlaute, eine genauere
IV Vorwort.
Ausführung- l)losser Aiideutiuii;en, selbst eine HinziifUg-ung eigner
Gedanken zur scharten Kennzeichnung des Sinnes niHig wurde,
so glaubt sie doch von den Intentionen der Vernunitkritik nicht
abgewichen zu sein. Der Leser wird die Discussion solcher
Stellen in den Anmerkungen finden. Mein Ziel war in erster
Linie die immanente Conseciuenz der kritischen Theorie.
Dass die Arbeit trotzdem nicht bloss dem geschichtlichen
Verständnisse Kant's, sondern auch dem logischen Reformbedürf-
nisse der Gegenwart zu dienen hofft, zeigt sie durch die Wahl
der Methode; sie ist bestrebt, die wissenschaftliche Tragweite
Kantischer Sätze nach allen Richtungen wenigstens anzudeuten.
Und ein solcher Anspruch bedarf in Deutschland zur Zeit
keiner Motivirung. Zwar herrscht Streit in der Philosophie, wie
immer; aber die Kämi)fenden wenden sich mehr und mehr von
den Epigonen ab, um sich für oder gegen Kant in zwei Lager
zu scharen. Die Geschichte wird das Inventar des bleibenden
Besitzes aufstellen, den unser logisches und unser sittliches Be-
wusstsein dem kritischen Idealismus verdankt. Jedenfalls steht
uns kein Urtheil frei, bevor wir uns redlich bemüht haben, seinen
gesundesten, besten Sinn zu fassen. Was Kant von Piaton
sagte, gilt von ihm selbst: „dass es gar nichts Ungewöhnliches
sei,- sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die
Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über
seinen Gegenstand äussert, ihn sogar besser zu verstehen, als er
sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam be-
stimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen
redete oder auch dachte.** (Kr. d. r. V. ed. Hart. p. 257.)
Die „mildere und der Natur der Dinge angemessene
Auslegung'* (ebd. p. 258), die er jenem zugestand, dürfen wir ihm
selbst nicht vorenthalten. Welche Gedanken der Vernunftkritik
und in welcher Verbindung sie bei einem Fortschritt der Er-
kenntnisstheorie zu verwerten seien, kann nicht ausgemacht wer-
den, solange man über den Zweck uneinig ist, den sie in ihrem
ursprünglichen Organismus zu erfüllen hatten. Zur Förderung
dieser Einsicht, die ich als die fruchtbarste Vorbereitung- auf den
erkenntnisstheoretischen Ausbau der Logik betrachte, möchte nach-
folgende Entwicklung einen Beitrag Uefern.
Berlin, im October 1S75. August Stadler.
INHALTS-VERZEIiHMSS.
E i n 1 e i t II n i-'.
° Seite
Die Aufgabe der Philosophie 1
1. Erneute Prüfung. 2. Dogmatische Versuche. ','>. Kritischer Ver-
such. 4. Die praktische Philosophie. 5. Die theoretische Philosophie,
b. Exacte Stellung der Aufgabe. 7. Vorerinnerung.
I. Die Psjcholog-ie 6
8. Detinition. lt. Eigentümlichkeit ihrer Methode. 10. Ziel. 11. Er-
klärende und beschreibende Psychologie. 12. VerhiUtuiss zur Philosophie.
Mangelhafte Auffassung. 13. Das Princip der Arbeitstheilung.
II. Allgemeine Theorie des Erkeuueiis.
1 . A u s g a 0 g s p LI n k t 1 U
14. Ergebnisse der Psychologie. Das Urtheil. 15. Die notwendigen
Urtheile. 16. Das Problem ihrer Möglichkeit. 17. Verhältniss zur Psycho-
logie. IS. Ursprung der Erkenutuisstheorie.
2. Arten der Notwendigkeit 12
19. Psychologische Vorarbeit. 20. Formale und materiale Notwen-
digkeit. 21. Der wissenschaftliche Beweis. 22. Analytisch und synthetisch.
III. Die formale Logik.
1. Charakter 14
23. Hypothetische Natur. 24. Allgemeine Aufgabe. 2b. Vorarbeit
der Grammatik. 26. Methode.
2. Die Voraussetzungen der formalen Logik 17
27. Grundproblem. 28. Das Axiom der durchgängigen Verknüpfung.
29. Der Satz der Identität. 30. Das negative Urtheil. 31. Der Satz des
Widerspruchs. 32. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten. 33. Der
Satz vom Grunde.
VI luluillbvcr/cichiiiss.
Seite
3. Die Logik als normative Wissenschaft 23
:54. Zweite llichtung des logischen Interesse. ."55. Ungenaue An-
sichten. 'M. Theile der Logik.
IV. Die Erkenutuisstlicorie im eiig'eru 8iuue ... 25
37. Die Fragen, welche die formale Logik otfeu lässt. 38. Aus-
gangspunkt der Erkcuntuisstheorie. 39. Probleme.
V. Die Vorstellung-.
1. Analyse der Vorstellung 27
•10. Ursprüngliche Stellung der Aufgabe. 41. Erste Beantwortung.
42. Psychologische Vorarbeit. -13. Raum und Zeit. 14. Unterschied der
erkenntnisstheoretischen von der psychologischen Methode. 45. Die Ver-
hältnissvorstellungen.
2. Der Raum 31
4H. Verbaldctinition. 47. Psychologische Beschreibung. 4b. Erkenut-
nisstheoretische Apriorität des Raumes. 49. Unterschied vom physiolo-
gischen A priori. 51). Notwendigkeit. 51. Der Raum eine Anschauung.
52. Unendlichkeit. 53. Contiuuität. Präcisiruug des Begriffs der Unend-
lichkeit. Die Grundbegriffe der Geometrie. 54. Negativität des Resul-
tates. 55. Der Raum die Form des äussern Vorstelleus.
3. Die Zeit 35
56. Verbaldetinition. 57. Psychologische Beschreibung. 5^. Er-
kenntnisstheoretische Apriorität. 59. Notwendigkeit, lio. Die Zeit eine
Anschauung, (il. Coiitinuität. (i2. Die Zeit die Form des Vorstelleus
überhaupt.
4. Erster Grundsatz der Erkenntniss thcorie 37
63. Formel.
5. Das Ding an sich 37
64. Resultat. 65. Das Ding an sich ein imaginärer Bcgi'iÖ'. 66. Seine
Entwicklung.
6. Zweiter Grundsatz 39
67. Positive Seite des Resultates. 6S. Formel.
VI. Das Object.
1. Die Synthesis -10
69. Die Vorstellungselemente und ihre Zusammenfassung. 70. Ver-
hältniss zu den Formen der Anschauung. 71. Function und Affection.
72. Die Einheitsfunction.
2. Die Erzeugung des Objects 42
73. Wendung des Problems. 74. Formulirung. 75. Die Identität des
Bewusstseins als fundamentale Voraussetzung. 76. Die Einheitsfunction
als Bedingung der Identität.
Tnlialtsverzoirhniss. VII
Seito
3. Dritter Grundsatz 45
77. Resultat. 7S. Formel. 79. Beziehung zum Idealismus, so. Be-
ziehung zur Psychologie.
-1. Das Noumeno n 4(i
81. Die Einheitsfunction und das Ding an sich. S2. Das Noumenon
als erkenntnisstheoretischer Trennungsbegrift'. S3. Das Noumenon in jwsi-
tiver Bedeutung.
VII. Die Arten der Eiiilieitsfnnctioii.
1. Die Aufgabe 17
S4. Charakter des dritten Grundsatzes. S.o. Allgemeine Forderung
desselben. SK. Die einzelnen Bedingungen. S7. Vollständigkeit der An-
zahl. SS. Forderung der Reinheit der besonderen Gesetze. 89. Befragung
der formalen Logik.
2. Kaut's Entdeckung 49
90. Die Lösung. 91. Sinn derselben. 92. Die Kategorientafel als
tojMsches Schema. 93. Kritik der Ableitung. 94. Notwendigkeit scharfer
Qualification der Angriffe. 9.3. Einzig möglicher Standpunkt der Polemik.
9ß, Resultat.
;i. Systematische Ableitung der Arten r>^
97. Grundgedanke. 98. Die Zeiteinheit. 99. Die Raumeinheit, loi». Die
Einheit der Empfindung. 101. Ergebniss. 102. Prüfung der Vorstellungs-
analyse. 103. Allgemeiner Charakter dieser Gesetze.
4. Folgerungen ,S9
104. Wirkungsart der drei Gesetze. 105. Grenzen ihrer Gültigkeit.
lOf). Anschauung. Begrift'. Wort. 107. Exacter Ausdruck für die Auf-
gabe der formalen Logik. 108. Aequivalenz von Naturgesetz und Grund-
begrifi'. 109. Sinnlichkeit aller Begriffe mit Ausnahme eines einzigen.
VIII. Das Priiicip der materiellen Verknüpfung-.
1. Vierter Grundsatz (>l
1 1 0. Methodologische Vorbemerkung. 111. Die Empfindung. 1 1 2. Con-
tinuität des Bewusstscins. 113. Die intensive Grösse. 114. Mannigfaltig-
keit der Empfindungen. Qualität. 115. Foi-mel.
2. Erläuterungen und Folgerungen (57
llfi. Die psychologische Bewusstlosigkeit. 117. Continuität der Zeit. ^
US. Der Begriff der Realität. 119. G^^enzbegritt" der absoluten Negation.
Objectiv gültiger Begrift" der relativen Negation. 120. Bedeutung des
Princips für die formale Logik. 121. Qualität. Grad. 122. Das Ding
an sich. 123. Bedeutung des Princips für die Naturphilosophie.
VIII Inhaltsverzeichniaa.
Rpito
IX. I>as IMMiioip «l<M' rnumliclKMi Verknüpf uns:.
1. l'" Ulli tor (im iids atz 7.'?
124. Dio riuimlirlioSynthoso. 12."). Dor Boffriff'doi (oxtcnsivon) rinisso.
riCi. Formel. 127. Ansdolnimis' dos l^rinci]is auf dio Zeit. \2s. Vorhält-
niss der extensivou (irösso zur i'ormaloii Anscliaiiimsj.
2. Folgern n gen 75
121». Charakter der (Toomotrio. l:',(). Redeutunu des Princips für iliro
Apodicticitiit. Die Axiome. KU. KiiisrhraiikmiG; der Geometrie. i:{2. Der
Begriff der Zahl und seine objoctivo liodontung. Einheit. Vielheit. Allheit.
\X\. Objective Bedeutung der Zahlenlehro. TJnendlieho Zahl. Fiinachrän-
kung. 131. Reale Gültigkeit der formal logischen Quantität. Verhältniss
der Logik zur Mathematik. Die logische Sphären vergleicliung.
X. Das Priiicip der zeitlichen Verknüprimjif.
Sechster Grundsatz fil
i:^5. Die Aufgabe. \'M'>. Formel. \M. Charakter des rriiicips.
13*5. Arten der Zeiteinheit.
XI. Das Princip der IJeharruns- (Sul)stanzi.
1. Siebenter Grundsatz 83
13'.). Wirkung der zeitlichen Ordnung. 140. Dio Zeit im Verhältniss
zu ihren Modi. Beharrlichkeit der Zeit. 141. Diese Hestimmniig als Po-
stulat der Frkenntnisstheorie. 142. Die Substanz. 14:t. Formel. 144. Prä-
cisirte Formel.
2. firläuterungen und Folgerungen ^V>
14'>. Die Zeit als extensive Grösse. 14r). Der Begritt" der Verände-
rung. 147. Möglichkeit einer Geschichte der I']rfahrungsgegenstände. Die
synthetischen Urtheile a posteriori. 14S. Die llnvergänglichkeit der Sub-
stanz. 140. Exacter Begriff der Veränderung. läO. Neue Bostinunung
der qualitativen Negation. 151. Bedeutung des Princips für die formale
Logik. Objective Gtiltigkeit der Bestandtheile der ITrtheilsform. 152. Die
symbolische Verwertung des Substauzbegriffs im Denken. I.')3. Objective
Gültigkeit der logischen (irundhypothesen. 154. Bedeutung des Princips
für die Naturidiilosophie. llnvergänglichkeit der Materie. 155. Wichtig-
keit des Princips für das Verständniss des kritischen Idealismus. 15(i Die
Substanz und das Noumenon.
XII. Das Princip der Succession iCausalität).
1. Achter Grundsatz ^'^
1 57. Begriff der Zeitfolge. 1 5s. Subjectivität der Succession. 15!t. Pro-
blem ihrer Objectivirung. Kiu. Lösung. 1('»l. Formel. 1(12. Analogie
mit der Zeitanschauung. l('.:t. Der Grundsatz der Succession als Cansal-
gesetz. H'il. Apriorischer Charakter.
Inhaltsverzeichniss. IX
Seite
2. Folgerungen und Erläuterungen 101
165. Die drei Glieder des Causalverhältnisses. 166. Das Wesen der
Ursache. 167. Die Bewegungsursache und das Trägheitsgesetz. 168. Der
kritische Materialismus. 169. Erkenntnisstheoretische Ewigkeit der Ver-
änderung. Die Freiheit. 170. Der Begrjff der Kraft. 171. Die Conti-
üuität der Veränderung. Das Moment. 172. Die objective Bedeutung
der hypothetischen Urtheilsform. 173. Das Ding an sich. 174. Sogenannte
Aeusserungsformen des Satzes vom Grunde. 175. Das Causalgesetz und
die unhewussten Schlüsse.
XIII. Das Princip der Coexistenz (Wechselwirkung).
1. Neunter Grundsatz 116
176. Betrachtung der Aufgabe. 177. Erkenntnisstheoretische Wirk-
lichkeit der Simultaneität. 1 7S. Function des neuen Grundsatzes. 179. Be-
griff der Gleichzeitigkeit. 180. Falsche D[sjiinction. 181. Lösung. 182. De-
finition der Wechselwirkung. 183. Formel.
2. Erläuterungen und Folgerungen 119
184. Die Fassung der zweiten Ausgabe. 185. Das Princip als Be-
dingung der räumlichen Ordnung. 186. Die Ableitung des Princips aus
dem disjunctiven Urtheil. Der Begriff des Ganzen und seiner Theile.
187. Die Einwürfe Schopenhauer's. 188. Bedeutung des Princips für
die Naturphilosophie. 189. Grenzen seiner Gültigkeit. 190. Die Welt-
einheit.
XIV. Die Natureinheit und die besonderen Naturgesetze . . 126
191. Kesultat. 192. Begriff der Natur und ihrer Gesetze. 193. Rück-
blick auf die allgemeinen Naturgesetze. 194. Das empirische Erkennen.
195. Erkenutnisstheoretischer Charakter seiner Möglichkeit. 196. Die
Hypothese von der Begreiflichkeit der Natur. 197. Die angewandte Er-
kenntnisstheorie.
XV. Die modalen Definitionen 130
198. Definition der Notwendigkeit. 199. BegTiff der Wahrheit. 200.
Definition der Wirklichkeit. 201. Definition der Möglichkeit. 202. Schluss.
Anmerkungen 133
D ruck fe hier -Verzeichniss.
SeiteT Z. 17 v. u. lies^von statt vor.
„ 10 Z. 15 V. 0. lies vom statt von.
,. 17 Z. 20 V. u. lies Satz statt Statz.
„ 22 Z. 15 V. u. lies Corollar statt Correlat.
,. 30 Z. 3 V. 0. lies Erfahrungs . . . statt Erfrahrungs . . .
„ 45 Z. 8 V. 0. lies gewonnene statt genannte.
„ 46 Z. 14 V. 0. lies aufgelösten statt unaufgelösten.
„ 46 Z. 1 V. u. lies unbestimmten statt bestimmten.
y. 51 Z. 11 V. u. ist nach „nicht" einzuschieben: auf die Eintheilung selbst,
sondern.
„ 56 Z. 10 V. u. lies räumliche Synth, statt Synthesis.
„ 59 Z. 12 V. 0. lies Erapfindungsproduct Raum statt Empfindungsproduct.
„ 63 Z. 16 V. 0. lies dritten statt zweiten.
„ 1 1 1 Z. 9 V. u. lies lieber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichen-
den Grunde, statt üeber die einfache Wurzel des Satzes
von zureichendem Grunde.
■^
EINLEITUNG.
Die Aufgabe der Philosophie.
1 . Die Aufgabe der Philosophie bildet das stets wieder-
kehrende Grnndthema der neuem philosophischen Literatur.
Diese Thatsache ist leicht zu erklären. Wem Philosophie am
Herzen liegt, der kann sich der nüchternen Einsicht nicht ver-
schliessen, dass seine Wissenschaft immer noch kein anerkanntes
Gemeingut besitzt. In den andern Discipliuen herrscht Streit
über einzelne Theorien, in der Philosophie beginnt die Ent-
zweiung beim wissenschaftlichen Grundbegriif. Das erwachende
Bewnisstsein von der Unhaltbarkeit eines solchen Zustandes ver-
dankt die Philosophie der Nichtbeachtung der Zeitgenossen, So
lange die Turniere der Systeme noch Zuschauer fanden, so lange
auch die Naturwissenschaft noch ernsthaft in den Kampf mit-
eingrifif, erfreute sich die Philosophie auch bei der unfrucht-
barsten Polemik eines hinreichenden Vitalgefühls. Als aber die
exacte Forschung in ihrem grossartigeu Aufschwung sich ganz
von ihr abwandte, und der esoterische Wafifenlärm von den
Gebildeten ignorirt wurde, da musste sie notwendig nach und
nach um das Erlöschen ihres Lebens besorgt werden, sie musste
fühlen, dass es sich um wissenschaftliches Sein oder Nichtsein
handle. So sehen wir denn, dass die neueste Philosophie theils
vollständig auf das Niveau des Vegetirens herabgesunken ist,
theils aber sich zu einer ernstlichen Selbstprüfung aufzuraifen
scheint. Ob die letztere in absehbarer Zeit zur fruchtbaren
Selbsterkenntniss führen wird, lässt sich nicht entscheiden. Die
alte philosophische Methode ist zu sehr eingewurzelt, als dass
nicht jeder Vertreter auch diese reformatorischen Bestrebungen
Stadler, Erkenntnisstlieorie. 1
2 Einleitung.
zunächst auf eigene Hand und unbekümmert um seine Mitarbeiter
unternehmen sollte. Aber das Streben als solches bürgt für die
allmälig'c Verbesserung der Methode. Wenn nur erst die wissen-
schaftliche Neugestaltung ernstlich gewollt wird, so wird sich
auch die Forderung einer bewussten Continuität des Arbeitens
mehr und mehr Geltung verschaffen.
2, In den Versuchen, das Arbeitsfeld der Philosophie zu
bestimmen, tritt fast überall die Neigung hervor, einen recht an-
sehnlichen Bereich abzugrenzen. Dass bei dieser Tendenz die
Leistungen vorwiegend dogmatisch gefärbt sind, ist leicht er-
klärlich, wenn man bedenkt, in wie enge Schranken die Specu-
lation durch den Kriticismus gebannt werden sollte. Aber auch
diese Arbeit ist nicht verloren. Theils befördert sie nur die
Zerbröckelung der morschen Systeme, theils führt sie selbst, ohne
es zu wollen, auf Quellen fruchtbarer Neugestaltung.
Als dogmatisch kennzeichnen sich vor Allem die Versuche,
welche einen falschen Frieden mit den Naturwissenschatten
proclamiren und die Versöhnung mit der exacten Forschung als
Aufgabe der philosophischen Methode hinstellen. Dieser Begriff
der Versöhnung ist unter allen Umständen verweiilich. Die
Philosophie ist entweder zu einer selbstständigen wissenschaft-
lichen Existenz berechtigt oder nicht. Im ersten Falle hat sie
ihr Recht zu verfechten und braucht weder Gunst noch Dul-
dung von einer andern Wissenschaft zu verlangen. Werden
ihre legalen Ansprüche bestritten, so entsteht eben ein Kampf,
dessen Entscheidung der Geschichte der Wissenschaften anheim-
fällt. Im zweiten Falle aber ist der Wunsch nach Versöhnung
vollends lächerlich. Die Grossmut der Empirie kann ihr zwar
das Sterben erleichtern, sie jedoch nie, auch nur vorübergehend
zur Wisslnschaft erheben. Dies findet vornehmlich AnAvenduug
auf die dogmatische Naturphilosoi)hie. Kant hat endgültig dar-
gethan, dass die philosophische Methode für die sachliche Er-
weiterung unserer Naturerkenntniss nichts zu leisten vermag.
Wenn die Missverständnisse der Epigonen diesen theoretischen
Fort>ichritt illusorisch machten, so hat der gewaltige Einfluss des
naturwissenschaftlichen Aufschwungs für seine Verwirklichung
gesorgt.
Die dogmatische Natuii)hilosophie ist glücklicherweise von
der Physik so entscheidend niedergeworfen, dass sie kaum jemals
Die Aufgabe der Philo.soi)liie. 3
im Ernst daran denken kann, sich wieder aufzurichten. Fühlt
aber Jemand das Gemiitsbedürfniss , sich in die Lücken der
exacten Forschung- einzunisten und im Schatten der noch nicht
gelösten Probleme eine Philosophie des Uugewussten aufzurichten,
so ist das ein harmloses Spiel, das nicht einmal der Aufsicht
bedarf.
3. Die kritischen Versuche, die Stellung- der Philosophie
in der modernen Wissenschaft zu bestimmen, werden in erster
Linie rückhaltlos auf den Boden verzichten, zu dessen Bebauung
nur die physikalische Forschung befugt ist und nach anerkannten
Principien nur befugt sein kann. Andrerseits werden sie prüfen,
ob es in der Gesammtarbeit der menschlichen Forschung Func-
tionen gibt, welche nur durch die philosophische Methode voll-
zogen werden können. Führt die Untersuchung zu einem posi-
tiven Resultat, so ist dann der naturwissenschaftliche Dilet-
tantismus ebenso energisch aus dieser Arbeitsgruppe wegzuweisen,
wie der philosophische aus der physikalischen Gruppe wegge-
wiesen werden musste.
Zu einer erspriesslichen Behandlung der Frage wird man
nicht gelangen, wenn man von vornherein den Gesammtbegriflf
der Philosophie gewinnen will; dieser Weg hat noch nie über
vage Allgemeinheiten hinausgeführt. Meiner Ansicht nach ist
es das sicherste und fruchtbarste Verfahren, wenn man von der
herkömmlichen Eintheilung der Philosophie ausgeht und die Be-
rechtigung jeder einzelnen Discipliu untersucht.
4. In diesem Sinne müssen vor Allem die praktische und
die theoretische Philosophie auseinander gehalten werden. Wir
finden in dem reichen Inhalt unseres BcAvusstseins Vorstellungen
von Etwas, das sein soll. Diese Vorstellungen sehen wir in
der erfahrungsmässigen Wirklichkeit nicht nur äusserst selten
realisirt, sondern sie enthalten sogar in den meisten Fällen einen
Gegensatz mit den Thatsachen der Natur. Wir sagen von realen
Erscheinungen der physischen und der psychischen Welt, dass
sie nicht so, dass sie anders sein sollten. Den Charakter, die
Berechtigung und Geltung dieser Beurtheilungsart zu prüfen, ist
Aufgabe der praktischen Philosophie. Die specifische
Verschiedenheit der zu dieser Forschung nötigen Methode ist
so evident, tlass auf diesem Gebiete die wissenschaftliche Selbst-
ständigkeit der Philosophie niemals bestritten wurde. Sie wäre
1*
4 Einleitung.
eine Wissenschaft, auch wenn sie kein weiteres Arbeitsfeld be-
herrsclicn würde. Die Gesetzmässigkeit des Soll, welche die
praktische Philosophie entwickelt, ist die denkbar vollkommenste
Daseinsform vcrnünftig-cr Wesen. Mit dem Verzicht auf das Er-
ringen ihrer Walirhciten würde der Mensch seine höchste AVürde
opfern. Die praktische Philosophie zerfällt in einen reinen
und einen angewandten Theil. Der erste stellt die allge-
meinsten, von dem empirischen Wechsel unabhängigen Principien
auf. Seine Arbeit ist somit endlich, ihrem Inhalt nach erschöpf-
bar. Es muss eine Zukunft gedacht werden, in welcher die
reine praktische Philosophie als Forschimg aufgehört hat; ihre
Resultate sind vollständig gewonnen, sie braucht nur bewahrt
und vor Trübungen geschützt zu werden. Dann bilden ihre
Wahrheiten ein unvergängliches Gemeingut, das jede Generation
des Menschengeschlechts in ihrer Erziehung empfangen wird. —
Der angewandte Theil betrachtet Alles, was wir wissen und können,
im Verhältniss zu jener inneni Gesetzmässigkeit; er ordnet unsern
ganzen Lebensinhalt nach dem ethischen Zweck des Menschen-
daseins. Seine Arbeit ist unendlich ; sie folgt Schritt für Schritt
den empirischen Wissenschaften, die sie alle umfasst. Sie be-'
stimmt den Wert jeder Errungenschaft und weist ihr die ent-
sprechende Rolle im Haushalt unserer Gedanken zu. Hier wird
Philosophie Weltweisheit im umfassendsten, aber gleichzeitig
bestimmtesten Sinne des Wortes.
5. Weit schwieriger ist der Begriff der theoretischen
Philosophie zu bestimmen. Sie hat mit den Naturwissen-
schaften die gemeinsame Aufgabe, ein Gebiet des Seienden zu
erforschen. Will sie dessenungeachtet diesen gegenüber eine
besondere Stellung einnehmen, so muss sie die Eigentümlichkeit
ihrer Methode, die den specifischen Qualitäten des ihr gegebenen
Materials entspricht, in zwingender Weise darthun. Man hat sich
die Einsicht in ihren Charakter sehr oft dadurch erschwert,
dass mau die soeben entworfenen Grundzüge der angewandten
praktischen Philosophie der Philosophie überhaupt und folglich
auch der theoretischen beilegte. Auch die letztere sollte alle
anderen Wissenschaften begreifen, ihre Ergebnisse verarbeiten
und zu einem lichtvollen System zusammenbauen. Damit wurde
aber nicht eine Wissenschaft, sondern vielmehr eine* Kunst bald
der bloss encyklopädischen Vereinigung, bald einer mehr ästheti-
Die Aufgabe der Philosophie. 5
sehen Gestaltung begründet, eine Kunst, die zwar neben um-
fassender Bildung und allgemeinem Interesse einen das Ganze
beherrschenden Blick, nicht aber eine eigene Forschungsmethode
erfordert. Wenn der Naturwissenschaft die Gewinnung aller Einzel-
erkenntnisse zukommt, so könnte eine solche Philosophie unsere
Einsicht wohl leichter und angenehmer machen, niemals aber er-
weitern. Hat diese Auffassung der theoretischen Philosophie wenig-
stens einen Sinn als Bestimmung einer künstlerisch gestaltenden
Thätigkeit, so würde jene Ansicht dagegen völlig wertlos sein,
welche der Naturwissenschaft überhaupt blos die Aufhäufung iso-
lirter Thatsachen überlässt, sich selbst aber das Schlussverfahren
anmasst, durch welches aus dem gesammelten Rohstoff allgemeinere
Einsichten herausgehoben werden. Die Beschaffung des Materials
ist überall nur die Vorarbeit der Forschung, Wissenschaft wird
sie erst dann, wenn sie es systematisch verbindet. Die wahre
Naturwissenschaft vollzieht ihre Generalisationen selbst, und ist
auch allein dazu berechtigt und befähigt.
6. Um den Begriff der theoretischen Philosophie in un-
zweideutiger Weise zu bestimmen, muss man die einzelnen
Wissenschaften in Betracht ziehen, die gewöhnlich zu ihr ge-
rechnet werden. Wenn ich weiss, was Psychologie, Logik
und Metaphysik ist, so weiss ich auch, was theoretische Phi-
losophie ist. Die nachfolgende Untersuchung hat sich die Auf-
gabe gestellt, über die Bedeutung der letztgenannten Disciplin
eine zusammenhängende Ansicht zu entwickeln. Die Vollständig-
keit der Lösung erfordert aber auch ihre scharfe Abgrenzung
gegen die ersten beiden. Es sind also zunächst auch die
Psychologie und die Logik in Kürze zu charakterisiren.
7. Damit nun über den Sinn der Aufgabe von vornherein
kein Zweifel möglicb sei, muss vorangeschickt werden, was man
denn unter dem historisch vieldeutigen Ausdruck Metaphysik
zu untersuchen gedenke. Ich spreche als Voraussetzung alles
Folgenden die Ansicht aus, dass man seit Kant unter Meta-
physik überhaupt nichts Anderes verstehen dürfe, als das Problem
der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung. Die Untersuchung
richtet sich also auf den Begriff einer Wissenschaftstheorie. In-
sofern sie aber nicht die Möglichkeit einer speciellen, sondern
die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt prüfen soll, be-
schränke ich sie auf die reine Wissen Schafts theo rie. Ihr
Q I. Die Psychologie.
steht die Lehre von den Bedingungen der besonderen Wissen-
schaften als angewandte Wissenschaftstheorie gegen-
über; die letztere entspricht dem, was in der alten Sprache als
Philosophie der Natur, der Mathematik u. s. w. oder als meta-
physische Anfangsgründe der einzelnen Wissenschaften bezeichnet
wurde. In gleicher Bedeutung mit Wissenschaftstheorie und
wissenschaftstheoretisch werden im Folgenden die Ausdrücke
Erkenntuisstheorie und erkenntnisstheoretisch gebraucht. Nur ist
ein für alleraal zu l)emerken, dass niemals die psychologische
Theorie der Sinnes-Wahrnehmung darunter mit verstanden wird.
I. Die Psvcholosie.
»'
8. Ueber die Stellung der Ps^^chologie ist es gegenwärtig
nicht mehr schwer sich Klarheit zu verschaffen. Sie hat für den
ihr gebührenden wissenschaftlichen Platz definitive Anerkennung
erobert. Die Psychologie ist die Kunde von den Lebenserschei-
uungen, welche mau unter dem Namen der psj'chischen zusam-
meufasst. Mit vollem Kecht nimmt sie heutzutage für ihre
Untersuchung ausschliesslich die Methoden in Anspruch, welche
von der Naturwissenschaft überhaupt als gültige anerkannt werden.
Ihre Organe sind Zahl, Maass, Experiment, vergleichende em-
pirische Beobachtung, Statistik und wissenschaftliches Schluss-
verfahren.
9. Allein die Psychologie befindet sich, den übrigen Natur-
wissenschaften gegenüber, in einer ganz eigentümlichen Lage.
Das Geschehen, das sie zu schildern und zu erklären hat, ist
zunächst nicht das physikalische Geschehen im Räume, d. h.
die materielle Bewegung, sondern das sogenannte innere Ge-
schehen, der zeitliche Verlauf des Bewusstseins lebender Wesen.
Diese Beschaffenheit ihres Stoffes bringt es mit sich, dass sie
einer Beobachtungsart bedarf, welche in der übrigen Wissenschaft
nicht zu finden ist. Die Psychologie erfordert auch eine „ innere ",
d. h. eine Beobachtung eigner und fremder Bewusstseinsvorgänge.
Wenn nun auch eine solche mit grossen Schwierigkeiten und
wissenschaftlichen Gefahren verbunden und vorläufig fast keiner
exacteu Messungen fähig ist, so ist sie darum doch nicht an und
I. Die Psychologie. 7
für sich unwisseuschaftlich. Durch Sammlung und Vergleichung-
ihrer einzehien Aufzeichnungen, durch Anwendung der statisti-
schen Methode ist sie im Stande, brauchbare Resultate zu liefern.
Innere Beobachtung soll einfach heissen : Erforschung von Regel-
mässigkeiten im eigenen oder fremden Vorstellungsverlaufe ohne
Rücksicht auf die entsprechenden materiellen Gehirnproeesse.
Man darf diesen vollkommen nüchternen Begriff aus berechtigter
Abneigung gegen den „Innern Sinn", der gar nichts damit zu
schaffen hat, nicht vei'werfen. ^)
10. Es ist nun einleuchtend, dass es Aufgabe der vrissen-
schaftlichen Psychologie sein muss, das innere Geschehen mit dem
körperlichen im Räume unter einem einheitlichen Gesichtspunkte
zu beobachten. Sie wird die Einwirkung des einen auf das an-
dere, ihre Berührungspunkte, die Begieitungs- und Uebergangs-
erscheinungeu beider studiren, und ihr ideales Ziel würde sein,
den gesetzmässigen Zusammenhang, den gemeinsamen Grund der
doppelseitigen Erscheinungen zu enthüllen.
11. Die Naturforscher pflegen eine doppelte Arbeit zu unter-
scheiden : die des Beschreibens und die des Erklärens. Die Be-
schreibung recognoscirt, sichtet und classificirt den Stoff, die Er-
klärung forscht nach den Gesetzen seiner Entstehung und Ver-
änderung. Der Zusammenhang beider Thätigkeiten gestaltet sich
so, dass die Beschreibung erst systematisch wird, wenn sie von
der Erklärung Plan und Direction erlangt.
Auf dem Gebiete der Psychologie erhält diese Unterschei-
dung ihr besonderes Gewicht. Die Erklärung ist hier das,
was soeben als schliessliche Aufgabe der Psychologie bezeichnet
worden ist. Von einer Lösung dieses Problems dürfen wir vor-
läufig auch im bescheidensten Sinne nicht reden. Die Fälle,
für welche ein naturgesetzlicher Causalnexus nachgewiesen ist,
sind noch höchst selten, und zu der eigentlichen theoretischen
Befriedigung, die sich erst mit der Gewinnung längerer Causal-
reiheu einstellt, werden -svir sobald nicht gelangen. Aber auch
ganz abgesehen davon, ist es hier für uns von höchstem theoreti-
schen und praktischen Interesse , wenigstens ein wohlgeordnetes
anschauliches Bild von der unendlichen Mannigfaltigkeit der
psychischen Vorgänge zu besitzen. Die erklärende Psychologie
selbst, Logik und Ethik, sowie die ganze angewandte Philo-
sophie lassen die sorg-faltige Charakteristik und Classification der
8 I. Die Psychologie.
Seelentliätigkeiten gleicher Weise als notwendige Voraussetzung
ihres leichteren und sicheren Verfahrens erscheinen. Diesem Be-
dürfiiiss entspricht die Arbeit einer Naturbeschreibung der
Seele, welche man als den einen grossen Haupttheil der Psycho-
logie betrachten kann. 2)
12. Für unsern Zweck handelt es sich nun vor Allem um
die Frage, ob und warum man überhaupt berechtigt sei die
Psychologie der Philosophie zuzutheilen. Die kurze Bezeichnung
ihrer Aufgabe und Methode, wie sie oben gegeben ist, zeig!
wohl hinlänglich, dass man mindestens im Zweifel sein kann,
ob man sie nicht einfach als einen Theil der Naturwissenschaften
zu betrachten habe.
Es wird oft versucht, die Psychologie dadurch der Philo-
sophie zu erhalten, dass man auf ihre Verschmelzung mit den
Geisteswissenschaften hinweist. Man sagt, dass Geschichte,
Rechts- und Staatslehre, Kunst- und Religionsphilosophie auf
psychologische Erklärungsgründe zurückführen. Als grundlegende
Lehre der Geisteswissenschaften könne man sie jedenfalls nicht
in die Naturwissenschaft stellen. Dieses Bemühen geht aus von
einem durchaus falschen Gesichtspunkt. Alle Wissenschaften
ergänzen einander und helfen sich gegenseitig aus mit ihren
Ergebnissen. Diesen Umstand zu einem Eintheilungsprincip zu
machen, heisst die Grenzen aller Gebiete verwischen. Daraus
Hesse sich auch der Grund entnehmen, Logik und Mathematik
unter die Naturwissenschaften zu reihen. Ja man kann dadurch
geradezu das Gegentheil trefflich motiviren, nämlich die Psycho-
logie in den Verein der Naturwissenschaften aufzunehmen. Sie
ist nämlich auch für die letztere Fundamentaldisciplin ; Medicin,
Physik, Astronomie sind voll von Erscheinungen, die sich nur
psychologisch begreifen lassen.
Die letztere Thatsache, dass man die Psychologie als Basis
aller Wissenschaft überhaupt betrachten kann, zeigt einen
andern Weg, auf dem man versucht hat, sie der Philosophie
zuzuführen. Sie liegt allen Wissenschaften zu Grunde, was alle
Wissenschaften umfasst, heisst Philosophie ; also ist Psychologie
Philosophie. Diese Ableitung gründet sich auf eine Auffassung
der Philosophie, die oben (§ 5 und G) als vag und unfruchtbar
abgewiesen werden musste.
13. Das einzige Princip, das ich als massgebend für die
I. E)ie Psycliologie. 9
Griippiruiig der versebiedenen Wissenschaften anerkenne, ist das
einer rationellen Theilimg der Arbeit. Die Frage ist also: bat
die Psychologie eine Tbätigkeit aiTSzuüben, welche sich von der
der Naturwissenschaft specitisch unterscheidet? Eine solche
Tbätigkeit liegt vor in ihrem beschreibenden Tbeil. Der Stoff
der Innern Beobachtung sind die Modificationen des Zustandes
lebender Wesen, den wir mit dem Ausdruck Bewusstsein be-
zeichnen. Diese Modificationen heissen Vorstellungen. Die Vor-
stellungen müssen auch abgesehen von ihrer physiologischen
Geschichte als psychische Gebilde, als Reflexe beliebiger Pro-
cesse in unserm Bewusstsein, beobachtet werden. Sie sind zu
analysiren, auf ihre Bestandtheile zu untersuchen ; sie sind ihrer
Gleichartigkeit und Verschiedenheit nach zu schildern. Die Vor-
stellungen erscheinen in Verbindungen; diese Complexe müssen
wiederum zergliedert werden; ihre Bewegungen und Wechsel-
wirkungen bilden einen neuen Gegenstand der Betrachtung; das
Suchen von Regelmässigkeiten in der Verbindung und Trennung
der Vorstellungen wird zur bedeutsamsten Aufgabe.
Diese Tbätigkeit scheint mir von der übrigen Naturbetrach-
tuug specifisch verschieden zu sein und ihre eigene Begabung
zu erfordern. Die Selbstbeobachtung, das Wägen und Schätzen
der Vorstellungen ist ein anderes Können als das des Physio-
logen. Talent und Neigung zu dieser Arbeit wird sich im All-
gemeinen bei den Forschern finden, die sich anderweitig mit
unserm Bewusstseinsinhalt zu beschäftigen haben.
Das ist der Grund, aus dem ich die Berechtigung ableite,
die Psychologie eine philosophische Wissenschaft zu nennen.
Die Psychologie ist ein Ganzes, das aus zwei für unser jetziges
Verständniss noch heterogenen Theilen besteht. Man kann ihr
die Stellung nach dem einen oder dem andern anweisen. Receptiv
müssen Physiologe und Philosoph im Stande sein, das Ganze
zu verarbeiten; liir die productive Tbätigkeit tritt die Theilung
der Arbeit ein. Das eine Gebiet erfordert physiologische und
psychiatrische Fachbildung; das andere ein logisch geübtes
geistiges Auge, das fähig ist, in dem Gewirr der psychischen
Bewegung die Regel zu entdecken. Ich nenne das Ganze nach
dem ersten Theil, weil die Leistung des Naturforschers, obwohl
au sich die wissenschaftlich höhere, in letzter Linie nur dazu
dient, die eigentümliche Vorarbeit des Philosophen zu erklären.
10 II. Die allgemeine Theorie des Erkeiinens.
11. Die iilli^eiiHMiic Theorie des Erkeiinens.
1. Ausgangspunkt.
14. Die Psychologie enthält die Gesammtgeschichte unseres
Seelenlebens; es gibt keine inneren Vorgänge, welche sie nicht
zu beschreiben und zu erklären hätte.
Da von den Problemen der theoretischen Philosophie, welcher
Art sie auch sein mögen, jedenfalls so viel feststeht, dass sie
an Bewusstseinsvorgänge anknüpfen, so müssen alle psychologi-
schen Ergebnisse von höchster Bedeutung für sie sein. In erster
Linie hat sie ihre Aufmerksamkeit auf den Abschnitt von der
Verbindung der Vorstellungen zu richten. Das Bewusstsein er-
füllt sich in seinem zeitlichen Verlauf mit unendlich verschie-
denen Aneinanderreihungen von Vorstellungen. In diesen Reihen
erscheinen Glieder, welche sich von den andern abheben und,
mit einander verschmelzend, als eine Einheit vom Bewusstsein
umfasst werden. Die Fähigkeit, verschiedene Vorstellungen zu
einer Einheit im Bewusstsein zu verknüpfen, heisst denken, und
die Vorstellung einer solchen Einheit das Urtheil. Das Urtheil
ist die Quelle jeder höheren psychischen Thätigkeit.
15. Unter den Urtheilen gibt es nun solche, deren Einheit
sich im weiteren Verlaufe des psychischen Geschehens wieder
auflöst; andere, deren Verknüpfung im Bewusstsein festgehalten
oder bei neuem Zusammentreffen der entsprechenden Vorstel-
lungen wiederum ejzeugt wird ; eine dritte Klasse endlich, deren
Synthesis das Beti^üsstsein begleitet oder begleiten kann, dass
siö unauflöslich sei und bei jeder Succession der gleichen Ele-
mente gebildet werden müsse. Die Verbindungen der letzten
Art heissen notwendige Urtheile.
16. Die notwendigen Urtheile bilden den Inhalt
unseren^Erkenntniss. Die Frage: Sind und wie sind sie möglich?
heisst nichts Geringeres als: Gibt es eine Wissenschaft? Mit
dem Studium dieses Problems verbindet sich das höchste Inter-
esse, das die menschliche Würde und die menschliche Glück-
seligkeit« berühren kann.
Man nehme keinen Anstoss an dem Widerspruch, der sich
eingeschlichen zu haben scheint. Einmal benützten wir das Be-
wusstsein der Notwendigkeit als Kriterium für die Auswahl
♦ 1. Ausgangspunkt. 11
unseres Stoffes aus der Psychologie. Deiinocli fragen wir nachher
nicht bloss, wie, sondern auch ob solche Urtheile überhaupt
möglich seien. Die Sache verhält sich so, das« wir allerdings
das Factum der Psychologie entnehmen, nicht aber, ohne uns
die Prüfung des Thatbestandes vorzubehalten. Es wäre denkbar,
dass man von einer neuen Seite her der Psychologie beweisen
könnte, dass ihre Behauptung einer solchen Notwendigkeit eine
Täuschung sei, die vor einer anderweitigen Betrachtung zerfliesse.
Wir nehmen also die Thatsache als eine vorläufige auf. Gelingt
es uns dann nicht, ihre Möglichkeit befriedigend zu erklären,
so werden wir auch an ihre Wirklichkeit nicht mehr glauben
können.
17. Aber nun müssen wir uns fragen: Greift denn dieses
Problem überhaupt aus der Psychologie hinaus und in ein neues
Gebiet über? Ist denn die Erklärung irgend eines Bewusstseins-
zustandes nicht eine rein psychologische Aufgabe? Wir beob-
achten naturwissenschaftlich die Entwicklung des Bewusstseins
von seinen ersten Anfängen bis zur vollendeten Keife, wir unter-
suchen die psychischen Processe, folgen der Trennung und Ver-
bindung der Vorstellungen, und suchen auf diese Weise ein Gesetz
zu entdecken, das die Stärke unserer üeberzeugung bedingt.
Allerdings ist auch dieses Bemühen sehätzensw^erth. Wir
lernen dabei, dass von den zahllosen Associationen unserer Vor-
stellungen einige immer wiederkehren und dass sie unserem Be-
wusstsein um so mehr als zusammengehöwg erscheinen, je
häufiger sie sich wiederholen, je mehr sie sich von anderen
lockeren Verbindungen abheben und mit neuen festeren vereinigen.
Daraus lässt sich schliessen, dass unser Glaube an die Zusam-
mengehörigkeit gewisser Vorstellungen sich steigere mit der Ge-
wohnheit, diese Synthesen im Bewusstseiusinhalt immer wieder
entstehen zu sehen. Allein damit ist entfernt nicht die Not-
wendigkeit erklärt, wie sie oben beschrieben wurde, das Be-
wusstsein einer Einheit bestimmter Vorstellungen, die durch
keinen empirischen Fall aufgehoben, von keinem individuellen
Bewusstsein geleugnet werden kann. Diese Notwendigkeit ist
psychologisch schlechtbin unbegreiflich. Die Psychologie bleibt
uns jede Bürgschaft schuldig, dass wir nicht früher oder später
einmal durch irgend eine Unregelmässigkeit der Erfahrung aus
unserer Gewohnheit aufgerüttelt werden. Sobald man also diese
12 II. Die allgemeine Theorie des Erkenncns. ♦
Erklärung als die einzig mögliehc ansieht, nuiss man folgerichtig
der Psychologie verkünden, dass sie ihren Urtheilen eine solche
Notwendigkeit nur „angedichtet" habe.') Die wissenschaftliche
Skepsis ist der einzige Standpunkt, zu welchem man auf diesem
Wege gelangen kann.
Wer also an der Lösung der Aufgabe, die Älöglichkeit der
Erkenntniss zu erklären, nicht verzweifeln will, muss zugeben,
dass hier aus dem Schooss der Psychologie eine neue Wissen-
schaft hervorspringt, welche ihre eigentümliche Methode zu er-
fordern scheint. Damit eröffnet sich das zweite grosse Arbeits-
feld der theoretischen Philosophie. Man kann ihm den Namen
geben: Allgemeine Logik oder Allgemeine Theorie des Er-
kennens.
2. Arten der Notwendigkeit.
19. Die erste Aufgabe dieser logischen Wissenschaft ist es
nun, den fundamentalen Begriff der Notwendigkeit einer genauen
Prüfung zu unterwerfen. Dies geschieht durch die vergleichende
Analyse der Urtheile, die mit dem Anspruch auf Notwendigkeit
auftreten. Der Inbegriff derselben, die Wissenschaft, muss ihrem
ganzen Bestände nach durchforscht werden. Wir vergleichen die
mathematische Gewissheit mit der physikalischen, wir unter-
suchen die Ansprüche theologischer Sätze, wir zergliedern die
Behauptungen der Geschichte, der Jurisprudenz, und wir be-
trachten die Notwendigkeit, welche die Maximen unseres Han-
delns begleitet. Andererseits wenden wir uns nicht nur an die
gegenwärtige Wissenschaft, sondern auch an ihre Geschichte.
Wir schauen auf die Entwicklung der heute anerkannten Ge-
setze zurück und beobachten ihren Kam])f mit den früher gültigen.
Indem wir die Ursache ihres Sieges und die Gründe der irrtüm-
lichen Ucberzeugung der Vergangenheit kennen lernen, werden
wir mit dem Wesen und den verschiedenartigen Ansprüchen der
Notwendigkeit näher vertraut.
20. Hier muss Ein Ergebniss dieser Prüfung hervorgehoben
werden, das für die Begriffsbestimmung unserer Wissenschaft
von der grössten Tragweite ist. Das Bewusstsein der Notwendig-
keit, das alle möglichen Urtheile begleitet, lässt sich in zwei
Arten theilen. Wenn ich das Urtheil ausspreche: die Luft ist
schwer, so beruht meine Ueberzeugung von der notwendigen
2. Arten der Notwendigkeit. 13
Verknüpfung dieser beiden Vorstellungen entweder darauf, dass
ich an zwei andere in meinem Bewusstseiu befindliche Urtheile
denke: die Kchper sind schwer, und: die Luft ist ein Körper.
Oder ich denke unmittelbar an das durch die Vorstellung be-
zeichnete Diug, und an die Beobachtungen, die mir seine Schwere
klar machten. Im ersten Falle denke ich mir die vorliegende
Verknüpfung als bereits enthalten in der durch jene andern beiden
Urtheile beschriebenen Einheit ; im zweiten Falle berufe ich mich
für die Gültigkeit meiner Synthese auf die Einheit eines Gegen-
standes. Das Urtheil selbst ist jedesmal durchaus das gleiche;
nur sein Zusammenhang mit anderm Bewusstseinsinhalt ist in
beiden Fällen yei*schieden.
Da das Bewusstsein im ersten Falle durch die Stellung, die
das Urtheil in der übrigen Erkenntniss einnimmt, durch seine
Verknüpfung mit andern Urtheilen bestimmt ist, so mag diese
Notwendigkeit passend _for male genannt werden. Insofern es
sich im zweiten Falle von der sachlichen Bedeutung der zu ver-
knüpfenden Vorstellungen direct abhängig erklärt, ist diese Not-
wendigkeit als materiale;^) von der ersteren zu unterscheiden.
Jede Art des logischen Rechtsanspruches erfordert ihre ge-
sonderte Untersuchung. Dadurch begründet sich die Theilung
unserer allgemeinen Logik in eine formale und eine materiale
Logik. Der gefundene Unterschied ist in der That „ classiscb " ^)
für die Theorie des menschlichen Erkennens, indem er der For-
schung zwei ganz bestimmte, von einander sich abzweigende
Bahnen anweist.
21. Die Darlegung der Möglichkeit eines notwendigen Ur-
theils nennt man Beweis. Die allgemeine Logik lässt sich kurz
als Theorie der Beweise kennzeichnen. Damit ist also bereits
eine allgemeine Einsicht in die Natur alles Beweisens gewonnen.
Den Arten der Notwendigkeit entsprechend, gibt es zwei Arten
von Beweisen. Der erste Schritt des Verfahrens muss also stets
die Feststellung der Art der Notwendigkeit sein, mit welcher es
der Beweis zu thun hat.
22. Die Kantischen Termini Analytisch und Synthetisch
habe ich vermieden, theils um den an sie sich knüpfenden Vor-
urtheilen zu entgehen, theils um direct zu dem gebräuchlichen
Titel der formalen Logik zu gelangen. Der Sache nach decken
sie sich genau mit der oben gemachten Eintheihmg. Ich be-
14 in. Die formale Logik.
merke noch, dass mau jene Ausdrücke dadurch am besten vor
Missverständnissen schützt, dass man, anstatt von dem Unter-
schiede analytischer und synthetischer Urtheile zu reden, von dem
Unterschiede analytischen und synthetischen Urtheilcns spricht.
Ueber die zulässige Auffassung des fertigen Urtheils kann Streit
sein; die gleiche Einheit kann sich analytisch und synthetisch
legitimiren. Ueber den Bewusstseinsvorgang aber, durch welchen
das Urtheil wissenschaftlich gewonnen wurde und bei vollstän-
diger Ableitung immer wieder gewonnen werden muss, steht eine
dauernde Entzweiung nicht zu befürchten.
III. Die formale Logik.
1. Charakter der formalen Logik.
23. Da die formale Notwendigkeit entsteht durch Beziehung
eines Urtheils auf andere Vorstellungsverbindungen, setzt ihr Er-
scheinen jederzeit eine vorhandene Erkenutniss voraus. Die
formale Notwendigkeit ist hypothetisch. '') Wenn die Einheit A
gilt, so gilt auch die Einheit B; dieser Bezug beider ist not-
wendig. Dabei bleibt unausgemacht, ob mit A selbst das Be-
wusstsein der Notwendigkeit verbunden sei oder nicht. Im geo-
metrischen Beweise, in der physikalischen Induction und im
[)hantastischen Zaubermärchen wird gleicherweise formale Not-
wendigkeit erzeugt.
24. Die formale Logik ist also die Wissenschaft der gegen-
seitigen Beziehung der Urtheile. Sic hat zu untersuchen, in
welchen Fällen die Relation zweier Urtheile das Bewusstsein
der Notwendigkeit hervorbringe und in welchen nicht. Ihre
Hauptaufgabe wird sein, diese Abhängigkeit der Vorstcllungs-,
bewegungen auf allgemeine Sätze zu bringen.
Schon aus der allgemeinen Bestimmung der formalen Logik
geht hervor, dass, wenn auch ihre Untersuchung an ein vorhan-
denes Wissen geknüpft ist, sie doch kein besonderes Wissen,
keine bestimmte Wissenschaft voraussetzen darf. Sie soll ja
eben eine vom Inhalt unal)hängige blosse ßewegungsbeziehung
zwischen den Vorstellungen auifinden. Sie soll das zusammen-
1. Charakter ilcr formalen Logik. 15
hängende Denken als solches, als Function unseres Bewusstseins,
aber mit stetem Hinblick auf die dadurch erzeugte Notwendig-
keit untersuchen.
25. Diese Aufgabe ist in ihrer ganzen Allgemeinheit lösbar,
ja die Logik braucht die milhsame Vorarbeit der Abstraction
von dem in Wirklichkeit allein existirendeu besondern Denken
nicht einmal selbst vorzunehmen. Alle Vorstellungsbewegungen
verbiaden sieb mit dem linguistischen Ausdruck ; die Sprache ist
gleichsam das Wachs, in welches sich der Bewusstseinsvorgang
einzeichnet. Die Grammatik geht aus von dem in der Sprache
enthaltenen Schatz von Symbolen des Vorgestellten und sucht
nach Gesetzen der gegenseitigen Verknüpfung und Bestimmung
dieser Zeichen ; schon sie betrachtet die Vorstellungsverknüpfung
als solche und hat sie im „Satz" in abstracto dargestellt und
analysirt. Die Grammatik bietet nun der Logik das empirische
Rohmaterial zu weiterer Bearbeitung. Wenn es auch nur die
sprachliche Aeusserungsform ist, die sie aufzeichnet, so liegt doch
in jeder elementaren Art derselben eine Hindeutung auf eine
fundamentale Bewusstseinsfunction, und die Logik findet in den
grammatikalischen Kategorien die vollständige Uebersicht über
den von ihr anderweitig zu classificirenden Stoff.
Die Logik kann zu einer Ansicht über das gegenseitige
Verhältniss der Verknüpfungseinheiten nur gelangen , wenn sie
das Wesen der Einheit selbst und die Arten der Vereinigung
ergründet. Sie geht daher am zweckmässigsten aus vom gram-
matikalischen Satze. Indem sie dessen Bestandtheile als Zeichen
vom Vorgestellten auffasst, lernt sie den eigentümlichen Cha-
rakter der Componenten kennen, welche die Einheit verschie-
dener Vorstellungen zu Stande bringen. Indem sie ferner die
verschiedenen Regeln beachtet, nach welchen die Elemente des
grammatikalischen Satzes verknüpft erscheinen, wird sie auf die
verschiedenen Formen hingewiesen, in welchen die Bewusst-
seinseinheit der Vorstellungen sich äussert.
26. Damit hat nun aber auch die formale Logik die Spur
der Grammatik zu verlassen, Avenn sie ihr Ziel erreichen will.
Es handelt sich nunmehr darum, durch Reflexion die formalen
Eigenschaften aufzufinden, welche man dem Vorgestellten beilegen
muss, wenn es in die durch die grammatikalischen Sinnbilder
angedeuteten Verhältnisse eingehen soll.
16 III. Die formale Lo?ik.
Welcher Art auch die Verknüpfung sein möge, die durch
das Urtheil dargestellte Einheit kann nicht anders gedacht
werden, denn als eine neue Vorstellung, welche wahrnehmbare
Theile cuthält, ein psychisches Gebilde, in welchem jene ur-
sprüugliclien Vorstellungen des betreffenden Urtheils als zu-
sammenhängende Elemente erscheinen. Eine solche Vorstel-
lung, welche dem Bewusstsein als mehrere andere Vorstellungen
umfassend und in sich enthaltend erscheint, heisst Begriff.
Nun können wir annehmen, dass die Vorstellungen, durch
deren Verknüpfung wir einen solchen Begriff entstanden denken,
selbst schon zusammengesetzt gewesen seien; also müssen auch
sie aus Urtheilen hervorgegangen sein. Die Elemente dieser
Urtheile können wiederum Begriffe sein u. s. w. u. s. w., bis wir
zuletzt zu Urtheilen gelangen, deren Bestandtheile sich als un-
zerlegbare Vorstellungen erweisen. In dieser Kette von Syn-
thesen stellt sich die Gesammtarbeit des formalen Denkens dar,
und man kann auf diesem Standpunkt die Logik bestimmen als
die Lehre vom Zusammenhang der Begriffe.
Nehmen wir nun an, die Bestandtheile eines Urtheils seien
selbst aus einer sehr grossen Anzahl von Vorstellungen zusam-
mengesetzt. Durch die Synthese jener beiden Glieder werden
also alle die Bestandtheile zweiter, dritter u. s. w. Ordnung mit-
verknüpft. Mit der Einheit des Urtheils werden somit gleich-
zeitig eine Menge anderer Einheiten erzeugt, welche ihrer Festig-
keit und Geltung nach alle Eigenschaften der sie umfassenden
theileu müssen. Ich kann nun diese ereignissreiche Handlung
des Bewusstseins in ihre einzelnen Leistungen zergliedern; ich
kann aus dem Einen Urtheile die ganze Reihe der in ihr voll-
zogenen besonderen Urtheile entwickeln.
Die Arten und Möglichkelten dieser Entwicklung zu be-
schreiben ist Aufgabe der Logik, welche sie theils durch em-
pirisches Ablesen, theils unabhängig von der Erfahrung durch
Combination der gefundenen Elemente mit befriedigender Vollstän-
digkeit lösen kann. Aber der Haui)tpunkt des Problems ist nun,
die Bedingung klar zu formuliren, unter der bei einer solchen
Entwicklung das Bewusstsein der Notwendigkeit entstehen kann.
Diese Bedingung wird dann das Kriterium bilden, nach welchem
wir unter allen möglichen Combinationen die gültigen zu be-
stimmen haben.
2. Die Voraussetzungen der formalen Logik. 17
2. Die Voraussetzungen der formalen Logik.
27. Wenn ein Urtheil mit zusammengesetzten Bestandtheilen
und von einer bestimmten Gültigkeit gegeben ist, so sollen die
Bedingungen aufgesucht werden, unter welchen den aus ihnen
entwickelten Urtheilen formale Notwendigkeit zukommt, d. h.
unter welchen sie an der Gültigkeit des ursprünglichen Urtheils
participiren,
2S. Der Zweifel an der Gültigkeit eines abgeleiteten Urtheils
wird dadurch gehoben, dass man zeigt, dass es in einem andern
Urtheil, dessen Gültigkeit in der Voraussetzung zugestanden wird,
mitgebildet wurde. Das Bewusstseiu der Notwendigkeit beruht
daher in erster Linie auf der klaren Einsicht, dass durch die
Synthesis zusammengesetzter Vorstellungen wirklich auch deren
Theile verbunden werden. Wir haben also das Axiom voraus-
zuschicken :
Was mit dem Ganzen im Bewusstsein verknüpft wird, wird
auch mit seinen Theilen verknüpft. Was vom Ganzen im Be-
wusstsein getrennt wird, wird auch von den Theilen getrennt.
Dieser SXatz ist unmittelbar evident, sobald man die Natur
des 'Begriffes erkannt hat. Er ist selbstverständlich; aber man
ist darum nicht weniger gezwungen, ihn zu formuliren und an
richtiger Stelle in die Entwicklung der Logik einzureihen. Die
Wissenschaft hat sich durch seine Vernachlässigung einen nicht
unwichtigen Fehler in der Schärfe der Begründung zu Schulden
kommen lassen.
Dies Axiom ist enthalten, wenn auch in zu speciellem Ausdruck,
in dem alten dictum de omni et uullo: „quidquid de omnibus
valet, valet etiam de quibusdam et siugulis; quidquid de nuUo
valet, *nec de quibusdam vel singulis valet, " ') Die neuere Logik
hat dieses Princip im Allgemeinen kaum der Beachtung wert
gefunden.
29. Das Enthaltensein des abgeleiteten Urtheils in dem ur-
sprünglichen kann nur dadurch evident werden, dass unser Be-
wusstsein die Fähigkeit hat, der Gleichheit von Begriffen inne
zu werden. Ich muss im Stande sein, den entwickelten Begriff
als Bestaudtheil des gegebenen wiederzuerkennen. Die Mög-
lichkeit der Recog-nition von Begriffen ist eine Thatsache, welche
die formale Logik der Psychologie entlehnt und als fundamentale
Stadler, Erkenntnisstheorie.
18 ni Die formale Logik.
<
Vorausi-etzmig ihrer systematischen Ableitung zu Grunde zu
legen hat.
Die Formel, welche dieses Postulat enthält, ist das Priucip
der Identität :
A = A.
Dieser Ausdruck ist somit durchaus keine Tautologie; son-
dern er muss aufgefasst werden als Darstellung des psychologi-
schen Ergebnisses, das die Entstehung der formalen Notwendig-
keit allein ermögliclit. Vollständig lieisst das Gesetz: A = A
als Bewusstseinszustand ist möglich.
Aber das Princip verschärft sich durch die Beschränkung,
die es von anderer Seite erfährt, zu einer w^eiteren Leistung.
Die Erkenntnisstheorie, die sich nicht mit dem bloss formalen
Bau, sondern mit dem inhaltlichen Wert der Vorstellungen be-
schäftigt, liefert das Resultat, dass trotz der psychologischen
Fähigkeit, Vorstellungen als gleiche zu erkennen, in Hinsicht
auf ihre Bedeutung eine absolute Identität nicht zugestanden
werden kann. Alle Vorstellungen treten in zeitlicher Ordnung
im Bewusstsein auf. Soweit nun auch die Uebereinsthnmung
zweier Vorstellungen gehen mag," sie werden stets durch ihre
Stellung in der Zeit einen unverwischbaren Unterschied behalten.
Für die formale Logik, wo wir die Gesammtheit aller Urtheile
und Begriffe gleichsam als ein Ganzes betrachten, dessen Gliede-
rung wir enthüllen sollen, ist die zeitliche Ditferenz irrelevant.
Wir können sie vernachlässigen und alle Deductionen vornehmen,
als ob es im Denken keine Zeitbestimmung gäbe. Damit ist
ein neues Postulat für die Möglichkeit der formalen Notwendig-
keit gemacht, das ebenfalls im Princip der Identität enthalten
ist. Die Formel sagt in diesem Falle: A soll gleich A |;elten,
obwohl es sich in Wirklichkeit zeitlich von ihm unterscheidet.
In dieser Voraussetzung liegt zugleich eine Einschränkung
der logischen Wahrheit, welche sich mit der der mathematischen
anhaftenden vergleichen lässt. Die Gesetze gelten, soweit die
in der Voraussetzung angenommene Abstraction mit der Wirk-
lichkeit nicht in Widerspruch gerät.
Das ist der doppelte Inhalt und meiner Ansicht nach der
einzig bedeutungsvolle, den man dem Princip der Identität zu
geben hat. Man verkannte seinen wirklichen Sinn, indem man
ihm bald zu viel, bald zu wenig zumutete. '')
2. Die Voraussetzungen der formalen Logik. 19
30. Damit ist nun aber die Möglichkeit der Erzeugung for-
maler Notwendigkeit keineswegs erschöpft. Es kann sich näm-
lich die Aufgabe der Entwicklung auch im umgekehrten Sinne
darbieten. Es kann ein ürtheil mit dem Anspruch auf Not-
wendigkeit gegeben sein und verlangt werden, dazu die Voraus-
setzung d. h. das Urtheil zu suchen, in welchem sich die vor-
liegende Synthese als bereits geschehen darstellt. Findet sich
ein solches Urtheil, so lässt sich die prätendirte Notwendigkeit
des gegebenen nach dem Satz der Identität als wirklich darthun.
Stellen wir uns dagegen vor, dass sich in der Gesammtheit aller
vorhandenen Verknüpfungen keine finde, als deren Bestandtheil
sich die gegebene darstellen lässt. In diesem Fall muss die
Möglichkeit die betreffenden Vorstellungen zu einer Einheit zu-
sammenzufassen formal verneint werden und es entsteht ein ne-
gatives Urtheil. In demselben werden die Bestandtheile als
keine Gesammtvorstellung bildend, gesondert vorgestellt. Dazu
ist es unnötig, eine neue psychologische Fähigkeit vorauszusetzen.
Die negativen Urtheile entspringen aus der blossen Unmöglich-
keit, das Princip der Identität zur Geltung zu bringen.
Nehmen wir nun an, es sei eine Anzahl solcher verneinter
Synthesen vorhanden, so können wir mit formaler Notwendigkeit
nach dem Satz der Identität eine Reihe neuer Urtheile daraus
entwickeln. Dabei ist wiederum die erste Voraussetzung, das
erweiterte dictum de omni et nullo in Betracht zu ziehen (§ 28).
"Was von dem Ganzen getrennt wird, wird auch von den Theilen
getrennt. Wenn wir also die complexen Vorstellungen eines
negativen Urtheils in ihre Bestandtheile auflösen , so stellen sich
in der Einen Negation- eine Reihe von particularen Negationen
als enthalten dar und wir gewinnen daraus die entsprechende
Menge gültiger negativer Urtheile.
31. Denken wir uns nun, wir seien durch die Entwick-
lung zweier Reihen schliesslich zu zwei Urtheilen gelangt, in
welchen die Sj^nthesis der gleichen Vorstellungen im einen be-
hauptet, im andern verneint wird. Beide Urtheile haben formale
Notwendigkeit, da sie nach dem Satze der Identität aus Ge-
gebenem abgeleitet sind. Trotzdem können die beiden Urtheile
nicht neben einander bestehen. Denn wenn ich das eine an-
nehme, hebe ich zwar nicht dessen Voraussetzung, aber doch das
andere auf, an das ich doch eben so sehr geneigt bin zu glauben;
20 III- I^i*" formale Logik.
dieses aber liebt seinerseits das erste auf. Wir stehen also hier
vor einem Falle, wo die formale Notwendigkeit nicht mehr im
Stande ist, unsere Ueberzeugung zu bestimmen. Das formale
Denken kann uns keine Resultate mehr liefern, sobald die Ver-
knüpfung und ihre Negation mit gleichem Anspruch auftreten.
Wollen wir also die Möglichkeit der logischen Ableitung aufrecht
erhalten, so müssen wir einen Grundsatz aufstellen, welcher das
Eintreten solcher Fälle überhaupt für unmöglich erklärt. Im
Interesse der Sicherung der formalen Entwicklung stellen wir
daher das Gesetz auf:
Es ist unmöglich, dass A, welches A ist, nicht A sei.
Dieser Grundsatz reiht sich als dritte logische Voraussetzung
an die übrigen an und muss mit ihnen zusammen bestehen.
Wenn uns daher das Princip der Identität in der formalen Ab-
leitung auf solche Fälle führt, welche das neue Gesetz verbietet,
so bleibt uns nichts Anderes übrig, als eine der Voraussetzungen,
aus welchen die beiden Urtheile ursprünglich deducirt wurden,
für unmöglich zu erklären. Die gegebenen ersten Synthesen
müssen nun selbst auf ihre logische Abstammung untersucht
werden, und alle weitere Arbeit bleibt suspendirt, bis sich her-
ausgestellt hat, wo in der Ableitung der einen Prämisse gegen
das Princip der Identität Verstössen wurde. Sollte ein solcher
Fehler überhaupt nicht gefunden werden, sollte die formale
Gültigkeit der Prämissen auf allen Stufen der Ableitung be-
stehen bleiben, so ist man gezwungen, ganz einfach die Bedeu-
tung der ursprünglichen Begriffe selbst umzuarbeiten, falls man
auf die Möglichkeit der Logik nicht verzichten will.
Der Grundsatz des Widerspruchs enthält keine psycholo-
gische Thatsache. Er ist eine Hypothese über das gegenseitige
Verhältniss der Begriffe, das eine formale Logik allein möglich
machen kann.
Dagegen muss wohl beachtet werden, dass auch dieses
Princip erst der Erkenntnisstheorie gegenüber seinen Hauptnach-
druck bekommt. Die Erkenntnisstheorie könnte sich ermächtigt
glauben, der formalen Logik über die obige Schwierigkeit hin-
wegzuhelfen. Eure formal richtig abgeleiteten Sätze, könnte sie
sagen, sind in der That richtig, sie widersprechen sich gar nicht.
Die Verneinung der Synthesis gilt eben so gut als ihre Bejahung,
nur jede zu einer andern Zeit. Diese Ausflucht soll durch
2. Die Voraussetzungen der formalen Logik. 21
den Grundsatz des Widerspruchs abgeschnitten werden, das eben
ist das Heilmittel, das die formale Logik unter keinen Umständen
anwenden darf. In der formalen Logik gibt es überhaupt keine
Rücksicht auf die Zeit. So wenig gleiche Vorstellungen durch
Berücksichtigung der Zeitdififerenz verschieden werden sollen
(§ 29), ebensowenig sollen verschiedene Vorstellungsverkuüpfungen
durch Vernachlässigung der Zeit übereinstimmend werden. Ein-
flüsse, welche die Zeit auf die Gültigkeit der formalen Processe
ausüben kann, sind als nicht vorhanden anzusehen.
Mit dem feinen Sinne, der überall die Grenzen der Wissen-
schaften herzustellen und rein zu halten suchte, hat Kant das
., zugleich " aus dem Satze des Widerspruchs eliminirt. ") Diese
Zeitbestimmung muss auch auf immer daraus entfernt bleiben.
Der Satz: es ist unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht
sei, ist erkeuntnisstheoretisch und widerspricht geradezu der Ab-
sicht der formalen Logik. Er spricht etwas aus, das sie nicht
interessirt und nicht interessiren darf. ^^)
32. Wenn wir das Verhältniss der Vorstellungen im All-
gemeinen betrachten, so sehen wir, dass dasselbe nur zwei Arten
hat. Die Vorstellungen können entweder zu einer Einheit ver-
bunden oder von einander getrennt sein. Die erste Beziehung
wird durch die bejahenden, die zweite durch die verneinenden
Urtheile ausgedrückt. Eine dritte Art des Verhältnisses ist nicht
vorhanden und auch nicht denkbar. Denn in den sogenannten
unendlichen Urtheilen ist kein neues Resultat der Synthese, son-
dern nur ein zweites Verfahren des Bewusstseins, zu dem gleichen
Ergebniss der negativen Urtheile zu gelangen, enthalten.
Indem wir diese Thatsache, die sich aus der Betrachtung
des Gesammtzusammenhanges der Vorstellungen ergibt, in einem
Grundsatze festhalten, gewinnen wir eine neue Bedingung für
die Möglichkeit formaler Notwendigkeit. Der Satz lautet:
A ist entweder B oder A ist nicht B.
DasPrincip des ausgeschlossenen Dritten gestattet
der formalen Entwicklung eine Erweiterung. Wenn ich mit for-
maler Notwendigkeit zu dem Urtheil gelange: Es ist unwahr,
dass A B ist, so erhalte ich nach dem obigen Grundsatz unmit-
telbar das notwendige Urtheil: A ist nicht B. Ebenso folgt aus
dem Ergebniss: Es ist unwahr, dass A nicht B ist, das Urtheil:
A ist B. Nicht minder ergibt sich mit der Wahrheit der einen
•>■> III. Die formale Logik.
Verknüpfung- auf Grund unseres Princips die Unwahrheit der
entgegengesetzten.
Das Princip des ausgeschlossenen Dritten, das zuweilen als
leer bezeichnet wurde, hat also eine ganz fruchtl)are Function.
Es begründet eine Anzahl von Yorstellungsverknüpfimgen, welche
durch das blosse Princip der Identität weit langsamer erhalten
Avürdcn. Man thut gut, auf die eigentümliche Art seiner Gel-
tung zu achten. Es ist kein Axiom, wie die erste Voraussetzung,
keine einschränkende Hypothese, wie der Satz des Widerspruchs,
kein Postulat, wie das Princip der Identität. Es ist nicht un-
mittelbar evident; seine Gültigkeit erfordert eine Begründung,
wie schon aus den Angriffen, denen sie ausgesetzt war, hervor-
geht. Aber der Beweis kann nicht durch Berufung auf die Mög-
lichkeit der Logik geleistet werden; denn das formale Denken
ist denkbar ohne diesen Satz ; es würde durch seine Ungültigkeit
nur an Leichtigkeit und Eleganz verlieren. Die Deduction, die
gegeben werden kann und gegeben werden muss, besteht eben
in dem Hinweis auf den Inbegriff unserer Vorstellungsbewegungen,
in welchen neben Verknüpfung und Trennung ein dritter Modus
theils thatsächlich sich nicht findet, theils auch als Möglichkeit
nicht construirt werden kann.
Man hat erfolglos versucht, das Princip des ausgeschlossenen
Dritten aus dem Satze des Widerspruchs abzuleiten. Es ist ein
Grundsatz, der nicht als Correlat der übrigen aufgefasst werden
kann. ^ ')
33. Es bleibt uns der Grundsatz zu betrachten übrig, der
in der Logik gewöhnlich als der wichtigste augesehen wird. Ich
reihe ihn der Uebersichtlichkeit wegen an die übrigen an , ob-
wohl er mit denselben nicht auf gleicher Stufe steht und eigent-
lich an einer andern Stelle hätte angeführt werden sollen.
Der Satz vom Grunde ist ein Princip, welches sich un-
mittelbar aus der Definition der formalen Logik ergibt und
welches daher an den Beginn der ganzen Logik zu stellen ist.
Ich habe es nicht gethan, um gerade in der Nebeneinander-
stellung dieser Grundsätze, wie sie bisher üblich war, ihren Unter-
schied und dadurch den Charakter der formalen Logik klar zu
macheu. Sobald wir die Aufgabe und das Wesen des formalen
Denkens festgestellt haben, kann uns der Satz vom Grunde nichts
3. Die Logik als normative Wissenschaft. 23
Neues mehr lehren; er ist der blosse Ausdruck der Competenz
unserer Wissenschaft.
„Sage Nichts ohne Grund" heisst einfach: Erinnere dich an
die Art des formalen Denkens. Achte stets darauf, dass es hypo-
thetisch ist, dass ein Urtheil nur dadurch gelten kann, dass ein
anderes Urtheil vorherging, in dem es enthalten war. Alles Ur-
theilen ist bloss eine Folge auf anderes Urtheilen. Dieser Zu-
sammenhang von Vorhergehendem und Folgendem, von Grund
und Folge in den Begriifsverbindungen ist das Feld der Logik;
dieser Zusammenhang ist der Quell der bewussten Notwendig-
keit, und selbst die allgemeinsten Grundsätze sind nichts Anderes,
als die Bedingungen, unter welchen sie daraus entspringen kann.
Nur für diese Relation gelten alle logischen Gesetze, und wer
dieselbe aus dem Gedächtniss verliert, wird letztere missver-
stehen und vergeblich auf die Sicherheit hoffen, die sie ver-
heissen.
Das ist der Inhalt des grossen Princips vom Grunde und
dieser Inhalt ist für die Bedürfnisse der Wissenschaft vollkommen
zureichend. Wer mehr hineinlegt, wird die Klarheit der Logik
nicht fördern. ^-)
3. Die Logik als normative Wissenschaft.
34. Die formale Logik ist, wie wir gesehen haben, aus der
Psychologie hervorgegangen, indem wir diejenigen Vorstellungs-
verbiudungen betrachteten, welche von dem Bewusstsein der
Notwendigkeit begleitet waren. Indem wir dieses Bewusstsein
zunächst als wirklich annahmen, suchten wir seine Möglichkeit
zu erklären. Der Begriff der formalen Notwendigkeit leitete die
ganze Untersuchung, er war die Eichtschnur, nach welcher wir
aus der Gesammtheit der natürlichen Vorstellungscombinatiouen
die Auswahl trafen, der Massstab, an dem wir das Bedürfniss
allgemeiner Postulate und Grundsätze messen konnten. In diesen
Voraussetzungen erhielten wir die fundamentalen Gesetze, nach
denen das formale Denken sich vollziehen muss, insofern es uns
wenigstens begreiflich sein soll. Damit ist nun noch etwas
Weiteres erreicht. Indem wir den Zusammenhang der Vorstel-
lungssynthesen erforschten, welche vorhanden sind, haben wir
gleichzeitig auch Regeln gewonnen, nach denen wir bei der
24 III. I)ic formale Logik.
bewussten Neultilduiii;' von Verknüpfungen uns ricliten können.
Die Logik erhält dadurch unmittelbar eine technische, praktische
Richtung; sie wird /ur Methodenlehre unseres Denkens. Das
System der Logik bildet das Gesetzbuch des Verstandes, das
tiir alle seine Handlungen die Normen enthält.
35 . Diese zweite Bedeutung der Logik hat so grosse Wich-
tigkeit, dass man- sie oft und gewöhnlich als einzige bezeichnet
und in ihr das Wesen der Logik erschöpft glaubt. Darin be-
stehe eben ihr Unterschied von der Psychologie, dass sie das
Denken schildere, nicht wie es ist, sondern wie es sein soll.
Dieses Soll gebe ihr einen Charakter, der sie aus allen theo-
retischen Wissenschaften heraushebe; sie sei nicht eine Physik,
sondern vielmehr eine Ethik des Denkens, eine demonstrative,
nicht eine descriptive Wissenschaft.
Diese Autfassung ist äusserst ungenau und setzt die
logische Methode grossen Missverständnissen aus. Gewiss ist
die Logik keine beschreibende Wissenschaft im Sinne der de-
scriptiven Psychologie (§ 1 1). Beschreiben würde ihr sehr wenig
helfen, da man nicht aufhören würde die Wirklichkeit ihres
Gegenstandes anzuzweifeln. Sie ist erklärend in eminentem
Sinne. Sie erklärt eine Möglichkeit, aber die Möglichkeit von
etwas empirisch Vorhandenem, die Möglichkeit von sich für not-
wendig ausgebenden Urtheilen. Diese Möglichkeit sucht sie mit
grösster Evidenz, welche der mathematischen gleichkommt, ob-
wohl sie der Art nach specifisch von ihr verschieden ist, dar-
zuthun. Dabei bedient sie sich ähnlicher Mittel wie die Natur-
wissenschaft, wenn sie Grundsätze aufsucht, die eine befriedigende
Deduction ermöglichen sollen. Hat man aber die Bedingungen
erkannt, unter denen ein Object zu Stande kommen kann, so
bietet man sie demjenigen als Regeln, der das Object nach-
schaffen will. Die Mathematik untersucht den Zusammenhang
der Grössen; wer ein bestinmites Grösscnverhältniss construiren
will, findet in ihr die Normen für sein Verfahren. Die Mechanik
erforscht das Verhältniss der Kräfte, bei ihr findet der Ingenieur
Aufschluss über das „Soll", das ihm der Begriff einer Maschine
auflegt. Die Physiologie enthält die Gesetze des Stoffwechsels,
sie überliefert sie der Gesundheitslehre als Regulativ für die
Erreichung ihres Zwecks. So wird jedes naturwissenschaftliche
Gesetz zu einem praktischen Kanon. Ganz gleich verhält es
IV. Die Erkenntnisstheorie im engern Sinne. 25
sich mit der Logik; sie ist iu erster Linie eine Physik des
Denkens, eine Physik allerdings, die sich durch einen bestimmten
Begriff ihrer Aufgabe das Arbeitsfeld begrenzt (wodurch sie
sich von der Psychologie unterscheidet). Wie es eine Anatomie
des gesunden Körpers, eine Mechanik des Gleichgewichts, eine
Chemie des Organischen gibt, so gibt es eine Psychologie des
notwendigen Denkens, welche dann eben zu einer besondern
Methode führt; wie jene Wissenschaften, eine jede sich zu einem
praktischen Organon gestaltet, so entwickelt sich auch die Logik
zu einer Gesundheitslehre des menschlichen Denkens.
36. So zerfällt die Logik in zwei Theile. In dem einen, den
man passend den analytischen Theil nennen kann, zerglie-
dert sie die complexen Vorstellungen und sucht die Bedingungen
auf, unter welchen die formale Ableitung im Allgemeinen
möglich ist. Im zweiten, dem normativen Theil legt sie
jene Bedingungen als Norm zu Grunde und stellt darnach mit
möglichster Vollständigkeit alle einzelnen Entwicklungen auf,
welche man von den verschiedenen Gesichtspunkten aus mit den
zusammengesetzten Vorstellungen vornehmen kann. Der letzte
Abschnitt geht in die angewandte Logik über, sobald man
an die Stelle der allgemeinen Begriffe bestimmte Begriffe aus
besonderen Wissenschaftsgebieten setzt und die logische Bear-
beitung an diesen Specialfällen versucht.'*)
IV. Die Erkenntnisstheorie im engern Sinne.
»'
37. Dass die formale Logik, wie wir sie ausgeführt haben,
mit ihren Mitteln nicht im Stande ist die Möglichkeit der Er-
kenntniss vollständig zu erklären, liegt auf der Hand. Ihre
ganze Arbeit beruht ja auf einer Abstraction, sie sieht ab von
dem wirklichen Inhalt der Vorstellungen und reflectirt bloss
auf deren Verbindung. Schon aus ihrem Begriffe folgt daher,
dass wir über den materiellen Wert der Vorstellungen Nichts
erfahren, und das ist doch gerade das Endziel der Erkenntniss.
Sodann gibt sie ihr Wissen selbst als ein hypothetisches.
Alle Notwendigkeit, die sie erzeugt, setzt andere Notwendigkeit
26 IV. Die Krkcnntnissthoorie im cngern Sinne.
voraus ; ihre Eesultate enthalten bloss Bearbeitung , Verwendung
von Erkenntniss. So vollkommen daher auch die Logik ihre
Einsichten begründet, immer bleibt noch das Wissen zu erklären,
aus dem sie abgeleitet sind.
Aber selbst wenn ein ursprünglicher Besitz von Urtheilen
gesichert und gerechtfertigt wäre, aus denen sich ein Schatz von
formalen Wahrheiten entwickeln Hesse, so würde die Frage offen
bleiben: haben die abgeleiteten Verknüpfungen nun auch einen
Bezug auf ein Dasein ausser uns, oder sind sie eine blosse Er-
kenntniss unseres eigenen Selbst?
Die formale Logik stellt den gesetzmässigen Zusammenhang
unserer Begriffe dar. Insofern unsere Erkenntniss in die Form
der Begriffe eingeht, ist sie dieser Gesetzmässigkeit unter-
worfen, welche aus der Natur der Begriffe folgt. Wenn eine
Erkenntniss sich in einer Verknüpfungsart darbieten würde,
welche die Logik für unmöglich erklärt, so wäre sie schon des-
halb bedeutungslos ; denn wir würden unfähig sein, sie mit dem
übrigen Bestand unseres Bewusstseins in Verbindung zu setzen.
Eine weitere Sicherheit aber über den Wert unserer S^-nthesen
vermag uns die Logik nicht zu bieten.
Man hat das für eine Unvollkommenheit der Logik er-
klärt und darum ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit über-
haupt in Frage gestellt. Man versuchte sie dadurch zu einer
Wissenschaft zu ergänzen, dass man die zum Zweck der Unter-
suchung gemachte Abstraction immer wieder aufhob und die
Formen des Denkens gleichzeitig nach ihrer Beziehung auf das
Sein erforschte.")
Dem gegenüber muss man immer wieder an den oft citirten
Ausspruch Kant's erinnern: ,, Es ist nicht Vermehrung, sondern
Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in
einander laufen lässt."'"') Die Logik leistet, was sie ihrer
richtig bestimmten Aufgabe nach leisten soll, vollkonmen, so
vollkommen wie jede exacte Wissenschaft. Sie bedarf keiner
Hülfe innerhalb ihrer eigenen Grenzen. Lassen ihre Resultate
Lücken in unserem Wissen unausgefüllt, so müssen wir unsere
Fragen an anderer Stelle, bei einer andern Abtheilung der Ge-
sammtforschung vor])ringen.
38. Eine neue Wissenschaft reiht sich an die formale Logik
und unternimmt es die Probleme zu lösen, die jener unzugäng-
V. Die Vorstellung. 27
lieh bleiben. Wenn es ihr gelingt, ergänzt sie in der That die
Errungenschaften der Logik, aber nicht, indem sie ihrem Gange
folgt und bei jedem Schritt nachliilft. Sie begründet sich
vielmehr als nebengeordnete Mitarbeiterin an der Gesammtauf-
gabe ihre eigene Methode und wählt selbstständig ihre Aus-
gangspunkte. Sie beginnt da, wo die Logik aufhört.
39, Wie wir eben gesehen, hat die Logik zu drei Haupt-
fragen Eaum gelassen. Was kommt dem Inhalt unserer Vor-
stellungen im Hinblick auf die Erkenntniss für eine Bedeutung
zu? Wie ist es möglich, dass Urtheile, die nicht von anderen
abgeleitet sind, notwendige Geltung haben? Was kann die
logische Entwicklung für unser materielles Wissen bedeuten?
Diese Probleme sind die Anknüpfungspunkte für die neue
Wissenschaft. Ich nenne sie die Lehre von der materialen Not-
wendigkeit oder Erkenntnisstheorie im engern Sinne.
Damit ist der theoretischen Philosophie ein drittes Feld er-
öffnet, dessen Arbeitsprogramm so präcis und dessen Begrenzung
so scharf ist, dass es dem jeder Naturwissenschaft ebenbürtig
zur Seite steht.
Aufgabe des Folgenden wird es sein, durch Darlegung ihrer
Fundamentalsätze den Begriff dieser Wissenschaft zu unanfecht-
barer Klarheit zu erheben.
V. Die Vorstelliiug.
1. Analyse der Vorstellung.
40. Auf das Problem, welches die Erkenntnisstheorie sich
stellt, hat die naive Weltansicht eine rasche Antwort: Warum
unsere Urtheile notwendig sind? — „Weil sie sich nach Gegen-
ständen richten." Vorstellungen können nicht mehr willkürlich
verbunden werden, sobald sie ein Ding beschreiben. Wenn ich
auf den Inhalt eines Urtheils sehe, so bildet es in seiner Be-
grififsverknüpfung einfach den Zusammenhang nach, den die
Eigenschaften an dem Object aufweisen. Ein Urtheil ist dann
notwendig und allgemein gültig, wenn es sich nicht bloss auf
mein Bewusstsein, sondern auf einen ausser mir liegenden Gegen-
28 V. Die Vorstellung.
stand bezieht, der mich imd alle aiuleni Suhjecte zu einer be-
stimmten Form der Aussage zwingt.
Es ist ungemein wichtig, sich diesen Ausgangs})unkt der
Erkenntnisstheorie recht klar zu machen. Ein verbreiteter Irr-
tum glaubt, ihre Untersuchung entspringe speciell bei der Be-
trachtung der eigentümlichen Notwendigkeit, welche die mathe-
matischen Urtheile vor den Sätzen jeder andern Wissenschaft
auszeichnet. So entspinnt sich dann an verfrühter Stelle ein
uuerspriesslicher Streit über das factische Vorhandensein der
mathematischen Apodicticität. Die Aufstellung der letzteren ist,
wie wir später sehen werden (vgl. unten § 130), ein bedeutsames
Nebenergebniss, allein eben nur ein Nebenergebniss, Ihr syste-
matisches Hauptziel ist die Erklärung aller materialen Notwen-
digkeit und sie sieht ihre allgemeine Aufgabe zunächst darge-
stellt in der Beurtheilung von Objecten überhaupt.
41. Die Erkenntnisstheorie mag also untersuchen, was ein
Gegenstand ist, und sie hat ihre Aufgabe gelöst. Das Urtheil:
Der Stein ist hart", ist notwendig. Warum? Weil die Wahr-
nehmung des Dinges ausser mir mich nötigt die Vorstellungen
so zu verknüpfen. Was ist dieses Ding? Es ist grau, spitzig,
schwer, es hat eine rauhe Oberfläche, einen erdigen Geruch, auf
die Zunge gebracht einen eigentümlichen Geschmack, beim Zu-
sammenstoss mit andern Dingen verursacht es einen Schall.
Alle diese Eigenschaften machen zusammen das Ding aus.
So löst die Antwort den Gegenstand auf in eine Summe
von Vorstellungen.
Es bleibt uns demnach Nichts übrig, als die Vorstellung
selbst zu aualysiren und zu sehen, ob wir in ihr eine Beziehung
auf etwas Objectives entdecken können. Diese Analyse brauchen
wir nicht selbst vorzunehmen, sie ist eine Aufgabe der Psycho-
logie, imd von ihr können wir die Resultate borgen.
42. Die Psychologie lehrt uns, dass die letzten Bestand-
theile der Vorstellungen Empfindungen sind.
Empfindung ist diejenige Vorstellung, welche entsteht, wenn
der Zustand der Ccntraltheile des Nervensystems durch einen
äussern oder innern Reiz verändert wird. Somit kann nur der
äussere Reiz die Quelle des Objectiven in der Vorstellung sein.
Allein wenn wir uns von der Psychologie die verschiedenen
Reize beschreiben lassen, so machen wir noch einmal die eben
1. Analyse der Vorstellung. 29
gemachte Eifahriiug. Als Reiz der Tastempfindung zeigt sie
dem Auge den Stein, den der Finger berührt; um uns den
Gegenstand eines Netzhautbildes vorzuführen, gibt sie der Hand
eine Tastempfindung. Bald stellt sie den Reiz der Gehörsem-
pfindung mit Hilfe des Gesichts, und bald durch Berufung auf
eine Druckempfindung dar. So führt sie die Welt des einen
Sinus auf die Welt der übrigen zurück und die Vorstellung be-
hält sich selbst zum Inhalt.
43. Nach einer Seite scheint sich ein Ausweg zu eröffnen.
Wenn wir die eben beschriebenen Reize, die wir wiederum als
Empfindungen wahrnehmen, mit einander vergleichen, so be-
merken wir au allen ein gemeinsames Kennzeichen. Welcher
Klasse auch eine Empfindung angehören, mit welcher Stärke sie
auch auftreten möge, eine jede erscheint unserem Bewusstseiu
begleitet von der Vorstellung des Raumes und von der Vor-
stellung der Zeit. Jeder Reiz tritt irgendwann ein und wirkt
irgendwo. Es scheint, als ob wir auch diese Betrachtung un-
mittelbar der Psj'chologie hätten entnehmen können. Die Psy-
chologie hat in der That alle Reize unter den allgemeinen Titel
der Bewegung gebracht und Bewegung setzt sich aus der An-
schauung von Raum und Zeit zusammen. Aber eben weil Be-
wegung eine Summe von Empfindungen voraussetzt, dürfen wir
hier nicht von ihr ausgehen. Unsere Aufgabe ist es, in der
einzelnen Vorstellung das objective Element zu entdecken; wir
untersuchen daher die einzelne Empfindung für sich. Indem wir
dann die einzelnen verschiedener Qualität vergleichen (nicht zu-
sammensetzen), gelangen wir zu der Beobachtung, dass allen
als gemeinsames Merkmal die Verschmelzung mit der Raum-
und Zeitvorstellung anhaftet.
44. Hier ist nun der Ort, eindringlich auf den Unterschied
aufmerksam zu machen, welcher zwischen der Methode der Er-
kenntnisstheorie und derjenigen der Psychologie besteht. Die
Psychologie betrachtet das Entstehen der Erfahrung; sie sucht
die verwickelten Verbindungen des inneren Geschehens aus
seinen einfachsten Erscheinungen zu erklären. Sie untersucht
daher die einfachen Empfindungen losgetrennt von allen Be-
ziehungen des entwickelten Bewusstseins. Psychologisch hat die
reine Empfindung keinen zeitlichen oder räumlichen Charakter, ^ß)
Ganz anders die Erkenntnisstheorie. Sie prüft, mit Kant zu
30 V. Die Vorstellung.
reden, ,, Erfaliriiug überhaupt", um zu sehcu, „was iu diesem
Product der Sinuc und des Verstandes enthalten, und wie das
Efrahrung-surtheil selbst möglich sei."'') Sie zergliedert also
den fertigen Bestand unseres Wissens ; sie macht gleichsam einen
Querschnitt durch den Bau der menschlichen Erkenutniss, um
die Construction darzulegen, die dem begrifflichen Gefüge seineu
Halt verleiht. Für sie sind die complicirtesten und die ein-
fachsten Vorstellungen gleichzeitig da. Die Fiction der Condil-
lac'schen Statue, deren verschiedene Sinnesorgane successiv zu
functioniren beginnen, hat für ihr Verfahren keinen Wert. Sie
wendet sich nicht an das Seelenleben der Thiere, des Kindes
oder der wilden Völker. Das Bewusstsein, das sie analysirt,
ist das denkbar vollkommenste, es ist das Bewusstsein der
Wissenschaft. Die Erkenntnisstheorie analysirt das psychische
Geschehen in der Phase seiner Entwicklung, in welcher es schon
die ganze Gesetzmässigkeit der formalen Logik und der Mathe-
matik zum Ausdruck gebracht hat. Und dann fragt sie: Wie
kann dieses entwickelte Bewusstsein vor dem Tribunal seiner
eigenen Eeflexion die Ansprüche seiner Urtheile begründen?
Wenn also die Erkenntnisstheorie die Empfindung betrachtet,
so betrachtet sie dieselbe als Element in dem entwickelten Be-
wusstsein. Die Empfindung erscheint als das Einzelne in der
Mannigfaltigkeit des Bewusstseiusinhaltes; sie ist die Einheit
des Materiales, aus welchem das Bewusstsein seine Verknüpfungen
herstellt.
45. Alle Empfindungen haben nun also das gemein, dass
sie eine Stelle in Raum und Zeit einnehmen. Diese Eigenschaft
behält der Reiz, gleichviel durch welches der Sinnesorgane er
unseru Bewusstseinszustaud verändert. Der Zusammenhang des
Reizes mit diesen Kennzeichen wird durch unsere individuelle
Organisation nicht modificirt. Somit dürfen wir hoffen, wenn
irgendwie, durch diese Eigenschaften der Vorstellung das be-
schreiben zu können, was als Gegenstand die Verknüpfung
unserer Urtheile bestimmt. Vielleicht liegt hier die Möglichkeit,
einen Ausblick aus unserem Selbst zu gewinnen.
Wir haben also vor Allem die Vorstellungen von Zeit und
Raum in Betracht zu ziehen. Zunächst können wir ihren ge-
meinschaftlichen Charakter dahin beschreiben, dass sie von der
Empfindung den Platz in einer bestimmten Ordnung aussagen,
2. Der Raum. 31
sie stellen eine Qualität vor, welche die Empfiuduug iu einer
Relation zu andern Empfindungen erhält. Sie sind das, welches
vorstellt, dass das Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen
Verhältnissen geordnet istJ^) Wir nennen sie daher vorläufig
am besten VerhältnissvorstelluugenJ'')
2. Der Raum. -'^')
46. Der Eaum ist die Vorstellung des Nebeneinander. So-
bald wir durch Vorstellungen ein Ding bezeichnen, beziehen wir
sie auf Etwas ausser uns, denken wir mehrere Objecte, so
stellen wir sie als ausser einander vor. Dieses Verhältniss
der Vorstellung eines Gegenstandes zur Vorstellung unseres Selbst
imd zur Vorstellung von anderen Objecten nennen wir Raum.
47. Psychologisch entwickelt sich die Raum Vorstellung durch
die Zusammenfassung von Reihen der verschiedensten Empfin-
dungen. Als Thatsache der Psychologie stehen fest seine soge-
nannten drei Dimensionen, welche sich nicht anders als durch
die Gegensätze links und rechts, oben und unten, vorn und
hinten beschreiben lassen. Das Verhältniss irgend einer ge-
gebenen Bewegung zu diesen ursprünglichen Raumgegeuden
nennt man die Richtung der Bewegung.
48. Die Entwicklung der Rauravorstellung fällt mit der
Entwicklung des Bewusstseins zusammen. Das reife, erkennt-
nisstheoretische Bewusstsein kann sich nicht denken, dass es,
als solches, die Raumvorstellung erworben habe, wie es z. B.
Allgemeinvorstellungen oder Begriffe erwirbt. Denn in seinem
innern Zustande findet es keine Empfindungen in verschiedenen
Oertern. Sobald es aber ausserhalb sich selbst (und wäre es
auch nur am eigenen Körper) Etwas suchen wollte, so würde
es die Raumvorstellung schon besitzen. Erkenntnisstheoretisch
ist äussere Erfahrung erst möglich, wenn die Raumvorstellung
bereits da ist; die letztere ist Bedingung jener. Man kann
daher sagen, der Raum sei vor der äusseren Erfahrung, oder
er sei in Bezug auf die Erfahrungsmöglichkeit a priori.
.49. Allerdings muss diese Apriorität durchaus in scharfem
Sinne gefasst werden, wenn sie nicht fortwährend zu Irrtümern
Veranlassung geben soll. Auch die Empfindungselemente ver-
danken ihre Eigenschaften apriorischen Bedingungen; denn sie
32 V Die Vorstellung.
berubou auf uuserer pbysiscbeii Organisation; sie sind, was sie
sind, durch die specifische Energie unserer Nervenfasern. So
kann ich sagen nicht nur, dass jede äussere Anschauung aus-
gedehnt, sondern auch dass sie gefärbt sei; denn die Lichtem-
l)tindung, die wir Farbe nennen, ist die Art, wie wir den Er-
regungszustand der Opticusfascrn wahrnehmen. Allein während
dieses physiologische A priori Organ ist, wird das räumliche
A priori im Bewusstsein entdeckt. Aus der Vorstellung rot kann
ich nicht eine andere Vorstellung herauslesen, die vorhanden
sein muss, bevor mein Bewusstsein jene begreifen kann. Da-
gegen enthält die Vorstellung Dreieck die Raumvorstellung als
Bedingung ihrer Möglichkeit. Da sich nun die Erkenntnisstheorie
nur mit den Erfahrungsbedingungen beschäftigt, welche sich zu
Vorstellungen ausprägen, so fällt das physiologische A priori
nicht in ihren Bereich.
50. Das entwickelte Bewusstsein stellt sich diese Erfahrungs-
bedingung aber auch als eine notwendige vor; es kann sich nicht
denken,, dass sie nicht vorhanden wäre. Der Raum bleibt un-
verändert, wenn es sich Gegenstände im Räume durch andere
ersetzt denkt, er bleibt auch unverändert, wenn es sich dieselben
ganz weg denkt. Dagegen ist es unmöglich, sich Gegenstände
ohne Raum vorzustellen. Der Raum ist also die notwendige
Bedingung der objectiven Vorstellung, während er selbst von
Gegenständen unabhängig ist.
51. Da der Raum sich dem entwickelten Bewusstsein nicht
darstellt als aus einzelnen Erfahrungen erworben, so kann er
ihm auch nicht als zusammengesetzt erscheinen. Der Raum ist
daher keine complexe Vorstellung, kein BegTitf, sondern eine
Einzelvorstellung oder Anschauung. Wir können uns nicht zu-
erst einzelne Räume und hierauf, sie zusammensetzend, den Raum
vorstellen. Die einheitliche Raumanschauung erscheint uns viel-
mehr als Gegebenes, ihr Theil als Gewordenes. Die Räume
sind Zerlegungen, Eintheilungen des Raumes. Diese Eigenschaft
hat dem Räume den mit einem sclieinbaren Widerspruch behaf-
teten Titel einer Anschauung a priori verschafft. Das heisst
freilich nichts Anderes, als dass das entwickelte Bewusstsein in
dem Räume eine Anschauung erblickt, welche vorhanden sein
muss, bevor irgend eine objective Anschauung von ihm apper-
cipirt werden kann.
2. Der Raum. 33
52. Da jeder bestimmte Raum, so gross er auch sein mag,
im Einheitsraume enthalten sein muss, wird letzterer notwendig
als eine unendliche Grösse vorgestellt. Das soll nicht heissen,
dass die Unendlichkeit wirklich angeschaut wird, was psycho-
logisch unmöglich ist, sondern nur, dass auch die denkbar grösste
Anschauung stets noch als vom Raum umfasst erscheint. Diesen
kritischen Begriff der räumlichen Unendlichkeit kann ich psycho-
logisch noch näher bestimmen. Ich kann eine gegebene Räum-
lichkeit unendlich wachsen lassen, entweder bloss in einer Dimen-
sion oder in zweien oder gleichzeitig auch in der dritten, und
zwar jedesmal entweder bloss in einer oder auch in der ent-
gegengesetzten Richtung (vergl. § 47). Wir sagen daher, die
Unendlichkeit muss wie der Raum selbst in drei Dimensionen
und sechs Grundrichtungen gedacht werden. Da ferner jeder
Theil dadurch entsteht, dass man den allgemeinen Raum zwischen
Grenzen einschliesst, so ist auch dieser Theil immer selbst wieder
Raum. So nah wir auch diese Grenzen zusammenrücken lassen,
so klein wir uns auch den Theil vorstellen, seine Einschränkung
setzt immer schon die räumliche Anschauung voraus, welche
durch sie bestimmt wird; auch nicht der kleinste Theil kann
vor dem Räume gegeben werden. Es gibt keinen Punkt, in
W'elchem die Einschränkung Halt machen müsste; der Raum ist
ohne Ende theilbar. Die Eigenschaft des Raums, dass keine
kleinsten Theile in ihm vorgestellt werden können, heisst seine
Stetigkeit oder Continuität. ^ •)
53. Aus dieser Betrachtung ergibt sich eine weitere Bestim-
mung des räumlichen Unendlichkeitsbegriffs. Man kann vom
Räume nicht sagen, dass er unendlich viele Theile enthalte. Da
seine Theile durch Einschränkung entstehen, so ist jede noch so
grosse Zahl derselben bestimmt, endlich. Jede empirisch gegebene
Theilung ist erzeugt durch eine endlich wiederholte Handlung.
Unendlich ist bloss die Theilbarkeit des Raums ; es kann für den
Fortschritt der Eintheilung keine in der Natur des Raums lie-
gende Schranke angegeben werden. -2)
Aus dem Begriffe der Grenze fliessen auch unmittelbar die
Definitionen der elementaren Raumbegriffe der Geometrie. Ein
abgegrenzter Raumtheil heisst Körper (solidum). Die Grenze
dieses Körpers heisst Fläche und die Grenze der Fläche heisst
Linie. ^3) Die gewöhnlich in der Geometrie gegebenen Defini-
Stadler, Erkenntnisstheorie. 3
34 V. Die Vorstellung.
tioncn geben auf eine unigekchrte Genese dieser Raumbegriife
und sind erkenntnissthcoretiscli unhaltbar.
54. Mit der Erkeuntniss dieser Eigenschaften des Kaums
gewinnen wir gleichzeitig die Einsicht, dem eigentlichen Ziele
unserer Untersuchung nicht näher gekommen zu sein. Der Kaum
war die Vorstellung, von der wir ihrer Constanz wegen hoffen
durften, dass sie die von unserer subjectiven Beschaffenheit un-
abhängige Eigenschaft des Gegenstandes abbilde. Jetzt erfahren
wir, dass der Raum so wenig vom äussern Gegenstande sich in
das Bewusstsein projicirt, dass ein äusserer Gegenstand über-
haupt erst erscheint, wenn der Raum im Bewusstsein vorhanden
ist. Nun kann das Bewusstsein eine Eigenschaft, welche vor
dem Gegenstande angeschaut wird, doch nicht als unabhängige
Bestimmung des Gegenstandes betrachten. Die räumliche Be-
stimmung des Objects erscheint als nichts weiter, denn als das
Verhältniss, in welchem die Vorstellung des Objects, was letzteres
nun auch sein möge, zu einer im Bewusstsein bereits vorhandenen
Vorstellung steht. Fast alle Eigenschaften, welche am Räume
gefunden werden, sind mit seiner Auffassung als unabhängiger
Bestimmung der Materie unvereinbar. Die Vorstellung einer
objectiven Bedingung aller Oerter, die selbst bleibt, wenn ihr
Inhalt wechselt, ist ein Unding. Der Begriff eines realen Ganzen,
was vor seinen Th eilen wäre, ist uns unfassbar.
Somit sind wir nicht berechtigt, die Raumvorstellung für
objectiver als alle andern Vorstellungen zu halten. Die Subjec-
tivität des Raums durchschneidet den Faden, der alle andern
Vorstellungen noch mit dem Gegenstande zu verbinden schien.
Als wir die Psychologie über die Objectivität der Emi)findungen
befragten, hiess es, sie sei3n darum nur Eigenschaften des Sub-
jects, weil der gleiche äussere Reiz bald so, bald anders erscheine.
Jetzt wird auch noch das „Aeussere" des Reizes für subjectiv
erklärt. Das reflectirende Bewusstsein zieht sich also noch mehr
als auf jener Stufe der Betrachtung in sich zurück. Was den
Raum von den übrigen Vorstellungen unterscheidet und ihm
gleichsam eine höhere Würde beilegt, ist die Erkeuntniss, dass
ohne ihn jedenfalls keine Empfindung, welchen Inhalts sie auch
sei, auf etwas Aeusseres bezogen werden kann.
55. Vor dem Gegenstande kann Nichts vorhergehn als das
Bewusstsein. Was vor den Gegenständen vorhanden ist, gehört
3. Die Zeit. 35
zum Bewusstseiu; was vor ihnen vorhanden sein muss, ist eine Be-
dingung der Function des Bewusstseins, insofern es Gegenstände
denken will. Der Raum als diese Bedingung gibt uus erst das
Recht, von einem „ äussern Sinne" zu reden. Der Raum ist diejenige
Form des Vorstellens, in welcher es zum äussern Sinne wird.^^)
Daraus folgt, dass wir nur aus dem Standpunkte des ent-
wickelten Bewusstseins von Gestalt und Grösse reden können.
Denke ich mir das Bewusstsein weg, „ so bedeutet die Vorstellung
vom Räume gar nichts." -■>)
3. Die Zeit.^c)
5ü. Wir Laben uns nun zu der zweiten Verhältniss Vorstellung-
zu wenden. An allen Wahrnehmungen beobachtet das Bewusst-
seiu die Aufeinanderfolge und das Zugleichsein; die eine Vor-
stellung erscheint als die frühere, die zweite als die spätere,
eine andere als zugleich. Diese Ordnung des Nacheinander und
Zugleich heisst Zeit.
57. Psychologisch entwickelt sich die Zeitvorstellung aus
der Fähigkeit, Erinnerungsbilder mit unmittelbaren Eindrücken
zu associiren. Sobald wir uns eines Zustandes bewusst werden,
in welchem ein Eindruck uns afficii'te, und eines andern Zustandes,
in welchem nur das Erinnerungsbild vorhanden ist, haben wir
die Zeit Vorstellung erworben. -') Indem ein neuer Eindruck den
ersten reproducirt, entsteht die Vorstellung der durch Anfangs-
punkt und Endpunkt markirten Zeitstrecke; durch die Zusam-
menfassung von Zeitstrecken entsteht die Zeitreihe. Die Psycho-
logie lehrt von der Zeit, sie habe eine einzige Richtung, die
Richtung vom Vorher zum Nachher. Insofern wir uns die Zeit
nur durch das Bild einer graden Linie veranschaulichen können
(vergl. § 127 und § 145), legen wir ihr symbolisch eine Dimen-
sion und zwei Richtungen bei.
58. Im entwickelten Bewusstsein lebt die Zeit nicht als
etwas Erworbenes. Es scheint demselben unmöglich, überhaupt
Vorstellungen als verschiedene in sich aufzunehmen, so lange es
die Zeitvorstelluug noch nicht besitzt. Es ist undenkbar, dass
man das Zugleich und die Aufeinanderfolge bewusst wahrnehmen
und daraus einen Zeitbegriff abstrahiren könnte. Die Urtheile
über Simultaneität und Succession sagen: es sind Vorstellungen
36 V. Die Yorstelluug.
ZU derselben oder zu verschiedener Zeit; sie messen die Vor-
stellungen an einer bereits vorhandenen Vorstellungsvvcise des
Bewusstseins. Erkenntnisstheoretisch ist also auch die Zeit
a priori, d. h, Grundlage der Wahrnehmung (vergl. § 49).
59. Das Bewusstsein kann sich ferner nicht denken, dass
die Zeitvorstellung jemals durch irgend eine Erfahrung aufge-
hoben würde. Es kann sehr wohl in Gedanken an Stelle der
einen Wahrnehmung andere setzen, ohne dass sich ihm die Zeit
verändert. Es kann mit Ausnahme des Subjects alle Gegen-
stände aus der Zeit wegdenken, ohne dass die Zeit selbst weg-
fällt. "-^) Sie ist nicht die Vorstellung eines Aggregats, sondern
eines einheitlichen Gegenstandes. Die Zeit ist demnach eine An-
schauung. Verschiedene Zeiten werden nur als Theile derselben
Einheitsanschauung vorgestellt. Bei den Begriffen gehen die
Theilvorstellungen (auch erkenntnisstheoretisch) vorher, hier ist
das Ganze das Frühere.
60. Daraus folgt, dass die Zeit als unendliche Grösse vor-
gestellt werden muss. So weit wir auch in die Vergangenheit
zurück oder in die Zukunft vorgreifen, der grösste Zeitraum ist
nur eine Abgrenzung der immer wieder grösseren Einheitsan-
schauung. Da wir uns eine gegebene Zeitgrösse sowohl nach
der Seite des Vorher, wie nach der des Nachher unendlich
wachsend denken können, so sagen wir von der Unendlichkeit
der Zeitanschauung, sie habe zwei Richtungen (vgl, § 57).
61. Daraus folgt ferner, dass die Zeit als eine continuirliche
Grösse vorgestellt werden muss. Denn es kann nur dadurch ein
Theil der Zeit gegeben werden, dass man ihn zwischen zwei
Augenblicke einschliesst. Augenblicke sind aber nur Stellen der
Zeit, setzen also diese Anschauung immer schon voraus, um sie
dann zu beschränken. So klein wir auch eine Zeitstrecke an-
nehmen, wir bleiben doch in der Zeit selbst, wir können zu keinem
Punkte gelangen, der nicht selbst Zeit wäre. Die Zeit ist ohne
Ende theilbar. 2'') Deswegen darf aber keineswegs gesagt wer-
den, dass die Zeit aus einer unendlichen Anzahl von Theilen
besteht. Die Theile der Zeit entstehen erst durch successive Ab-
grenzung. Für den Fortgang dieser Handlung ist eine Grenze
nach der Natur der Zeit nicht denkbar; aber auf jeder beliebigen
Stufe der Einthcilung ist stets eine bestimmte, endliche Anzahl
von Theilen gegeben (vgl. § 53).
4. Erster Grundsatz der Erkenntnisstheorie. 5. Das Ding an sich. 37
62. Auch in dieser Erörterung haben wir nichts weniger
gewonnen als einen Einblick in die vom Subject unabhängige
Objectivität. Was Bedingung der Gegenstände ist, kann ihnen
nicht als objective Bestimmung anhaften. Eine solche Bedingung
kann nur Eigenschaft des Bewusstseins sein. Wie der Raum die
Vorstellungsform des Bewusstseins ist, insofern Vorstellungen als
äussere wahrgenommen werden können, so ist die Zeit die Vor-
stellungsform, insofern Vorstellungen überhaupt als von einander
unterschiedene Bewusstseinszustände appercipirt werden. Mit
einer Analogie kann man sagen, dass die Zeit gleichsam die
Wahrnehmungsform eines „innern" Sinnes sei. So ist die Zeit
als Bedingung dem Baume nicht neben-, sondern tibergeordnet.
Als Form aller inneren Zustände wird sie auch Form derjenigen,
welche auf äussere Verhältnisse gehen.
4. Erster Grundsatz der Erkenntnisstheorie.
63. Wenn wir die Ergebnisse der vorigen beiden Nummern
zusammenfassen, so erhalten wir den „obersten Grundsatz der
Möglichkeit aller Anschauung". 3o)
Die ganze Mannigfaltigkeit der Vorstellungen ist bedingt
durch die Vorstellungsformen des Raums und der Zeit und er-
scheint nach deren Verhältnissen geordnet.
5. Das Ding an sieh.
64. Die Untersuchung über die Bedeutung des Vorstellungs-
inhaltes hat ergeben, dass unser Bewusstsein in seinen Vorstel-
lungen keine Qualitäten der Gegenstände enthält, die von der
Vorstellungsform des Subjects unabhängig wären. Der „Gegen-
stand" verlor zuerst seine Farbe, seine Härte, seinen Ton an
die wahrnehmende Seele, dann zeigte sich, dass er ihr auch sein
räumliches Verhältniss und seinen Platz in der Zeit verdanke.
Wenn wir auch die verschiedenen Empfindungen psychologisch
auf das feinste zergliedern und uns die vorhandene Anschauung
ihrer Verhältnisse zur höchstmöglichen Deutlichkeit bringen, nie-
mals können wir zu dem von dem Einfluss unserer Vorstellungen
befreiten „Ding" gelangen. Es bleiben ihm alle seine Eigen-
schaften entzogen und es verblasst zuletzt zu einer Vorstellung,
welcher nicht der geringste Inhalt mehr zukommt.
38 V. Difi Vorstellun!?.
G'). Diese übrig bleibende, leere Vorstellung si)ielt in iin-
serm Denken eine grosse Rolle. Wir müssen in ihr die erste
Phase des sogenannten „ Ding an sich " erkennen, das sich später
(§§ 81 — S3) zu dem ebenso inhaltlosen Begriff des Noumenon
weiter entwickelt.'^') Die Wissenschaftstheorie kann unter dem
Ding an sich nichts weiter verstehen, als die Bezeichnung ihrer
ursprünglichen Aufgabe. Insofern sie darunter auch das Ergeb-
niss denken will, ist es ein imaginärer unwirklicher Begriff, der
nur gebraucht werden kann, um die gegensätzliche Natur der
wahren Realität aufs schärfste hervortreten zu lassen. Die Miss-
verständnisse, welche unsern Grenzbegriff fortwährend begleiten,
wären unmciglich, wenn man darauf achten wollte, dass das Ding
an sich gerade an dieser Stelle der erkenntnisstheoretischen Ent-
wicklung geboren wird.
66. Die Untersuchung geht naturgemäss aus von der An-
sicht des gemeinen Realismus, die den Gegenstand als wirklich
gegeben betrachtet. Der Ausgangspunkt wird Ursache einer
Täuschung, die sich mit der weitern Reflexion, sogar nachdem
sie als Täuschung enthüllt ist, unauflöslich verkettet. Wenn sich
nämlich nach und nach alle Bestimmungen des Objects als Be-
stimmungen des Subjects zu erkennen geben, so erscheint das
dem Verstände nicht als ein Auflösen des Gegenstandes in das
Bewusstsein, sondern nur als ein Ablösen der Eigenschaften von
einem real existirenden Etwas. Zuletzt ist Alles, was ihm an-
hängt, abgepflückt, aber es muss doch das geblieben sein, dem
es anhieng. Der Verstand vergisst, dass sein Object ja von An-
fang an nur eine hypothetische Existenz besass. Wie im Auge
ein Nachbild l)leibt, während der Gesichtseindruck aufgehört hat,
so dauert im Bewusstsein eine Vorstellung fort, deren Gegen-
stand es selbst vernichtete. Gerade die Einsicht, dass die meisten
für objectiv gehaltenen Qualitäten nur subjective Eindrücke sind,
erzeugt im Verstände wie durch Contrastwirkung das negative
Streben, sich Eigenschaften zu denken, die er seinem Etwas
gleichsam hinter dem Rücken des Subjects anheften könnte. Das
Unternehmen misslingt, wie es auch in Angriff genommen werde,
auch der vorsichtigste Versuch führt jedesmal durch Empfindung,
Raum und Zeit in das Subject zurück. Das Etwas zerfliesst zu
einem Nichts, sowie es überhaupt vorgestellt werden soll.
Das Ding an sich ist nichts weiter als der Ausdruck für
6. Zweiter Grundsatz. 39
das vergebliche Bemühen des Verstandes, dieses sich ihm natür-
lich darbietende unmögliche Problem zu lösen. Von einer Wir-
kung der Causalitätskategorie ist beim Ursprung dieses rein nega-
tiven Begriffs gar nicht die Rede, während er freilich später
vor den erkenntnisstheoretischen Grundgesetzen eine schärfere Zu-
spitzung erhält. Wer sein Wesen und sein Entstehen begreifen
v\'ill, suche sich dasselbe zunächst aus Kants transscendentaler
Aesthetik allein kar zu machen ^2)^ ohne, vv^ie es stets geschieht,
die transscendentale Logik schon vorauszusetzen. Das Ding an
sich vrurzelt ganz in der Aesthetik und lässt sich daraus wider-
spruchslos entwickeln.
6. Zweiter Grundsatz.
67. In dem Ding an sich erscheint die ganze Negativität
unserer bisherigen Untersuchung zusammengefasst. Aber wir
haben damit doch ein positives, erkenntnisstheoretisches Resultat
gewonnen. Wenn es überhaupt unmöglich ist, durch den Vor-
stellungsinhalt das absolute Sein zu erkennen, so ist es auch
unmöglich, die Objecte falsch dadurch zu erkennen. In der Vor-
stellung gibt es weder Trug noch Schein, denn sie ist nur ein
Element des Bewusstseins, das zu keinem Urtheil über Gegen-
stände berechtigt. Eine Täuschung kann nur in der Beziehung,
auf etwas Objectives liegen, welche also jedenfalls in der Vor-
stellung selbst nicht enthalten ist.
68. Wir fassen dieses Ergebniss in den' Satz zusammen:
Alle Vorstellungen sind wirklich,
welcher der weitern Entwicklung der Erkenntnisstheorie als
Princip zu Grunde liegt. Er ist insofern unmittelbar evident,
als die Wirklichkeit der Vorstellungen nicht weiter abgeleitet
werden kann, sondern durch ihr Bewusstwerden schlechthin ge-
geben wird. Wir haben ihn an dieser Stelle auszusprechen,
weil nunmehr die Erwartung beseitigt ist, dass gewisse Vor-
stellungen mehr seien als blosse Vorstellungen, dass ihnen ausser
ihrer unmittelbaren Realität noch eine Wirklichkeit in höherer,
sachlicher Bedeutung beizulegen sei.
40 VI. Das Object.
VI, Das Object.
1. Die Synthesis.
69. Wir öffnen uns den Weg für den Fortgang der Unter-
siicliimg durch die Ueberlegung, dass die Analyse des Vorstel-
lungsinhaltes, so vollständig sie auch gewesen sein mag, den
Begriff unseres Gegenstandes keineswegs erschöpft hat. Denn
auch durch das sorgfältigste Aufzählen der Eigenschaften würde
noch nicht die Vorstellung zu Stande kommen, welche uns ein
Object bezeichnet. Zur Wahrnehmung der einzelnen Qualitäten
muss ihre Zusammenfassung treten, die verschiedenen Vor-
stellungen müssen „unter einer gemeinschaftlichen"-'^) geordnet
sich als Einheit im Bewusstsein abheben.
Nun sind die Vorstellungen nichts als Modificationen des
Bewusstseins, und selbst das Gemeinsame dieser Modificationen,
das räumliche und zeitliche Verhältniss, ist nur die Form ihres
Innewerdens. Wenn aber die Glieder Bewusstseinselemente
sind, so kann auch der Summe keine andere Art des Daseins
zukommen; wir müssen also jedenfalls von dieser Einheit in der
Vorstellung des Objects behaupten, dass auch sie nichts weiter
sei als ein Bewusstseinszustand.
70. Nun fragt sich bloss, ob diese Einheit nicht immer schon
durch die Einheitsanschauungen Raum und Zeit gegeben sei. Raum
und Zeit sind allerdings die Grundbedingungen, dass Vorstellungen
überhaupt in ein Verhältniss zu einander gesetzt werden können,
aber die Bestimmung des Verhältnisses liegt nicht in ihnen selbst.
Um eine Einheit aus Vorstellungen zu bilden, muss ich fähig sein
Gleichzeitiges ins Bewusstsein aufzunehmen; aber die Verbindung
des einen Gleichzeitigen und seine Sonderung von anderem, wo-
durch erst die Anschauung der Gegenstände hervorgebracht wird,
ist nicht in der Zeitvorstellung enthalten. Die Einheit kann ferner
nur zu Stande kommen, wenn die „ Möglichkeit des Beisammen-
seins" gesichert ist. Aber die besondere Grenze geht nicht aus
der räumlichen Ordnung selbst hervor. Schon die einfachste
Raumform, das einfachste ZeitverhUltniss führen, wenn sie als
Object vorgestellt werden sollen, auf die Vorstellung des Zu-
sammengesetzten. Wir können uns keine Räumlichkeit vor-
1. Die Synthesis. 41
stellen, ohne sie zu bilden, d. li. einen Raumtheil zu dem andern
hinzuzufügen, und ebenso verhält es sich mit der Zeit. ^4)
71. Die in Raum und Zeit sich einreihende Mannigfaltigkeit
müssen wir uns ihrer Möglichkeit nach als unendlich vorstellen,
wie diese Anschauungen selbst. Verbindung dieses Mannigfaltigen
heisst, dass hier zwei bestimmte Punkte, dort die Grenzen der
Dimension fixirt , und jedesmal die zwischenliegenden Elemente
als ein Ganzes aufgeiasst werden. Kant hat die Synthesis der
Begriffe als Function der Anschauung als Affection gegen-
über gestellt.^'') Unsere Fähigkeit, die letzteren aufzunehmen,
nennt er „ Receptivität der Eindrücke ", das Vermögen, die erstere
zu Stande zu bringen, „Spontaneität des Denkens". ^'0 Beide
Bezeichnungen haben ihren guten Sinn, und ich zögere nur sie
aufzunehmen, weil sie oberflächlichen Missdeutungen zu sehr
ausgesetzt sind. Der ganze Process des Erkennens besteht aus
Functionen des Bewusstseins ; will man aber die Verbindung als
Function par excellence bezeichnen, so muss man den engeren
Sinn des Wortes genau definiren. Die zweite Unterscheidung
hat den Vortheil, dass sie den wichtigen Gegensatz zwischen
Anschauung und Verbindung ungemein scharf hinstellt; allein
es steht ihr das Bedenken entgegen, dass das Wort Spontaneität
einen Begriff bezeichnet, der psychologisch überhaupt nicht und
erkenntnisstheoretisch jedenfalls nicht an dieser Stelle gerecht-
fertigt werden kann.
72. Ich nenne diejenige Function des Bewusstseins, durch
welche die Vorstellungselemente in einen einheitlichen Zusam-
menhang gebracht werden, Einheitsfunction oder Synthesis
schlechthin. Psychologisch beruht sie auf der Einbildungskraft
oder der Fähigkeit, sich einmal gehabter Vorstellungen immer
wieder bewusst zu werden und dieselben mit neuen oder anderen
reproducirten zu associiren. Erkenntnisstheoretisch bedeutet
Function nichts weiter als Aenderung des Bewusstseins. Indem
wir nun die Einheitsfunction mit den übrigen Modificationen
vergleichen, sehen wir, dass wir zwei Stufen der Bewusstseins-
änderung zu unterscheiden haben. Einmal bemerken wir das
Kommen und Gehen der Vorstellungen, das wechselnde Er-
scheinen der psychischen Elemente: das Subject dieser Verän-
derung ist das in Raum und Zeit vorstellende Bewusstsein. Nun
wird aber dieses Bewusstsein Prädicat einer weiteren Aenderung,
42 VI. Das Object.
welclie über jene gleichsam iil)ergreift. Aus seinem in Zeit und
Rnnm sich ausbreitenden Inhalt werden, ohne dass er selbst
dadurch modificirt wird, einzelne Stücke herausgehoben, anein-
ander gefügt und als Einheit vorgestellt. Jenes Bewusstsein
geht über in das räumlich-zeitliche Einheitsbewusstsein, an die
Stelle der Thatsache: ich nehme Mannigfaltiges wahr in Raum
und Zeit, tritt die neue : ich werde mir der Einheit von Mannig-
faltigem bewusst oder ich denke. Das Subject dieser Ver-
änderung heisst das Ich, das ich nicht weiter beschreiben, aber
auch nicht selbst wieder als Prädicat einer noch höheren Ver-
änderung darstellen kann. Insofern die Einheitsfunctiou die Ver-
änderung dieser ärmsten, leersten, aber auch höchsten Bewusst-
seinsstufe bedeutet, nenne ich sie ursprünglich. Will man
sich das hier dargestellte Verhältniss anschaulich machen, so
wird man der Sache am nächsten kommen, wenn man die Er-
kenntniss des Gegenstandes durch das Symbol einer coraplicirten
mathematischen Function F {cp [x]) bezeichnet. Dann würde x
die variable Empfindung, der Bau von tp die Verhältniss Vor-
stellungen und' F endlich das letzte Subject der Veränderung
bedeuten. Auch der Titel spontan mag gerechtfertigt sein, wenn
man darunter nichts weiter als die Veränderung des reinen
Selbst verstehen will.^') Sobald man dabei freilich an eine
willkürliche Handlung des Selbst denkt, befindet man sich auf
dogmatischem Abweg. Von Handlung kann nur insofern die
Rede sein, als man damit den „synthetischen Einfluss"^'^) be-
zeichnet, den das Mannigfaltige dadurch erleidet, dass es sich
als wechselnder Zustand auf das Ich als beharrlichen Träger
bezieht.
2. Die Erzeugung des Objeets.
73. Erst durch die Einheitsfunction kommt der Begriff des
Objeets zu Staude. Die Antwort des gewöhnlichen Realismus,
dass unsere Urtheile notwendig seien, weil sie sich nach den
Gegenständen richten (§ 40), hat also jede Bedeutung verloren.
Sie würde lauten: Die Vorstellungsverknüpfuugen sind notwendig,
weil sie sich nach den Vorstellungseinheiten richten. Aber diese
Einheiten werden eben selbst erst durch die Verknüpfungen erzeugt.
Es hat sich herausgestellt, „dass wir uns nichts als im Objecto
verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu
2. Die Erzeugung des Ohjects. 43
Laben; "^■') es ist nicht gelungen, die Einlieitsfunetion als ent-
halten in der empirischen Veränderung des Bewusstseins vor-
zustellen.
Wenn es also unmöglich ist, die Verknüpfung dadurch als
notwendig zu erkennen, dass wir sie, als Nachbild, mit dem
Gegenstande, als Urbild, vergleichen, so bleibt nur noch die Frage
übrig, ob der Grund der Notwendigkeit der Verknüpfung nicht
im Subjecte selbst gefunden werden kann. Ist die Frage zu
verneinen, so sind damit auch die Urtheile von ursprünglicher
Notwendigkeit für unmöglich erklärt. Kann sie aber bejaht
werden, so sind wir damit zu einer grossen Wendung der Ge-
danken gelangt. Während wir bis dahin glaubten, das notwen-
dige Urtheil sei nach dem Object gebildet worden, sehen wir
mm, dass der Gegenstand vielmehr aus dem notwendigen Ur-
theil heraus erzeugt wird. Wir sagen nicht mehr: Wo ein
Gegenstand vorhanden ist, da haben wir ein notwendiges Urtheil,
sondern: Wo das letztere vorhanden ist, da haben wir einen
Gegenstand. „Ob wir gleich das Object an sich nicht kennen,
so ist doch, wenn wir ein Urtheil als gemeingültig und mithin
notwendig ansehn, eben darunter die objective Gültigkeit ver-
standen, "^o) Der sogenannte Gegenstand der Vorstellungen ist
nichts weiter, als der „Inbegriff dieser Vorstellungen ;" ^ i) seine
ganze „Dignität"^-) besteht darin, dass dieser Inbegriff oder die
Einheit auf irgend eine Art notwendig gemacht wird.
74. Somit wird uns der Weg der ferneren Betrachtung durch
den Satz vorgezeichnet: Erkenntniss von Gegenständen ist er-
klärbar unter der Bedingung, dass eine Notwendigkeit der Ein-
heitsfunction eingesehen werden kann.
75. Diese Einsicht wollen wir in folgender Weise zu ge-
winnen versuchen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass alle
Vorstellungen die Eigenschaft haben müssen, meine Vorstel-
lungen zu sein; ich muss sie alle mit der Vorstellung „mein"
begleiten können; denn eine Vorstellung, bei der das nicht ge-
schehen könnte , ist etwas Undenkbares. Darin bestand ja die
Wirklichkeit der Vorstellungen und nur dadurch konnte sie de-
finirt werden (§ 63), dass dieselben als Bestandtheile eines
Bewusstseins gegeben werden. Nun sind wir weder durch
empirische noch durch erkenntnisstheoretische Gründe berechtigt,
unter Bewusstsein etwas Anderes zu verstehen, als das Bewusst-
44 VI. Das Object.
sein des denkenden Individuums. Die Vorstellung „mein" be-
deutet diese Beziehung einer Vorstellung auf das Ich, auf das
denkende Subjeet; sie sagt aus, dass die Vorstellung von dem
Subject vorgestellt werde, d. h, dass sie wirklich sei. Nun
kann von einem Zusammenhang der Vorstellungen überhaupt
nur unter der Bedingung die Rede sein, dass man annimmt,
dieses Subject des Vorstellens sei wirklich absolut unveränder-
lich, dieses „ mein ", das die Vorstellungen muss begleiten können,
sei überall dasselbe, es werde wirklich jede einzelne Vorstellung
von dem gleichen Ich aufgenommen. Denn sonst könnte ja jede
Vorstellung einem besonderen Bewusstsein angehören und ich
müsste „ein so vielfarbiges Selbst haben, als ich Vorstellungen
habe." Die Identität des Selbstbewusstseins ist evidente Fun-
damentalannahme aller Logik. ^3) Jedes Resultat der Unter-
suchung, das mit dieser Identität in Widerspruch tritt, ist
schon darum unmöglich. Jede Hypothese dagegen, ohne welche
die Identität nicht gedacht werden kann, ist schon darum not-
wendig.
70. Nun behaupte ich, dass die Einheitsfunction eine Ver-
änderung ist, ohne welche das Ich nicht zum Bewusstsein seiner
Identität gelangen kann. Die Identität des Selbstbewusstseins
enthält schon „ eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch
das Bewusstsein dieser Synthesis möglich." Denn in dem Be-
wusstsein der empirischen Veränderungen in Raum und Zeit liegt
keine Beziehung auf die Identität des Subjects. Auch wenn ich
die einzelnen Vorstellungen mit Bewusstsein begleite, so bleibt
dieses Bewusstsein zerstreut, jedes seiner Momente isolirt und
von den andern getrennt. Ich muss vielmehr die eine Vor-
stellung so zu der andern hinzusetzen, dass eine Vorstellung
aus ihnen wird. Ich reihe einzelne Punkte aneinander und ge-
winne die Gesammtvorstellung der Linie. Indem ich mir dieser
ihrer Einheit bewusst werde, sehe ich erst, dass die verschie-
denen Vorstellungen zu einem Bewusstsein gehören, dass das
Ich, auf welches die einzelnen bezogen wurden, identisch war.
Jetzt erst, nachdem die einzelnen Vorstellungen zu einer Summe
addirt sind, sondert sich das „mein", das sie begleitete, als con-
stanter Factor ab. So ist das analytische Bewusstsein der Ein-
heit des Ich nur unter der Voraussetzung eines synthetischen Be-
wusstseins der Einheit von Vorstellungen möglieh. Die Einheits-
3. Dritter Grundsatz der Erkenntnisstheorie. 45
function des Bewusstseins ist also Bedingung seiner Identität und
als solche notwendig. ^^)
Somit lässt sich die Notwendigkeit ursprünglicher Vorstel-
lungsverkuUpfungen im Allgemeinen beweisen. Die Möglichkeit
notwendiger Urtheile ist gesichert. Es gibt Erkenutniss von
Oesenständen.
3. Dritter Grundsatz der Erkenntnisstheorie.
77. Das genannte Ergebniss zusammenfassend, können wir
Yon vornherein über alle Objecte, welche uns in der Erfahrung
vorkommen mögen, ein Urtheil aussprechen. Wir können be-
haupten, dass sie keine Eigenschaften besitzen, welche der Mög-
lichkeit einer Synthesis im Wege stehen würden. Alle Vorstel-
lungen, sofern ihnen objective Bedeutung zukommen soll, müssen
fähig sein zu Einheiten verbunden zu werden. Wir haben also
den Grundsatz:
78. Jeder Gegenstand der Erfahrung entspricht den not-
wendigen Bedingungen der Einheitsfunctiou.^^)
Der Satz ist bloss analytisch, weil es ja eben schon im Be-
griffe des Gegenstandes liegt, diesen Bedingungen gemäss zu
sein. Aber es ist die Fundamentalerklärung , auf welcher sich
alle weitere Ableitung aufbaut.
79. Es ist wichtig hervorzuheben, dass dieses Princip un-
abhängig von der Ansicht über Raum und Zeit abgeleitet worden
ist. So wird es zu einer selbstständigen Grundlage, von welcher
aus wir die Idealität von Raum und Zeit postuliren können.
Denn es ist sinnlos, von Eigenschaften der Gegenstände, die
ganz unabhängig von unserm Vorstellen vorhanden sind, aus-
zumachen, dass sie unter den Bedingungen des Bewusstseins
stehen. ^'^)
80. In diesem obersten Princip ist auch eine Forderung der
Psychologie gegenüber enthalten. Indem wir verlangen, dass
die Vorstellungen unter die Einheit des Bewusstseins gebracht
werden, setzen wir voraus, dass nach den psychologischen Natur-
gesetzen dieser Vorgang möglich ist. Wie auch die Psychologie
ihre Processe beschreibe und eiutheile, ob sie mit Kant eine Syn-
thesis der Apprehension, der Reproduction und der Recognition
unterscheide^'), oder Alles auf die Fähigkeit der Reproduction
46 VI. Das Object.
ziirtlckl'ühre, das ist tiir die ErkeDntnisstlieorie gleichgültig'. Die
letztere fordert nur, dass durch die Bewegungen, welche die Psy-
chologie darstellt, die Möglichkeit der synthetischen Einheit er-
klärt werde.
4. Das Noumenon.
51. Das ist. nun die Stelle, wo das Ding au sich in seine
zweite Phase eintritt. Jene bloss negative Vorstellung eines un-
bekannten Restes (§ 64— 6G) scheint hier eine bestimmte Form
zu erlangen, jen/js imaginäre Etwas scheint sich im Reflexe der
Einheitsfunction zu einem positiven Ding zu verdichten. Auch
diese Steigerung der Täuschung ist ganz natürlich. Das Bewusst-
seiu hat sich nunmehr den Besitz einer notwendigen Eiuheits-
vorstelluug gesichert. Nun bezieht es diese Einheit auf jenen
trügerischen Rückstand des unaufgelöstcn Objects und glaubt den
Begriff für die Form gefunden zu haben, die sich, nachdem die
Materie aufgelöst w^ar, seinem Begreifen, seinem Denken entzog.
Dieser Begriff hat keine subjectiven Eigenschaften, wir erkennen
folglich in seiner Einheit ein Object au sich, ein Wesen, das nicht
durch die modificirenden Einflüsse unserer Sinne verkleidet ist. So
entsteht der Begriff von einem Gegenstande überhaupt, das Nou-
menon, das Verstandesdiug. Die Illusion ist ebenso leicht zu
zerstören, als sie schwer zu vermeiden ist. Die leiseste Bestim-
mung darüber, was wir denn eigentlich dadurch erkennen, lässt
die ganze Materie zu Nichts zerfliessen; der geringste Versuch
zu sehen, ob irgend Etwas wirklich durch die Einheit lestgehalten
werde, zeigt, dass sie verscliwunden ist. Wir müssen immer
wieder entdecken, dass unser Begriff trotz der vermeinten Füllung
leer blieb. Der Begriff aber ist ohne Inhalt sinnlos. Einheit
bedeutet gar nichts, wenn sie nicht eine Einheit von Etwas ist.
Niemals kann also aus dem beziehungslosen, reinen Denken
einer Verknüpfung überhaupt Erkenntuiss entspringen.
52. Man wirft der kritischen Philosophie vor, sie habe ge-
rade ihren Fundamentalbegriff von der logischen Trennung zwi-
schen Erscheinungen und an sich selbst vorhandenen i)iugen im
Dunkel belassen. Denn irgend ein Begriff müsse es doch sein,
durch welchen diese Trennung vollzogen werde. ^'^) Dieser Be-
griff ist eben das Noumenon, aus dessen negativem Ursprung
schon folgt, dass es eigentlich ein Verhältniss (des Subjects zur
4. Das Noiimeiion. 47
Form seiner Vorstellimg-en) darstellt. Das Noiimenou ist eben
die Vorstellung der Aufgabe, ein Etwas überhaupt zu denken
und davon allen Empfindungsstoff abzusondern.
83. Aber selbst aus der kritischen Vernichtung springt das
Noumenon immittelbar in einer dritten doch ungefährlicheren
Gestalt wieder hervor. Wenn das negative Bestreben der Abs-
traction von allen sinnlichen Qualitäten uns keinen wirklichen
Inhalt übrig lässt, so kann uns ein solcher vielleicht anders
woher von unserer Subjectivität unabhängig gegeben werden.
Von diesem unsinnlichen Erwerb suchen wir uns denn mit Hülfe
der verschiedensten Worte Vorstellungen zu machen, die alle
gleich mystisch sind, sei es Offenbarung oder spontanes Setzen
oder intellectuelle Anschauung. So entsteht das Trugbild des
Noumenon in positiver Meinung. Seine Nichtigkeit als Erkenntniss
ist evident. Denn wir können uns nicht einmal von der Mög-
lichkeit dieses „anderswoher" den mindesten Begriff machen.
Schon am Anfang des Versuchs würden wir unsere Gedanken in
der Zeit, also in der Sinnenwelt entdecken. ^■')
YII. Die Arten der Eiuheitsfunctiou.
1. Die Aufgabe.
84. In dem Ergebniss: dass unsere Vorstellungen zu Ein-
heiten verknüpft werden müssen, besitzen wir ein Urtheil, das,
ohne in einem andern enthalten zu sein, den Anspruch auf not-
wendige und allgemeine Geltung erheben kann. Denn es ist
notwendig, weil auf seiner Wahrheit die Identität des Bewusst-
seins beruht, ohne welche von der Möglichkeit der Erfahrung
überhaupt nicht die Rede sein kann. Es ist allgemeingültig,
weil das identische Ich von dem Bewusstsein dieses oder jenes
einzelnen Subjects vollkommen unabhängig ist. Das Ich ist
eine absolut einfache Vorstellung, sie enthält kein Mannigfaltiges,
das durch Erfahrung in verschiedener Weise gegeben werden
könnte. Sie bezeichnet die einfache Thatsache des Daseins eines
Subjects, die Existenz eines Denkens. In dem absolut bestimmten
48 Vn. Die Arten der Einheitsfunction.
Factum des blossen Vorhandenseius kann aber kein Unterschied
der Subjecte gedacht werden. Also muss ein Urtheil, das bloss
dieses Factum zur Voraussetzung hat, allgemein gültig sein,
85. Die Identität des Bewusstseins, welche die Bedingung
ist, unter der überhaupt aus Wahrnehmungen Erfahrung werden
kann, fordert also für die Möglichkeit ihres eignen Daseins, dass
in dieser Erfahrung ein einheitlicher Zusammenhang der Vor-
stellungen besteht. Diese Notwendigkeit des Zusammenhangs,
oder mit einem gleichbedeutenden Wort, diese Gesetzmässigkeit
der Vorstellungsverbiudung ist die allgemeine Voraussetzung,
welcher die Einheitsfunction zu genügen hat.
86. Von der Erzeugung dieser Erfahrungseinheit wissen
wir bis jetzt nichts, als dass sie vorhanden sein muss; ihre be-
sondere Gestaltung ist uns unbekannt. Um sie kennen zu lernen,
müssten wir die einzelnen Bedingungen der Identität des Be-
wusstseins, die verschiedenen Arten der Einheitsfunction zu er-
gründen suchen. Wenn uns das gelänge, so hätten wir dadurch
ebenso viele Urtheile von ursprünglicher Notwendigkeit, also
eine Keihe objectiver Erkenntnisse gewonnen. Denn alle Be-
dingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind ja auch Be-
dingungen der Möglichkeit ihrer Gegenstände. In diesen Regeln
der Einheitsfunction würden wir somit Principien erkennen, von
denen die Gesammtheit der für uns erkennbaren Dinge abhän-
gig ist.
87. Die Aufgabe gehört zu den wichtigsten und schwierig-
sten der Erkenntnisstheorie. Wir müssen streng daran festhalten,
dass diesen Gesetzen die Notwendigkeit nur als Bedingungen der
Bewusstseinsidentität zukommen kann. Auf welche Weise aber
soll es denn möglich sein, die Zahl dieser Bedingungen fest-
zustellen? Wie soll hier die Gefahr speculativer Willkür ver-
mieden werden? Soviel können wir von vornherein behaupten,
dass wir jedenfalls über die Zahl absolute Gewissheit erlangen
müssen. Denn weil die Gesetze Bedingungen der Erfahrung
überhaupt sind, kann ihre Zahl durch die Erfahrung nicht ver-
ändert werden; daher muss sie auch endgültig autgezeigt
werden können. Die Lösung kann nur Eine sein. So lange
die Zahl der reinen Denknotwendigkeiten, welche verschiedene
Forscher aufstellen, variirt und variiren kann, ist die Methode
falsch. Ein hypothetisches Verfahren ist hier nicht statthaft.
1. Die Aufgabe. 2. Kaufs Entdeckiiug. 49
Mau darf nicht versuchsweise verschiedene Zahlen annehmen
und schliesslich diejenige behalten, vs^elche zu dem relativ be-
friedigendsten Systeme führt. Die Ableitung- hat nur dann Wert,
wenn sie mit Bewusstsein aus einem erkenntnisstheoretischen
Princip hervorgeht. ^ ^)
88. Dazu kommt eine zweite Schwierigkeit. Die Allgemein-
gültigkeit kann den besondern Gesetzen nur unter der Bedingung
anhaften, dass sie keinen empirischen, d. h. erfahrungsmässig
variablen Factor enthalten. Wie sollen wir aber in dem Be-
griff der Eiuheitsfunction überhaupt eine Besonderuug entdecken,
ohne uns an die Erfahrung zu wenden?
89. Vielleicht können wir von anderer Seite her Hülfe be-
kommen. Unter der Einheitsfunction verstehen wir denjenigen
Vorgang im Bewusstsein, durch welchen verschiedene Vorstel-
lungen zu einer Einheit verbunden werden. Nun ist aber das
Urtheil nichts Anderes als unsere Erkenntniss- und Ausdrucks-
form eben dieser Function. Das Urtheil ist die entwickelte Vor-
stellung der Bewusstseinseinheit verschiedener Vorstellungen. Der
Gang unserer Untersuchung hat uns ja über das Urtheil niemals
hinausgeführt. Wir suchten für die Verbindung der Eigen-
schaften des Gegenstandes einen objectiveu Grund und fanden
dafür einen subjectiven, die Verbindung selbst blieb die gleiche.
Nun wissen wir, dass die formale Logik die verschiedenen Arten
dieser Verbindung genau zu studiren hat, um daraus die ver-
schiedenen Möglichkeiten abzuleiten, welche fiir die Gewinnung-
formaler Notwendigkeit vorhanden sind. Wo könnten wir daher
die gewünschte Anzahl unserer Functionen sicherer und voll-
ständiger erfahren? Wir lesen sie ab aus der formalen Logik
und besitzen nun für die zureichende Lösung der Aufgabe wenig-
stens die Garantie, welche diese so hoch entwickelte Wissen-
schaft zu leisten vermag.
Das ist der Weg, den Kant eingeschlagen hat. Die Wich-
tigkeit des Punktes macht ein besonderes Besprechen der Kant-
schen Darstellung notwendig.
2. Kant's Entdeckung.
90. Kant geht zur Aufstellung seiner Kategorien mit dem
Satze über: „Die Functionen des Verstandes können also ius-
Stadler, Erkenntnisstheorie. 4
50 VII. Die Arten der Eiuheitsfuuction.
gesammt gefiiiuleii werden, wenn man die Functionen der Einheit
iu den Urtheileu vollständig darstellen kann. Dass dies aber
sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Ab-
schnitt vor Augen stellen."'^') Somit wird die Gültigkeit der
ganzen Methode davon abhängen, ob dies wirklich vor Augen
gestellt worden ist.
„Wenn wir von allem Inhalte eines Urtheils überhaupt
abstrahiren und nur auf die blosse Verstandesform darin Acht
geben, so finden wir, dass die Function des Denkens in dem-
selben unter 4 Titel gebracht werden könne etc. " •>-) So finden
wir? Soll das etwa eine Rechtfertigung sein? Suchen wir die
Tendenz des Satzes zu verstehen. Sein Sinn ist folgender: Wenn
wir von allem Inhalt eines Urtheils überhaupt abstrahiren und
nur auf die blosse Verstandesform darin Acht geben, so —
stehen wir in der formalen Logik und da finden wir die Ein-
theilung der Urtheile. Damit ist aber auch genügend erwiesen,
dass sich das Versprochene bewerkstelligen lasse. Das „vor
Augen stellen" besteht in dem Hinweis, dass man sich einfach
an eine schon bestehende Wissenschaft, an die formale Logik,
zu wenden habe, um die Aufgabe zu lösen. Und der Hinweis
ist darum so wertvoll, weil diese Wissenschaft anerkannt und
unerschütterlich ist. Die Arbeit der Logiker ist eine „schon
fertige ".^3) Seit ältesten Zeiten her ist die Logik einen sicheren
Gang gegangen, so sicher, „dass sie seit dem Aristoteles keinen
Schritt rückwärts hat thun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die
Wegschaffung einiger entbehrlichen Subtilitäten oder deutlichere
Bestimmung des Vorgetragenen als Verbesserungen anrechnen
will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der
Wissenschaft gehört. " ^ ') Auch jetzt zwar ist die Logik nicht
ganz „von Mängeln frei".^^) Allein sie werden verbessert, die
Correcturen durch einige „Verwahrungen wider den besorglichen
Missverstaud geschützt, und schliesslich weicht die ürtheilstafel
nur in „ nicht wesentlichen " Stücken von der „ gewohnten Technik
der Logiker" ab.
91. Die angeführten Stellen zeigen deutlich, dass sich Kant
auf die Logik beruft, als auf eine Wissenschaft, deren Grund-
warliheiten unzweifelhaft feststehen. Wenn daher gesagt wird,
dass Kant die Vollständigkeit der Ürtheilstafel nicht selbst be-
gründet habe, so trete ich dieser Ansicht bei. Er hat das über-
2. Kant's Entdeckung. 51
baupt niclit für nötig gehalteu. Will man aber daraus den
Vorwurf ableiten, Kaut habe sich in seiner Umwandlung der
Rhapsodie in ein System selbst getäuscht und sich mit einem
„Priucip" gebrüstet, das er nicht besessen habe, so macht man
sich eines starken Missverständnisses schuldig. Man verwechselt
dann die Kategorien tafel mit der Urtheilstafel. Kant hatte sich
gerühmt, ein Princip entdeckt zu haben für die Eintheilung jener
allgemeinen Begriffe, an deren Feststellung die Philosophie bis-
lang verzweifelt war. Seit Aristoteles hatte man sich bemüht,
„aus dem gemeinen Erkenntnisse die Begriffe herauszusuchen,
welche gar keine besondere Erfahrung zum Grunde liegen haben,
und gleichwohl in aller Erfahrungserkenntniss vorkommen. " ^^)
Aber weil die au und für sich so wertvolle Idee niemals hatte
regelmässig ausgeführt werden können, so musste die Arbeit
immer wieder als unnütz verworfen werden. Es fehlte das
Princip, „nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und
alle Functionen desselben, daraus seine reinen Begriffe ent-
springen, vollzählig und mitPräcision bestimmt werden konnten." ■'')
Da entdeckte Kant das, worauf unsere Untersuchung un-
mittelbar gerichtet war, die Einheitsfuuction in den Urtheilen.
Er erkannte, dass jene gesuchten allgemeinen Begriffe nichts
Anderes seien als die Verstandeshandluugen , welche auch den
verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit geben.
Um „ein solches Princip auszufinden, sah ich mich nach einer
Verstandeshandlung um, die alle übrigen enthält und sich nur
durch verschiedene Modificatiouen oder Momente unterscheidet,
das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens
überhaupt zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung
bestehe im Urtheilen." Das Princip gieng somit nicht auf die
Wesensbestimmung dessen, was eingetheilt werden sollte. Das
Entscheidende war, dass „die wahre Bedeutung der reinen
Verstandesbegriffe und die Bedingung ihres Gebrauchs genau
bestimmt werden konnte ".ö"») Das „gemeinschaftliche Princip"
war das „Vermögen zu urtheilen". •^■') Durch diese Entdeckung
wurde nun die Aufgabe der Eintheilung mitgelöst. Sie wurde
von dem schwankenden Boden der Metaphysik auf den uner-
schütterlichen Boden der formalen Logik hinüber gespielt. Die
anerkannte Systematik der letzteren konnte nun auch jener zu
Gute kommen.
52 VII. Die Arten der Eiuheitst'imction.
92. In diesem Sinn muss man die Freude begreifen, welche Kant
über seine Entdeckung eniptand. Sie gieng nicht auf die entdeckte
Eiutheilung überhaupt, sondern auf die entdeckte Notwendigkeit
seiner metaphysischen Eintheiiung. Und da es gebräuchlich ist, au
dieser Stelle die erste Aeusserung von Kaut's Symmetrieleiden-
schaft und gothischer Zahlenfreude aufzuzeigen, so sei hier ein
weiterer N'orwurf zurückgewiesen. Man wende gegen Kant ein,
dass er eine unwissenschaftliche Ansicht von der formalen Logik
gehabt habe, und es bleibt dann vorläufig dahingestellt, ob und
welche Resultate seiner Forschung dadurch unbrauchbar gemacht
werden. Aber nachdem man seine Auffassung einmal zu Grunde
gelegt hat, — und das muss man, wenn man das Weitere kritisiren
will, — ist es methodisch unrichtig, sich bei Jedem folgenden
Erscheinen der ursprünglichen Eintheiiung über Künstelei zu be-
klagen.'^ö) yIqy f[Q^ Zusammenhang nur eiuigermassen gefolgt
ist, kann doch nicht verkennen, dass die Kategorientafel in der
That eine systematische Topik begründe für alle Untersuchungen,
deren Stoff von den verschiedenen Functionen des Bewusstseins
wesentlich abhängig ist. '^') Denn ihre Vollkommenheit beruht
darautj dass sie nicht „von der Sache selbst auf dogmatische
Weise "«^-^j sondern „aus der Natur des Verstandes selbst nach
kritischer Methode " genommen ist. Wenn Andere das auch auf
empirisch beeinflusste Objecte ausdehnen wollten, so ist dafür
jedenfalls Kant nicht verantwortlich zu machen. Das mögen
tblgende Stellen belegen: Kant hat ausdrücklich eingeschärft,
dass das Schema bloss der Metaphysik, bloss „aller Behandlung
eines jeden Gegenstandes der reinen Vernunft" ^3) zu Grunde
liegen könne und zwar „sofern er philosophisch und nach Grund-
sätzen a priori erwogen werden soll."*^') Denn allein in der
Metaphysik wird der Gegenstand „nur, wie er bloss nach den
allgemeinen Gesetzen des Denkens .... vorgestellt werden muss,
betrachtet. " ''•') Da muss er jederzeit mit allen notwendigen Denk-
gesetzen verglichen werden und stets die gleiche, erschöpfende
Zahl von Erkenntnissen liefern. So zeichnet sich die Meta-
physik „ unter allen Wissenschaften dadurch ganz besonders aus,
dass sie die einzige ist, die ganz vollständig dargestellt
werden kann; so dass für die Nachwelt nichts übrig bleibt hin-
zuzusetzen . . ."'-''), während „Vollständigkeit der Eintheiiung des
Empirischen aber unmöglich ist.'"^")
2. Kant's Entdeckung. 53
93. Damit ist der Angriff auf den riclitigen Punkt gewiesen.
Nun freilich müssen wir fragen, wie sich das „System verhalte,
wenn wir der formalen Logik das Vertrauen, das Kant ihr
schenkte, nicht gewähren können. Da das metaphysische Er-
gebniss seine Sicherheit der Bürgschaft der Logik verdankt, so
wird mit dieser Garantie auch jener Ertrag dahinfallen. Diese
bedenkliche Behauptung würde unzweifelhaft feststehen, wenn
nicht inzwischen mit dem der Logik entlehnten Schema ander-
weitige Operationen vorgenommen worden wären. Das an den
Bau der Logik angelehnte Gerüste kijnnte durch neue Verbin-
dungen so gestützt worden sein, dass es sich selbst aufrecht
erhält, auch wenn man jene Mauer niederreisst. "Wer den obigen
Einwurf erhebt, vergisst nichts Geringeres als die ganze trans-
sceudentale Deduction. ''^) Wenn Kant im guten Glauben eine
zweifelhafte Eiutheilung aufgenommen, aber dazu den unab-
hängigen Beweis geliefert hat, dass diese Eintheilung in der
betreffenden Verwendung einen Sinn hat, so stehen wir eben
vor einem jener Fälle, wo der unrichtige Ausgangspunkt die
Wahrheit des Resultates nicht beeinfiusseu konnte. Angenommen
die Notwendigkeit der Urtheilstafel sei eine Täuschung, so fragt
es sich nur, ob Kant jede einzelne der darin verzeichneten Ein-
heitsfunctionen als eine Bedingung der Erfahrung nachgewiesen
habe. Ist dies geschehn, so bedeutet das gleichzeitig eine Eman-
cipatiou der Kategorientafel von dem Einfluss der Urtheile. Die
vermeintliche UnSelbstständigkeit hat sich als unbegründet, die
Ableitung als überflüssig herausgestellt. Wenn eine Abhängigkeit
stattfindet, so hat sie jedenfalls ihren Sinn verändert: die em-
pirische Eintheilung der Urtheile wird sich nach dem System
der Eriährungsbedingungen zu richten haben. Wer also die Be-
rechtigung der Urtheilstafel anzweifelt, täuscht sich, wenn er
glaubt, dass seine Bedenken die Kategorien noch mitberühren.
94. In diesem Punkt muss man die in historischem Sinne
geführten Angriffe von denen mit absolut systematischer Tendenz
wohl unterscheiden. Cohen z.B. sagt: „Zuerst wurde nach den
Grundsätzen gefragt. Die Anzahl derselben war nicht bekannt;
aber die Apriorität derselben sollte nur in den Begriffen liegen
können: daher wurden zweitens Grundbegriffe angenommen.
Wenn anders nun eine erschöpfende Uebersicht der ersteren er-
reicht werden sollte, so musste für die letzteren eine solche her-
54 VII. Die Arten der Einhoitsfunction.
gestellt werden. So kam er zu der Tafel der Urtheile, und von
dieser zu der gesuchten Tafel der Grundbegriffe und Grund-
sätze."''") Dass dies der Gang der Kautisclien Systematik ge-
wesen sei, stehe ich nicht an zu glauben, aber ich bestreite die
Möglichkeit, aus dieser Entwicklung Momente für ihre absolute
Vertheidigung zu gewinnen. Wenn daher Cohen zu allgemein fort-
fährt: „Jeder Angriff auf die Ordnung und Anzahl dieser beiden
muss demnach immer auf die Ordnung und Anzahl der Urtheils-
arten gerichtet werden ", so darf dies nur auf bestimmte geschicht-
liche Missverständnisse bezogen werden; in systematischer Hin-
sicht muss man vielmehr behaupten: Jeder Angriff aber gegen
die Ordnung und Anzahl der Urtheilsarten, der demnach Ord-
nung und Anzahl jener beiden mitzutreffen vermeinte, würde
abgeschlagen werden. Die Kantische Systematik hat sich wäh-
rend ihrer Entwicklung auf eigene Füsse gestellt und ist fortan
im Stande, die Hand ihres Führers, dessen Sicherheit nicht
unzweifelhaft war, zu missen.
95. Gegner, welche die Vollkommenheit der formalen Logik
im Kantischen Sinn anerkennen, führen richtige Angriffe gegen
die Kategorien, wenn sie zeigen, dass sich dieselben mit den
Urtheilsformen nicht wirklich decken. Gegner aber, welche die
Aufstellungen der Logik überhaupt nicht als fest begründet an-
sehen, müssen sich noch ausserdem gegen das eigene Fundament
der Kategorie richten. Das ist die grosse Frage, ob die ein-
zelne Kategorie als Bedingung der Erfahrung nachgewiesen sei.
Die Frage muss von denjenigen verneint werden, welche die
transscendentale Deduction nur in der „Analytik der Begriffe"
suchen. Allein es vollendet sich cl)en, wenn auch nicht in Kant's
deutlich ausgesprochener Absicht, so doch thatsächlich die trans-
scendentale Deduction erst in der Analytik der Grundsätze. Die
Analytik der Begriffe deducirt die Kategorie, die Analytik der
Grundsätze die Kategorien . Und nur insoweit die letztere
dies thut, kann die Kategorientafel angenommen werden. Doch
ist hier nicht der Ort, das Verhältniss dieser Ansicht zur Kanti-
schen Darstellung näher zu bestimmen. Es liegt mir hier bloss
daran, sie im systematischen Fortgange der Abhandlung zur Er-
reichung sicherer Resultate zu verwerten.'"^)
90. Ich halte somit das Ablesen der Einheitsfunctionen aus
der Tafel der Urtheile für vollkommen bedeutungslos. Was
3. Systematische Ableitung der Arten. 55
mau da findet, muss nur anderswo noch einmal gesucht werden.
Die Urtheilstafel aber nach metaphysischen Gesichtspunkten fest-
stellen und sie hierauf der Ableitung der Metaphysik zu Grunde
legen zu wollen, das wäre ein so plumper Cirkel, dass dieser Fall
kaum der Warnung bedarf Der formalen Logik muss zunächst
die Unabhängigkeit ihrer Methode gCM^ährleistet und die unbe-
schränkte Breite ihres empirischen Gebietes überlassen werden.
Nur vergesse sie nicht, dass die objective Gültigkeit ihrer Ge-
setze eine besondere Deduction erfordert. Ihre Aufstellungen
werden wie die der Mathematik ein blosses Spiel, wenn ihre reale
Bedeutung nicht mehr begriffen werden kann. Und das ist der
bleibende Wert der Entdeckung Kaut's, dass er den dunkeln
Charakter jener Grundbegriffe der alten Metaphysik aufgeklärt
und sie als Einheitsfunctionen des Urtheilens enthüllt hat. Für
die formale Logik entspringt daraus nichts Geringeres als die
Möglichkeit ihrer erkenntnisstheoretischen Begründung.
3. Systematische Ableitung der Arten.
97. Da uns die formale Logik einen befriedigenden Auf-
schluss über das Princip ihrer Eintheilung der Eiuheitsfiinction
nicht zu bieten vermag, so bleibt uns nichts Anderes übrig, als
die Lösung des Problems selbstständig zu versuchen. Und dazu
sehe ich nur Ein Mittel. Wir müssen uns das identische Be-
wusstsein mit Inhalt erfüllt denken und untersuchen, ob aus der
Natur dieses Inhaltes selbst die Forderung einer Mehrheit von
Bedingungen hervorgehe. Wir müssen die Gleichung des Er-
kenntnissprocesses , in welcher das Ich die alle Variabein um-
fassende Function bildet, dahin analysiren, ob das Bestehen der
Function den einzusetzenden Werten von vornherein gewisse
Beschränkungen auflege. Nun sollen wir aber zugleich auf das
strengste vermeiden das Gebiet der Empirie zu betreten, sonst
würde den Urtheilen, welche wir suchen, die Eigenschaft der
Notwendigkeit verloren sein, wegen welcher sie uns gerade ent-
deckenswert erscheinen. Wir brauchen also für die Einheits-
function einen Inhalt, der nicht empirisch ist. Hat diese Auf-
gabe überhaupt einen Sinn?
Was uns befähigt dieser Forderung trotz ihres scheinbaren
Widerspruchs gerecht zu werden, ist die vollzogene Analyse des
56 VII. Die Arten der Einheitsfunction.
Vorstellung'sinlialtes (Cap. V,). Wir haben gesehen, dass, wo
ein Gegenstand gedacht wird, der Inhalt jeder Vorstelhmg, wie
er auch sonst beschaifen sei, in eine allgemeine Vcrhältnissvor-
stellung sich einordnet, welche Bedingung seiner Aufnahme ins
Bewusstsein ist und allen Vorstellungen in gleicher Weise zu
Grunde liegt. Diese Form, in welche wir alle empirischen Data
aufnehmen, ist die Anschauung der Zeit. Diese Gcsammtvor-
stellung stellt den Inbegriff aller denkbaren Erfahrungen dar,
sie ist das unbestimmte aber eischöpfendc Bild alles Inhalts,
der uns überhaupt gegeben werden kann.
98. Es ist somit unzweifelhaft gewiss, dass, an welchem
Erfahrungsinhalt auch die Einheitsfunction die Identität des Be-
wusstseins erzeuge, sie diesen Inhalt zu einer in der Zeit ent-
haltenen Einheit verknüpfen muss. Jede Vorstellungseinheit ist
eine Zeiteinheit. Wir können also behaupten, dass unter der
Zahl unserer Erfahrungsbedingungen jedenfalls die sein muss,
dass aller Vorstellungsinhalt zu einheitlichen Anschauungen in
der Zeit verknüpft wird. Dieser Satz aber enthält nichts Empi-
risches; denn es ist bewiesen worden, dass die Zeit, wenn sie
auch in jeder empirischen Vorstellung enthalten ist, doch nicht
aus ihnen gezogen worden sein kann (§ 5S).
99. Wir wissen ferner, dass, wo ein Gegenstand gedacht
wird, jeder beliebige Vorstellungsinhalt dem entwickelten Be-
wusstsein in dem Verhältniss des Nebeneinander erscheint. Alle
Vorstellungen, sofern sie überhaupt in einer Association erscheinen,
sind in der Gesammtvorstellung des Raumes enthalten. Jede
Einheitsfunction bringt daher unter allen Umständen eine räum-
liche Einheit hervor. Wir haben somit eine zweite unzweifel-
hafte Bedingung der Bewusstseinsidentität. In aller Vorstellungs-
verknüpfiing findet eine Synthesis statt. Auch dieser Satz ist
ohne empirische Beimischung; denn auch der Raum wurde als
eine Anschauung nachgewiesen, welche vorhanden sein muss,
bevor die bewusste Erfahrung Geltung hat (§ 48).
100. Damit scheinen die Arten der Einheitsfunction erschöpft
zu sein. Wir besitzen keine weitere Kenntniss empirisch un-
veränderlicher Eigenschaften des Erkenntnissinhaltes. Raum und
Zeit sind die einzigen Qualitäten, die als Bedingungen des Be-
wusstseins dargestellt werden können. Das, was in der Ordnung
der Verhältnissvorstellungen angeschaut wird, die Empfindungs-
3. Systematische Ableitung der Arten. 57
demente , ist das eigentlich Empirische, der Stoff, aus dem Er-
fahrung producirt wird. Von der einzelnen Empfindung lässt
sich keine Bestimmung mehr als Bedingung des Bewusstwerdens
und daher als apriorisch absondern. Aus ihr wird sich daher
auch kein neuer Einblick in die Vielseitigkeit der Einheits-
function gewinnen lassen. Und doch! Eines können wir von
der Empfindung a priori behaupten. Sie muss gegeben sein.
Das heisst nichts Anderes als : Wir dürfen nicht vergessen, dass
wir Raum und Zeit nur durch Abstraction aus der fertigen Erfah-
rung isolirt haben. Sie besitzen nicht in der wirklichen Erfah-
rung eine reine, gesonderte Existenz, so dass wir mit ihnen un-
abhängig von allem Empfindungsinhalt Operationen vornehmen
könnten. Ihr Name Verhältnissvorstellung weist mit Recht dar-
auf hin, dass sie nur durch die Beziehung auf etwas Anderes
Bedeutung erlangen. Dem Leser, der bis hierher gefolgt ist,
wird die Behauptung nicht paradox erscheinen, dass erst Etwas
da sein muss, bevor sich die apriorischen Formen erzeugen.
Allerdings kann ich aus Raum und Zeit alle Gegenstände weg-
nehmen, ohne genötigt zu sein, sie selbst wegzudenken ; aber so
wie ich das thue, werden auch die Einheitsanschauungen völlig
bedeutungslos, ich besitze nicht mehr die mindeste Erkenntniss in
ihnen, ich kann gar nichts über sie aussagen, sie sind gleichsam
blind. Ich könnte nicht einmal die drei Dimensionen des Raumes
aus ihnen selbst erkennen, d. h. ohne dass ich Etwas, z. B. drei
Linien, in ihn hineinsetzte. Denn die Verhältnissvorstellungen ent-
halten absolut kein Mannigfaltiges, können keins enthalten, wenn
wir sie richtig der ursprünglichen Abstraction gemäss denken.
Eine Verknüpfung, an Raum und Zeit allein vollzogen, ist etwas
Unmögliches, weil gar nichts zu Verknüpfendes da wäre. Wenn
also die Einheitsfunction überhaupt stattfinden soll, so muss Em-
pfindungsmaterial gegeben sein. Damit ist die dritte in der
Einheitsfunction enthaltene Bedingung der Bewusstseinsidentität
entdeckt. In jeder Vorstellungsverknüpfung wird eine Einheit
der Empfinduugselemente erzeugt. Auch dieser Satz enthält nichts
Empirisches, obgleich er über das schlechthin Empirische ur-
theilt. Was er voraussetzt, ist bloss das Dasein einer Empfin-
dung überhaupt, deren specifische Qualität ganz beliebig sein
mag. Die Thatsache der Existenz selbst kann durch die wech-
selnde Bestimmung der Erfahrung nicht verändert werden.
58 VII. Die Arten der Einheitsfunction.
101. So nimmt vor der uäliern Untersuchung die unbe-
stimmte Einheitsfunction eine schart gezeichnete Dreigestalt au;
das allgemeine Gesetz der synthetischen Einheit offenbart seine
Natur als eine Zusammenfassung dreier Grundsätze. Wir haben
ein Princip der materiellen, ein Princip der räumlichen und ein
Princip der zeitlichen Verknüpfung. Diese Zahl verdanken wir
weder der formalen Logik, noch einem speculativen Einfall, son-
dern wir haben sie aus den Grundgedanken unserer eigenen
Wissenschaft methodisch abgeleitet. ■!) Das Princip der Einthei-
lung ist die erkenntnisstheoretische, abstracte Zerlegung der Vor-
stellung in Emptindung, Raumanschauung und Zeitverhältniss.
Wenn diese Bestandtheile gut gezählt sind, so sind es auch die
Bedingungen der Erfahrung. Wer mir die Anzahl der Grund-
sätze bestreitet, den weise ich einfach an die Analyse der An-
schauung. Die synthetische Einheit im Allgemeinen gedacht ist
fähig — das wissen wir — sich selbst zu vertheidigen ; die be-
sonderu Arten bedürfen zur Anerkennung ihrer Ansprüche einer
Bürgschaft, die ihnen nun von unabhängiger Seite geleistet wird.
Um die Grundsätze zu überwinden, muss man erst das ästhetische
Vorwerk der Erkenntnisstheorie stürmen.
102. An dieser Stelle, wo wir ihre Tragweite einsehen,
werden wir allerdings versucht, die Stichhaltigkeit jener ur-
sprünglichen Sonderung von Neuem zu prüfen. Ist sie wirklich
im Wesen der Sache begründet oder wurde sie nicht vielmehr
willkürlich etwa als Schema der weitern Untersuchung ange-
nommen? Wir kennen ihre Genese. Aus allen Bestandtheilen
der Vorstellung ragten von vornherein Raum und Zeit durch
ihre charakteristischen Eigenschaften hervor. Nachher wurden
ihnen diese Eigenschaften durch einen Beweis als recht-
mässig zugesprochen. Da dieser Beweis für keine andern Be-
standtheile geleistet werden konnte, so erweist sich die Ab-
sonderung von Raum und Zeit als völlig Ijegründet. Nun
zeigten sich aber in der Summe der übrigen Bestandtheile keine
erkenntnisstheoretisch wirkenden Differenzen, sie konnten also
zu einer gemeinschaftlichen Gruppe zusammengefasst werden. Die
Zergliederung ist also streng auf die Natur des Vorstellungsinhaltes
gegründet. Wer die drei Einheitsfunctionen verwirft, verwirft
mit ihnen die Kantische Auffassung von Raum und Zeit. "'-)
Es muss noch hinzugefügt werden, dass diese Gruppirung
4. Folgerungen. 59
von psychologischen Voraussetzungen durchaus unabhängig ist.
Wir vennessen uns nicht den psychischen Vorgang in seinem
Verlaufe zu beobachten, sondern wir zergliedern nur seine
im Vorstellungsresultat gegebene Leistung. "Wenn wir Raum und
Zeit als -Formen" dem Mannigfaltigen, als der -Empfindung",
gegenüberstellen, so ist damit keineswegs gesagt, dass jene Vor-
stellungen nicht der Empfindung ihren Ursprung verdanken. Lehrt
uns die Psychologie, dass die Raum Vorstellung sich in irgend
einer Weise nach und nach aus dem Empfinduugsstoffe ent-
wickelt, so ist das für die Erkenutnisstheorie nur von secun-
därem Interesse. Sie sagt dann, Erfahrung sei erst auf der
Stufe möglich, wo das Empfindungsproduct so vollkommen ge-
worden sei, dass alle andern Empfindungen sich in ihm ordnen
können. '^) Die erkenntnisstheoretische Rolle von Raum und
Zeit bleibt davon unberührt und wir sind nichtsdestoweniger
berechtigt die Einheitsanschauungen im Verhältuiss zur „ Empfin-
dung" als empirische Vorstellungen abzusondern. (Vgl. §§ 44,
48, 58.) •
So erwachsen die Grundgesetze der Erfahrung unmittelbar
aus den ureigenen Wurzeln des transscendentalen Idealismus und
eine consequente Auffassung findet in dem kritischen System
keine künstliche aufgepfropfte Verzweigung.
103. In diesen Gesetzen haben wir drei weitere Urtheile
von ursprünglicher Notwendigkeit. Und zwar ist ihre Not-
wendigkeit eine zweifache. Sie sind notwendig, insofern sie
s^^nthetische Einheit bewirken, sie sind aber auch notwen-
dig, jede Art als solche, insofern diese besondere Einheit
Bedingung der Anschauung ist. Ihre specielle Formulirung und
Tragweite zu begründen, soll Aufgabe des Folgenden sein. Vor-
her mögen noch einige unmittelbar sich ergebende Consequenzen
besprochen werden.
4. Folgerungen.
104. Es Lst zu hoffen, dass die gegebene Ableitung einen
Irrtum unmöglich mache, durch welchen das erkenntnisstheo-
retische Verständniss überhaupt vernichtet wird. Sie gibt deut-
lich genug zu erkennen, die Zerlegung der Einheitsfunction sei
nicht so gemeint, dass die verschiedenen Gesetze sich in das
Gebiet der Erfahrung theilen. Unsere Specification kann nicht
00 VII. Die Arten der Einheitsfunctioii.
bedeuten, (lass durch die eine Art diese, durch die andere jene
und durch die letzte eine dritte Klasse von Vorstellungen zur
Einheit verknüpft wird. Die verschiedenen Functionen haben
vielmehr bei jeder Synthese alle mitgespielt; sie sind nur drei
AVirkungsäusserungen derselben Kraft. Bloss dadurch erlangen
sie den Schein einer selbstständigen Existenz im Bewusstsein,
dass jede einzelne Function Grundlage eines notwendigen Urtheils
werden kann. Es genügt, sich einer Seite des Erkenntniss-
processes bewusst zu werden, um ein Urtheil von ursprünglicher
Notwendigkeit zu bilden.
loö. Aus der Entwicklungsgeschichte unserer Grundgesetze
lässt sich ferner die Grenze ihrer Gültigkeit auf das schärfste
bestimmen, Sie wurden aus unserm Bewusstsein geboren, aber
nur unter der Voraussetzung, dass ein Anschauungsstoff das völlig
unproductive Ich befruchtete. Die Einheitsfunction entfaltet sich
nur an den drei Formen irgend eines Daseins. Ihre Arten ver-
schwinden wieder, sobald wir diese gegebene Materie wegdenken,
und es bleibt uns nur übrig, was wir früher schon hatten, die
gänzlich unbestimmte Vorstellung einer synthetischen Einheit
überhaupt (§ 7G). Nun besitzt aber das entwickelte Bewusstsein
einmal die Kenntniss der einzelnen Gesetze und gibt ihnen Fas-
sung und Namen, welche keineswegs an den ursprünglichen Sinn
erinnern. So lösen sie sich mehr und mehr von allem Inhalt ab
imd scheinen schliesslich eine absolute Geltung mid Bedeutung zu
besitzen. Das unkritische Denken kann sich dadurch zu dem
Wahn verleiten lassen, diese Gesetze liefern ihm eine Erkennt-
niss, die nicht nur von allem Empirischen unabhängig sei, son-
dern auch über das Gebiet des erfahrungsmässig Gegebenen
liinausreiche. Indem es in diesen von ihren Existenzbedingungen
emancipirten Einheiten Gegenstände anzuschauen glaubt, ergeht
es sich in Fictionen, die, wenn auch äusserst nebelhaft, doch
eine Welt von Schein hervorzuzaubern im Stande sind. Da ge-
nügt denn der schlichte Hinweis auf obige Deduction, um den
ganzen Spuk zu bannen. Es ergibt sich unmittelbar, dass alle
solche Versuche nichts weiter als psychologische Spielereien
oder, wenn der Ausdruck gestattet ist, innere Sinnestäuschungen
sind, die nicht einmal den erkenntnisstheoretischen Wert von
Träumen besitzen. Denn im Traume ist wenigstens das Material
gegeben, an welchem die Einheiten fungiren können.
4. Folgerungen. 61
106, Die bisherigeu Untersuchungen nehmen die ganze Abs-
tractionsfähigkeit unserer Einbildungskraft in Anspruch. Bei
der synthetischen Einheit überhaupt mussten wir uns die Ver-
knüpfung als eine notwendige Bedingung vorstellen, aber ohne
sie auch nur im mindesten charakterisiren zu können. Es schien
ein grosser Fortschritt zur Anschaulichkeit, als wir die Einheits-
functiou wenigstens an dem allgemeinen Inhalt erzeugen durften.
Allein auch dieser Versuch war weit entfernt uns ein wirkliches
Bild zu liefern. An der allgemeinen Anschauung von Raum und
Zeit oder von der Empfindung überhaupt können wir unserer
psychologischen Beschaffenheit nach keine wirkliche Einheit zu
Stande bringen. Ich muss stets eine Linie, eine bestimmte Ver-
änderung, einen Ton oder eine Farbe reproducireu, um wirklich
eine Vorstellungseinheit zu schauen.
Das Bild springt erst aus dem empirisch bestimmten Stoff
hervor. Insofern wir aus der Wirkung die Kraft erdenken, hat
es einen uneigentlicheu Sinn, wenn wir die hier wirkende psycho-
logische Fähigkeit Einbildungskraft nennen. Man müsste sich
eher mit dem Titel Schematisirungskraft begnügen. Die Vor-
stellung der Einheitslünction überhaupt ist gleichsam nur ein
Schema, nach welchem eine wirkliche Verknüpfuugseinheit not-
wendig zu denken ist. Aber auch die räumliche, zeitliche und
die Empfindungseinheit sind nur Vorstellungen einer allgemeinen
Methode, wirkliche notwendige Synthesen zu produciren. Erst
wenn mir ein Körper gegeben wird und ich seinen Fall sehe,
sein Gewicht fühle, habe ich ein Bild meiner 3 Einheiten.
Diese empirisch bestimmte Vorstellungsverknüpfung heisst An-
schauung.
Aber dieses Bild wird sofort wieder eine Quelle der Abstrac-
tion, der Schematisiruug. Ich kann von dem Bilde zu meiner
allgemeinen Vorstellung der Verknüpfungsbedingung zurück-
kehren, und zwar so, dass ich einige seiner Bestandtheile mit
mir nehme, andere zurücklasse. Die so entstehende Vorstellung
ist dann einerseits mit dem Bilde verwandt, indem sie empirische
Bestimmungen enthält, andererseits mit der Einheitsfunction, in-
sofern sie in keine wirkliche Gestalt gebannt, nicht augeschaut
werden kann. Stelle ich z. B. die Eaumeinheit in concreto dar,
indem ich ein Dreieck zeichne, so kann ich mich nachher, be-
reichert durch die Vorstellung dreier sich schneidender Linien,
62 VII. Die Arten der Einheitsfuuction.
zur allgemeinen Räumlichkeit zurückwenden, die Grö.sse und
Richtung der gezeichneten Linie dagegen unberücksichtigt lassen.
Eine entsprechende Anschauung aber kann ich dadurch un-
möglich erreichen. Jeder Versuch die dreieckige Räumlichkeit
nur als solche vorzustellen, fliesst sofort in ein bestimmtes Bild
zusammen. Was wir erhalten, ist nur eine etwas weniger all-
gemeine Regel der Wirkung der räumlichen Einheitsfunction,
eine Vorstellung der Methode, eine besondere Raumeinheit dar-
zustellen. Ein solches Schema ist gleichsam das Inventar aller
Stücke, welche notwendig sind, um die betreffende Synthese
vollziehen zu können.
Damit sind wir um eine w^ichtige Einsicht reicher gewor-
den. Die Vorstellung einer synthetischen Einheit von Vorstel-
lungen, bei welcher von einigen Bedingungen der empirischen
Verknüpfung abgesehen wird, heisst Begriff. Wir sind also
nunmehr in den Stand gesetzt, die erkenntnisstheoretische Ab-
leitung des Begriffes zu würdigen. Der Begriff lebt nicht als
eine wirkliebe Einheit von Vorstellungen in unserem Bewusst-
sein; er ist nicht das psychische Gebilde, dessen Einheit wir
auf ein Ding beziehen; er ist vielmehr das mehr oder minder
allgemeine Gesetz der objectiven Anschauung, eine
blosse Anweisung auf Gegenstände. Das Urtheil stellt den Vor-
gang, die Handlung, der Begriff das Resultat der Synthese dar.
Im Begriffe lassen sich mehrere durch Urtheile vollzogene oder
zu vollziehende Verknüpfungen zusammenfassen. Ein solcher
complexer Begriff ist dann die Gesammtvorstellung einer Summe
von Gesetzen der Einheitsfunction , einem mathematischen Aus-
druck ähnlich, der vorschreibt, das und das zu thun, wenn man
das und das erhalten will. Der complexe Begriff kann selbst
wieder Element eines weitern Gesetzes werden, das in seiner
Action als Urtheil, in seinem Ergebniss als anderer Begriff auf-
gefasst wird. In diesem Combiniren von Regeln bestehen die
psychischen Bewegungen, welche man Denken nennt. Indem
man jeden Begriff mit der Vorstellung eines Lautsymbols als
Erkennungszeichen verbindet, bedient man sich der Sprache.
107. Wie nun die formale Logik aus der Natur der Ver-
knüpfungshandlung abgesehen von allem Inhalt Gesetze ab-
leiten kann (vgl. § 2()), nach welchen die einen Handlungen als
durch die andern mitvollzogen erscheinen, so kann sie ebensogut
4. Folgerungen. 63
aus dem gegenseitigen Verhältniss der Begriffe Kegeln ge-
winnen, nach welchen die einen durch die andern mitgesetzt
sind. Die Untersuchung leistet natürlich in beiden Fällen das-
selbe, ist aber dennoch für beide Gesichtspunkte durchzuführen,
da eben das Denken in der mannigfaltigen Combination vom
Urtheilsresultat und Urtheil besteht.
So können wir jetzt die Aufgabe der formalen Logik noch
exacter als früher bestimmen und sagen: die formale Logik
lehrt uns Regeln der Eiuheitsfunction auseinander abzuleiten,
ohne die Beschaffenheit des Stoffes in Betracht zu ziehen. Ueber
die ursprünglichen Regeln aber, welche der Entwicklung der
übrigen zu Grunde liegen, kann sie uns Nichts eröffnen.
lOS. Wir können ferner je nach unserer Auffassung sagen:
es gibt drei fundamentale Gesetze der Eiuheitsfunction oder es
gibt drei Grundbegriffe derselben. Und mit Beziehung auf den
zweiten Grundsatz der Erkenntnisstheorie, wonach die Bedin-
gungen der Erfahrungen zu Bestimmungen der Objecte werden,
können wir der Natureiuheit ebensowohl drei Naturgesetze, wie
drei Typen oder Schemata zu Grunde liegen lassen. '•^)
109. Es ist ein eigen thümliches Resultat dieser Wendung
Kantischer Gedanken, dass wir berechtigt sind zu behaupten:
Wir besitzen einen einzigen Begriff, der wirklich eine Abs-
traction von allem Inhalt darstellt, und das ist die Vorstellung
jener allgemeinsten Bedingung der Bewusstseinsidentität , der
synthetischen Einheit überhaupt. Schon die erste Mehrheit von
Begriffen, zu welcher wir überhaupt gelangen, gibt uns nicht
mehr bloss Verbindung, sondern bereits Verbindung von Etwas.
Und wenn auch dieses Etwas durch so umfassende Allgemeinheit
sich auszeichnet, dass es in allem Empirischen enthalten ist, so
sind eben doch diese Synthesen keine abgelösten Gedanken-
formen mehr. Damit scheint sich die gewöhnliche Autfassung
der formalen Logik, die vorgibt sich nur mit den Verknüpfungs-
formen zu beschäftigen, als eine Täuschung herauszustellen. In
der That ergibt sich eine Berichtigung dieser Ansicht. Die Logik
kann allerdings nicht mehr* formal in dem Sinne genannt werden,
dass sie es bloss mit der absoluten Verknüpfuugshandlung zu
thun hätte, denn diese ist gar nicht bei ihr zu finden. Selbst
ihre allgemeinsten Functionen sind schon Verschmelzungen der
Synthesis mit den Verhältnissvorstellungen. Es genügt, dafür
Gl VIII. Das Priiicip der nuiteriellen Verknüpfung.
auf den Begriff der Quantität hinzuweisen. Ja man muss viel-
mehr sagen, die Mögliehlieit dieser Wissenschaft beruht gerade
darauf, dass sie nicht formal in dem abgelehnten Sinne ist. Denn
nur dadurch, dass sie sich auf eine Mannigfaltigkeit des Inhalts
beziehen kann, ist sie im Stande von einer Handlung zu sagen,
dass eine Mehrheit anderer Handlungen in ihr enthalten sei. Wenn
man also die Logik formal nennt, so muss darunter vielmehr
nur verstanden werden, was früher (§ 20) aufgestellt worden
ist, dass sie die Notwendigkeit ihrer Urtheile nicht von der Au-
scliauung von Gegenständen, sondern von andern Urtheilen ab-
leitet, über deren objective Gültigkeit sie selbst nicht entscheidet.
Vin. Das Priucip der materielleu Verkuüpfiiug.
1. Vierter Grundsatz.
IIU. Wir gehen nun dazu über, die entdeckten drei Be-
dingungen der Erfahrung genauer zu prüfen und womöglich in
eine Fassung zu bringen, welche ' den Charakter und die Trag-
weite ihrer Forderung in ganzer Schärfe zum Ausdruck bringt.
Um aber ein richtiges Kesultat zu gewinnea, müssen wir uns
immer wieder die alte Vorsichtsmassregel ins Gedächtniss zurück-
rufen, dass diese Gesetze ihre ursprüngliche Notwendigkeit nur
so lange bewahren, als wir ihnen auch nicht die Spur eines Ge-
dankens beimischen, der für die Möglichkeit einer zusammen-
hängenden Erfahrung entbehrlich ist. Im Hinblick auf diese
Einschränkung unserer weitern Bearbeitung haben wir daher jede
neue Formulirung sorgfältig zu begründen, '•''j
111. Jede Synthese von Vorstellungen enthält auch eine
Synthese von Empfindungen. Denn Raum und Zeit, in abstracto
vorgestellt, können keiner Verknüpfung zu Grunde liegen, da
sie nichts Mannigfaltiges enthalten.
Unter Empfindung versteht die Erkenntnisstheorie die letzten
Bestandtheile der Vorstellungen. Empfindungen sind die einfach-
sten, nicht weiter zerlegbaren Zustände des Bewusstseins. Das
Bewusstsein kann zwar in Wirklichkeit eines solchen Elementar-
zustandes niemals iuiie werden; al>er die erkenntnisstheoretische
1. Vierter Grundsatz. 65
Analyse des Vorstellungsinhaltcs nötigt uns, sein Dasein vor-
auszusetzen (§ 42),
112. Jede , Vorstellungsverknüpfung iuvolvirt also eine Syn-
these solcher einfachsten Bewusstseinszustände. Aus den Zu-
ständen muss ein Zustand werden. Wie ist eine solche Einheit
möglich? Sie kann nur dadurch zu Stande kommen, dass von
dem Zeitpunkt an, wo die Verknüpfung beginnt, bis zu dem, wo
sie endet, diese einfachen Zustände sich so aneinanderreihen,
dass ein ununterbrochenes Bewusstsein entsteht. Es darf
sich zwischen die einzelnen Elemente Nichts einschieben, was
kein Bewusstseinszustand wäre. Denn an einem solchen Punkte
würde die S}Tithese, da ihr das Material fehlte, nicht fortgesetzt
werden können , sie würde aufhören und beim Wiedereintritt
eines Bewusstseinszustandes neu beginnen müssen. Es würde
also niemals eine Einheit des Bewusstseins , sondern nur eine
Summe zusammenhangloser Bewusstseinselemente entstehen. Die
Verbindung von Bewusstseinszuständen, welche über keine Lücken
springen darf, durch keine Punkte der Bewusstlosigkeit unter-
brochen wird, heisst stetig oder continuirlich. Somit können
wir sagen: Die Continuität der Verknüpfung ist Bedingung der
Bewusstseinsidentität oder die Vorstellungseinheit ist nur durch
continuirliche Synthesis der Empfindungen möglich.
113. Man kann das bildlich so ausdrücken, dass man sagt:
Alle Bestandtheile der Vorstellungseiuheit müssen über dem Null-
punkt des Bewusstseins stehn. Sie müssen ein Plus, eine be-
stimmte Stärke, eine positive Grösse des Bewusstseins haben.
Brauche ich den Ausdruck Grösse, so ist allerdings auch das
uneigentlich zu deuten. Jede Grösse ist zusammengesetzt. Das
Empfindungselemeut kann sich aber nicht wieder als ein Com-
positum darstellen, da es ja sonst gar nicht Element wäre und
die Untersuchung sich von ihm ab zu seinen Urbestandtheilen
zu wenden hätte. Unter Grösse kann hier nur eine Quantität
verstanden werden, die in einem einzigen Zeitmoment wahr-
nehmbar ist. Wir müssen sie daher genauer innerliche, inten-
sive Grösse nennen. Mit Benutzung dieses Begriffs können wir
das Urtheil aussprechen: Alle Empfindungen haben intensive
Grösse,
114. Wenn wir nun das bisherige Ergebniss aufmerksam
betrachten, so scheint sich mit dem Gewinn ein sehr bedenk-
Stadler, Erkenntnisstheorie. 5
66 VIII. Das Princip der inateriellen Verknüpfung.
licher Verlust zu verbinden. Scheinen wir nicht durch die Forde-
rung der Continuität der Empfindungen gleichzeitig die für die
Bewusstseinsidentitjit ebenso unentbehrliche Mannigfaltigkeit
des Vorstellungsinhaltes aufzuheben? Denn wenn die Mannig-
faltigkeit nicht darin besteht, dass der Inhalt durch Punkte der
Bewusstlosigkeit eingetheilt wird, wenn ich mir also die einzelnen
Bewusstseinszüstände nicht getrennt denken darf, so gibt es eben
keine einzelnen.
Die synthetische Einheit braucht gar nicht erst zu werden,
sie ist schon gegeben. Das Bewusstsein kann sich nicht als
Einheit erkennen, da es sich nicht als constante Bestimmung
einer Vielheit findet.
Es fragt sich also : Kann ich eine ununterbrochene Synthese
der Bewusstseinselemente, aber doch zugleich eine Mannigfaltig-
keit derselben postuliren? Ich kann es, weil ich es muss. Beide
Bedingungen sind für die Identität des Bewusstseins gleich not-
wendig.
Wenn die Mehrheit des Inhalts nicht in der räumlichen und
zeitlichen Trennung gesucht werden darf, so bleibt nur Eine Quelle
für sie. Die Empfindungselemente müssen, obgleich sie sich
eontinuirlich aneinander reihen, dadurch gesondert erscheinen,
dass sie sich dem Bewusstsein in verschiedenen Arten einver-
leiben, mannigfache Weisen des Einflusses darstellen. Die Fähig-
keit der Empfindungen, sich ohne bewusstlose Intervalle von ein-
ander zu unterscheiden, nennt man ihre Qualität. Von diesem
Begriff kann man sich a priori nicht die mindeste Vorstellung
machen; denn er bezieht sich ja auf das specifisch Empirische.
Aber seine allgemeine Aufstellung hat durchaus keinen empiri-
schen Ursprung, ist nicht aus der Erfahrung abgelesen und kann
daher auch nicht durch sie umgestossen werden. Doch muss
man sich auch streng davor hüten, die Qualität irgendwie und
wäre es auch ganz allgemein bestimmen zu wollen. Schon ein
Urtheil darüber, ob die Qualität vielleicht in die Verschiedenheit
der intensiven Grösse oder noch ausserdem in eine andere Diffe-
renz zu setzen sei, würde nicht den mindesten Anspruch auf
absolute Notwendigkeit haben.
115. So müssen wir also antccipando dem Vorstellungs-
inhalt zwei Eigenschaften zuschreiben: einerseits muss er stetig
verknüpfl^ar, andererseits qualitativ verschieden sein. Unser
2. Erläuterungen und Folgerungen. 67
Princip der materiellen Verknüpfung lautet also In voller Prä-
cision: Jede Vorstellungsverknüpfung- enthält eine continuirliche
Synthesis von Empfindungs-Qualitäten. Oder: Jeder Gegenstand
der Erfahrung ist eine stetige Einheit qualitativ verschiedener
Empfindungen. '')
2. Erläuterungen und Folgerungen.
1 1 6. Es ist nützlich, dieses Princip durch Abweisung einer
naheliegenden, scheinbaren Instanz zu illustriren. Mau könnte
einwerfen: Wie soll denn Erfahrung nur durch eine continuir-
liche Synthese der Wahrnehmungen möglich sein, während doch
in Wirklichkeit das Bewusstsein die häufigsten Unterbrechungen
erleidet? Erstreckt sich unsere Erfahrung nur über den Zeitraum
eines Tages, machen nicht Schlaf oder Ohnmacht oder irgend
eine Narkose die Einheit des Bewusstseins zu nichte?
Dieses Missverständniss bekundet sich unmittelbar als Ver-
wechslung erkenntuisstheoretischer mit psychologischer Wahrheit.
Der Grundsatz behauptet durchaus nicht, dass von der psycho-
logischen Geschichte unseres Ich die Zustände der Bewusstlosig-
keit ausgeschlossen seien — das wäre ein nur empirisch zu be-
stätigendes Urtheil — ; er sagt vielmehr, dass solche Zustände
in keiner Bewusstseinsfolge, die eine objective Geltung hat, als
Glieder enthalten sind. Notwendig ist diejenige Synthese, au
welcher sich die Einheit des Bewusstseins erzeugt. Letztere
kommt aber nur dadurch zu Stande, dass nicht das kleinste
Moment der Bewusstlosigkeit zwischen zwei Punkten der Ver-
knüpfung enthalten ist.
Wenn nun aus psychologischen Gründen der Process der
Synthese unterbrochen wird, so braucht darum noch nicht die
erkenntnisstheoretische Stetigkeit der synthetischen Einheit ver-
loren zu sein. Ja nur insoweit sie es nicht ist, wird Einheit
des Bewusstseins, also zusammenhängende Erfahrung möglich.
Gegenstände der Erfahrung können uns nur gegeben werden,
wenn auch dafür physiologische Bedingungen vorhanden sind,
dass die factisch vorkommenden Zustände der Bewusstlosigkeit
die Continuität der Synthesis nicht zerstören. Wenn ich erwache,
kann ich mir meiner als identischen Subjects nur dadurch be-
wusst werden, dass ich die Vorstellungen, welche mein Bewusst-
68 VIII. Das Princip der materkUcu Verknüpfung.
sein vor dem Einschlafen besetzt li.atten, mit denen nach dem
Erwachen in continuirlichen Zusammenhang setze. Ich verknüpfe
die Empfindungen nicht discret, wie sie in den wirklich auf-
einanderfolgenden Bewusstseinszuständen (des Einschlafens und
Erwachens) enthalten smd, sondern ich verknüpfe sie so , wie sie
in den continuirlich sich aneinander reihenden Bewusstseinszu-
ständen enthalten gewesen wären. Was in meinem Bewusstsein
sich folgte, war der helle Tag auf die tiefe Nacht. Aber ich
bin weit entfernt für diese Succession objective Gültigkeit zu
behaupten. Ich suche mir vielmehr mit Hülfe der mir zu Gebote
stehenden empirischen Methoden diejenige Succession von Em-
pfindungen vorzustellen, welche stattgefunden hätte, wenn mein
Bewusstsein nicht auf den Nullpunkt hinabgesunken wäre. Und
dieses Urtheil gebe ich allein für allgemein gültig, d. h. ob-
jectiv aus.
An diesem Beispiele zeigt sich recht scharf die eigentüm-
liche Herrschaft erkenntnisstheoretischer Grundsätze. Auf die
blosse Einheit des Bewusstseins gründen wir Urtheile über den
stetigen Zusammenhang unserer Vorstellungen und sind von ihrer
Notwendigkeit überzeugt, selbst in den Fällen, wo die Erfahrung
uns zu widersprechen scheint. Wir wissen, dass alle unsere Vor-
stellungen so beschaffen sein müssen, dass wir sie in diesen Zu-
sammenhang bringen können. Sobald wir urtheilen, beziehen
wir die Vorstellungen auf ein identisches Bewusstsein und in
diesem erscheint aller Inhalt so unter der einheitlichen Zeit-
anschauung zusammeugefasst, dass auch nicht ein einziger Zeit-
punkt von Empfindung leer ist. Selbst unsere Zustände der Be-
waisstlosigkeit erscheinen als zeitliche Ereignisse, die einen An-
fang und ein Ende haben; wir reproduciren die Wahrnehmung
von uns selbst, wie wir allmälig das Bewusstsein verlieren, bis
wir uns schlafend als ein nur äusseres Object erscheinen. Dieses
bringen wir zu den anderen Gegenständen in die gesetzmässigen
Beziehungen und reproduciren nun das ganze äussere Geschehen
jenes Zeitabschnittes, als ob es sich damals in unserm bewusst-
losen Innern hätte spiegeln können. In diesem Vorgang enthüllt
sich die allertiefste und Avunderbarste Wirkung der synthetischen
Bewegung des Erkenntnissprocesses. Wenn es bei seiner Vor-
stellungsverknüpfung an unbewusste Zustände gelangt, so löst
sich das erkenntnisstheoretische Bewusstsein gleichsam von dem
2. Erläuterungen und Folgerungen. 69
zum blossen Körper gewordenen Subjecte und glaubt dieses
letztere mit seinen Objeeten als unabhängiger Zuschauer zu er-
kennen. Das höhere, letzte Subject übernimmt hier gleichsam
die Function des empirischen (vgl. § 72), und die inneren Zu-
stände des letzteren, welche gleich Null sind, werden nicht als
Factor in das Ertahrungsgesetz mit aufgenommen.
117. Von diesen Bemerkungen lässt sich noch eine wichtige
Anwendung machen. Wenn die Psychologie Ursache zu haben
glaubt'') die Zeit als ein discretes Gebilde aufzufassen, und sich
dafür auch auf die „zeitlosen" Zustände des Schlafes und der
Ohnmacht beruft, so folgt aus dem Obigen unmittelbar, dass
diese Ansicht jedenfalls für den erkenntnisstheoretischen Begriff
der Zeit keine Geltung hat. Wenn Avir die Continuität der Zeit
auch nicht schon direct aus ihrer Beschaffenheit darthun könnten
(§ 61), so würde sie aus unserm Grundsatz folgen. Wenn die
Zeit die Form der Wahrnehmung ist, d. h. wenn alle Bewusst-
seinszustände als Theile der Zeit erscheinen, so ist sie stetig;
denn nach unserm Princip können zwei Bewusstseinszustände
nicht durch einen Nullpunkt des Bewusstseins getrennt sein; nun
kann aber bloss ein solcher Nullpunkt eine Unterbrechung der
Zeit bewirken, denn alle Bewusstseinszustände sind Theile von
ihr; also ist sie eine contiuuirliche Grösse.
118. Aus diesem Grundsatz entspringt nun ein sehr wich-
tiger Begriff. Die Vorstellung von der Einheit der Empfindungen
ist nichts Anderes als die Vorstellung des Seins. In der Vor-
stellungseinheit, welche wir Gegenstand nennen, kommt der
Synthese als solcher kein Dasein zu; sie existirt erst an der
zu verbindenden Materie. Dieser Stoff sind aber nicht die
Verhältnissvorstellungen Kaum und Zeit, die selbst erst an einem
Mannigfaltigen ins Leben treten müssen. Erst in der Empfin-
dung erhalten wir etwas Ursprünglich - Gegebenes , ein Selbst-
ständig-Seiendes, dessen Existenz nicht wieder ein Datum an-
derer Beschaffenheit voraussetzt. Die Empfindung bildet den
subjectiveu Urstoff, den das formende Subject zur Objectivität
zusammenordnet. Unter Kealität eines Gegenstandes müssen
wir im scharfen Sinne die Vorstellung seiner materiellen oder
Empfindungseinheit verstehen.
Dieser Begriff der Kealität fällt also nicht etwa zusammen
mit jener subjectiven Wirklichkeit, welche durch den zweiten
70 \UL Das Priiicip der matcrielleu Verknüpfung.
Grundsatz (§ G7) von jeder Vorstellung vorausgesetzt wurde.
Er entsteht erst aus dem Gegensatz der verschiedenen Factoren,
welche das Object produciren. Subjectiv wirklich, d. h. frei
von Schein ist jede Empfindung für sich; real im Sinne des
vierten Grundsatzes ist sie nur als Eigenschaft des Objectes, als
Bestandtheil der materiellen Verknüpfung.
Es muss hier hervorgehoben werden, dass in dem BegriflF der
Realität nichts darüber enthalten ist, ob die Empfindung repro-
ducirte oder unmittelbare sei. Diese zeitlich räumliche Bestim-
mung des Realen muss der Erfahrung überlassen bleiben.
1 1 9. Wenn wir uns denken, dass an irgend einem Punkte
der Erfahrung Empfindung nicht gegeben sei, so erhalten wir
die allgemeine Vorstellung des Nichtseins, der Negation. Aber
da eine solche Vorstellung in eine Einheit nicht eingehen kann,
so kann sie sich niemals auf einen Gegenstand beziehen. Sie hat
also bloss subjective Bedeutung als Ergänzung des Begriffs der
Realität. Indem wir uns ein Aufhören, einen Nullpunkt der
intensiven Grösse vorstellen, machen wir uns den inhaltleeren
Begriff der Negation.
Einen Sinn erlangt die Vorstellung des Nichtseins erst durch
die zweite Bedingung, welche im Princip der materiellen Ver-
knüpfung enthalten ist (§ 114). Ausser der Intensität wurde von
der Empfindung auch Qualität gefordert. Insofern wir nun in
einer Vorstellungseinheit ein Nichtsein denken, nicht in Bezug
auf die Existenz der Empfindung überhaupt, sondern in Bezug
auf eine bestimmte Qualität derselben, kommt der Negation eine
objective Bedeutung zu. Eine bestimmte Empfindung kann als
zu einer gemachten Synthese nicht gehörig erscheinen, sie ist
also an dem durch die Synthese erzeugten Object nichtseiend.
Somit gibt es ein objectives Nichtsein von Qualitäten. "^) Der
so dcfinirte Begriff spielt eine besondere Rolle bei der Betrach-
tung der Veränderung, wo die Qualität eines Gegenstandes auf
ihr vorangehendes Nichtsein bezogen wird.
120. Die erkenntnisstheoretischen Begriffe der Realität und
Negation garantiren der formalen Logik die objective Gültigkeit
ihrer fundamentalsten Handlungen. Es hat einen Sinn zu sagen:
Ein Urtheil oder ein Begriff ist schon in einem andern oder ist
in ihm nicht enthalten; denn dieser Satz ist nur die Beschrei-
bung einer vorhandenen Synthese. Diese Synthesen aber, auf
2. Erläuterungen und Folgerungen. 71
welche die formale Logik alle ihre Resultate gründet, sind die
gleichen Functionen, durch welche die Objecte der Erfahrung
erzeugt werden, und zeigen die Eigentümlichkeit, eine Mehr-
heit von Realitäten zu einer Vorstellung zu vereinigen, eine an-
dere Mehrheit aber in einzelnen Fällen nicht zu umfassen. Das
analytische Bejahen und Verneinen von Vorstellungsverknüpfungen
In der formalen Logik deckt sich also mit dem synthetischen
Sein und Nichtsein der ursprünglichen materiellen Einheit und
vermag also in der That ein Bild des Sachverhaltes, des ob-
jectiven Zusammenhangs zu liefern. ''')
121. lieber den dritten in unserm Princip enthaltenen Be-
griff von der Qualität ist wenig hinzuzufügen. Wenn ich ihn
dritten Begriff nenne, so soll damit nicht etwa eine Nebenord-
nung von Realität, Negation und Qualität angedeutet sein. Eigent-
lich sind es zwei Grundbegriffe, unter welche alle Vorstellungen
subsumirt erscheinen: Realität und Qualität. Dazu tritt als
blosser Grenzbegriff des ersteren die Negation. Indem wir die
Negation auf die Qualität anwenden, erhalten wir den Begriff
des Nichtseins der bestimmten Qualität. ^^} Man kann aber auch
die Qualität als eine fundamentale Bestimmung der Realität auf-
fassen und beide Begriffe vereinigen. Dann hat man zwei Grund-
begriffe: qualitative Realität und Negation. =^1)
Unter Qualität darf man nichts Anderes verstehen als die
allgemein vorgestellte Verschiedenheit des Realen. Sie ist ein
Grundbegriff als Bedingung der Erfahrungsmöglichkeit. Ausser
dem Dasein wird auch ein Anderssein, ausser der Intensität
eine Verschiedenheit der Reize erfordert.
Worin die Qualität besteht, kann nur empirisch bestimmt
werden, weil es für die Erfahrungsmöglichkeit vollkommen gleich-
gültig ist. Es kann sich herausstellen, dass die Empfindungen
auch ihrer intensiven Grösse nach verschieden sind oder viel-
leicht, dass die Qualität überhaupt nur in der Differenz der In-
tensität liegt — unser Princip wird dadurch seinem Wesen nach
nicht berührt, und könnte höchstens in seiner Fassung einige
Vereinfachungen erleiden.
Die Qualität der intensiven Grösse, welche sich empirisch
als mannigfaltig herausstellt, heisst Grad. Der Grad gehört nicht
in einen allgemeinen erkenntnisstheoretischen Grundsatz, da er
sich nicht aus dem reinen Begriff der Erfahrung ergibt. Noch
72 VIII. Das Princip der materiellen Verkuüpfung.
weniger aber irgend eine Eigenschaft desselben, z. B. die Con-
tinnitilt, die vielleicht nur inductiv nach Untersuchung der
einzelnen Empfindungen, jedenfalls aber deductiv erst nach Auf-
nahme des empirischen Begriffs der Materie in der Naturphilo-
sophie aufgestellt und behauptet werden kann.
122. Nachdem das Bewusstsein einmal in den Besitz dieser
Begriffe gelangt ist, bedarf es auch der strengsten Disciplin, um
von ihrem Missbrauch abgehalten zu werden. Gerade hier tritt
die Gefahr, welche oben (§ 105) im allgemeinen angedeutet
wurde, recht offen zu Tage. An dem Begriffe eines mannig-
faltigen Realen ist das Gepräge der Herkunft unkenntlich ge-
worden; er scheint eine bedingungslose Herrschaft zu üben. Das
forschende Bewusstsein, dessen Trieb, den vermeintlichen Schleier
der Sinnen weit zu lüften, nicht ausgelöscht werden kann, meint
in ihm einen Ausblick zu gewinnen und freut sich, doch noch
ein Mittel gefanden zu haben, um das zu glauben, was es so
gern glauben möchte. Es überredet sich, dass dieser Begriff
eine klare und deutliche Erkenntniss sei, die keine Spuren der
Abhängigkeit von subjectivem Einflüsse an sich trage. Der Be-
griff von einem Gegenstande überhaupt, an welchen seine Hoff-
nungen noch geknüpft waren, von welchem es sich aber nicht
die mindeste Vorstellung hatte machen können, ist nun bestimmt :
Das Ding an sich ist, und es ist als ein mehrfaches! Selbst-
verständlich zieht dieser übersinnliche Genuss eine Zerrüttung
des ganzen Erfahrungs- Organismus nach sich. Die Erkenntniss-
theorie schützt vor dieser Schwärmerei durch die einfache kri-
tische Erinnerung, dass Realität und Qualität nichts sind als
Bestimmungen der Empfindung. Sie verlieren jeden Sinn, sobald
sie aus diesem Verbände gelöst werden.
123. Die Naturphilosophie oder allgemeine Naturwissen-
schaft, welche sich auf gewisse Grunderfahrungen aufbaut, findet
in dem Princip der materiellen Verknüpfung bedeutsame Ein-
schränkungen ihrer Untersuchung. Wenn nichts Existirendes ohne
intensive Grösse gedacht werden kann, so folgt, dass die Natur-
philosophie zu ihren Erklärungen die Vorstellung eines leeren
Raumes und einer leeren Zeit nicht verwerten darf. Denn die
leeren Anschauungen wären eben Wahrnehmungen von einem
Realen ohne intensive Grösse. Und zwar kann sie nicht nur
die wirkliche Wahrnehmung davon nicht behaupten, sondern sie
IX. Das Princip der räiiralichen Verknüpfung. 1. Fünfter Grundsatz. 73
darf auch nicht versuchen durch Schlüsse, durch notwendige
Hypothesen dazu zu gelangen. Denn was der Möglichkeit der
Erfahrung überhaupt widerspricht, kann niemals eine besondere
Erfahrung bedingen.
Ebenso unmittelbar geht ein Zweites aus dem Princip her-
vor. Die Naturphilosophie kann nicht hoffen, in der Reduction
ihrer Annahmen auf eine möglichst geringe Anzahl jemals dahin
zu kommen, dass sie Alles aus einem qualitativ identischen Da-
sein in Raum und Zeit erklärt. Schon die Erkenntnisstheorie
fordert eine von den Verhältnissvorstellimgen unabhängige Ver-
schiedenheit des Realen; die allgemeine Naturwissenschaft ver-
sucht es vergeblich, sich von der Notwendigkeit dieser Mehrheit
von Grundprincipien loszumachen. ^-)
Für diese Einschränkung ihrer Hypothesenfreiheit wird aber
die Naturwissenschaft reichlich entschädigt durch den Antheil
an unbedingter Gewissheit, welchen sie diesem Princip ver-
dankt. Es sichert ihr eine objective Grundlage, auf welcher sie
ihre empirischen Urtheile aufbauen kann. Es begründet die
letzten Annahmen, die ihr zur Erklärung- ihrer Beobachtungen
unentbehrlich sind. Man kann sagen, dass die Natur, welche
die Wissenschaft erforschen will, erst durch dieses Princip mit
Inhalt, mit Gegenständen erfüllt wird. *•')
I\. Das Princip der räiimlicheii Verknüpfung.
1. Fünfter Grundsatz.
124. Die Einheit der Empfindung-, das reale Object ist con-
stituirt. Wir haben nun zu untersuchen, was mit dieser Synthese
gleichzeitig vollzogen wurde.
Alle Empfindungen, welche zu einem Object zusammen-
gesetzt werden, erscheinen in der Ordnung der räumlichen An-
schauung. Mit dem Bewusstsein der Einheit der gegebenen
Elemente muss daher auch das Bewusstsein einer Einheit des
Raumes erzeugt werden. Denn damit wird ja überhaupt erst
die Bedingung geschaffen, unter welcher wir die mannigfaltigen
7-i IX. Das Princip iler räumlitheu Verknüpfung.
Empfiudiingen als zusammengehörig vorstellen können. Die Mög-
lichkeit des Beisammenseins hängt davon ab, dass die Elemente
in einen Raum gesetzt werden. Die Identität des Bewusstseins
ist also nur dadurch möglich, dass die erzeugende Verknüpfung
vor Allem eine einheitliche Raumanschauung producirt. Alle
Vorstellungselemente, welche auf ein Object bezogen werden
sollen, müssen, daher so beschaffen sein, dass das Gleichartige
an ihnen, welches macht, dass sie im Räume erscheinen, zu
einer Einheit zusammengesetzt werden kann. Die einzelnen räum-
ichen Beziehungen müssen zu einer Beziehung verschmolzen
werden können. Um z. B. eine einheitliche Verbindung von
Eindrücken als Linie zu objectiviren, muss ich die Eigenschaft,
welche diese Eindrücke zu Punkten macht, zu einem Ganzen
der Anschauung zusammensetzen.
125. Die Vorstellung dieser Methode, die räumlichen Be-
stimmungen zu einem Ganzen zusammenzufassen, heisst der Be-
griff der Grösse. '^^) Da die Grösse hier nicht schon in dem
einzelnen Theil, sondern erst in ihrer Aneinanderreihung, in
ihrem Aussereiuander liegt, mag sie extensive Grösse ge-
nannt werden.
126. Durch Einführung dieses Begriffs ergibt sich nun für
das Princip der räumlichen Synthese die Fassung: Jede Vor-
stellungsverknüpfung erzeugt eine extensive Grösse. Oder: Jeder
Gegenstand der Erfahrung ist eine extensive Grösse.
127. Au dieser Formel möchte zunächst auffallen, dass sie
ihre Geltung auf alle Objecto der Erfahrung ausdehnt. Nun be-
sitzen wir aber doch Anschauungen, die bloss in zeitlicher Ord-
nung erscheinen. Ist der Ton kein Gegenstand der Erfahrung,
und ist der Ton eine extensive Grösse? Wenn also der Satz
diese Allgemeinheit beansprucht, muss er jedenfalls noch für die
Zeit bewiesen werden. Die Rechtfertigung lässt sich erst später
beibringen. Hier nur so viel , dass sich nicht etwa der Begriff
der extensiven Grösse verändern wird. Derselbe bleibt für den
Raum definirt. Aber es wird sich zeigen, dass die zeitliche
Einheit ebenfalls die Erzeugung einer Grösse voraussetzt, welche
^vir Dauer nennen. Von dieser Grösse aber können wir uns nur
unter der Bedingung eine Vorstellung machen, dass wir sie als
extensive autfassen. So müssen schliesslich auch die „inneren"
Anschauungen unter diesen Begriff siibsumii-t werden, und das
2. Folgerungeu. 75
Priucip der räumlichen Verknüpfung beherrscht auch die Synthese
der Zeit. »^)
• 128. Das Priucip muss aber unmittelbar ein zweites Be-
denken erregen. Während in der Analyse des Vorstellungs-
inhaltes als Hauptertrag hervorgehoben wurde, die Einheits-
anschauung des Raumes liege aller Wahrnehmung zu Grunde
(Erster Grundsatz § 63), scheint jetzt die räumliche Einheit erst
durch das Zusammensetzen der Wahrnehmungen zu Stande zu
kommen. Ja die Definition der extensiven Grösse setzt sich mit
der Erklärung des Raumes in directen Widerspruch, wenn sie
sagt, dass die Theile erst das Ganze möglich machen, während
doch ausdrücklich eingeschärft wurde, dass die Theile des Raumes
nur Einschränkungen des gegebenen Ganzen seien (vgl. § 51).
Die Inconsequenz ist blosser Schein. Nicht nur die extensive
Grösse als Ganzes, sondern auch jeder einzelne Bestandtheil
derselben kann nur vorgestellt werden als Einschränkung des
allgemeinen, allumfassenden Raumes. Nun wird aber die exten-
sive Grösse nicht bloss als Bestimmung des Raumes, sondern
gleichzeitig in ihrer Verbindung mit der Empfindungseinheit als
Bestimmung eines Objectes gedacht. Die extensive Grösse kam
nur zu Stande in der Verbindung realer Elemente. Ihre Bedeu-
tung gewinnt sie nur dadurch, dass sie als Theil auf den als
vor ihr vorhanden gedachten Raum bezogen wird; ihr Dasein
aber erst durch die Verbindung vor ihr gegebener Theile. Der
Raum ist erkeuntniss theoretisch a priori, die Räumlichkeit, an
welcher jener erst zur Function gelangt, a posteriori. Die be-
stimmte Gestalt wird durch den Raum ermöglicht, nicht gegeben ;
sie ist das räumliche Bild einer synthetischen Handlung. Wenn
ich eine Linie ziehe, so ist der Raum, den sie einnimmt, nur
eine Abgrenzung der reinen Anschauung; die Linie als Object
aber ist das gewonnene Ganze empirisch gegebener Theile. Die
Widersprüche lösen sich also unmittelbar, wenn man sich vor
Augen hält, dass es sich bei diesem Princip nicht um die Pro-
ductiou des Raumes, sondern des Gegenstandes im Räume handelt.
2. Folgerungen.
129. Dieser Grundsatz hat eine Anwendung von allergrösster
Wichtigkeit. Er bildet das Fundament, auf welchem die reine
76 IX. Das Princip der räumliclicu Verknüpfung.
Grössenlehre ihre Apodicticität erbaut. ^'') Die Synthese, welche
nach ihm an jeder Anschauung vollzogen werden muss, ist die
gleiche Function, durch welche die Geometrie ihre Objecte con-
struirt. Die Geometrie ist, genau gesprochen, die Wissenschaft
von der Construction der Grössen. Sie betrachtet an den Gegen-
ständen, die sie sich selbst erzeugt, nur die Eigenschaften, welche
nach einer gewissen (in der Definition gegebeneu) Regel der
Verknüpfung producirt werden mussten. Ob sie das Dreieck in
der blossen Einbildung, oder im Sande, oder mit dem feinsten
Instrument auf einer Tafel entwirft, ist gleichgültig; an dem
Bilde vergegenwärtigt sie sich bloss die Function, durch welche
eine von drei geraden Linien eingeschlossene RäumUchkeit er-
zeugt wird. Nur was von dieser Function abhängig, was durch
sie mitgegeben ist, liefert ihr Stoff zu ihren allgemeinen Ur-
theilen über das Dreieck. Die übrigen Eigenschaften der ein-
zelnen Figur lässt sie unbeachtet. Ihre Ableitungen gründen sich
nur auf das Schema, nicht auf das Bild. Darauf beruht ihre
Allgemeingültigkeit. Was sie an einem Dreieck beweist, beweist
sie nur scheinbar an diesem bestimmten, sie beweist es an der
in ihm dargestellten Constructionshandlung, welche die Bedin-
gung für alle Dreiecke überhaupt ist. Daher muss es auch von
allen gelten.
Von dieser Allgemeingültigkeit muss man aber die Apodic-
ticität wohl unterscheiden, mit welcher die Geometrie die Gel-
tung ihrer Sätze für das ganze Gebiet der Erfahrung behauptet.
Was sie über ihr willkürlich construirtes Dreieck ausmacht, soll
sich auch auf alle dreieckigen Körper beziehen, die je in der Natur
vorkommen mögen. Sie will a priori die Gestalten aller em-
pirischen Erscheinungen untersuchen. Wenn diese Anmassung
unbegründet ist, so bietet uns die Geometrie keine Erkenntniss
von Objecten, sondern höchstens einen Einblick in den regel-
mässigen Zusammenhang unserer räumlichen Vorstellungen.
130. Die Rechtmässigkeit eben dieser Ajiodicticität ist es
nun, welche durch das Frincip der räumlichen Verknüpfung ge-
sichert wird. Indem es den Objecten der Erfahrung die näm-
liche Synthese als Bcdingurg ihrer Wahrnehmung auflegt, welche
den Gegenstand der Geometrie bildet, macht es diese auf die
Erscheinungen der Natur anwendbar. Wenn wir diese Synthese
2. Folgerungen. 77
Studiren und erkennen, so erforschen wir damit gleichzeitig die
Verhältnisse der empirischen Anschauungen. Unser Princip macht
die Bedingungen der Geometrie zu Bedingungen der sinnlichen
Anschauung. Ohne die Gültigkeit des Satzes, dass zwischen
zwei Punkten nur Eine gerade Linie möglich ist, kann die Geo-
metrie keine Wissenschaft sein. Nun enthält aber dieser Satz
nichts als eine Eigenschaft der räumlichen Synthese. Da aber alle
Gegenstände dieser Synthese unterworfen sind, so hat er ob-
jective Gültigkeit. Der Grundsatz der räumlichen Verknüpfung
heisst daher mit Recht das Princip der (objectiven Gültigkeit
der) Axiome. ^ ")
Die geometrischen Axiome sind Aussprüche über die ein-
fachsten Eigenschaften des Raums, welche auf Grund der un-
mittelbaren Anschauung, ohne Berufung auf vorhergegangene An-
schauungen geglaubt werden. Sie sind notwendig, weil wir uns
den Raum überhaupt nicht mehr vorstellen können, wenn wir
sie nicht gelten lassen; sie sind allgemeingültig, weil der Raum,
dessen allgemeine Natur sie beschreiben, eine einheitliche, ho-
mogene Anschauung ist. (Da alle Räume Theile des einen Raumes
sind, so können sie nicht für den einen Raum gelten, für den
andern aber nicht.) Als Principien der Geometrie sagen sie,
dass man überall diese Grundverhältnisse wieder finden muss
und voraussetzen darf, zu welchen Anschauungen man auch fort-
schreite, welche Räumlichkeiten man auch construire. **) Aber
mit alle dem ist über ihre reale Bedeutung nichts gesagt. Erst
unser Grundsatz, der den Raum mit allen seinen Eigenschaften
objectivirt, macht aus den Bedingungen der abstracten Geometrie
allgemeine Naturgesetze, aus den Beschreibungen räumlicher
Formen Schilderungen von Gegenständen.
131. Damit ist allerdings auch eine Einschränkung der Geo-
metrie verbunden. Sie wird ihre objective Gültigkeit nur so
lange behalten, als sie innerhalb des von dem Princip der Axiome
beherrschten Gebietes bleibt. Die extensive Grösse ist definirt
für den Raum, welchen die Analyse des Vorstellungsinhaltes als
Bedingung der Erfahrung aufgezeigt hat. Sollte sich die Grössen-
lehre veranlasst finden, auch über einen anders beschafi'enen
Raum zu urtheilen, so muss sie auch von diesem Punkte an
jeden Anspruch aufgeben, Erkenntniss von Gegenständen zu
liefern. Der erkenntnisstheoretische Raum ist nicht nur ein mög-
7S I^^- I^i^s rrincii» der räumlichen Verknüpfung.
lieber Be2,i'ift', sondern ausserdem eine gegel)ene Anschauung.
Ein Kaum von n Dimensionen mag ein logiscli tadelloser, d. li.
widerspruchsfreier Begriff sein; so lange er nicht angeschaut
werden kann, muss ihm jede Gültigkeit für die Natur abge-
sprochen werden. Die Mathematik stellt in diesem Falle nur
noch logisch richtige Folgerungen aus der Verbindung blosser
Regeln dar, ohne sie in ihrer Anwendung zeigen 7A\ können.
Sie ist dann ebensogut übersinnlich geworden wie die Physik,
wenn sie leere Räume, oder die Metaphysik, wenn sie leere Be-
griffe combiuirt.
lo2. Au dieser Stelle entspringt nun ein anderer wichtiger
Begriff, Die Vorstellung der extensiven Grrösse führt zur Vor-
stellung des „AVie gross?" Wenn ich eine räumliche Synthese
vollzogen habe und hierauf noch eine andere producire, so kann
ich fragen, welche einen grössern Theil des Raums einnehme,
ich kann sagen, dass die eine so und so viel mal grösser sei
als die andere. Diese aus der Vergleichuug zweier Synthesen
entstehende Vorstellung der relativen Grösse heisst die Zahl.
Die erste Synthese wird als einfaches Element einer neuen Ver-
knüpfung angesehen. Ein anderer Begriff der Gleichartigkeit
tritt auf. Die Bestandtheile der neuen Zusammensetzung sind
nicht mehr bloss gleichartig, weil sie alle räumliche Stellen,
sondern weil sie alle dieselben Grössen sind. Die neue Syn-
these bildet ein neues Ganzes aus gleichen Theilen. ^") Aus der
Betrachtung des Elementes, seiner successiven Zusammensetzung
und des erzeugten Ganzen fliessen die Begriffe der Einheit, der
Vielheit und der Allheit. Es sind das keine Grundbegriffe, denn
sie enthalten keine Bedingungen der Erfahrungsmöglichkeit; aber
nichts destoweniger sind sie rein von aller empirischen Bei-
mischung, denn sie setzen nichts voraus, ausser der ganz all-
gemeinen Synthese der extensiven Grösse. ■^^)
133. Indem die Mathematik für die relative Grösse und
die verschiedenen Möglichkeiten der Vergleichuug nach allge-
meinen Regeln eine feste Bezeichnung einführt, kann sie die
Verhältnisse der Zahlen untersuchen, ohne sie im Räume wirk-
lich darzustellen. Zunächst kann sie, anstatt Räumlichkeiten an-
einanderzureihen, Punkte hintereinandersetzen; dann mag sie diese
Bilder durch die bequemeren Zeichen der Ziffern vertreten lassen,
die Verbindungsarten der Ziffern endlich durch Corabinationen
2. Folgerungen. 79
von Buchstaben — iminer wird sie die blosse Handlung' der
Synthese mit gleicher Präcision fixirt und anschaulich gemacht
haben. So gelaugt die Mathematik zur Wissenschaft der Rech-
nung, welche nichts Anderes ist als eine symbolische, aber
durchgängig gesetzmässige Construction der relativen Grössen.
Ob die Mathematik die Zahl als continuirliches oder als
discretes Gebilde aufzufassen habe, ist hier nicht zu erörtern.
Es genügt die Bemerkung, dass nach der obigen Ableitung beide
Auffassungen einen Sinn haben. In einem Falle bedeutet das
Zählen das Aneinanderreihen von räumlichen Grössen in der
Weise, dass sie sich au ihren Grenzen berühren ; im andern Falle
sind die Einheiten durch Räume getrennt zu denken, welche bei
der Zählung nicht in Betracht kommen sollen.
Es folgt von selbst, dass auch die Zahlenlehre für ihre ob-
jective Gültigkeit sich allein auf das Princip der räumlichen
Verknüpfung berufen kann. Dass Gegenstände sich zählen lassen,
beruht nur darauf, dass sie extensive Grössen, d. h. Theile Eines
Raumes sind. *") Weil sie selbst nur als Einschränkungen eines
Ganzen erscheinen, kann ich sie als ein Ganzes von Einschrän-
kung betrachten; weil sie nur Beschränkungen einer einheit-
lichen, homogenen Anschauung sind, ist es möglich sie zu ver-
gleichen. So begründen die Axiome der Anschauung nicht nur
die Gültigkeit der Geometrie, sondern auch die der Arithmetik.
Die genauere Untersuchung gehört nicht in die reine Erkennt-
nisstheorie. Zur Illustration der relativen Grösse sei hier noch
auf die Axiome hingewiesen, dass das Ganze grösser als sein
Theil und gleich der Summe seiner Theile sei ; ferner dass zwei
Grössen dann gleich seien, wenn sie aufeinandergelegt in ihrer
ganzen Ausdehnung zusammenfallen.
Wenn wir der Zahl diese erkenntnisstheoretische Bedeutung
zugestehen, so wird für uns die unendliche Zahl oder das un-
endliche Zählen eine Vorstellung, der wir objective Gültigkeit
nicht versagen dürfen. Ein unendlich fortgesetztes Hinzufügen
von Einheiten zu einer gegebenen Zahl bedeutet für die Wirk-
lichkeit ein unaufhörliches Aneinanderreihen räumlicher Gebilde.
Dass es aber für die Ausdehnung des Raumes eine wissenschaft-
liche Schranke nicht gibt, hat schon seine anfängliche Analyse
gelehrt Aus demselben Grunde folgt, dass die Vorstellung einer
Zahlenreihe, die nach zwei Seiten hin unendlich wird, nichts
80 IX. Das Priiicip der räuniliclicn Verknüpfung.
Widersinniges enthält; wir können jede Raumdimension in zwei
Ricbtung-en durclimessen, nach zwei Richtungen Raumelemente
aneinanderreihen.
Die frühere Beschränkung ist also selbstverständlich auch
für die Zahlenlehre zu wiederholen. Ihre Resultate sind an-
wendbar auf die Erfahrung, so lange sie auf den erkenntniss-
theoretischen Raum reducirt werden können. Schweift aber die
symbolische Construction darüber hinaus und wird sie genötigt
zur Rechtfertigung ihrer Bedeutung einen andern Raum voraus-
zusetzen, so enthüllt sie nicht mehr Eigenschaften der Natur,
sondera nur noch der gesetzmässigen Combinationsfähigkeit un-
serer Vorstellungen.
134. Mit der objectiven Gültigkeit der Zabl ist auch die
reale Bedeutung der quantitativen Urtheilsform der Logik ge-
wonnen. Da es einen Sinn hat von einer Einheit, Mehrheit
und Allheit der Gegenstände zu reden, so ist es auch wertvoll
zu untersuchen, was für Urtheile sich mit Rücksicht auf diese
Begriffe aus ursprünglichen Verknüpfungen ableiten lassen. Das
geschieht in der formalen Logik. Man kann sie daher in dieser
Hinsicht Grössenlehre der Begriffe nennen. Aber man darf sich
durch diesen Titel nicht verführen lassen die Logik etwa als
allgemeine Grössenlehre der Mathematik überzuordnen und letz-
tere nur als eine specielle Anwendung derselben zu betrachten.
Beide Wissenschaften sind gründlich verschieden. Die Mathe-
matik hat einen eminent materialen Charakter. Denn einmal
prüft sie (mit Ausnahme der metaphysischen Principien) stets die
Notwendigkeit der ursprünglichen Urtheile, aus denen sie ihre
Resultate entwickelt. Ferner besteht die Ableitung selbst nicht,
wie bei der formalen Logik, bloss in der Aufzählung der iu der
ursprünglichen Synthese mitenthaltenen Handlungen, sondern sie
betrachtet die ursprüngliche Synthese mit Rücksicht auf die durch
sie erzeugten Data der Anschauung. Die Logik fragt bloss:
Was liegt in dem gegebenen Urtheil? die Mathematik: Was
schafft es für Bedingungen der Anschauung? Sie zieht die An-
schauung als Medium herbei, um das neue Urtheil mit dem
ursprünglichen zu verbinden. Sie kann daher aus diesem heraus-
treten und nicht nur eine deutlichere, sondern auch eine erwei-
terte Kenntniss gewinnen. Während die Logik die wenigen
Formen der Verknüpfung leicht erschöpfen und sich daher rasch
X. Das Princip der zeitlichen Verknüpfung. Sechster Grundsatz. Sl
ZU einer extensiv vollkommenen Wissenschaft abschliessen kann,
bietet der Mathematik die Beobachtung ihrer räumlichen oder
symbolischen Constructionen ein unendliches Material für stets
neue Entwicklung.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich auch , dass die in der
Logik übliche, bald verspottete, bald vertheidigte '■^-) Darstellung
der Urtheilsverhältnisse durch geometrische Figuren mehr ist als
ein Gängelband des abstractiousträgen Verstandes. Sie kann sich
erkenntnisstheoretisch rechtfertigen als Erinnerung an die objec-
tive Bedeutung der Zahl. Die Sphärenvergleichuug greift zurück
auf die Entstehung der Zahl aus der extensiven Grösse und er-
klärt die Quantität als relatives Quantum.
X. Das Priucip der zeitliclieii Yerkiiüpfiiiig.
Sechster Grundsatz.
135. Da sich alle Wahrnehmungen in der Form der Zeit
dem Bewusstsein einverleiben, so ist jede Vorstellungseinheit
notwendig eine zeitliche Einheit.
Es fragt sich, ob es nötig ist, diese Einheit in einem eigenen
Grundsatze zu fordern, oder ob sie nicht schon in dem Priucip
der materiellen Verknüpfung, das die Continuität des Bewusst-
seins aufstellt, enthalten sei. Man könnte glauben, dass, wenn
die Empfindungen in der Zeit erscheinen und sich stetig anein-
anderreihen, damit auch die einheitliche Verknüpfung der Zeit
gegeben sei. -''*)
Dem ist nicht so. Die continuirliche Zusammensetzung der
Wahrnehmungen ist keineswegs selbst schon die Vorstellung ihrer
zeitlichen Einheit; sie ist bloss ihre conditio sine qua non. Jenes
Gesetz bewirkt erst, dass überhaupt ein Stoff für die Synthese
gegeben werden kann. Dass ich aber successive verschiedene
Eindrücke empfange, das ermöglicht mir noch nicht die Be-
hauptung, dass dieselben Bestandtheile einer einzigen Zeitan-
schauuug ausmachen. Das Nacheinander meines Bewusstwerdens
ist noch nicht das Bewusstwerden eines Nacheinander. Wenn
Stadler, Erkenntnisstheorie. 6
82 X. Das Priiicip der zeitlichen Verknüpfung.
wirdie empirisch zusammenkommenden Wahrnehmungen einfacli
aufnähmen, so würden wir gleichsam nur Buchstaben, nicht Worte
von allgemeiner Bedeutung, Erfahrung, lesen. Eine Zeiteinheit
erkenne ich erst dann, wenn ich das Bewusstsein habe, dass
mehrere Momente meines Vorstellens zeitlich so zusammenge-
hören, dass ich den einen ohne die entsprechende Zuordnung
des andern überhaupt nicht reproduciren kann. Sobald ich mir
denk^, dass die Vorstellung eines Zeitpunktes die eines andern
unausbleiblich nach sich zieht, werden mir beide zu etwas Zu-
sammenhängendem, zu einem Ganzen, bilden Theile Einer An-
schauung, gehören zu Einer Zeit. Eine solche untrennbare Zu-
sammengehörigkeit der Wahrnehmungen kann ich aber niemals
aus der Erfahrung ablesen. Da würde sich höchstens zeigen,
dass sie bald in diesem, bald in jenem Verhältnisse, und im
einen häufiger als im andern erscheinen; niemals aber könnte
geschlossen werden, dass eine solche Verbindung überhaupt un-
auflöslich sei. Die V^orstellung einer notwendigen Zusammen-
gehörigkeit von Erscheinungen kann also nur aus dem Bewusst-
sein entspringen, dass die Handlung der Synthese nach einer
unumgänglichen Kegel geschehe. Die für die Identität des Be-
wusstseins erforderliche Zeiteinheit kann somit nur unter Vor-
aussetzung einer Notwendigkeit der Verknüpfung erzeugt werden.
Wir müssen also den Grundsatz aufstellen:
136. Jede Vorstellungsverknüpfung enthält eine notwendige
Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit. Oder: Jeder
Gegenstand der Erfahrung ist seinem Zeitverhältnisse nach ge-
setzmässig bestimmt. ■'^)
137. Damit haben wir ein neues Urtheil von ursprünglicher
Notwendigkeit gewonnen; wir können a priori behaupten, dass
alle emi)irischen Verhältnisse einer allgemeinen Regelmässigkeit
der Zeitbestimmung entsjjrechen werden. Nun ist auch die letzte
Quelle objectiven Urtheilens erreicht. Dieses Princip bildet den
Schlussstein in der erkenntnisstheoretischen Construction des
Gegenstandes. Bisher wussten Avir von dem Sein, dass es aus
intensiven Qualitäten bestehe und jedenfalls zu extensiven Grössen
zusammengesetzt werden müsse. Aber damit war immer bloss
die Möglichkeit des Objects erklärt. Sein wirkliches Dasein
aber blieb zweifelhaft, so lange nicht bewiesen war, dass der
in der Zeit verlaufende Nexus der Empfindungen nach Regeln
XL Das Princip der Beharrung (Substanz). 1. Siebenter Grundsatz. 83
geschehe. Denn auch die räumliche Synthese ist ja uur gleich-
sam die äussere Ansicht der einen Verkuüpfungshaudlung, deren
wahres Mass die Zeit ist. Wenn also keine Zeiteinheit producirt
wird, so kann es auch keine räumliche geben. Der letzte Grund-
satz schafft also erst die Bedingung, unter welcher die früher
betrachteten Bedingungen in Thätigkeit treten können. ■'■')
138. Solcher gesetzraässigen Zeitbestimmungen wird es so
viele geben, als die Zeit Arten des Verhältnisses umfasst. Nun
lehrt uns die Psychologie zwei Modi zeitlicher Beziehung (§ 57):
das Nacheinander und das Zugleich. Also werden wir zwei
neue Principien der synthetischen Einheit zu Ibrmuliren haben.'"')
Zunächst aber müssen wir einen Grundsatz voranschicken, ohne
welchen uns die Lösung dieser Aufgabe nicht möglich sein
würde. ■'') .
XI. Das Princip der Beharrung
(Substanz).
1. Siebenter Grundsatz.
1 39. Zeitbestimmung ist, wie schon im Anfange der Unter-
suchung erörtert wurde, die Abgrenzung einer einheitlichen An-
schauung. Wenn wir sagen, dass Erscheinungen einander folgen,
so heisst das : sie sind benachbarte Theile der Einen Zeit. Werden
andere Erscheinungen als zugleich bezeichnet, so bedeutet das,
dass sie sich an derselben Stelle der Zeitreihe befinden. Die
Zeit ist die Vorstellung, welche alle andern Vorstellungen bei
ihrem Entstehen ins Bewusstsein einordnet ; sie ist wie ein Faden,
an 'dem Wahrnehmungen abgewickelt, oder wie ein Stab, an
welchem sie aufgereiht werden.
140. Diese Ausdrücke charakterisiren die Zeit nach der
Wirkung ihrer Function. Bedeutend schwieriger ist es, für ihr
eigenes Wesen als reine Anschauung das treffende Wort zu
finden. Es wäre falsch, die Zeit selbst eine Folge zu nennen;
denn um sie so zu begreifen, müssten wir wieder eine andere
Zeit dazu denken, in welcher dieses Nacheinander möglich wäre.
Und so weiter ins Unendliche. Die Succession ist vielmehr ein
6*
84 XI. Das Princip der Beharrung (Substanz).
Verhältniss des Mannigfaltigen, das in der Zeit empirisch ge-
geben wird. Noch weniger statthaft ist es, der Zeit selbst das
Zuglcichsein beizulegen; denn das ist ja gerade der s])eeifiscbe
Unterschied der Zeit vom Räume, dass ihre Theilc nacheinander
sind. Auch die Simultaneität ist erst ein Verhältniss, welches
das Mannigfaltige empirischen Inhalts durch die Beziehung auf
die Zeit darstellt.
Genau gesprochen, dürfen wir somit die Zeit nur als das-
jenige begreifen, in welchem Succession und Coexistenz als
Bestimmungen der Objcctc vorgestellt Averden können; sie ist
die Grundanschauung, in welche Alles, was zugleich sein oder
aufeinander folgen kann, aufgenommen wird. Daher muss sie
als eine Vorstellung aufgefasst werden, welche bei jedem Mo-
ment des empirischen Vorstellens als schon gegeben erscheint.
Sie lebt in uns als etwas, das in Bezug zu dem unendlichen
Wechsel der Wahrnehmungen jederzeit ist. Die Zeit ist ein
Bleibendes, ein Beharrliches. Durch den Begriff der Be-
harrlichkeit wird erklärt, was das Wesen der reinen Anschauung
im Gegensatz zur empirischen Zeitbestimmung ausmacht. Die
Zeit ist die beständige Begleitungsvorstellung alles Daseins. Sie
ist die Anschauung eines dem empirischen Wechsel gegenüber-
gestellten Nichtwechseluden.
141. Nur diese Auffassung der zeitlichen Function kann
uns die Möglichkeit der Zeitbestimmung zureichend erklären.
All unser Wahrnehmen ist eine stets wechselnde Folge von Be-
wusstseinszuständen. Die Succession der Vorstellungen würde
aber niemals zu einer Vorstellung der Succession werden, wenn
Avir nicht das frühere und das spätere Element, jedes auf eine
Vorstellung beziehen könnten, die sowohl beim ersten als beim
zweiten vorhanden war; denn die Vorstellungen Avürden anders
nicht zu Tb eilen Einer Anschauung werden. Erst Aveun mir die
succedirenden Elemente a und b als Bestimmungen eines Blei-
benden erscheinen, erst wenn ich das Bewusstseiu habe, dass
die Zeit, die a Avar, b ist, erhalten a und b einen einheitlichen
Zusammenhang. Ebensowenig würde mich die blosse Wahr-
nehmung jemals zur Vorstellung der Gleichzeitigkeit von Vor-
stellungen führen. Denn die Wahrnehmung geschieht durch-
gängig als Succession. Lege ich dagegen eine bleibende An-
schauung zu Grunde und stelle mir vor, dass die Zeit, welche
I. Siebenter Grundsatz. 85
b ist, auch a ist, lasse ich also mehrere Elemente als einheit-
liche Bestimmungen meines Beharrlichen erscheinen, so kann ich
zur Vorstellung des Simultanen gelangen. Somit müssen wir
sagen, dass alles Zeitverhältniss Yerhältniss des Wechselnden zu
einem Bleibenden ist. Die Beharrlichkeit ist die fundamentale
Regel der Zeitordnung , welche sich bei dem Problem, die syn-
thetische Einheit der Zeit zu erzeugen, als Postulat ergibt.
142. Nun wissen wir, dass die Zeit als solche, inhaltleer,
nicht wahrgenommen werden kann; sie ist ja bloss die Form
der Wahrnehmungen. Das Bleibende, das ihre Grundbedingung
ausmacht, darf also nicht etwa als etwas für sich Bestehendes,
von der empirischen Mannigfaltigkeit Unabhängiges angesehen
werden. Das Beharrliche kann nichts Anderes sein als die Art, wie
dieses Mannigfaltige zusammengefasst , verknüpft, geformt wird.
Es wiederholt sich also der Vorgang, der jeden Fortschritt un-
serer Untersuchung begleitet, dass die subjective Bedingung der
Erfahrung Eigenschaft der Erscheinungen wird. Die unveränder-
liche Grundlage alles Wechsels, welche conditio sine qua non
der Zeitbestimmung ist, erscheint in die Objecte der Erfahrung
hineinprojicirt. Die realen Data der Wahrnehmung müssen so
beschaffen sein, dass man sich vorstellen kann, sie enthalten als
Grundlage ihres Zusammenhangs ein bleibendes Substrat alles
Wechsels in sich. Das Bleibende der Zeit producirt in ihrer
empirischen Bestimmung, gleichsam als ein Spiegelbild, das Un-
wandelbare des Daseins. Der beharrlichen Zeit correspondirt
der beharrliche Gegenstand.
Diese Vorstellung- eines in die Natur hineinverlegten, blei-
benden Subjects nennt man Substanz. —
143. Wir können nun unser Ergebuiss in den Grundsatz
zusammenfassen :
Jeder Vorstellungsverknüpfung liegt die Vorstellung der be-
harrlichen Zeitanschauung zu Grunde.
Oder: Jeder Gegenstand der Erfahrung ist die Bestimmung
einer Substanz.
144. Der Begriff der Substanz lässt sich unmittelbar durch
eine höchst wichtige Bestimmung bereichern. Ich darf nämlich
statt Substanz schlechthin bestimmter sagen: Substanz im
Räume. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass das Beharr-
liche Etwas in mir sei. Alle Bestimmungen meiner Exist^z, die
86 ^I- Pas Priucip der Beharrung (Substanz).
in mir ani;ctroffen werden können, sind Vorstellungen und be-
dürfen, als solche, etwas von ihnen Unterschiedenes, Beharrliches.
Mein eigenes Dasein, das aus dem Zeitverlauf sich als Einheit
hervorhebende Ich kann ja überhaupt erst an diesem Beharr-
lichen sich erzeugen, durch dasselbe bestimmt werden. Ich muss
also ein Ding ausser mir vorstellen, um die Substanz wahrnehmen
zu können. Folglich liegt es schon im Begriffe der Substanz,
eine Substanz im Räume zu sein. •'^)
Unser Princip heisst also genauer: Jeder Gegenstand der
Erfahnine: ist die Bestimmune; einer Substanz im Räume.
2. Erläuterungen und Folgerungen.
145. Auf Grund dieses Princips ist es nun möglich, den
Objecten der Erfahrung eine zeitliche Grösse beizulegen. In
der Succession der Wahrnehmungen selbst liegt nicht die min-
deste Grösse; denn jedes durch sie gegebene Dasein entsteht
und verschwindet in einem Augenblick. Sobald ich aber meine
Wahrnehmungen auf eine Substanz beziehe, kann ich diese durch
jene messen. Durch eine endliche Folge von Empfindungen, die
ich zusammensetze, wird ein Theil der Beharrlichkeit abgegrenzt ;
ich kann ihn als relative Grösse bestimmen und in einer Zahl
ausdrücken. Die Zeitgrösse des Beharrlichen nennt man Dauer.
Im Begriffe der Dauer fassen wir die Zeitmomente zu einem
Ganzen zusammen, als ob sie nebeneinander wären, wie die
Punkte einer Linie. So bewirkt die Substanz, dass wir auch
die Zeitanschauung als extensive Grösse zu denken haben. "0
146. Ein wichtiger Ertrag dieses Grundsatzes ist nun, dass
aus ihm eine objective Bedeutung für den Begriff der Ver-
änderung entspringt. Bis jetzt konnten wir nur von einer
Veränderung des Subjects sprechen; das Ich allein schien ein
unwandelbarer Träger für die in den Vorstellungen enthaltenen
Bestimmungen zu sein. In den Eindrücken selbst gab es bloss
einen Wechsel. (Grunds. IV. § 115.) Durch unsern Grundsatz
nun wird die Beharrlichkeit auch in den Gegenstand als Be-
dingung seiner Möglichkeit gelegt; das Object selbst wird blei-
bende Grundlage von Veränderungen,
So schliesst sich jetzt erst der mühsam errungene Begriff
des Objects befriedigend ab. In unserm Denkprocess spaltet
2. Erläuterungen und Folgerungen. 87
sieb der Gegenstand in zwei Hälftenj in den „Gegenstand selbst"
und dessen „blosse Bestimmung"; in das Beharrlicbe, das sieb
verändert, und in seine Bestimmungen, welcbe wecbseln. Im
Begriffe der Substanz und ibrer Accidenzen erreicben wir die
letzte Stufe der ObjectiA'^ation der Natur. Der Gegenstand der
Erfahrung ist zum „Ding mit mannigfaltigen Eigen-
s c b a f t e n " ausgereift, ' f' ")
147. Damit wird das Princip die Basis aller unserer Urtbeile
über die empiriscbe Gescbicbte der Objecte. Da die ursprüng-
licbe Syntbese der Vorstellungen etwas Bebarrlicbes verknüpft
so können die einzelnen Realitäten, welcbe die Zeitmomente er-
füllen, nacb und naeb durcb andere ersetzt werden, obne dass
die Syntbese selbst aufgeboben wird.
An dieser Stelle erbalten wir einen wichtigen Einblick in
den Zusammenbang der empirischen Synthesen mit den ursprüng-
lichen, welcbe die Möglichkeit unserer Erfahrung begründen. Es
bedürfen nämlich auch die sogenannten synthetischen Urtbeile
a posteriori einer Erklärung ihrer Möglichkeit. Denn wollte man
sich einfach bei dem Gedanken beruhigen, dass ja für sie die
Erfahrung die Gewähr der Zusammengehörigkeit der in ihnen
enthaltenen Vorstellungen liefere, so würde man auf den Staud-
punkt der gemeinen Weltansicht zurückfallen, welche die Be-
ziehung auf das Object als etwas Selbstverständliches ansieht, ^'^i)
Ein synthetisches Urtbeil a posteriori liegt vor, wenn ich
mit einem Objecte S eine Vorstellung P verbinde, welche in
der ursprünglichen Vorstellungs Verknüpfung nicht enthalten war.
Seien die dem Gegenstande S seinem Begriffe nach zukommenden
Eigenschaften a, b, c, d, so urtbeile ich synthetisch, wenn ich
von S (a, b, c, d) das durch empiriscbe Beobachtung gefundene
Merkmal e prädicire. Ich bilde dabei in meinem Bewusstsein
die Einheit S P (e), für deren Geltung ich mich nicht formal logisch
auf den Begriff S (a, b, c, d) beziehen kann; denn dieser be-
rechtigt mich bloss, die Urtbeile SP(a) bis SP(d) zu entwickeln.
Nun kann mir aber der Gegenstand des Begriffs nur dadurch
gegeben werden, dass ich seine Merkmale auf eine Substanz be-
ziehe, a, b, c, d erscheinen als Accidenzen eines Beharrlichen.
Damit ist aber nicht der Nebengedanke verbunden, dass die
Substanz durch diese Kennzeichen erschöpfend bestimmt sei.
Es ist kein erkenntnisstheoretischer Grund vorbanden, der die
88 XI. Das Princii) der I>oliarriuig (Substanz).
Aufikahme neuer Elemente in die einmal gebildete Vorstellungs-
einheit eines Gegenstandes verbieten würde. Auf dieser Un-
bestimmtheit beruht eben die Möglichkeit der Empii-ie. Wir
dürfen erwarten, dass uns die Ertahrung weitere Eigenschaften
vorführen wird, durch die wir unsere Substanz bestimmen können.
So beziehen wir die neu angeschaute Qualität unmittelbar auf
die durch S (a, b, c, d) bezeichnete Substanz. Man muss daher
nicht sagen, dass der Rechtsgrmid der Einheit SP(e) die An-
schauung sei; denn diese liefert uns gar nichts als die beiden
durch die Wahrnehmungen S und e bezeichneten Zeitmomente.
Grund der Einheit ist vielmehr die vom Verstände in die An-
schauung hineingedachte Substanz, welche durch die neue Eigen-
schaft nicht verwandelt, sondern nur nach einer unbezeichnet
gelassenen Seite bestimmt wird. Die Substanz trägt das neue
Merkmal mit und spannt es gleichsam in den durch ihren Be-
griff gebildeten Rahmen.
148. Aus ihrem Begriffe folgt schon, dass wir uns die Sub-
stanz nicht als ein veränderliches Quantum vorstellen dürfen.
Da sie nichts ist als ein Abbild der Zeit, theilt sie auch deren
Eigenschaften. Sie erscheint nicht als ein Aggregat von Theilen,
sondern als ein Ganzes, dessen Theile durch Einschränkung ent-
stehen. Es können die Theile niemals vergehen oder neu ge-
schaffen werden. Als ein Correlat der Zeit muss die Substanz
etwas sein, an dem alle Bestimmungen haften, welche in jeder
vergangenen oder zukünftigen Zeit gegeben werden können. In
einem Objecte darf nur dasjenige Substanz genannt werden,
dessen Existenz zu aller Zeit vorausgesetzt wird. Wenn man
sich die Erschaffung oder Entstehung neuer Substanz denken
wollte, so würde man damit die Einheit der Zeit aufheben.
Denn wir müssten uns doch den Uebergang jener Substanz aus
dem Nichtsein ins Sein vorstellen; einen Uebergang aus dem
einen Zustande in den andern können wir aber nur als Wechsel
der Bestimmungen eines Beharrlichen erkennen; denn eine vor-
hergehende leere Zeit ist nicht wahrnehmbar. Wir müssten
also die werdende Substanz mit etwas verbinden, was vorher
war und bis zu ihrem Entstehen fortdauert. Also wäre sie gar
nicht Substanz, sondern nur Bestimmung eines andern Beharr-
lichen. Würde man aber diese Bestimmung nachträglich doch
als Substanz betrachten, so wäre damit die Identität des Sub-
2. Erläuteruugeu und Folgerungen. 89
jccts und damit auch die durcbgäng-ig-e Einheit der Zeitbestim-
mung' zerstört; die Erscheinuugeu würden sich alsdann auf zwei
verschiedene Zeiten beziehen und ein doppeltes Dasein würde
sich zusammenhanglos abwickeln. Ebenso verhält es sich mit
dem Vergehen der Substanz. Um es zu erkennen, müssten wir
entweder eine leere Zeit wahrnehmen können, oder die vermeint-
liche Substanz würde sich in blosse Bestimmung einer andern
verwandeln.
Wir können also aus unserm Princip die Folgerung ziehen :
In der Natur gibt es weder Entstehen noch Vergehen von
Substanz, ^o^) Es braucht kaum noch bemerkt zu werden, dass,
wo im Folgenden von einer Mehrheit von Substanzen die Rede
ist, darunter immer die mannigfach bestimmten Theile der ein-
heitlichen Substanz verstanden werden.
149. Auf Grund dieses Folgesatzes kann nun auch der Be-
griff der Veränderung noch schärfer bestimmt werden. Man kann
niemals von Etwas, das entsteht oder vergeht, sagen, dass es
sich verändert ; denn eine solche Vorstellung bezieht sich niemals
auf eine Substanz, kann also auch nicht Träger der Veränderung
sein. Veränderung ist die Existenzform eines Gegenstandes,
welche auf eine andere Existenzform desselben Gegenstandes folgt.
Was entsteht und vergeht, das sind diese verschiedeneu Existenz-
formen des Objects, das, was sich verändert, ist das Bleibende.
Wer den Begriff der Veränderung verstanden hat, wird die Be-
hauptung nicht paradox finden, dass das Wandelbare keine Ver-
änderung und das Veränderliche keinen Wechsel erleidet.
150. Hier lässt sich nun auch die objective Bedeutung der
Negation auf einen andern Ausdruck bringen (vgl. § 119). Ne-
gationen sind Bestimmungen, welche aussagen, dass gewisse
Accidenzen anderer Substanzen einer gegebenen Substanz nicht
anhaften.
151. Das Princip der Beharrlichkeit ist von besonderer
Wichtigkeit für die Begründung der formalen Logik. Es bietet
den Schlüssel zum Verständniss der Urtheilsform überhaupt.
Das Urtheil ist der Ausdruck der bewussten Einheit ver-
schiedener Vorstellungen. Das Urtheil enthält also mindestens
zwei Bestandtheile, welche zu einer Einheit verknüpft erscheinen.
Nun lehrt uns die Logik, dass jeder dieser Bestandtheile einen
eigentümlichen Charakter habe, und unterscheidet beide durch
90 XI. Das Princip der Beharrung (Substanz).
die Namen Siibjeet und Prüdicat. Der erste, das Subjeet, ist
derjenige Bestandtheil , welcher dem Bewusstsein als gegeben
erscheint; er ist das Datum der Aufgabe, auszusagen, was für
andere Vorstellungen mit einer bestimmten verbunden seien. Die
gefundene Vorstellung sodann, welche mit der gegebenen in Be-
ziehung gesetzt wird, lieisst eben Prädicat. Wenn ich urtheile :
Die Rose duftet, so betrachte ich die Rose als schon vorhan-
dene, gegebene Vorstellung und verbinde mit ihr die gefundene
des Duftens. Eine andere Erklärung des Subjects und Prädi-
cats darf ich von der formalen Logik nicht fordern.
Nun fragt es sich aber, ob die Gegenüberstellung dieser Be-
standtheile, auf welchen die ganze Logik beruht, eine reale Be-
deutung habe. Hat die Rose in der Natur ein von der Eigen-
schaft des Duftens gesondertes Dasein, oder kommt dem Duften
eine von der Rose unabhängige Existenz zu ? In der Wirklichkeit
ist die Rose etwas Duftendes, Blühendes, Rotes u. s. w., sie ist
die Zusammenfassung aller dieser Eigenschaften. Aber wo lässt
sich ein Prädicat selbstständig suchen oder wo ist ein Subject
neben seinem Prädicate gegeben?
Auf diese Fragen kann nur die Erkenntnisstheorie mit Hülfe
ihres Grundsatzes antworten, 'f'^) In der That liegt die Spal-
tung, welche die formale Logik fordert, in der Sache selbst;
denn die Sache kann uns nur gegeben werden, wenn
sie sich spaltet. Die formale Bewegung des Denkens ist Er-
kenntniss der Materie, weil sie dieselbe Bewegung ist, durch
welche unser Bewusstsein die Materie allein erzeugen kann. Die
Rose ist gesondert von ihrem Zustande ; denn wir erkennen die
Rose nur dadurch, dass wir diese Zustände als Zustände von
Etwas, als haftend an einem Beharrlichen, als Bestimmungen
der Substanz verknüpfen.
Damit ist für Subject und Prädicat die objective Gültigkeit
gesichert und wir können sie auch erkenntnisstheoretisch defi-
niren. In einem Urtheil heisst derjenige Bestandtheil, der eine
Substanz bezeichnet, Subject, und der, welcher ihre Bestimmung
ausdrückt, Prädicat.
Es geht also aus dem Prineip der Beharrlichkeit hervor,
dass die Urtheilsform als eine Verbindung von Subject und
Prädicat auf den Erfahrungsinhalt anwendbar ist. Es findet sich
für beide Functionen der passende Stoff, und wir haben ein
2. Erläuterungen und Folgerungen. 91
sicheres Kriteriiini für die Subsuintion der Vorstellungen unter
den einen oder den andern Begriff.
152. Ein Einwurf scheint diese Bemerkungen leicht um-
stossen zu können. Im logischen Processe vertauschen, doch die
Begriffe ihre Stellen ganz willkürlich! Wir machen dieselbe
Vorstellung bald zum Subject und bald zum Prädicat, Wir
sagen: jeder Mensch ist sterblich, aber wir urtheilen auch: Jeder
Neger ist ein Mensch. Ebenso können wir die blosse Eigen-
schaft der Rose zum Subject machen: Der Duft der Rose ist
angenehm. Ja nach der Logik können wir aus dem obigen
Urtheile richtig folgern: Einiges Sterbliche ist Mensch, wo also
beide Bestandtheile ihre Stellung gewechselt haben. In der
ersten Schlussfigur wird der Begriff, der im Major Subject ist,
im Minor Prädicat. Wo bleibt da die gerühmte Arbeitstheilung
der Vorstellungen?
Darauf ist zu entgegnen, dass das Princip weder behauptet,
dass dies nicht geschieht, noch dass es nicht geschehen soll,
sondörn nur, dass es keine unmittelbare objective Gültigkeit
habe. Urtheile, die eine dem Grundsatz widersprechende Dis-
position ihrer Bestandtheile enthalten, sind nicht Erkenntnisse
realer Verhältnisse und bedürfen, um einen Sinn zu bekommen,
einer eigentümlichen Interpretation. Das formale Denken adoptirt
für seine Entwicklungen eine Ausdrucksweise, welche man sym-
bolische Synthese nennen kann. Es substantivirt ein beliebiges
Eigenschaftswort und begreift darunter die Existenz des den ver-
schiedensten Gegenständen anhaftenden Zustandes als ein selbst-
ständiges Dasein und setzt dasselbe als Subject. Für diese in
der Abstraction erzeugte Sonderexistenz der Eigenschaften lässt
sich keine erkenntnisstheoretische Gültigkeit nachweisen; man
kann Eigenschaften wohl zum Subject, niemals aber zur Sub-
stanz machen. Doch lassen diese Abstracta eine symbolische
Beziehung auf reale Verhältnisse zu. Indem ich ein Accidens
zum Subject mache, muss ich darunter, falls das einen objectiven
Sinn haben soll, die Gesammtheit derjenigen Substanzen ver-
stehen, welche an jener Eigenschaft Antheil haben. Was ich
von der Röte aussage, prädicire ich von Allem, was rot ist.
Umgekehrt kann ich nach den Regeln der Logik ein Substan-
tivum mit der Copula verbinden und zum Prädicat machen. Auch
diese Form bildet mir kein objectives Verhältniss nach; eine
92 XI. Das Priiuip der Beharrung (Substanz).
Substanz kann niemals Bestimmung einer andern Substanz werden.
Allein auch hier ist eine fruchtbare symbolische Definition mög-
lich. Wenn ich eine Substanz als Prädicat verwende, so denke ich
mir dieselbe als Repräsentant aller Eigenschaften, durch welche
sie selbst bestimmt ist. Wenn ich von einem Ding aussage,
dass es Mensch sei, so soll das nur heissen, dass es alle Eigen-
schaften besitzt, durch welche die Substanz Mensch bestimmt
wird. Es ist klar, dass diese symbolische Erweiterung der gül-
tigen Vorstellungsverknüpfung dem Denken eine weit grössere
Eleganz und Uebersichtlichkeit ermöglicht.
153. Endlich niuss noch bemerkt werden, dass durch das
Princip der Beharrlichkeit auch jener Grundsatz der Identität
(§ 29), welcher das Fundament der ganzen Logik bildet, eine
reale Bedeutung erlangt. Da die Natur von der Constanz unserer
Begriffe abhängig geworden ist, so erscheint es nicht mehr als
ein Postulat, dem die empirische Erfüllung versagt bleibt. Wenn
die Logik die Unwandelbarkeit ihrer Begriffe fordern musste^
so hat die Erkenntnisstheorie in den Objecten ein beharrliches
Substrat entdeckt. Die beiden unabhängig gewonnenen Resultate
begegnen sich. Daraus folgt auch die reale Bedeutung analy-
tischer Urtheile und die Berechtigung des Grundsatzes der Iden-
tität als ihres Princips. Die Identität eines Prädicats mit einem
im Subject enthaltenen Begriffe stellt die Zugehörigkeit eines
Accidens zu einer Substanz dar. Analytisches Urtheilen bedeutet
fürs Erkennen das Innewerden einer Seite des Resultats, welches
durch die Einigung des Mannigfaltigen in dem Begriff einer Sub-
stanz bei der Erzeugung des Objectes erhalten wurde. Analysis,
als objectives Urtheilen, ist nicht das Gegentheil der Synthese,
sondern vielmehr eine partielle Wiederholung derselben unter
Voraussetzung ihres Gesammtergebnisses. Das letztere wird durch
den Inhalt des Subjectsbegriffs repräsentirt; die Identität des
Prädicats entsteht, indem es, als in jener ersten Synthesis ent-
haltenes Accidens, auf dieselbe Substanz bezogen wird.
In gleicher Weise ergibt sich auch für die beiden andern
Voraussetzungen der formalen Logik, die einer Deduction be-
dürfen, dass ihre realen Wurzeln im Princip der Beharrlichkeit
enthalten sind. So können wir jetzt den Satz, welchen wir er-
weitertes dictum de omni et nullo genannt haben (§ 18), material
erklären. Es findet die reale Beziehung statt, dass, was mit
2. Erläuterungen und Folgerungen. 93
einer Mehrheit von Substanzen verbunden wird, auch mit der
einzelnen verbunden wird; denn eine Mehrheit von Substanzen
ist ja nur eine Summe von Theilen der einheitlichen Substanz.
Das für die formale Function geltende Gesetz findet eine Ver-
wirklichung in der Natur, weil wir die Substanzen in gleicher
Weise zusammensetzen und als Theile eines Ganzen betrachten
können, wie unsere Vorstellungen. — Ebenso erkennen wir nun
das objective Verhältniss, das der Satz des Widerspruchs dar-
stellt (§ 31). Zwei contradictorisch entgegengesetzte Urtheile
würden bedeuten, dass ein Accideus der betreffenden Substanz
nicht angehört. Ich würde in ihnen eine Einheit aussprechen
und die Bedingung der Möglichkeit dieser Einheit aufheben.
154. Der allgemeinen Naturwissenschaft liefert das Princip
der Beharrlichkeit eine ihrer wichtigsten Grundeinsichten. Das
Bedürfniss der empirischen Forschung nach einem solchen Satze
machte sich lange geltend, bevor man ihn beweisen konnte. Vor
Kant legte man ihn als uuwidersprechlich zu Grunde, ohne ihn
zu deduciren, ja ohne einen Beweis auch nur zu versuchen.
Die alten Glaubensformeln gigni de nihilo nihil, in nihilum
nil posse reverti, legen Zeugniss ab von seiner Wirksamkeit.
Nun aber erkenntnisstheoretisch bewiesen ist, dass Sub-
stanzen weder entstehen noch vergehen können, so handelt es
sich bloss darum, den Punkt aufzuzeigen, wo dieses Ergebniss
mit dem der Naturforschung in wissenschaftlichen Zusammen-
hang tritt. Es muss gezeigt werden, was Substanz in der Natur-
wissenschaft bedeute.
Die Mechanik sieht sich in ihren allgemeinen Betrachtungen
über die Materie veranlasst, in jeder Materie das Bewegliche im
Baume als letztes Subject aller ihr anhaftenden Bestimmungen an-
zunehmen. Nun gibt es in der Natur nichts , was unter den Be-
griff eines letzten Subjects subsumirt werden könnte, als die
Substanz. In der Naturwissenschaft ist also Substanz das Be-
wegliche im Räume. Die Grösse dieses Beweglichen kann nun
bloss eine extensive, die Menge ausserhalb einander befindlicher
gleichartiger Theile sein; denn der Begriff des letzten Subjects
im Baume lässt keine andere Bestimmung zu ausser dem blossen
Dasein im Räume. Also ist die Grösse der Materie, ihrem letzten
Subjecte nach, nichts Anderes als die Menge substantieller Theile,
94 XI. Das rriiirip der BehaiTuiig (Substanz).
aus welchen sie besteht. Die Grösse der Materie könnte also
nur dadurch vermehrt oder vermindert werden, dass neue Sub-
stanz entsteht oder vergeht. Nun kann nach der reinen Er-
keuntnisstheorie bei allem Wechsel der Bestimmungen die Sub-
stanz weder entstehen noch vergehen. Also kann auch die
Quantität der Materie als Ganzes nicht vermehrt oder vermindert
werden, wenn auch eine bestimmte, abgegrenzte Materie durch
HinzufUgung oder Abtrennung von Theilen sich quantitativ ver-
ändern kann. Materie als Ganzes muss als ewig gedacht
werden. '*")
So wird ein Satz, den die Mechanik sonst als Axiom auf-
nehmen müsste, durch die Beziehung auf das allgemeine Princip
der Beharrlichkeit zum scharf deducirten Lehrsatz.
155. Eine nicht zu unterschätzende Leistung unseres Priu-
cips ist ferner, dass es als sichere "Waffe selbst gegen die ge-
fährlichsten skeptischen Angriffe dient. Der verhältnissmässig
bedeutsamste Einwurf, den der kritische Idealismus immer noch
zu ertragen hat, ist der, dass er schliesslich doch nicht aus-
machen könne, ob dem Ich etwas Aeusseres correspoudire oder
nicht. Was ich unmittelbar ins Bewusstsein aufnehme, seien
immer nur meine Vorstellungen äusserer Dinge; auf ein wirk-
liches Aeussere werde nur geschlossen ; immer bleibe es also
unerweislich, folglich zum mindesten zweifelhaft, ob dasselbe
mehr als blosse Einbildung sei. Nun ergibt sich aber aus dem
Princip der Beharrlichkeit, dass, wenn ich mir meines Daseins
in der Zeit bewusst werde, ich mir damit auch des Daseins der
Dinge ausser mir notwendig bewusst werde. Denn das Bewusst-
sein meiner zeitlichen Existenz ist doch mit dem Bewusstsein
der Möglichkeit, dieselbe wahrzunehmen, notwendig verbunden.
Diese Möglichkeit beruht aber auf der Substanz und die Sub-
stanz auf einem Dasein im Räume ; also ist mit dem Bewusstsein
meiner selbst das Bewusstsein von Gegenständen ausser mir
notwendig verbunden. Wenn es also Einbildung ist, dass äussere
Dinge existiren, dann ist es auch Einbildung, dass ich selbst in
der Zeit vorhanden bin; denn ohne Substanz kann ich wohl
einzelne Vorstellungen, niemals aber eine in der Zeit zusammen-
hängende Bestimmung meines Ich, d. h. Erfahrung, gewinnen.
Die Realität des räumlichen Daseins beruht also auf der Realität
der Erfahrung selbst. Das ist aber der stärkste Fels, auf den
2. Erläuterungen und Folgerungen. 95
wir sie erbauen können; diese Realität wird dadurch geradezu
unerschütterlich.
Da es also in der Entwicklung des Bewusstseins keine Stufe
gibt, auf welcher wir uns von der Vorstellung des Aussen eman-
cipiren und sie als blossen in uns lebenden Schein erkennen
können, so dürfen wir uns beim kritischen Idealismus vollständig
beruhigen. Ob es vielleicht irgendwo höhere Intelligenzen gebe
mit der Einsicht, dass die menschliche Wahrnehmung im Räume
Illusion sei, ist eine mystische Speculation ohne philosophischen
Wert. Der Wunsch nach einer solchen Einsicht kommt dem
kindischen Verlangen gleich, etwas Anderes als Mensch zu sein.
Für uns, die wir es bleiben wollen, genügt das Bewusstsein,
dass wir die räumliche Wirklichkeit niemals verlieren werden.
Was uns in keiner Erfahrung gegeben werden kann, ist für uns
nichts. '"^) Durch diesen Gedanken wird der kritische Idealismus
für die Skepsis unangreifbar, 'ou) Etwas ganz Verschiedenes und
Berechtigtes ist natürlich die Aufgabe, die Wahn- und Traum-
vorstellungen von den Vorstellungen der realen Räumlichkeit zu
unterscheiden. Das hat aber mit dem Grundsätze des Idealismus
nichts zu schaffen; denn da wird die Wirklichkeit der äussern
Erfahrung immer schon vorausgesetzt. Die bloss subjectiven
Wahrnehmungen sind Reproductionen ehemaliger äusserer Wahr-
nehmungen und diese beruhen dann aber auf der Wirklichkeit
äusserer Gegenstände. Das Kriterium, nach welchem entschieden
wird, ob diese oder jene bestimmte Wahrnehmung wirklich Er-
fahrung, oder blosse Einbildung sei, kann nur aus dem empi-
rischen Zusammenhange der Vorstellungen gewonnen werden.
156. Es ist das Schicksal der kritischen Erkenntnisstheorie,
dass sie die Fata Morgana des Dings an sich auf jeder Stufe
ihres Fortschrittes von Neuem erblickt. Allein es wird ihr auch
fortwährend leichter den Schein zu zerstören. So lange wir uns
vor Augen halten, dass die Substanz nur eine Bedingung der
zeitlichen Wahrnehmung ist, können wir allerdings kaum ver-
gessen, dass sie mitten in der sinnlichen Anschauung liegt. Aber
in dem fertigen Begriff, der ein selbstständiger Besitz unseres
Bewusstseins geworden ist, liegt keine Erinnerung an diesen Ur-
sprung. Es scheint uns vielmehr, dass wir gerade hier jenen Rück-
stand des Objects, der uns entschwand (vgl. § 64 — 66, § 81—83),
wiedergefunden haben. Deckt sich die Substanz nicht genau
96 XII. Das Princip der Succession (Causalität).
mit dem Etwas, von dem wir die versebiedeneu Eigenscliafteu
des Dings ablösten ? Und ist sie nicbt, da sie selbst keine sinn-
liche Bestimmung ist, von unserni Erkennen gänzlich unabhän-
gig V Diese Meinung wird noch verstärkt durch den Sprach-
gebrauch, w^elcher die Bestimmungen der Substanz gesondert
betrachtet und ihr Dasein, als ob es selbststäudig wäre, Inhärenz
nennt; dem setzt er dann ein anscheinend unabhängiges Dasein
der Substanz in dem Namen Subsistenz entgegen. '^■) Wir wollen
nun zugeben, die Subsistenz könne mit dem Ding an sich zu-
sammenfallen (was wegen der disparateu Natur beider Begriffe
unsinnig ist), und einfach fragen: Was wäre denn damit für
eine Erkenntniss gewonnen? Die Substanz ist nichts als eine
Art, die empirischen Data im Bewusstsein zu ordnen; was wir
von der Substanz Positives wissen, heisst Accidens. Accidenzen
aber werden uns allein durch die Empfindung gegeben. Somit
kann von einem Erkennen der Substanz unabhängig von der
Anschauungsweise des Subjects nicht die Rede sein. Isolirt
gedacht, ist die Substanz kein Gegenstand der Erfahrung, son-
dern ein gänzlich leerer Begriff von einem Gegenstande über-
haupt, gleich unbestimmt und imbestimmbar, wie er uns früher
begegnet ist. i""^)
\1I. Das Princip der Succession
(Causalität).
1. Achter Grundsatz.
157. Nachdem die allgemeine Bedingung gefunden ist, unter
der die Zeit als Einheit erkennbar wird, können wir nun die
Regeln aufsuchen, welche die Erkenntniss der beiden Zeitver-
hältnisse ermöglichen.
Der erste Modus der Zeit ist die Folge. Zunächst sind wir
nun durch das vorige Princip in den Stand gesetzt, den Begriff
der Succession genauer zu bestimmen. So viel wissen wir sicher,
dass wenn wir hoffen wollen, eine in der Erfahrung gegebene
Folge zu beurtheilen, dies niemals eine Succession von Sub-
1. Achter Grundsatz. 97
stanzen sein kann. Aller We(;hsel ist nur Veränderung, das lehrt
der Grundsatz der Beharrlichkeit. Der Gegenstand selbst geht in
dem Flusse der Wahrnehmungen nicht unter; nur seine Eigen-
schaften fangen an und hören auf. "Was sich folgen kann, ist
blosse Bestimmung.
Unter Succession verstehen wir also das zusammenhängende
Sein und Nichtsein der Bestimmungen einer Substanz.
Somit nehme ich eine Folge wahr, indem ich zuerst einen
Zustand a wahrnehme und hierauf einen Zustand b, und beide
auf dieselbe Substanz beziehe. Diese Verknüpfung in dem Be-
griffe der Substanz geschieht psychologisch durch denjenigen Pro-
cess, den wir mit dem Namen Einbildimgskraft bezeichnen. Durch
die Einbildungskraft werden Vorstellungen, auch nachdem das
sie erzeugende äussere Datum verschwunden ist, im Bewusstsein
festgehalten und mit unmittelbaren oder anderen reproducirten
verbunden. Eine solche Verbindung kann nur unter Erzeugung der
Zeitvorstellung in unser Bewusstsein eintreten; sie erfüllt einen
Theil, repräsentirt eine besondere Einschränkung der Einheits-
Anschauung der Zeit. Jedes solche Product der Einbildungs-
kraft stellt also eine Bestimmung unseres Bewusstseins hinsicht-
lich des Zeitverhältnisses dar.
158. Nun sind in jedem einzelnen Falle zwei Arten der
Verbindung möglich. Von zwei Zuständen kann entweder der
eine oder der andere in der Zeit vorausgehen ; es kann die Zeit-
folge ab oder die Zeitfolge ba erzeugt werden. Nun findet die
für die Zeiteinheit unerlässliche Beziehung auf die Substanz nur
statt, wenn ich sagen kann, entweder: die Substanz, die a war,
ist b, oder : die Substanz , die b war, ist a. Und zwar so , dass
ich nicht im Zweifel bin, welches der beiden Urtheile im ge-
gebenen Falle für die Substanz gilt. Mein Urtheil muss notwen-
dig sein; denn eine Zeitfolge kann mir unmöglich als Bestim-
mung eines Beharrlichen im Raum erscheinen, wenn es in meinem
Belieben steht, sie in der einen oder in der entgegengesetzten
Richtung zu verknüpfen. Allein wo soll ich eine solche Not-
wendigkeit für mein Urtheil hernehmen? Ich kann ja die Suc-
cession nicht von meinem beharrlichen Object gleichsam ablesen ;
denn die Zeit ist ja nur die Form, nach welcher die Empfin-
dungen in meinem Innern geordnet werden. In einer Succes-
sion werde ich mir unmittelbar bloss einer zeitlich bestimmten
Stadler, Erkenntnisstheorie. '
98 XII. r>as Princip der Succession (Causalität).
Fimctiou meiner Einbildungskralt ^bewusst. Die Zeitfolgen ab
und b a sind für mich nichts weiter als Andeutungen zweier ver-
schiedener psychischer Vorgänge, und es fliesst daraus kein
Recht, die eine oder die andere als Bestimmung meines sub-
stantiellen Objects zu betrachten. Wenn mir die Vorderseite
und dann die Rückseite eines Hauses erscheint, oder wenn ich
den Blitz sehe und hierauf den Donner höre, so kann ich zu-
nächst nur sagen, dass diese meine Wahrnehmungen, nicht aber,
dass die Theile des Hauses oder dass Blitz und Donner aufein-
anderfolgen. Ich erkenne Modificationen meines Innern, nicht
Veränderungen der Natur, und der Anspruch, dass mein Urtheil
auch einem andern Bewusstsein als notwendig erscheine, ist un-
begründet. Ohne eine weitere Bedingung wäre ich in Bezug auf
das Erkennen des Zeitverhältnisses dem Spiele meiner Vorstel-
lungen preisgegeben. Da die Folge ja allen meinen Wahrneh-
mungen gemein und allerwärts dieselbe ist, so könnte ich nicht
einmal bestimmen, dass diese Substanz sich von jener durch die
Aufeinanderfolge ihrer Accideuzen unterscheidet.
159. Wenn also die Notwendigkeit nicht unmittelbar in den
Bestimmungen der Substanz gegeben wird, so kann sie nur in
unserem Bewusstsein erzeugt werden. Wie auf der früheren, so
wird Erfahrung auch auf dieser Stufe nur dadurch möglich sein,
dass sich die Willkür der Synthese durch ein Gesetz beschränkt.
Wir stehen wieder vor dem alten Schauspiel, das sich immer
darbietet 1"''), wo aus der wechselnden Reihe unserer Vorstel-
lungen etwas Objectives herausgehoben werden soll. Wir müssen
eine Regel als Bedingung der Einheitsfunction entdecken. So-
bald irgend eine Verknüpfungsweise des mannigfaltigen Inhalts für
notwendig erklärt wird, tritt das Ding als unterschiedenes Object
in ein „Gegenverhältniss" i^^') zu den subjectiven Bewusstseins-
zuständen, obwohl es nichts weiter als ihr Inbegriff ist. (§ 73.)
11)0. Doch haben wir hier einen günstigem Fall als je zu-
vor. Das räumliche Object unserer Erkeuntniss ist bereits pro-
ducirt, wir brauchen es bloss zu bestimmen. Der Begrift' der
Substanz würde uns allerdings völlig wertlos sein, wenn wir
keine objectiveu Eigenschaften an ihr erkennen könnten. Das
gewonnene Object wird erst dann eine reale Bedeutung für uns
haben, wenn wir ihm auch die Succession seiner Qualitäten an-
heften können.
l. Achter Grundsatz. 99
Daraus ergibt sich nun der Inhalt für einen neuen Grund-
satz. Die Einheitsfunction, durch welche der Gegenstand erzeugt
wird, muss sich mit dem Bewusstseiu verbinden, dass die Zeit-
folge der Verknüpfung so und nicht anders habe stattfinden
können. Das Verhältniss zweier Wahrnehmungseindrücke zu einer
Substanz muss so gedacht werden, „ dass dadurch als notwendig
bestimmt wird, welcher derselben vorher, welcher nachher, und
nicht umgekehrt müsse gesetzt werden. " ' ' ^) Sobald ich mir bei
einer Succession ab bewusst werde, dass b nach einer Regel
auf a folgt, und a erscheint als Accidens meiner Substanz, so
ist auch die Folge ab als Bestimmung an die Substanz gebun-
den. Diese Verknüpfung wird dadurch aus der Reihe meiner
subjectiven Successionen herausgehoben und die Einbildungskraft
stellt sich als durch den Zusammenhang der Zustände bestimmt
dar. Diese Regel der Zusammengehörigkeit liefert uns die objec-
tive Folge an der Substanz, von welcher wir die subjective Folge
der Erscheinungen ableiten können.
161. Wir müssen also den Satz aufstellen: Falls ab die
Veränderung einer Substanz sein soll (und das muss alle objee-
tive Succession jedenfalls sein), so muss b nach einem Gesetze
auf a folgen. Das heisst: Es muss sich in jedem a eine Be-
dingung aufzeigen lassen, unter welcher b sich jederzeit mit ihm
verbindet.
Veränderung oder objective Succession nennt man Ereigniss,
Begebenheit, Geschehen. Wir können also sagen: Alle Verände-
rung geschieht auf Grund einer Bedingung der Zusammenge-
hörigkeit der aufeinanderfolgenden Zustände.
162. Auch dieser Grundsatz enthält nur eine Analogie mit
den Verhältnissen der reinen Anschauung. Die Zeitorduung ist
die Reihe. In der unendlichen Zeitreihe ist jeder Punkt ge-
setzmässig mit einem andern verbunden. Jeder Punkt enthält
als Theil des Ganzen die Bedingung, unter welcher der Nach-
barpunkt allein erzeugt werden kann. Die Existenz einer be-
stimmten Stelle ist nur möglich, wenn die bestimmte andere da
war, und führt selbst unausbleiblich zum Dasein der dritten.
Ein ähnliches Verhältniss fordert der neue Grundsatz vom Dasein
der Accidenzen. Es soll „eine Reihe der Erscheinungen" ent-
stehen, deren einzelne Stellen sich gegenseitig in analoger Weise
bestimmen wie ein Punkt der Zeitreihe den andern. Die reale
100 XII. Das Princip der Succession (Causalität).
Erfüllung eines Zeitmomentes erhält eine „Beziehung" auf die
Erfüllung des vorhergehenden; wie jeder Moment auf seinen
Nachbarn, so weist sein Inhalt auf den Inhalt des letzteren
als sein „Correlatum". So wird es möglich, dass Naturbegeben-
heiten und subjective Zeit in ihrer Ordnung gleichwertig sind,
mit einander „übereinkommen". So werden Form und Inhalt
durch ein neues Band geeinigt. Wie früher die Beharrlichkeit
erscheint jetzt die Zeitordnung auf die Gegenstände und deren
Dasein „übertragen"."'^)
163. Den Begriff einer realen Bedingung, auf deren Ein-
treten jederzeit etwas Anderes folgt, nennt der Sprachgebrauch
Ursache, das Erfolgende selbst Wirkung. Mit Benutzung
dieser Termini können wir unseren Grundsatz formuliren:
Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Einheit
von Ursache und Wirkung.
Nach dieser Fassung heisst dieses Princip gewöhnlich Cau-
salitätsgesetz. Dabei muss man sich allerdings eutschliesseu, den
letzten Rest von anthropomorphen Vorstellungen wegzuwerfen, der
mit diesem Worte verbunden zu werden pflegt. Bei Kant be-
deutet Causalität nichts als der reale Nexus, der eine Erschei-
nung an eine andere heftet. Jede andere Veranschaulichung
dieses Zusammenhangs, in welcher gewöhnlich die Analogie mit
dem menschlichen Handeln zu finden ist, muss als mystischer
Zusatz von der Wissenschaft verworfen werden. "3)
1(34. Damit ist ein neues Urtheil von allgemeiner Geltung und
ursprünglicher Notwendigkeit gewonnen. Es bedarf weder einer
Bestätigung durch Erfahrung, noch kann es empirisch widerlegt
werden; denn überall, wo eine Erfahrung gegeben ist, da wissen
wir auch, dass das Causalgesetz wirksam war. Da die Gegen-
stände, ohne sich ihm zu fügen, gar nicht erscheinen können,
so ist jedes Object durch sein blosses Vorhandensein schon ein
Beweis seiner Wirkung. Wo immer wir erfahren, dass etwas
geschieht, da nehmen wir stets an , dass etwas vorausgieng , wor-
auf es folgen musste; jede Begebenheit beziehen wir von
vorneherein auf eine Bedingung, durch welche sie bestimmt
wurde.
2. Folgerungen und Erläuterungen. 101
2. Folgerungen und Erläuterungen.
165. Es ist unmittelbar ein gefährliches Missverständniss des
CausalgesetzeS abzuwehren. Man wirft ein, es gebe eine Reihe
von Successionen, an deren objeetiver Geltung nicht der leiseste
Zweifel herrsche und die wir doch weit entfernt seien, nach dem
Princip von Ursache und Wirkung aufzufassen. Man weist auf
die Folge von Tag und Nacht, auf die Reihe der musikalischen
Töne und Aehnliches hin. Ob die Nacht die Wirkung des Tages,
der Ton c die Ursache des Tones d sei? Der Einwand beruht
auf der allerdings erschreckend oberflächlichen Ansicht, dass man
nur- zwei in das Causalgesetz eingehende Glieder zu unterscheiden
habe. Diese Auffassung liefert für das Causalgesetz die schöne
Interpretation, dass die Veränderung einer Substanz von dem
Zustande A in den Zustand B nur geschehen könne, insofern A
die Ursache von B sei!
Nach der obigen Deduction können wir die Zurechtweisung
kurz fassen. In der Causalität sind drei Glieder zu unterschei-
den: 1) der Zustand A der Substanz, 2) der auf ihn folgende
Zustand B derselben, 3) die Ursache U, welche die Bedingung
darstellt, dass B notwendig auf A folgt. Somit heisst das voll-
ständig explicirte Causalgesetz: Jede Veränderung AB geschieht
auf Grund einer Ursache U, welche sie notwendig macht. Die
Folge AB erscheint meinem Bewusstsein dadurch als objectiv,
dass sie der Gleichung genügt:
(A B) = Wirkung von U.
Nicht der Zustand B, sondern der Uebergang (AB) ist das
causal bedingte Ereigniss. Jedesmal wenn A unter der Bedingung
U steht, folgt B auf A.
Diese Erörterung des Begriffs der Begebenheit geht in keinem
Punkte über Kant's eigene Darstellung hinaus. Uebrigens ver-
dient die Sache auf das Genaueste belegt zu werden. Man achte
zunächst auf die Formel der ersten Ausgabe: „Alles, was ge-
schieht (anhebt zu sein) , setzt etwas voraus , worauf es nach
einer Regel folgt." i^^) Hier sind A, B und die Regel, deren
Bedingung U ist, nacheinander aufgezählt. Kant sagt nämlich
ausdrücklich: es „muss in dem, was überhaupt vor einer Be-
gebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel lie-
gen. "'^^) Diese Bedingung zu einer Regel ist der exacte Be-
102 -^ll- r»as Princip der Succession (Causalität).
griif der Ursache U. Ferner : Es geschieht „ immer in Rücksicht
auf eine Regel " (also auch auf ihre Bedingung U), „ nach welcher
die Erscheinungen" (A und B) „in ihrer Folge" (AB) „durch
den vorigen Zustand" (A) „bestimmt sind u. s. w. "i"') Nicht
minder instructiv ist die Stelle : „ Wenn ich also wahrnehme, dass
etwas geschieht" (der Ucbergang in B), „so ist in dieser Vor-
stellung erstlich enthalten, dass etwas vorhergehe" (A) ....
„ Aber ihre bestimmte Zeitstelle in diesem Verhältnisse kann sie
nur dadurch bekommen, dass im vorhergehenden Zustande etwas
vorausgesetzt wird" (U). i>") Ausserdem füge ich hinzu, dass
weiterhin „die Succession der Zustände" ausdrücklich als „das
Geschehene" bezeichnet wird. ^1*^1 Schliesslich wolle man be-
merken , dass Kant auch in allen Beispielen , die er gibt , das
Vorhandensein der drei Glieder deutlich macht. „ Ich sehe z. B.
ein Schiff den Strom hinabtreiben (U). Meine Wahraehmung
seiner Stelle unterhalb (B) folgt auf die Wahrnehmung der Stelle
desselben oberhalb (A). "^i-') „Wenn ich die Kugel auf das
Kissen lege (U), so folgt auf die vorige glatte Gestalt des-
selben (A) das Grübchen (B)." „Das Glas ist die Ursache von
dem Steigen des Wassers (AB) über seine Horizontalfläche."'-")
Es steht also jedenfalls fest, dass bei der Causalität drei
verschiedene Glieder in Betracht zu ziehen sind. '-') Nun bleibt
aber die Frage übrig, was denn eigentlich das U für eine Stel-
hmg in der Wirklichkeit einnehme. A und B sind die Zustände
der Substanz. Was bedeutet die Ursache'? Wo haben wir U zu
suchen?
166. Ueber die Beschaffenheit des U können wir eine ein-
zige unmittelbare Aussage machen. Wir kiJnuen die Zeitstelle
von U bestimmen. Wir wissen sicher, dass U in dem Zeit-
moment, welcher dem Anfangspunkte der Veränderung vorher-
geht, vorhanden sein muss. Nachher kann es nicht erst an-
langen, denn die Verändenmg kann ja erst zu Stande kommen,
wenn es da ist; vorher aber kann es nicht gegeben sein, denn
sonst hätte auch die Veränderung schon früher begonnen. U
liegt also in dem Zeitpunkte, wo A aufhört und B anfängt.
Dieser Zeitmoment ist erfüllt von der ganzen Breite des
räumlichen Geschehens; von Allem, was sich im Räume verän-
dert, bezeichnet er einen Durchgangspunkt. Durch die Fixirung
ihrer Zeitstelle ist also nichts über das räumliche Verhältniss
2. Folgerungen und Erläuterungen. 103
der Ursache mitbestimmt. Nun fragt es sieh, ob wir nicht auch
darüber Etwas ausmachen können, ohne die Erfahrung zu be-
fragen. Vielleicht gestattet uns der Begriff der Ursache einen
sicheren Schluss auf diese Art ihrer Existenz. Da wir alles
objective Dasein nur als Bestimmung eines Beharrlichen wahr-
nehmen können, so folgt, dass unsere Ursache jedenfalls au einer
Substanz gesucht werden muss. Wir dürfen somit das U ge-
nauer charakterisiren als die im Zeitpunkte des Uebergangs A B
vorhandene Bestimmung irgend einer Substanz. Nun ist a priori
überhaupt nur noch Eine weitere Frage zu stellen, nämlich die,
ob ein erkenntnisstheoretischer Grund vorhanden sei, dass U der
Substanz S, welche sich verändert, selbst, oder aber einer von
ihr verschiedenen Substanz S' zukommen müsse. Im ersten
Falle wäre die Ursache eine innere, im letzten eine äussere zu
nennen.
Die Frage ist in der reinen Erkenntnisstheorie nicht zu ent-
scheiden. ^--) Für die Möglichkeit der Zeitbestimmung reicht
es hin, überhaupt eine Ursache anzunehmen; sie ist denkbar,
wenn die Ursache im Object selbst und wenn sie ausserhalb
desselben liegt. Unsere Reflexion kann hier nur durch empirische
Rücksichten bestimmt werden. Ueberhaupt können wir uns ja
im blossen Denken von der Möglichkeit der Veränderung nicht
die mindeste Vorstellung machen; wir vermögen wohl ihre con-
ditio sine qua non zu entdecken, aber sie selbst wird uns nur
begreiflich , wenn wir uns au ein Beispiel , an die Anschauung
wenden, i--^)
167. Wenn wir die Substanz empirisch bestimmen, so er-
halten wir den Begriff der Materie, der bereits eine Erfahrung,
wenn auch die allgemeinste von allen möglichen, darstellt. Ma-
terie ist die Substanz, sofern ich sie sehe, fühle, höre, die Sub-
stanz, wie sie mir sinnlich erscheint. Die fundamentale Be-
stimmung der Materie, auf welche wir alle anderen Bestimmungen
zurückführen, ist ihr Verhältuiss im Räume. Alle Veränderung
der Materie ist also Veränderung ihres Raumverhältnisses. Nun
nennt man aber die räumliche Veränderung Bewegung. i2^)
Das allgemeine Problem, das U zu finden, specialisirt sich also
hier zu der Aufgabe, die Bewegungsursache zu entdecken. Viel-
leicht können wir jetzt die Frage beantworten, ob die Bewegungs-
ursache eine äussere oder eine innere sei. Wenn die materielle
104 XII. Das Princip der Succcssion (Causalität).
Substanz M sich bewegt, so fragt es sich, ob wir eine ihrer
Accidcnzeu als Bedingung ansehen können, welche die Succes-
sion ihrer Lagen im Räume notwendig macht. Die Frage muss
verneint werden. Die Eigenschaften, welche einen brauchbaren
Begriif der Materie constituiren, eignen sich nicht zu dieser Func-
tion. Wir wissen, dass die Materie extensive Grösse hat; wir
wissen ferner, .dass sie etwas Bewegliches sein muss; wir müssen
ihr die Fähigkeit zuschreiben, andere Materie vom Eindringen
in ihren Raum abzuhalten; endlich sagen wir auch, dass sie im
Stande sei, dem Wegnehmen anderer Materie aus ihrer Umge-
bung zu widerstehen. Nun enthalten alle diese Bestimmungen
nicht ein Verhältniss der Materie zu ihren eigenen Accidenzen,
sondern zu denen von Materie ausser ihr. Die Substanz im
Räume ist nichts als ein „Inbegriff von lauter Relationen".'-^)
Somit sind wir genötigt, die Beweguugsursache einer Materie in
eine von ihr verschiedene Substanz zu verlegen, und wir haben
also den Satz:
Alle Bewegung der Materie hat eine äussere Ursache.
In diesem Grundsatze liegt also, dass jeder Wechsel von
Ruhe mit Bewegung oder umgekehrt und von einem Bewegungs-
zustande mit einem andern auf eine äussere Ursache bezogen
werden müsse. Andererseits können wir annehmen, dass, wo wir
eine solche äussere Ursache nicht zu finden vermögen, die Ma-
terie ihren betreffenden Zustand nicht verändere. '")
Das ist der logische Gehalt des Priucips, das unter dem
Namen des Trägheitsgesetzes (lex inertiae) der Mechanik zu
Grunde gelegt wird. '-•)
16S. Ein methodisch richtiger Einwand gegen die Notwen-
digkeit des Princips der Trägheit findet sich bei der dualistischen
Naturphilosophie. Allerdings, sagt sie, kennen wir eine schlecht-
hin innere Eigenschaft, welche die Substanz befähigt, selbst Be-
dingung ihrer Veränderung zu sein. Es sei nämlich die Fähig-
keit des Begehrens eine Bestimmung der organisirten Materie,
und in den sogenannten Handlungen stelle sich eine materielle
Veränderung dar, die aus einer inneren Ursache geschehe. Ent-
weder müsse man also eine belebte und eine unbelebte Materie
unterscheiden und die Inertie nur für die letztere aufstellen.
Oder aber man habe die Notwendigkeit des Trägheitsgesetzes
überhaupt zu verwerfen und es nur als stark bewährte inductive
2. Folgerungen und Erläuterungen. 105
Wahrheit anzunehmen. Die inneren Qualitäten seien aller Ma-
terie überhaupt zuzugestehen und die lex inertiae erscheine nur
als Generalisation aus den Fällen, in welchen sich dieselben
unserer Wahrnehmung entziehen oder wenigstens bisher entzogen
hätten. Durch die letztere Wendung rettet diese Ansicht trotz
der Zweiheit ihrer Principien wenigstens die Einheit der Natur.
Die kritische Philosophie stellt dieser Ausführung einfach
die Frage entgegen, an welcher Materie denn eigentlich diese
innere Qualität entdeckt worden sei. Etwa an einer besonderen
Materie? Bestehen die begehrenden Wesen aus anderen mate-
riellen Substanzen als die unorganische Welt ? — Nein. — Also
gibt uns die Erfahrung jedenfalls kein Recht, zwei Arten von
Materie anzunehmen. Ist ferner Empfindung und Begehren viel-
leicht an den chemischen Elementen wahrgenommen worden,
welche den lebenden Körper zusammensetzen? — Auch das
nicht. — Dann ist aber auch der andere Weg, diese Eigenschaf-
ten zu allgemeinen Bestimmungen der Materie zu machen, uner-
laubt. Denn es handelt sich hier leider nicht um Erfahrungs-
möglichkeit, d. h. um apriorisches Urtheilen (Erfahrung überhaupt
ist bei all diesen Hypothesen möglich), sondern wir bedürfen
einen empirisch brauchbaren Begriff der Materie. Nun sagt uns
aber die Erfahrung nichts mehr, als dass überall, wo gewisse
Compositionen und complicirte Relationen der allgemeinen. Einen
Materie stattfinden, wir gleichzeitig auch „innere" Qualitäten
beobachten. Nun sind wir allerdings unendlich weit entfernt,
diesen Zusammenhang wirklich zu erkennen. Aus der Kette
des Geschehens, als deren letzte Glieder uns die den ersten
äusserst unähnlichen psychischen Bewegungen erscheinen, ist
uns die grösste Zahl der Zwischenglieder unbekannt. Aber es
ist durchaus unwissenschaftlich, aus unserer gegenwärtigen Igno-
ranz und der ungemein hohen Unwahrscheinlichkeit künftigen
Wissens auf die Unmöglichkeit dieser Erkenntniss zu schliessen. ^-^)
Da das Princip der Trägheit aus den allgemeinen Eigenschaften
der Materie abgeleitet wurde, so muss Jeder, der sich in seiner
Ueberzeugung nur erkenntnisstheoretisch bestimmen lässt, an
seine unbeschränkte Notwendigkeit glauben, sobald er weiss,
dass die materiellen Bedinguugen in der Natur überall die
gleichen sind, i^'*)
Wo die Naturphilosophie zwar zugibt, dass der Materie
10(3 XII. Das Princip der Succcssion (Causalität).
keine inneren Qualitäten angeheftet werden dürfen, zu der eben
begründeten Ueberzeugung aber nicht durchdringt, wird sie sagen,
dass sie Empfindung und Willen als Bestimmung eines ganz hetero-
genen Princips, als die innere Seite des äusseren Geschehens, mit
einem Wort, als Accidenzen des Bewusstseins ansehe. Das Be-
wusstsein, das sich nun einmal nicht wegmikroskopiren und ver-
dam])fen lässt., ist dann die Maske für die proscribirte Seele.
Kant hat uns glücklicherweise in den Stand gesetzt, diese Auf-
fassung durch ein blosses Citat zu stürzen. ^^'')
Wir weisen sie an die „ Paralogismen der reinen Vernunft ",
wo sie eine mit endgültiger Gründlichkeit verarbeitete Seelen-
substanz findet.
Für unseren Zweck genügen folgende Bemerkungen: Wir
wissen, dass nicht nur Begehren und Empfinden, sondern über-
haupt alle- Qualitäten , die wir kennen , „ innere " Wahrnehmung,
Vorstellung, sind. Wir wissen aber auch, dass keine innere
Wahrnehmung als solche Erfahrung, d. h. Erkenntniss eines
Gegenstandes ist. Erfahrung gibt es erst, wenn wir aus unserem
Innern heraus eine äussere Anschauung producirt haben. Denn
die für alle Erkenntniss notwendige Substanz können wir nicht
in unser Bewusstsein setzen. Sobald wir uns einmal diese Be-
dingung der Erfahrung klar gemacht haben, kann auch das so-
genannte Bewusstsein oder Ich kein Gegenstand der Erkenntniss
mehr für uns sein, insofern wir es durch innere Wahrnehmung
erkennen wollen; denn da würde nicht weniger als die Haupt-
sache zu einem Objecte fehlen, nämlich die Substanz. Die Ur-
thatsache, welche den Inhalt unseres zweiten Grundsatzes bildet,
dass alle Vorstellungen als solche wirklich seien, ist das Einzige,
was wir als Erkenntniss der Innern Wahrnehmung gelten lassen.
Alles Weitere erfordert äussere Anschauung. Wenn es uns also
im Laufe der Erfahrung nicht mehr genügt, von dem blossen
Factum des Bewusstseins überzeugt zu sein, und wir es als Ob-
ject erkennen, d. h. als Accidens einer Substanz darstellen wollen,
so müssen wir nach den allgemeinen Bedingungen des Erken-
nens verfahren, wir müssen die dem Bewusstsein entsprechende
Materie zu erforschen suchen.
So entwickelt sich innerhalb des erkenntnisstheoretischen
Idealismus ein kritischer Materialismus der Naturerklärung. Die
beiden Naturansichten sind kein Widerspruch, sondern eine Er-
2. Folgerungen und ErLäutefungen. 107
g-änzung. Wir sind uns bewusst, dass auch die Materie, wie
alles Andere, blosse Vorstellung ist ; aber wir sind uns auch be-
wusst, dass wir auf die Materie alle anderen Vorstellungen be-
ziehen müssen, insofern aus ihnen Eine Erfahrung werden soll.
169. Kant hat bemerkt, dass das Causalgesetz dii-ect auf den
Begriff der Substanz führen würde, auch wenn wir ihn nicht
schon vorher aus der Forderung eines Beharrlichen gewonnen
hätten. Denn die Causalität sei immer der erste Grund von allem
"Wechsel der Erscheinungen und könne also nicht in einem
Subject liegen, das selbst wechsle, weil sonst wieder andere
Handlungen und ein anderes Subject, welches diesen Wechsel
bestimme, erforderlich wären. Demnach sei die Causalität ein
hinreichendes empirisches Kriterium der Substantialität. i-^i) Ich
kann dieser Ansicht nicht beitreten. Wenn das Subject, durch
welches wir eine Succession bestimmt sehen, selbst wechselt,
so folgt daraus nur, dass wir auch für diesen Wechsel eine
Ursache aufsuchen und nachher auch deren Zeitfolge bestimmen
müssen u. s. w. Wir gelangen also auf diese Weise bloss zu
einer unendlichen Kette von Ursachen, nicht aber zu einer
beharrlichen Bedingung derselben. Aber auch wenn man, wie
wir es gethau haben, die Substanz bereits voraussetzt, so ent-
geht man dadurch keineswegs döm unendlichen Regressus auf
frühere Ursachen Denn wenn ich auch in der Substanz ein
beharrliches Subject meiner Causalität besitze, so muss doch
das Eintreten seines Accidens, in welchem ich die Ursache er-
kenne, durch eine andere Substanz bedingt sein, und bei dieser
findet das Nämliche statt, und so müssen wir immer wieder auf
eine andere Bedingung zurückgreifen. Kant hat den Verlauf
dieses Processes in der dritten Antinomie ausführlich dargestellt.
Somit ergibt sich aus dem Causalgesetz, dass wir einen An-
fang der Veränderung nicht zu erkennen vermögen. Verände-
rung hat in der Natur nicht begonnen; sie war immer da. Die
Bewegung ist ewig. ^ •-) Selbstverständlich gilt das nur von der
Veränderung überhaupt. Sobald man den empirischen Begriff
eines bestimmten Wechsels betrachtet, hat man auch für dessen
Causalreihe ein erstes Glied zu suchen. Das allgemeine Gesetz
sagt bloss, dass, wenn ein solcher Anfang gefunden wird, dieser
wiederum als letztes Glied einer andern Reihe angesehen wer-
den müsse u. s. f. ins Unendliche.
108 XII. Das Princip der Succession (Causalitiil).
Aus dieser Betrachtung folgt unmittelbar das wichtige Resul-
tat, dass es in der Natur keine Freiheit gibt. Freiheit bedeutet
die Möglichkeit, dass eine Substanz Ursache einer Veränderung
werde, ohne selbst in ihrer Function zeitlich bestimmt zu sein.
Die kritische Deductiou des Causalgesetzes schliesst eine solche
Möglichkeit aus. Wie auch die Ethik den zur Idee erhobenen
Freiheitsbegriff verwerten möge, in der theoretischen Philosophie
ist er schlechthin bedeutungslos. ^^■^)
170. Die allgemeine empirische Bestimmung des Causal-
gesetzes gestattet uns die exacte Definition des Begriffs der
Kraft, der in der Naturforschung eine so grosse Rolle spielt.
Kraft ist die Vorstellung der Möglichkeit der Function, durch
welche die eine Substanz die Veränderung der andern bedingt.
Es ist ungenau, die Materie selbst, und ebenso ungenau, ihr
Accidens Kraft zu nennen ; denn die Möglichkeit liegt in keinem
dieser Stücke allein, da ja die Substanz nur durch ihre Eigen-
schaft und diese nur an der Substanz erkennbar wird. Kraft
ist vielmehr das Verhältniss einer Substanz zu ihrer Eigenschaft,
insofern diese als Ursache erscheint; Kraft bezeichnet die Inhä-
renz der Ursache. '^4) So bedeutet bewegende Kraft nur das
Vorhandensein einer Eigenschaft an der Substanz, durch welche
sie die Orts Veränderung einer" andern Substanz bestimmt.
Aus dieser Definition fliesst eine disciplinarische Vorschrift^
welche die mystische Hypostasirung der Kräfte unmöglich macht.
Kraft gibt es nur da, wo Substanz und Veränderung ist. Wir
können eine Kraft nicht anders erkennen, begreifen und benennen,
als nach den Wirkungen von Ursachen. Wo wir diese nicht
sehen und doch an das Vorhandensein einer Kraft glauben, da
träumen oder dichten wir.
Bewegende Kräfte haben wir nur da, wo „gewisse succes-
sive Erscheinungen" sie anzeigen; sie sind nichts als die „Ge-
setze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird. "''^)
Die Frage nach der Anzahl der Grundkräfte in der Natur
und ihrem Verhältniss zu den abgeleiteten Kräften gehört in die
angewandte Erkenntnisstheorie. — Die Frage nach der Möglich-
keit der Kraft überhaupt ist eine Frage nach der Möglichkeit
der psychischen Organisation, welche uns zur Erkenntniss be-
fähigt; die Erkenntnisstheorie hat sie abzuweisen und der Psy-
chologie zu überliefern.
2. Folgerungen und Erläuterungen. 109
171. Da die Zeitreibe eine stetige Grösse ist (vgl. § 61),
so muss auch ihre Bestimmung continuirlich sein. Wenn eine
Substanz aus dem Zustande A in den Zustand B übergeht, so
nimmt diese Veränderung eine Zeitstrecke ein, welche, so klein
sie auch sein mag, eine Grösse hat. Denken wir uns nun die
Dauer (vgl. oben § 145) der Veränderung in beliebig viele
Theile getheilt, so muss nach dem vierten Grundsatze (vgl.
§115) jeder dieser Zeittheile real erfüllt sein. Der Uebergang
von einem dieser Theile zum andern stellt also eine partielle
Veränderung der Substanz dar. Da das Causalgesetz für alle
Veränderungen gilt, so gilt es auch für diese partiellen, und es
muss auch für sie gelten, wenn wir die Anzahl der Theile
unendlich gross annehmen. Somit können wir die Continuität
aller Veränderungen behaupten.
Allein man darf dieses Gesetz nicht dahin missverstehen,
dass man glaubt, es stelle den stetigen Uebergang des Zustandes
A in den Zustand B durch alle zwischen 0 und B liegenden
Grade der Realität auf (vgl. oben § 121). Die Gültigkeit dieser
Continuität lässt sich nur empirisch mit comparativer Allgemein-
heit darthun. Die Stetigkeit wird hier nur insofern behauptet,
als für jeden Durchgangspunkt der Veränderung, einen wie
kleinen Zeitraum er auch abgrenzen mag, eine wirkende Ur-
sache gedacht werden muss. i^"'»)
Durch die Einsicht, dass die Veränderung nur nach einer
continuirlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen
könne, hebt sich ein Bedenken gegen die Ableitung des Causal-
gesetzes. Man könnte glauben, die Succession sei schon deshalb
nicht sein eigentliches Kriterium, weil in der Natur Wirkung
und Ursache häufig zugleich seien. Diese scheinbare Coexi-
stenz beruht darauf, dass die Wirkung schon nach einer ver-
schwindend kleinen Zeit, die dann vernachlässigt und gleich
Null betrachtet wird, auf die Ursache folgt. Allein das Zeit-
verhältniss beider bleibt nichtsdestoweniger bestimmbar ; es lässt
sich in jedem Falle feststellen , welcher der Zustände nur voran-
gehen und welcher nur folgen könne. Und nur darum handelt
es sich bei dem Causalgesetz. Wo ein solches Gesetz nicht
erkannt werden kann, da ist dann nicht das Causalprincip, son-
dern die objective Gültigkeit der Succession anzuzweifeln; es ist
110 XII. Das Princip der Succession (Causalität).
dann einlach die Anwendung des Cansalgesetzes und folglich die
Erkenntniss einer Veränderung unmöglich. '■'■)
Die in einer unendlich kleinen Zeit wirkende Ursache einer
partiellen Veränderung heisst ein Moment. An den Momenten^
als deren Wirkung die Veränderung erzeugt wird, können wir
nichts wahrnehmen, als ihre intensive Grösse '^M und ihre Ver-
schiedenheit. •
172. Der Einheitsbegriif von Ursache und Wirkung ist die-
selbe Function des Bewusstseins, welche die Logik in der hypo-
thetischen Urtheilsform beschreibt; denn auch durch das hypo-
thetische Urtheil wird eine solche Verknüpfung zweier Glieder
gedacht, dass, wenn das eine, der Grund, gesetzt wird, das an-
dere, die Folge, notwendig gesetzt werden muss, und zwar so,
dass die beiden Glieder nicht verwechselt werden können. Da
nun also nach dem Causalgesetz auch in der Natur „ eine Regel
des Verhältnisses angetroffen wird, die da sagt: dass auf eine
gewisse Erscheinung eine andere (obgleich nicht umgekehrt) be-
ständig folgt" i-^'J), so weiss ich, dass mir die Wahrnehmung für
diese Verknüpfungsform einen adäquaten Inhalt liefern wird, und
ihre objective Gültigkeit ist gesichert. Das hypothetische Urtheil
ist nicht mehr eine blosse Combiuation von Gedanken, sondern
das Bild eines realen Verhältnisses, die „Form" einer Er-
kenntniss.
Aus der Betrachtung der Causalität geht unmittelbar her-
vor, dass, wenn das hypothetische Urtheil mit diesem Inhalt voll-
ständig congruiren soll, stets zwei Urtheile in ihm enthalten sein
müssen. In der Causalität erscheint eine Relation zweier Sub-
stanzen; ihr Ausdruck erfordert also die Formen zweier Inhärenz-
verhältnisse, d. h. zwei Urtheile, zwei Sätze. Wenn die Sonne
scheint, wird der Stein warm. Der Vordersatz beschreibt die
Function der bedingenden, der Nachsatz die Veränderung der be-
dingten Substanz. Allein wir können dieselbe Beziehung auch auf
einen kürzeren Ausdruck bringen, indem wir schlechtweg die
beiden Substanzen setzen und die Art ihrer Verknüpfung durch
ein „transitives" Verbuni symbolisiren. Dadurch erhalten wir das
Urtheil : Die Sonne erwärmt den Stein. In dieser Fassung tritt
die Entstellung der Consoquenz aus der Succession zurück, die
reale Function dagegen, der Einfluss der ersten Substanz auf
die zweite, in den Vordergrund. Dieser Satz, den die Gram-
2. Folgerungen und Erläuterungen. 111
matik als emfach bezeichnet, ist also logisch zusammeng-esetzt,
indem er den objectiven Zusammenhang zweier Substanzen dar-
stellt. Es ist bedauerlicli, dass die Logik diese Beziehungen,
über welche allerdings erst die erkeuntuisstheoretische Begrün-
dung volles Licht verbreiten kann, zu ignorireu pflegt.
173. Dass das dogmatische Denken auch den Begriff der
Ursache zu Gunsten des Dings au sich missbrauchen kann, ist
selbstverständlich. Man vergisst, dass die Causalität nur zur
Zeitbestimmung dient, dass die Ursache allein im vorhergehen-
den Zeitmoment gesucht und dieser nur durch seine intensive
Erfüllung wahrgenommen werden kann. Man ist davon über-
zeugt, dass unsere Vorstellungen doch eine Ursache haben müssen
und lässt sich die Freude an dieser Einsicht nicht durch die
nüchterne ßeflexiou stören, dass diese Ursache wieder nur unsere
Vorstellung, ausserdem aber ein für uns bedeutungsloses Un-
ding ist.
Wer die Ableitung des Causalgesetzes begriffen hat, für den
werden nicht nur diese Offenbarungen des common sense höchst
unschädlich sein, sondern er wird auch die ungeheuerliche Zu-
mutung würdigen, Kant habe das Ding an sich als Ursache er-
schlossen, i^ö) In Hinsicht auf diese stets fortlebende Interpre-
tation habe ich im Verlaufe der Abhandlung betont, dass das
Ding an sich (natürlich als Begriff und nicht als „Gegenstand",
der überhaupt nirgends vorhanden ist) vor aller Deduction des
Causalgesetzes in einem unabhängigen Gedankengange erzeugt
wird. (§ 64—66.)
174. Unter dem Namen des Satzes vom Grunde cursiren im
philosophischen Sprachgebrauch eine Reihe von Prineipien, ohne
deren strenge Souderung eine wissenschaftliche Erkeuutnisstheorie
unmöglich ist. Ihre systematische Unterscheidung hat Schopen-
hauer in seiner Abhandlung „Ueber die einfache Wurzel des
Satzes von zureichendem Grunde" durchzutühren gesucht. i^^) Er
will zeigen, dass dieser Grundsatz aus vier verschiedenen Grund-
erkenntnissen unseres Geistes fliesse und nur der gemeinschaft-
liche Ausdruck für den Grund des Geschehens, des ErkSnueus,
des Seins und des Handelns sei. Es ist nützlich anzumerken,
wie sich unser Princip zu diesen vier Grundsätzen verhalte.
Den Inhalt des Kantischen Causalgesetzes lässt Schopen-
hauer durch die erste Aeusserungsform seines allgemeinen Grund-
1 1 2 XII. Das Priucip der Successiou (Causalität).
Satzes vertreten, welche er das prineipium rationis sufficientis
tiendi ueimt. — Daran reiht er zunächst das prineipium rationis
sufficientis cognoscendi. Dass diese Gestalt von der ersten sehr
verschieden sei, ist auf Kantischem Standpunkte ohne Weiteres
zuzugeben; nur muss man hinzufügen, die Verschiedenheit sei
so gross, dass man beide Arten überhaupt nicht mehr als Func-
tionen des gleichen allgemeinen Grundsatzes betrachten darf.
Der Satz vom Erkenntnissgrunde ist für uns nichts weiter als
das oben (§ 33) angeführte, aus der Definition der Logik sich
ergebende formale Princip. Es sagt einfach : Erinnere dich, dass
die logische Wahrheit bloss hypothetisch ist; jedes formale Ur-
theil ist bloss ein Nachsatz, zu dem ein Vordersatz gegeben
sein muss. Dieser Grundsatz ist also dem vorigen durchaus
nicht coordinirt, sondern bloss insofern von ihm abhängig, als
die hypothetische Urtheilsform ohne das Causalgesetz überhaupt
keine objective Geltung haben würde. (§ 172.) Kant hat auch
das -logische (formale) Princip der Erkenntuiss " : Ein jeder Satz
muss seinen Grund haben , aufs schärfste geschieden von dem
„ transscendentalen (materiellen)": Ein jedes Ding muss seinen
Grund haben. In dieser Hinsicht vertheidigt er Leibnitz gegen
das Gespött missverstehender Gegner; wenn Leibnitz dem Satze
des zureichenden Grundes eine gewisse Wichtigkeit beigelegt
habe, so habe er jedenfalls nicht dieses formale Princip als
Naturgesetz verstanden wissen wollen; denn es sei ja so allge-
mein bekannt gewesen, dass damit auch der schlechteste Kopf
nicht eine neue Entdeckung gemacht zu haben glauben konnte.
Er habe vielmehr gefordert, dass, wenn Urtheile über das Object
etwas aussagen wollen, was nicht schon in seinem Begrifi'e liegt,
„sie ihren besondern Grund haben" müssen. '^■-)
Untei' der dritten Gestalt, dem prineipium rationis suffi-
cientis essendi, versteht Schopenhauer das Gesetz, nach welchem
die Theile der Eiuheitsanschauungen einander ihre Verhältnisse
bestimmen. Dieser Satz bezieht sich auf Lage und Folge und
enthält die Eigenschaften, welche Kant in der transscendentalen
Aesthetik an Raum und Zeit entdeckt hat. An und für sich
lässt sich nichts dagegen sagen, wenn man jedes dieser Resultate
in einem Satze formulirt. Allein es ist einmal unrichtig, dieses
Princip Grund des Seins zu nennen ; denn die reinen Anschauungen
stellen selbst kein Sein dar, sondern sind blosse Formen alles
2. Folgerungen und Erläuterungen. 113
Realen. Sobald es sieb um ein wirkliebes Dasein bandelt, bat
dieser Satz keine Bedeutung mebr und es tritt unser fünfter
(§ 126) und secbster (§ 136) Grundsatz in Function. Dann ver-
stösst es nutzloser Weise gegen den Spracbgebraucb, diese er-
kenntnisstbeoretiscbe Tbatsacbe überhaupt Satz vom Grunde zu
nennen. Es widerstrebt uns, die vierte Stunde Folge der dritten,
den Norden Grund des Südens zu nennen. Der Begriff der Ur-
sacbe tritt erst ein, wo es sieb um die reale Bestimmung einer
Veränderung bandelt.
Man kann die Frage nach dem Seinsgrund in einem andern
Sinne stellen und sagen, Kant babe wobl für die Veränderung,
nicht aber für das, was sich verändert, die Ursache angegeben.
Durch die blosse Annahme, das Reale sei gegeben, werde unser
Erkennen nicht befriedigt, wir müssen auch wissen, wann, warum
es gegeben worden. Die Antwort lautet, dass die Frage an
Kant überhaupt nicht gerichtet werden darf. Das kritische
Denken fordert die Ewigkeit der Substanz; es betrachtet nur
das bewegliche Sein und kennt kein substantielles Nichtsein,
kein Werden von Materie (§ 148). Somit kann es den Seins-
grund entbehren. Wenn der Dogmatiker den Samen die Ursache
des Baumes nennt, so wird sich der kritische Idealist vor diesem
Gedanken hüten. Ihm ist der Samen die Substanz, die sich
verändert und im allmäligeu Keimen und Wachsen zum Baume
wird. Ursache dieser Veränderung nennt er die Gesammtbeit
der äusseren Lebensbedingungen, deren Fehlen das Wachstum
unmöglich macht. Wird er aber nach der Ursache des Samens
gefragt, so forscht er nach den physikalischen Bedingungen der
Veränderungen, Avelche die allgemeine Materie zu dem machen,
was wir Samen nennen. Von der Materie selbst aber sagt er,
dass sie zu aller Zeit in gleichem Quantum dagewesen, sei.
Die letzte von Schopenhauer aufgezählte Gestalt des Satzes
vom Grunde, das principium rationis sufficientis agendi, bedeutet die
Motivation oder die „Causalität, von innen gesehen". Ein solches
Princip kennt die kritische Erkenntnisstheorie nicht. Da sie
leider die Substanz nicht im Innern anzuschauen vermag, ge-
bricht es ihr auch an der Innenansicht der Causalität. Sie stellt
unsere Handlungen als Momente des allgemeinen Geschehens
unter das gewöhnliche , die ganze Natur umfassende Causalgesetz.
Stadler, Erkenntnisstheorie. o
114 XII. Das Priucip der Successiou (Causalität).
Ob und wie dagegen die praktisclie Philosophie ein Princip der
Motivation zu verwerten habe, ist hier nicht zu besprechen.
175. Wir sind noch genötigt, unsern Grundsatz gegen einen
Irrtum zu schützen, der durcli Schopenhauer veranlasst und in
neuerer Zeit durch das Missverständniss einer naturwissenschaft-
lichen Theorie getördert worden ist.
Schopenhauer wirft Kant vor, dass er „ die Vermittlung der
empirischen Anschauung durch das uns vor aller Erfahrung be-
wusste (sie) Cäusalitätsgesetz entweder nicht eingesehen, oder,
weil es zu seinen Absichten nicht passte, geflissentlich umgangen
hat". 1^3) Ob er sie eingesehen hat, weiss ich nicht; davon aber
bin ich überzeugt, dass, wenn er sie einsah, er unzweifelhaft die
Ausführung im Sinne Schopenhauers „geflissentlich" umgieng.
Es war allerdings eine wesentliche Eigenschaft Kaut's, dass er
Alles, was „zu seinen Absichten nicht passte", zu seinen Ab-
sichten nämlich, eine Aufgabe reinlich und gewissenhaft zu
lösen, von seiner Betrachtung ausschloss. Es muss ein für alle-
mal erklärt werden, dass das Kantische Causalgesetz und seine
Deduction mit dem in der Sinneswahrnehmung mitwirkenden
psychischen Vorgange nichts zu schaffen hat.
Die wichtige Beobachtung, dass die sinnliche Vorstellung
Eigenschaften zeigt, welche sich aus den Factoren des „phy-
sischen " Processes nicht erklären lassen und zur Annahme einer
„psychischen" Einwirkung nötigen, wurde zuerst von Schopen-
hauer ausgeführt 1") und dann von der Sinnesphysiologie unter
Ignorirung des Vorgängers aufgenommen oder neu gemacht. Die
psychische Function wurde bald als intellectuelle Anschauung,
bald als unbewusstes Schliessen oder unbewusste Association be-
zeichnet, welche Namen alle gleich unglücklich sind. Hier
handelt es sich bloss darum, dass gewisse Resultate der Sinnes-
wahrnehmung uns zur Annahme von Operationen zwingen, welche
wir uns nur nach Analogie unserer logischen Functionen vorstellen
können. ^^■>) So nimmt eine physiologische Theorie zur Erklärung
der Gesichtsvorstelluugen an, dass die Empfindungen durch einen
mechanischen Vorgang in analoger Weise verbunden werden, wie
sie im bewussten Denken nach dem Causalgesetz verknüpft er-
scheinen. Sie stellt also mit vollem Recht den Satz auf, dass der
Sinnesvorstellung ein mechanisches Gesetz zu Grunde liege, das
dem von Ursache und Wirkung entspreche. Geht man aber so weit,
2. Folgerungen und Erläuterungen. 115
zu sagen: „Demgemäss müssen wir das Gesetz der Causalitäty
vermöge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schliesseu,
auch als ein aller Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Den-
kens anerkennen", so müssen wir allerdings um einige Auf-
klärung ersuchen. Wie so folgt aus dem Umstände, dass es in
der Natur unserer physischen Organisation liegt, die Empfin-
dungen mechanisch in einen Causalzusammenhang zu setzen, die
Notwendigkeit, dass es auch die Natur des bewussten Erkennt-
nissprocesses fordere, diese Synthese vorzunehmen? Warum muss
ich, nachdem ein in mir wirkendes mechanisches Gesetz mir
zum Besitz der Raumvorstelluug verholfen hat, nachher fort-
fahren, mich bei der bewussten Synthese an dieses Gesetz zu
halten? Ist die Vorstellung der Aussenwelt einmal gebildet, was
brauche ich dann noch weiter auf äussere Objecte zu schliessen?
Oder wenn jeder Wechsel meiner Empfindungen den Schluss
auf ein äusseres Object erfordert, wie komme ich darum dazu,
den Wechsel der Zustände an einem äussern Object auf eine
Ursache zi3 beziehen? Wenn ich auch einsehe, dass in dem
Vorstellen des Kindes, welches nach dem Monde greift, und des
Hühnchens, das nach den Körnern pickt, eine Function des psy-
chischen Causalmechanismus sich äussert, so bin ich darum nicht
im mindesten überzeugt, dass der vermittelst dieser Causalfunction
zur höchsten Reife des Bewusstseins entwickelte Physiker beim
experimentellen Studium der Natur an den notwendigen Causal-
zusammenhang aller Erscheinungen glauben muss. Dies mag
uns die Psychologie zunächst deutlich machen, bis zur vollen-
deten Arbeit aber ihre Schlüsse auf das „ exacte " Mass reduciren.
Man kann vorläufig der logisch-genetischen Theorie der Physio-
logen beitreten, und dabei Anhänger Hume's oder Kantianer sein.
Wenn sich daher Physiker für diese Theorie anstatt auf
Schopenhauer auf Kant berufen, so ist das ein systematischer
Irrtum. *") Man sagt: Kant hat „die Apriorität des Causalgesetzes
verfochten. Merkwürdigerweise ist ihm das einfachste und schla-
gendste Argument entgangen, das in der soeben angedeuteten
Ueberlegung (über das unreflectirte Schliessen) besteht". ^^') Dass
dies in der That höchst merkwürdig ist, unterschreibe ich, sobald
mir gezeigt wird, dass dieses einfache und schlagende Argument für
den erkenntnisstheoretischen Grundsatz überhaupt anwendbar ist.
llü XIII. I>as rrincip der Cocxisteuz (Wechselwirkung).
\lll. Diis Princip der Cocxisteuz
(Wecbselwlrkiuig).
1. Neunter Grundsatz.
1 76. Indem wir nun dazu übergehen, für die zweite Art der
zeitliehen Synthese die Regel aufzustellen, müssen wir vor Allem
die Frage aufwerfen, ob der Modus des Zugleichseiiis, den wir
zunächst problematisch als Thatsache angenommen haben (§ ö7,
§ 138), auch wirklich existire, oder ob er sich vielleicht vor der
genaueren Untersuchung als blosser Schein herausstelle. So-
viel ist nach dem allgemeinen Grundsatz (§ 136) sicher, dass
wenn in der Zeit eine Simultaneität enthalten ist, die objective
Gültigkeit dieses Verhältnisses ihr besonderes Princip der realen
Verknüpfung erfordert.
Die Bejahung der Frage ist durchaus nicht selbstverständ-
lich, "^j Da uns die erkenntnisstheoretische Analyse das Wesen
der Zeit dahin beschreibt, dass alle ihre Theile oder Einschrän-
kungen nacheinander vorgestellt werden, so liegt das skeptische
Bedenken nahe, dass die Vorstellung einer Coexistenz etwas Un-
mögliches sei.
177. Wir besitzen die Mittel, diesen Zweifel zu heben.
Erfahrungsobjecte können uns, wie wir wissen, nur dadurch
gegeben werden, dass sie unter der einheitlichen Anschauung
des Raumes erscheinen. Nun liegt aber die Grundeigenschaft
dieser Anschauung in der Simultaneität all ihrer Theile. Falls
Erfahrung zu Stande kommen soll, muss es also jedenfalls mög-
lich sein, das Zugleichsein von Räumen vorzustellen. Nun wissen
wir aber ferner, dass alle Vorstellungen empirische Modificationen
unseres Bewusstseins sind, die uns nur in der Form der Zeit
gegeben werden können; somit müssen auch die räumlichen
Anschauungen bei ihrem Eintritt ins Bewusstseiu in die Zeit-
vorstellung aufgenommen werden. Folglich muss es möglich
sein, in der Zeit eine Coexistenz vorzustellen. So wird die Mög-
lichkeit des Zugleichseins schon durch die Möglichkeit des Bei-
sammenseins erfordert; die Simultaneität wird durch den Be-
griff der Erfahrung selbst für notwendig erklärt.
178. Diese Ueberlegung ist der Schlüssel zum Verständniss
I. Neunter Grundsatz. 117
des verkanuten Princips der Wechselwirkung. Das ist der eigent-
liche Sinn und die erkenntnisstheoretische Function des neuen
Grundsatzes, dass er, indem er das Verhältniss der Gleichzeitig-
keit objectivirt, die Raumanschauung ermöglicht. Ein paradoxes
Ergebniss! Nachdem uns die ursprüngliche Analyse den Raum
als Bedingung der Erfahrung enthüllt, nachdem der fünfte Grund-
satz seine ohjective Geltung begründet hat, gelangen wir jetzt,
nahe dem Schlüsse der erkenntnisstheoretischen Untersuchung,
zu einem Gesetze, das uns überhaupt erst zur räumlichen Vor-
stellung befähigt! An dieser Stelle lernt mau die organische
Einheit und Solidarität der kritischen Deductionen verstehen.
Hier wird mau sich so recht bewusst, wie die zum Zweck der
Beschreibung gesonderten Fimctionen von allen Seiten wieder
zusammenstreben, sich gegenseitig ergänzen und schliesslich in
dem Begriffe der Erfahrung verschmelzen. In der Kritik der
reinen Vernunft sind Aesthetik und Analytik so wenig künstlich
gebildete Pendants, dass ohne das eine nicht einmal die Mög-
lichkeit des andern eingesehen werden kann.
179, Was sollen wir uns nun aber nach den allgemeinen
Eigenschaften der Zeit unter dem Begriffe des Simultanen eigent-
lich denken? Wenn wir sagen, Dinge oder Zustände oder Er-
eignisse seien zugleich, so verstehen wir darunter, dass das
Dasein des einen in die gleiche Zeitstrecke fällt wie das Dasein
des andern. Wie soll ich aber von verschiedenen Vorstellungen
constatiren, dass sie den Inhalt desselben Zeittheils bilden ? Die
Zeit ist nicht wahrnehmbar; ich kann nicht von den Dingen
ablesen, ob sie in denselben Abschnitt gehören. Meine Vor-
stellungen aber sind alle nacheinander. Wenn ich auch nur zwei
Gegenstände wahrnehme, so ist die Wahrnehmung des einen
früher, die Wahrnehmung des andern später. Allein nun kommt
uns der andere Grundsatz zu Hülfe. So viel können wir ja be-
haupten, dass die Folge dieser Wahrnehmungen jedenfalls nur
dann objectiv ist, wenn sie unter dem Causalgesetz erscheint.
Im andern Falle deutet sie mir bloss eine Function der Einbil-
dungskraft an, die ich nachher ebensogut iu umgekehrter Ord-
nung wiederholen kann. Nun gibt es ausser der notwendigen
und der nicht notwendigen Folge keine andere Vorstellung des
Zeitverhältuisses. Es steht also jedenfalls fest, dass wir uns
unter der Gleichzeitigkeit nur ein Zeitverhältniss vorstellen
118 Xlll. Das Princip der Coexistenz ("Wechselwirkung).
könueu, bei dem die Ordnung der Suecession nicht durch das
Causalgesetz fixirt ist; soweit muss sie also als das Verhältniss
von Dingen definirt werden, nach welchem die Wahrnehmung
des einen ebensogut auf die des andern folgen, als ihr voran-
gehen kann. Verschiedene Objecte A bis E können nur dann
gleichzeitig heisseu, wenn ich im Stande bin, von A durch B,
C, D zu E oder auch umgekehrt von E zu A zu gelangen.
150. Nun fragt es sich aber, ob wir nicht durch diese De-
finition für unsere Zeltbestimmung hinreichend ausgerüstet sind
und einen neuen Grundsatz überhaupt nicht brauchen. Da es
nur diese zwei Verhältnisse in der Zeit gil)t, so sind wir doch
überall da zu einem Urtheil über die Gleichzeitigkeit der Er-
scheinungen berechtigt, wo wir ihre Folge nicht als objectiv
beurtheilen können. Der Schluss ist falsch. Aus dem Bewusst-
sein, dass eine Folge nicht notwendig sei, fliesst bloss das Bc-
wusstsein, dass gewisse Bedingungen für die Gleichzeitigkeit vor-
handen sind, nicht aber die, diesen Bedingungen entsprechende
notwendige Zusammengehörigkeit der Vorstellungen. Wenn meine
Einbildungskraft die Ordnung umkehren kann, so liegt darin
noch keine Notwendigkeit, die Erscheinungen wechselweise als
eine Einheit vorzustellen. Wenn ich mich vom Zwange frei
fühle, B auf A folgen zu lassen, so fühle ich mich nicht eben-
dadurch unter den Zwang gestellt, die zwei Einheiten A B und
BA zu bilden. Es findet keineswegs die Disjunction statt: Alle
Zeitverhältnisse sind entweder objective Suecession oder objec-
tive Coexistenz. Wir wissen bloss: Alle Zeitordnung ist Sue-
cession und diese hat entweder nur subjective oder sie hat auch
objective Geltung. Im ersteren Falle ist die Folge umkehrbar;
allein wenn ich sie umkehre, so weiss ich weiter nichts, als
dass die eine und hierauf die andere Vorstellung im Bewusstsein
ist, nicht aber, dass die Umkehrung auf der in jeder Richtung
gleich notwendigen Einheit dieser Vorstellungen beruht.
151. Mein Urtheil über die wechselseitige Zusammenge-
hörigkeit der Vorstellung kann somit nur dadurch notwendig,
die Gleichzeitigkeit also nur dadurch objectiv werden, dass sich
in meinem Bewusstsein eine Regel erzeugt, durch welche meine
Synthese beherrscht erscheint.
Der Inhalt eines solchen Grundsatzes ist leicht zu finden.
Die wechselseitige Folge meiner Wahrnehmungen kann ich mir
2. Erläuterungen und Folgerungen. 119
nur dann als notwendig vorstellen, wenn ich annehme, dass ihr
Inhalt so bestimmt sei, dass mit dem Uebergange von einem zum
andern auch der umgekehrte Uebergang gegeben werde. Es
muss A dem B und umgekehrt auch B dem A die Stelle in der
Zeit bestimmen. Fange ich bei B an, so sehe ich, dass es nur
vorhanden sein kann, wenn vorher A war, aber so, dass auch
das Dasein von A schon die Existenz von B voraussetzt. Diese
Vorstellung führt in der That auf das unmittelbar nicht wahr-
nehmbare Verhältniss einer mehrfachen Erfüllung der gleichen
Zeit. Denn in der Zeitstrecke, während welcher A das B be-
stimmt hat, muss es auch von B bestimmt worden sein, sonst
wäre weder B noch A vorhanden.
182. Nun nannten wir im vorigen Grundsatz den der Zeit-
ordnung analogen Einfluss einer Substanz auf eine andere das
Verhältniss von Ursache und Wirkung. Dem entsprechend können
wir die hier erforderliche doppelseitige Bestimmung als das Ver-
hältniss der Wechselwirkung bezeichnen. Wir müssen also sagen,
dass wir das Zugleichsein der Substanzen nur unter der Be-
dingung wahrnehmen können, dass wir in jeder Substanz die
Causalität gewisser Bestimmungen der anderen, und gewisse
Wirkungen der Causalität dieser anderen wahrnehmen. Somit
erhalten wir den Grundsatz:
183. Alle Substanzen stehen in durchgängiger Wechselwir-
kung. 14«)
2. Erläuterungen und Folgerungen.
184. Die Wechselwirkung ist das Aschenbrödel unter den
Kategorien und Grundsätzen. Kant selbst hat sie weniger aus-
führlich behandelt, als die Substanz und Causalität, und die
Mehrzahl seiner Erklärer hat überhaupt nur den Begriff von
Ursache und Wirkung einer eingehenden Betrachtung gewürdigt.
Wir müssen daher noch einige Hauptpunkte der Kantischen Dar-
stellung besonders hervorheben.
Zunächst sei auf die schon im Titel hervortretende erkennt-
nisstheoretische Verschärfung der zweiten Ausgabe hingewiesen.
Der fünfte „Grundsatz der Gemeinschaft" wird deutlicher an-
gekündigt als „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Ge-
setze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft". Die Aenderung
120 XIII. Das Princip der Cooxistenz (Wechselwirkung).
entspricbt genau der Aendening bei der Causalität, wo „Grund-
satz der Erzeugung" ersetzt wurde durch „Grundsatz der Zeit-
folge nach dem Gesetz der Verknüpfung der Ursache und Wir-
kung". '•'") In derselben Tendenz, den Grundgedanken der
erkenntnisstheoretischen Ableitung schärfer hervortreten zu lassen^
wurde auch statt „Substanzen, sofern sie zugleich sind" ge-
schrieben „Substanzen, sofern sie . . . als zugleich wahrge-
nommen werden können". Die zweite Fassung will sich
von vornherein gegen die Frage wehren , wie man denn über-
haupt zu dem neuen Grundsatze komme.
185. Das Verständniss des Grundsatzes hängt von der Ein-
sicht ab, dass derselbe für die Objectivirung der llaumanschauung
notwendig sei. Kant hat diesen Gedanken nicht seiner Bedeu-
tung entsprechend betont, aber immerhin zum klaren Ausdruck
gebracht. Vor Allem ist die Formel der zweiten Ausgabe durch
den Zusatz „ im Räume " (sofern sie im Räume als zugleich wahr-
genommen werden können) bereichert. Diese pleonastische, aber
epexegetisch bedeutsame Bestimmung findet sich auch im Schluss-
satze des hinzugekommeneu Beweises wiederholt. ^•>^) lieber
jeden Zweifel erhebt uns die Bemerkung, dass Kant sich des
Wortes Gemeinschaft in der Bedeutung einer dynamischen Ge-
meinschaft bediene, „ohne welche selbst die locale(com-
munio spatii) niemals empirisch erkannt werden
könnte", ''''^) Da tritt die erkenntnisstheoretische Function der
Wechselwirkung im Sinne der obigen Darstellung unverkennbar
zu Tage. Und nun beachte man die folgenden Beispiele. „ Unseren
Erfahrungen ist es leicht anzumerken, dass nur die continuir-
lichen Einflüsse in allen Stellen des Raumes unsern Sinn von
einem Gegenstande zum andern leiten können. " „ Dass wir keinen
Ort empirisch verändern (diese Veränderung wahrnehmen) können,
ohne dass uns allerwärts Materie die Wahrnehmung unserer
Stelle möglich mache." „Ohne Gemeinschaft ist jede Wahr-
nehmung (der Erscheinung im Raum) von der andern abge-
brochen." „Den leeren Raum will ich hierdurch gar nicht
widerlegen. " i'''') Man sieht, es handelt sich hier überall um
die Möglichkeit empirischer Beurthcilung von räumlichen Ver-
hältnissen.
1S6. Eine Hauptschwierigkeit für das Verständniss der
Wechselwirkung bildet dann die Ableitung aus dem disjunctiven
2. Erläuterungen und Folgerungen. 121
Urtbeil, von welcher Kant selbst sagt, dass sie ,, nicht so in die
Allgen fallend" ^^J) sei, wie bei den übrigen Kategorien. Der
Leser weiss, dass dieser Znsammenhang der Grundsätze mit der
logischen Tafel für meine Auffassung kein Gewicht hat, aber,
das Princip einmal zugegeben, so muss erklärt werden, dass Kant
die Identität der Wechselwirkung mit der disjunctiveu Urtheils-
form in völlig zwangloser Weise dargethan hat. '^^') Für uns
ergibt sich daraus das Resultat, dass der betreffenden Urtheils-
form die objective Gültigkeit gesichert ist.
Wenn wir die Function und den Ertrag des Princips der
Wechselwirkung logisch ausdrücken wollen, so müssen wir sagen,
dass es den Begriff des Ganzen und seiner Theile möglich
macht: Alles logische Erkennen beruht auf der Eintheilung eines
Begriffs als eines Ganzen in Unterbegriffe als seine Theile ; denken
heisst wissen, was in einem Begriffe enthalten und was von
ihm ausgeschlossen ist. Die Form, in welcher wir uns dieses
Baues, dieser Gliederung der Begriffe bewusst werden, ist das
disjunctive Urtheil; es stellt die Theile eines gegebenen Be-
griffes dar, insofern sie „einander in dem Ganzen oder zu
einem Ganzen, als Ergänzungen (complementa) bestimmen "i-^'^);
es zeigt, wie „die Sphäre eines jeden Theils ein Ergänzungs-
stück der Sphäre des andern zu dem ganzen Inbegriff der
eigentlichen Erkenntniss ist", i^") Ganz analog beruht nun das
reale Erkennen darauf, dass wir die Erscheinungen als Theile
eines Ganzen betrachten, ohne welches alle anderen Erfahrungs-
bedingungen unzureichend sind. Dieses GanzeistderRaum.
Wir müssen uns die Dinge „als theilbar" '■'''') und die Theile als
solche vorstellen können, „deren Existenz (als Substanzen) jedem
auch ausschliesslich von den übrigen zukommt," die aber
doch „in einem Ganzen verbunden" sind. Dies ermöglicht uns
die Wechselwirkung; durch sie stellen wir uns die Dinge „als
Theile eines realen Ganzen" ^•^") vor; durch sie „machen die Er-
scheinungen, sofern sie ausser einander und doch in Verknüpfung
stehen, ein Zusammengesetztes aus (compositum reale) '". ^*'^') Das
ist also die natürliche Erklärung des künstlichen Zusammen-
hangs, dass der Sphäre des Oberbegriffs der erkenntnisstheo-
retische Raum, der logischen Specification die reale Theilung
entspricht. Damit erhalten wir eine neue Bestätigung der
früher geäusserten Ansicht (§ 134), dass die geometrische Dar-
122 XIII. Das Princip der Coexistenz (Wechselwirkung).
Stellung logischer Vorgänge einen über die blosse Veranschau-
liclmng hinausgehenden Wert als Hinweis auf die objective Gel-
tung besitze.
Für Schopenhauer ist die Ableitung der Wechselwirkung
ein „recht grelles Beispiel von den Gewaltthätigkeiten " Kanti-
scher Symmetrielust. Die Wechselwirkung sei dem disjunctiven
Urtheile sogar entgegengesetzt, da hier „ das wirkliche Setzen des
einen der beiden Eintheilungsglieder zugleich ein notwendiges
Aufheben des andern ist; hingegen wenn man sich zwei Dinge
im Verhältuiss der Wechselwirkung denkt, das Setzen des einen
aber ein notwendiges Setzen des andern ist, und vice versa." '"»O
Schopenhauer vergisst, dass wenn ich den Theil eines realen
Ganzen der einen Stelle des Raumes zuweise, ich sie dadurch
von der andern ausschliesse. Er vergisst zweitens, dass wenn
ich ein Urtheil als Theil einer Disjunction ansehe, ich dadurch
alle übrigen Theile mitsetze.
1S7. Es lohnt der Mühe, auch auf die übrigen Punkte der
scheinbar gründlichen Polemik Schopenhauer's einzugehen. Nach
ihm enthält der Begriff der Wechselwirkung den „ Ungedanken ",
dass jeder der beiden sich gegenseitig bestimmenden Zustände „der
frühere und aber auch der spätere ist". ^•''') Den in diesem Satze
allerdings enthaltenen Widerspruch hat Schopenhauer hinein-
gelegt, indem er die absolute Zeitordnung mit dem Zeitverhält-
niss verwechselte. Das Princip führt nirgends auf die unsinnige
Behauptung, dass in dem Ablauf unserer Wahrnehmungen der
Zustand B auf den Zustand A folgt, ihm aber dessenungeachtet
vorausgehe. Es sagt vielmehr, dass A und B notwendig eine
Einheit bilden, aber sich als Theile dieser Einheit so verhalten,
dass ich ebensowohl von A zu B als von B zu A übergehen
könne.
Ferner lasse sich nicht annehmen, dass beide Zustände zu-
gleich seien, „ weil sie als notwendig zusammengehörend und zu-
gleich seiend, nur einen Zustand ausmachen"; das ist aller-
dings selbstverständlich, dass, wo uns Etwas als Eines gegeben
wird, das Problem der Gleichzeitigkeit überhaupt aufhört. Von
Simultaneität kann erst die Rede sein, wenn eine Mannigfaltig-
keit gegeben wird. Ist sie aber gegeben (was unser vierter
Grundsatz fordert), so muss der Begriff der Gleichzeitigkeit
2. Erläuterungen und Folgerungen. 123
wissenschaftlich definirt und die Möglichkeit seiner Realisirung
darg-ethan werden. Und gerade, weil sich dabei herausstellt,
dass hier „gar nicht mehr von Veränderung und Causalität"
(d. h. objectiver Succession) die Rede ist, nicht die Bede sein
kann, so muss eben ein neuer Grundsatz angenommen werden.
Schopenhauer behauptet nun weiterhin, dass der Begriff der
Wechselwirkung auch durch kein einziges Beispiel zu belegen
sei. Damit gesteht er eine Verlegenheit ein, in welcher sich
die meisten Erklärer befunden zu haben scheinen. Mau trifft
selten auf einen Versuch, das Gesetz in seiner Wirksamkeit zu
beschreiben. Für die Causalität besass man Beispiele in Fülle,
und es war leicht, ihrer Betrachtung eine gewinnende Anschau-
lichkeit zu verschaffen. Bei der Wechselwirkung wusste man
überhaupt nicht, an welche concreten Vorgänge, an was für em-
pirische Beziehungen man sich wenden solle. Da man die er-
kenntnisstheoretische Leistung des Princips verkannte, konnte
man auch das Gebiet seiner Anwendung nicht entdecken.
So fällt es Schopenhauer nicht ein, sich an die von Kaut
gegebenen Beispiele zu halten, sondern er erfindet seine eigenen
Illustrationen. Kant hatte gesagt: „So kann ich meine Wahr-
nehmung zuerst am Monde und nachher au der Erde, oder auch
umgekehrt, zuerst an der Erde und dann am Monde anstel-
len ..." Schopenhauer dagegen citirt das Gleichgewicht der
Wagschalen, an denen er „gar kein Wirken" entdeckt. Dann
denkt er an „ das Fortbrennen eines Feuers ", dessen Verbrennen
Wärme und dessen Wärme erneute Verbrennung bewirkt! Er
führt auch „ein artiges Beispiel" aus Humboldt an, von der
Sandwüste als Ursache der Trockenheit, während die Trocken-
heit ihrerseits wieder die Sandwüste verursacht. Auch das
Schwingen des Pendels und die Selbsterhaltuug des organischen
Körpers werden herbeigezogen. In all diesen Beispielen nun ent-
deckt er die ausschliessliche Wirksamkeit der Causalität. „ Aber
immer sehen wir nur eine Anwendung des einzigen und ein-
fachen Gesetzes der Causalität vor uns, welches der Folge der
Zustände die Regel gibt, nicht aber irgend etwas, das durch eine
neue und besondere Function des Verstandes gefasst werden
müsste. " Man beweist also die Nichtexistenz eines Gesetzes
dadurch, dass man Beispiele der Anwendung eines anderen Ge-
setzes aufzählt! Schopenhauer leistet hier eine vollständige igno-
124 XIII. Das Prinoip der Cooxistcnz (Wechselwirkung).
ratio eleiiclii. Anstatt /.u bewcit^en, dass wir die Gleichzeitigkeit
ohne Wechselwirkung wahrnehmen können, zeigt er uns, das»
Ursache und Wirkung zuweilen als simultan erscheinen.
Die bereits (§ lS5j angeführten Kantischen Beispiele zeigen
klar, was jene „gewissen Bestimmungen""''^) sind, die durch
das Gesetz der Wechselwirkung beherrscht werden. Sein Gebiet
ist der Raum, die durch dasselbe bestimmten Zustände sind die
Eaumverhältnisse der Substanzen. Wenn eine Substanz das Orts-
verhältniss einer andern bedingt, so ist diese gleichzeitig Be-
dingung der räumlichen Relation von jener. Alle Ortsverhält-
nisse sind von einander abhängig, und die localen Accidenzen
haben die Eigenschaft, von einander wechselseitig Ursache und
Wirkung zu sein.
1S8. Wer diesen Zusammenhang verstanden hat, für den
kann es nun nicht mehr auffallend sein, wenn Kant in den „ Meta-
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" als „aus der
allgemeinen Metaphysik entlehnt'- den Satz zu Grunde legt,
„dass alle äussere Wirkung in der Welt Wechsel-
wirkung sei.""'^) Für uns sagt dieser Satz nichts Anderes,
als dass alle Wirkung in der Welt, sofern sie eine äussere
ist, Wechselwirkung sein müsse, denn sonst können wir sie ja
als äussere Wirkung gar nicht wahrnehmen.
Und nun betrachte man die durchgeführte Anwendung dieses
Satzes, wie sie die Natur unseres Princips auf das klarste ent-
hüllt. Die ]\rctnphysik lehrt, dass alle äussere Wirkung Wechsel-
wirkung sei; die allgemeine Naturwissenschaft sagt, dass alle
materielle Wirkung äussere sei: alle thätigen Verhältnisse der
Materien finden ..im Räume" statt, alle Veränderungen dieser
Verhältnisse sind Bewegung. Es kann also a priori der Satz
behauptet werden, dass alle Bewegung eine wechselseitige sei.
Nun wird dieses Resultat auf die phoronomischen und dynami-
schen Grundbegritfe angewandt und dadurch der wichtige Satz
abgeleitet, dass in aller Mittheilung der Bewegung Wirkung und
Gegenwirkung einander jederzeit gleich seien. Es ist hier nicht
der Ort, das mechanische Princip näher zu erörtern.
Jedenfalls ergibt sich aus der Anwendung auf das allgemeine
Beispiel der Materie, dass Causalität und Wechselwirkung so
wenig identisch sind, dass wir ohne die erstere die Bewegung
2. Erliuiteruugen und Folgerungen. 125
als allgemeines Geselielien, oliue die letztere die Beweglichkeit i"-')
als allgemeine Eigenschaft der Materie nicht zu begreifen ver-
möchten. Oder mit anderen Worten: Der Process des natür-
lichen Geschehens wird durch beide Grundsätze nach seineu zwei
verschiedenen Seiten bestimmt. Nach dem Causalgesetze be-
stimmen sich die Substanzen die Existenz ihrer Zustände, ihr
Eintreten und Vergehen in der Zeitreihe. Nach der Wechsel-
wirkung bestimmen sich die Substanzen die Ordnung ihrer exi-
stirenden, wechselnden Zustände im Räume.
189. Dass durch die Wechselwirkung keine irgendwie von
unserer Sinnesauschauung unabhängige Verknüpfung gedacht wer-
den könne, folgt schon daraus, dass sie ja nichts weiter ist,
als die zeitliche Bedingung räumlicher Verhältnisse. Aber, auch
wenn wir von dem erkeuntuisstheoretischeu Ursprünge des Be-
griffs absehen imd ihm ein selbstständiges Dasein beilegen, so
künueu wir uns doch die Möglichkeit seiner objectiven Realität,
die Möglichkeit, dass er irgend etwas bedeute, ohne Anschauung
im Räume schlechterdings nicht vorstellen. „ Denn wie will mau
sich die Möglichkeit denken, dass, wenn mehrere Substanzen
existiren, aus der Existenz der einen auf die Existenz der an-
deren wechselseitig etwas (als Wirkung) folgen könne, und also,
weil in der ersteren etwas ist, darum auch in der anderen etwas
sein müsse, was aus der Existenz der letzteren allein nicht ver-
standen werden kann?" Es fehlt uns jedes Begreifen, wenn
wir die verschiedenen Substanzen nicht als Theile des einen
Raumes betrachten. Es bleibt uns dann nur übrig, mit Leibnitz
eine Gottheit zur Vermittlung zu brauchen. ^^^') Wir müssten
„den Urheber des Daseins als einen Künstler annehmen, der
diese an sich völlig isolirten Substanzen .... schon im Welt-
anfange so modificirt, oder schon eingerichtet, dass sie unter-
einander, gleich der Verknüpfung von Wirkung und Ursache, so
harmonirten, als ob sie in einander wirklich einflössen." So
würde das System der prästabilirten Harmonie entspringen,
„das wunderlichste Figment, das je die Philosophie ausgedacht
hat."!'-)
Im Räume dagegen können wir die Gemeinschaft sehr wohl
fassen, weil derselbe schon als Form aller Anschauung Ver-
hältnisse erzeugt, welche den physischen Einfluss möglich
machen, i'^"-)
126 XIV. Die Natiireinhcit und die besonderen Naturgesetze.
11)0. Als Dicht dogmatische, sondern kritisch berechtigte
Folgerung ergibt sich aus dem Princip der Wechselwirkimg die
Einheit des Weltganzen; denn als coexistirende Dinge im Räume
macheu alle Wesen nur Eine Welt aus, und ein Aussereinander
von mehreren Welten kann überhaupt nicht vorgestellt werden.
Aber die Vorstellung der Welteinheit führt auch notwendig auf
unseren Gnindsatz zurück und kann ohne ihn nicht dargethan
werden. Denn man kann die Erscheinungen gar nicht als Theile
eines Ganzen denken, wenn man sie isolirt, ohne Verknüpfung
vorstellt. Die Verknüpfung aber könnte man niemals als ob-
jectiv beurtheilen, wäre sie nicht schon um des Zugleichseins
willen notwendig. ^'''*)
\IV. Die \atnreiiiheit und die besonderen Naturgesetze
o'
191. Durch die Betrachtung des vorigen Grundsatzes hat
die Erkenntnisstheorie ihre allgemeine Autgabe vollendet. Die
Einheit des Bewusstseins ist gesichert; die Function, in welcher
sie sich erzeugt, ist ihrer Zusammensetzung nach erklärt, das
Ineinandergreifen ihrer Regeln beschrieben, das Umspannen des
dreigestaltigen Inhalts begründet. Mit der Einheit des Bewusst-
seins haben wir die Einheit der Erfahrungen gewonnen; wir be-
greifen die Gesammtheit aller Erscheinungen in einem durch-
gängigen Zusammenhange.
192. Den zusammenhängenden Inbegriff alles Daseins nennen
wir Natur. Aus dem Begriffe der Erfahrung erkennen -wir die
Einheit der Natur. „Alle Erscheinungen liegen in einer Natur
und müssen darin liegen, weil ohne diese Einheit a priori keine
Einheit der Erfahrung, mithin auch keine Bestimmung der Gegen-
stände in derselben möglich wäre." '■") Die Regeln, nach denen
sich die Mannigfaltigkeit des empirischen Stoffs zur einheitlichen
Erfahrung umbildet, sind auch die Gesetze, nach denen die Natur
ihre Erscheinungen gestaltet. ..Die Möglichkeit der Erfahrung
überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur,
und die Grundsätze der erstem sind selbst die Gesetze der
letztern." '"')
XIV. Die Xatureinlieit und die besonderen Naturgesetze. 127
193. So besitzen wir in den Urtlieileu von urspriiugliclier
Notwendigkeit, welche wir als Grundlage unserer Erfahrung ent-
deckten, einen Schatz allgemeiner Naturerkenntnisse, die uns
kein Fortschritt empii-ischer Forschung w^iderlegen kann. Alle
Naturerscheinungen sind Vorstellungen, welche in der Vorstellung
von Raum und Zeit zusammengefasst werden (Erster Grundsatz).
Die Elemente dessen, was Raum und Zeit erfüllt, sind so, wie
wir sie wahrnehmen; sie sind weder getrübt, noch verworren;
aus der blossen Empfindung entspringt keine Täuschung über das
Wesen der Natur (^Zweiter Grundsatz). Alle Dinge, alle erkenn-
baren Objecte stellen eine Einheit von Vorstellungen dar (Dritter
Grundsatz). Diese Einheit ist ununterbrochen; leerer Raum und
leere Zeit sind in der Natur nicht vorhanden. Aber die Einheit
ist eine Einheit qualitativ verschiedener Empfindungen (Vierter
Grundsatz). Alle Objecte sind extensive Grössen (Fünfter Grund-
satz). Sie erscheinen ihrem Zeitverhältniss nach gesetzmässig
bestimmt (Sechster Grundsatz), indem jedes Ding die unwandel-
bare Substanz enthält (Siebenter Grundsatz), und seine Verände-
rungen als Wirkungen von Ursachen darstellt (Achter Grundsatz),
und sein Zugieichsein mit anderen Dingen durch den gegen-
seitigen Einfluss gewisser Bestimmungen kund gibt (Neunter
Grundsatz).
194. Nach diesen Grundsätzen müssen wir die Natur be-
urtheilen. Alle einzelnen Erfahrungen sind nur Aeusserungen
der Grundgesetze; alles empirische Erkennen entdeckt nur die
bestimmte Wirksamkeit der fundamentalen Erfahrungsbedin-
gungen, ist nur ein Einsetzen besonderer Werte in die allge-
meine Function.
Somit ist jedes empirische Urtheil insoweit notwendig und
allgemein gültig, als es Erfüllung eines letzten Princips sein
muss und an dessen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit par-
ticipirt. Wenn der Stein warm wird, so muss diese Veränderung
eine Ursache haben; sage ich nun: der Stein wird warm, weil
die Sonne scheint, so ist dieses Urtheil zunächst der Versuch
der Lösung einer notwendigen Aufgabe und kann seinen Anspruch
auf Anerkennung durch Berufung auf das Causalgesetz begrün-
den. Allein seiner speciellen Fassung nach, als besondere Lösung
der Aufgabe, als Synthese dieser bestimmten Wahrnehmungen
kann das Urtheil sich nicht mit dem Bewusstsein der Notwendig-
128 XIV. Die Naturoiiilicit und die besonderen Naturgesetze.
keit verbinden. Ob gerade die Sonne die Ursache der Tempe-
ratiirveränderung des Steines war, das kann die Logik nicht
entscheiden. Der Grund der Gewis.sheit und das Mass der An-
erkennung, welche den einzelnen Moditicatiouen der allgemeinen
Gesetze zuzutheilen sind, können nach gewissen Methoden be-
.stinimt und erhöht, niemals aber zu der Notwendigkeit erhoben
werden, welche, die Bedingungen der Erfahrung auszeichnet.
195. Mit diesen Methoden hat sich die reine Erkenntniss-
theorie nicht zu beschäftigen. Ob wir auch in den Theilen der
einheitlichen Natur wiederum Einheit finden werden, oder ob
uns die Natur an dem einen Punkte gesetzmässig, an dem an-
dern regellos entgegentrete, oder ob sie sich in einem ausnahms-
losen unendlichen Wechsel gefalle, darüber kann uns nur die
Erfahrung belehren. Einheit des Bewusstseins wird in allen
Fällen erreicht, Gegenstände können uns dabei jedesmal gegeben
werden. Wir dürfen uns hierin durch den gewohnten Anblick
der Naturordnung nicht täuschen lassen. Die besondere Gesetz-
mässigkeit ist durchaus nicht selbstverständlich. Ebensogut wie
die Natur eine gewisse Aehnlichkeit ihrer Objecto und Gesetze
zeigt, welche uns deren Subsumtion unter Gattungen oder höhere
Gesetze ermöglicht, ebensogut könnte sie eine unvergleichbare
Mannigfaltigkeit enthalten, die aller Bemühungen unseres zu-
sammenfassenden Denkens spotten würde; ebensogut könnte sie
andererseits eine Dürftigkeit der Gestaltung zeigen, durch welche
der Bereicherung unserer Einsicht ein nahes Ziel gesteckt
wäre. Diese im Uebrigen wertlosen Speculationen zeigen hin-
länglich, dass die organische Gliederung der Natureinheit dem
kritischen Denker etwas ganz Zufälliges ist. Er muss sich der
angeblich naturwissenschaftlichen, in der That aber dogmatischen
Denkart verschliessen, welche die logische Gestaltung der Welt
a priori zu erkennen behauptet. Wohl ist es die gleiche Natur,
welche die Mannigfaltigkeit der Aussendinge hervorbringt, und
welche die kunstvollen Begriffe schafft, die wir in unserm Be-
wusstsein finden. Ol) aber diese beiden Producte ihrer all-
gemein gesetzmässigen Thätigkeit in der Weise zusammenhängen,
dass das eine die entsprechende Projection des andern, sein Ab-
druck, sein verjüngtes Spiegelbild sei, das ist eine Betrachtung,
welche die Grenzen kritischer Philosophie tiberfliegt. Sie er-
kennt und behauptet die Identität von Natur und Geist nur
XIV. Die Natureinheit und die besonderen Naturgesetze. 1 29
soweit, als unser Denken Bedingung des uns gegebenen
Seins ist.
196. Aber unser Wissenschaftstrieb, der diese Ordnung von
der Natur niclit fordern kann, nimmt sie von ihr als eine Gunst
in Anspruch. Wii* machen uns eine Idee von derjenigen
besonderen Bescbaöenheit der Natur, welche der Möglichkeit
unseres empirischen Begreifens am besten entspricht. Das ist die-
jenige Gestaltung, welche die empirischen Naturerkenntnisse zur
Einfügung in ein logisches System geeignet macht. Das System
ist die Form, durch welche uusere Erfahrungen zur Wissenschaft
im engeren Sinne, d. h. zu einer Erkenntniss werden, die einen
gesetzmässigen Zusammenhang all ihrer Theile enthält. Die
Möglichkeit der systematischen Naturerkenntniss hängt davon ab,
dass die Erscheinungen zwar unendlich verschieden, aber durch-
gängig und continuirlich zu höheren Einheiten verknüpf bar seien.
Da wir Wissenschaft gewinnen wollen, treten wir mit der Vor-
aussetzung an die Natur heran, dass sie wissenschaftlich fassbar
sei ; da wir unser Ziel nur erreichen, wenn sie so ist, erforschen
wir sie, als ob sie so sei. Da wir aber keinen theoretischen
Grundsatz haben, schaifen wir uns eine Hypothese und legen
sie als praktisches Princip der Naturbetrachtung zu Grunde.
197. Mit der Hypothese von der Begreiflichkeit der Natur
eröffnet sich das Gebiet der angewandten Erkenntniss-
theorie, das wir nicht weiter zu betreten haben. Ihre Auf-
gabe ist, den erkenntnisstheoretischen Wert der Ideen, die Be-
dingungen ihrer approximativen Verwirklichung und die logischen
Methoden der systematischen Naturforschuug zu untersuchen. ^'-)
Als wichtigstes Beispiel sei hier nur die Theorie der Analogie
und Induction hervorgehoben. Dass diese nicht, wie 6s gewöhn-
lich geschieht, in der formalen Logik behandelt werden kann,
ist nach unserer Darstellung selbstverständlich. Die Schlüsse
der Induction und Analogie gehen auf Urtheile von comparativer,
materialer Notwendigkeit, welche die formale Logik weder zu
liefern noch zu erklären vermag. Der angewandten Erkeuntniss-
theorie dagegen stehen zur Begründung dieser Methoden die zu-
reichenden Mittel zu Gebote. ^'^)
Stadler, Erkenntuisstheorie.
130 XV. Die modalen Definitionen.
\V. Die luodalou Oefiiiitioiicn.
19S. Am Schlüsse unserer Untersucliimg angelangt, sind
wir nun im Staude, ihren Gegenstand zu definiren. Da die Philo-
sophie sich nicht, wie die Mathematik, ihre Begriffe selbst gibt,
sondern die in der Erfahrung gegebenen zu bearbeiten hat , so
kann sie ihr Werk auch nicht mit der vollständigen Erklärung
derselben beginnen. In der Philosophie bildet die Definition das
Endresultat. '"')
So übernimmt die Erkenntnisstheorie den Begriff der ma-
terialen Notwendigkeit aus der Erfahrung und forscht nach den
Bedingungen seiner Möglichkeit. Erst nachdem diese festgestellt
sind, kann sie wissenschaftlich erklären, ob und was er ist. Seine
Definition lautet:
In der Natur ist das notwendig, dessen Existenz durch die
erkenntnisstheoretischen Grundsätze gefordert wird.
Insofern wir also ein Object als notwendig beurtheilen, be-
trachten wir es im Verhältniss zu unserer gesammten Erkennt-
nissfähigkeit; wir schreiben ihm dadurch nicht eine neue ob-
jective Bestimmung zu, sondern wir prüfen die Relation seiner
Bestimmungen zum Subject. Die Notwendigkeit ist nicht ein Ac-
cidens, das wir an der Substanz erkennen, sondern die Qualität
der Einheitsfunction des Subjects in Bezug auf den gegebenen
Gegenstand.
Die Notwendigkeit fliesst nicht aus einem Grundsatze, z. B.
der Causalität allein, sondern aus allen Bedingungen, welche der
Möglichkeit der Erfahrung zu Grunde liegen. ''■')
199. Mit der Notwendigkeit deckt sich der kritische Begriff
der Wahrheit. Eine Erkenntniss ist wahr, wenn sie mit dem
Object übereinstimmt. Dafür uns dasjenige objectiv ist, dessen
wir uns nach den erkenntnisstheoretischen Gesetzen bewusst
werden, so fallen Wahrheit und Notwendigkeit zusammen.
200. Wenn ich die Vorstellungen, welche eine Erkenntniss
bilden sollen, nicht im Verhältniss zum ganzen Begriff der Er-
fahrung, sondern nur im Verhältniss zu einem seiner Hauptcom-
ponenten, entweder zur Empfindung oder zur Einheitsfunction
betrachte, so entstehen die anderen beiden Definitionen, die man
als Erklärungen der partiellen oder unvollständigen Modalität
XV. Die modalen Definitionen. 131
bezeichnen könnte. Die erste lautet: Wirklich ist dasjenige,
was empfunden wird oder als empfindbar notwendig vorausge-
setzt werden muss.
Die eine Hauptforderung der Erfahrungsmöglichkeit ist, dass
Empfindung gegeben sei; sonst könnten Begriffe iiberhau])t nicht
zur Function gelangen ; es würde ihnen der Stoff fehlen, den sie
verknüpfen sollen. Dieses Gegebensein der Empfindung ist das
einzige Kennzeichen der Wirklichkeit. Aber um etwas als wirk-
lich zu beurtheilen, ist es nicht erforderlich, dass es unmittelbar
gegeben sei ; es genügt, aus seinem notwendigen Zusammenhange
mit anderem Realen auf sein Dasein zu schliesseu. So ist auch
die nicht wahrgenommene Ursache einer wirklichen Veränderung
oder die nicht empfundene Wirkung einer realen Ursache wirk-
lich. Der Begriff des Wirklichen umfasst also nicht nur die
Wahrnehmung, sondern auch die zur erkenntnisstheoretischen Be-
stimmung der Wahrnehmung nötige Yoraussetziing. Damit ist
die Hypothese als ein vollberechtigtes Glied in den Erkenntniss-
process mit aufgenommen. •''')
201. Aus dem Verhältniss der Dinge zu der in aller Er-
fahrung wirkenden Einheitsfuuction ergibt sich die Definition der
Möglichkeit :
Möglich ist das, was den Bedingungen der Vorstellungs-
S}Tithese entspricht.
Ein anderes Kriterium der materiellen Möglichkeit als die
Verknüpfung gibt es nicht. Der Satz des Widerspruchs macht
bloss Begriffe, aber keine Dinge möglich; er sichert nur die
Möglichkeit der formal logischen Entwicklung.
Nach dieser Definition hat sich jede Neubildung von Be-
griffen zu richten. Substanzen, Eigenschaften, Kräfte, deren
Vorstellung eine dem Begriffe der Erfahrung widersprechende
Verknüpfung erfordert, sind nicht möglich. Eine Hypothese, so
kunstvoll und logisch vollendet sie auch sein mag, ist wertlos,
so lauge sie nicht das Postulat der Möglichkeit erfüllt hat. i'')
202. Die modalen Definitionen sind der compendiöse Kanon
jeder Erkenntnisstheorie; sie stellen den Ertrag dar, den die
Untersuchung unserem wissenschaftlichen Bewusstsein gebracht
132 XV. Die modalen Definitionen.
hat. Sie beschreiben das ganze Gebiet der Erfahrung. Wenn
wir wissen, was möglich, wirlilich und notwendig ist, so wissen
wir auch, was wir an Erkenntniss besitzen können und wa.s wir
suchen sollen. Sie sind auch die einzige Basis, von der aus
die praktische Philosophie rechtmässige Forderungen erheben
kann. Jeder Angriff gegen den kritischen Idealismus wird nach
dem Erfolge zu . schätzen sein , mit dem er seine modalen Be-
stimmungen tiberwindet und durch andere ersetzt.
ANMERKUNGEN.
Die Schriften von Kant citire ich nach der Ausgabe von Rosenkranz u.
Schubert (W.), die in der letztern vergriffene Kritik der reinen Vernunft
(Kr.) nach der Separatausgabe von Hartenstein. 1868.
It Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus, 2. Aufl. II, 394. ,.Man
kann nämlich die Lehre vom Vorstellungswechsel, d. h. vom Einflüsse vor-
handener oder neu in das Bewusstsein getretener Vorstellungen auf die nach-
folgenden nicht nur theoretisch entwickeln, sondern auch in einem bei weitem
grössern Masse, als es bisher geschehen ist, auf Experimente und Beobach-
tung stützen, ohne sich um die physiologische Grundlage weiter zu kümmern."'
2) Zur beschreibenden Psychologie würde z. B. auch die ,.Pragmatische
Anthropologie" im Sinne Kant's gehören; ebenso das grossartig entworfene
..System der Demologie" des Statistikers Engel; ferner die „Associationspsy-
chologie'- der Engländer. (Vgl. Lauge, a. a. 0. 11, 395 — 401.)
3) W. III, 74.
4) Der Ausdruck ist Kantisch. Vgl. Kr. 200. — Auch vorkritisch „üia-
teriale Grundsätze". (Unters, üb. d. Deutlichkeit der nat. Theol. und Moral.
W. I, 103.)
5) W. lU, 21.
6) Es ist nützlich, dass dieser hypothetische Charakter neuerdings wieder
stark betont wird. So von Sigwart.
7) Kant hat dem dictum de omni et nuUo eine hei'vorragende Stelle an-
gewiesen. „Die falsche Spitzfindigkeit etc.", § 2 (W. I, 60) und Logik § 63.
(W. in, 309.) Er leitete dasselbe von den allgemeinen Regeln ab: nota
notae est nota rei ipsius und repugnans notae repugnat rei ipsi. (W. I, 59
und III, 309.) In der Logik ordnete er den letztern noch ein „Allgemeines
Prineip" über: Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch
unter der Regel selbst. (W. III. 305.) Aber alle die Formeln tragen ihre
Rechtfertigung nicht in sich selbst; man weiss nicht, wie man dazu kommt,
sie anzunehmen. Aus der von mir gegebenen Fassung lässt sich unmittelbar
erkennen, dass die Festsetzung aus der Anschauung der logischen Function
hervorgegangen ist. Ich darf dieses Prineip daher mit Recht Axiom nennen.
1 34 Anmerkungen.
S) Von den Erklärungen, die ich gefunden, gefällt mir diejenige am
besten, welche Lange (a. a. 0. II, 569) gegeben hat. „Der Satz A = A ist
zwar die Grundlage alles Erkennens, aber selbst keine Erkenntniss, sondern
eine That des Geistes, ein Act ursprünglicher Synthesis, durch welchen als
notwendiger Anlang alles Denkens eine Gleichheit oder ein Beharren gesetzt
werden, die sich in der Natur nur vergleichsweise oder annähernd, niemals
aber absolut und vollkommen vorfinden." Nur wird durch den Ausdruck
„notwendiger Anfang" der Charakter des Princips als bewusster logischer Be-
dingung zu wenig hervorgehoben ; sodann ist es schärfer, das „Beharren" als
Beharren der Begriffe zu bestimmen und nicht der „Natur" im Allgemeinen,
sondern speciell der psychologischen Ungleichheit der Vorstellungen ent-
gegenzusetzen.
Sobald man diese von mir aufgestellten Beziehungen übersieht, ist man in
Verlegenheit, was man mit dem Satze beginnen soll. So findet Drobisch (Neue
Darstellung der Logik, III. Aufl. 62), „er würde jedoch ohne weitere Folge
und daher ein völlig unfruchtbares Princip sein, wenn er sich nur auf die
absolute Einerleiheit zweier Begriffe bezöge, bei welcher der eine nur eine
Wiederholung des andern im Denken ist." Gewiss, wenn wir uns nicht der
Psychologie und Erkenntuisstheorie gegenüber sicher zu stellen hätten. Er
bezieht den Satz auf eine relative Identität, derselbe besage, das Urtheil sei
formal gültig, „wenn und wiefern Subject und Prädicat sich als identisch
nachweisen lassen." Diese relative Einerleiheit ist aber nur eine unklare Ver-
hüllung der absoluten; denn die Entdeckung des „wenn und wiefern" führt
uns eben nur zu einzelnen Bestandtheilen, von deren absoluter Identität
schliesslich doch die Geltung des Urtheils abhängt.
Ueberweg sagt, dass der Grund der Wahrheit dieses Satzes darin liege,
„dass das im Inhalt des Begriffs vorgestellte Merkmal dem durch eben diesen
Begriff vorgestellten Gegenstände iuhärirt, das Inhärenzverhältniss aber durch
das prädicative repräsentirt wird." (System der Logik, III. Aufl. 1S:3.) Diese
erkenntnisstheoretische Begründung des Princips ist in der formalen Logik
unstatthaft, wenn ihr nicht wenigstens die formale vorangeht. Von der ob-
jectiven Bedeutung der Begriffe darf in erster Linie gar nicht die llede sein.
Der Grund der logischen Wahrheit dieses Princips liegt vielmehr darin, dass
es conditio sine qua non der formalen Notwendigkeit ist. Ohne dasselbe ist
eine mit sich selbst zusammenstimmende Verknüpfung der Vorstellungen un-
möglich; deshalb hat es in der formalen Logik unbeschränkte Geltung.
Bei dieser Gelegenheit sei vor einer Verwechslung gewarnt. Wenn man
sagt, dass dieses Princip und verwandte „nicht an die Spitze der ganzen
Logik gesetzt werden dürfen, da sie erst dann in ihrer wahren Bedeutung
verstanden werden können, wenn man die Form der Begriffe und das Ver-
hältniss von Subject und Prädicat im Urtheil schon kennen gelernt habe"
(ebd. 1S2), so theile ich diese Ansicht vollkommen, sofern sie unter „Spitze"
den Anfang einer Darstellung versteht. Ich bin allerdings der Meinung, dass
man die Logik organisch entwickeln und die Axiome gerade da einführen
soll, wo ihre Function von Nöten wird; nur dann kann die Art ihrer Leistung
ins richtige Licht treten. Sollte man sich aber unter „Spitze" das logische
Fundament der Wissenschaft denken, dann muss ich entschieden behaupten.
Anmerkungen. 135
dass sie an der Spitze stehn. Sie bilden die allgemeinsten Kriterien der
logischen Wahrheit, deren Geltung von keinen weitern Voraussetzungen mehr
abhängig ist.
Eingehender würdigt Sigwart das Princip der Identität; allein auch seine
Darstellung ist mit Elementen durchsetzt, welche den Sinn der formalen Logik
trüben, und auch der Grundgedanke seiner Ableitung ist so beschafi'en, dass
ich mich demselben unmöglich anschliessen kann. Sigwart postulirt für die
Logik „die Fähigkeit objectiv notwendiges Denken von nicht notwendigem
zu unterscheiden, und diese Fähigkeit mauifestirt sich in dem unmittelbaren
Bewusstsein der Evidenz, welches notwendiges Denken begleitet." (Logik 1,
§ (i3.) Diese Notwendigkeit ist zunächst eine „subjectiv erfahrene"; dann
aber, „indem wir eine allen gemeinsame Vernunft voraussetzen, sind wir
überzeugt, dass, was wir mit dem Bewusstsein unausweichlicher Notwendigkeit
denken, auch von andern so gedacht werde" (ebd.). Aus diesem Grunde
gilt uns unmöglich, dass „in dem Innern Acte des Einssetzens Verschiedenes
mögUch wäre, und der Eine gleiche Vorstellungen nicht gleich setzte, der
Andere verschiedene gleich" (ebd. § 14, p. 80). Ein Urtheil ist uns also
„darum objectiv gültig, weil es notwendig ist, Uebereinstimmeudes in Eins
zu setzen." Diesem „Grundsatz der Uebereinstimmung" wird dann als Be-
dingung noch das „Princip derConstanz" hinzugefügt, welches die Fähigkeit
behauptet, „Subjects- und Prädicatsvorstellung jede für sich festzuhalten"
(ebd. p. 82).
Die Unklarheit in diesem Gedankenzusammenhang beruht darauf, dass
der Begriff der formalen Notwendigkeit nicht festgehalten ist. In der for-
malen Logik heisst notwendig das, was der Voraussetzung wegen nicht anders
sein kann. Schon aus diesem Begriff folgt, dass die formale Logik auf den
Unterschied eines individuellen und allgemeinen Bewusstseins gar keine Rück-
sicht zu nehmen braucht. Die Entwicklung gilt eben für jedes Bewusstsein,
das die Voraussetzung anerkennt. Es ist also überflüssig und daher un-
richtig, dem Princip der Identität noch eine Beziehung zu der Analogie der
Bewusstseinsvorgänge in verschiedenen Individuen geben zu wollen. Die Frage
ist vielmehr: Wie ist in einem Bewusstsein, das die Voraussetzung aner-
kennt, ein notwendiger Fortschritt zu andern Urth eilen möglich? Die Ant-
wort lautet: Auf Grund des Princips der Identität. Somit wird dieses
Princip allgemeine Voraussetzung der Logik, nicht aber ein dasselbe be-
gleitendes Bewusstsein der Evidenz. Die „Erfahrung dieses Bewusstseins"
dürfen wir nicht als Urthatsache zu Grunde legen, denn ihre Möglichkeit
soll ja eben erklärt werden. Das allgemeine Postulat bei Sigwart beruht
also entweder auf einer falschen Ansicht von der Aufgabe der formalen
Logik, oder es fällt zusammen mit dem Princip der Identität. Anstatt zu
sagen: „Das Urtheil ist uns darum objectiv gültig, weil es notwendig ist,
Uebereinstimmendes in Eins zu setzen", muss gesagt werden: Ein Urtheil
ist uns darum notwendig, weil es in einem andern enthalten ist. Dieses Ent-
haltensein ist darum möglich, weil der Satz der Identität gilt. Was ferner
das Princip der Coustanz anbelangt , so kann ich nicht einsehen , dass es
„wesentlich" oder unwesentlich von dem der Uebereinstimmung verschieden
sei; denn Vorstellungen, „jede für sich festzuhalten" heisst, soweit es die
136 Anmerkungen.
Logik interessiit, nichts Anderes, als sie in jedem beliebigen Momente als
identisch wiedererkennen.
;t) Kr. i4i).
1(1) Sigwart unterscheidet den Satz des Widerspruchs (.,A ist B" und
..A ist nicht 13" können nicht zugleich wahr sein) von dem „gewöhnlich so-
genannten „Principium contradictionis" (A ist nicht non A) (a. a. 0. 144).
Diese Unterscheidung ist ganz unnötig, denn der Satz, welcher das Ver-
hältniss eines Prädicats zu seinem Subjecte betreffen soll, bezieht sich eben-
falls auf zwei Urtheile, die nicht beide bestehen können; er sagt nämlich,
dass ein gegebenes Urtheil einem andern Urtheil, welches aus dem Subjects-
begriff folgt, widerspricht. Wir erkennen den Widerspruch mit dem Begrifi'e
des Subjects ül)erhaupt ja nur dadurch, dass wir aus dem letztern das ent-
gegengesetzte Urtheil entwickeln. Er gil)t aber direct den letzten Grund,
die mangelnde Identität, in seiner Formel an.
Vollständig müsste auch sein Ausdruck lauten: „A ist A" und „A ist
nicht A" können nicht beide wahr sein. In dieser Fassung legt das Princip
seine ganze Genesis dar; man erkennt sofort, dass man ohne es gezwungen
wäre. Identisches für nichtidentisch zu erklären. Weil beide Formeln durch-
aus das Gleiche bedeuten, ist es begreiflich, dass die Logiker in ihrem Ge-
brauche schwanken, und je nach Bedarf den für den einzelnen Fall be-
quemem Ausdruck gebrauchen.
Sigwart gibt die Formel als theoretisch richtig zu; aber sie sei ,,in der
Praxis unbrauchbar. . . . Denn so nackt, dass gesagt würde Gold ist Nicht-
Gold , grün ist nicht - grün , Sein ist Nicht - Sein, tritt uns der W^iderspruch
nicht leicht entgegen" (p. 154). Nun denke ich, wird es sich in der Wis-
senschaft der Logik zunächst um theoretisch Richtiges handeln; für die
Praxis lässt sich dann die exacte Formel als Ideal betrachten ; zuletzt wird
es doch wohl Aufgabe der angewandten Logik sein, die Widersprüche so
„nackt" als möglich darzustellen.
Für das ..Zugleich", welches nach Kant ,. aus Unvorsichtigkeit" (Kr. 149)
in die Formel gemischt worden, ertheilt Sigwart dem Aristoteles das Prä-
dicat „vorsichtig" (a. a. 0. p. 146). Er erklärt Kaut's Polemik gegen Ari-
stoteles für einen „Schlag in die Luft" (ebd. 149). Ich meinerseits glaube
nicht, dass Kant den Aristoteles hat schlagen wollen. Wen er ins Auge ge-
fasst und getroffen hat, sind vielmehr Diejenigen, welche einen dem Aristo-
teles entlehnten Satz zu einem Zwecke verwenden, den er gar nicht erfüllen
kann. Ueber die Sache selbst braucht nach dem Obigen nicht mehr ge-
sprochen zu werden.
11) Sigwart versuchte es in folgender Weise (a. a. 0. p. 157 u. 158).
Nach dem Satze des Widerspruchs sei von den beiden Urtheilen A ist B und
A ist nicht B eines notwendig falsch, „Dass aber das eine notwendig wahr
ist, ergibt sich sofort, weil nicht beide zugleich verneint werden können."
Warum nicht ? Hören wir den Grund. Wollte ich „verneinen, dass A B ist,
und verneinen, dass A nicht B ist, so würde ich mit jener Verneinung sagen
A ist nicht B, mit dieser A ist B, also in Widerspruch fallen." Nein! ich
würde nicht in Widerspruch fallen, sondern im Widerspruch bleiben. Ich
hätte bloss mit dem vorhandenen Widerspruch einige Operationen gemacht
Anmerkungen. 137
und den Satz des Widerspruchs vernachlässigt, der mir verbietet, mit solchen
Urtheilen überhaupt Eutwicklunsjeu vorzunehmen. Aber geben wir das zu
und betrachten die Folgerung. „Somit bleibt also zwischen Bejahung und
Verneinung kein Mittleres übrig, das eine Beziehung des Prädicates B auf
das Subject A enthalten könnte, " Ich gestehe, dass ich unfähig
bin, einzusehen , worauf sich dieser Schluss gründet ; ich sehe in den Prä-
missen nicht das mindeste Hinderniss, anzunehmen , dass es irgend ein Mitt-
leres gebe. Der einzige Schluss, den ich aus der Ableitung ziehen kann,
ist: Somit war das nicht der richtige Weg, den Widerspruch aufzuheben,
und wir müssen einen neuen suchen. Der Begriff des Mittleren, der weder
in dem des Widerspruchs noch in dem der Verneinung enthalten ist, ist eben
die Ursache, dass unser Princip als selbständiger Grundsatz mit unmittel-
barer Ableitung dastehen muss.
Ausserdem hat Sigwart bei dem obigen Ableitungsversuche einen Satz
vorausgesetzt, den ich nun meinerseits für abgeleitet halte, und zwar ab-
geleitet aus dem Princip des ausgeschlossenen Dritten. Es ist der Satz der
doppelten Verneinung (duplex negatio affirmat) (ebd. p. 155). In dem Urtheil:
A ist nicht nicht B liegt unmittelbar nichts Positives; es sagt bloss, dass
das Urtheil A ist nicht B ungültig sei; über die Gültigkeit des correspon-
direnden Urtheils A ist B wird gar nichts ausgemacht. Erst wenn ich weiss,
dass ein drittes Verhältniss nicht möglich ist, sondern dass Begriffe entweder
in einander enthalten sind oder nicht, kann ich in der Ungültigkeit der Ver-
neinung einen positiven Ertrag erblicken, indem dann das bejahende Urtheil
als die eine Hälfte der möglichen Erkenutniss übrig bleibt. So ist der Satz
der doppelten Verneinung eine allgemeine Folgerung aus dem Princip des
ausgeschlossenen Dritten.
1 2) Wer sich über Kant's Auffassung des logischen Princips vom zureichen-
den Grunde ausführlich orientiren will, lese die vorkritische Schrift: „Ver-
such, d. Begriff d. negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen." AUg.
Anm., wo bereits die vollständige Klarheit des späteren Standpunktes herrscht.
Ich hebe hier nur Eine, für die Function des Princips der Identität wichtige,
Stelle hervor (I, 15S): „Eine logische Folge wird eigentlich nur darum ge-
setzt, weil sie einerlei ist mit dem Grunde."
13) Der Grundgedanke dieser Eintheilung findet sich in dem Werke von
Sigwart (I, § 4, p. 16) zur Ausführung gebracht, dem ich auch die Bezeich-
nungen „Analytisch" und „Normativ" entnommen habe.
14) Die consequenteste Durchführung dieses Gedankens ist meines P^r-
achtens das „System der Logik" von Ueberweg. An diesem Buch, das Nie-
mand aus der Hand legen wird, ohne reichliche Anregung gewonnen zu
haben, kann man den zweifelhaften Erfolg der Durchkreuzung zweier ver-
schiedenen Methoden am besten beobachten.
15) Kr. 14.
16) Vergl. Wundt, Physiologische Psychologie 1874, p. 272.
17) W. III, 60.
18) Kr. 56.
19) Kr. 76.
20) Vgl. dazu Kr. 58 ff. — Cohen, Kant's Theorie der Erfahrung, Berlin
138 Anmerkungen.
IS71, Cap. I— III. — Es ist sehr instructiv, neben den entsprechenden Ab-
schnitten der transscendentalen Aestlictik auch die sectio III der Habili-
tationsschrift De mundi sensibilis etc. W. I, 316 zu beachten. Vgl. auch
Cohen, Die systematischen Begritfe in Kant's vorkritischen Schriften etc.
Berlin 1873. Namentlich Abschn. IV.
21) Kant hat Raum und Zeit nicht in der transscendentalen Aesthetik
als quanta continua nachgewiesen, sondern erst, als er die Stetigkeit der in-
tensiven Grössen darlegte "(Kr. Ifil). Daraus darf aber nicht gefolgert werden,
dass es erst dort eingesehen werden könne. Wenn es überhaupt möglich
ist, Raum und Zeit in abstracto von der Synthesis abzusondern, so kann
man auch ihre Continuität davon unabhängig betrachten. — Vgl. auch
Kr. 365—368.
22) Dieser Gedanke ist am klarsten zu finden in den Antinomien Kr.
365 und 366.
23) Vgl. Kant's Habilitationsschr. De mundi etc. W. L 322.
24) Veluti Schema, omnia omnino externe sensa sibi coordinandi.
W. I, 322.
25) Kr. 62.
26) Vgl. Kr. 64 ff. — Cohen, a. a. 0. Cap. I— IV.
27) Wundt, p. 6S2 ff.
2S) Baumann (Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik II, 667)
wirft ein, man könne zwar die Aufeinanderfolge der Vorstellungen wegdenken,
..dann bleibt nicht die Zeit, sondern die einfache Empfindung des Ich als
seiend, aber ohne Aufeinanderfolge, ohne Verlauf und merkliche Unter-
schiede, das ist vielmehr die Idee der Ewigkeit, diese im wirklichen Sinne
gefasst und nicht mit der Unendlichkeit der Zeit verwechselt, und ist nicht
das, was wir alle mit Zeit meinen." Gewiss bleibt die Zeit so wenig wie
der Raum als eine deutliche Vorstellung zurück, denn es liegt ja in der
Natur der Verhältnissvorstellung, dass ihre Function nur an einem gegebenen
]\Iannigfaltigen zu Tage treten kann. Aber der Sinn dieses Bestehen-Bleibens
ist auch nur der, dass, wenn alle besonderen Zeitbestimmungen weggedacht
werden, damit die Zeit als Ganzes nicht aufgehoben wird; es bleibt die un-
bestimmte, allgemeine Anschauung, von welcher nur noch die Beharrlichkeit
des Subjects einen ebenfalls unbestimmten Theil abgrenzt.
29) Wenn Kant sagtj Wir „stellen die Zeitfolge durch eine ins Unend-
liche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe aus-
macht, die nur von einer Dimension ist, und schliessen aus den Eigenschaften
dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit" (Kr. 67), ist darunter nicht zu
verstehn. dass wir die Stetigkeit der Zeit nur aus der des Raumes folgern.
Sie geht vielmehr unmittelbar aus ihrer Eigenschaft als bedingende Ver-
hältnissvorstellung hervor. Gegen Wundt, a. a. 0. p. 6S4.
30) Ich mache auf diese Bezeichnung der Kritik, p. Ils aufmerksam,
um zu zeigen, dass es ganz im Sinne Kant's gedacht ist, wenn man auch die
Resultate der Aesthetik in transscendentale Grundsätze zusammenfasst.
31) Vgl. meine Schrift: Kaut's Teleologie und ihre erkenntnisstheoretische
Bedeutung. Berlin 1874. — Cohen, a. a. 0. Cap. XIV.
Anmcrkungeu. 139
32) Man studire namentlich die „Allgemeinen Anmerkungen-' zur transsc.
Aesthetik p. 72.
33) Kr. 92. — Vgl. dazu die vorkritische Stelle aus der Habilitations-
schrift, W. 1,310: Nam per formam seu speciem objecta sensus non feriunt;
ideoque, ut varia objecti seusum afticientia in totum aliquod repraesentationis
coalescant, opus est interno mentis priucipio per quod varia illa secundum
stabiles et innatas leges speciera quandani induant."
34) Vgl. die ungemein klare Kantische Stelle, W. I, 502: ..Der Kaum,
als Gegenstand vorgestellt, (wie mau es in der Geometrie bedarf,) enthält
mehr, als blosse Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des
Mannigfaltigen etc."
35) „Alle Anschauungen als sinnlich beruhen auf Affectionen, die Be-
griffe also auf Functionen." Kr. 92. Vgl. übrigens Cohen a. a. 0. Cap. X,
besonders p. 1 66 ff.
36) Kr. 93.
37) Vgl. W. I, 50S (Fortschr. d. Metaph.): „Alle Vorstellungen, die eine
Erfahrung ausmachen, können zur Sinnlichkeit gezählt werden, eine einzige
ausgenommen, d. i. die des Zusammengesetzten als eines solchen."
— Ganz annehmbar, wenn vorsichtig interpretirt . ist auch die vorkritische
Definition: „Etenim spontaneitas est actio a principio interno profecta."
W. I, 24.
38) Kantischer Ausdruck. Kr. 128.
39) Kr. 114.
40) W. ni, 59.
41) Kr. 176.
42) Kr. 179.
43) Die „synthetische Einheit der Apperception aller Erscheinungen"
ist die „wesentliche Form" der Erfahrung. Kr. 192.
44) Die vorstehende Ableitung enthält den einfachen Grundgedanken
des durch seine „Dunkelheit" berühmten § 16 der transscendentalen Ana-
lytik (p. 115). Ich habe das ..ich denke" durch ...meine" ersetzt, weil durch
letztern Ausdruck die hier erforderliche Beziehung genauer gegeben wird.
45) Meines Erachtens beruht das Verständniss der Kritik der reinen
Vernunft zum grossen Theil darauf, dass mau hinter ..dem obersten Grund-
satze aller synthetischen Urtheile" (Kr. 150) nichts Anderes sucht, als hinter
dem „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperception." Da dieser
Punkt wichtig ist, will ich hier die verschiedenen Fassungen des Princips
bei Kant nebeneinander stellen.
1. Kr. p. 117. Verbindung „ist allein eine Verrichtung des Verstandes,
der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden und
das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der Appercep-
tion zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen
Erkenntniss ist."
2. Kr. p. HS. -Der oberste Grundsatz ebenderselben (der Möglichkeit
aller Anschauung) in Beziehung auf den Verstand ist: dass alles Mannig-
faltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich -synthetischen
Einheit der Apperception steht."
140 Anmerkungen.
3. Kr. i>. 152: ..Das oberste Priucipium aller synthetischen Urtheile ist
also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der
synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in einer möglichen Erfahrung."
4. Kr. p. 573: Es wird ..die objective Realität unserer empirischen Er-
kenntniss auf dem transscendentalen Gesetze beruhen, dass alle Erschei-
nungen, sofern uns dadurch Gegenstände gegeben werden sollen, unter
Regeln a priori der synthetischen Einheit derselben stehen müssen . . .'•
5. Kr. p. 5TS. ..Der synthetische Satz, dass alles verschiedene empirische
Bewusstsein in einem einigen Selbstbewusstsein verbunden sein müsse, ist der
schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt."
6. W. III, 66. „Erfahrung besteht in der synthetischen Verknüpfung
der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewusstsein, sofern dieselbe
notwendig ist."
7. W. I. 470. (Ueb. e. Entd. etc.) Nun sieht man, dass die Kritik der
reinen Vernunft „das Princip synthetischer Urtheile überhaupt, welches not-
wendig aus ihrer Detinition folgt, mit aller erforderlichen Ausführlichkeit
darlege, nämlich: dass sie nicht anders möglich sind, als unter der Bedin-
gung einer dem Begriffe ihres Subjects untergelegten Anschauung."
46) ,,Denn dieser Satz kann unabhängig von der Ableitung der Vorstel-
lungen des Raumes und der Zeit bewiesen werden, und so der Idealität der
letztern zum Beweise dienen, noch ehe wir sie aus deren innerer Beschaffen-
heit gefolgert haben." W. I, 470. — Vgl. dazu: weil die Kategorien „nur
in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeu-
tung haben, sie aber diese Einheit auch nur wegen der blossen Idea-
lität des Raumes und der Zeit durch allgemeine Verbindungsbegriffe
a priori bestimmen können." Kr. 220.
47) Vgl. die Deduction in der ersten Auflage. Kr. 507 ff".
ib) Diesen methodisch annehmbaren Einwand macht Dühring, Kritische
Geschichte d. Phil. 2. Aufl. p. 414.
49) Vgl. Von d. Grunde d. Unterscheidg. etc. Kr. 209—224.
50) Ich muss diese Ansicht Lange gegenüber aufrecht erhalten, obgleich
ich nicht der unwissenschaftlichen Meinung bin, ..dass die Stammbegrift'e
unserer Erkenntnisse a priori sich auch a priori, durch reine Deduction aus
notwendigen Begriffen müssen entdecken lassen" (a. a. 0. II, 30), sondern
mit ihm annehme, „dass die Reflexion über die Erfahrung ebenfalls ein in-
ductives Verfahren ist und kein anderes sein kann" (ebd. p. 124). Allein
daraus folgt nach meiner Auffassung nicht, „dass der Anspruch an die Ge-
wissheit der vollständigen Auffindung alles Apriorischen unhaltbar ist"'-(ebd.).
Es ist nämlich die Induction, durch welche wir die Grundsätze ableiten, eine
vollständige, wie wir bald sehen werden. Angenommen, es sei die in der
Mathematik vorliegende Erfahrung zu erklären, so suche ich iuductiv die
Anzahl der Postulate, die erfüllt werden müssen, wenn diese Wissenschaft
bestehen soll. Nun ist allerdings möglich, dass ich in der Aufzählung un-
sorgfältig zu Werke gehe, dass ich irre; aber es liegt kein Grund in der
Sache, dass ich sie überhaupt nicht vollständig, oder zu irgend einer spätem
Zeit vollständiger als gerade jetzt entdecken könne. Eine Theorie, welche
die Möglichkeit der Mathematik erklären will, muss mit dem Anspruch auf-
Anmerkungen. 141
treten, die dazu nötigen Hypothesen absolut vollständig beigebracht zu
haben; denn sonst würde sie ja zugeben, irgend etwas unerklärt zu lassen.
Es wäre ja widersinnig, den Grund, warum ich einen notwendigen Satz jetzt
für wahr halte, erst in der künftigen Erfahrung suchen zu wollen. — Vgl.
übrigens Anm. 72.
51) Kr. [O. — Vgl. dazu Cohen, a. a. 0. Cap. VIII. — Lange, a. a. 0.
II, 50—52.
52) Kr. 94.
53) W. III, 90.
54) Kr. 131.
55) Kr. 94.
56) W. III, S8.
57) W. III, 89.
58) W. III, 90.
59) Kr. 101.
60) Vgl. dazu Schopenhauer, Werke II, 557 — 559. Diese Kategorien-
lehre „ist auch recht eigentlich das Bett des Prokrustes geworden, in welches
Kant jede mögliche Betrachtung hineinzwängt etc.- — Die Ansicht von der
Künstlichkeit der Kategorien muss überhaupt als herrschende bezeichnet
werden; sie wird überall aufgenommen, ohne dass man eine nähere Begrün-
dung für nötig hält. — Auch Lange tritt ihr bei (a. a. 0. II, 132). —
Wundt sagt (a. a. 0. p. 675): „Die Ausführung dieser Ordnung ist ein
logisches Geschäft, wie es denn auch Kant aufgefasst hat, dessen Tafel der
Kategorien jedoch ihre Form zum Theil dem Streben nach einer rein äusser-
lichen Symmetrie verdankt, die mit der inneni Notwendigkeit der Begriffe
nichts zu thun hat." —
61) Kr. 102.
62) W. III, 70. — Vgl. W. IV, 39 die Anmerkung.
63) W. III, 91.
64) W. lU, 92.
65) W. V, 313.
66) W. I, 563.
67) W. IX, 3. — Vgl. auch IX, 332.
68) Vgl. Cohen gegen Herbart, a. a. 0. p. 108 und 109.
69) Cohen, p. 209 und 210.
70) Auch in diesem Punkte muss ich zu der Darstellung Cohen's einen
Zusatz machen. Er behauptet „die Apriorität nicht sowohl der Kategorien,
als vielmehr der Kategorie" p. 101, Nur in erweiterter, übertragener Be-
deutung könne die Apriorität der Kategorien behauptet werden. „Denn die
einzelnen Kategorien, olischon sie in ihrer logischen Qualität nicht notwen-
dige Deukformen sein mögen — insofern sie eine synthetische Einheit in
der Verknüpfung des Mannigfaltigen enthalten, sind sie sämmtlich a priori."
Wenn diese Bestimmung ausreichend wäre, so würde der Begriff der Aprio-
rität das ganze P'eld der Empirie umspannen. Jedes Urtheil enthält „eine
synthetische Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen" ; „insofern" sind
also sämmtliche Urtheile a priori, und es ist eitel Täuschung, wenn noch
einzelne Urtheile sich vor anderen einer besondern Notwendigkeit rühmen.
142 Anmerkungen.
Denn das einzige Kriterium der Notwendigkeit ist ja eben die Apriorität,
die sich nunmehr über alles ergiesst. Alsdann darf „unbeschadet dem aprio-
rischen Charakter der Kategorie selbst Streit sein", nicht nur darüber, „ob
die Gemeinschaft eine notwendige, fiir die Möglichkeit der Erfahrung not-
wendige Denkform sei, oder nur die Causalität oder auch die Zweckver-
bindung", sondern es kann auch Streit sein darüber, ob es der pythagoreische
Lehrsatz oder das Gesetz der Lichtbrechung sei. Ein Rangunterschied kann
höchtens noch in der comparativen Allgemeinheit bestehn. Ich behaupte
aber: Entweder soll man darauf verzichten, in der reinen Wissenschafts-
theorie einzelne apriorische Kategorien aufzustellen, oder man muss es in
einer Weise thun, dass über ihre Aiizahl kein Streit sein kann. Denn wenn
man sie annimmt, nimmt man sie an, wie Cohen hervorhebt, als formale Be-
dingungen der Erfahrung. Die Erkenntniss ihrer Tollstandigkeit ist also
unabhängig vom Fortgange der Erfahrung; ihre Anzahl muss zu jeder Zeit
aus dem Begritfe der Erfahrung herausgehoben werden können. Die Frage
ist eben, ob die synthetische Einheit in Arten zerlegt werden könne, ohne
dass man die Unterschiede in der Erfahrung suche. IVIuss die Frage ver-
neint werden, so gibt es keine Kategorien. Cohen hätte daher seine Be-
stimmung des besondern a priori wenigstens negativ in folgender W^eise er-
gänzen sollen: Die einzelnen Kategorien sind sämmtlich a priori, insofern
sie eine synthetische Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen und
ausserdem nichts Empirisches enthalten. Wenn Cohen zu seiner Er-
klärung hinzufügt: ,.Und mehr Apriorität darf nirgend behaujjtet werden,
mehr hat auch der Eaum nicht. Die Synthesis des Räumlichen ist das
a priori des Raumes" (ebd.), so bringt ihn dieser Ausdruck in Widerspruch
mit seiner eigensten Ansicht. Das a priori des Raumes liegt nicht allein
in der Handlung der Synthesis, sondern laut transsc. Aesthetik auch in dem,
was verknüpft wird, im räumlichen Verhältniss; auch das Material der Syn-
thesis muss schon als formale Bedingung der Erfahrung betrachtet werden.
Ich illustrire dagegen meine Wendung durch den Satz: Die Kategorie der
Grösse ist insofern a priori, als sie die synthetische Einheit und ausserdem
nichts Empirisches, nämlich bloss die reine Anschauung des Raumes enthält.
Ich füge hieran den wichtigen Kantischen Satz: Wir haben gesehn,
..dass reine Begriffe a priori ausser der P'unction des Verstandes in der
Kategorie, 7ioch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des
Innern Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung
enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand an-
crewandt werden kann " (Kr. 142.)
Darnach ist es methodisch vollkommen richtijf, die Kategorie der Cau-
salität dadurch anzugreifen, dass man zeigt, der in ihr enthaltene Begriff
der Veränderung sei aus der Erfahrung gezogen. Dann ist sie nämlich for-
male Bedingung des Denkens nur, insofern sie die Synthesis ausdrückt, in-
sofern sie eine synthetische Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen
der Anschauung darstellt." (Cohen, p. 10-2.) Nichtsdestoweniger behauptet
Cohen mit Recht (ebd.), dass das kein Rückfall zu Hume wäre; denn wir
hätten Diesem gegenüber schon einen gewaltigen Ertrag, nämlich die Aprio-
rität der Synthesis überhaupt gerettet. AVir können die Möglichkeit von
Anmerkungen. 143
notwendigen Urtlieilen, also von Gegenständen im Allgemeinen beweisen,
■woran Hume verzweifeln musste.
71) Damit sind die besondern Einheitsfunctiouen allerdings weder als
„ Stammbegriffe '% noch auch nur als Elemente unserer „Organisation" im
Sinne von Lauge (a. a. 0. II, 125 ff.) abgeleitet. Ich will auch nichts weiter
erreichen, als was Cohen (a. a. 0. p. 20S) von den Grundsätzen sagt und was
ich übrigens für durchaus Kantisch halte: „Wirklich aber sind sie nicht als
„..Eigenschaften unseres Organismus"", sondern als Formen der gegebenen
Erfahrung, mit deren Aufhebung die „„Möglichkeit der Erfahrung"", die
„„mögliche Erfahrung"" aufgehoben würde." Lange hält das (ebd. und auch
p. 131) für eine „Tautologie, dass die Erfahrung zu erklären ist aus den
Bedingungen überhaupt möglicher Erfahrung. Soll die transscendentale De-
duction statt dieser Tautologie ein synthetisches Resultat ergeben, so
müssen die Kategorien notwendig noch etwas sein, ausserdem dass sie Be-
dingungen der Erfahrung sind." Ich dagegen behaupte keineswegs, dass die
Erkenntnisstheorie ein „synthetisches Resultat" ergebe; ihr Endergebniss ist
ein analytisches Urtheil: auf der einen Seite der gegebene Begriff der Erfahrung,
auf der andern seine Explication (vgl. unten § igsöj. Aber dies darf so
wenig Tautologie genannt werden, als irgend eine andere gute Erklärung.
Gelfngt die interessante Untersuchung, die Einheitsfunctionen als „noch
etwas" nachzuweisen, so ist dieses Resultat nicht mehr ein erkenntnisstheo-
retisches, sondern ein psychologisches.
72) Aus diesem Princip lässt sich die gegen Lange behauptete (vgl. Anm. 5U)
Notwendigkeit der vollständigen Anzahl hinreichend rechtfertigen. Die Auf-
stellung geschieht allerdings inductiv, durch die psychologische Induction,
welche die Vorstellungselemente aufzählt. Aber diese Induction ist vollstän-
dig, wie jede Aufzählung der Glieder eines eingetheilten Ganzen ; wir wissen,
dass der Inhalt der Erfahrung durch Raum, Zeit und Empfindung erschöpft
ist. Belehrt uns nun Mill, dass man schon viele Inductionen für complet
gehalten habe, die sich später als sehr unvollständig erwiesen, so sind wir
nicht so dogmatisch, zu bestreiten, dass es nicht vielleicht irgendwo oder zu
irgend einer Zeit Geschöpfe geben könne, bei welchen die Vorstellungselcmente
andere seien; aber wir behaupten, die Erfahrungsbedingungen absolut voll-
ständig für alle Wesen gefunden zu haben, in deren Wahrnehmung sich die
beschriebenen drei Factoren unterscheiden lassen. Die Zahl unserer Principien
bleibt und ist zur Begründung unseres wissenschaftlichen Bewusstseins not-
wendig, so lange der menschlichen Natur diese Verschiedenheit ihrer Vorstel-
lungsform anhaftet.
73) Der Satz, den Lange bei Kant für bedenklich hält, „dass Empfindung
sich nicht wieder an Empfindung ordnen könne", braucht also durchaus
nicht aufgestellt zu werden (a. a. 0. II, 33. Vgl. übrigens auch p. 35 und
36 ebd.).
71) Es ist nützlich, hier die Springpunkte unserer Auffassung zu recapi-
tuliren, unter welcher sich, wie ich glaube, die Kantischen Gedanken als
eine consequente und geschlossene Theorie darstellen. Vor Allem muss
festgehalten werden, dass die synthetische Einheit überhaupt als Bedingung
der ursprünghchen Apperception postulirt wird, und dass dieselbe die in
144 Anmerkungen,
den Urtheilen wirkende Einheitsfuuctiou ist. Einheitsfunctiou und synthe-
tische Einheit sind nur wie Process und Resultat zu unterscheiden, ohne dass
etwa heiden eine verschiedene Rolle im Erkennen zugetheilt werden darf.
Die Einheitsfunction deckt sich, wie gezeigt wurde, mit Kant's oberstem
Grundsatze oder mit der Kategorie als Gattungsbegrift'. Während nun Kant
aus der Urtheilstat'el zunächst eine formal bleibende Besonderung seiner
Kategorie gewinnen will, verzichten wir darauf, weil sie schliesslich dem
Principe nach doch nur materiell, ob zwar apriorisch sein kann. Daraus
folgt aber, dass wir bei den einzelnen Einheitsfunctionen nicht mehr von
..Kategorien" im Sinne der 'l'afel sprechen können; denn „blosse Gedanken-
formen" kennen wir auch als Abstractiou nicht, weil aus der Einen blossen
Gedankenform die Mehrheit überhaupt erst dadurch entsteht, dass wir sie
aus ihrer Isolirung in die Anschauung hinüberziehen. Was wir Einheits-
functionen nannten, heisst bei Kant schematisirte Kategorien, Schemata
reiner Verstandesbegriffe, Grundsätze. Und ich kann nicht etwa durch
nachträgliche Abstractiou die reinen Vei'standesbegrifte dennoch gewinnen.
Denn die einzelneu Functionen haben nicht nur objectiv, sondern auch sub-
jectiv bloss einen Sinn in Verbindung mit der Anschauung. Sobald ich von
letzterer abstrahire, verlieren sie auch ihre gedankliche Sonderexistenz und
lösen sich wieder auf in die allgemeine synthetische Einheit.
Ich kann diese Wendung durch eine kleine Aenderung eines Satzes der
Kritik der r. Vern. sehr deutlich machen. Kant sagt: „Es hat aber die
Transscendental-Philosophie das Eigentümliche, dass sie ausser der Regel
(oder vielmehr der allgemeinen' Bedingung zu Regeln), die in dem reinen Be-
griffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen
kann, worauf sie angewandt werden sollen" (p. 140). W^ir ziehen es vor
zu sagen: dass sie zugleich a priori die Fälle anzeigen kann, worauf sie
angewandt werden soll. Aus den verschiedenen Fällen, worauf die Regel
angewandt wird, entspringen die Regeln. Kant schematisirt in seiner Dar-
stellung die anderswo gefundene Anzahl der Kategorien , um sie in ihrer
Anwendung zu zeigen; wir sagen aber, dass die allgemeine Kategorie ange-
wendet worden sei, damit man ihre Arten entdecke. Bei Kant tritt das
transscendentale Schema nur als die restringirende und realisirende , sinn-
liche Bedingung der Kategorie (vgl. Cohen, p. 188) hervor, wir betrachten
es in erster Linie als ihre speciticirende. Wie mächtig aber eben dadurch
seine einschränkende Kraft sich kund gibt, ist in § 105 gezeigt worden.
Ib) Für das Vcrständniss der Kritik d. r. V. kann das Studium eines an
ungemein wichtiger Stelle befindlichen Satzes nicht genug empfohlen werden.
Im zweiten Abschnitt der Grundsätze p. 152 heisst es: „Da also Erfahrung,
als empirische Synthesis, in ihrer Möglichkeit die einzige Erkenntnissart ist,
welche aller andern Synthesis Realität gibt, so hat diese als Erkenntniss
a priori auch nur dadurch Wahrheit (Einstimmung mit dem Object), dass
sie nichts weiter enthält, als was zur synthetischen Einheit der Erfahrung
überhaupt notwendig ist."
7G) Erst nach langer Prüfung habe ich mich zu so wichtigen Ab-
weichungen von der Kantischen Darstellung entschlossen. Ich habe das
Hauptgewicht der Ableitung in zwei Sätzen erblickt, die Kant ohne beson-
Anmerkungen. 145
dere Betonung anführt. Er sagt: „Wenn die Synthesis des Mannigfaltigen
der Erscheinung unterbrochen ist, so ist dieses ein Aggregat von vielen Er-
scheinungen, und nicht eigentlich Erscheinung als ein Quantum, welches
nicht durch die blosse Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen
Art, sondern durch Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis erzeugt
wird." (Kr. IGI.) Dieser Satz enthält den Beweis in nuce. Weil die Einheit
des Gegenstandes nur durch stetige Synthesis möglich ist, hat alle Realität
intensive Grösse. Kant hat die Continuität des Bewusstseins und damit das
eine Element der Qualität, die Intensität, endgültig deducirt. Für die Klarheit
dieses Theils der Darstellung ist nur zu bedauern, dass er nicht auch die
transscendentale Beziehung auf die Einheit der ursprünglichen Apperception
ausführlich wiederholt hat. — Der zweite Satz lautet: Es erregt „einiges
Bedenken, dass der Verstand einen dergleichen synthetischen Satz, als der
von dem Grad alles Realen in den Erscheinungen ist, und mithin der Mög-
lichkeit des Innern Unterschiedes der Empfindung selbst, wenn
man von ihrer empirischen Qualität abstrahirt, anticipirt." (Kr. 164.) Darin
wird das zweite Ergebuiss der Deduction auf das schärfste ausgesprochen.
Auch der innere Unterschied ist eine apriorische Bestimmung der Empfin-
dung. Damit ist das zweite Element der Qualität, der Ergänzungsbegriff der
Intensität, die Verschiedenheit des Realen gefunden. Dieses Resul.it
entspringt durch bündigen Schluss aus einer notwendigen Disjunction. Die
erforderliche Mannigfaltigkeit besteht entweder im innern oder im äussern
Unterschied der Empfindung. Nun ist bewiesen, dass der äussere (als dis-
creter Bewusstseinszustände) nicht möglich ist, also gibt es einen innern.
Ueber diesen Punkt nun geht Kant noch zwei Schritte hinaus, die ich ihm nicht
folgen kann. Einmal legt er den innern Unterschied in die intensive Quan-
tität. Dafür habe ich den reinen transscendentalen Grund vergebhch ge-
sucht. Zweitens schreibt er dieser intensiven Quantität ausserdem noch
Stetigkeit zu. Auch dieses Moment lässt die Kritik unbewiesen. Es heisst
einfach: „Nun hat jede Empfindung einen Grad oder eine Grösse, wodurch sie
dieselbe Zeit mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in nichts
aufhört." (Kr. 144.) Jede? Warum? Ferner: „Nun ist vom empi-
rischen Bewusstsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich . . . . "
(Kr. 159.) Immer? „Nun ist aber jede Empfindung einer Verringerimg
fähig . . . ." (Kr. 160.) Weshalb denn jede? Doch wohl nur, weil es die
Erfahrung so zeigt. In der That antworten die Prolegomenen auf diese
Frage in § 25 (W. III, 68) durch Aufzählung der einzelnen Empfindungen.
Und dennoch irrt man, wenn man glaubt, Kant habe die Stetigkeit des
Grades nur durch Induction aus der Erfahrung entlehnt. Er hat sie viel-
mehr in den Metaphys. Anfängsgr. d. Naturw. im zweiten dynamischen Lehr-
satze für den allgemeinen Begriff der Materie deducirt. (W. V, 340.) Aber
es darf eben diese Deduction, da sie die Materie voraussetzt, nicht für den
reinen erkenntnisstheoretischen Grundsatz verwertet werden.
77) Vgl. z. B. Wundt, a. a. 0. p. 684. „Aber die Zeit an sich ist ein
discretes Gebilde." — • „Die von Vorstellungen freien Zustände des Schlafes
und der Ohnmacht sind für uns vollständig zeitlos."
78) Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass diese Bestimmung mit
Stadler, Erkenntnisstheorie. \Q
1 46 Anmerkungen.
dem Begriffe der „Kcalrepugnanz'* nichts zu scbaftcn hat, deren Behandlung
nicht in die reine, sondern in die angewandte Erkenntnisstheorie gehört.
Die Realrepugnanz ist der Begriff der relativen identischen Negation, der
gegenseitigen Aufhebung realer Grade, wozu die Kenntniss wirklicher Kräfte
aus der Erfahrung, d. h. aus einem spccicUen Wissenschaftsstoffe geschöpft
werden muss. Das deutlichste Beispiel derselben ist das Plus und Minus
der Mathematik. Vgl. Kaut's „Versuch, den Begriff' der negativen Grössen
in die Wcltweisheit einzuführen." Erster Abschn. W. I, 121.
79) Ueberweg hat es allerdings viel leichter; er legt das Bewusstsein
der objectiven Gültigkeit der formalen Verknüpfung gleich in die Definition
des Urtheils. Das Urtheil ist ..das Bewusstsein, ob zwischen den entsprechen-
den objectiven Elementen die analoge Verbindung bestehe" (a. a. 0. p. 150).
Wie es aber komme, dass das Bewusstsein sich über dieses „ob" Gewissheit
verschaffen kann, lässt er gänzlich unerklärt. Das Bewusstsein darf eben
nicht skeptisch sein. Dann mag man freilich ruhig weiterdeiiniren: „Der Be-
griff" der Bejahung ist das Bewusstsein der Uebereiustimmung der Vorstel-
lungscombination mit der Wirklichkeit, der Begriff der Verneinung das Be-
wusstsein der Abweichung der Vorstellungscombination von der Wirklichkeit."
lebd. p. 164.) In dieser Fassung bleiben die Begriffe als logische und als
erkenntnisstheoretische Werte gleich unklar.
80) Meiner Auffassung gemäss kann ich also die „Limitation" unter die
Zahl der Kategorien nicht aufnehmen. Ich lasse hier dahingestellt, ob sie
die formale Logik mit Nutzen in der Urtheilstafel bewahrt. Kant hatte dies
mit den Worten empfohlen: „Diese unendlichen ürtheile also in Ansehung
des logischen Umfangs sind wirklich bloss beschränkend in Ansehung des
Inhalts der Erkenntniss überhaupt, und in so fern müssen sie in der trans-
scendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den ürtheilen nicht über-
gangen werden, weil die hiebei ausgeübte Function des Verstandes vielleicht
in dem Felde seiner reinen Erkenntniss a priori wichtig sein kann." (Kr.
p. 96.) Dieses „vielleicht" hat aber Kant für die Erkenntnisstheorie weder
bei den Kategorien, noch bei den Schemata (vgl. Kr. 14 J), noch bei den
Grundsätzen entschieden. Ebensowenig habe ich selbst die transscendentale
Rolle dieser Kategorie entdecken können.
81) Diese Begriffe würden dann ihrer Function nach den ersten beiden
Kantischen Kategorien der Qualität entsprechen.
82) Vgl. Kr. p. 164 und 16.5. — Met. Anf. der Naturw. Dynamik.
W. V, 342 ff.
83) Daher nennt es Kant Princip der Anticipationen. Notwendig ist
nur, was anticipirt werden kann. Nun sind alle Erscheinungen insofern
Anticipationen, als sie unter diesem Gesetze stehen. Somit ist es, wie die
erste Auflage ausführlicher sagt, „der Grundsatz, welcher alle Wahnieh-
mungen als solche anticipirt." (Kr. 158.) — Bei dieser Gelegenheit sei auf
die transscendentale Vertiefung der zweiten Auflage hingewiesen. Während
die Fassung der ersten „die Empfindung und das Reale" einfach nebenein-
ander stellt, sagt die zweite: „Das Reale, was ein Gegenstand der Empfin-
dung ist", d. h. das Reale, die Beziehung worauf die Empfindung erst ob-
jectiv macht.
Ainncrkiingen. 147
84) Sehr bemerkenswert ist die Stelle der Kritik, dass Grösse die Art
ist, „wie ein Ding mit vielen zusammen einerlei-' sein könne, p. 205.
85) Der Leser, der diese Ableitung mit der sachlich identischen Kant's
vergleicht (Kr. 155 — 156), wird sich überzeugen, dass das Verständniss dieses
Grundsatzes viel leichter wird, wenn man seine Wurzel, die räumliche Be-
ziehung rein herausschält, und die Uebertragung auf die Zeit, die eine ander-
weitig zu begründende Folgerung ist, hier als vorläufig darstellt, Kant hat
die Uebertragung auf die Zeit einfach gemacht, ohne sie an dieser Stelle zu
begründen, ja ohne sie an dieser Stelle begründen zu können. Er sagt bloss,
nachdem er von dem Ziehen der Linie gesprochen: „Ebenso ist es auch mit
jeder, auch der kleinsten Zeit bewandt. Ich denke mir darin nur den suc-
cessiven Fortgang von einem Augenblick zum andern, wo durch alle Zeit-
theile imd deren Hinzuthun endlich eine bestimmte Zeitgrösse erzeugt wird."
(Kr. 156.) Aber es ist ja eben nichts weniger als selbstverständlich, dass
wir genötigt sind, das Nacheinander der Zeit zu einer Grösse, d. h. zu
einem Nebeneinander zu machen. Erst die Behandlung der zeitlichen Einheit
kann diese Notwendigkeit aufzeigen.
S6) Die Interpretation der Kritik der reinen Vernunft sollte stets darauf
achten, dass das volle Verständniss der „Transscendentalen Erörterung des
Begriifs vom Räume" (p. 60) und Nummer 3 der Metaphysischen Erörterung
in der ersten Ausgabe (p. 59 Anm.) erst an dieser Stelle zu erreichen ist.
87) Cohen warnt mit Recht (a. a. 0. p. 210) davor, das „Princip" selbst
„Axiom" zu neimen. Doch muss ich bemerken, dass Kant auch durch die
erste Auflage nicht zu dieser Oberflächlichkeit seiner Geschichtschreiber
Veranlassung gegeben hat. Zwar sagt er in der Uebersichtstafel : ..Alle
Grundsätze des reinen Verstandes sind demnach 1) Axiomen der Anschauung
etc." (Kr. 154), fügt aber nachher hinzu: „Man wird aber wohl bemei'ken,
dass ich hier eben so wenig die Grundsätze der Mathematik im einen Falle,
als die Grundsätze der allgemeinen (physischen) Dynamik im andern, sondern
nur die des reinen Verstandes vor Augen habe. . . . Ich
benenne sie also mehr in Betracht ihrer Anwendung, als um ihres Inhalts
willen." Auch die Formel selbst hat schon in der ersten Auflage das Genaue:
„Von den Axiomen der Anschauung. — Grundsatz des reinen Verstandes."
(Kr. 155), wo Grundsatz in deutlichem Gegensatz zu Axiom gesetzt ist.
Ebenfalls in der ersten Auflage steht folgende treö'liche Stelle: „Der da-
selbst (in der Analytik) angeführte Grundsatz war selbst kein Axiom, son-
dern diente nur dazu, das Principium der Möglichkeit der Axiomen über-
haupt anzugeben, und war selbst nur ein Grundsatz aus Begriffen."
iKr. 489.) Auch in den Prolegomenen heisst er „einPrincip der Anwendung
der Mathematik auf Erfahrung." (W. III, 6S.)
88) Vgl. Lange, a. a. 0. II, 21 — 25. Mit Recht bezeichnet es Lange als
grossen Irrtum, „wenn man glaubt, mit den wenigen Sätzen, welche man
als Axiome oder auch als eine Beschreibung der allgemeinen Natur des
Raumes voranschickt, seien die synthetischen Bestandtheile der Geometrie
erschöpft." Sie sagen vielmehr bloss bestimmte Eigenschaften aller weitern
Synthesen voraus.
89) Kant hat diese Bedeutung der Zahl nicht selbst entwickelt, aber
10*
148 Aumerkungen.
alles Material zur Ausführung gegeben. Er nennt die Zahl „eine Vorstel-
lung . . ., die die successive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen)
zusammenbefasst." (Kr. 141.) Ferner bezeichnet er (Kr. 4S4) als Zahl „die
daraus (sc. aus dem Allgemeinen der Synthesis von einem und demselben in
der Zeit und im Räume) entspringende Grösse einer Anschauung überhaupt."
90) Kant hat die Arten der Quantität nicht als Erfahrungshedingungen
nachgewiesen. Sie sind weder bei den Schemata (Kr. 144i noch bei den Grund-
sätzen behandelt. Somit sind sie als Kategorien in seinem Sinne nicht auf-
recht zu erhalten.
91) Ich will hier die wichtige Stelle nachtragen: „Ebenso kann leicht
dargethan werden, dass die Möglichkeit der Dinge als Grössen und also die
objective Realität der Kategorie der Grösse auch nur in der äussern An-
schauung könne dargelegt und vermittelst ihrer allein hernach auch auf den
inneni Sinn angewandt werden." (Kr. 2US.)
92) Vgl. Ueberweg a. a. 0. p. 234. Lange will überhaupt „die Apodic-
ticität der Logik durchaus auf Kaümbilder des Vorgestellten zurückführen"
und glaubt, dass die viel verachteten Eselsbrücken der logischen Kreise „den
Grund der Apodicticität der logischen Regeln in sich schliessen" (a. a. 0.
II, 128). Diese Ansicht involvirt eine Reduction aller logischen Kategorien
auf die Quantität.
93) Heisst doch bei Kant die schematisirte Kategorie der Qualität „die
Synthesis der Empfindung (Wahrnehmung mit der Vorstellung der Zeit oder
die Erfüllung der Zeit)." Kr. 145.
94) Diese Stelle gibt Gelegenheit, auf die Gonsequenz der Verbcsserungen
der zweiten Auflage d. Kr. d. r. V. hinzuweisen. In der zweiten Ausgabe
der Kr. verdankt das Princip seine einfache Fassung dem Begriff der Ver-
knüpfung. (Kr. 165.) Dieser Begriff findet sich aber im Vorhergehenden in
einer Anmerkung eingeführt und erläutert (p. 155), welche ebenfalls Zusatz
der zweiten Ausgabe ist.
95) Indem ich diesen Unterschied der Principieu betone, bemerke ich
gleichzeitig, dass ich der von Kant nachdrücklich hervorgehobenen (Kr.
103, 154, 166 ff.) Differenz mathematischer und dynamischer Grundsätze
eine weitere Bedeutung nicht beilege. Wie jene Raum und Materie, so
constituiren diese die Anschauung der Zeit; in beiden Phallen gibt ..die
Regel ihrer Synthesis zugleich diese Anschauung a priori in jedem vorliegen-
den empirischen Beispiele" (Kr. 167); ich kann eine allgemeine Wesens Ver-
schiedenheit der Rollen nicht anerkennen. Dagegen begründet allerdings ihre
specielle Fassung jenen gegenüber einen Unterschied, der bei Kant nament-
lich später in der Dialectik wichtig wird. Ich verweise auf die Stellen W. I,
530, I, 571. Kr. 3i)9.
96) Um in der Kr. d. r. V. das Verhältniss dieses Princips zu seinen
speciellen Aeusserungsformen nicht zu verkennen, achte man auf den Aus-
druck der ersten Ausgabe: „Die Analogien der Erfahrung. — Der all-
gemeine Grundsatz derselben ist . ." (Kr. 165.) Bei den Axiomen heisst
es: „Grundsatz des reinen Verstandes." (Kr. 155.) Im vorliegenden Falle ge-
hören auch die einzelnen Arten dem reinen Verstände an und sind Bedin-
gungen der Möglichkeit der Erfahrung.
Aumerknngen. 149
97) Man vergleiche zu dem Ganzen die „Transscendentale Erörterung des
Begriffs der Zeit" (Kr. 6f)) und Nummer 3 der metaphysischen (Kr. H5).
9S) Kant hat leider diese folgenreiche Ausführung in die Darstellung
der Substanz nicht aufgenommen (vgl. Kr. 169 — 173), während sie für den
organischen Zusammenhang des Systems gerade hier recht wertvoll wird.
Doch ist der Gedanke selbst an andern Orten erschöpfend entwickelt. Ich
verweise nur auf die „Widerlegung des Idealismus" (Kr. p. 197), auf die dazu
gehörige Anmerkung der Vorrede zur zweiten Ausgabe (p. 29) und auf
?} 49 der Prolegomena (W. III, iOö); ferner auf die „Allgemeine Anmerkung
zum System der Grundsätze" (Kr. 205). Wir tinden, dass „um dem Be-
griffe der Substanz correspondiiend etwas Beharrliches in der Anschauung
zu geben (und dadurch die objective Realität dieses Begriffs darzuthun), wir
eine Anschauung im Räume (der Materie) bedürfen, weil der Raum allein
beharrlich bestimmt, die Zeit aber, mithin alles, was im Innern Sinne ist,
beständig fliesst." (Kr. 207.)
99) Kant macht schon in der transsc. Aesthetik auf die Verschmelzung
der zeitlichen mit der räumlichen Anschauung aufmerksam. Weil die „innere
Anschauung keine Gestalt gibt, suchen wir auch diesen Mangel durch Ana-
logien zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fort-
gehende Linie dar, . . . ." (Kr. 67.) — Aber es fehlt die Bemerkung, dass
diese Analogie notwendig ist, weil wir uns sonst überhaupt von der aus der
Substanz sich ergebenden Zeitgrösse keine Vorstellung machen können. —
Interessant ist auch die vorkritische Stelle: „Herum quidem couceptuum
alter (spatium) proprie intuitum objecti, alter (tempus) statum concernit, im-
primis repraesentationem. Ideo etiara spatium, temporis ipsius conceptui,
ceu typus, adhibetur, repraeseutando hoc per lineam ejusque terminos (mo-
menta) per puncta." De mundi sens. etc. (W. I,,p. 325.)
100) Der Begriff" der Substanz liegt „aller Bestimmung des Daseins, als
ein Begriff vom Dinge selbst, zum Grunde." (W. III, 69.)
Die Fassung des Princips in der ersten Ausgabe ist mit Rücksicht auf
dieses Hauptergebniss gewählt. (Kr. 169. Anm.)
101) Zwar sagt Kant: Die Möglichkeit synthetischer Sätze a posteriori
bedarf auch keiner besondern Erklärung; denn Erfahrung ist selbst nichts an-
deres, als eine coutinuirliche Zusammenfügung der Wahrnehmungen. (111,2^.)
Aber der Nachsatz selbst enthält eben die Erklärung; sobald wir allerdings
wissen, was Erfahrung ist, brauchen wir keine besondere Deduction für jene;
sie sind dann schon mitbegrüudet. Immerhin aber ist es sehr nützlich aus-
zuführen, wie sie es sind. Vgl. auch Kr. 40 und 41.
102) Diesen Gedanken hat Kant in der zweiten Ausgabe in die Formel
des Princips aufgenommen. (Kr. 169.) Cohen hat gezeigt, dass die stark
realistische Fassung von Dogmatismus gänzlich frei ist (a. a. 0. p. 220).
Für die systematische Klarheit des Princips ist es übrigens besser, das
Corollar nicht in den allgemeinen Hauptsatz aufzunehmen; dieser soll nur
die reine transscendentale Bedingung unvermischt mit Folgerungen enthalten.
103) Sehr zuversichtlich sagt Ueberweg einfach: „Das analoge reale
Verhältniss ist das der Subsistenz und Inhärenz." (a. a. 0 p. 156.)
104) Vgl. Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. W. V, p. 4ü4.
150 Anmerkungen.
105) In diesem Punkt kann man neuen Auffassungen gegenüber nichts
Besseres thun, als den erst beute recht zu würdigenden Ausspruch Lambert's
aus dem Jahre IT'o anführen: „Bisher h:ibe ich der Zeit und dem Baume
noch nie alle Realität absprechen noch sie zu blossen Bildern und Schein
machen können. Ich denke, dass jede Veränderungen auch Schein sein
müssten Können Sie, mein Herr, mich hierin eines Andern be-
lehren, so glaube ich nicht viel zu verlieren. Zeit und Baum werden reeller
Schein sehi, wobei etwas zum Grunde liegt, das sich so genau und beständig
nach dem Schein richtet, als genau und beständig die geometrischen "Wahr-
heiten immer sein mögen. Die Sprache des Scheins wird also eben so genau
statt der unbekannten Sprache dienen. Ich muss aber doch sagen, dass ein
so schlechthin nie trügender Schein wohl mehr als nur Schein sein dürfte."
(Kaufs und Lambert's Philosoph. Briefe. W. I, 369.)
100) Vgl. Kant, Kr. l'.lSli'. — p. 2',». Aum. Proleg. § 49. (W. III, loö.i
107) Diese uneigentliche Absonderung ist die Ursache, dass bei Kant
„auch diese Kategorie unter dem Titel der Verhältnisse steht". Aber man be-
achte die Stelle, auf welche auch Cohen nachdrücklich hingewiesen hat: Die
Kategorie steht unter diesem Titel „mehr als die Bedingung derselben, als
dass sie selbst ein Verhältniss enthielte-' (Kr. 172). Sie verdient diese Ein-
reihung, nicht, weil sie, wie die andern Kategorien, ein Verhältniss real ge-
trennter Objecte, sondern weil sie ein Verhältniss ideal gesonderter Theile
eines Objects enthält, welches die Bedingung von jenem ist. Es wäre daher
schärfer, die Kategorien der Relation dichotomisch so zu gruppiren:
I. Verhältniss der Bestandtheile einer II. Verhältniss der Erscheinungen zu
Erscheinung : einander :
Subsistenz und Iiihärenz. a) Causalität und Dependenz.
b) Wechselwirkung.
108) Leider ist es überall nötig, Kant gegen die Zumutung zu verthei-
digen, dass er die Kategorien auf das Ding an sich angewandt habe. In
Betreff der Substanz mag das Citat genügen: „Es fehlt so viel, dass man
diese Eigenschaften aus der blossen reinen Kategorie einer Substanz schliessen
könnte, dass wir vielmehr die Beharrlichkeit eines gegebenen Gegenstandes
aus der Erfahrung zum Grunde legen müssen, wenn wir auf ihn den empi-
risch brauchbaren liegriff einer Substanz anwenden wollen." (Kr. 587.) —
„Wie 1) etwas nur als Subject, nicht als blosse Bestimmung anderer Dingo
existiren, d. i. Substanz sein könne lässt sich gar nicht aus blossen
Begriffen einsehen etc." (Kr. 205.) — Vgl. auch die charakteristische Be-
zeichnung der Materie als „eine gewisse Vorstelluugsart" (Kr. Ü07), auf
welche Cohen aufmerksam gemacht hat (a. a. 0. p. 245).
109) Sobald ich wenigstens, von der gemeinen Weltansicht ausgehend,
„meine Begriffe von einem Gegenstände bis zur trausscendentalen Bedeutung
steigere" (Kr. 175).
110) Dieser ungemein klare und. kritisch vorsichtige Ausdruck steht Kr. 1 7f>.
111) Kr. 174.
112) Die charakteristischen, durch Anführungszeichen hervorgehobenen
Ausdrücke stehen bei Kant Kr. p. 180 und ISI.
113) Vgl. Lange, a. a. 0. p. 130: „Wenn z. B. Comte den Begriff der
Anmerkungen. 151
Ursache gilnzlich beseitigt und diirch den einer constanten Folge der Er-
eignisse ersetzt, so ist dies Verfabren keineswegs auf Grund der Apriorität des
Causalbegriffes anzufechten." Lange scheint darin einen Fortschritt Kant
gegenüber zu erblicken. Meiner Ansicht nach hätte Comte einfach Kant's
Causalbegriff annehmen können, der bereits nicht mehr die mindesten Zu-
thaten der Einbildungskraft enthält.
114) Kr. na.
115) Kr. 177.
116) Kr. 178.
117) Kr. 150.
IIS) Kr. 1S5.
119) Kr. 176.
120) Kr. 183.
121) Hier sind nun einige Bemerkungen gegen die Polemik einzufügen,
welche Schopenhauer in der Abhandlung „üeber die vierfache Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grunde" § 23 gegen Kant's Beweis des Causal-
gesetzes geführt hat. Ich verweise dafür auf die Abwehr Cohen's (a. a. 0.
p. 224— 22S), halte es aber für nötig, einige Zusätze zu derselben zu machen.
Wenn Schopenhauer p. 8" sagt, dass auch die Bewegung des Auges so
gut wie das Fahren des Schiffes eine Begebenheit sei, so ist das nicht nur
ohne weiteres zuzugeben, sondern es muss noch viel schärfer behauptet
werden, dass auch die ,. bloss subjective Folge" unserer Vorstellungen einen
Theil der objectiven Erscheinungswelt ausmacht. Allein dessen ist sich Kant
sehr klar bewusst. „Nun kann mau zwar alles, und sogar jede Vorstellung,
sofern man sich ihrer bewusst ist, Object nennen; allein was dieses Wort
bei Erscheinungen zu bedeuten habe, nicht, in so fern sie (als Vorstellungen)
Objecte sind, sondern nur ein Object bezeichnen, ist von tieferer Unter-
suchung." (Kr. 175.) Diese tiefere Untersuchung ist Schopenhauer ver-
borgen geblieben.
Wenn Schopenhauer p. sS die musikalischen Töne und Tag und Nacht
als objective Folgen anführt, die ohne das Causalgesetz erkannt werden,
so ist ihm nichts weiter als die Frage entgegenzuhalten: Wo ist hier die
Substanz, die sich verändert? Sobald er zur erkenntnisstheoretisch-präcisen
Fassung seines Einwurfs gezwungen wird, liegt der Irrtum zu Tage. Diese
Instanzen heissen alsdann: Die Erde verändert sich von der Beleuchtung
Tag in die Beleuchtung Nacht; das Instrument geht von dem einen Zustand
des Tönens in einen andern über. Von diesen Veränderungen wird Niemand
mehr behaupten, dass sie nicht auf eine Ursache bezogen seien. Bei dieser
Gelegenheit sei noch die hübsche Kautische Stelle angeführt (W. VII, 412):
„Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag, mit dem, was
er enthält, das Erzeugniss des vorigen ist."
Ein anderer Einwurf Schopenhauer's ist nicht unwichtig und verdient
besprochen zu werden. Er ei'innert dai*an, dass eben das, was wir Zufall
nennen, ein Aufeinanderfolgen von Begebenheiten sei, die nicht in Causal-
verbindung stehen. „Ich trete vor die Hausthür und darauf fallt ein Ziegel
vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen dem Fallen des Ziegels und
meinem Heraustreten keine Causalverbindung, aber dennoch die Succession,
152 Anmerkungen.
dass mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels vorherging, in meiner Ap-
prehension objectiv bestimmt . . . ." (88.) Wie haben wir diesen Fall nach
unserer Auffassung darzustellen? Wir wissen, dass Successiouen für unser
Bewusstsein notwendig, d. h. objectiv werden, indem wir sie als durch eine
Ursache bestimmte Veränderungen einer Substanz ansehen. Nun gibt es aber
auch Successionen, deren einzelne Glieder Veränderungen verschiedener Sub-
stanzen sind. Wenn die Substanz S ihren Zustand A in B wegen der Ur-
sache u, S' ihren Z.ustand A' in B' wegen u' verwandelt, und ich die erste
Veränderung V, die zweite V nenne, so fragt sich, wie sich die Objectivität
der Succession V V zum Causalgesetz verhalte. Zeitfolgen von der Art V V
sind in der That sehr häufig und unser Bewusstsein ihrer Notwendigkeit ist
unerschütterlich. Verdanken wir dieses Bewusstsein derselben Regel, wie in
allen andern Fällen?
Allerdings. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern beruht nur
auf der grossem Complication jener Veränderung. Die Zeitfolge V V kann
nur dadurch objectiv werden, dass ich sie als notwendige Verknüpfung denke.
Sie muss so bestimmt sein, dass V nur auf V in jedem Bewusstsein folgen
kann. Es muss ein U geben, dessen Eintreten bewirkt, dass V auf V folgt.
Für diese Ueberzeugung ist es ganz gleichgültig, ob ich das U wirklich kenne
oder nicht. Ich weiss, dass jedesmal das Eintreten von U die Succession
W bewirkt. Natürlich, wie immer, nur, wenn alle Data der in Betracht
kommenden Zustände A und A' die gleichen sind. Ob aber diese Data sehr
einfach oder unendlich verwickelt sind, ob sie sich wahrscheinlicher Weise
oft oder nur äusserst selten zusammenfügen, ist für die Objectivirung in-
different. Nicht die Wahrnehmung des U, sondern seine Voraus-
setzung macht die Veränderung notwendig.
In der Einen Zeitreihe sind unendlich viele Causalreihen enthalten,
jede eine Seite der Geschichte einer Substanz darstellend. Betrachte ich
nun nicht mehr Eine solche Reihe ABC...., sondern ihr Verhältniss
zu einer zweiten A' B' C . . . ., so prädicire ich das Zeitverhältniss nicht
mehr von den Substanzen S und S', sondern das erkenntnisstheoretisch-wirk-
liche Subject meines Urtheils wird eine neue Substanz 2.', und S und S'
werden (symbolisch) zu ihren Bestimmungen. (Vgl. § 152.) Die Frage nimmt
also die Gestalt an: Wird das Zeitverhältniss zwischen mehreren Verände-
rungen derselben Substanz ebenfalls durch das Causalgesetz bestimmt?
2: muss man sich vorstellen als das Substrat des von den beiden Causalreihen
gebildeten räumlichen Systems. Denn nur unter diesem Bilde kann ich mir
den gleichzeitigen Verlauf zweier Reihen von Begebenheiten vorstellen. Wir
wissen, dass es wohl gestattet ist, verschiedene Substanzen zu einer zusam-
menzusetzen, da ja die Mehrheit der Substanzen überhaupt nur durch Ein-
schränkung der Einen Substanz entsteht. Das U ist die Regel, nach welcher
die Bewegung beider Linien so bestimmt ist, dass auf die Bewegung V der
einen jedesmal eine V der andern folgen muss.
Die Täuschung, als ob dieser Fall eine Ausnahme vom Causalgesetz
wäre, entsteht daraus, dass uns hier das U von vorneherein als ein X, als eine
unbekannte Grösse erscheint. Wir werden nämlich durch diese Betrachtung
unmittelbar vor die unmögliche Aufgabe hingestellt, die Totalität der Er-
Anmerkungen. 153
fahrung zu begreifen. Die Veränderung A B beziehen wir einfach auf die
Ursache u und beruhigen uns dabei. Dass dieses U wieder eine Ursache ge-
habt habe etc., ist selbstverständlich, aber der Regress ist eine weitere, von
der ersten unabhängige Betrachtung. Suchen wir dagegen bei der Verände-
rung VV das U, so beobachten wir zunächst, dass die Ursache u von V
vor der Ursache u von V eingetreten. Schon der erste Schritt, den wir
thun, ist ein Zurückschieben. Wir begründen die Successionen der Wir-
kungen durch die Successionen der Ursachen; es eröffnet sich also unserm
Denken sofort die ins Unbestimmte laufende Kette. Es richtet sich un-
mittelbar auf die beiden Anfänge der Reihen hin. Nun verbindet sich, wie
anderswo ausgeführt worden (Kant's Teleologie, Cap. II, § 12—14), jeder
Versuch, eine Totalität der Erfahrung zu denken, mit dem Bewusstsein der
Zufälligkeit. Indem wir also das aus jener Perspective entspringende Be-
wusstsein der Zufälligkeit falsch interpretiren, entsteht die Täuschung, dass
die Succession V V keiner causalen Bestimmung unterliege. Vor der philo-
sophischen Besinnung verschwindet der Schein; denn da zeigt sich, dass, im
absoluten Sinne, die Reihe, in welcher AB liegt, gerade so zufällig ist, wie
die Doppelreihe von VV. Dass das Schiff unter gegebenen Bedingungen
sich bewegt, ist an sich nicht notwendiger, als dass ein Raumcomplex sich
unter gegebenen Bedingungen so verändert, dass ich zuerst aus der Thür
trete und nachher ein Ziegel fällt.
Noch ein Wort über die modalen Betrachtungen Schopenhauer's. Er
sagt zunächst ganz richtig, dass wir aus der Form der Zeit die Kenntniss
der blossen Möglichkeit der Succession schöpfen. Die Zeit ist in der That
die blosse Möglichkeit des Nacheinanderseins. Ferner erkennen wir die em-
pirisch gegebene Succession als wirkhch. Aber bei Leibe nicht die Suc-
cession der „realen Objecte" (S. v. Grund p. 90), sondern die der Vorstel-
lungen. Erst wenn wir die Folge der Vorstellungen als notwendig erkannt
haben, wird die der realen Objecte wirklich. Dazu will ich noch eine Frage
fügen. Wenn die Notwendigkeit der Vorstellungen das Kriterium der Wirk-
lichkeit der Objecte ist, was bleibt uns denn für eine Berufung für die Not-
wendigkeit der Objecte? Die Antwort ist leicht: Die transscendentale De-
duction, die Beziehung auf die Möglichkeit der Erfahrung.
122) Man lasse sich durch den Ausdruck Zustand nicht zu dem Irrtum
verleiten, Kant habe die Ursache in den Zustand A hineingelegt. Unter
Zustand versteht er in diesen Fällen ganz allgemein den Zustand des Ge-
schehens überhaupt in dem durch A bezeichneten Zeitmoment. Man beachte
die Stellen: „in welcher das Gegenwärtige, sofern es geworden, auf irgend
einen vorhergehenden Zustand Anweisung gibt, als ein, obzwar noch un-
bestimmtes Correlatum dieser Ereigniss." Kr. 180. — „das, was im
vorigen Zustand enthalten war." Kr. 181. — „indem, was vorhergeht." ebd.
— „etwas notwendig vorausgehn — das Andre notwendig folgen." Kr. 182.
123) Kr. 185 und 207. — W. V, 318.
124) Kr. 66 und 76.
125) Kr. 228.
126) W. V, 407.
127) Die mechanischen Handbücher pflegen sich nicht stark um die
154 Anmerkungen.
logischen Eigenschaften dieses Princips zu kümmern. Z. B. das „Handbuch d.
theoret. Physik" v. Thomson und Tait (übers, v. Ilclmholtz) weiss über die
Trägheit: ..Der Materie wohnt das Bestreben (!) inne, äussern Einflüssen zu
widerstehen; deshalb bleibt jeder Körper, so lange er es vermag, in Ruhe,
oder er bewegt sich gleichförmig in gerader Richtung.
Dieses Streben, die Trägheit der Materie ist der im Körper enthaltenen
Stoffmenge proportional. Es ist also irgend eine Ursache erforderlich, um
die Gleichförmigkeit der Bewegung eines Körpers zu stören, oder um den-
selben von seiner natürlichen geradlinigen Bahn abzulenken." I, 183.
Bei dieser Gelegenheit sei an den Ausspruch Kaut's erinnert, dass die
Benennung der ..Trägheitskraft" aus der Naturwissenschaft gänzlich weg-
geschafft werden müsse, „vornämlich weil dadurch die irrige Vorstellung
Derer, die der mechanischen Gesetze nicht recht kundig sind, erhalten und
bestärkt wird, nach welcher die Gegenwirkung der Körper, von der unter
dem Namen der Trägheitskraft die Rede ist, darin bestehe, dass die Be-
wegung dadurch in der Welt aufgezehrt, vermindert oder vertilgt,
nicht aber die blosse Mittheilung dadurch bewirkt werde." (W. V, 416.)
Befriedigender lässt sich Sturm, cours de mecanique. p. HO über die
Trägheit aus: „II est evident, que si un point materiel est en repos, il ne
peut se mettre en mouvement de lui-meme et sans une cause exte ri eure,
car il n'y a pas de raison pour que ce point se meuve de lui-meme dans
un certain sens plutot que dans un autre." Hier ist wenigstens der Gegensatz
der äussern und innern Ursache und die Beziehung zum allgemeinen Causal-
gesetz angedeutet. Dagegen fehlt die Unterscheidung des logischen und des
empirischen Bestandtheils und die Bemerkung, warum wir nicht einfach
eine innere Ursache annehmen können.
\2S) So bin ich der Ansicht, dass die „Grenzen des Naturerkennens"
von Du Bois-Reymoud, auch nachdem Lange sie vertheidigt hat, nicht vor
dem Vorwurf der petitio principii geschützt sind. Du Bois hat die Uner-
kennbarkeit der geistigen Vorgänge, anstatt sie zu beweisen, vorausgesetzt.
Lange sagt (a. a. 0. H, 156): Wenn zwei Welten sich nur darin unter-
scheiden, ..dass in der einen der ganze Mechanismus ahliefe, wie die Mechanik
eines Automaten, ohne dass irgend etwas dabei empfunden oder gedacht
würde, während die andre unsre Welt ist; dann würde die Weltformel
für diese beiden Welten durchaus dieselbe sein." Dass dies so
sein muss, dafür linde ich nirgends einen Grund angegeben; ich bin also
vorläufig berechtigt, auch das Gegentheil zu glauben. Aber ich kann sogar
positiv beweisen, dass beide Welten von der erkenntnisstheoretischen Reflexion
unterschieden werden müssen. Der von Laplace gedachte Geist könnte, im
Besitze seiner W\'ltformel, z. B. jeden Zeitpunkt genau angeben, in welchem er
einschlafen, und jeden , 'in welchem er erwachen wird. Für diesen Ueber-
gang seines Ichs aus dem bewussten Zustand in den des Schlafens muss
er, wie für alle Veränderungen, eine Ursache angeben; das Uebei-treten der
Substanz aus der einen in die andre Welt muss causal bestimmt werden.
Angenommen, er berechne für zwei verschiedene Zeitpunkte die Verände-
rungen seines Körpers, welche beidemal absolut gleich sein sollen, nur dass
das eine Mal auch das Eintreten des Bewusstseins stattfindet, das andre Mal
Anmerkungen. 155
nicht, dann niuss im ersten Fall eine Ursache mehr vorhand'^n sein, als im
^.weiten, d. h. die Weltformel ist jedesmal verschieden. Da wir aber unter
Krkemien wissenschaftlicher Weise nichts Anderes verstehen können, als
die Subsumtion unter das Causalgesetz , so folgt schon aus dessen AUge-
meingiiltigkeit die (theoretische) Erkennbarkeit der geistigen Vorgänge.
129) Kr. 22'!. _ w. V, 408.
130) Kr. 273 ff. und erste Auflage p. 5S5 ff.
131) Kr. 184.
132) Dagegen können wir die Unvergänglichkeit nicht (wie bei der Sub-
stanz) auch von ihrem Quantum a priori behaupten. Das physikalische
l'rincip von der P]rhaltung der Energie ist ein iuductiver Satz. Wir haben
hier nicht bewiesen, dass kein Zuwachs, sondern nur, dass keine erste Be-
wegung entstehen kann.
Man hat sich in neuerer Zeit darüber gewundert, dass Kant zwar die
Erhaltung der Materie bewiesen, aber die so wichtig gewordene Erhaltung
der Kraft vernachlässigt habe. Dieser Verzicht ist aber vielmehr ein Beweis
seiner bewundernswerten kritischen Sicherheit. Das Princip der Erhaltung
der Kraft hat er im Jahre 1763 metaphysisch abgeleitet; denn es liegt in
dem Satze: ,.In allen natürlichen Veränderungen der "Welt wird die Summe
des Positiven, insofern sie dadurch geschätzt wird, dass einstimmige (nicht
entgegengesetzte) Positionen addirt und real entgegengesetzte von einander
abgezogen werden, weder vermehrt noch vermindert."' (Vers. d. Begr. d.
neg. Grössen etc. W. I, 148.) Dieses grossartige Princip konnte vor der
„Berichtigung des Begriffs der Veränderung", welche Substanz und Accidens
scharf auseinanderhält, nicht bestehen, und findet sich folgerichtig auch
nicht in der Kritik, obwohl Kant noch in der citirten Schrift von den vor-
zutragenden Sätzen gesagt hatte, dass sie ihm „von der äussersten Wichtig-
keit zu sein" scheinen (ebd. I, 14G).
133) Kr. 370—373.
134) Vgl. Kaut's Teleologie Cap.III und die dort augeführten Stellen. —
Meine Definition ist präciser als die, welche Kant (W. I, p. 448) gibt. Dort
heisst es: „Die Ki'aft ist nicht das, was den Grund der Existenz der Acci-
denzen enthält (denn den enthält die Substanz): sondern ist der Begriff von
dem blossen Verhältnisse der Substanz zu den letztern, soferne sie den
Grund derselben enthält, . . . ." Diese Bestimmung enthält einen doppelten
Mangel. Einmal geht die Kraft überhaupt nicht auf den Grund der Acci-
denzen, sondern auf den Grund ihrer Succession. Dann geht sie auch nicht
auf die Accidenzen der Substanz, welche die Kraft hat, sondern derjenigen,
auf welche sie wirkt.
Lange nennt Kräfte „diejenigen Eigenschaften des Dings, welche wir
durch bestimmte Wirkungen auf andere Dinge erkannt haben" (a. a. 0. II,
217), wo der Begriff' der Eigenschaft in einem weitem Sinne gefasst ist.
135) Die ersten Worte stehen Kr. 185, die letzten p. 70.
136) Ich weiche auch hierin von Kant ab, welcher sagt, dass „auch die
Grösse der Realität durch alle kleinern Grade, die zwischen den ersten und
letzten enthalten sind, erzeugt wird." Nachher wiederholt er: Es „erwächst
der neue Zustand der Realität von dem ersten an, darin diese nicht war.
156 Anmerkungen.
durch alle unendliche Grade derselben . . ." (Kr. lS(i,) Da Kant die Stetig-
keit des Grades als Krfahrungsbedingung nicht nachgewiesen hat, so kann
ihm auch die continuirliche Veränderung des Grades nicht zugestanden wer-
den. — Dagegen hat Kant die lex continui mechanica unabhängig von der
metaphysischen Stetigkeit aus dem Trägheitsgesetze abgeleitet. Vgl. „Allge-
meine Anmerkung zur Mechanik" W. V, 4 17, namentlich auch denSchluss. p.420.
137) Kr. 182.
ISS) Kr. 160 und 186.
139) W. III. 75.
14tt) Vgl. dartiber Kant's Teleologie Cap. I, § l(i, wo die wichtigsten
Stellen angeführt sind.
141) Die Abhandlung befindet sich im Bandl seiner sämmtlichen Werke.
142) Ueber e. Entdeckg. etc. W. I, 409 und 410 und ebd. 478 und 479.
143) Ueber die vierf. Wurzel etc. p. SO.
144) Ebd. — Ferner: „Ueber das Sehen und die Farben." Cap. 1.
Band I der Werke.
145) Vgl. Wundt a. a. 0. p. 708 und 709. — Mit Recht hat Lange (a.
a. 0. II, 426) auf Grund der Thatsache, dass die Wahrnehmungen so zu
Stande kommen, als ob sie durch Schlüsse gebildet wären, den wichtigen
Satz aufgestellt:
„Gibt es im rein sinnlichen Gebiet, wo für alle Erscheinungen orga-
nische Bedingungen anzunehmen sind, Vorgänge, welche mit den Verstandes-
schlüssen wesensverwandt sind, so wird es dadurch bedeutend wahrschein-
licher, dass auch die letztern auf einem physischen Mechanismus beruhen."
146) „Ueber das Sehen des Menschen" 1855. Vgl. Vorrede v. Fraueu-
städt zu Schopenhauer „Ueber das Sehen und die Farben." Werke, Band I.
147) Fick, „Die Welt als Vorstellung." Würzburg 1870. Ich würde
nicht, wie Cohen (a. a. 0. p. 222), diese Bemerkung durch den Hinweis be-
richtigen, dass es ja das Kriterium der Causalität sei, „den Begriff des Gegen-
standes nicht bloss deutlich, sondern erst möglich zu machen." Gegen die
Physiologie gesagt, bekommt dieser Satz einen, von der Kantischen Aufgabe
abliegenden Sinn. Das Object, das die Causalität möglich macht, heisst in
der reinen Erkenntnisstheorie „objective Succession", in der Physiologie
„äusseres Ding".
148) Schopenhauer zeiht Kant des handgreiflichsten Widerspruchs (Werke
11, 560). Nachdem er das Zngleichsein zuerst fälschhch als einen Modus
der Zeit aufgestellt habe (Kr. 166), sage er später „ganz richtig: „..Das
Zugleichsein ist nicht ein Modus der Zeit, als in welcher gar keine Theile
zugleich sind, sondern alle nacheinander."" Diese Stelle findet sich in der
Hartensteinschen Ausgabe p. 70 und würde allerdings einen Widerspruch
mit dem Frühern enthalten, wenn Schopenhauer — richtig citirt hätte. Die
erste Stelle sagt, dass man drei verschiedene Zeitverhältnisse oder Modi
unterscheiden müsse; die zweite Stelle dagegen erklärt, es sei „das Zugleich-
sein nicht ein Modus der.Zeit seihst, als in welcher etc." Indem öch. das
„selbst" weglässt, legt er den Widerspruch hinein. Das Zngleichsein ist zwar
ein Modus der Zeit, aber es lässt sich nicht aus der Zeit selbst begreifen,
es muss noch etwas hinzukommen, um es möglich zu machen.
Anmerkungen. 157
149) Der Lehrsatz selbst darf nichts Entbehrliches enthalten; die Ex-
plication der Begriffe hat der Beweis zu geben. Das „Zugleich" und das
Dasein „im Räume" liegt schon im BegriÖ' der Substanz. Dies zur Moti-
virung meiner Abweichung von der Kantischen Fassung der Formel.
150) Es ist interessant, dass schon in der ersten Dissertation diese beiden
metaphysischen Principien „principium successionis'' und ,.priucipium coexi-
stentiae"' genannt werden.
151) Kr. ISS.
152) Kr. 1S9.
153) Kr. 190. — Man vergleiche hier die vorkritische Darstellung: ..Quo-
niam locus, situs, spatium, sunt relationes substantiarum, quibus alias a se
realiter distinctas determinationibus mutuis respiciunt etc.'' (W. I, 41.)
154) Kr. 104.
155) Vgl. dazu die Darstellung Cohen's (a. a. 0. 22S — 232), welcher hier
nur einige Bemerkungen hinzuzufügen sind.
156) Kant's Logik (W. III, 22S). Der Gedanke des Ganzen wirkt im
disjunctiven Urtheil nicht „dunkel", wie Cohen p. 129 sagt, sondern man
muss sich des Ganzen so deutlich bewusst sein, dass man weiss, es lasse
sich ausser seiner Sphäre in gewisser Beziehung nichts denken.
157) Kr. 96. — Vgl. Kr. 104.
158) Kr. 104.
159) W. IIL 74.
160) Kr. 190.
161) Welt als Wille und Vorstellung. — Werke II, 544. — Dasselbe
gilt auch gegen Trendelenburg, der im disjunctiven Urtheil „nur das Bild einer
feindlichen Wechselwirkung, nicht das befreundete, wechselseitige Ueber-
greifen der Theile erblickt." Log. Untersuchgn. 3. Aufl. I, 369 imd 370.
162) A. a. 0. 11, 545. Alle weiterhin angeführten Stellen stehen auf den
folgenden drei Seiten. II, 546— 54S.
163) Kr. 1S9.
164) W. V, 409. — Schopenhauer dagegen meint, dass Kant hier un-
bedachtsamer Weise geradezu ausgesprochen habe, dass die Wechselwirkung
nur ein überflüssiges Synonym der Causalität sei (a. a. 0. II, 54S). „Wie
sollen denn für einfache Causalität und für Wechselwirkung verschiedene
Functionen a priori im Verstände liegen, ja, sogar die reale Succession der
Dinge nur mittelst der erstem und das Zugleichsein nur mittelst der letz-
tern möglich und erkennbar sein ? Danach wäre, wenn alle Wirkung Wechsel-
wirkung ist, auch Succession und Simultaneität das Selbe, mithin alles in
der Welt zugleich." Diese absurden Consequenzen, welche Schopenhauer
dem Kantischen Satze zumutet, charakterisiren hinlänglich die Tiefe, bis zu
welcher er in das Genie seines Meisters eingedrungen ist.
165) Kr. W. V, 413. Zusatz 1.
166) Kr. 20S.
167) „Ueb. d. Fortschr. der Metaph. etc." W. I, 519.
16S) Kr. 20S. — W. I, 519. — Vgl. dazu W. I, 570: „Raum und Zeit
enthalten Verhältnisse des Bedingten zu seinen Bedingungen, z. B. die be-
158 Anmerkungen.
stimmte Grösse eines Eaumes ist nur bedingt möglich, nämlich dadurch, dass
ihn ein anderer Raum einschliesst."
lt)9) Kr. 192. Anm. — W. I, 519, Vgl. dagegen die vorkritische An-
sicht in der nova dilucidatio (W. I, 42): „Hacque ratione plures esse posse
muudos etiam senso metaphysico, si Deo ita volupe l'uerit, haud absoimra est."'
170) Kr. 191.
171) W. III, 82.
172) Zu diesem Gedankengang vergleiche Kant's Teleologie, speciell
Abschn. II ..Das Princip der formalen Zweckmässigkeit-', wo ich den Zu-
sammenhang dieser Hypothese mit der Kritik der reinen Vern. ausführlich
nachgewiesen habe.
173) Kant hat beide Functionen als Schlüsse der Urtheilskraft in seine
Logik aufgenommen. W. III, 319. - Ueber die Bedeutung der Urtheilskraft
vgl. Kant's Teleologie 11, § 4 und § 7. Ueber die Induction ebd. III, § 2.
174) Kr. 488.
175) Wie denn auch Kant in der Definition sagt: ..Dessen Zusammen-
hang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfah-
rung bestimmt ist, ist (existirt) notwendig." (Kr. 193.) Dagegen könnte
man aus der „Erläuterung" p. 200 den Schluss ziehen, Kaut habe das Postulat
der Notwendigkeit nur auf das Dasein der Wirkungen bezogen wissen wollen.
..Da ist nun kein Dasein, was unter der Bedingung anderer gegebener Er-
scheinungen als notwendig erkannt werden könnte, als das Dasein der Wir-
kungen aus gegebenen Ursachen nach Gesetzen der Causalität etc." Ich
glaube es heisst im Sinne Kant's denken , wenn mau diese Stellen dahin er-
klärt, dass zur Charakteristik der Notwendigkeit eben der wichtigste Grund-
satz gewählt worden sei, aber ohne die Absicht, sie auf diesen zu beschränken.
176) Kr. im.
177) Kr. 193.
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