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PAUL WENDLAND
DIE HELLENISTISCH-
RÖMISCHE KULTUR
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in 2010 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/diehellenistiscOOwend
DIE
HELLENISTISCII-RÖMISCnE KULTUR
IN IHHKN BKZIEIIUNGKN ZU
JUDENTUM UND CHRISTENTUM
VON
Dr. PAUL WENDLAND
O. PKOFESSOK IN BKESLAU
Mit 5 Abbildungen im Text und 12 Tafeln
(HAlfDBÜCH ZUM NEUEN TESTAMENT I, 2)
^/^
^
TÜBINGEN
VERLAG VON J. C. B. M OHR (PAUL SIEBECK)
1907
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
DRUCK VÜX II. LAUPP JK IX TÜBINGEN
INHALTSÜBERSICHT
Seite
Allgemeine Literaturnachweise 1
I D i e w e 1 1 g e s c li i c h t li c h e B e d e u t u n g- d e s H 6 11 e n i s m u s . . 2
II P o 1 i s u n d M o n a r c h i e (j
1 Die Gegensätze der Verfassung 0
2 Die neuen Mittelpunkte der Kidtur 10
3 Neue Stellung der Literatur und Wissenschaft 10
III Kosniopolitismus und Ind i vidualismus 13
1 Kosmopolitische Stimmung der neuen Zeit 13
2 Die Stoa IG
3 Individualismus 19
4 Realismus 22
IV G e s c h i c h t e d e r B i 1 d u n g s i d e a 1 e 24
1 Die hellenistische Entwickelung 24
2 Rhetorik und Philosophie im Kampfe um Rom 27
3 Römische Vorherrschaft 29
4 Zweite Soplüstik 32
5 Schulwesen 38
V Die philosophische Propaganda und die Diatribe .... 39
1 Geschichte der Diatribe 39
2 Bedeutung der philosophischen Propaganda 43
3 Das Verhältnis der pldlosophisch-ethischen Propaganda zum Chri-
stentum . 50
VI Hellenistische Religionsgeschichte 54
1 Aeltere Entwickelung 55
2 Uebersicht über die hellenistische Zeit 59
3 Die Philosophie Öl
4 Rationalistisch-pragmatische Mythenbehandlung G7
5 Menschenvergötterung und Herrscherkult 73
Beilage (Inschrift von Rosette) 75
6 Fremde Götter. Synkretismus. Astrologie und Magie .... 77
VII Die religiöse Entwickelung unter der Römerherrschaft . 82
1 Hellenisierung der römischen Religion 82
2 Die Stimmung der augustischen Zeit 87
3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit 92
Beilagen (Kaiserinschriften) 100
Vni Hellenismus und Judentum 103
1 Palästinensisches Judentum 103
2 Hellenistisches Judentum lOG
IX Hellenismus und Christentum 120
1 Urchristentum und religiöser Synkretismus 121
2 Urchristliche Motive im Gegensatz und in der Annäherung an den
Hellenismus 127
IV Inhaltsübersicht
Seite
3 Pauhis 138
4 Staat, Gesellschaft und Kirche 143
5 Christliche Apologetik 150
X S ynkretismn s und G nostizismns 161
Bi Id e ra n ha n "• von Hans Lietzmann 180
DIE HELLENISTISCH-RÖMISCHE KULTUR
JGDroysen, Geschichte des Hellenismus-, 3 Bde, Gotha 1877 hat zuerst
das Verständnis des hellenistischen Zeitalters eröffnet. — BNiese, Geschichte der
griechischen und makedonischen Staaten seit der Schlacht bei Chaeronea, 3 Bde,
Gotha 1893. 1899. 1903. — JBeloch, Griechische Gescliichte EU 1. 2 Strassburg 1904
gibt die beste Einführung. — JKaerst, Geschichte des hellenistischen Zeitalters I
Leipzig 1901 behandelt bis jetzt nur die Grundlegung des Hellenismus in Philipps
und Alexanders Zeit mit besonderem Eingehen auf die vorbereitenden Gedanken
der Aufklärung des sophistischen Zeitalters und der philosophischen Spekulation.
— Auf dem Grunde einer tief eindringenden Charakteristik der gesamten Kultur
zeichnet UvWilamowitz die Geschichte der griechischen literatur in der Kultur
der Gegenwart I 8 S. 1—236, Berlin und Leipzig 1905. — FSusemihl, Geschichte
der griechischen Literatur in der Alexandrinerzeit, 2 Bde, Leipzig 1891. 1892 (Nach-
sclilagewerk). — Weite kulturgeschichtliche Gesichtspunkte eröffnet ERohdes Grie-
chischer Roman-, Leipzig 1900. — Von EZeller, Die Pliilosophie der Griechen,
kommen Bd. HI l'-> und IH 2 \ Leipzig 1880 und 1903 in Betracht. — JPMahaffy,
The süver age of the Greek world, Chicago 1906. — Für die römische EntAsdcke-
lung ist ThMoioisexs Römische Geschichte und daneben sein römisches Staatsrecht
vor allem zu befi'agen. Die kulturgeschichtlichen Kapitel der Römischen Geschichte
sind immer noch in der Art, wie sie alle Aeusserungen des römischen Lebens in
ihrer Einheit begreifen, unübertrotfen. Bd. V, der die Geschichte der Provinzen
in der Kaiserzeit behandelt, ist für- den Theologen der wichtigste. — LFriedläkder,
Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum
Ausgang der Antonine", 3 Bde, Leipzig 1888—1890. — FLeo, Die römische Lite-
ratur des Altertums, in dem schon erwähnten Bande der Kultur der Gegenwart
S. 313—373. — ESCHWARTZ, Charakterköpfe aus der antiken Literatur-, Leipzig
1906 (s. besonders IV Polybios und Poseidonios, V Cicero). — Pöhlmaxxs und
Nieses Abriss der griechischen und der römischen Geschichte in IvMüllers Hand-
buch der klassischen Altertumswissenschaft HI 4. 5. — Gerade noch hinweisen kann
ich auf das bedeutende und gedankenreiche Werk von LHaitk, Rom und Romanis-
mus im griechisch-römischen Osten. Mit besonderer Berücksichtigung der Sprache.
Bis auf die Zeit Hadrians, Leipzig 1906. Es gibt eine ausgezeichnete Ergänzung
meiner Darstellung, besonders auf politischem Gebiete. Verwerten konnte ich es
nur für Kap. Vni. IX. Den Theologen kann diese genussreiche Lektüre nur drin-
gend empfohlen werden. — UvWiLA>i03yi.TZ , Griechisches Lesebuch, je 2 Halb-
bände Text und Erläuterungen, Berlin 1902 ist mit seinen Textproben und den
ihnen vorausgehenden Einleitungen am besten geeignet, den Anfänger in die hel-
lenistische Literatur einzuführen und ihm eine lebensvolle Anschauung zu vermit-
teln. — Am Ende von Teil III wird ein gemeinsames Register für Teil II und IH
beigegeben werden.
Lietzmann, Handbuch z. Neuen Test. 1,2.
I Die weltgeschichtliche Bedeutung des Hellenismus
DIE WELTGESCHICHTLICHE BEDEUTUNG DES HELLENISMUS
Die Zeit liegt noch nicht hinge zurück, da das Zeitalter des Hellenis-
mus, d. h. die Geschichte des Weltreiches Alexanders, der aus ihm hervor-
gegangenen hellenistischen Reiche, ihres Aufgehens ins römische Weltreich
bis zur Einverleibung Aegyptens (30), dem Bewusstsein der Gebildeten fast
ebenso entschwunden war wie die jüdische Geschichte und Literatur zwischen
Esra und Jesus. Wenige Ausnahmen abgerechnet — die Geschichte der Phi-
losophie dieser Zeit ist am weitesten gefördert, weil man sie stets im ge-
schichtlichen Zusammenhange behandelt hat — , beruhte auch das Interesse
der Pliilologen an der hellenistischen Literatur nicht auf einer unbefangenen
geschichlichen Schätzung ihres eigenen Wertes, sondern auf der Bedeutung,
welche die gelehrte Forschung dieser Zeit für Tradition, Textgestaltung,
Erklärung der klassischen Literatur besitzt. Diese klassizistischen Vorurteile,
die ein Verständnis des Hellenismus auch der modernen Forschung lange
Zeit unmöglich gemacht haben, gehen in letzter Linie zurück auf die atti-
zistische Reaktion , die zu Augustus' Zeit siegreich durchgedrungen ist
(s. Teil I). Sie bedeutete zunächst ein Zurückschraidien der natürlichen
geschichtlichen Entwickelung auf sprachlichem und literarischem Gebiete um
3 — 4 Jahrhunderte; sie eroberte sich aber bald weitere Gebiete als die der
Sprache und des Stiles. Sie ist nur der Vorläufer einer allgemeineren
reaktionär romantischen Strömung, die, ein deutliches Zeichen des Epigonen-
tums, in der griechisch-römischen Kiiltur des II Jahrhunderts n. Chr. be-
sonders erstarkend, die Wiederbelebung des Altertums nicht nur in Sprache
und Literatur, sondern auch in Religion und Kunst, öffentlichen Einrichtungen
und Formen des Lebens erstrebt. Unfähig, die Aufgaben der Gegenwart
tatkräftig zu erfassen, orientiert sie sich an den Idealen, die sie in einer
fernen Vergangenheit sucht. Diese rückläufige Bewegung stigmatisiert den
Hellenismus als eine im Grunde unerlaubte Episode der Geschichte ; es ist,
als wenn die geschichtliche Bewegung in den Jahrhunderten des Hellenismus
stille gestanden hätte. So wurde die hellenistische Literatur durch den Sieg
des Attizismus dem Untergange geweiht ; nur einem Teile der Poesie ist es
besser ergangen, weil sie sich nicht in der Sprache des Lebens, sondern in
den konventionellen Formen der historisch gewordenen Gattung bewegte,
und weil zur Zeit des Attizismus die hellenistischen Dichter bereits für die
Römer von Catull bis Ovid Stilmuster geworden waren, die nicht mehr ent-
behrt und verdrängt werden konnten. Aus den versprengten Trümmern
und zerstreuten Resten der hellenistischen Literatur, durch Rückschlüsse aus
römischen Nachahmungen und späteren Umarbeitungen auf die Originale ein
lebensvolles Gesamtbild der Kterarischen und geistigen Entwickelung zu ge-
"winnen, ist eine der sch^^derigsten Aufgaben der Wissenschaft. Es ist be-
greiflich, dass es des Fortschrittes der Methoden im Zeitalter der liistorischen
Wissenschaft und auch des starken Anstosses durch neue Funde bedurft hat,
um auch nur die Aufgaben richtig zu stellen.
So stammt der Begiiff der klassischen Literatur und des klassischen
Altertums aus der Spätantike. Damals hat man nach subjektivem Geschmack
aus der Literatur einen Ausschnitt gewählt, dem man aus formal ästhetischen
Gründen eine kanonische und normative Bedeutung zuschrieb, wie die Kirche
der Bibel aus religiösen Gründen. Die klassische Literatur allein erschien,
wie als passende Lektüre zur formalen Bildung der Jugend, so als einzig
Genesis und Vüriirteile des Klassizismus
würdiges Muster der stilistischen Naclialiniung und Objekt der Forschung.
Die beschränkte Auswahl, die vorwiegend stilistische Schätzung, der ent-
fernte Stand|)unkt des Betrachters erleichterten es, in der Antike die Einheit
und das Ideal zu sehen. Diese idealisierende und nivellierende Betrachtung
hat auf die Renaissance und auf den modernen Klassizismus stark eingewirkt,
so mannigfach das Ideal abgewandelt war, das man im Altertum ausgeprägt
fand, und so wenig man sich vielfach dieses im Grunde schon durch die
kanonische Auslese der Literatur gegebenen Einflusses bewusst war. Winkel-
manns Offenbarung der absoluten Griechenschönheit, sein Begriff der stillen
Einfalt und edlen Grösse der griechischen Kunst wurden der Gesichtsi)unkt,
unter dem der Klassizismus auch die griechische Literatur und das Griechen-
tum überhaupt als Menschheitsideal zu verstehen strebte. Sie haben stärker
gewirkt als die bedeutenden Ansätze zu einer Erkenntnis der geschichtlichen
Entwickelung.
J. G. Droysen ist seiner Zeit weit vorangeeilt, indem er in seiner Ge-
schichte des Hellenismus (1. Aufl. 1836 und 1843) die Entwickelung und die
treibenden Kräfte, die Bedeutung des Hellenismus für die Kontinuität der
geschichtlichen Entwickelung und für die Kultur der Menschheit wirkungs-
voll dargelegt hat. Die Arbeit des Spatens, die Ausgrabung hellenistischer
Städte (Pergamon, Magnesia, Priene), die Fülle neu entdeckter Inschriften
und Papyri hat die Forschung mächtig gefördert und ihr gebieterisch neue
Aufgaben und Ziele gestellt, die durch den Widerspruch ästhetisierender
Feinschmecker, denen die grossen geschichtlichen Probleme fern Liegen, nicht
aus der Welt geschafft werden können. Die gründliche Erforschung des
Urchristentums weist fort und fort auf die Notwendigkeit hin, wie das
spätere Judentum, so überhaupt die Geschichte der Kultur in ihren Wurzeln
zu erforschen, welche die Welt zur Zeit der Ausbreitung des Christentums
beherrschte.
Kein moderner Philologe leugnet, dass die Kultur des V und IV Jahr-
hunderts nach dem Reichtum originaler mid wahrhaft schöpferischer Ge-
danken, nach der Grösse ihrer geistigen Heroen einzig dasteht, dass
sie in der typischen Ausprägung der Weltanschauimgen und Lebens-
auffassungen, in der Ausbildung der künstlerischen Formen das Grösste ge-
schaffen hat, dass antiker und moderner Klassizismus sich ein Verdienst er-
worben haben, indem sie das wertvollste Erbe des Altertums bewahrten und
die Menschlieit seinen ewigen Gehalt schätzen lehrten. Aber durch diese
Schätzung darf der Hellenismus nicht um seine Rechte verkürzt werden. Er
hat eine neue Kultur hervorgebracht, deren Formen und Anschauungen zum
Teil bis in die Gegenwart herrschen oder nachwirken. Er hat neue Literatur-
gattungen geschaffen und alte auf die Höhe ihrer Entwickehmg geführt. Er
hat die Fachwissenschaften zur höchsten Blüte gebracht. Und auch wer die
selbständige Bedeutung des Hellenismus, die Schaffung neuer geistiger Werte,
die ilim verdankt wird, verkennen wollte, der müsste ihm doch das Verdienst
zuschreiben, dass das Griechentum neben dem Christentum die Grundlage
unserer Kultur geworden ist. Es ist eine geschichtliche Erfahrimg, die auch
an der Rebgion Jesu sich bewährt, dass neue geistige Schöpfungen nicht in
ihren originalen Formen, in der ursprünglichen Fassung und Verbindung der
Ideen sich weitere Kreise erobern. Sie müssen erst, so zu sagen, auf ein
niederes Niveau geführt, in starrere und leichter fassHche Formen ausge-
prägt werden, um allgemeinere Anerkennung und Geltung zu finden. So hat
der Hellenismus den Ertrag der älteren griechischen, vor aUem attischen
Geistesarbeit und Kulturentwickelung in die Formen gegossen, die ein Ge-
meinbesitz der Kidturvölker geworden sind. Und in gewissem Sinne erreicht
1*
4 I Die weltgeschichtliche Bedeutung des Hellenismus
die griechische Geschichte ihre Höhe in der Periode, wo das Griechentum
seine grosse Bestimmung der geistigen Eroberung und Erziehung der Völker
erreicht.
Der Hellenismus hat, um nur seine grössten Wirkungen zu erwähnen,
erstens an den Römern eine grosse Erziehungsaufgabe erfüllt. Die römische
Kulturentwickelung, namentlich seit dem zweiten punischen Kriege, erscheint
als ein fortschreitender Hellenisierungsprozess, der Religion und Sitte, Sprache
und Literatur, schliesslich auch zum grossen Teil die originalste römische
Schöpfung, das Recht, durchdringt und eine Kultur erzeugt, die man einem
Palimpseste mit unterer römischer und oberer griechischer Schrift vergleichen
könnte. Mag für den antiquarischen Forscher dieser Prozess, der das Ver-
ständnis des echten Römertums so sehr erschwert hat, einen beklagenswerten
Verlust bedeuten, für die Geschichte der Menschheit ist er ein unendlicher
Gewinn und Segen gewesen. Denn er hat dem römischen Volke erst die
Kraft gegeben, Träger einer grossen Kulturmission unter den Völkern des
westlichen Mittelmeers zu werden. Der Hellenismus hat den Römern die
vorbildlichen griechischen Literaturformen vermittelt, hat die römische
Sprache geschmeidig gemacht und noch in der Kaiserzeit einen neuen Stil
gezeitigt, dessen originalste Ausgestaltung wir in Tacitus bewundern; das
feine Gefühl der romanischen Nationen für Wohlklang und Gesetzmässigkeit
der Sprache ist hellenistisch-römisches Erbteil. Der Hellenismus hat den
Römern und damit allen Völkern einen wesentlichen Beitrag zur grammati-
schen, logischen, rhetorischen Terminologie beigesteuert. Die mittlere Stoa
hat den gebildeten Römern ihre höchsten sittlichen Ideale zum Bewusstsein
gebracht und wirkungsvoll gepredigt, hat den Anstoss zur Vergeistigung und
Verinnerlichung der Religion gegeben. Begriff und Formen des hellenistischen
Königtums haben allmählich den römischen Prinzi})at zur absoluten Monarchie
umgestalten geholfen und in staatlicher und kirchlicher Organisation bis auf
die Gegenwart nachgewirkt. Wenn Ihering die Ueberwindung des Natio-
nalitätsprinzips durch den Gedanken der Universalität als die welthistorische
Aufgabe Roms bezeichnet, die zuerst durch Verbindung der Völker zur
Einheit des Staates, dann durch die Einheit der Kirche, endlich durch die
Rezeption des römischen Rechtes erfüllt sei, so ist nicht zu vergessen,
welchen Anteil der Hellenismus an der Bewältigung dieser Aufgabe hat.
Weiter, wir haben gelernt, die alte Kirche, wie sie in Glauben und
Lehre, Sitten und Kultformen, Literatur und Kunst geworden ist, als das
Produkt eines Kompromisses zwischen Urchristentum und griechisch-römi-
scher Kultur zu begreifen. Aber das Griechentum, mit dem die Kirche vor
allem sich auseinanderzusetzen hatte, von dem sie kämpfend so viel gelernt
und übernommen hat, ist das hellenistische. Dämonenglauben, Jenseitshoif-
nungen, Volksglauben, Aberglauben und Kultformen des Hellenismus haben
einen starken Einfluss ausgeübt. Die xotv/j ist das Organ der christlichen
Propaganda imd der ältesten christlichen Schriften gewesen. Die Kirche
fand das Bewusstsein der Gebildeten von stoischer Religiosität und Moral
beherrscht vor. Sie fand den stoischen Pantheismus vor, an den die Areo-
pagrede anknüi)ft, und die Ausdeutung der Volksgötter als Teilkräfte der einen
Gottheit, und sie hatte einen starken Anhalt an der monotheistischen Tendenz
und an der Zersetzung des Polytheismus, die beide von der Philosoi)hie
mächtig gefördert waren. Sie setzte die Polemik der Philosophie gegen den
Polytheismus fort, und sie entlehnte von der vStoa die allegorische Aus-
legimgsmethode, mit der sie das Anstössige und Paradoxe ihrer heiligen
Schriften dem Geschmacke der Zeit anziehend machen konnte. Sie sah auch
Plato wesentlich durch das Medium des späteren Piatonismus und des Neu-
Einfluss des Hellenisimis auf HiHnertinn und Kirche 5
platonismus, d. h. sie verstand ihn im Sinne einer mystischen, einseitig auf
das letzte Ziel einer Erkenntnis, die jenseits aller verstandesmässi^'er Tätig-
keit liegt, gerichteten Frömmigkeit. Sie ist von der asketischen Moral der
Stoa und des Neuplatonismus beeinflusst worden. Sie hat die Theodieee
der Stoa und des Neuplatonismus übernommen, und der Neuplatonismus hat
sehr we«entlicli zur Ausgestaltung ihrer himmlischen Hierarchie heigetragen.
Sie hat eine Reihe hellenistischer Literaturi'ormen sich angeeignet luul lebendig
erhalten.
Auf dem Prozesse der Hellenisierung des römischen Volkes und der
Kirche beruht die Kontinuität der Kultur, welche die antike und die moderne
Welt verbindet. Durch die grosse Mittlerrolle, die Römertum und Kirche
gespielt haben, ist gewiss auch viel von den geistigen Errungenschaften der
klassischen Zeit in das moderne Bewusstsein übergegangen, aber es ist zu-
nächst übei'geleitet worden in der eigentümlichen An])assung und Umformung
der Ideen, in der Ausprägung der Formen, die der Hellenismus geschaffen
hat. Wo er die massgebenden Anschauungen nicht aus den neuen Kultur-
bedingungen selbständig geschaffen hat, hat er doch die Nuancen und Begriffs-
formen gefunden, die gedauert haben.
Gewiss hat die Kirche die wertvollsten Ideen und geistigen Kräfte des
Griechentums wie des Christentums nur durch mancherlei Trübungen und Bre-
chungen aufgefasst und vermittelt ; sie hat den Kern mit immer mehr decken-
den Hüllen umldeidet und unkenntlich gemacht; sie hat den Ertrag der über-
kommenen Bildung in immer starrere, das ursprüngliche Leben bannende und
den Geist tötende Formen gefasst. Aber sie musste es ; denn sie hatte eine
harte Arbeit der Erziehung an rohen Völkern zu verrichten. Aber sie hat doch
die latenten Kräfte des Christentums und Griechentums bewahrt, die nur in
ihren ursprünglichen Wirkungen wieder ergriffen und neu belebt zu werden
brauchten, um in der Reformation und im Pietismus, in der Renaissance
und im Klassizismus eine innere Wiedergeburt, ein frisches, die alten Formen
und Hüllen sprengendes Leben zu erzeugen. Sie hat die Verbindung mit
den grossen Zeugen vergangener Welten aufrecht erhalten und damit den
Zugang zu den reinen Quellen ermöglicht, aus denen die Völker in den
Zeiten ihres geistigen Aufschwunges ihren Lebensinhalt und ihre Ideale be-
reichern konnten. Als die Renaissance diesen Zugang suchte, waren die
Römer die Führer. Die Renaissance hat das Griechentum wesentlich in
römischer Auffassimg und Färbung gesehen, und es waren die durch römische
Literatur vermittelten besten Gedanken des Hellenismus, in denen sie ihr
Ideal fand. Auch der Klassizismus, der die Ueberlegenheit und Originalität
des Griechentums erkannte, hat an ihm nur die Seiten gesehen, die seinem
Menschheitsideale entsprachen. Das klassizistische Dogma vom harmonischen
Griechentum als Einheit und als Ideal ist dann durch die historische Forschung
für immer vernichtet. Statt dessen erhebt sich die grosse Aufgabe, die
kontiniderliche Entwdckelung der griechisch-römischen Kultur mit den mannig-
faltigen sich kreuzenden und ablösenden Strömungen zu zeichnen und uns
damit das Verständnis für die Grundlagen unserer Kultur zu eröffnen. Das
für die allgemeine Kultur der Menschheit wichtigste Glied dieser Entwickelung
ist der HeUenismus, wichtig besonders auch für das Verständnis der Ge-
schichte der christlichen Kirche. Denn das Christentum hat sich zuerst die
hellenistische und die hellenisierte römische Welt erobert. Es hat nicht
gesiegt, indem es nach dem Bankerott des Heidentums als ganz neue Grösse
in die freie Lücke eintrat, wie man es sich etwa früher vorstellte. Es hat
auch nicht um den Preis der Vernichtung der heidnischen Kultur den Sieg
gewonnen. Die vielfach konvergierende und parallel laufende profane und
6 n PoLis UND Monarchie: 1 Die Gegensätze der Verfassung
christliche Entwickelung führt zu einer Annäherung und Ausgleichung, in
der das Christentum alle assimilationsfähigen Kräfte der heidnischen Kidtur
absorbiert und so den Uebergang vom Alten zinn Neuen erleichtert. Mit
gewissem Recht könnte man auch über diese Entwickelung als Motto das
Wort des Horaz setzen, in dem er den Einfluss des griechischen Geistes auf
dfts Römertum formuliert : Griechenland besiegte seinen Sieger.
Eine vollständige Kulturgeschichte in den Grundlinien zu zeichnen,
übersteigt nicht nur die Grenzen des mir zur Verfügung stehenden Raumes,
sondern auch das Mass meiner Kräfte. Selbst ein Kenner wird es noch
nicht wagen, eine Geschichte des griechischen Wirtschaftslebens oder des
griechischen Rechtes in hellenistischer Zeit zu schreiben, trotzdem wir den
letzten Jahren höchst fruchtbare Anregungen und wertvolle Spezialarbeiten
verdanken; durch die Arbeiten von Beloch, Mitteis, Wilcken, Bücher,
E. Meyer sind die Fragen eben erst in Fluss gekommen'. Mit dem Zweck
des Handbuches war die Beschränkung auf die Strömungen der geistigen
Kidtur gegeben. Wo liegen die Grundlagen und Wurzeln der Kultur, mit
der das Christentum sich auseinandergesetzt hat? Welche Stimmungen und
Dispositionen fand es in der Welt vor, in der es eine so grosse Umwälzung
hervorgerufen hat? Unter welchen fördernden und hemmenden Momenten
hat es sich verbreitet und entwickelt? Welche Erscheinungen der Kultur
haben es positiv oder negativ beeinflusst? Diese Fragen fasst meine Skizze
ins Auge. Sie möchte die vielen wertvollen Arbeiten neuerer Theologen —
ich nenne vor allen Harnack und Hatch — ergänzen, indem sie ein zu-
sammenhängendes Bild der Hauptströmungen der kulturgeschichtlichen Ent-
wickelung gibt und darum ihren Standpunkt nicht erst in der Zeit nimmt,
wo die energische Auseinandersetzung des Christentums mit dem Hellenismus
beginnt; nur zur Vervollständigung des Bildes wird die nach dem H Jahrh.
n. Chr. liegende Entwickelung berücksichtigt. Der lebendige Kontakt theo-
logischer und philologischer Forschung auf den beide angehenden Gebieten,
den auch diese Arbeit zu fördern bestimmt ist, wird der Vervollkommnung
dieses Versuches zugute kommen, welcher der Nachsicht und der anregen-
den Kritik in gleicher Weise bedarf.
II
POLIS UND MONARCHIE
1 Die Gegensätze der Verfassung
Für das politische Bewusstsein des Griechen ist es charakteristisch,
dass er den Staat sich wesentHch im Sinne der TioÄti;, des beschränkten
Stadtstaates, vorstellte. Die politische Spekulation des Plato und des Ari-
stoteles ist in den Voraussetzungen dieses Begriffes befangen. Der Nieder-
gang Athens ist auch dadurch bedingt, dass es über diesen zugleich durch
die religiösen Institutionen festgelegten Umfang nicht hinauskommen und für
sein Reich die Verfassung nicht finden konnte.
') S. auch Riezler, Die Finanzen und Monopole im alten Griechenland, Ber-
lin 1907.
Aufgabe des Werkes. Griechische Staatenbildung und Theorie
Die Last der Pflichten und Leistungen, die der antike Stadtstaat seinen
Bürgern auferlegte, ist dem modernen ]\lensohen schwer vorstellbar. Der
Staat ist der höchste Lebensinhalt des Bürgers, und das hohe Mass der
Teilnahme des einzelnen am öffentlichen Leben ist nur dadurch ermöglicht,
dass die Klasse der bevorrechteten Bürger sich erhebt über den breiten
Unterbau des rechtlosen, den wirtschaftlichen Bedürfnissen dienenden Sklaven-
tums. ' Nach modernem Massstabe muss, wer diese dienende Bevölkerung
in Anschlag bringt, den antiken Demokratien eine aristokratische Ver-
fassung zuschreiben. Wieder spiegeln die Voraussetzungen der politischen
Theorien die Macht des das Leben des Individuums umspannenden und mit
den festesten, religiös sanktionierten Banden umschlingenden Staatsgedankens.
Sie ofienbart sich in der platonischen Ueberspannung des StaatsbegrifFes und
in der aristotelischen Auffassung des Staates als eines Organismus, dem sich
die einzelnen als Glieder einzuordnen haben, als des höchsten Zweckes,
durch den die sittlichen Aufgaben und Pflichten des Individuums bestimmt
werden. Es ist, als solle die äusserste Anspannung aller Kräfte den Mangel
der räumlichen Beschränkung des antiken Staates ersetzen.
So sehr die politische Zerrissenheit die Entwickelung der geistigen
Kultur gefördert hat, hat sie doch die staatenbildenden Kräfte gehemmt.
Seit dem peloponnesischen Kriege hatten die verderblichen Kämpfe der
auseinanderstrebenden Stadtstaaten, die sich verzehrenden Gegensätze der
inneren Parteien, die Verdrängung des nationalen Gedankens durch parti-
kularistische und egoistische Interessen bewiesen, dass die Zeit der antiken
t^oXe:; abgelaufen war. Auf diesem zerklüfteten Boden war die Verwirk-
lichung des Gedankens nationaler Einheit, der in den gemeinsamen Festen
seinen Ausdruck gefunden hatte, der durch Berührung mit den fremden
Völkern und die Mehrung des gemeinsamen geistigen Besitzes gestärkt war,
der die treibende Kraft in den Befreiungskämpfen gewesen war und von
den Rhetoren fort und fort wirkungsvoll gepredigt wurde, unmöglich. Der
Widerstreit der kleinstaatlichen Interessen hatte die zur Einigung drängen-
den Kräfte lahm gelegt. Philipp und Alexander wurden die Träger der
Idee nationaler Einheit, die den Griechen des Festlandes von aussen aufge-
zwungen Averden musste und von ihrer Majorität bald als Erlösung vom
Fluche der Kleinstaaterei freudig begrüsst wurde; sie stellten die pan-
heUenischen Tendenzen und den volkstümlichen Gedanken eines Feldzuges
nach Asien in den Dienst ihrer Politik.
Die Griechen haben sich zum Teil schnell in die neuen Formen der
monarchischen Regierimg gefunden. Dass die Griechen Kleinasiens, die in
ihrer exponierten Stellung im Festland längst keinen sicheren Rückhalt mehr
fanden, Alexander freudig zufielen und von ihm die Wiederkehr geordneter
und gesicherter Verhältnisse erwarteten, war natürlich. In der hellenistischen
Propaganda sind die lonier ein bedeutender Faktor. Im Grunde neigte
überhaupt die Stimmung der Zeit der monarchischen Form zu, und die zer-
rüttete Demokratie hatte schon in mancher Gemeinde die Tyrannis auf-
kommen lassen. Die geistige Entwickelung hatte in weiten Kreisen dem
monarchischen Gedanken den Boden bereitet. In wiederholten Versuchen
stellt Xenophon, der kein schöpferischer Geist, aber für die seine Zeit be-
herrschenden Stimmungen höchst empfänglich ist, Ideal imd Grundsätze der
monarchischen Herrschaft theoretisch und im Beispiele dar. Die Ideal-
philosophie gestaltet das Bild des wahren Herrschers, dessen überlegener
Genius Kraft und Recht zur Umbildung der Gesellschaft und zur Organisation
des lebensfähigen Staates nach den Gesetzen der Vernunft in sich trägt;
und durch die syrakusische Monarchie hofft Plato sein Staatsideal verwirk-
8 n PoLis UND Monarchie: 1 Die Gegensätze der Verfassung
liehen zu können. Derselbe Isokrates, der noch im Jahre 380 sein Athen
zur Verwirklichung- des nationalen Einheitsgedankens und des Kreuzzuges
gegen die Perser auffordert, gibt bald seinen Gedanken und Hoffnungen die
Richtung auf die Monarchie. An lason von Pherä, Dionysios, Archidamos,
endlich an Philippos richtet er abwechselnd sein in den Grundgedanken
gleiches Programm der Vereinigung aller hellenischen Kräfte, welche die
Griechen von der Zerrüttung der Kleinstaaterei erlösen und zur Besinnung
auf ihre wahren Aufgaben und höchsten gemeinsamen Interessen führen soll.
Selbst Demosthenes muss widerwillig die Ueberlegenheit der Monarchie in
der planvollen Verwertung der Kräfte und in der energischen Durchführung
einer zielbewussten Politik anerkennen. Die richtige Ueberzeugung, dass
nur die ^Monarchie grosse politische Aufgaben zu lösen vermöge, und die
Sehnsucht nach einer starkeii, Ordnung und Sicherheit verbürgenden Staats-
gewalt erklärt es, dass in der hellenistischen Welt trotz der wilden Kämpfe
um Alexanders Erbe das monarchische Bewusstsein sich erstaunlich schnell
verbreitet hat und die politische Theorie bald beherrscht. Philipps starke
Hand hat nicht gewaltsam das Ende der griechischen Geschichte herbeige-
führt, sondern sie rascher zu dem Ziele geleitet, dem die natürliche Ent-
wickelung zustrebte, das für die Westgriechen die syrakusische Monarcliie
zu verwirklichen suchte.
Die TzoXeiq Griechenlands, die grösseren und kleineren, werden jetzt
dem Reiche eingegliedert. Ihre Freiheit und Autonomie werden scheinbar
bewahrt, tatsäclilich durch die Leistungen für Heer und Flotte und durch
die Verlegung des politischen Schwergewdchtes nach aussen bedeutend ein-
geschränkt; sie sind gegen früher zu einem kümmerlichen Scheindasein ver-
urteilt. So stehen sie zuerst seitab von dem grossen Gange der neueren Ge-
schichte, in den sie sich nur langsam finden. An Reaktionen, die über das
Neue wie eine Episode meinten hinwegkommen zu können, hat es nicht ge-
fehlt. Der Widerstreit der Grossmächte gibt auch den Kleinen die Möglich-
keit, eine politische Rolle zu spielen. Der in romantischen Träumen Ver-
gangenheit und Gegenwart vertauschende Grossmachtsdünkel verleitet Athen
wiederholt zu unerlaubten Aspirationen und bringt es an den Rand des Ver-
derbens. Der Abglanz der alten Herrlichkeit und die Höhe seiner geistigen
Kultur sichern ihm immer wieder eine unverdiente Schonung und bewahren
es vor dem Schicksal, das Korinth 146 durch die Römer gefunden hat. Be-
deutende Kräfte entfalten neben Sparta der ätolische und der achäische
Bund. Indem bei den inneren Fehden und angesichts der von Makedonien
drohenden Gefahr die Hilfe der Römer angerufen wdrd, beschleunigt sich
das Schicksal Griechenlands imd des Ostens. Zwar herrscht eitel Freude
luid lauter Jubel über die Uneigennützigkeit der Römer, als an dem Isthmien
des J. 197 der Pliilhellene T. Quinctius Flamininus die bisher den Makedo-
nen untertänigen griechischen Staaten für frei erklärte. Aber das Ende
des dritten makedonischen Krieges lehrte, was Rom unter Freiheit verstand,
und die Zerstörung Korinths brachte den Griechen zum Bewusstsein, dass
es ihnen ergangen war wie dem Pferd in dei- Fabel, das den Menschen frei-
willig als Reiter aufnimmt.
Griechenland und die östlichen Provinzen haben dann das Mißregiment
der römischen Oligarchie und die Leiden des mithradatischen und der Bür-
gerkriege so gründlich durchgekostet, dass sie in dem Uebergang zur Monar-
chie eine Erlösung sahen. Das kaiserliche Regiment brachte eine geordnete
Verwaltung, sicheren Rechtsstand, grössere Selbständigkeit der Gemeinden.
Um die Bedeutung des neuen Regimentes richtig einzuschätzen, muss man
zui- Ergänzung und Berichtigung der den Hofklatsch bevorzugenden stadt-
Hell. Monarchie. Das i-epulilik. und das in()nai-clii.sche Regiment Roms
römischen Literatur die inschriftlichen Zeugnisse und die vielen Stimmen der
in der griechischen Reichshälfte lebenden Schriftsteller heranziehen, die laut
von den Segnungen der neuen Ordnung, von uufblüheiulem Leben, von der
sich hebenden materiellen und geistigen Kultur zeugen. Der Osten lebte
sich schnell in den neuen Stand der Dinge ein. Das monarchische Bewusst-
sein war hier auch nie erloschen. Die römischen Grossen hatten hier viel-
fach als Despoten gehaust, und der Servilismus hatte ihnen pomphafte De-
krete, göttliche Ehren, Statuen, Tempel geweiht, kurz sie mit allen Aus-
zeichnungen überhäuft, die man früher den Fürsten darzubringen gewöhnt war.
Unter sehr viel grösseren Schwierigkeiten, die man im Osten gar nicht
empfinden konnte, vollzog sich in Rom der seit Sulla mit unvermeidlicher
Notwendigkeit sich vorbereitende Uebergang der römischen Rei)ublik zur
Monarchie. Die rechtlichen Formen für die Stellung des Herrschers waren
schwer zu finden. Das Königtum, dessen Name im Osten einen guten Klang
hatte', war hier sakral verpönt. An dem Versuche, die Formen des helle-
nistischen Königtums zu übertragen, war Cäsar zu Grunde gegangen. Auch
die rechtlichen Formen der Reichsangehörigkeit zu finden war schwierig.
Rechtlich war der römische Staat immer noch Stadtstaat, und das Bürger-
recht war trotz seiner Ausdehnung auf Italien auf die fiktive Zugehörigkeit
zur Stadt Rom gegründet. Diese unnatürliche Zwischenstellung zwischen
Stadt imd Staat trat dadurch, dass Cäsar das Bürgerrecht an ganze Provinzen
verlieh, noch schärfer hervor. Diese Verleihung war eine natürliche Folge
seines Reichsgedankens, aber sie widerstrebte dem römischen Empfinden. Im
Gegensatz zu Cäsar sclilug Augustus' Politik nationale Bahnen ein und suchte
möglichsten Anschluss an die verfassungsmässigen Formen. Er verzichtete
darauf, der faktischen Stellung des princeps einen unzweideutigen rechtlichen
Ausdruck zu geben und begnügte sich mit einem Umfang der Kompetenzen,
in denen die überragende Bedeutung der Persönlichkeit sich Geltung ver-
schaffen konnte. Es war ihm mehr um die Sache als um die Form zu tun,
und er ging mit der ihm eigenen jeden Schritt sorgfältig erwägenden Be-
hutsamkeit vor. Ob er die spätere Entwickelung vorausgeschaut und vne
er sie sich gedacht, oder ob er gemeint hat, der Prinzipat werde auf die
Dauer der klaren staatsrechtlichen Begründung entbehren können, wissen
wir nicht. Allmählich ist dann die Grundlage der wirklichen Monarcliie
geschaffen, die Dyarchie der augustischen Zeit in das absolute Regiment
übergeführt worden. Wesentlich hat der wachsende Einfluss der östlichen
Reichshälfte dahin gewirkt, dass die im Osten herrschende Auffassung des
Principates sich durchsetzt und die dreihundertjährige Ent\\dcklung in dem
Absolutismus endet, dem schon Cäsar so nahe war. Im Grunde ist es der-
selbe Prozess der Auflösung des nationalen Bewaisstseins, der, wie er zum
Absolutismus führt, so die civitas in die Reichsangehörigkeit aufgehen lässt
und auf reHgiösem Gebiet zur Anerkennung aller im Reiche vertretenen
Religionen, wie vorher aller italischen, führte. Begonnen hat diese Ent-
^^ickelung eigentlich schon im 11 Jahrh. v. Ch. damit, dass die römische Po-
litik unter dem Eindruck der Ueberlegenheit der griechischen Kultur auf
eine Romanisierung des Ostens verzichtete. Es war natüi'lich, dass die
hellenistische Kultur der östlichen Reichshälfte, je stärker ihr Einfluss auf
allen Gebieten hervortrat, um so mehr die Kultur des latinisierten Westens
mit fremdartigen hellenistischen und vom Hellenismus rezipierten imd ge-
milderten orientalischen Elementen zersetzen musste.
') Cicero De imperio 24, Sallust Fragm. V 3 Maurenbrecher. Im Osten ^^ ird
schon Augustus der Titel ßaaiXeüs beigelegt.
10 11 POLIS UND MONARCmE: 2 DiE NEUEN MITTELPUNKTE DER KULTUR
2 Die neuen Mittelpunkte der Kultur
Auch tue individuellen Lebensbedingungen sind mit dem Aufkommen
der neuen hellenistischen Reiche völlig geändert. Der einzelne ist aus dem
festen Verbände des Stadtstaates, der seinem Leben Ziel und Eichtung gab,
gelöst. Eine Fülle von Kräften, die früher im Dienste der TioXt^ verbraucht
wurden, wird frei. So weit sie nicht im idyllischen Kleinleben aufgehen,
suchen sie ein anderes Feld der Betätigung. Die kommunalen Aufgaben
können die besten Kräfte nicht mehr locken und den Ehrgeiz nicht befrie-
digen. Das Leben gravitiert jetzt nach aussen, besonders nach den Höfen
imd den neuen Zentren der Kultur. Es ist charakteristisch, dass die meisten
bedeutenden Persönlichkeiten, politische und literarische Grössen, ihre Heimat
verlassen imd sich einen neuen Wirkungskreis suchen. Wen politischer
Ehrgeiz lockt, der findet als Söldnerführei', höherer Beamter, Diplomat seine
Rechnimg; die Beamtenhierarchie braucht grosse imd kleine Talente. Die
Eroberung des Ostens führt einen Aufschwimg des A\drtschaftlichen Lebens
herbei und öffnet auf dem Gebiete der Lidustrie und des Handels imter-
nehmenden Geistern neue Wege. Ein starker Strom von Auswanderern
ergiesst sich jetzt nach dem Osten, besonders in die neuen Griechenstädte.
Abenteurer und Parvenüs sind jetzt beliebte Typen der Literatur.
Mit dem II Jahrh. v. Chr. beginnt dann Rom in den Mittelpunkt des
Völkerlebens zu treten. Die literarische Produktion der Griechen ist viel-
fach berechnet auf das römische Publikum, auf seine Interessen und Bedürf-
nisse. Philosophischer und rhetorischer Lehrbetrieb erfährt, wie wir sehen
werden, eine Umgestaltung, die durch den Zweck der Propaganda in der
römischen Gesellschaft bestimmt ist. Griechische Rhetoren, Philosophen,
Literaten ^ finden in Rom ein fruchtbares Feld ihrer Tätigkeit. Aber diese
Richtung des geistigen Lebens nach Rom liin ist nur das Symptom einer
allgemeinen dortliin flutenden Bewegung, die ihre Höhe in der Kaiserzeit
erreicht. Die aufstrebenden Kräfte, aber auch bedenkliches Gesindel aUer
Art, drängt Ehrgeiz und Abenteuerlust in das bunte Getriebe der Weltstadt,
und die patriotische Klage wird immer wieder laut, dass Rom eine griechische
oder orientalische Stadt geworden sei. Die beständige Aufnahme von Skla-
ven aus aller Herren Länder, das Aufstreben vieler durch Betriebsamkeit
und Fleiss dem freigeborenen Proletariate überlegener Elemente des Sklaven-
standes in die oberen Klassen, der gleichzeitige Rückgang der vornehmen
Geschlechter und die Barbarisierung des Heeres haben auch dazu beigetragen,
der römischen Gesellschaft ein ganz anderes Aussehen zu geben.
3 Neue Stellung der Literatur und Wissenschaft
Die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus, die Verbreitung der Bil-
dung über weitere Kreise ist für die Kultur der hellenistischen Zeit charak-
teristisch. Die literarische Produktion schwillt zu einem früher nicht geahn-
') Polybios (XXXII 10) sagt, bald nach 168 zum jüngeren Scipio, wenn er sich
die griechische Bildung, um die sich jetzt die Römer so eifrig bemühten, aneignen
wolle, könne es ihm an Lehrern nicht fehlen : tzoX'j yäp 8y/ xi q;uXov djiö xf/g 'EXXidoz
är-.ppäov öpcT» Tö)v xo'.oüxwv dvO-pw-cuv. Vgl. Hillscher, Hominum literatorum Graeco-
rum ante Tiberii mortem in urbe Roma commoratorum historia critica, Fleckeisens
Jahrb. Suppl. XVIH S. 353—444.
Die neuen Centren der Kultur u. ihre Bedeutun;^' für das soz. u. ^'•eist. Leben 1 1
ten Umfange an. Die grosse politische Umwandlung warkt in dieser Richtung
ähnlich Avie zur Zeit des Ueberganges der römischen Re])ul)Iik ins Kaiser-
reich. Die Fülle der frei gewordenen Kräfte wird jetzt mehr als früher
durch literarische Aufgaben und schriftstellerischen Ruhm gelockt. Wie der
Pomp der Höfe der Kunst und dem Kunstgewerbe ein neues Feld der Be-
tätigung _gibt, so findet auch das geistige Leben seinen Mittelpunkt an den
Höfen; es ist bewusst und unbewusst von politischen und höfischen Inter-
essen beeinflusst. Die Literatur ist eine Macht, mit der auch die Fürsten
rechnen und durch die sie die öifentliche Meinung beeinflussen. Das Schreib-
werk spielt besonders in der wohlgeordneten Verwaltung Aegyptens und
seinem Beamtenapparate eine grosse Rolle. In Hof- und Geschäftsjournalen,
Beamtenprotokollen, Briefen -wird seit Alexander in den Archiven ein unge-
heures, auch für den Historiker nutzbares Rohmaterial aufgespeichert ^ Auf
die Initiative der Fürsten wird es vielfach von Literaten bearbeitet zu um-
fassenden Geschichtswerken oder zu ephemeren Berichten über Tagesereig-
nisse und Hoffeste, die dem Publikum die Tagespresse ersetzen. Ptolemaios I
verschmäht es nicht, einen schmucklosen, auf das Material der Archive ge-
gründeten Bericht über Alexanders Feldzüge zu veröffentlichen. Pyrrhos,
Arat und andere haben ihre Memoiren geschrieben. Die Fürsten teilen die
literarischen Interessen ihrer Zeit, geben der Literatur, in der sie zum Teil
dilettieren, eine FüUe von Anregung und Förderung. Fürsten und Fürstinnen
nehmen die Widmung von Schriften entgegen und werden von den Hof-
dichtern gefeiert.
Für die rege Förderung der Wissenschaft durch das Königtum hat der
grosse Zögling des Aristoteles das für die hellenistischen Herrscher vorbild-
liche Beispiel gegeben. Wir wissen, dass in seinem Generalstab die wissen-
schaftliche Abteilung nicht fehlte. Sorgfältige Beobachtungen der ethno-
grapliischen, geographischen, botanischen, zoologischen Tatsachen wurden
aufgenommen, die wissenschaftlichen Berichte im Reichsarchive zu Babylon
gesammelt. Die Bearbeitung wenigstens des botanischen Materials liegt uns
in der ganz neue Bahnen der Forschung eröffnenden „Pflanzengeographie"
Theophrasts, des Schülers des Aristoteles, vor-.
Plato imd Aristoteles hatten einen Gelehrtenverein in sakralen Formen,
mit einem Schiülokal und Schidvermögen, Bibliothek und Studienapparat,
geschaffen und so der wissenschaftlichen Arbeit eine Organisation gegeben,
durch welche die verschiedenartigsten Kräfte nach dem Plane und nach
den beherrschenden Gesichtspunkten des Meisters zu einem grossen Gesamt-
bau der Wissenschaften zusammenwirkten. Nach diesem Muster, das noch
auf die Oi'ganisation der christlichen Gelehrtenschulen des Altertums und
damit bis auf die Gegenwart fortge^\drkt hat, und wohl auf Anregung des
Peripatetikers Demetrios von Phaleron wurden in Alexandria die ersten staat-
lichen Institute zur Pflege der Wissenschaft durch königliche Stiftung ge-
gründet, die beiden Bibliotheken und das mit reichen Mitteln ausgestattete
Museion, in dem die angesehensten Gelehrten zu gemeinsamer Arbeit und
stetiger Fortpflanzung der" Wissenschaft vereinigt waren. Die Forderung
der ideahstischen Pliilosophie, dass der Staat in der Bildung seiner Bürger
die wichtigste Aufgabe zu sehen habe, ist nicht ganz ^^'irkungslos verhallt.
Alexandria wird durch die neuen Schöpfvmgen das Zentrum literarischer und
wissenschaftlicher Produktion und eines gegen frühere Zeiten schwunghaft
betriebenen Buchhandels. In einen fruchtbaren Wettbewerb mit dem wissen-
1) Wücken, Phüologus LUX S. 102 ff. -) Bretzl, Botanische Forschungen
des Alexanderzuges. Strassburg 1903.
12 11 l'oLis UND MoNARriiu:: 3 Neue Stellung der Literatur
schaftlichen Leben Alexaudrias ist nur Perg-amon seit dem 11 Jahrhundert
einy^etreten, das, die khissischen Traditionen aufnehmend und fortbildend,
eine bedeutende und eigenartige Kultur erzeugt und als Stütze seiner Herr-
schaft dem Barbarentum gegenübergestellt hat. Antiochia am Orontes, das
schon Seleukos und Antiochos zu einer hellenischen Stadt ausgebaut hatten,
hat trotz der Höhe der äusseren Zivilisation und seiner Bedeutung für die
hellenistische Propaganda nie konkurrieren können. Zu einem tieferen geisti-
gen Leben ist es in Antiochia erst in der späteren christlichen Zeit gekom-
men. Syrische und griechische Kultur gingen liier neben einander her; aber
orientalische Ueppigkeit und Sinnlichkeit hat den Grundzug des Lebens
dieser blasierten Grossstadt gebildet. Athen bleibt nach wie vor der Mittel-
punkt der philosophischen Entwicklung, obgleich die bedeutendsten Vertreter
der Philosophie aus dem Osten zuwanderten. Neben der Akademie und dem
Peripatos setzten sich die Schulen des Zenon und des Epikur dort fort. Auf
den Philoso])henschulen beruht in hellenistischer Zeit die geistige Bedeutung
und die Kultur Athens, das sonst nur vom Erbe der Vergangenheit zehrt.
Mit den pliilosophischen Koryphäen Athens pflegen die Fürsten die lebhaftesten
Beziehungen; an den Höfen selbst konnte die Philosophie, wie es scheint,
nicht recht gedeihen. Von den hellenistischen Freistaaten hat sonst nur
Rhodos für das geistige Leben der Zeit Bedeutendes geleistet und im Be-
ginn der römischen Herrschaft durch seine philoso])hischen und rhetorischen
Schulen Athen fast in Schatten gestellt.
Die literarischen und philhellenischen Neigungen der hellenistischen
Fürsten haben die römischen Grossen aufgenommen und fortgesetzt. Es ist
ein Beweis des Aufschwunges des literarischen Lebens, dass seit dem H Jahr-
hundert in Rom ^äelfach die politische Rede als literarisches Erzeugnis ver-
öffentlicht wird. Man beginnt clie Bedeutung der Literatur fürs öffentliche
Leben zu schätzen. Die Vornehmen lassen sich gerne griechische Schriften
widmen, haben griechische Literaten in ihrer Umgebung oder sammeln lite-
rarische Zirkel um sich und tragen dafür Sorge, dass ihre Taten der Nach-
welt in der Beleuchtung-, die sie selbst wünschenswert finden, überliefert
werden. Viele von ihnen schreiben selbst ihre Memoiren oder Autobiogra-
phien, die von parteipolitischen und a])ologetischen Interessen beherrscht
sind. Im Zeitalter der niedergehenden Rejniblik s])ielt die Literatur der
Flugschriften eine grosse Rolle. Von i)olitischen Zwecken ist Cäsars Bericht
über seine gallischen Kriege und seine Darstellung des Bürgerkrieges ein-
gegeben und beherrscht. Auch Augustus schreibt seine Memoiren, wie auch
später viele Kaiser und Angehörige des kaiserlichen Hauses. Die Sitte der
orientalischen Herrscher, ihre Taten auf Inschriften zu verherrlichen und
seilest der Nachwelt zu überliefern, pflanzt sich in hellenistischen Reichen
fort und lebt in erfreulicheren Formen im Rechenschaftsberichte des Augustus
A\ieder auf ^ Zu Ciceros Zeit gibt es in Rom schon einen lebhaften buch-
händlerischen Betrieb, Die erste öffentliche Bibliothek gründet Asinius PoUio ;
Augustus fügt zwei weitere liinzu-, und ihre Zahl mehrt sich dann rasch.
Die Sitte öffentlicher Recitationen trägt dazu bei, neue Erzeugnisse der
Literatur rasch bekannt zu machen und literarisches Interesse zu verbreiten;
auch sie begegnet uns schon in der hellenistischen Welt und ^vird von dort
') Wie Augxistus verstanden hat, die zeitgenössische Literatur seinen Zwecken
dienstbar zu machen, wird später gezeigt werden. '^) Ueber die Verwaltung
der Bibliotheken s. O. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeaniten^ S. 298 ff.
— Ueber die Ausgestaltung der Archive und der kaiserlichen Kanzleien s. Peter,
Die geschichtliche Literatur über die römische Kaiserzeit I S. 223. 329 ff.
Neue Kulturcentren. Hellenen und Barbaren. Menschheitsbegriff 13
nach Rom übertragen sein. Seit Vespasian wird der höhere Unterricht immer
mehr in staatlichen Betrieb genommen oder von den Gemeinden organisiert,
öffentliche Professuren und Bildungsinstitute werden geschaffen. Seit Cäsars
Konsulat (59) versorgt die offiziöse Staatszeitung, die nach Art unserer
Tagesblätter angelegt ist, die Welt mit allen wissenswerten Nachrichten aus
dem öffentlichen Leben und bald auch mit amüsantem Stadtklatsch.
III
KÜSMÜPOLITISMUS UND INDIVIDUALISMUS
1 Kosmopolitische Stimmung der neuen Zeit
Als Träger des panhellenischen Gedankens und der griechischen Kultur
schafft Alexander sein Weltreich, in dem Asiaten mit Makedonen und Grie-
chen zu einem Ganzen verschmolzen werden sollen. Die Annahme des per-
sischen Hofzeremoniells, die Gründung neuer Militärkolonien mit ihrer Völker-
mischung, die Begünstigung der Ehen zwischen Griechen und persischen
Frauen, die Anpassung der Verwaltimg an die überlieferten Formen, die
Anerkennung der Kulte der eroberten Länder fördern die Verschmelzung
imd führen der neuen Kultur ungriechische Elemente zu. Aber als die trei-
bende Kraft der neuen Kulturentwicldung ist doch von vornherein der grie-
chische Geist gedacht, der die OÄT; der ungriecliischen Völker sich unter-
werfen und ihr seine Formen aufprägen soll. Und der optimistische Glaube
an die überlegene Macht des griechischen Geistes und die grosse ]Mission,
die er in der Erziehung der barbarischen Völker erfüllen müsse, hat nicht
getäuscht. Trotzdem das Reich Alexanders zerfällt, geht doch die Saat,
die er ausgestreut hat, auf ; eine einheitliche Weltkultur, die in der Einheit
der griechischen Sprache und Denkweise begründet ist, umspannt die helle-
nistischen Reiche ^ Dass der langsam fortschreitende Hellenisierungsprozess
sich nur die Städte und die oberen Schichten unterwerfen, nicht das ganze
Hinterland und das Volkstum bewältigen konnte, dass dann überall eine
starke nationale Reaktion ihm Einhalt gebietet. Altägyptisches und Koptisches,
Syrisches und Persisches mächtig vordringt, ist wesentlich in dem Verfall
und der sinkenden Kraft zuerst der hellenistischen Reiche, dann des Römer-
reiches begründet. Die nie ausgestorbenen altorientalischen Traditionen
dringen, wie man besonders auf dem Gebiet der Kunst und der ReHgion,
aber auch des Rechts, beobachten kann, gegenüber der sinkenden Kraft der
hellenistisch-römischen Kultur in der Spätantike mit wachsend siegreicher
Gewalt erobernd vor-. Dass die Hellenisierung des Ostens nicht zum glei-
chen Ziele gelangt ist vrie die Romanisierung des Westens, offenbart sich
*) Ueber das Mass der Hellenisierung der verschiedenen Landschaften (in
Kleinasien ging sie sehr viel weiter als in Syi-ien) vgl. Mitteis, Reichsrecht und
Volksrecht S. 17 ff. -) Ueber die freilich hier erst in den Anfängen stek-
kende kunstgeschichtliche Forschung können, ausser Strzygowskis grösseren Wer-
ken, seine Aufsätze in der Beilage zur Allg. Zt. 1902 Nr. 40. 41 und Neue Jahrb.
XV S. 19 ff. orientieren.
14 111 KOSMOI'OLITISMUS UND INDIVIDUALISMUS: 1 KOSMOPOL. STIMMUNG
auch in der Spaltung der östliclien Kirchen nach Nationen und Sprachen, ver-
»lii'hen mit der Einheit der Organisation und Sprache der römischen Kirche.
Alexanders Glaube an die Kulturfähiykeit der barbarischen Völker, an
die Möglichkeit ihrer Verschmelzung mit den griechischen Eroberern war
etwas Neues, was den griechischen nationalen Vorurteilen widersprach und
sie zur Opposition herausforderte. Dem griechischen Nationalempfinden ist
der in Sprache, Sitte, politischen Formen und Religion begründete Rassen-
unterschied zwischen Griechen und Barbaren unüber\\'indlich und unüber-
brückbar'. Dem Herrenvolk der Griechen stehen die von Natur zum Dienen
bestimmten Barbaren gegenüber. Sucht doch selbst Aristoteles die Sklaverei
durch den Unterschied der Rassen als von der Natur gewollt zu begründen!
Die Politik seines Zöglings verstand er nicht, wenn er Alexander riet
(Fragm. 658 Rose), über die Griechen nur Hegemonie, über die Barbaren
i)espotie zu üben, für jene als Freunde und Verwandte zu sorgen, diese wie
Tiere oder Pflanzen zu nutzen. Diese Zweiteilung in Herren und Knechte
verwirft ein Jahrhundert später Eratosthenes (bei Strabo I p. 66, 67, vgl.
Cicero De republ. I 58); nach Tugend und Schlechtigkeit allein solle man
die Menschen beurteilen und scheiden, und die seien keineswegs an den
Unterschied der Rassen gebunden. Dies Wort spiegelt deutlich den Fort-
schritt der Zeiten und das erweiterte Menscheitsbewusstsein wieder. Die
Menschen, denen sich durch Alexanders Eroberungen ganz neue Welten und
unendliche Weiten eröffnen, können nicht mehr Hellenen im alten Sinne des
Wortes bleiben. Die neue Kulturentwicklung wirkt nivellierend. Die dia-
lektischen Unterschiede werden abgeschliffen, und auf der Grundlage des
Attischen erhebt sich die einheitliche Weltsprache, die y,oivri. Eine fort-
schreitende Ausgleichung der Rechtsbräuche und Ansätze zu einem inter-
nationalen Rechte sind zu beobachten. Ein Durchschnittsniveau der allge-
meinen Bildung, die mehr in die Breite als in die Tiefe geht, wird geschaffen,
dem gegenüber die früher stark differenzierten Sonderheiten der Sitte und
der Bildung zurücktreten. Ueber den Grenzen der Stäunne und Nationen
erhebt sich die Schöpfung des neuen Weltreiches, und der Begriff der o\.y.ou[iivri
fordert als Komplement den Begriff des allgemeinen, aus den nationalen
Schranken gelösten Menschentums. Die grossen politischen Katastrophen,
die neuen Formen der Gesellschaft, der Zug nach dem Osten, die Steigerung
des Verkehrs werfen die alten Scliichten der Gesellschaft gewaltsam durch-
einander, verwischen die alten Standesunterschiede und gleichen die sozia-
len Gegensätze aus. Die rationalistische Aufklärung Athens hatte schon den
Menschen und die menschlichen Verhältnisse zum Objekt der Forschung er-
hoben, hatte alle natürlichen und religiös sanktionierten Formen des mensch-
lichen Daseins und die Grundlagen der Gesellschaft, das Verhältnis der Ge-
schlechter und Stände, Staatsverfassung, Eigentum, Moral, Religion in Frage
gezogen und als Problem gefasst; sie hatte mit konsequentem Radikalismus
den Menschen herausgehoben aus den konventionellen Schranken und Vor-
urteilen. Sie hatte damit der neuen Entwicklung vorgearbeitet; aber alle
diese kühnen Fragstellungen und schnellfertigen Antworten gewannen jetzt
einen grösseren Ernst und eine vertiefte Bedeutung, wo die alten Formen
der Gesellschaft durch die geschichtliche Entwicklung gelockert oder gelöst
und neue in der Bildung begriffen waren. Und wenn der griechische Geist
die treibende Kraft und der beherrschende Faktor der neuen Kulturentwick-
lung \^airde, so konnte er doch die neue Kulturmission nur erfüllen, indem
er über die nationalen, religiösen, sittlichen Schranken, in denen er befangen
') Eichhorn, ßäpßapo; quid significaverit, Leipziger Diss. 1904.
Auflösung der iiutionulcii Si'hraiila'ii. Interesse für fremde Kidturcn 15
war, hinauswuchs und den Ausdruck für das umfassendere Welt- und Mensch-
heitsbewusstsein der neuen Zeit fand.
Der erweiterte politische und ji;eoi>raphisclie Horizont führt zu einer
neuen Bestimmung- des Verhältnisses von Griechen und Barl)aren. Man
lernt die uralten Kulturen der orientalischen Völker kennen, und die histo-
rische Forschung- unterzieht sich bald der Aufgabe, den Griechen diese Kul-
turen bekannt und verständlich zu machen. Der babylonische Belspriester
Berossos erschliesst in seinem Antiochos I Soter (281 — 2G1) gewidmeten
Werke den Griechen die babylonische, der ägyptische Priester Manethos die
ägyptische Kultur. Vor diesen ernsthaften Werken bevorzugte leider der
Geschmack der Griechen romanhafte Darstellungen, die von stark aktuellen
Tendenzen beherrscht waren. Berossos und Megasthenes' Ivor/.a übten nicht
den Einfluss wie das phantastische ältere Werk des Ktesias , das über den
ganzen Reiz ionischer Erzählungskunst verfügte. Und die Kenntnis des
Aegyptischen bezog- man lieber aus dem leicht lesbaren Werke des Abderiten
Hekataios, der Ideale seiner Zeit, den aufgeklärten Despotismus, die ratio-
nalistische Religion, Grundsätze der Ptolemäerpolitik in die Pharaonenge-
schichte projiziert. So ist die Erforschung der Literatur fremder Völker in
den ersten Anfängen stecken geblieben und von den Griechen überhaupt nie
als wissenschafthche Aufgabe ernstlich in Angriff genommen. Wir hören
von der Aufnahme einer Fülle zoroastrischer, wohl gefälschter Schriften in
die alexandrinische Bibliothek i, und die Septuaginta-Legende knüpft an das
Interesse für die Literatur fremder Völker an. Vorschnelle Konstruktionen
und willkürliche Vorstellungen vom Verhältnis der griechischen Kultur zu der
orientalischen ersetzen den Mangel solider Forschung. Man leitet griechische
Götter und Kulte aus Aegypten ab, lässt die griecliischen Denker von dort
ihre Weisheit holen; wo die Kultur eine so lange und alte Geschichte hat,
soll der Ursitz der Weisheit sein.
Die Schätzung der Barbaren hat sich gewandelt. Einst hatten ioni-
sche Forscher mit offenem und vorurteilsfreiem Blick, mit ausgesprochenem
Interesse für alles Neue und Fremdartige eine Fülle von Beobachtungen über
die barbarischen Völker niedergelegt; Herodot hatte durch das Alter der
ägyptischen Kultur sich gewaltig- imponieren lassen und in vorschneller Kon-
struktion die Griechen zu Schülern der Aegypter gemacht. Dann hat die
Sophistik den Völkersitten ein lebhaftes Studium zugewandt, aber mit dem
einseitig rationalistischen Interesse, aus dem Widerspruch der Sitten die Un-
möglichkeit einer absoluten Sittlichkeit zu deduzieren, und die skeptische
Philosophie hat diese unfruchtbare Betrachtung durch Jahrhunderte fortge-
setzt. Der Historiker Ephoros und Aristoteles und seine Schide haben dann
ein ungeheures Material zusammengebracht und nach historischen Gesichts-
punkten zu bearbeiten begonnen. Dies Material ist in hellenistischer Zeit
weit über die Grenzen des griecliischen Sprachgebietes liinaus erweitert. Mit
gesteigertem Interesse betrachtet man Leben und Sitten der fremden Völker.
Poseidonios hat mit schärfstem Blick die Sitten und Lebensformen der
Kelten gezeichnet- und mit den aus Homer bekannten primitiven Lebens-
formen der Griechen verglichen. Und neben die vorurteilslose Beobachtimg
tritt bald sentimentale und idealisierende Betrachtung- der Naturvölker und
Barbaren-''. Eine kulturmüde, von den künstlichen Lebensformen unbefrie-
digte Welt sucht gern ihre Ideale in fernen Zeiten oder Gegenden. Die
1) Cumont, Textes et mon. fig. rel. aux myst. de Mithras I S. 23. 32, Z. f. neu-
test. Wiss. I 8. 268. ■') Wüamowitz, Lesebuch n 217. ^) E. Rohde,
Griech. Roman ^ S. 21.5 ff.
IQ III Kosmopolitismus und Individualismus: 2 Die Stoa
Vorstellnni>en eines f^flückseliq-en und eines rohen und elenden Naturzustandes,
Kulturfveiuliiikeit und Kulturüberdruss gehen in heUenistischer Zeit neben-
einander und kreuzen sich. Seihst die ])eri])atetische und epikureische Dar-
stellung der stutenweisen Entwickelung der Kultur hat sich von sentimen-
talischen Zügen und von dem Gefühl, dass der Fortschritt der Kultur nur
mit Opfern und notwendigen Uebeln erkauft wird, nicht frei halten können'.
Es überwiegt aber später die kulturfeindliche Betrachtung. Bald sucht man
das Ideal der Sittlichkeit und Unverdorbenheit in den ])rimitiven Zuständen
der Naturvölker, bei Aethiopen oder Juden, Skythen oder Mysen ; bald ver-
legt man es in ])hantastischer Dichtung in weltferne und unbekannte
Gegenden; bald projiziert man es in das goldene Zeitalter. Kynismus und
Stoa stellen gern das Barbareilieben als Muster der von ihnen geforderten
einfachen und naturgemässen Lebensweise der Entartung der Kiütur ent-
gegen. Aehnliche Tendenzen treten beim Philosophen Seneca stark hervor,
und diese sentimentale und moralisierende Betrachtung durchdringt Tacitus'
Germania, in der AusAvahl und Gestaltung des Stoffes ganz auf die Anti-
these : Natur und Kultur gestellt ist. Die Spätantike leitet dann endlich ihre
Ideale, die ihr noch geblieben sind, und die ganze griechische Geistesarbeit
aus orientalischen Quellen ab und sucht im Osten ihre tiefsten Offenbarungen.
Sie bezeugt damit, dass die Quellen des griechischen Geisteslebens versiegt
sind. Es ist, als fühle sie sich ihres besten Erbes unwürdig und verkaufe
es an den Barbaren.
2 Die Stoa
Den adäquaten Ausdruck für die Weltanschauung des neuen Zeitalters
findet die Stoa. Die Mehrzahl der älteren Stoiker stammt aus dem Osten,
aus einem Gebiete der Völker- und Kulturmischung-. So verbinden von vorn-
herein keine engen Fäden sie mit den national hellenischen Anschauungen
und historischen Traditionen, und diese historische Voraussetzungslosigkeit
macht die Stoa vorzüglich geeignet, die neuen Grundlagen des Daseins theo-
retisch festzulegen. Rationalismus und Dogmatismus ist die Signatur dieser
Philosophie. Dieselbe göttliche Urkraft, physisch und geistig gefasst, durch-
dringt, den Dingen Form und Wesen gebend, das All und ist zugleich das
Gesetz, dem der Mensch sich unterzuordnen hat. Denn auch des Men-
schen Wesen ist Xoyoc wie jene göttliche Kraft, deren Absenker der mensch-
liche Xöycq ist; es wird von der Stoa, die in den Affekten Irrtümer des
Verstandes sieht, rein intellektualistisch gefasst. Der Xoyo;, durch den der
Mensch ein ^öJov xo'.vwvixov ist (so Chrysipp Bd. III S. 43. 76 ff. von Arnim),
ist auch das die Gesellschaft l)ildende Prinzip. Auf ihm beruht die Ver-
bindung aller vernunftbegabten Wesen, Götter und Menschen, zu einer
gi'ossen Geraeinschaft.
Programmatisch steht am Beginn der hellenistischen Zeit eine der ersten
Schriften Zenons, die TioA'.xeia-. In ihr trat noch der Einfluss des unge-
milderten Kynismus hervor, der das Naturgesetz an Stelle aller Menschen-
satzungen stellte und sich das Ziel setzte, die giltige Moral umzuwerten.
An ihn hat Zenon bezeichnenderweise Anschluss gesucht. Der wahre Staat
') Bernays, Theophrastos' Schrift über Frömmigkeit, Berlin 1866. Norden,
Fleckeisens .Tahrb. Suppl. XIX S. 411 ff. DjToff, Zur Quellenfrage bei Lucretius,
Bonn 1904. -) .S. das Verzeiclinis der Fragmente bei von Arnim, Stoicorum
fr. I S. 72 und Crönert in Wesselys Studien VI, Leipzig 1906 S. 53 ff.
Idealisierung der Barl)areii. Zeiious Staatslehre und ihr Fortwirken. 17
ist der Kosmos, in den die einzelnen beschränkten menschlichen köXbk; auf-
zugehen bestimmt sind, seine Bürger sollen alle Menschen sein, gleichmässig
von dem einen göttlichen Gesetze beherrscht. Bürger, Freunde, Verwandte,
Freie sind nur die Guten ; nicht die Bande des Blutes, sondern Tugend und
Gleichheit der sittlichen Interessen bestimmen die Zugehürigkeit zu dieser
Gemeinschaft. Dieser Staat bedarf nicht der Tempel und Götterbilder, die
als das Werk menschlicher Hände der Götter unwürdig sind^, nicht der
Gerichte und Gymnasien, nicht der Ehe und des Familienlebens, auch nicht
des Geldes und der üblichen iyy.uv.Xio;, naioeia.. Und wenn Zenon Männern
und Frauen die gleiche Tracht vorschreibt, so sehen wir, dass vor der in
der Vernunft begründeten Gemeinschaft alle Unterschiede nicht nur des
Standes, sondern auch des Geschlechtes als nichtig betrachtet werden.
Zenon selbst und noch mehr seine Nachfolger haben diese Grundsätze
gemildert und die extremen Konsequenzen abgeschnitten. Aber die Grund-
gedanken des Kosmopolitismus und der Humanität, einer allgemeinen Ver-
brüderung und Versöhnung der Menschheit, eines göttlichen, ins Herz ge-
legten Naturgesetzes, das über die geschriebenen und beschränkten Menschen-
gesetze erhaben ist, haben doch einen sittigenden und erziehenden Einfluss
ausgeübt, me die unendlichen Variationen, in denen sie wiederholt werden -,
beweisen. Durch das läuternde Medium der mittleren Stoa, durch Cicero,
Seneca und die Fülle der uns bekannten und der verschollenen Moralisten
haben sie auf die weitesten Kreise und bis auf die Gegenwart gewirkt.
Mann und Weib, Grieche und Barbar, Freier und Sklave w-erden unter den
allgemeinen Begriff der Menschheit gefasst, und die stoische Predigt der
freilich einseitig intellektualistisch gefassten Menschenwürde hat zur Nivel-
Herung und Ausgleichung der sozialen Gegensätze, hat auch zur Hebung der
Lage der Frauen beigetragen. Der Unterschied von Herr und Sklave ver-
geht vor dem höheren Unterschiede der wahren inneren Freiheit, die sich
in jeder Lebenslage bewähren lässt, und der Knechtung durch die Leiden-
schaften, vor der freie Geburt und auch der Purpur nicht bewahren. Das
schwere Problem der Sklavenfrage, die der antiken Gesellschaft oft als das
furchtbarste Gespenst erschien, wird theoretisch wie im Spiele gelöst, und
die praktische Lösung erübrigt sich auf der Höhe eines Standpunktes, der
an das äussere Glück keine Forderungen stellt und sich in alle gottgegebenen
Schickungen fügt. Aber der lahme und als Sklave geborene Epiktet hat
die Wahrheit der Lehre innerlich erlebt, und die begeisterten Worte, die
ihm und seiner Predigt der wahren Freiheit in dankbarer Verehrung ein
Sklave auf einer Steinschrift in Pisidien ^ geweiht hat, beweisen, dass manchem
der Mühseligen und Beladenen die stoische Lehre wirklich Erhebung und
Frieden der Seele gegeben hat. Und was wichtiger ist, die stoische Moral,
zu der sich die Gebildeten bekannten, hat stark eingewirkt auf die Milde-
rung der Sitten und die Erweichung der antiken Vorurteile im Verhalten zum
Sklaven. Nicht nur Cicero, Seneca, der jüngere Plinius bezeugen es. „Die
Milderungen der Sklaverei durch das Kaiserrecht gehen wesentlich zurück
auf den Einfluss der griechischen Anschauungen zum Beispiel bei Kaiser
Marcus, der zu jenem nikopolitanischen Sklaven wie zu seinem Meister und
Muster emporsah (Mommsen, R. G. V S. 250)"^.
Jene extreme zeuonische Forderung gleicher Tracht der Frauen wird
') Vgl. auch Fr. 266: Die Tugenden der Bürger sind das beste Weihgeschenk.
-) Auf Philon (v. Arnim III S. 79. 80) und auf die Christen haben sie stark einge-
wh-kt. 3) Hermes XXIII S. 542 ff. ^) Material bei A. Schneider, Zur
Geschichte der Sklaverei im alten Rom, Zürich 1892.
Lietzmann, Handbuch z. Neueu Test. I, 2. 2
18 in Kosmopolitismus und Individualismus: 2 Die Stoa
nicht wiederholt. Aber die Gleichberechtigung der Frau wird fort und fort
von der Stoa gefordert, und nicht nur wie von Plato im staatlichen Interesse.
Zahlreiche uns noch erhaltene Traktate fordern für das weibliche Geschlecht
die gleiche Bildung, behandeln die Ehe in dem Sinn einer innigen Lebens-
und Interessengemeinschaft. Auch hier hat die Stoa einer gerechteren Ge-
setzgebung voi'gearbeitet und ihr den Boden bereitet, und die von späteren
römischen Juristen vertretene Auffassung der Ehe ^ ist die stoische. In der
geistigen und sittlichen Lebensgemeinschaft finden sie iliren Zweck, w^ährend
die antike Anschauung ihren Zweck einseitig in der Fortpflanzung des Ge-
schlechtes und der Versorgung des Staates mit Bürgern gesucht hatte.
Zenons Staatslehre vertritt zwar im Gegensatz zum ethischen Atomis-
mus Epikurs energisch die organische Auffassung der Gesellschaft und be-
tont den Geraeinschaftstrieb. Aber es ist doch nicht Zufall, dass er vom
J^wov y.oivcovLxöv im Gegensatz zum aristotelischen uoXotcxov redet. Die For-
men des Idealstaates sind so abstrakt gefasst, und das Ideal schwebt in so
weiter Ferne von dieser Welt, dass die Lehre, in ihrem ursprünglichen Sinne
verstanden, eher den politischen Trieb zu ersticken als zu stärken und die
praktisch politische Tätigkeit auszuschliessen schien, wie sich die stoischen
Schulhäupter auch in der Praxis wirklich von ihr fern gehalten haben. Aber
die abstrakte Fassung gestattete eine Füllung mit konkreterem Inhalt, die
Zweideutigkeit mancher Sätze (z. B. des Satzes TioXctsuaexac 6 aocpo^, der
politische Tätigkeit forderte, aber auch von der philosophischen Arbeit des
Weisen verstanden werden durfte) bot wie auf religiösem Gebiet die Mög-
lichkeit weiterer Akkommodationen. So konnte auf der einen Seite die
mittlere Stoa, die pobtischen Theorien des Plato und Aristoteles aufnehmend
und fortbildend und vom Bilde des römischen Staates beeinflusst, ein posi-
tives Verhältnis zum Staate gewinnen und das politische Denken eines Poly-
bios, Sci])io, Cicero aufs fruchtbarste anregen ; auf der andern Seite konnte
in der Kaiserzeit, wo wieder die kynischen, weitabgewandten Tendenzen her-
vordringen, die stoische Lehre die Unterlage für einen unfruchtbaren oppo-
sitionellen Doktrinarismus hergeben^.
Wir wissen zu wenig von Zenons TZoXizda, um die interessante Frage
nach ihrer psychologischen Genesis erklären zu können, w^enn auch einzelne
Beziehungen auf Plato nachweisbar sind. Ist es ein Zufall, dass die radikale
Theorie die schöne griechische Welt noch unbarmherziger in Trümmer schlägt
als die politischen Katastrophen, deren Augenzeuge Zenon gewesen ist? Ist
ihm die Weltweite seines Kosmopolitismus und seine ideale iizjocXotioXk; auf-
gegangen unter dem Eindruck des Weltreiches Alexanders, das er entstehen
und doch bald wieder in Stücke gehen sah ? Ist seine Polemik gegen aUe
Formen und Voraussetzungen der antiken ttqX'.c; vielleicht bedingt durch die
Katastrophe, die sie in ein grösseres Ganze verschlungen hat? Und ist ihm
die Perspektive des Aufgehens aller Staaten und Nationen in seinen Ideal-
staat eröffnet durch den ähnlichen Prozess, den er erlebt hatte? Wer den
ungeheuren Abstand dieser Theorie von Plato imd Aristoteles zu ermessen
') So z. B. Modestinus (III .Jalirli.) Digesten 23, 2: futpfiae sunt coniiinctio
maris et feminae et consorthnn o?nnis vitae, ilivini et luimaiii iuris coimitunicatio (vgl.
Ihering, Geist des röra. Rechtes II 1 * S. 208. Es genügt z. B. die Stoiker Muso-
nius S. 07 Hense (s. Beilage 4 zu I Cor) oder Hierokles S. 54, 19 von Arnim (beide
heben auch das religiöse Moment hervor) zu vergleichen, um die Annahme, Mo-
destinus stehe schon unter christlichem Einflüsse, als ganz unbegründet abzuweisen.
2) Doch fehlt es auch unter den späteren Stoikern nicht an solchen, die ein posi-
tives Verhältnis zum Staat vertreten; s. Frachter, Hierokles S. 38 ff.
Die Stoa und Alexander. Die Zeit der grossen Persönlichkeiten 19
weiss, wird einen solchen Zusammenhang sehr wahrscheinlich und es be-
greitlich finden, dass Alexanders Taten die Phantasie des Philosophen ebenso
wie die der Historiker angeregt haben. Die Parallele zwischen Alexanders
Weltreich und stoischem Idealstaat ziehen schon die hier sicher von alter
Quelle abhängigen ])lutarehischen Reden De fortuna Alexandri in geistvoller
Weise. Alexanders Bedeutung wird hier auf seine philosophische Bildung
zurückgeführt; aber mit seinen Leistungen hat er alle Philosophen in Schätz-
ten gestellt. Er ist der grosse Erzieher der Völker zu hellenischer Sitte
und Bildung und dadurch der grosse Wohltäter der Menschheit. Als der
gottgesandte ^Mittler und Versöhner vereinte er, wo es die Macht des /oyo^
nicht vermochte, Wattengewalt brauchend, alles zu einem grossen Ganzen,
wie in einem festlichen Krater Leben, Gesinnung, Ehe, Lebensweise der
Völker mischend und sie lehrend, die oixoujjievrj für ihr Vaterland, die Guten
für Verwandte, die Schlechten für Fremde zu halten ', den Unterschied von
Hellenen und Barbaren künftig nur nach Tugend und Sclilechtigkeit zu ;
messen -. So kann das Vermählungsfest in Susa als Symbol der Vereinigung i
der beiden Welten Europas und Asiens gefeiert werden.
3 Individualismus
Der Individualismus ist für die hellenistische Zeit ebenso charakteristisch
wie der Kosmopolitismus, der ihn nicht ausschliesst, vielmehr der geeignetste
Boden ist, auf dem er gedeihen kann. Die Schranken, die bisher durch
Staat, Gesellschaft, Religion dem einzebien gesteckt waren, haben sich ge-
lockert und gelöst. Das Individuum gemnnt jetzt die Freiheit, sich selbst
zu leben. Der Abstand der alten Komödie mit ihrem aktuell politischen
Inhalt vom Milieu der neueren Komödie beweist, wie sich der Lebensinhalt
geändert, die Interessensphäre durch das Zurücktreten der öftentlichen Pflich-
ten des Bürgers verengert hat. In der Fülle privater Vereine sucht jetzt
das Gemeinschaftsbedürfnis einen Ersatz ; dass sich z. B. die Künstlervereine
verschiedener Städte zu umfassenden Verbänden zusammentun, ist eine Neue-
rung, die bei der Zersplitterung des Städtelebens in älterer Zeit nicht denk-
bar gewesen wäre ■'. Seit die Interessen am öffentlichen Leben zurücktreten,
gewännt das häusKche Leben für den Mann eine grössere Bedeutung, und
das kommt auch der Frau zugute. So verschieden die Stellung der Frau
sich hier und dort durch Sitte und Tradition gestaltet hatte — in Sparta und
in Rom war sie stets viel freier als in Athen — beobachten wir doch in hel-
lenistischer Zeit im allgemeinen eine fortschreitende Emanzipation von den
beengenden Schranken altvaterischer Sitte, und die höfische Mode hat die
freiere Entwickelung begünstigt. Die immer tiefere und individuellere Töne
findende erotische Poesie scheint das intensivere und innigere Gefühlsleben
im Verhältnis der Geschlechter wiederzuspiegeln.
Wenn es gewiss zum Teil die besten und gesundesten Elemente
waren, die, der Heimat treu, fern vom Weltgetriebe in idyllischem Da-
sein, wie es später Plutarch so anziehend schildert, ihr Genüge fanden.
') I c. 6. Die zenonischen Farben schimmern hier ebenso durch wie 8 p. 330
DE svög uTrYjXoa Xi^foo xa ^:il yr^g xal [iiäg TroXi-siag, gva Sf^iiov ävO-pcÖT^oog &:zavTag äito-
<pf(Vai ßo'jXöixsvo; .... £15 äv vöp,os äTüav-ag dvd-pcüuoug iTtsßXeT^e y.cü iipbg Sv dixaiov ö)^
Tipö; y.o'.\b\ 5'.qj7.oOv-o cf^S- — Auch der Anklang von I 6 an Onesikritos bei Strabo
p. 715. 716 spricht für eine alte Quelle. -) Anklang an Eratosthenes (s. S. 14),
der 330 A zitiert wird. ^) Ziebarth, Das griechische Vereinswesen S. 192 flf. 71.
2*
20 ni Kosmopolitismus und Individualismus: 3 Individualismus
den Talenten und den ehrgeizigen Naturen öffneten sich jetzt neue Bah-
nen und Aufgaben , die den gesteigerten Wettbewerb der Kräfte heraus-
forderten. Die Zeit der grossen jiolitischen Umwälzungen und Erschüt-
terungen, welche die Völker ergriffen und die Grundfesten der Gesell-
schaft wankend machten, brachte auch in die trägen Massen eine gewalt-
same Erregung und trieb alle, die in den Wirbel der grossen Bewegungen
gezogen wurden, zur Anspannung aller Kräfte. Es ist die Zeit eines ge-
steigerten imd gehobenen Daseins, einer fieberhaften Spannung, wo die Men-
schen mit Einsetzung des ganzen Wesens um Behau])tung und Durchsetzung
der Persönlichkeit ringen und im Kampfe die eminent persönlichen Eigen-
schaften, klare Berechnung des Zieles und energischer Wille, rasche Ent-
schlussfähigkeit und der das Leben leicht aufs Spiel setzende Wagemut, aufs
äusserste entfaltet werden, eine Zeit, die mit ihrem Reichtum an grossen
und glänzenden Persönlichkeiten, freilich auch an Gewaltmenschen und Ver-
brechern grossen Stiles an die Renaissance erinnert: Antipatros und Kassan-
dros, Antigonos und Demetrios Poliorketes, Agatholdes und Pyrrhos, die
beiden ersten Ptolemäer seien genannt als einige der scharf ausgeprägten
und individuell reich entwickelten Persönlichkeiten dieser Zeit, wie sie uns
ähnlich nicht in der älteren griechischen Geschichte, wohl aber in den Zeiten
der untergehenden römischen Republik begegnen. Und daneben eine Reihe
bedeutender Frauen, die durch fein gesponnene Intriguen und durch das
kokette Spiel ihrer Reize jiolitischen Einfluss gewinnen oder selbst in füh-
render Rolle an unbeugsamem Stolz, rücksichtsloser Energie, brutaler Ge-
walttätigkeit den Männern ihrer Zeit nichts nachgeben : Olympias , Kynane
und ihre Tochter Eurydike, die alle drei gelegentlich die Zügel der Regie-
rung ergreifen oder an der Spitze von Truppen marschieren und alle ein
gewaltsames Ende finden, Alexanders viel umworbene, von Antigonos be-
seitigte Schwester Kleopatra, Berenike, Arsinoe und Demetrios' Gattin Phila,
eine Reihe gewalttätiger Frauen des Seleukidenhauses. Vereinzelt treten
jetzt Frauen auch in der Literatur hervor.
Aber diese freie Entfaltung und starke Ausprägung der Persönlichkeit
in den obersten Schichten der Gesellschaft ist doch nur das Symptom der
allgemeinen stark individualistischen Richtung der Zeit. Das Gefühl der Ein-
heit des Individuums mit Umgebung und Welt ist dem Bewusstsein des
Gegensatzes, der Unabhängigkeit und Selbständigkeit gewichen. Es ist die
Zeit der befreiten Individualität, in der die Konsequenzen der mit der So-
phistik beginnenden individualistischen Strömung gezogen werden ; denn die
traditionellen Mächte, die früher der Entfesselung der Subjektivität entgegen
standen, sind jetzt beseitigt oder erschüttert. Von dieser neuen Stimmung,
der Ueberzeugung vom Recht und der Bedeutung der Persönlichkeit ist auch
die hellenistische Philosophie beherrscht. In den Philosoi)hien dieser Zeit
überwiegt das praktisch ethische Interesse, und die Ethik ist individualistisch.
Sie offenbart den Zug zur Isolierung und freien Entwickelung des Indivi-
duums gerade so deutlich, wie die frühere Verbindung von Politik und Ethik,
die Bestimmung des sittlichen Lebensinhaltes durch die Zwecke des Staates
die Gebundenheit des Individuums und seine Abhängigkeit vom Gemeinwesen.
Die stoische Apathie, die epikurische Gemütsruhe, die skeptische Ataraxie
haben alle das gemeinsame Prinzip, dass sie der sittlichen Tätigkeit die
Richtung von der Aussenwelt aufs Innere geben und das sittliche Ideal in
der Unabhängigkeit und Loslösung des Individuums von allen äusseren Lebens-
bedingungen, in der Isolierung von der Gemeinschaft suchen. Am einseitig-
sten hat diese Individualisierung der Ethik Epikur durchgeführt und das
persönliche Wohlbefinden als höchste Norm aufgestellt. Staat und Religion,
Individualismus i. d. Philosophie. Die Persönlichkeit in dei' Literatur 21
Wissenschaft, Kunst, Poesie fällt im Grunde der Konsequenz dieses Prinzips
zum Opfer. ixXuxiov eauxou; ex xoö izspl xa iyxuxXta xa: TioXcxcxa 6£a(jiw-
xrjpi'ou sagt Epikur^ Und wir sahen schon, dass die Stoa das Gemeinschafts-
leben in so abstrakte Sätze fasste und die Forderung der Beteiligung am
Staatsleben durch solche Fülle von Ausnahmen und Klauseln einschränkte,
dass in^ihrer Entwickelung die individualistische Tendenz der sozialen die
Wage hielt. Aber indem von ihr der Mensch ganz auf sich selbst gewiesen
und gelehrt wird, nur in seinem Innern den festen Halt und die Bedingungen
des Glückes zu finden, wird eine der Naivetät des antiken Menschen ganz
fremde Vertiefung des Innenlebens erzeugt, die in der Sorge für die Seele
und in der Beschäftigung mit dem besseren Ich die höchste Lebensaufgabe
sieht, in der peinlichen Beobachtung und Regelung aller Seelenregungen, in
einer methodischen Selbsterziehung aufgeht, die die fortschreitende Annähe-
rung an das sittliche Ideal sich zum Ziele setzt. Diese Richtung auf sitt-
liche Erziehung und Selbsterziehung geht schon von der Paränetik der alten
Stoa aus und ist von stoischen Moralisten auf dem Wege der Predigt, Er-
bauungsliteratur, persönlicher Seelsorge stets gepflegt worden (s. Kap. V). Sie
tritt uns, bereichert durch starke von Plato und Poseidonios ausgehende reli-
giöse Motive in der seelsorgerischen Korrespondenz des Seneca und seinen
drei an Serenus gerichteten Schriften, in der Pädagogik des Epiktet und in
den Selbstbetrachtungen des Kaisers Marcus — und das sind nur einzelne
hervorragende Repräsentanten der Gattung — als ein starker Strom ent-
gegen, der sich mit dem mächtigeren Strom der parallelen christlichen Ent-
wäckelung, die in Augustins Selbstbekenntnissen ihre Höhe erreicht, vielfach
berührt.
Die individualistische Richtung der hellenistischen Philosophie äussert
sich auch darin, dass die stoische, epikurische, skeptische Ethik in der Aus-
malung des Ideales des Weisen gipfelt. Das Ideal soll gewissermasseu per-
sonifiziert geschaut werden. Auf einsamer gottähnlicher Höhe steht, unbe-
rührt von allen äusseren Verhältnissen, von Liebe und Hass der Menschen,
auch von den schwersten Schicksalsschlägen gar nicht in seinem Innern ge-
trofi'en, in unerschütterlichem Gleichmut der stoische Weise da, als gehöre
er zu einer ganz anderen Welt (Seneca Dial. II 15 2). Und weil die recht
schematische Zeichnung des stoischen Bildes des Weisen nicht wirksam ge-
nug war, beschäftigt man sich mit besonderer Liebe mit den wenigen Exem-
plaren, in denen das Ideal verwirklicht war, zeichnet Persönlichkeit und
Leben des Sokrates, Antisthenes, Diogenes nach diesem Muster und stellt
sogar in Herakles und Odysseus, indem man die ethische Umdeutung ihrer
Mythenkreise im Sinne einer in allen Mühen sich bewährenden, die Lust be-
kämpfenden Tugend durchführt, die ältesten Repräsentanten des Ideals dar^.
Noch stärker tritt das persönliche Moment hervor in Epikurs Schide. In
der Person des Meisters sieht die Pietät der Schule schon zu seinen Leb-
zeiten das Ideal verkörpert, und derselbe Trieb zum Kultus der grossen
Menschen, der zur Vergötterung der Herrscher führt, offenbart sich liier in
der religiösen Verehrung dös Schulgründers, dessen Auftreten als göttliche
Epiphanie betrachtet, dem das göttKche Attribut des atoxr^p beigelegt wird.
Der individualistische Zug, der in der Wissenschaft zur Spaltung der
Berufszweige führt, tritt auch in der literarischen Kom])osition bedeutsam
hervor. Die Biographie ist erst in dieser Zeit geschaffen. Die grossen
') Spruchsammlung- Nr. 58, Wiener Studien X S. 196. ^) Ueber die
Entwickelung- der stoischen Lehi-e vom Weisen s. Hirzel, Untersuchungen zu Cice-
ros philosophischen Schriften II S. 273 ff.
22 HI Kosmopolitismus und Individualismus: 4 Realismus
Persönlichkeiten treten jetzt auch in den Mittelpunkt der Historie. Polybios
bekennt sich prinzipiell zu der Ueberzeugung- von der Bedeutung der Persön-
lichkeiten für den Lauf der Geschichte. Bei Sallust, Tacitus und in der
späteren Kaisergeschichte sehen wir die Persönlichkeiten in die beherrschende
Stellung vordringen, Institutionen und Verwaltungsgeschichte, die Bewegungen
der Massen darüber immer mehr vernachlässigt. An scharfe Zeichnung der
Charaktere, psychologische Analyse und Motivierung der Handlungen stellt
man jetzt hohe Anforderungen. Alexanders Persönlichkeit forderte beson-
ders die schon in der Literatur des IV Jahrhunders ausgebildete Kunst der
Charakterisierung heraus ; freilich schuf auch die Rhetorik frühzeitig ein
äusserliches Schema psychologischer Ent\\icldung, nach dem der Stoff will-
kürlich gruppiert und umgestaltet ^\alrde. Die indirekte Art der Charak-
teristik, ^\ie sie z. B. Thukydides geübt hatte, die aus den Taten und be-
sonders den Reden der Helden das Ethos hervorleuchten, aber das absicht-
lich zurückgehaltene Urteil des Autors nur erraten und erschliessen lässt,
wird durch direkte Beurteilung und Charakteristik der handelnden Personen
durch den Historiker verdrängt ^ Und im Gegensatz zu der künstlerischen
Art des Thukydides und Plato, zu der die vornehme und keusche Zurück-
haltung alles Persönlichen gehört, stellt sich die eigene Person des Autors
jetzt ohne jede Scheu dar. Er begleitet die agierenden Personen mit Liebe
und Hass ; er durchsetzt sein Werk mit Urteilen und Reflexionen und lässt
uns in die Werkstatt seines Schaffens blicken ; er äussert sich, besonders in
der Vorrede, auch in Exkursen, über Zweck und Methoden der Geschicht-
schreibung im allgemeinen und über seine besonderen Tendenzen, verteidigt
seinen Standpunkt gegen Vorläufer und Rivalen.
4 Realismus
Individualismus und Realismus sind eng verbunden. So einseitig es
war, das Verhältnis des klassischen Griechentums zur modernen Bildung
unter den Gegensatz von Idealismus und Realismus zu fassen, so stark der
gesunde Wirklichkeitssinn der Griechen auch in klassischer Literatur und
Kunst, sogar mitunter in einer für modernes Fühlen fremdartigen Weise sich
äussert, so ist es doch gerade für den Hellenismus charakteristisch, dass die
typischen und konventionellen Formen der Richtung auf treue und lebens-
volle Nachbildung der Wirklichkeit w^eichen. Im Porträt und im Genre hat
die hellenistische Kunst Grosses geleistet, und die Porträtkunst erlebt noch
in den beiden ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit eine erfreuliche römische
Nachblüte'-. Es scheint, dass in der verschiedenen Art, wie die Künstler
die Aufgabe, Alexanders Persönlichkeit darzustellen, fassen, die alte ideali-
sierende und die neue charakterisierende Richtung der Porträtkunst in einen
bezeichnenden Gegensatz treten. Die neue Richtung, die dem Individuellen
den Vorrang vor dem Typischen gibt, dringt dann siegreich durch ; sie findet
in der jetzt glücklich ergänzten Demosthenesstatue vom Jahre 280 einen voll-
endeten Ausdruck. Wie lebendig stellen uns die Silbermünzen die ersten
Ptolemäer vor Augen ! Und mit welcher Anschaulichkeit und Lebenswahrheit
weiss die hellenistische Kunst Menschen fremder Rasse in ihrer Eigenart
vorzuführen! Dasselbe Streben nach Naturwahrheit beherrscht die genre-
') I. Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschichtschreibung der Alten, Berlin
1898. ■-) Vgl. Michaelis in Springers Handbuch d. Kunstgescliichte I ' (1904)
S. 332 ff. 397 ff. Wickhoif, Die Wiener Genesis S. 20 ff.
Indiviilualisinus, Realismus, Naturalisnius in Kunst niul Literatur. 23
haften Darstellungen. Dass öSatuitreue, Wahrheit, sprechende AehnHchkeit
die Forderungen waren, die man an diese Art der Kunst vor allem stellt,
bezeugen auch die literarischen, in manchen Anekdoten typisch ausgej)rägten
Kunstuvteile ; es sei an Herodas' Frauen im Asklepiostempel erinnert. Feine
genrehat'te Züge geben mythologischen Darstellungen der Kunst und der
Dichtung einen indivualisierendeu Charakter.
Am Beginne dieser Periode stellen als Muster einer dann weit verbreite-
ten Gattung die aus den ethischen Studien des Peripatos herausgewachsenen
Charaktere Theophrasts^ Darstellungen von Charaktertypen, wie Schmeichler,
Prahler, Abergläubischer u. s. w. Der Mensch wird als einheitliche Persön-
lichkeit gefasst, aus deren Ethos wie mit innerer Notwendigkeit Lebens-
formen, Redewendungen, die ganze Art, sich zu geben und darzustellen,
hervorgehen. Eine Fülle von Einzelbeobachtimgen werden mit wunderbarer
Schärfe als Aeusserungen desselben Charakters unter einen Begriff gefasst.
Diese Richtung, den Menschen und die Einheit seines Wesens in der ganzen
Fülle seiner Betätigungen und Einzelzüge zu fassen und darzustellen, hat
die peripatetische Biogra})hie beherrscht, und mit dieser Methode hat An-
tigonos von Karystos, zugleich Künstler und KunstschriftsteUer, seine fes-
selnden Philosophenporträts gezeichnet. Und in derselben Art hat auch
Aristoteles gelehrt, das Völkerleben in allen seinen Aeusserungen als Ein-
heit aufzufassen. Charakterismen von Typen und Individuen spielen in der
moralisierenden Philosophie, in der Historie und in der Rhetorik, die bald
Rezepte dafür aufstellt, eine grosse Rolle. Die Manier artet dann immer
mehr in äusserliche Schablone, öde und mechanische Aufzählung aus. Die
nachchristliche Historie gibt, sogar von homerischen Helden, pedantische,
meist aufs Körperliche beschränkte Personalbeschreibungen, die nach dem
Vorbüde der polizeilichen Steckbriefe abgefasst sind, und derselbe abge-
schmackte Typus begegnet auch in apokryphen Apostelgeschichten.
Eine hohe Kunst individualisierender Charakteristik entfaltet die neuere
Komödie, besonders Menander, in der feinen Zeichnung der Charaktertypen
der kleinbürgerlichen athenischen Gesellschaft. Dieselbe, der Karrikatur sich
nähernde Fähigkeit der Charakterisierung zeigt das stark realistische Possen-
spiel des Mimus, der freilich stets die Welt des Gemeinen und Niedrigen
bevorzugt hat, die höher stilisierten Mimiamben des Herondas mit der Fülle
ihrer lebenswahren Gestalten des Kupplers und der Kupplerin, des Schul-
meisters und des Schusters, der launischen Dame und der faulen Magd; es
ist derselbe auch den Schmutz und die Gemeinheit suchende Naturalismus,
der die Charaktertypen der Kleinkunst auszeichnet. Und dass auch solche
Stoffe künstlerisch geadelt werden konnten, wenn mit dem gesunden Wirk-
lichkeitssinn, mit der Schärfe der Beobachtung und mit der Freude der
Wiedergabe Beherrschung der Kunstforaien, tieferes und verfeinertes Ge-
fühlsleben, ein weiterer geistiger Horizont sich verbanden und den Künstler
über das Niveau der Wirklichkeit erhoben, die er schildert, beweist Theokrit.
Aber der Reichtum des geistigen Lebens und der Kultur des Hellenis-
mus lässt sich nicht in einigen Formeln erschöpfen, die immer nur beson-
ders hervorstechende Richtungen und Stimmungen betonen können. Gerade
die reichere und freiere Ausgestaltung der Lebensformen und Kulturbedin-
gungen, die Fülle geistiger Interessen, neben einander gehender oder wech-
selnder Strömungen, die komplizierte Undurchsichtigkeit des Gefühlslebens
unterscheiden ihn von der früheren Zeit imd nähern ihn der modernen an.
„Die hellenistische Zeit ist ganz und gar anders, kompliziert im Aussen- und
1) Proben in Wilamowitz' Lesebuch n 302.
24 IV Geschichte der Bildungsedeale : 1 Die hellenistische Entwickelung
Innenleben. Lire Seele ist überaus sensitiv, gleich empfänglich für die
•weichste Sentimentalität und den harten Egoismus, für romantische Schwär-
merei imd das Trotzgefühl einer neuen Welt. Sie ist mit einem Worte
modern". .,In dem geistigen Antlitz des Hellenismus sind zwei Hauptzüge,
die miteinander unvereinbar scheinen. Das eine ist die Freude an der Re-
präsentation, dem Pomp und Schmuck, der erhabenen Pose : darin liegt das,
was wir an ihm barock nennen dürfen. Daneben aber steht die intimste
Freude an der weltverlorenen Stille, dem Frieden des engen natürlichen
Kreises, am Feinen, Kleinen. Die Marmorhallen des alexandrinischen Palastes,
der Riesentempel von Didyma imd der rhodische Koloss haben den Freund-
schaftsgarten des Epikuros, die kölschen Landhäuser, in denen Theokrit ver-
kehrt, die Studierzimmer, in denen Kallimachos dichtet und Archimedes
forscht, neben sich. Dem entspricht im literarischen Leben der rauschende
Stil, der am liebsten über die ganze Welt hintönen will, und die Schlicht-
heit, die von der Wahrheit, um die sie ringt, einem empfänglichen Freunde,
man kann auch sagen dem unbekannten nacharbeitenden Kollegen, berichtet,
und das Raffinement des ganz intimen Kunstwerkes. In Wahrheit wurzelt
beides in der befreiten Individualität, die sich je nach den Lebenszielen sehr
versclüeden äussert" ^.
IV
GESCHICHTE DER BILDUNGSIDEALE
1 Die hellenistische Entwickelukg
Die sophistische Aufklärung hatte einst in Athen ein enzyklopädisches
Bildungsideal geschaffen. Schon um im Konkurrenzstreite der Schulen be-
stehen zu können, hatte jeder Lehrer den Anspruch gestellt, in wenigen
Jahren oder gar Kursen seinen Schülern die ganze Bildung, so versclüeden
ihr Begriff und ihre Faktoren, unter denen Rhetorik und Eristik vorherrsch-
ten, gefasst wurden, zu vermitteln. Im Gegensatz zu dem dürftigen Ele-
mentaiimterricht war seitdem das Bedürfnis einer höheren Bildung allgemein
anerkannt. Aber der sophistische Unterricht war zugeschnitten auf die Auf-
gaben des praktischen Lebens und wollte eine Erziehung zur TloXcxcxyj dpsxrj
sein. Dass Plato und Aristoteles trotz der unendlichen Vertiefung ihrer
Forschung erst in Wahrheit ein allumfassendes Bildungsideal aufstellen imd
festhalten konnten, war nur möglich, weil sie die Wissenschaft nicht als eine
in begrenzter Zeit zu bewältigende Summe von Kenntnissen fassten, sondern
als eine Aufgabe, der das ganze Leben zu widmen war, weil sie durch ihren
Unterricht vor allem Forscher bildeten, deren Lebensberuf die Wissenschaft
war, und weü die Gesamtarbeit der Schule die Verwirklichung des Ideales
zu ermöglichen schien, das die Kräfte des einzelnen überstieg. Aber schon
in dieser Periode bereitet der wissenschaftliche Fortschritt die Eraanzipie-
rung der einzelnen Disziplinen von der Philosophie und ihre selbständige Ent-
wickelung vor, und die Schüler des Plato und Aristoteles mit ihren sehr
verscliiedenartigen Neigungen zeigen deutlich die wachsende Tendenz zur
Differenzierung und Spaltung der Wissenschaften. Der Zusammenhalt und
') Wilamowitz, Neue Jahrb. III S. 526 und Kultur der Gegenwart S. 92.
Enzyklopäd. Bildungsideal. Plato und Aristoteles. Blüte d. Fachwissenscli. 25
das einigende Band der Wissenschaften geht in hellenistischer Zeit immer
mehr verloren, und mit der Zurücksetzung der Pliil()SO])hie in Alexandria
fehlt der ]\Iittel])unkt, in dem sie ihre natüi'lichc Einigung hätten iinden
können. Umgekehrt verliert die Philosophie die lebendige Fühlung mit den
FacliAvissenschaften, besonders mit der Naturwissenschaft, verliert damit die
beste Que_ile ihrer Bereicherung und Erneuerung und verzichtet auf die wich-
tige Aufgabe, die Summe der Erkenntnisse ihrer Zeit zu ziehen. Es sind
meist bedenkliche und recht fragwürdige Gebiete, wo die Stoa einen leb-
haften Kontakt mit den Fachwissenschaften behält, Astrologie, allegorische
Homererldärung, später auch Zahlensyrabolik. In der Erneuerung älterer
Spekulationen sucht man eine befriedigende Erklärung der Welträtsel. Wie
die Stoa auf Heraklits Lehre vom Logos und vom Uebergange der Elemente
ineinander zurückgreift, so erneuert Epikur Demokrits Atomistik, und der
Aufbau der Metaphysik ist wesentlich bestimmt durch die praktische Ab-
zweckung des Systems auf die Ethik. Die Akademie entwickelt sich zu
einer Skepsis, welche die Grundlagen aller Wissenschaften mit scharfer Dia-
lektik in Frage stellt und damit das Interesse an ihrer Fortbildung verliert.
Der dogmatische Materialismus Epikurs ist wissenschaftlich so unproduktiv
und unfruchtbar, wie er es zu allen Zeiten gewesen ist. Er ist einseitig
auf den Zweck gerichtet, die natürliche Erklärung der Phänomene sicherzu-
stellen, und er erreicht den Zweck, indem er die physikalischen Lösungsversuche
von den älteren Forschern übernimmt und zur Wahl stellt. Das wissen-
schaftliche Interesse beschränkt sich darauf, die Probabilität der mechani-
schen Erklärung, welcher Art sie auch sei, festzustellen. Das wahre Leben
der Philosopliie pulsiert in der Ethik, und in der Wirkung auf die breiten
Massen erfüllt sie eine grosse Kulturmission (s. Kap. V).
Der Reichtum der sich differenzierenden Lebensformen offenbart sich,
wie auf anderen Gebieten, so in der Wissenschaft in der Teikmg der Be-
rufszweige und Fachwissenschaften. Auch darin gleicht der Hellenismus der
modernen Zeit. Der Komplex und die Sonderung der artes liberales ist ein
Erzeugnis dieser Epoche. Auch im Unterricht zeigt sich die Teilung der
Aufgaben. Der Grammatiker, der Rhetor, der Philosoph lösen sich in der
Heranbildung der Jugend ab ; wer nicht Gelehrter werden will, kostet nur
eben von den Fachwässenschafteu. Wenigstens das ist eine Errungenschaft
der grossen philosophischen Entwickelung in Athen, dass man in der Philo-
sophie die Krone und den Gipfel der höheren Bildung sieht.
Die von der Philosophie emanzipierten mathematischen und empirischen
Wissenschaften gehen jetzt ihre eigenen Wege imd erreichen eine früher
nicht geahnte Vertiefung und Vervollkommnung ihrer Methoden. Mathematik
{EukHd, Archimedes, Apollonios der Bearbeiter der Kegelschnitte) und
Astronomie (Aristarchos' von Samos heliozentrisches System, Hipparch), die
mit mathematisch astronomischen Mitteln ganz neu geschaffene Geographie
(Eratosthenes und Hipparch), Mechanik, Optik, Medizin nehmen einen unge-
heuren Aufschwamg. Im III Jahrh. stehen die exakten Wissenschaften in
Alexandria auf der Höhe ihrer Entmckelung. Was alles später das Mittel-
alter durch arabische Uebersetzungen und die Renaissance dui'ch die neu
entdeckten griechischen Originale an Anregungen von der exakten Wissen-
schaft des Altertums erfahren hat, geht im wesentlichen auf die Errungen-
schaften dieser Epoche zurück.
Sprachliche und literarhistorische Fragen und Probleme hatten beson-
ders seit der Zeit der Sophistik lebhafte Erörterung und in den Philosophen-
schulen eifrige Pflege gefunden. Eine selbständige Wissenschaft wdrd die
Philologie erst in Alexandria. Diese von Alexander ins Leben gerufene griechi-
26 iV Geschichte der Bildungsideale: 2 Reth. u. Philos. im Ka.mpfe um Rom
sehe Stadt stand zunächst ausserhalb der Kontinuität historischer Traditionen.
Keine geschichtlichen Beziehungen verbanden sie direkt mit der älteren
griechischen Geschichte und Kultur. Sollte auf dem hoffnungsvollen Neu-
lande eine eigene Kultur erwachsen, so mussten die Fäden mit der Ver-
gangenheit geknüpft werden. In dieser neuen Welt sah man die ältere
griechische Literatur als einen kostbaren Schatz an, der aber erst gehoben wer-
den musste. Sie erscliloss sich nicht wie die zeitgenössische Literatur ohne
weiteres dem Verständnis. Dialekte und die konventionellen Formen der
Kunstsprache, allgemeine Kulturbedingungen und besondere Lebensverhält-
nisse, aus denen die Produktionen herausgewachsen waren, mussten erforscht
imd das als fremdartig Empfundene verständlich gemacht werden. In zwei-
hundertjähriger eindringender Arbeit hat sich die alexandrinische Grammatik
bemüht, die Schätze der klassischen Literatur zu ordnen, das zum Verständ-
nis der Texte nötige spracliliche, antiquarische, literarhistorische Material
zusammenzubringen, die Texte aus den zuverlässigsten Quellen zu konsti-
tuieren, durch neue Ausgaben die stark verwilderten und verwahrlosten Viü-
gärtexte zu verdrängen.
Gelehrte Forschung und schöne Literatur gehen vielfach Hand in Hand.
Die Forschimg hat freilich mitunter die Poesie auf gelehrte Abwege und in
Künsteleien getrieben, hat die Geltung konventioneller und angelernter For-
men über den natürlichen Ausdruck des lebendigen GefüMs gestellt. Aber
sie hat auch die Poesie aus dem griechischen Legendenschatze mit tiefen
Motiven und romantischen Stimmungen bereichert. Und wo echte dichte-
rische Begabung sich paart mit der strengen Schulung durch das Studium
der alten Kunstformen, entstehen wie in der Elegie imd in der Epigramm-
dichtung mit ihrer Fülle persönlicher und momentaner Stimmungsbilder,
überhaupt in den Ideinern Gattungen der Poesie wahre Kabinettstücke feiner
Kirnst ; an aktuellen Produktionen, die nur aus dem frisch piüsierenden Leben
zu begreifen, aber durch die Kunst geadelt sind, fehlt es nicht.
Die alexandrinische Exegese hat Methoden, Technik, Kommentai'fonnen
geschaffen, die in mannigfachen Abwandlungen und Ausartungen sich auf
immer weitere Gebiete ausbreiten. Es ist eine Kontinuität der Buchformen
und Technik, zum Teil auch der Methode, die sich in der seit dem I Jahrh.
aufblühenden und bald üppig wuchernden Exegese der Schriften der grossen
Philosophen und in der Behandlung der heiligen Schrift durch Philo und
Origenes bis in späte Zeiten fortsetzt.
Es zeugt von dem Ernst, mit dem die wissenschaftlichen Aufgaben
erfasst wurden, dass erst spät aus der Exegese die Grammatik, wie wir sie
verstehen, als System herauswuchs. Wir besitzen in nicht ganz originaler
Gestalt und in vielen Ueberarbeitungen verschiedener Sprachen die griechi-
sche Techne des Dionysios Thrax (um 100 v. Chr.), die in mannigfachen
Verraittelungen bei den Römern, bei denen schon in der ersten Hälfte des
II Jahrh. die griechische Grammatik Eingang fand, fortlebte und von allen
Kiütui-völkeni rezii)iert worden ist.
2 Rhetorik und Philosophie im Kampfe um Rom
VON Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898 8. 4—115. —
Norden, Die antike Kunstprosa, 2 Bde, Leipzig 1898. — Kroll, Cicero und die
Rhetorik, Neue Jahrb. XI S. 681-689 (vgl. Rh. M. LVIH S. 552 ff.).
Die Grenzen zwischen Philosophie und Rhetorik sind jetzt anerkannt,
eine reinliche Scheidung zwischen beiden hat sich vollzogen. Einst hatte
Alexaudi-. Grammatik, Hir Verhältnis ziir schönen Literatur. Schulrhetorik 27
auch die sophistische TratSe-'a, eine Mischung von formaler Redegewandtheit
mit trivialer Ethik und Politik, wenn wir von den speziellen Liebhabereien
einzelner Sophisten absehen, sich als cp'.Xoaocpia geben und dafür gelten
können. Piatos einschneidende Kritik hat für immer die sophistische Rhe-
torik imd Eristik von der wahren Wissenschaft geschieden, die selbstän-
digen Aufgaben der Philosophie festgestellt und den neuen Begriff dieser
über die praktischen Aufgaben des Lebens sich hoch erhebenden Wissen-
schaft zur Anerkennung gebracht. Auch Aristoteles trennt die Rhetorik
(wie die Dialektik) als formale Disziplin von der Philosopliie ; aber sein
scharfer Blick für die Forderungen des praktischen Lebens weiss ihre Be-
deutung zu schätzen. Er bearbeitet, den Anregungen des platonischen
Phaidros folgend, den rhetorischen Stoff nach systematischen und logischen
Gesichtspunkten und nimmt die Rhetorik als Nebenfach in seinen Unterricht
auf. Aber diese zufällige Personalunion konnte nicht hindern, dass die W^ege
der Philosopliie und der praktischen Rhetorik geschieden blieben und in der
weiteren Entwicklung immer mehr auseinander gingen. Wohl wurden im
Peripatos und auch in der gänzlich der Skepsis verfallenden Akademie rhe-
torisch gehaltene Disputierübungen fort imd fort gepflegt und nahmen beim
Herabsinken des wissenschaftlichen Niveaus der Schulen einen breiteren Raum
ein. Wohl erhob die Stoa die Rhetorik sogar zu einem integrierenden Be-
standteil ihrer Philosophie, wenn auch ihre abstrakte, in Definitionen und
Distinktionen auslaufende Behandlung des Faches praktisch uufiiichtbar war
vmd nur das vom Rhetor Hermagoras im II Jahrhundert geschaffene neue
System der Rhetorik mit einigem terminologischen BaUast beschwert hat.
Im Grimde entspricht doch nur die Haltung der epikurischen Schule, welche
die Rhetorik von ihrem Unterrichte ausschliesst imd ihre eigenen Wege
gehen lässt, dem wirklich bestehenden Verhältnis von Philosophie und Rhe-
torik. Denn diese hat in der Tat jetzt ihre eigene, von der Philosophie
nicht beeinflusste Entwicklung. Die praktische Bedeutung der Beredsam-
keit ist freilich durch die neue politische Ent"\%ickkmg ebenso gesimken A\"ie
beim Uebergange der römischen Republik ins Kaiserreich; sie wird durch
die Schulrhetorik abgelöst. In dem kommunalen Scheinleben der Zeit konnte
der Rhetor keine grossen Triumphe feiern. Von parlamentarischen Leistungen
hören wir nichts. Die Gerichtsrede, die im Athen des IV Jahrhunderts zu
einer imnatürUchen Bedeutung aufgebauscht war, tritt jetzt wieder in ihre
bescheidenen Grenzen zurück und gilt dem Rhetor selbst als inferior und
plebejisch. Der Advokat erscheint in der Komödie öfter als komische Figur.
Die pompösen Inschriften der hellenistischen Zeit zeigen, besonders in den
Huldigimgen vor den Herrschern, stark rhetorische Mache und konventionelle
Formen, die einen Einfluss der Rhetorik aiif die Kanzleien erschüessen lassen.
Praxis mid Theorie des späteren py.a'.Ä'.'/.oz aö^oz muss auf hellenistische
Tradition zurückgehen ^ Aber hellenistische Eukomien haben wir nicht,
oder doch nur in Trümmern, imd der Versuch einer Rekonstruktion ilirer
Formensprache aus den Inschriften könnte diesen Verlust nicht decken.
Einen Ersatz für den Untergang der lebendigen Beredsamkeit findet der
Rhetor in den Deklamationen. In pitinkvoUen, alle Reizmittel des Klanges
aufbietenden Vorträgen feiert er seine höchsten Triumphe, berauscht er sich
und seine Hörer. Deklamatorische Schulübungen, deren meist fiktive Themata
uns wenig geniessbar scheinen, sind auch das Liebhngsmittel zur formalen
Bildung der Jugend, die das Hauptfeld der rhetorischen Tätigkeit bildet.
Und für die Ausbildime: des Stiles leistet die Rhetorik, indem sie die fein-
*) S. Wendland, Z(ü-r,p, Zeitschr. für neutest. Wissensch. V S. 343 Anm. 7.
28 rv Geschichte der Bildukgsideale: 2 Rhet. u. Philos. im Kampfe um Rom
sinnigen Beobachtunuen des Aristoteles und des Theophrast über die ver-
schiedenen Stikliaraktere der Prosa, Wortwahl und Periodenbau, Kunstmittel
der Prosa fortführt, Bedeutendes und bildet ein heilsames Gegengewicht
gegen die Ausartung des wissenschaftlichen Stiles in Formlosigkeit und Ver-
unstaltung der Sprache durch terminologische Künsteleien. Und die Be-
deutung der Rhetorik tritt darin hervor, dass der historische Stil immer
mehr ihrem verhängnisvollen Einfluss verfällt, und die mittlere Stoa, die
steifen Formen der alten Schulsprache verlassend, die höheren Ansprüche
des rhetorisch verfeinerten Stiles befriedigt. Als im II Jahrhundert die
griechische Propaganda wie eine gewaltige Flutwelle sich über Rom ergiesst,
tritt in dem Konkurrenzstreite der Bildungsinteressen die Rhetorik als eben-
bürtige Rivalin der Philosophie gegenüber. Nur einige Hauptdaten mögen
die raschen Vorstösse der hellenistischen Bewegung erläutern, die in der
Doppelsprachigkeit der besseren römischen Gesellschaft zu dieser Zeit ihre
Voraussetzung hat. 173 werden die Epikureer Alkaios und PhiHskos aus
Rom ausgewiesen. (167 kommen nach dem Kriege mit Perseus 1000 grie-
chische Geissein, unter ihnen Polybios, nach Rom). 165 erscheint der Per-
gamener Krates als Gesandter in der Stadt und hält dort grammatische Vor-
lesungen. 161 werden die griechischen Rhetoren und Philosophen ausgewiesen.
Ins Jahr 155 fällt die Gesandtschaft der drei Pliilosophen, des Skeptikers
Karneades, des Peripatetikers Kritolaos, des Stoikers Diogenes, deren Vor-
träge den einen die ungeheure Kulturbedeutung, den andern die Gefahr des
Griechentums zum Bewusstsein bringen. Es verschlug wenig, dass der
patriotische Hass des alten Cato gegen das Gift des Griechentums dem
Aufenthalte der Philosophen in Rom ein vorschnelles Ende bereitete. Man
suchte jetzt die griechische Weisheit an deren Quelle, und die vornehme
Jugend eignete sich die höhere Bildung an den griechischen Studiensitzen
in Athen und Rhodos an. Und wenn die Staatsmänner nach dem Osten
gingen, hielten sie es für Pflicht der Höflichkeit, den Pi'ofessoren ihre
Reverenz zu machen und ihre Vorträge zu hören. Und bald setzt auf römi-
schem Boden die Propaganda durch Uebersetzung philosophischer Schriften
ein, die in Ciceros Leistungen ihre Höhe erreicht. „Die Anziehungskraft
des griechischen Wesens ward von den römischen Bürgern wahrscheinlich
nachhaltiger und tiefer empfunden als von den Staatsmännern Makedoniens,
eben weil jene ihm ferner standen als diese. Das Begehren, sich wenigstens
innerlich zu hellenisieren, der Sitte und der Bildung, der Kunst und der
Wissenschaft von Hellas teilhaftig zu werden, auf den Spuren des grossen
Makedoniers Schild und Schwert der Griechen des Ostens sein und diesen
Osten nicht italisch, sondern hellenisch weiter zivilisieren zu dürfen, dieses
Verlangen durchdringt die späteren .Jahrhunderte der römischen Repu-
blik und die bessere Kaiserzeit mit einer Macht und einer Idealität,
welche fast nicht minder tragisch ist als jenes nicht zum Ziel gelangende
politische Mühen der Hellenen. Denn auf beiden Seiten wdrd Unmög-
liches erstrebt: dem hellenischen Panhellenismus ist die Dauer versagt
und dem römischen Hellenismus der VoUgehalt'* (Mommsen, RG V S. 231).
Der Hellenisierungsprozess, der früher mehr zufällig an einzelnen Punkten
eingesetzt hatte und von Literaten besonders gefördert w^orden war, ergreift
im II Jahrhundert das ganze römische Volkstum. Und indem sich der Helle-
nisieiimg ein hoffnungsvolles Arbeitsfeld erschliesst, wird von neuem der
alte Streit um die Bildungsideale, der Gegensatz der Rhetorik und der
Philosophie, der der formalen Praxis des Lebens dienenden und der höheren
geistigen Bildung, mit einer Heftigkeit ausgefochten, als wären die Streiter
sich bewusst gewesen, dass die Herren der W^elt auch über die Zukunft
Hellenisierung Roms. Philosophie und Rhetorik im Kampf um Rom 29
ihres Bildungsideals zu entscheiden hätten. Wir wissen, dass die drei Philo-
sophen jener Gesandschaft Wortführer im Streite gegen die Rhetoren ge-
wesen sind, und wir kennen noch zum Teil die Argumente, mit denen sie
gekämpft haben. Aber der praktisch gerichtete Sinn des Römers, der die
Gewalt der Rede als mächtige Waffe in den politischen Kämpfen längst
schätzen gelernt hatte, bekannte sich zu der die staatsmännischen und red-
nerischen Bedürfnisse befriedigenden Bildungsweise. Der Dilettantismus siegt
über die tiefere Wissenschaft. Pancis philosopUarl blieb römischer Grund-
satz, und nur auf wenige erlesene Geister hat die Philosophie einen tieferen
Einfluss ausgeübt. Die Rhetorik, die jetzt auch philoso})hische Geraeinplätze
gern behandelt, nimmt einen frischen Aufschwung, und mit ihrer neuen
Zielen zustrebenden Entwicldung' wird auch schon die Ausbildung des für
alle künftige Schuldoktrin massgebenden Systems des Hermagoras zusammen-
hängen, das bezeichnender Weise die Gerichtsrede wieder in den Vorder-
grund rückt. Auch Philosophen folgen dem neuen Zuge der Zeit und neh-
men die Rhetorik wieder in ihren Unterricht auf. Und aus dem lebhaften
Streite der Schulen geht als reifste Frucht das vielseitige Bildungsideal
Ciceros hervor, das er, wohl Anregungen eines akademischen Lehrers (An-
tiochos ?) folgend, in seinen Büchern De oratore und im Orator wirkungsvoll
dargestellt hat. Eine die Fachwissenschaften beherrschende und in der Philo-
sophie gipfelnde Bildung soll der Grund sein, auf dem allein die Beherr-
schung der Technik der Rede gewonnen werden und eine Virtuosität der
Rede gedeihen kann, die durch historische Schulung und juristische Schärfe,
Berechnung aller psychologischen Wirkungen und Beherrschung aller logischen
und künstlerischen Mittel die höchste Vollendung, die Harmonie von Ge-
danken und Form, erreicht. Auch die Römer, welche dies Ideal stark auf
sich haben wirken lassen, \\ae Tacitus und Quintilian, haben diese für den
Römer einzige Vielseitigkeit der Bildung nicht mehr erreichen können ; sie
haben das Ideal nur aus der Ferne bewundert, ohne es erreichen zu können.
3 RÖMISCHE Vorherrschaft
Ausser Norden (S. 26) s. Wilamowitz, Asianismus und Atticismus, Hermes
XXXV S. 1—52.
Seit der Mitte des II Jahrhunderts schon gravitiert das geistige Leben
und die literarische Entwicklung auch auf griechischem Gebiete ganz nach
Rom. Die letzte grosse Schöpfung echt griechischen Geistes ist das System
des Stoikers Poseidonios (um 100 v. Chr., vgl. Kap. VI 1), in dem tiefer hi-
storischer Sinn und Fälligkeit für exakte Forschung, spekulativer Trieb und
religiöses Gefühl wunderbar vereinigt sind. So schafft er einen in Philosophie
und religiöser Mystik gipfelnden architektonischen Aufbau der Wissenschaften
und fasst noch einmal den ganzen Ertrag des griechischen Geisteslebens in
einen weiten systematischen Zusammenhang, Nur Origenes hat später ähn-
liches versucht, ohne ihn erreichen zu können. Poseidonios ist, in der Spät-
antike vom Neuplatonismus und von Aristoteles abgelöst, der die nächsten
Jahrhunderte eigentlich beherrschende Geist. Nicht nur die fachwissenschaft-
liche Literatur schliesst sich zum grossen Teil an seine Schriften an und
lebt von seinen Gedanken. Er hat die Ent\\'icklung der Stoa in neue Bahnen
geleitet, Neupythagorismus und Piatonismus hat er aufs stärkste beeinflusst
und, von Plato stark ergriffen, der religiösen Stimmung einen gewaltigen
Ausdruck gegeben, die, in Seneca und Plutarch, im Piatonismus und Neu-
30 IV Geschichte der Bildungsideale: 3 Römische Vorherrschaft
]ilatonismus in wachsender Stärke hervortretend, der Spätantike ihren eige-
mn Charakter gibt, wie er auch direkt und indirekt, z. B. durch Vermitte-
hing Phih^s, die christliche Literatur stark beeinflusst hat. jMan kann den
Khodier Poseidonios den letzten grossen, dem Römertum unabhängig, aber
verständnisvoll gegenüberstehenden Griechen nennen. Schon vorher hatte
Polybios seinen gi'iechischen Landsleuten Roms Grösse und ihre Ursachen
verkündet, nachdem er im Scijjionenkreise mit dem Gedanken der grossen
Kulturmission, die es zu erfüllen hatte, vertraut geworden war. Gleichzeitig
bildet der aus dem rhodischen Freistaat stammende Stoiker Panaitios die
strenge Schuhnoral in weltmännischem Sinne zu einer für die Nobilität be-
stimmten, wirklich lebensfälligen edlen Sittenlehre um, die vom Gedanken
der Humanität getragen ist. In ferne Zeiten hat sein Werk durch das
ciceronische Medium (De officiis) und dessen Christianisierung durch Am-
brosius gewirkt. Auch die Fachwissenschaften werden jetzt von den Griechen
für die Bedürfnisse der Römer bearbeitet; die Forschung tritt immer mehr
hinter der Popularisierung der Wissenschaft zurück ; Breite der Propaganda
und Sinken des ^^'issenschaftlichen Niveaus, rhetorischer Flitter und wissen-
schaftliche Ignoranz gehen Hand in Hand. Wir beobachten einen fortge-
setzten Prozess der Verdünnung, Exzerpierung, Trivialisierung, der sich von
der echten, meist alexandrinischen Forschung zu den uns erhaltenen Hand-
büchern vollzieht. Wir beobachten den Prozess in den doxographischen
und mythographischen Handbüchern, in den Kommentaren, in den lexikali-
schen und literarhistorischen Hilfsmitteln. Grosse Sammelwerke (wde Dio-
dors liistorische Bibliothek zur Zeit des Augustus) entstehen, die ein Surro-
gat für den Reichtum der frülieren Literatur geben und auch wirklich deren
Untergang herbeifüliren, weil sie der geringer gewordenen Bildung des
grossen Publikums besser entsprechen.
Das Bildungsniveau des griechischen Sprachgebietes sinkt, auch die
allgemeine Kultur erfährt im Osten einen Niedergang durch den schon von
Polybios für Griechenland beobachteten Rückgang der Bevölkerung, durch
die römischen Annexionen und die ihnen voraufgehenden Kriege, durch die
Miss^^irtschaft der römischen Oligarchie und die schweren Verwüstungen der
mithradatischen und der Bürgerkriege. So erklärt es sich, dass Rom, nach-
dem es sich hellenisiert hat, in der schönen Literatur die Führung über-
nimmt und dem Griechentum den Vorrang abläuft. Der Kompromiss zwischen
Hellenismus und römischem Wesen hat zu einer inneren Einigung, zu einer
neuen geschlossenen Kultur geführt, die es der Persönlichkeit ermöglicht,
sich selbständiger darzustellen und freier zu bewegen. CatuU und Cicero,
Horaz und Vergil, Tacitus haben in der gleichzeitigen griechischen Literatur
nicht ihresgleichen. Mit dämonischer Kraft gibt Augustus seiner Zeit auch
geistig ein einheitliches Gepräge (vgl. VII 2) ; alle die Welt beherrschenden
Stimmungen und Strömungen gehen von Rom aus. Schon in jenem erneu-
erten Kampf um die Bildungsideale hatte Rom den Ausschlag gegeben und
der den praktischen Bedürfnissen des Lebens dienenden rhetorischen Bildungs-
weise zum Siege verhelfen. Und wenn auch die folgenreiche attizistische
Bewegung ihre griechischen Vorläufer gehabt haben muss, für uns wird sie
erst kenntlich und zur Macht ist sie erst geworden in den literarischen
Kontroversen und Stilerörterungen der letzten Jahre Ciceros, wo der um
Cäsar sich sammelnde Kreis die Forderung der Nachahmung attischer Muster,
speziell des schlichten Stiles, als dessen Hauptrepräsentant Lysias erscheint,
erhebt, Cicero dieser Bewegung sein vielseitiges und überlegenes Ideal einer
alle Nuancen des Stiles beherrschenden Redekunst entgegenstellt (Orator,
Brutus). Griechische Repräsentanten der attizistischen Bewegung lernen wir
Anpassung- d. «iriecli. Lit. au d. röni. Interessen. Ueber^ewiclit d. yihn. Lit. 31
erst unter Augustus in Dionysios von Halikarnass und Cäcilius kennen, und
sie schreiben den Sieg ihrer auch von Augustus begünstigten Richtung dem
Einfluss des weltbeherrschenden Rom 7,u. Aber dieser scheinljare Sieg
konnte nicht hindern, dass schon unter Augustus durch den Einfluss lielle-
nistischer Rhetorik ein neuer Modestil aufkam, der im Gegensatz zu cicero-
nischem Periodenbau sich in kurzen, zerhackten Gliedern bewegte, durch
scharf pointierte, epigrammatische Sentenzen und abgezirkelte Antithesen,
durch alle Reizmittel des sprachlichen Klanges und sangartigen Vortrages
zu wirken suchte. Die Zuwanderung hellenistischer Rhetoren, das Ueber-
wuchern deklamatorischer Uebungen (vgl. S. 27), die mit ihren gesuchten,
abenteuerlichen Themata die Unnatur des Stiles herausforderten, die Kon-
kurrenz der Rhetoren, die sich durch Steigerung der Mittel zu überbieten
und auszustechen suchten, haben diesen forcierten und manierierten Stil ge-
fördert, von dem uns die rhetorischen Memoiren des älteren Seneca reich-
liche und unerquickliche Proben mitteilen, und der durch den Philosophen
Seneca seine künstlerische Ausgestaltung gewonnen hat. Folgenschwer lastet
jetzt auf der römischen Geistesentwicklung die Einseitigkeit formal rheto-
rischer Bildung, die den Rückhalt, den sie in Cicero an einer umfassenden
Geisteskultur besessen hatte, verliert. Die Rhetorik wird die herrschende
Macht im geistigen Leben und in der literarischen Produktion. Sie unter-
wirft sich die Geschichtsschreibung, die als ein opus Oratorium gilt und dem
Zwecke dienen soll, alle Mittel rhetorischer Virtuosität zu entfalten; be-
schränkte sich doch die historische Bildung, die man beim Rhetor aufnahm,
darauf, dass man die Geschichte als Exempelsammlung seinen Zwecken füg-
sam zu machen wn,isste. Sie schafft eine Popularphilosophie, die aus philo-
sophischen Problemen rhetorische Prunkstücke gestaltet. Sie durchdringt,
nachdem sie selbst stark in die Sphäre der poetischen Sprache eingegriffen
und das früher so feine Gefühl für die Grenzen der Stilgattungen erstickt
hat, alle Gebiete der Poesie. Alle Mittel der Rhetorik hat Ovid in die
Poesie eingeführt, Persius und Juvenal haben dann die Satire, Lucan das
Epos rhetorisiert.
Aber eine Reaktion gegen diesen sich erschöpfenden Modestü war
unausbleiblich. Deutlich tritt sie, wohl die nie ganz ausgestorbenen atti-
zistischen und klassizistischen Tendenzen aufnehmend, uns unter den Flaviern
in dem erfreulichen Buche des nüchternen Quintilian entgegen, der den zer-
rissenen, effektvollen Stil des Seneca verwirft und die Rückkehr zu Cicero,
d. h. zu einer natürlichem Sprache und zum kunstvollen Periodenbau predigt.
Aus der klassizistischen Richtung ging dann, auch durch antiquarische For-
schung schon länger vorbereitet, seit Hadrian eine ausgesprochen archaistische
Strömung hervor. Sie sucht ihre Muster in der vor Cicero liegenden Lite-
ratur und produziert einen aus allen möglichen Redefloskeln, Reminiszenzen,
Altertümeleien zusammengesetzten buntscheckigen Stil, dessen abschreckend-
stes Muster uns der Rhetor Fronto, Marc Aureis Lehrer und Freund, gibt.
Diese rückwärts gewandte Ent\\dcklung, in der sich das in dieser Zeit oft
ausgesprochene Bewusstsein des Epigonentums und der Dekadeuce ausdrückt,
erweitert die Kluft zwischen lebender und literarischer Sprache. Die auf
ein künstliches Sprachniveau gehobene Literatur ist den befruchtenden Be-
rührungen mit der volkstümlichen Sprache entzogen, ihrer Wirkung auf
weitere Kreise beraubt. Das Berufsliteratentum hat es dahin gebracht, dass
die Literatur, die in der Republik das natürliche Erzeugnis und der Wider-
schein des \%drklichen, öffentlichen und privaten Lebens war, jetzt eine Welt
für sich bildet, ein gesondertes, von der Wirklichkeit entferntes Leben führt.
Seit der Mitte des III Jahrhunderts versiegt sogar die schöpferische Produk-
32 IV Geschichte der Bildungsideale: 4 Zweite Sophistik
tion der Jurisprudenz. Nur die Christen bringen in die stockende literarische
Produktion neue Bewegung und frisches Leben.
4 Zweite Sophistik
S. die Literatur S. 29 und Rohde, Griechischer Roman S. 311 ff., Kleine
Schiiften 11 75 ff. — Hatch, Griechentum und Christentum, deutsch von Preu-
schen, Freiburg 1892.
Die griechische Entwicklung läuft nicht völlig parallel, aber sie führt
doch zu einem ähnlichen Ziele. Wohl leben freiere hellenistische Stilrich-
tungen fort imd wirken in dem tiefen Ethos und der Sprachfülle des Autors
Ilepl ü^ouc. und des Plutarch, auch des Juden Philo erfreulich nach. Helle-
nistische Wörter, Formen und Wendungen mischen auch unbewusst und un-
freiwillig diejenigen ein, die reines Attisch zu schreiben sich vorsetzen. Aber
der ]Modestil Roms hat keine griechische Parallele. Die griechische Ent-
■wicklung ist gradliniger und gravitiert entschieden nach dem Attizismus, und
Dionysios (S. 31) hat mit seinen triumphierenden Worten über dessen Sieg
Recht behalten. Das neue, an der Vergangenheit orientierte StiHdeal, das
die literarische Sprache um mehrere Jahrhunderte zurückschraubt, dringt
"«-irklich durch. Es schafft den bis in die Gegenwart fortdauernden ver-
hängnisvollen Dualismus zwischen der Sprache der Literatur und der des
Umganges, die tiefe, vmüberbrückbare Kluft zwischen Bildung und Volkstum.
Die Sprache der Bücher ist jetzt nichts weniger als der natürliche Ausdruck
des Gedankens. Sie ist das Produkt künstlicher |i.:'[j.rpc?, archaisierender
Studien, zusammengelesen aus literarischen Reminiszenzen, bald auch mit
Hilfe von Sprachreinigern geflickt und gestoppelt. Dabei entwickelt sich
auch hier der Attizismus zum Teil zum geschmacklosen Archaismus, indem
die Grenzen der Stilgattungen überschritten und ohne Scheu auch poetische
Ausdrücke und Wendungen, weil sie attisch sind und in den Lexika standen,
von manchen Autoren reichlich eingestreut werden. So trägt die ganze
Literatur dieser Richtung den Stempel des Gemachten und Künstlichen; der
Attizismus hat alles getan, über sie eine unerträgliche Oede und Langeweile
zu breiten. Und diese Literatur ist uns in breiten Massen erhalten, während
der Attizismus den Untergang der hellenistischen Literatur herbeigeführt
hat, die vor seinen einseitig stilistischen Masstäben nicht bestehen konnte.
Die Rhetorik ist die grosse Beherrscherin auch der griechischen Lite-
ratur. Sie verwüstet die Prosagattungen, die sie annektiert hat ; sie infiziert
nicht nur die Poesie, sondern im Grunde rottet sie sie aus — Nonnos und
seine Schule schaffen erst wieder Beachtenswertes — ; denn sie proklamiert,
wie einst Gorgias und Isokrates getan hatten, mit vollem Bewusstsein den
Konkurrenzkampf mit der Poesie, welche sie durch die Vielseitigkeit ihrer
Produktionen in Schatten stellen und überflüssig machen will.
Etwa seit Vespasian wird die literarische Produktion der Griechen
wieder lebendiger und vielseitiger, um schliesslich der versiegenden römischen
Literatur den Rang abziüaufen. Das Schwergewicht des römischen Reiches
neigt seit Hadrian nach dem Osten, und der Gegensatz der beiden Reichs-
hälften verschärft sich auch in der Sprache und Bildung. Unter dem viel-
gepriesenen Frieden der Kaiserzeit und den straffen Formen der Verwaltung
erholt sich der Osten langsam von den Leiden und Verwüstungen der repu-
blikanischen Zeit (S. 8. 30), von den bitteren Enttäuschungen, die das republi-
kanische Regime ihm gebracht hatte. Die Ausbildung der Gemeindeverfassung
unter kaiserlichem Regimente ermöglicht den Städten freiere Bewegung, der
Zweite Sophistik. Einseitig stilistisches Ideal 33
Sinn für die kommunalen Interessen belebt sich. Das Selbstbewusstsein der
Griechen steifet ; sie fühlen sich wieder als Träj^er der Kultur, als geistige
Herren der Welt und meinen gar, überlegen auf römische Barbaren, ihre
Sprache und Kultur herabsehen zu dürfen'. Die Rhetorik steht im Mittel-
punkt der geistigen Interessen. Man pHegt diese neue mit Vespasian beginnende
rhetorische Entwicklung mit dem Namen „Zweite Sophistik" zu belegen nach
dem Vorgange ihres Geschichtsschreibers Philostrat, der sie willkürlich an
die erste Sophistik anknü})ft. Smyrna und Athen, seit dem IV Jahrhundert
Antioclüa imd Konstantinopel, treten in dem rhetorischen Treiben als Füh-
rerinnen hervor, an dem aber jedes Städtchen, das Anspruch auf Bildung
erhebt, sich irgendwie beteiligt. Ausser der aufsteigenden EntAvicklung der
Kultur und den Antrieben der attizistischen Bewegung wirken noch beson-
dere Ursachen zur Förderung dieses Bildungsstrebens mit. Die Gunst der
Kaiser, besonders der Athen mit Wohltaten überhäufende Philhellenismus
Hadrians, schafft dotierte Professuren der Rhetorik. Die Kommunen und
reiche Private folgen dem von oben gegebenen Beispiele. Die Hebung des
öffentlichen Schulwesens und Vermehrung der Anstalten für höheren Jugend-
unterricht bedeuten vor allem Hebung des rhetorischen Betriebes. Die Teil-
nahme der Vornehmen und aller, die gebildet heissen wollen, an rhetorischen
Vorlesungen und Schaustellungen wird Modesache. Den Intelligenzen öffnet
sich ein hoffnungsvolles Arbeitsfeld. Die Konkurrenz der rhetorischen Schau-
stellungen und Produktionen, der Brotneid und Streit der Meister und ihres
Gefolges führen zu einer Agonistik, die das Publikum vielfach mit derselben
Leidenschaft wie die Zirkusspiele erfüllt. Das Feld der Betätigung der
rhetorischen Kräfte ist ein recht mannigfaltiges. Die Gerichtsrede und der
Knabenunterricht fällt den Unbedeutenderen zu. Die Grösseren pflanzen
als Lehrer ihre Zunft fort. In öffentlichen gefeilten Prunkreden oder in
extemporierten Stegreifreden, deren Thema sie aus dem Publikum sich stellen
lassen, feiern sie ihre Triumphe. Der äussere Pomp des Auftretens und der
stark modulierte Vortrag unterstützt alle die längst erprobten Kunstmittel
der Rede, mit denen sie das Ohr ihrer Hörer bezaubern. Einem Volke, das
über gar keine rhetorische Tradition verfügt, ist es recht schwer, die Wir-
kung dieser Kunstmittel, die alle auf den lebendigen Vortrag berechnet
sind und die man an der Beredsamkeit der romanischen Völker noch heute
studieren kann, sich lebendig zu machen. Es ist keine blosse Phrase, wenn
diese Rhetoren, wo sie von dem Seelenzustande dieser Produktion uns
Rechenschaft ablegen, wie G. d'Annunzio in die Sprachsphäre des Enthusias-
mus, der Inspiration und Ekstase greifen müssen.
Je mehr dieses rhetorische Treiben in den Mittelpunkt des geistigen
Lebens tritt und alle höheren Interessen in unnatürlicher Weise absorbiert,
um so höher steigt die soziale Stellung der rhetorischen Professoren und
ihr massloses Selbstgefühl, von um so hellerem Glänze sind die Koryphäen
umstrahlt. Die Sophisten haben die führende RoUe im kommunalen Leben,
oft zum Heüe ihrer Vaterstadt — denn der alte Bürgersinn lebt wieder auf
und äussert sich in hochherziger Liberalität — , öfter zur Befriedigung ihrer
eigenen Eitelkeit. Mit Vorliebe werden sie wie früher die Philosophen zu
diplomatischen Missionen verwendet und haben die ehrenvolle Aufgabe,
Kaiser und Vornehme in pomphaften Reden zu begrüssen. Es ist ein ebenso
') Zeugnisse bei Peter, Die geschichtliche Literatur über die römische Kaiser-
zeit I S. 26. 6, Heinze De Horatio Bionis imitatore, Bonn 1889 S. 10 ff. Sehr cha-
rakteristisch ist Apollonios' Aerger über die römischen Namen bei Philostrat, vita
ApoUonii IV 5 (L. Hahn, Rom und Romanismus S. 157. 158).
Ijietzmann, Handbuch z. Xeuen Test. I, 2. 3
34 IV Geschichte der Bildungsideale: 4 Die zweite Sophistik
beweintes rhetorisches Treiben -w^ie im Athen des IV Jahrhunderts v. Chr., und
dennoch ist der Abstand ein gewaltiger. Dort die aus dem Leben heraus-
gewachsene Beredsamkeit der Volksversammlungen und Gerichte, hier eine
künstlich gezüchtete Rhetorik, die sich in der Scheinwelt fingierter Dekla-
mationen bewegt und alle Akte des Lebens mit dem unnötigen Pompe der
Phrase und mit lärmendem Pathos umkleidet; wir haben nur zu viel von
Theorie und Praxis jeder Art von Gelegenheitsreden.
Was war nun der Ertrag dieser fieberhaft gesteigerten rhetorischen
Produktion"? Man hat es wirklich in der künstlerischen Gestaltung der
Rede, in der Reinheit des Stils und in der [xiixrpi^ erstaunlich weit gebracht,
und die stilistischen Leistungen eines Aristides von Smyrna (II Jahrh.) und
die unendliche Mühe mid Arbeit, die sie voraussetzen, müssen wir bewundern.
Als zweiter Demosthenes T;vird er gepriesen und ist auch in der Stiltheorie
der würdige Vorläufer des für die folgenden rhetorischen Lehrbücher mass-
gebenden Hermogenes gewesen. Es gibt sogar Virtuosen des Stiles, die mit
chamäleonartiger Wandlungsfähigkeit in verschiedenen Stilgattungen und
Dialekten schreiben. Aber der wesentliche Erfolg der Bewegung ist, dass
das Bildungsideal sich verengert zum Stilideal. Das dem Griechen ange-
borene Gefallen an der schönen Fonn überwuchert das Interesse am Gedanken.
Nicht um der Sache ist es dieser Schönrednerei zu tun, sondern der Stoff,
auch der höchste, ist nur das Mittel, an ihm die Formkünste zu entfalten.
Phrasenreichtum und Gedankenleere gehen Hand in Hand. Dass man sich
bewusst ist, in der klassischen Literatur das köstlichste Erbe einer grossen
Vergangenheit zu besitzen, ist von den heilsamsten Folgen gewesen. Aber
man beraubt sich ihrer besten Wirkungen und ihres reichsten Ertrages,
indem man an sie die einseitig stilistischen Masstäbe des „reinen Attisch"
anlegt, das ein Phantom der Studierstube ist. Dionysios hat weder die
poesievolle Einleitung des Phaidros noch den dithyrambisch schwungvollen
Stil seiner zweiten Sokratesrede geniessen und in ihrer künstlerischen Voll-
endung begreifen können. Er übt an Plato eine völlig schulmeisterliche
Kritik, und die Rezepte, nach denen er sein verunglücktes Geschichtswerk
komponiert hat, hält er dem Thukydides mit nörgelnder Kritik als die
Normen vor, nach denen er Besseres hätte leisten können. Und so geschickt
und merkwürdig die ausgedehnte Polemik des Aristides gegen Plato und
seine Verteidigung der Rhetorik ist, sie beweist doch seine Unfähigkeit, in
die Gedankenwelt des reichsten Geistes des Altertums einzudringen und
Ideale zu begreifen, die diese Welt und die Scheinwelt der Phrase hinter
sich lassen. Die schöne Form und die stilvolle Gestaltung und Ausbildung
der Rede ist jetzt Inbegriff und Grundlage der Bildung. Diese formale
Bildung ist die Vorbereitung für jede öffentliche Tätigkeit \ und die Jugend
der besseren Familien geht durch die Schulen, die diesem Bildungsideale
luüdigen. Petronius hat schon in seinem Sittenroman (c. 1) an diesem
Lehrbetriebe die schneidendste Kritik geübt. Die pathetischen Deklama-
tionen, sagt er, „wären erträglich, wenn sie nur denen, die zur Beredsam-
keit gelangen sollen, den Weg weisen wollten. Nun bringen sie's mit dem
Schwulst der Dinge und dem ganz leeren Phrasengeklingel nur dahin, dass
sie, wenn sie aufs Forum kommen, sich in eine ganz andere Welt versetzt
fühlen. Und darum, glaube ich, werden die Jünglinge in der Schule ver-
dummt, weil sie nichts von dem hören und sehen, was in dieser Welt vor-
geht, sondern von Seeräubern, die mit Ketten am Ufer bereit stehen, von
Tyrannen, die durch Edikte den Söhnen befehlen, ihren Vätern die Köpfe
») Vgl. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht S. 189 ff.
Stilideal. Allgemeine reaktionäre Strömung 35
abzuschneiden, von Orakelsprüclieu für die Pestilenz, dass drei oder mehr
Jungfrauen geopfert werden sollen, honigsüsse Reden, Worte und Sachen
wie verzuckert und geölt. Die damit gross gezogen werden, können so
wenig klug sein, wie die gut riechen können, die in der Garküche wohnen.
Nehmts mir nicht übel, ihr vor aUcm liabt die Beredsamkeit zugrunde ge-
richtet. Denn indem ilir mit leerem und eitlem Wortschwall euer Spiel
treibt, habt ihr bewirkt, dass der Leib der Rede entkräftet wurde und ver-
fiel Die erhabene imd so zu sagen keusche Rede ist nicht bunt-
scheckig und nicht geschwollen, sondern erhebt sich in natürlicher Schönheit.
Kürzlich erst ist die aufgeblasene und abgeschmackte Geschwätzigkeit aus
Asien nach Athen gCAvandert und hat den auf das Hohe gerichteten Sinn
der Jugend gewissermassen mit verderblicher Ansteckung erfüllt, und nach-
dem einmal das Ideal verdorben war, hat die (wahre) Beredsamkeit aufgehört
und ist verstummt. Und wer hat schliessKch den Ruhm eines Thukydides
und Hypereides erreicht? Nicht einmal ein vernünftiges Gedicht ist hervor-
getreten, und nichts konnte zur rechten Reife kommen, da alles von der-
selben Nahrung wie übersättigt war." Gilt auch diese Kritik, soweit sie
stilistisch ist, dem S. 31 gezeichneten Stile, so trifft sie doch, was sittliche
Hohlheit, eitle Anmassung und Unterdrückung der andern Bildungsinteressen
angeht, auch auf die zweite Sopliistik vöUig zu ^.
Es wäre freilich ungerecht, zu verkennen, dass die Interessen der zweiten
Sophistik nicht auf den Sftl beschränkt sind. Aber alle ihre Bestrebungen
ordnen sich jenem höchsten Interesse unter und werden dadurch in falsche
Bahnen gelenkt. Die archaisierende Richtung geht über die attizistische
Stilbewegung hinaus und ergreift und erobert sich weitere Gebiete. Sie
schafft ein an der Vergangenheit orientiertes romantisches Ideal. Sie er-
strebt auf allen Kulturgebieten, in Sprache und Literatur, Religion und
Kunst, Sitte und Lebensformen die Wiederbelebung der Vergangenheit, in
der sie ihre Ideale verwirklicht sieht. Sie fördert vor allem die seit dem
II Jalirh. deutlich wahrnehmbare Steigerung und Vertiefung des reUgiösen
Lebens. Aber auch diese Religiosität ist künstlich gemacht; sie -«-urzelt
nicht im Leben, sondern in der Vergangenheit. Sie steht dem Volkstum
fremd gegenüber, weil sie stark ästhetisch imd literarisch ist, das Glied einer
wesentlich aus Bücherstudien gewonnenen Weltanschauung, deren Ziel die
Repristination der Religion und die künstliche Belebung alter Glaubens- und
Kiütformen ist. Sie gleicht auch darin der modernen Romantik, dass sie
sich in stark stilisierten, oft fast theatralischen Formen äussert (Aristides'
'Ispol Aoyoi). Und selbst die neuplatonische Philosophie und Religion, die
schönste und reinste Blüte, welche die reaktionär religiöse Entwickelung
schliesslich hervorgebracht hat, ist zu sehr ästhetisch orientiert, zu sehr
belastet mit dem ganzen Erbe der griechischen Literatur- und Kulturent-
wickelung, zu einseitig berechnet auf diejenigen, die spekulieren und philo-
sophischen Exerzitien sich widmen können, um im Volkstum Boden gewinnen
und im Kampfe mit der jugendfrischen, in ungebrochener Kraft aufstreben-
den christlichen Religion bestehen zu können. Die tote Last der Vergangen-
heit drückt auf diesem Geschlechte, erstickt jede vorwärts strebende Ent-
wickelung und ruft das Gefühl des Niederganges- hervor.
Mit Recht hat man gesagt, dass das Griechentum zum Teil am Kultus
der schönen Form zugrunde gegangen ist. Mit viel Liebe und erstaunlichem
l
>) Vgl. die Kritik Plut. De ratione audiendi 7 p. 41 D, 9. -) S. z. B.
Seneca, Columellas,Vorrede, Gellius Hl 10, 11, Cyprian Ad Demetrianum 3 und die
von Hirzel bei Gardthausen, Kaiser Augustus 11 3 S. 882 augeführten Stellen.
3*
36 1^' Geschichte der Bildungsideale: 4 Die zweite Sophistik
Fleiss hat man die Form fiepflep:t und verschönt, gedrechselt und gefeilt;
darüber hat man endlich den Gehalt verloren und den Geist vergessen. An
Keaktionen liat es freilich so wenig gefehlt wie an Nebenströmungen. Dass
das formalistische Bildungsideal sich die Welt erobern konnte, ist wesentlich
darin begründet, dass es an dem heilsamen Gegengewichte der Fachwissen-
schaften und der Philosophie fehlte ; beide Momente hängen übrigens auch
mit einander zusammen. Von Poseidonios zu Seneca und dem älteren Plinius,
dessen Nachfolgern und Excerptoren, vollends zu Isidor ist über viele Etappen
ein fortgesetztes Sinken der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und des
Sinnes für exakte Forschung selbst bei denen, die für Kenner gelten, zu
beobachten ; Kuriositätensammlungen nehmen den Platz der fachwissenschaft-
lichen Literatur ein. Und wenn Ptolemaios (II Jahrh. n. Chr.) uns gross
erscheint und seine Zeit wirklich überragt, so wissen wir jetzt, dass seine
Bedeutung wesentlich auf der verständnisvollen Benutzung alexandrinischer
Forschung beruht und sein System eigentlich gar nicht seinen Namen ver-
dient; und dass er dem astrologischen Wahngiauben gehuldigt hat, steht
durch den sicher erbrachten Nachweis der Echtheit der Tetrabiblos fest.
Wir dürfen ihm das nicht einmal zum Vorwurf machen ; denn der Glaube
ist damals allgemein, und seine einzigen Gegner, die Skeptiker, sind alles
andere eher als Kulturträger und Vertreter des wissenschaftlichen Geistes.
Für sie ist die Polemik gegen die Astrologie nur ein Glied in der Kette
der Auflösung aller Wissenschaften und der Bestreitung ihrer Möglichkeit.
Auch Galen ist uns nicht mehr der bahnbrechende Forscher, als den ihn
das Mittelalter gepriesen hat; wesentlich auf der zuverlässigen Darstellung
des Wissensstandes seiner Zeit und der verständigen Verarbeitung der älteren
Forschungen beruht sein Verdienst; an Traumorakel und Wunderheilungen
des Asklepios glaubt er, und sein Reklaraebedürfnis verschmäht nicht den
Nimbus des Wunderniannes. Die Mathematik wendet sich in bedenklicher
Weise der Zahlensymbolik zu. Die Verbreitung der Skepsis im II Jahrh.
n. Chr., für die Lucian und die für ihre Zeit glänzenden Schriften des Sextus
Empeirikos zeugen, ist auch ein Symptom der Unfruchtbarkeit und Verödung
des tieferen geistigen Lebens.
Proteste gegen die einseitige Ueberschätzung der Form sind beson-
ders von den Philosophen erhoben worden (Norden S. 376 ff.). Aber viel
hatte die Philoso})hie ihrer Zeit nicht zu sagen, und wenn wir vom Neuplatonis-
mus absehen, Neues nicht zu bieten. Die fruchtbare Berührung mit den
Fachwissenschaften hatte sie verloren, und sie laborierte teils am einseitigen
Zuge zur philologischen Forschung, teils am Moralisieren. Seit der Er-
neuerung der aristotelischen Lehrschriften durch Andronikos (I Jahrh. v. Chr.)
ging die in der Berliner akademischen Ausgabe der Comraentaria in Aristo-
telem uns so anschaulich vor Augen tretende Betriebsamkeit der peripateti-
schen Schule in sachlicher und sprachlicher Exegese der Schriften des
Meisters auf. Die Erkenntnis dessen, was der Meister gemeint hat, die sie
wirklich, auch für uns, auf mannigfache Weise gefördert haben, interessierte
diese Ei)igonen viel mehr als die Erkenntnis der Wahrheit überhaupt. Auch
die Produktion der ])latonischen Schule bewegt sich, selbst nach dem Auf-
schwünge der S])ekulation durch Plotin, überwiegend in Interpretation der
Schriften des Meisters, und der neue Kommentar zum Theätet (Berliner Klas-
sikertexte II 19U5) offenbart ihre auffallend frühe Ausartung in traurigen Scho-
lastizismus. Für Peripatos und Akademie gilt, was Seneca (Epist. 108, 23) sagt:
quae philosnphia fuil, facla philnlofiia est. Der seit dem II Jahrh. v. Chr. in
allen Schulen wahrnehmbare Eklektizismus ruft diese Reaktion der pliilologi-
schen Richtung und Quellenforschung hervor. Und ähnlich lauten selbst für die
Verfall der Wisseiiscluiiten. Versiegen der Philosophie 37
Stoa Epiktets Klagen (lluiulbuch 49, vgl. die in Schenkls Ausgabe ange-
führten Parallelen): „Wenn einer prahlt, dass er Chrysipps Bücher verstehe
und erklären könne, so sage bei dir selbst: Wenn Chrysipp nicht unklar
geschrieben hätte, so hätte der Mensch nicht, wessen er sich rühmen könnte.
Ich aber, was will ich? Die Natur erkennen und ihr folgen. So frage ich
nun: Wer ist ihr Exeget? Und wenn ich höre: Chrysipj), gehe ich zu ihm.
Aber icli verstehe seine Worte nicht; so suche ich dafür einen Exegeten.
Und bis dahin habe ich noch nichts Bewundernswertes geleistet. Finde ich
aber den, der mir die Worte klar macht, so bleibt mir noch übrig, die
Lehren zu befolgen. Das ist das einzig Bewundernswerte. Eifere ich aber
nur der Vollkommenheit des Exegeten nach, was bin ich dann anderes als
Grammatiker geworden, nicht Philosoph? Der einzige Unterschied ist, dass
ich statt Homer Chrysipp erkläre." Durch Marc Aureis Gründung staat-
licher Lehrstühle für die vier Philosophenschulen in Athen und die Nach-
folge, die das Beispiel bei andern Kaisern und Gemeinden fand, scheint
diese antiquarische Richtung der Philosophie nur gefördert zu sein. Dass
sie mit der Rhetorik nicht konkurrieren konnte, ist klar. Sie blieb dem
Markte des Lebens fern, auf die Schule beschränkt. Die Vorlesungen wurden
von den Studierenden belegt und gehört. Sie waren ein Mittel der Geistes-
zucht neben andern. Den geistigen Lebensinhalt konnten sie der Seele
nicht geben.
Aber konnte das nicht die philosophische, besonders die stoische
Moral? War sie nicht ein bedeutendes Gegengewicht gegen die Macht der
Phrase? War die Stoa nicht durch ihre Massenpropaganda, wie sie von
Strassen- und Wanderpredigern, durch Traktate und Volksbücher ausgeübt
w'urde, einer heilsamen Gegenwirkung gegen die Herrschaft der Rhetorik fähig ?
Wer Epiktet und Marc Aurel zu seiner Erbauung zu lesen gewöhnt ist und
sie auf sich hat einwirken lassen, wird solchen Einfluss nicht ableugnen.
Gewiss hat die Stoa Grosses geleistet für die Erziehung der Menschheit,
die Verbreitung der Gedanken der Humanität und allgemeinen Menschen-
würde, für die Hebung des allgemeinen sittlichen Niveaus (s. S. 16 if.). Aber
nicht alle Moralisten stehen auf der reinen Höhe eines Epiktet, der was er
sagt auch innerlich durchlebt hat und darum die ans Herz greifenden Töne
findet, und dabei äussert er sich doch über den Erfolg seiner Unterweisung
recht pessimistisch. Die Schriften nicht nur des Lucian und der Satiriker sind
erfüllt von Klagen über Philosophen, die ihren Beruf als Gewerbe treiben,
durch äusserlich auffallendes Gebahren, kynische Manieren, kapuzinerhafte
Tiraden Aufsehen erregen und Hörer finden wollen. Die Sippe der Salon-
pliilosophen und Schürzenjäger, Schmarotzer und Bettelphilosophen, Schreier
und Goeten diskreditiert auch die wenigen, die des hohen Namens würdig
sind. Und auch aus einem anderen Grunde konnte eine wirkliche Erneuerung
und Vertiefung der Sittlichkeit von der stoischen Predigt nicht ausgehen,
"s\de wdr ja auch sehen, dass der Neuplatonismus die Stoa völlig in Schatten
stellt. Die Mittel rein moralisierender Predigt sind bald aufgebraucht, und
nachdem man sie fünf Jahrhunderte angewendet hatte, waren sie erschöpft
und vernutzt. Eine Moral, die sich zu speziellster Kasuistik entwickelt und
die Pliilosopliie zur „Lebenskunst", den Philosophen zum Erzieher herabge-
drückt hat, zeugt damit selbst von dem Mangel tiefer sittlicher Motive und auf
das Innerste des Menschen wirkender Kräfte. Geflissentlich betonen diese Plii-
losophen, \%ie gering und leicht fassbar doch die Quintessenz der Philosophie sei ^
1) Seneca, Ep. 38, 1 ; Epiktet I 20, 14 ; Bouhöfifer, Epiktet und die Stoa, Stutt-
gart 1890 S. 6 ff.
38 IV Geschichte der Bildungsideale: 5 Schulwesen
Vollends gegen die Macht der Rhetorik konnte diese Predigt nicht aufkommen.
Sie war selbst meist stark infiziert von der Rhetorik. Wohl ging der Streit
zwischen Philosophen und sophistischen Rhetoren hin und her; aber die
Grenzen beider Gattungen waren doch fliessend, und wir wissen nicht, wo
wir einen Dio Chrysostomos oder Maximus Tyrius passender einordnen. Was
die philosopliischen Schönredner an Moralplätzen zu geben hatten — die
Wiederkehr fester Fonnen und Schemata zeigt, wie äusserlich es oft ange-
lernt war — , hatten die Sophisten ihnen auch abgelernt, und sie meinten,
es besser machen zu können. So ist denn wirklich der Wohlklang der Rede
und die schöne Phrase das Erbteil des Griechentums, das am längsten ge-
dauert hat, das die Spätantike eigentlich beherrscht, ja ihren Untergang
überlebt hat.
5 Schulwesen
Die Masse der literarischen Produktion und die Ausbreitung der Bildung
in hellenistischer Zeit Hessen von selbst voraussetzen, dass der starke Bildungs-
trieb der Zeit eine Verbesserung auch des Elementarunterrichtes und des
Schulwesens herbeigeführt haben müssen, wie sich ja der höhere Unterricht
seit der Zeit der Sophistik neue Formen geschaffen hatte und später der
Staat die Pflege und Förderung der Wissenschaft als seine Aufgabe erkannt
hatte. Erziehungs- und Unterrichtsprobleme stehen in der Tat, seit Plato
und Aristoteles ihre fundamentale Bedeutung erkannt und ihnen in ihrer
Staatslehre einen so breiten Raum gegönnt haben, im Vordergrunde des
Interesses. Die Literatur, die diese Fragen behandelte, muss sehr ausgedehnt
gewesen sein. Und wenn wir auch nicht viel mehr als Titel ^ haben, so
können uns doch auch hier die auf ältere Quellen zurückgehenden Schriften
der römischen Zeit einen Ersatz geben'-. Plutarchs Schrift über Kinder-
erziehung und Quintilian, auch Tacitus' Dialogus und die Reste des varroni-
schen Loghistoricus Catus de liberis educandis erfreuen durch den sittlichen
Ernst und den Reichtum fruchtbarer Gedanken, die uns vielfach ganz modern
anmuten und auch wirklich heutzutage oft als neueste Weisheit gepriesen
werden. Der Grundstock dieser Gedanken über Erziehung ist durch neuere
Quellenuntersuchungen ^ auf eine Schrift des Chrysii)p zurückgeführt worden.
Aber auch in der Praxis des Erziehungs- und Unterrichtswesens fehlt
es nicht an Fortschritten. Die 338 beginnende RestaurationspoHtik Athens
führt zu einer Reform des Ephebeninstitutes, die uns jetzt durch Aristoteles'
Athenerstaat genauer bekannt ist, und viele hellenistische Inschriften zeugen
für das Interesse an der Organisation der Ephebenerziehung. Nach einigen
Zeugnissen der Inschriften aus verschiedenen Jahrhunderten zu schüessen,
scheint öÖentliche Organisation oder Ueberwachung des Schulwesens in
hellenistischer Zeit die Regel gewesen zu sein^. Polybios"' muss Grund
>) S. Grasberger, Erziehung und Unterriclit im klassischen Altertum 11 S. 10 ff.
-) Vgl. Prächter, Die griechisch-röniische Popularphilosopliie und die Erziehung,
Progr. Bruchsal 1886. ^) Zu dem Resultate sind unabhängig von einander
Gudeman, Taciti dialogus, Boston 1894 S. XCIX— CHI und Dyroff, Die Ethik der
alten Stoa, Berlin 1897 gelangt; vgl. von Arnim, Stoicorum fragmenta UI S. 183.
184. ■») S. z. B. Dittenberger, Sylloge 306. 523 (vgl. Mommsen R. G. V S. 349).
552, 30. 60. 619, 43, Inschriften von Priene 112, 74. 113, 28. 114, 21 und Ziebarth
in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft XIX S. 307. ^) Be-
zeugt von Cicero De republica IV 3.
Schulwesen. Popularisierung der Philosophie 39
gehabt haben, der Regelh)si^keit des römiselieu Juf^endunterrichtes gegen-
über an die besseren griechischen Ordnungen zu erinnern. In Rom kümmerte
sich der Staat um die Schulen nicht. Sie waren im Westen ganz der pri-
vaten Betriebsamkeit überhissen und wurden vielfach von Sklaven oder
Freigelassenen versehen. Auch an Hauslehrern, besonders griechischen, fehlte
es nicht, während die alte Sitte, dass die Söhne den Elementarunterricht
vom Väter em])fangen, immer mehr schwindet. Der Staat hat in der Kaiser-
zeit nur für die Organisation des höheren Unterrichtes Bedeutendes gelei-
stet, und die grösseren Gemeinden sorgten später für Lehrer der Bered-
samkeit ^ Aber das allgemeine Interesse für die Fragen der Erziehung
und Bildung ist ein sehr lebendiges, das Bewusstsein ihrer Bedeutung wird
oft sehr lebhaft ausgesprochen. Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Er-
ziehung und eines gründlichen Unterrichtes auch des Weibes wird oft aus-
führlich begründet (Frachter S. 6), Erlernen des Lesens und Schreibens wieder-
holt für alle Menschen gefordert'^.
DIE PHILOSOPHISCHE PROPAGANDA UND DIE DIATRIBE
Teletis reliquiae ed. Hense, Freiburg 1889. — Wilamowitz, Der kynische
Prediger Teles, Philol. Unt. IV, Berlin 1881 S. 292—319. — Heinze, De Horatio
Bionis imitatore, Bonner Diss. 1889 (s. auch Heinze, Rh. M. XLV S. 197 ff. und
Gercke, Rh. M. XLVni S. 41 ff.). — Eichenberg, De Persii satirarum natura at-
que indole. Breslauer Diss. 1905. — Schuetze, Invenalis ethicus, Greifswalder Diss.
1905. — Weber, De Senecae pliilosophi dicendi genere Bioneo, Marburger Diss.
1895. — Norden, In Varronis saturas Menippeas, Jahrb. Suppl. XVIII (s. auch Hense,
Rh. M. LXI S. 1 ff.). — Musonii reliquiae ed. Hense, Leipzig 1905. — Wendland,
Quaestiones Musonianae, Berlin 1886. — Ders., Philo und die kynisch-stoische
Diatribe (= We. und O. Kern, Beiträge zur Geschichte der griechischen Philo-
sophie und Religion), Berlin 1895. — Prächter, Hierokles der Stoiker, Leipzig
1901. — Einen Teil von Hierokles' etliischer Prinzipienlehre (Berliner Pap. 9780)
und seine bei Stobäus erhaltenen Traktate hat von Arnim ediert, Berliner Klassi-
kertexte IV 1906. — Bernays, Lukian und die Kyniker, Berlin 1879. — Martha,
Les moralistes sous l'empire romain^, Paris 1872. — Hirzel, Der Dialog, 2 Bde,
Leipzig 1895. — Helm, Lucian und Menipp, Leipzig 1906.
1 Geschichte der Diatribe
Einst hatten Plato und Aristoteles einen aristokratischen Zirkel auser-
lesener Jünger in ihre Philosophie eingeweiht und auch in den Schriften,
die für ein weiteres Publikum bestimmt waren, sich doch wesentlich an die
Kreise der höchsten Intelligenz gewendet. In der hellenistischen Zeit nimmt
die Philosophie vielfach ein demokratisches Gepräge an. Neben der stiUen
1) S. 0. S. 33. 37, Friedländer Sittengesch. I 315 ff. und Ausgabe des Petron,
Leipzig 1891 S. 50 ff. '-) S. z. B. Sextus Emp. p. 610, 6 B.
40 V Die philosophische Propaganda: 1 Geschichte der Diatribe
Arbeit der Schulen geht, besonders in der Stoa, eine ProiJ.iganda her, die
sich an die Massen wendet. Die Nivellierung der Gesellschaft, das steigende
Bildungsbedürfnis, die Richtung der Philosophie auf die ethischen Grund-
wahrheiten und die praktischen Lebensfragen, die hohe Vorstellung der Stoa
von ihrem erzieherischen Berufe, der in dem Begrifife der allgemeinen
Menschenwürde und in der Betonung der sozialen Pflichten begründet war,
erklären die Ausdehnung der Propaganda. Schon Sokrates hatte auf dem
Markte im lebhaften Verkehr mit schlichten Bürgei'n und Handwerkern seine
Erfahrung bereichert, hatte jede Begegnung zum Anlass einer das Nach-
denken über sittliche Fragen anregenden Gesprächführung genommen und
es als seine Mission aufgefasst, jedermann zur Selbstprüfung und Besinnung
auf den tieferen Sinn seines Lebens und Treibens zu nötigen. Diese Seite
der sokratischen Traditionen pflanzt sich durch die Vermittelung des Kynis-
mus in die hellenistische Welt fort und findet dort die eifrigste Pflege. An
breiter Oeffentlichkeit vollzieht sich die Wirksamkeit des Kynikers Diogenes,
des ersten der Bettelphilosophen. Er wirkt vor allem durch das Beispiel
und stellt dem Menschen das Ideal der Bedürfnislosigkeit und Abhärtung,
des naturgemässen Lebens leibhaftig vor Augen. Die äussere Erscheinung
schon ist ein lauter Protest gegen alle Formen der herrschenden Sitte, sie
wiU dem Verständnis der Masse in eindrücklicher Form die Richtung der
Gedanken andeuten, in der sich die neue Lehre bewegt. Der Inhalt dieser
Lehre, die Verwerfung aller äusseren Güter, in denen die Menschen, vom
Scheine getäuscht, die Bedingungen des Glückes sehen, die Anerkennung
der Tugend und der aus ihr fliessenden unerschütterlichen Seelenruhe als des
einen Gutes, die Nichtigkeit der Ziele, denen die Menschen nachjagen, vor
dem einzig würdigen Lebensziele, der Sorge um das Seelenheil, die Zurück-
führung der komplizierten Lebensformen einer von Traditionen und Kon-
ventionen belasteten Kultur auf die Einfachheit des Naturzustandes, dieser
Inhalt ist so einfach und leicht fasslich, wie die Formen und Anwendungen,
in denen er zum Ausdruck kommt, mannigfaltig sind. Denn alles Tun und
Treiben der Menschen, die ihnen selbstverständlichen und zur zweiten Natur
gewordenen Gewohnheiten und Sitten geben dem Kyniker beständigen An-
lass, die falschen Werte in ihrer Sinnlosigkeit und Vernunftwidrigkeit auf-
zudecken und ihnen die wahren Werte gegenüberzustellen. Volkstümlich ist
die Art, wie die Aeusserungen herauswachsen aus der Beobachtung des
Nächstliegenden und aus ganz aktuellen Anlässen, volkstümlich die dem Ge-
dächtnis sich leicht einprägende, scharf [)ointierte Fassung des Apophthegma
mit ihren durch den Grundsatz der Umwertung der Werte von selbst sich
aufdrängenden Antithesen und Wortspielen, volkstümlich die Vorliebe für
plebejische Sprache und derbe Vergleiche. Diese Bonmots sind hervorge-
gangen aus dem die ganze Lebendigkeit des griecliischen Temperamentes
widerspiegelnden Verkehr von Person zu Person, im Augenblicke imjjro-
visiert und nur auf Augenblickswirkung berechnet. Aber diese Wirkung
war eine so zündende, dass frühzeitig dieser mündliche Verkehr sein Abbild
in der Literatur fand. Die Schüler sammelten, was sie selbst von den
Meistern gehört und was die Tradition ihnen bot, immer neue Bearbeitungen
bereicherten den Stoff und führten ihn weiter aus. Die lose aneinanderge-
fügten Worte wurden zum Teil geordnet nach sachlichen Rubriken oder
auch nach Szenen : Diogenes bei den Räubern, Diogenes auf dem Sklaven-
markt, Diogenes und Alexander, Diogenes in Olympia. Neuer Stoff wuchs
zu, indem die berühmtesten Namen die sich mehrende Fülle kursierender
Kemworte anzogen ^ Das Bonmot wurde dann nur noch zum Ausgangs-
') Unsere Hauptquellen sind die meist aus solchen Apophthegmensammlungen
Formen der kynischen Propaganda. Bion, Teles, römische Satire 41
punkte oder zur Illustration t'iut'r brcitert'n Ausführunjj,- der Situationen und
Gedanken benutzt, wie sie für die Diogenestraditionen z. B. Dio Chry-
sostomos gibt. Die Entwickelung und das Wachstum dieser Literaturgattung-
aus ihrer urs})rünglic'h gar nicht literaiischen Grundlage hat die schlagend-
sten Parallelen an der UeberlietVrung des Evangelienstoflfes, nur dass hier
die religiöse Pietät die Traditionen früh konsolidicit und vor weiteren Ent-
stellungeiT durch üi)i)ig wuchernde Foi-tbildung und Umbildung bewahrt hat.
Philosophen anderer Schulen bewegen sich bald in denselben volks-
tümlichen und in ihrer Wirkung erprobten Formen. Bion von Borysthenes
(um 280) bildet sie fort zu einem höchst effektvollen Vortrage, indem er
den Kynismus mildert, durch Berührung mit andern Philosoi)henschulen den
Gesichtskreis erweitert, die Kunstmittel der hellenistischen ]\Ioderhetorik
wirkungsvoll verwertet. Die grösste Lebendigkeit, sich überstürzende
Fragen, fingierte Einwürfe der Gegner vmd Antworten, Einführung personi-
fizierter Abstraktionen, Bevorzugung lose aneinander gefügter Glieder vor
periodischem Satzbau, alle jene volkstümlichen Mittel vmd rhetorischen Pointen
kennzeichnen den Stil der neuen Gattung, der Diatribe. Sie ist das stili-
sierte Abbild der Formen, in denen die philosophische Propaganda auf die
Massen wirkt, wie der platonische Dialog den Schuldialog und seine er-
zieherischen Wirkungen idealisierend darstellt. Sie ist die Abart und Aus-
artung des Dialoges, der in ihr nur noch rudimentär fortlebt, weil der zu
der ungebildeten Menge redende Prediger bei ihr nicht die Fähigkeit zu
lebendiger Teilnahme am Gespräche findet, wie der Philosoph im engen
Kreise seiner Jünger, und darum selbst den Gedanken, Vorurteilen, Ein-
wendungen der Laien Ausdruck geben und sie ihnen gewissermassen vom
Gesicht ablesen muss.
Wir kennen Bion nur aus späteren Zitaten, die die Eigenart seines
starke Effekte suchenden Stiles deutlich widerspiegeln. Eine Vorstellung
von der Anlage seiner Diatriben ermöglichen uns sechs noch erhaltene Ver-
träge des Kynikers Teles (um 250), die als moralphilosophische Traktate
publiziert sind. Sie sind unter dem starken Eindrucke des bionischen Vor-
bildes entstanden, und für die glücklichsten Pointen und Vergleiche wird
Bion wiederholt als Quelle zitiert. Der unbedeutende und unselbständige
Nachahmer ist für uns wdchtig als Vertreter der Gattung, als einer der vielen
in der Reihe dieser ephemeren, ebenso schnell vergehenden wie sich immer
wieder erneuernden Produktionen.
Die Kette der griechischen Ueb erlief erung, aus der uns zufällig das
eine GKed erhalten ist, reisst dann für uns ab, bis die römischen Nach-
bildungen uns die griechischen Originale zu ersetzen beginnen. Der zufällige
Bestand des uns Erhaltenen darf über die zusammenhängende Kontinuität
und das ununterbrochene Fortleben der Formen nicht hinwegtäuschen.
Ausdrücklich bezeugt Cicero die Existenz zahlreicher popularphilosophischer
Traktate, und wir wissen auch, dass solche Themata in den Rhetorenschulen
zur Uebung behandelt wurden; Horaz setzt den Typus des Moralpredigers
und seiner Schriftsteller ei als- bekannt voraus und polemisiert gegen mehrere
Repräsentanten der Gattung (Wendland, Beiträge S. 6. 63. 64). Er selbst
führt in den bunt gemischten Inhalt der römischen Satura auch philosophi-
sche Themata ein und behandelt sie zum Teil in engem Anschluss an grie-
chische Vorlagen, wie manche uns erhaltene griechische Paralleltexte beweisen.
U
kontaminierten Kynikerbriefe (I Jahrh. n. Chi\) und Diogenes Laert. VI. Erheb-
lich höher hinauf führen die Diogenes-Anekdoten eines Pap. des I Jahrh. v. Chr. ;
s. Crönert in Wesselvs Studien VI S. 49 ff.
■12 \' I^lK PHILOSOPHISCHE PROPAGANDA: 1 GESCHICHTE DER DiATRIBE
Der leichte Gesprächston, welcher der Diatribe und der Satire gemeinsam
war, knüpfte dies ganz natürliche Band, das auch die weitere Entwickelung
der Diatribe wesentlich bestimmt hat. Denn nach Form und Gehalt hängen
auch die Satiren des Persius (um 60 n. Chr.) und des Juvenal (um 100)
aufs engste mit der Diatribe zusammen. Die Art der Vermittelung zwischen
beiden Gattungen ist eine gar mannigfaltige. Die Geschichte der einzelnen
Themata und Motive lässt sich oft durch Jahrhunderte verfolgen, aber
Quellenuntersuchungen, die auf bestimmte Namen auslaufen, führen hier nicht
zum Ziele, weil sie nicht mit unzähhgen ims verlorenen Mittelgliedern rechnen.
Der Typus der horazischen Satire hat auf Persius und Juvenal stark ge-
wirkt. Von beiden wissen wir, dass sie durch die Schule der Moderhetorik
(S. 31. 35) durchgegangen sind, die ein später römischer Sprössling jener hel-
lenistischen Rhetorik war, die schon den Bion beeinflusst hatte. Auch diese
Moderhetorik, die jene Stilmittel, die vnr schon bei Bion und Teles beob-
achteten, lebendig erhalten hatte, behandelte popidarphilosophische Themata.
Und Persius selbst schildert in der schönsten seiner Satiren (V), was er der
engen Lebensgemeinschaft und der Innigkeit des Verkehres mit dem Stoiker
Cornutus, seinem Lehrer, zu verdanken habe. — Wenn Horaz selbst Epist.
II 2, 60 die Diatriben des Bion als sein Vorbild nennt, so "will er nur einen
besonders berühmten und typischen Repräsentanten der Gattung nennen.
Uebernommen hat er nachweislich auch manche Gedanken des Aristipp und
des Ariston, die der Art des Bion verwandt sind ; und bestimmt hat ihn zu
dieser Bereicherung der Satire mit Diatribenstoifen gewiss vor allem das
dauernde Fortleben dieser Gattung, deren Bedeutung ihm die Aufgabe nahe
legte, sie durch dichterische Verklärung in eine höhere Sphäre zu heben.
Die mancherlei Kanäle, durch die ihm die alten und immer wieder neu aus-
geprägten Gedanken der Diatribe zugeführt sind, aufzufinden, müssen wir
verzichten, zumal die Wirkung des lebendigen Wortes auf diesem Gebiete
nicht zu unterschätzen ist.
Der Grundton und die hervorstechende Farbe der gesamten Schrift-
stellerei des Philosophen Seneca ist der Diatribenstil. In das sittliche Pathos
dieses Stiles lässt Seneca mit Vorliebe auch die physikalischen Erörterungen
der Naturales quaestiones auslaufen, den Brief hat er fast ganz der Herr-
schaft dieses Stiles unterworfen. Auch hier hilft uns Teles wesentlich, die
Genesis des Stiles Senecas bis in die hellenistische Rhetorik zurückverfolgen
zu können. Aber auch hier ist keine direkte Verbindung anzuknüpfen,
sondern es sind mannigfache Vermittelungen durch die jüngere Diatribe und
durch die den Weg der Philosophie so vielfach kreuzende und an den alten
Stoffen sich versuchende Schulrhetorik, welche die stilistische Entwickelung
Senecas in ihrer Richtung bestimmt hat, anzunehmen.
Die Diatribe ist in ihrer anfänglichen kynischen Gestalt eine eigen-
artige Mischung von Ernst und Scherz, ein echter Repräsentant der kyni-
schen Gattung des aTCODOa'.OYsXotov, das skurrile Element tritt ursprünglich
stark in ihr hervor. Von diesem Zuge war beherrscht die seit Diogenes
üppig wuchernde und in verschiedenen Gattungen sich versuchende parodische
Poesie der Kyniker, auch sie ein Erzeugnis jener Kontrastwirkungen gegen
die geltenden Grössen, die der Kynismus auf allen Gebieten suchte, und mit
der Diatribe in Stimmung und Motiven nah verwandt. Wir haben noch
interessante Reste solcher Parodien und Tiacyvoa^ Und auch hier gibt uns
wieder eine römische Nachbildung, Varros mit der Diatribe sich vielfach be-
rührenden Saturae Menippeae, und daneben Lucian eine Vorstellung einer
0 Wachsmuth, SUlographi^ S. 68 ff.
Seiieca, kyuische Parodie, spätere Diatribe. Volkspredigt 43
Art dieser kynischen Dichtimg', der aus Versen und Prosa gemischten Satiren
des Menippos von Gadara (um 280).
Die Stilformen der alten Diatribe treten später nur in den von Arrian
mit so musterhafter Treue wiedergegebenen Gesi)räclien Epiktets und auch
bei Plutarch stärker hervor. Philo und Musonius in seinen von Lucius aufge-
zeichneteji Gesprächen vertreten zuerst einen neuen Typus des populären
Traktates, der sich trotz aller Abhängigkeit von der älteren Entwickelung
stilistisch scharf von der alten Diatribe scheidet. Uebersichtliche Disposition,
systematische Ordnung der Gedanken, breite und doktrinäre Darlegung, ge-
rundeter Periodenbau, Entfernung oder Milderung jener grellen Lichter und
starken Effekte, Zuiiicktreten des dialogischen Elementes sind die unter-
scheidenden Merkmale. Wie die alte Diatribe die lebhaft bewegte, tem-
peramentvolle, prickelnde Beredsamkeit der hellenistischen Zeit, so zeigt die
junge den gleichmässigen Fluss der attizistischen Rhetorik. Dieser Ueber-
gang der Diatribe in die zusammenhängende Predigt oder Abhandlung wird
es auch erklären, dass 0'.o(.xp'J^!], b'AXz^ig, otaXoyo;, o[v.lia immer mehr den
ursprünglichen Sinn der Wechselrede verlieren und die allgemeine Bedeutung
des Vortrages oder der Abhandlung annehmen. Durch die ruhige Haltung
des lehrhaften Vortrages verliert die Diatribe den besonderen Reiz jenes
Stiles, der auch trivialen Gedanken durch originelle Fassung und konkrete
Einkleidung ihre Wirkung sicherte. Die wiederholte Behandlung immer
gleicher Themata führt zur Ausbildung konventioneller Formen und stereo-
typer Gemeinplätze, zu bestimmten Gedankengruppierungen, welche die Pro-
duktion auf diesem Gebiete vielfach recht eintönig gestalten. Sehr lehrreich
ist in dieser Hinsicht die weitgehende Uebereinstimmung zwischen Philo und
Musonius, die sich nur aus der Kontinuität der Tradition erklären lässt.
Durch Wärme und Wahrheit des Gefühls, Reichtum der Erfahrung,
Originalität der Formen überragt die grosse Schar der Moralisten Dion
Chrysostomos, der als echter Wanderprediger die Grundsätze der kynisch-
stoischen Etliik in Städtereden, bei den Barbaren, am Hofe verkündet hat.
Die weitere Entwickelung, in der Maximus (II Jahrh.), Themistios, auch
Libanios und Julian (alle IV Jahrh.) besonders hervortreten, ist durch den
wachsenden Einfluss des Piatonismus und die Herrschaft der Rhetorik be-
stimmt. Die theologische Predigt sehen wir bei Aristides und Julian neben
die ethische treten.
2 Bedeutung der philosophischen Propaganda
Für den Fortschritt des philosophischen Denkens hat die Diatribe
nichts zu bedeuten, und so bringen ihr denn auch die Historiker der Philo-
sophie, deren Zweck w^esentlich auf die Darstellung des Gedankenzusammen-
hanges der Systeme gerichtet ist, ein geringes Interesse entgegen. Um so
grösser ist die kulturgeschichtliche Bedeutung der Diatribe und der philo-
sophischen Massenpropaganda, aus der diese Literaturgattung herausgewach-
sen ist. Weit mehr durch das lebendige Wort als durch die Schrift hat
diese Propaganda Grosses geleistet für die Volksaufklärung, die sittliche Er-
ziehung der Menschheit, die Anerkennung fester sittlicher Grundbegriffe. Es
ist nur ein Symptom der mehr in die Breite als in die Tiefe gehenden Ent-
wickelung der Philosophie, dass die Historiker Polybios, Diodor, Tacitus,
der Geograph Strabo, Dichter wie Vergil und Horaz einen philosophischen
Untergrund für ihre Stimmungen suchen — auf ein System darf man sie
darum nicht festlegen — , dass Lukrez Epikurs Lehre und Manilius Astro-
44 V DiK i'iiii,080i'm.sc'HK Propaganda: 2 JiinK Bedeutung
logie und stoische Schicksalslehre in Verse fassen, dass philosophische Flos-
keln in Grabschriften und im Alltagsf^ekritzel sich breit machen. Ein ge-
wisses Gemeingut philosophischer Gedanken bestimmt das Durchschnitts-
niveau der Bildung". So unerfreulich manche Begleiterscheinungen dieser
l)hilosophischen Aufklärung sind, so sehr die in diese Richtung geleitete
Propaganda die Philosophie ihren höchsten Aufgaben entfremdet, ihre In-
teressen verengert und ihre Entwickelung gehemmt hat, so gross ist doch
die moralische Wirkung der Bewegung zu veranschlagen. Lange ehe die
christlichen Prediger die neue Botschaft durch die Welt trugen, sind heid-
nische Prediger im derben Tribon, mit Stock und Ranzen ausgerüstet, bar-
fuss und mittellos dieselben Wege gewandelt, der Menschheit eine neue Bot-
schaft zu bringend In den Gräueln und W^irren der ersten hellenistischen Zeit,
in einer aus den Trümmern der Vergangenheit zu neuem Leben sich empor-
ringenden, von allen Erschütterungen der Uebergangszeit und der Ungewiss-
lieit der Zukunft gequälten Gesellschaft fanden die kynischen Prediger zu-
erst den fruchtbaren Boden für ihre Mission und die Formen der volkstüm-
lichen Predigt, die dann, von den anfänglich rohen Mitteln und skurrilen
Formen befreit, das bessere Gewissen und die höheren Ideale einer in ba-
nausisches Genussleben und sittliche Entartung versinkenden Menschheit dar-
stellen konnte. Diese Prediger fühlen sich als Träger einer höheren Mission
und göttliche Sendboten, welche die Menschheit zu beobachten und zu be-
aufsichtigen haben, als Aerzte, die sich der kranken Menschheit annehmen
müssen -.
Die etliische Massenpropaganda nimmt dann einen neuen Aufschwung
und erreicht ihre höchste Blüte in der römischen Kaiserzeit. Aehnliche Be-
dingimgen wde im Anfang der hellenistischen Periode erklären den Umfang
der über aUe Grossstädte sich ausbreitenden und die weitesten Kreise er-
greifenden Bewegung, Der sinnlose Luxus und die Orgien des Lasters, der
wachsende Druck des Despotismus und der sich ihm fügende Servilismus sind
schon im I Jalirh. n. Chr. deutliche Vorzeichen der bei aller Höhe der ma-
teriellen Kultur verfallenden Zivilisation und der sittlichen Entartung. Frei-
lich verdanken wir ja wesentlich den Moralisten und Schriftstellern, die von
ihrer strengen Richtung beeinflusst sind, die grösste Fülle der Zeugnisse für
die sittlichen und gesellschaftlichen Zustände der Zeit, und gewiss hat das
Pathos moralisierender Deklamation sich von Uebertreibungen und Verallge-
lueinerungen nicht frei gehalten. Und wir dürfen diese Sittenschilderungen
nur für das Leben der Hauptstädte verwerten. Aber wer da meinen möchte,
dass die Klagen ernster und patriotischer Schriftsteller mehr in überstrenger
Moral als in dem wirklichen Zustande der höheren Gesellschaft begründet
seien ^, den wird besonders die Lektüre Martials, der wie früher Ovid die
Durchschnittsmoral der römischen Gesellschaft repräsentiert, eines Besseren
') xaxäoy.o-LOc; und i-iaxo-o;: Reiche Stellensammluug- bei Norden, Jahrb. Suppl.
XIX S. 377 ff. Aus dem Vorwurf des uliena negotia curare, der dem Kyniker öfter
gemacht wird (Horaz Sat. II 3, 19, Epiktet lU 22, 97) erklärt Zeller (Sitzungs-
bericht Akad, Berlin 1893) den I Petr 4 15 gebrauchten Ausdruck äXXoTpiosTiioxoTios.
'^) Auf den Vorwurf schlechten Umganges erwidert Antisthenes bei Diog. Laert.
VT 6 -/.al oi la-cpoL \i.z~% zilvi ^/oao<'i'^-:or/ siaiv, ccX/>' oi) Ti'jpsx-o'jGiv. Diogenes in Sto-
bäus' Florileg. III S. 462, 14 Hense: oOSs y^P '-«"P^? Oy.sia; ü)v r.oir^-.'.v.bz §v Toig Oyt-
aivo'ja-. Tr,v 5!.a-:p'.^7)v Tiotslxai, vgl. Dio Chrys. Rede VIII § 5 (Sternbach, Wiener Stu-
dien IX S. 191). AehnUch Matth 9 u. 12 (vgl. dazu H. Grotius). — Epiktet lU 23,
30 iaxpetöv iax-.v, ävdpeg, x6 xoü cptXojöcpou oxoXelov. ^) Ich selbst habe Beiträge
S. 6.5. 66 falsch geurteilt.
Ilire IMüte in dt'r KaisiTzcit. Neue Stelluiij,'- der IMiilosopliie 45
belehren. Das Bild der römischen Gesellschaft, das dieser formgewandte
Dichter uns vor Augen stellt, ist ein höchst unerfreuliches. Mit kynischer
Offenheit enthüllt er die Geheimnisse der widernutürlichen Laster und sieht
an den ärgsten Auswüchsen nur die läclierliche Seite. Zwischen Reichtum
und Proletariat fehlt der starke iNIittelstand. Die Exist(i;nz des nicht be-
sitzenden Bürgertums ist zum grossen Teil auf öffentliche Spenden und auf
Klientenbettel bei den Reichen gegründet, und den höchsten Ton sittlicher
Entrüstung findet der Dichter, wenn er über das Knausern der Wolühaben-
den mit den Sportein klagt. Und, was diese Gesellschaft am meisten von
der moderner Grossstädte zu ihren Ungunsten imterscheidet, die Arbeit fehlt
im Tageslauf der Freien oder nimmt den geringsten Platz ein '. Die ethi-
sche Predigt ist die berechtigte Reaktion gegen die Verkommenheit der Ge-
sellschaft, die Antwort auf die Propaganda des Lasters, und es ist natür-
lich, dass sie den schweren Uebeln scharfe Heilmittel entgegensetzt. Seit
dem I Jahrh. v. Chr. hat die neup^-thagoreische Sekte mit ihrer reinen Ethik,
asketischen Lebensweise, strengen Diät erfolgreich Anhänger geworben. Seit
dem I Jahrh. n. Chr. erstellt der Kynismus zu neuem Leben und nimmt den
Kampf gegen die verderbte AVeit energisch Avieder auf. Die Stoiker selbst
erinnern sich wieder ihres Ursprunges und greifen vielfach auf die strengeren
Lebensformen und Grundsätze der Kyniker zurück; es ist oft nur eine
schmale Grenzscheide, die Kyniker und Stoiker trennt-. Die starke An-
näherung imd Ausgleichung der Moral der verscliiedenen Philosophenschulen
ist überhaupt für die Zeit charakteristisch. Was wir von stoischen, kyni-
schen, neupythagoreischen Moraltraktaten haben, ist in der Walil der The-
mata, Tendenz, Haltung gleichartig, nur in Ton und Nuance verschieden.
Aber die Literatur ist eine mehr zufällige Begleiterscheinung einer ausge-
breiteten, auf das lebendige Wort und persönliche Einwirkung gestellten
Propaganda, die seit der hellenistischen Zeit der sozialen Stellung der Pliilo-
sophen ganz neue Formen geschaffen hat. Als Berater und Seelsorger nehmen
sie in den vornehmen Häusern und auch bei Hofe eine ähnliche Stellung ein
wie später die Schlosskapläne ^. Bei Unglücksfällen spenden sie in wohlge-
setzter Rede Trost und werden ans Bett der Sterbenden gerufen^. Als
Hofmeister überwachen sie den Lebenswandel vornehmer Zöglinge, die sie
oft auf Universitäten begleiten. Seneca hat solche erzieherische Tätigkeit
bei Nero erfüllt, ohne ihn dauernd in bessere Bahnen leiten zu können; er
hat dann im kleinen Kreise der ihm Nächststellenden eine eminent seelsorge-
rische und individuell gestaltete Wirksamkeit entfaltet (o. S. 21). Einen
kleinen Kreis eng verbundener Jünger sammeln Cornutus in Rom, Epiktet
in Nikopolis, sein Lehrer Musonius sogar in seiner Verbannung auf Gyara
zu regelmässigem Unterrichte um sich, in dem es in erster Linie auf sitt-
liche Erziehung und Seelenleitung abgesehen ist^, wenn auch daneben die
theoretische Unterweisung nicht fehlt. Dass Musonius und Epiktet nichts
geschrieben haben, zeigt schon allein, wo sie den Schwerpunkt ihrer Tätig-
keit suchten. Die zündende Wirkung der Vorträge eines Fabianus und De-
*) Für varü labores setzt Martial IV 8 in seiner Beschreibung des Tageslaufes
des Römers zwei volle Stunden an; vgl. Plinius Epist. I 9. -) Wendlaud,
Quaest. Musonianae S. 16; Norden, Jahrb. Suppl. XIX S. 392 ff. »^ Beispiele
bei Diels, Doxographi S. 82. 83. *) Die Chrys. R. XXVH § 9. -^) Ueber
Cornutus s. Persius Sat. V, wo er 63 als cultor imenum bezeichnet wird. Er hatte
also einen ähnlichen Kreis um sich wie einst Teles (Wilamowitz S. 301. 306). Ueber
Musonius s. Henses Ausgabe S. XIV 41, 13 ff., über Epiktet Bruns, De schola Epic-
teti, Kiel 1897.
46 V Die philosophische Propaganda: 2 Ihre Bedeutung
raetrius in Rom bezeugt der Philosoph Seneca. Ungeheuer muss nach der
häufigen Erwähnung in der Literatur die Zahl derer gewesen sein, die als
\'olksprediger und Missionare der Sittlichkeit ihr Leben der ganzen Mensch-
heit widmen wollten. Auf dem Markt und auf den Strassen, im Alltags-
getriebe und bei^ den Festversammlungen treten sie wie in England die
Apostel der Heilsarmee auf, wo sie nur andächtige oder neugierige Hörer
linden, und suchen, wenn sie ihren Samen ausgestreut haben, eine neue
Stätte der Wirksamkeit.
Diese Moralisten äussern sich oft über den Zweck ihrer Mission. Sie
wollen nicht neue Gedanken finden und stellen nicht den Anspruch, die
Pliiloso})hie zu bereichern. Es gilt deren längst gefundene Grundwahrheiten
aus der grossen Masse des toten Wissens, der unfruchtbaren dialektischen
Subtilitäten, der überflüssigen Probleme herauszustellen, richtig anzuw^enden
imd wirkungsvoll als die Heilmittel gegen die sittliche Verderbtheit der
Menschen zu verkünden ^. Es gilt die Menschen aus ihrem vielgeschäftigen,
nichtige Ziele verfolgenden Treiben zurückzuführen auf die eine allein mch-
tige Sorge um ilire Seele und um ihr wahres Heil. So treten denn in den
Vordergrund dieser erzieherischen Einwirkung die eindringlichen Fragen, die
den Menschen zur Selbstbesinnung, zur Erkenntnis seines wahren Wesens
und seiner Bestimmung führen, ihm den Anstoss zu einer neuen sittlichen
Entwickelung geben sollen. Wer bist du, wozu bist du bestimmt und be-
rufen - ? Worin suchst du dein Glück, und was ist dein wahres Gut ? Die
Betonung des Wertes der Seele und eines ihr tiefstes Sehnen befriedigenden
Innenlebens gegenüber der sinnlich fleischlichen Natur und den zerstreuen-
den Einflüssen der W^elt, die Schätzung der das Glück im Lmern suchenden
geistigen Unabhängigkeit gegenüber allen es dem Schwanken der äusseren
Lebensbedingungen und der Unsicherheit der äusseren Güter unterwerfenden
Lebensauifassungen, die energische Antithese der wahren Werte und der
Scheinwerte setzt sich zum Ziel, eine innere Wiedergeburt'', die Herrschaft
des besseren Ich, eine Entscheidung herbeizuführen, die oft als W^ahl zwischen
zwei Wegen ^ dargestellt wird. Aber diese Bekehrung ist nur der Beginn
eines fortgesetzten Prozesses der Erziehung und Selbsterziehung, der oft in
durchgeführtem Vergleiche mit der Genesung des Kranken °, mit einem zu
immer entscheidenderen Siegen führenden Kampfe "^ verglichen wird. Für
die Methode dieser Seelenerziehung und für die Vertiefung des Innenlebens,
die sie fordert, charakteristisch ist die oft eingeschärfte Forderung, am
Abend jeden Tages dessen sittlichen Gewinn durch genaue Prüfung festzu-
stellen '.
Die Popularpliüüsophie beschränkt sich nicht darauf, in einem uner-
schöpflichen Reichtum vdrkungsvoUer Formen die Grundsätze der sittlichen
1) Seneca Ep. 64, 8, Die Chrys. R. XVII Anfang. ^) Epiktet U 10 be-
liandelt das Thema axä-^ai t-s zl, vgl. I 6, 25. III 1, 22. 23. M. Aurel VIII 52, Seneca
Ep. 41, 7 ff. 82, 6, Persius III 67. Ich zitiere hier und im folgenden von vielen Be-
legen nur einige besonders charakteristische. *) Seneca Ep. 6, der davon den
Ausdruck transfigurari gebraucht, 53, 8. 94, 48. *) O. Jahn zu Pers. III 56, Nor-
den, Kunstprosa S. 467. 477. Diogenes' Brief 30 und 12, Heinrici, Beiträge HI, Leipzig
1905, S. 89. •') Wendland, Quaest. Musonianae S. 12, Zeller III 1 S. 740. «) Vgl.
Literaturformen II 4, Seneca Ep. 59, 7 ; E. Weber, Leipziger Studien X S. 136 ff. 178.
") Goldenes Gedicht 40 ff., Seneca, De ira HI 36, 1 (vgl. De vita beata 2, 2. .3), Epik-
tet III 10, 3. Marc Aureis Selbstgespräche stellen solche fortgesetzte Selbst-
prüfung dar. Zurückziehung auf sich selbst, Beschäftigung mit seinem Innern
empfiehlt Seneca oft. Dio Chrys. behandelt R. XX das Thema.
Sittliche Erziclmii;;- und Selbsterzielmnji^-. Gemeinplätze 47
Erneuerung' zu predigen; sie wendet sie auch auf alle einzelnen Gebiete des
Lebens regelnd und vorschreibend an und schafft in ihrer späteren Ent-
wickelung in eingehender Kasuistik eine Art Pflichtenkodex. Der Reihe
nach behandelt Hierokles in den Exzerpten des Stobäus die Pflichten gegen
Vaterland, Eltern, Blutsverwandte, die Ehe, in einem verlorenen Teile auch den
Haushalt; und wir haben nur einen Ausschnitt dieses Werkes ^ Die Grund-
sätze des'naturgemässen Lebens führt Musonius (und ähnlich Philo) auf den
Gebieten der Kleidung, Wohnung, Ernährung bis ins einzelne, ja ins Klein-
liche durch mit einer Lehrhaftigkeit, die das Gebiet der Adiaphora aufs
äusserste einschränkt. Ebenso behandelt er eingehend das Verhältnis der
Geschlechter zueinander und bekämpft mit reinen und strengen Grundsätzen
die schlimmsten Laster der antiken Welt und die Lässigkeit ihres mora-
lischen Bewusstseins -.
Dazu kommt einfe ungeheure Fülle in Predigt- und Traktatform be-
handelter Gemeinplätze, von denen ich nur einige Lieblingsthemata hervor-
hebe : Ermunterungsschriften zur Beschäftigung mit der Philosophie (jzpoxpe.-
Tixtxo:) und Trostschriften -^ beide bis in die Sophistik zurückreichend und
in der christlichen Literatur sich fortsetzend. Oft wird das zeitgemässe
Thema behandelt, dass die Verbannung kein Uebel sei^. Kynisch - stoisch
sind die Themata, dass der Weise allein frei% allein adlig sei''. Alter und
Freundschaft ' geben ergiebigen Stoff. Wie lebhaft und ernsthaft die Fragen
der Erziehung behandelt werden, ist schon S. 38 erwähnt worden. Der
sittlichen Erziehung dienten auch die Florilegien, die, seit hellenistischer Zeit
beliebt, immer mehr nach einseitig moralischen Gesichtspunkten redigiert
einen Schatz von Kernsprüchen und erbaulichen Gedanken vermittelten. Das
wertvollste der uns erhaltenen, die Anthologie des Johannes von Stobi, die
aber nur den späten Niederschlag einer reichen ihr voraufliegenden Litera-
tur darstellt, hat viel von den Traktaten der Popiüarpliilosophie vor dem
Untergange gerettet.
Auch das religiöse Element, in den Anfängen der kynischen Diatribe
wesentlich durch die Negation der herrschenden Religionsformen und durch
Polemik gegen Aberglauben vertreten, ge^^innt im Zusammenhang mit der
später zu zeichnenden religiösen Strömung eine grössere positive Bedeutung.
Den anthropomorphen Göttervorstellungen und dem naiven Bilderdienst Avird
ein geistiger Gottesbegriff, den äusseren Zeremonien und den törichten Ge-
beten und Gelübden wird die Reinheit des Herzens als das beste Opfer, die
Ergebung in den göttlichen Wülen als das wahre Gebet gegenübergestellt*^.
Dass \dele unlautere Elemente in den Formen der philosophischen Pro-
paganda sich breit machten und den Namen des Philosophen in Verruf
') Eine ähnliche Aufzählung der Pflichtenki-eise bei Plut. De liberis educ.
10, Persius HI 67 flf. und Epiktet H 10 (Diog. Laert. VII 108. 109. 119. 120).
2) Reiches Material aus der antiken Literatur über diese Fragen hat Frachter
a. a. 0. gesammelt. ^) Das Material aufgearbeitet von Hartlich und Bu-
resch, Leipziger Studien XI. IX: *) Giesecke, De philosophorum veterum
quae ad exilium spectant sententiis, Leipzig 1891. ^) Archiv f. Gesch.
der Philosophie I S. .509 ff. «) Wendland, Beiträge S. 49 ff., Schütze
S. 64 ff. ') Bohnenblust, Beiträge zum Topos IIspl zOdot.^, Benier Diss., Berlin 1905.
^) Speziell den Gebeten der Menschen ist Persius 2. Satire (s. O. Jahns Kom-
mentar und Houck, De ratione stoica in Persii satiris conspicua, Daventriae 1894
S. 24 ff.) und Juvenals 10. gewidmet. Reiches Material für die Gedanken der reli-
giösen Aufklärung geben Schütze und die moderne Literatur über Seneca, Helm
a. a. O. S. 91 ff. 121 ff. 350.
48 ^' Dl'- PHILOSOPHISCHE Propaganda: 2 Ihre Bedeutung
brachten, ist schon S, 37 erwähnt worden'. Aber es fehlt auch nicht an
Zeugnissen tiefen sittlichen Ernstes und aufopfernder Gesinnung, mit denen
die besten Vertreter der philosojihischen Mission und ethischen Reformation
ihren Beruf auffassten und erfüllten. Musonius führte nach dem Berichte
des Gellius- aus, wenn dem Vortrage des Philosophen wie dem des Rhetors
in der üblichen überschwänglichen Weise Beifall gespendet werde, sei dies
das sicherste Zeichen, dass Redner und Hörer keinen Gewinn hätten. Dann
rede gar kein Philosoph, sondern ein Musikant blase. „Der Geist dessen,
der einen Philoso])hen hört, findet, wenn die Worte nützlich und förderlich
sind \ind Heilmittel gegen Irrtümer und Laster beibringen, gar keine freie
Zeit zu überströmenden Lobsprüchen. Jeder Hörer des Philosophen muss,
wenn er nicht ganz verdorben ist, während seiner Rede Schauer und heim-
liche Scham und Reue, muss Freude und Bewunderung empfinden, Aussehen
und Empfindung wechseln, je nachdem die Behandlung des Philosophen
durch Berührung der gesunden oder der kranken Seiten seines Innern auf
sein Gewissen wirkt." Schweigen sei das Zeichen innerer Ergriffenheit und
Bewunderung. — Höchst wirkungsvoll zeichnet Epiktet III 22 ^ das Bild des
kynisclien Philosophen einem Schüler, der die Philosophie zu seinem Berufe
machen wollte : Wer ohne Gott eine so grosse Aufgabe übernimmt, ist gott-
verhasst und unternimmt nichts anderes, als sich öffentlich lächerlich zu
machen. Meinst du, Mantel und langes Haar, Ranzen und Stock und die
polternden Scheltreden tun es, so irrst du. Stellst du dir die Sache so vor,
so bleib' fern davon. Geh' nicht heran, es ist nichts für dich, — Der
Philosoph darf den gewöhnlichen Menschen nicht gleichen. Er muss frei
sein von Begierden und Leidenschaften, nichts kennen, das er zu verstecken
oder dessen er sich zu schämen hätte. Seine Seele muss rein sein, und er
muss auf dem Standpunkt stehen : Jetzt ist meine Seele der Stoff, den ich
zu gestalten habe, wie der Zimmermann das Holz, der Schuster das Leder.
Meine Aufgabe ist rechter Gebrauch der Vorstellungen. Der elende Leib
geht mich nichts an, seine Teile gehen mich nichts an. Tod? Komme er,
wann er will, über's Ganze oder einen Teil. Verbannung? Kann mich denn
jemand aus der Welt vertreiben? Er kann es nicht. Wohin ich auch gehe,
da ist die Sonne, da ist der Mond, da sind die Sterne, Träume, Götter-
zeichen, Verkehr mit den Göttern. — Aber damit nicht genug, der wahre
Kyniker muss sich bewusst sein, dass er von Zeus her zu den Menschen
geschickt ist als Bote (äyYsXo:), sie über Güter und Uebel zu lehren, ihnen
zu zeigen, dass sie in die Irre gehen und das Wesen des Gutes und des
Uebels da suchen, wo es nicht ist, und nicht bemerken, wo es wirklich ist,
imd als Kundschafter ("/.axaaxoTcos), zu erkunden, was den Menschen freund
und was ihnen feind ist. — Er muss wie auf eine tragische Bühne treten
und mit Sokrates * rufen können: W^eh, ihr Menschen, wohin treibt ihr, was
tut ihr, ihr Unseligen! Wie Blinde werdet ihr auf und ab getrieben. Den
rechten AVeg habt ihr verlassen und geht einen andern, sucht Zufriedenheit
und Glück, wo es nicht ist. Es folgt der eindringende Nachweis, dass das
Glück in den äusseren Gütern nicht zu finden sei, dann § 38 der Uebergang
zum positiven Teile: Wo ihr es nicht glaubt und wo ihr es nicht suchen
wollt, da ist das Gut. Denn wolltet ihr, so würdet ihr es in euerm Innern
') Zeller III 1 S. 765, Schütze S. 6, Dio Chrys. R. XXXII § 9^11. ^) Noc-
tes atticae V 1 (bei Hense S. 130), ähnlich Seneca, Ep. 52, 11 ff., Epiktet I 23, 87.
=>) Lehrreich ist der Vergleich mit Dio Chrys. R. LXXVHI § 35—45. *) Ge-
meint ist der pseudoplatonische Kleitophon p. 407 A. Solcher Eingang der Dia-
tribe ist sehr behebt; s. Weber, Leipziger Studien S. 203.
Idealbild des philosophischen Erziehers. 49
finden und nicht draussen umherscli weifen und nicht das Fremde suchen, als
geliöre es eucla. Kehrt in euer Inneres ein, macht eucli klar, welche Vor-
stellungen ihr von dem Gut habt. Ihr werdet linden, dass es seinen Sitz
nicht haben kann im Leibe, dem so vielen Leiden unterworfenen Teile eures
Wesens, sondern in der freien Seele. Die bildet aus, für die sorget, da
suchet das Gut. Doch wie kann man ohne Besitz und Kleidung, ohne Be-
dienung, obdach- und heimatlos, zufrieden leben? Seht mich an, ich bin
ohne Obdach und Heimat, ohne Besitz und Bedienung. Ich schlafe auf
blossem Boden. Ich habe nicht Weib, Kind, Palast, ich habe nur Erde,
Himmel und einen schäbigen Mantel. Und was fehlt mir? Bin ich nicht
heiter, bin ich nicht sorglos, bin ich nicht frei? Wann habe ich Gott oder
Menschen getadelt? Wann einem Vorwürfe gemacht? Hat mich einer von
euch verdriesslich gesehen? Wie begegne ich denen, die ihr fürchtet und
die ihr bewundert? Nicht wie Sklaven? Wer meint nicht, wenn er mich
sieht, seinen König und Herrn zu sehen? — Das sind Worte, Charakter,
Haltung des echten Kynikers. Das äussere Gebahren tuts nicht. Darum
prüfe dich, ob du die Kraft zu dem Berufe besitzest und ob Gott dir dazu
rät. Der Beruf führt auf eine grosse Höhe, aber auch durch harte Schläge.
Denn auch die gehören merkwürdiger Weise zum Berufe des Kynikers. Er
muss Schläge empfangen wie ein Esel und dabei noch die ihn sclilagen
lieben, als wäre er aller Vater oder Bruder. Du aber, w^enn dich einer
schlägt, schreie vor allen Menschen : „0 Cäsar, was tut man mir in deinem
Frieden an! Geh'n wir vor den Prokonsul!" Aber wer ist dem Kyniker
sonst Cäsar oder Prokonsul als Zeus, der ihn vom Himmel gesandt hat und
dem er dient? Ist er nicht überzeugt, dass er ihn prüft, was er auch alles
zu leiden hat? Es wird dann ausgeführt, dass es für diesen Standpunkt
Krankheit und Tod, Armut und Leiden nicht gibt, dass auch die gewöhn-
lichen Bande der Freundschaft und Ehe ein Hindernis für den höchsten Be-
ruf sind, ausser in dem seltenen Falle, dass Freund oder Gattin gleichfalls
das kynische Ideal darzustellen vermögen. — Wie kann er dann aber, sagst
du (§ 77), die Pflichten gegen die Gemeinschaft erfüllen? Bei Gott, sind
die grössere Wohltäter der Menschheit, die zwei oder drei rotzige Kinder
in die Welt setzen, oder die aUe Menschen nach Vermögen beaufsichtigen ^,
was sie treiben, wie sie leben, wofür sie sorgen, was sie pflichtwddrig ver-
nachlässigen? Haben den Thebanern die, welche Kinder hinterliessen, mehr
genützt als Epaminondas, der kinderlos starb ? Oder hat Priamos, der fünf-
zig Taugenichtse erzeugte, oder Danaos oder Aeolus mehr für die Gesamt-
heit geleistet, als Homer? Das Königtum des Kynikers ist es wert, um
seinetwillen auf Weib und Kinder zu verzichten. Mensch, alle Menschen
sieht er als Kinder an, die Männer als Sölme, die Weiber als Töchter. —
Gewiss fragst du mich auch, ob er sich am politischen Leben beteiligen wird ^.
Du Narr, kann's eine grössere politische Aufgabe geben, als die er erfüllt?
SoU einer etwa vor den Athenern über Steuern und Einkünfte Reden halten,
wenn er verpflichtet ist, sich mit allen Menschen zu unterreden, gleichviel,
ob's Athener, Korinther oder Römer sind, und zwar nicht über Steuern und
Einkünfte, nicht über Krieg und Frieden, sondern über Seligkeit und Un-
seligkeit. Glück und Unglück, Knechtschaft und Freiheit? Während er diese
grosse politische Aufgabe erfüllt, fragst du mich, ob er sich am politischen
Leben beteiligen ^vird? So frag' mich auch, ob er ein Amt bekleiden wird.
Und ich antworte dir: du Tor, gibt's ein höheres Amt, als das er ausübt?
— Auch der Körper muss für den Beruf geeignet sein und die Wahrheit
1) § 77 Ol äK:oy.o7zo~rntc, s. o. S. 44 A. 1. ■') S. o. S. 18, Seneca, De otio 3 ff.
Lietzmann, Handbuch z. Xeuen Test. I, 2. 4
50 \ -Uiii riiiLos. Piioi'AGANDA : 4 Verhältnis zum Christentum
beweisen, ilass das schlichte, einfache, obdachlose Leben dem Körper nicht
schadet. „Siehe, auch dessen bin ich und mein Leib dir Zeuge." — Nach-
dem dann Witz und Sarkasmus vom Kyniker gefordert ist, wird nochmals
eingeschärft, dass seine Seele reiner sein muss als die Sonne. Nur das reine
Gewissen und das Bewusstsein der Gottesgemeinschaft gibt ihm die Kraft,
zu seinen Brüdern, Kindern, Verwandten frei herauszureden. Und damit
mischt er sich nicht in müssiger Vielgeschäftigkeit in fremde Angelegen-
heiten ', sondern erfüllt seine eigenste Aufgabe. — Geduld muss der Kyniker
so reichlich besitzen, dass er den meisten gefühllos und wie ein Stein er-
scheint. Niemand lästei't, niemand schlägt, niemand beschimpft ihn. Denn
all das trifft nur die Seiten seines Wesens, die er gar nicht als ihm zuge-
hörig betrachtet. — Solches Unternehmen setzest du dir vor. Darum, bei
Gott, verschieb' es und denke erst an deine Ausrüstung. Denke, was Hektor
zu Andromache sagt : Geh' lieber ins Haus und webe. „Der Krieg ist Sache
der Männer, aller, doch meine besonders." So kannte er seine eigene Be-
stimmung und die Schwäche seines Weibes.
Der tiefe Ernst der Berufsauffassung zeigt sich auch in den bewegten
Klagen, die diese Erzieher über die sittliche Trägheit der Jugend, über den
Abstand der Wirldichkeit vom Ideal einer durchschlagenden erzieherischen
Wirksamkeit laut werden lassen -.
4 Das Verhältnis der philosophisch-ethischen Propaganda zum Christentum
Die sittliche Reformation, welche die pliilosojjhische Predigt zu wirken
suchte, hat die von ihr berührten Seelen für das Christentum prädisponiert,
den Boden für die Aufnahme der neuen Predigt bereitet, in der Bekämpfung
des Polytheismus und in der Verkündigung einer geläuterten Religion und
einer die individuelle Verantwortung scharf betonenden reinen Sittenlehre
Gedanken und Formen gefunden, die das Christentum vielfach sich zu eigen
gemacht oder sich angepasst hat. Die Verwandtschaft der Stimmungen wird
schon dem Leser des soeben rekapitulierten Vortrages Epiktets auffallen.
In Kap. IX ward zu zeigen sein, wie weit, trotzdem starke prinzipielle
Gegensätze nicht zu verkennen sind, die Stimmungen dieser reaktionären
Richtung des Heidentums dem Christentum entgegenkommen. Es empfiehlt
sich, schon hier die in der Literatur noch nachweisbaren direkten Beziehungen
und Einflüsse hervorzuheben und damit das Bild der Geschichte jener Propa-
ganda zu vervollständigen.
Es ist natürlich, dass das Christentum, als es in die hellenistische
Kulturwelt einging, von dieser heidnischen Predigt, die ihm am Mai'kte des
Lebens entgegentrat, und von der für weite Kreise bestimmten ethisch-reli-
giösen Literatur berührt wurde. Ueberhaupt hat ja das Christentum, ehe
die Höhen der antiken Literatur in seinen Gesichtskreis traten, von den
volkstümlichen Strömungen und von der unserer Kenntnis sich nur zu sehr
entziehenden populären und ephemeren Literatur der Zeit mannigfache Ein-
wirkungen erfahren, und der von den niederen Regionen des Geisteslebens
ausgehende Einfluss kommt für den Duichschnitt auch später stärker in Be-
tracht als die Koryphäen der Bildung. In Teil III wird gezeigt werden,
dass die Motive und Formen der Diatribe auf die neutestamentliche Brief-
literatur gewirkt haben; es ist Heinricis Verdienst, in seinen Kommentaren
') § 97, s. S. 44 Anni. 1. ^) Epiktet I 9, Persius III, auch Philo, De
congressu erud. gratia § 64 ff., p. 528 M.
i
Jiiinvirkuiii;- der Diatriho auf christliche Lit. Heidnische u. cliristl. i*rediger 51
ZU Coi' diese Beziehungen zuerst genauer verfolgt zu haben. Die Haltung
der ältesten christlichen Predigt ist teils durch das jüdische Vorbild des
Synagügenvortrages, teils durch die entluisiastischen Formen einer neuen
Prophetie bestimmt. Der später in ruhigere Bahnen lenkende, aus Lehre
und Ennalininig gemischte Vortrag luit dann dauei'ud den Einfhiss der heid-
nischen Predigt erfahren und ist den Stadien ihrer Entwicklung gefolgt.
Es wai''ja natürlich, dass die IMissionspredigt in dem bekannten Gedanken-
schatze der Diatribe einen gemeinsamen Boden der Verständigung und An-
knü])fung suchte, wie es schon Lukas Paulus in der Areopagrede tun lässt.
In II Clera, in der Predigt des Alexandriners Clemens ', in denen des Ori-
genes - sehen wir besonders in paränetischen Partien Gedanken und Formen
der heidnischen Diatribe benutzt. Im IV Jahrhundert ist dann die christliche
Predigt ganz von den Kunstformen der Khetorik beherrscht; Basilius, Gregor
von Nazianz, Johannes Chrysostomos haben bei heidnischen Professoren der
Rhetorik studiert. Der Einfluss der Philosophie hat sich verstärkt. Zum
Teil hängt das damit zusammen, dass als Gegengewicht gegen die Welt-
förmigkeit der Kirche die asketische Lebensweise als Ideal anerkannt ist.
Für das ,,philosophische'' Leben der Mönclie sucht man eine theoretische
Begründung, und man entnimmt sie der asketischen Moral der Stoa und des
Piatonismus. Weite Partien bei jenen Schriftstellern und noch bei Isidor
und Nilus erscheinen als letzte Ausläufer der Diatribe.
Die Act schon schildern (K. 17) Paulus' Auftreten in Athen nach Art
der "Wirksamkeit jener Volksprediger. Auf dem Markte redet er täglich zu
denen, die sich gerade einfinden; die epikureischen und stoischen Philosophen
sind bald auf den Schwätzer, der ihnen mit einer neuen Lehre Konkurrenz
macht, erbost. Wirksamkeit, Lebensart, Auftreten der freien christlichen
Prediger der alten Kirche, die von Gemeinde zvi Gemeinde wanderten, glich
äusserlich dem Treiben der heidnischen Volksprediger, und es war natürlich,
dass die Formen und Gewohnheiten der heidnischen Propaganda in den Dienst
der christlichen Mission gestellt wurden und ihr zugute kamen ■'. In den
clementinischen Homilien z. B. wird der christliche Prediger oft wie der
kynische als Gottes Herold bezeichnet und beginnt wie dieser auf offener
Strasse seine Rede mit vernehmlicher Stimme (ßoäv) ■^. Der Bischof wird
dort als Seelenarzt bezeichnet''. Auf den Vorwurf des Celsus, dass die
Christen sich an die untersten Schichten des Volkes gleich Marktschreiern
wenden, erwidert Origenes (III 50) mit einem Vergleich der christlichen
Prediger mit den kynischen, die sich ja auch öffentlich, wie es heisst aus
Menschenliebe, mit ihrer Rede an die ihnen gerade Entgegenkommenden'''
und an die Ungebildeten wenden. Und auch von heidnischer Seite scheint
die Parallele gezogen worden zu sein. Galen " vergleicht die Christen mit
1) S. E. Schwartz, Hermes XXXVm S. 90 ff. Die in der Diatribe beliebte Pa-
rataxe z. B. quis dives salvetur S. 11, 14. 18, 31 ff. Barnard. -) S. z. B. die Jere-
miashomilieen S. 94, 16. 81, 25 ff. 149, 15. 16 Klost. Dass auch in anderen Gattungen,
z. B. in den Apologien, Einflüsse der Diatribe nachweisbar sind, sei nebenbei bemerkt.
•■*) Vgl. auch Act 19 9 Paulus' Auftreten in der Schule des Tyrannos. ■*) K. 7
Sr^iJLoaiqc cTöcg k}i% Xsycüv. Aehnliche AVendungen und besonders das Schreien (Juve-
nal n 37) oft vom kynischen Prediger gebraucht. '•') K. 2. 64 ('05 laxpög iizi-
o-/.S7LTd[i£voc; (o. S. 44). ") grjjioaiqi: r.pög zobc, napax'JYXävovxag 5iaXe-,'d|i£voi, vgl.
Act 17:7, oben S. 40. 48. Man vergleiche, um sich die Analogieen klar zu machen,
Harnacks Behandlung der christlichen Lehrer, Mission- 1, besonders S. 291. ') Nor-
den, Antike Kunstprosa S. 518, Kalbfleisch in der Festschrift für Gomperz, Wien
1902 S. 96 ff.
4*
52 V Die philos. Propaganda: 4 Verhältnis zum Christentum
den Philosophen, besonders wegen ihrer mutigen Todesverachtung und wegen
ihrer Askese. Dagegen ist es zweifelhaft, ob Aristides ', wenn er seine kyni-
schen Gegner mit den „Gottlosen in Palästina" vergleicht, die auch an die
höheren Mächte nicht glauben, dabei neben den Juden auch an die Christen
denkt.
Peregrinus Proteus tritt nach Lucians Darstellung (K. 15 ff.) zuerst als
kynischer Philosoph auf, schliesst sich dann der Christengemeinde an und
geht nach einem Konflikt mit dieser wieder zum Beruf des kynischen Volks-
predigers über. Und später schleicht sich Maximus dadurch, dass er im
Kostüm des kynischen Philosophen das Christentum verkündigt, in das Ver-
trauen des Gregor von Nazianz ein, der ihn dann als einen Heuchler be-
kämpft hat-.
Das Wort Augustins (De civ, dei XIX 19), dass die Kirche die zu ihr
übertretenden Philosophen nicht nötige, Tracht und Lebensweise zu ändern,
gilt auch für die früheren Zeiten. Athenagoras wird im Titel seiner Apologie
als athenischer Philosoph bezeichnet und soll im Tribon das Christentum
verkündet haben. Der Uebergang des Justin von der Philosophie zum
Christentum hat die Bedeutung eines typischen Falles ; und so sehr er seine
Bekehrungsgeschichte stilisiert haben mag, dürfen wir mindestens sein frühe-
res Verhältnis zum Piatonismus als Tatsache hinnehmen, weil es die Genesis
seiner Theologie erklärt. Ein ähnlicher Uebergang wird für Pantänus be-
zeugt (Eus. K. G. V 10, 1), und Heraklas wie Tertullian tragen den Philo-
sophenmanteP. Origenes erscheint den Heiden als Philosoph, und seine
Lebensschicksale und die Formen seiner Wirksamkeit erinnern vielfach an
Plotin. Philosophen, die zum Christentum übertraten, bot das freie Lehr-
amt der älteren Kirche die Möglichkeit einer den Formen ihres früheren
Berufes verwandten Tätigkeit, und auch einen Teil ihres geistigen Besitzes
konnten sie hinübernehmen. Die Anpassung des Christentums an die ver-
wandten Gedanken heidnischer Aufklärung und Philosophie, seine Darstellung
als die Religion der Vernunft vmd als eine Philosophie musste sich im Be-
wusstsein solcher Männer unMällkürlicli vollziehen.
Das Christentum selbst hat seine Verwandtschaft mit Lehren und Grund-
sätzen der heidnischen Moralisten empfunden, ja der Uebereinstimmung der
christlichen Offenbarung und der Philosophie oft einen übertriebenen Ausdruck
gegeben^, der, so leicht er sich aus der notwendigen Mischung des antiken
Erbes mit dem neuen christlichen Besitze erklärt, unbefangener Prüfung nicht
standhält. Die Rezeption von Schriften und Gedanken heidnischer Moralisten
wie die Reklamation der Personen für das Christentum ist für das Verhält-
nis zur heidnisch philosophischen Aufklärung besonders charaktei'istisch. Ter-
tullian sagt, Seneca sei oft christbch; die lateinischen Apologeten haben viel
von seiner Moral und Religiosität übernommen. Das Gefühl für Senecas
Verwandtschaft mit der christlichen Lehre hat zu der Fälschung seines Brief-
wechsels mit Paulus ■" den Anlass gegeben und Hieronymus bestimmt, ihm
») S. Norden, Jahrb. Suppl. XIX S. 404 if., nach dem Harnack, Mission P S. 41»
zu berichtigen sein wird. Das fortdauernde Schwanken in der Frage, ob Aristides
in seinen Gegnern Kyniker oder Christen schildere, zeigt, wie Norden bemerkt,
wie nah sich beide Richtungen berührten. — Dass auch die christliche Askese
neben der Steigerung des Schamgefühls Ausartungen kynischer Scliainlosigkeit her-
vorgebracht hat, hat Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen S. 65 ff. ge-
zeigt. ^) Norden a. a. O. S. 403. 404. ^) Eus. VI 19, 14, Tert. De
paUio. *) Beispiele bei Hatch, Griechentum und Christentum S. 91; Har-
nack, Mission 2 I S. 246. 307. «) Zuletzt hat über ihn Bickel, Rh. M. LX
Christianisieriiny lieidui.scher Schriften 53
einen Platz unter den christliehen Schriftstellern einzuräumen. Auch für
Musonius und Ki)iktet haben wir fi,leich ^iinsti^e cliristliche Urteile ^ und
können es daher begreifen, dass Clemens die Grundzüge seines bis ins ein-
zelne ausgeführten Idealbildes christlicher Lebensweise zum Teil wörtlich den
Vorträgen des Musonius entlehnte, dass die beiden christlichen Ueberarbei-
tungen _des Handbuches Epihtets ein wirkliches Bedürfnis befriedigten. Die
heidnischen Florilegien bilden eine Fun(lgrul)e ethischer und religiöser Weis-
heit und werden zu grösserer Beweiskräftigkeit auch christlich interpoliert'-.
Immer wieder und wieder treten Versuche auf, die Bekanntschaft des
Seneca, Epiktet-', Marc Aurel mit der christlichen Lehre zu beweisen und die
Richtung ihrer Weltanschauung und Lebensauffassung aus christlichem Ein-
flüsse zu erklären. Die Uebereinstimmung betrifft aber fast durchweg Ge-
danken, die im Zusammenhange des stoischen Systemes wui'zeln und zum
Teil im älteren Stoizismus nachweisbar sind. Auch die vorchristliche Diatribe
zeigt schon ähnliche Berührungen mit christlichen Gedanken, und der Bestand
unserer trümmerhaften UeberKeferung nötigt zu der Annahme, dass vieles,
was man als christlich in Anspruch nehmen möchte, nur zufällig in der älte-
ren Literatur nicht vertreten ist. Genaueres Zusehen lehrt, dass die Ueber-
einstimmung in einzelnen Lehren grösser ist als in den Grundsätzen und dass
öfter verwandte Sätze aus recht verschiedenen Prinzipien abgeleitet sind.
Aber das Material, das jene im Resultat verfehlten Untersuchungen zusammen-
gebracht haben, ist zum Teil geeignet, die Tatsache zu bestätigen, dass die
popularphilosophische Propaganda in weiten Kreisen eine geistige Atmo-
sphäre geschaffen hat, die zur Erklärung der raschen Fortschritte des Christen-
tums und seines Verhältnisses zur Philosophie berücksichtigt sein will. Ich
komme darauf bei der Frage nach dem Einfluss der jüdischen Diaspora
zurück.
S.505 ff. gehandelt. i) S. Henses Musonius S. XXIX, Schenkls Epiktet
S. XVni ff. -) S. Elter, De gnomologiorum historia (Bonner Univ.-Pro-
gramme seit 1892) und meinen Bericht Byzant. Zeitschr. VII 445 ff. (Usener, Rhein.
Museum LV S. 337). Die Sprüche des Sextus scheinen die christliche Ueberar-
beitung einer heidnischen Grundlage zu sein, s. Theol. Lit. Zeit. 1893 Sp. 492 ff.
^) Vgl. meine Rezension von Zahns Schrift, Der Stoiker Epiktet und sein Ver-
hältnis zum Christentum, Leipzig 1895, Theol. Lit.Zeit. 1895 Sp. 493 ff. Ich hebe
noch einige interessante Berührungen hervor: Epiktet I 9, 7 uöö-sv cpdycü, cpyjai,
19 oxav /opTaa9-yj-s ar^fj-spov, xä9-rp9-s y.Xäovxsj iispi xf,g aöpiov, TiöS-sv cpäyYjxs, vgl. Mat 6 os ff.
Epiktet I 29, 31 Vergleich mit den Kindern (Mat 11 le), II 18, 15 und M. Aurel HI 2
(Seneca Dial. 11 7, 4) Verwerfung des lüsternen Blickes (Mat 5 .s). Anderes bespricht
Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, Stuttgart 1894 S. 18. 72. 113. 114. 101. 105.
140. — Seneca, De remediis fortuitorum (die ganze Schrift ist charakteristisch für die
Bevorzugung der Parataxe und kleiner Kola) 10 : „pauper stau", nihil deest avibits, pe-
cora in diein vivunt. Minucius Felix 36, 5 aves sine patrimonio vivunt et in die/n pas-
cuntiir benutzt Seneca, nicht, wie man früher glaubte, Mat 6 26. Parallelen zu Mat
7 !■.> 7;äv o'jv 6aa eäv S-sXy^ts l'va rcoiwaiv ö|j.Iv oi ävO'poJTcot, , o'jxcog y.al üiicic; tiOlsixs aOxois
hat zuletzt Heinrici, Beiträge in S. 86 gesammelt. Lc 6 S9 (und Parallelen), vgl.
Sextus Emp. S. 605, 23 Becker wg oOSI o xu-.f/.6; xöv xucpXov odr^ysiv (d'jvaxa-,).
54 VI Hellenistische Religionsgeschichte
VI
HELLENISTISCHE RELIGIONSGESCHICHTE
O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte, München 1906
(Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft V 2), 1023 S. J)iese neueste Dar-
stellung ist als erster Versuch und überaus reiche Materialsanimlung für den For-
scher ebenso unentbehrlich, wie für den Zweck und Leserkreis, dem sie bestimmt
ist, ungeeignet. Die Unübersichtlichkeit der Anordnung zeigt, dass der Verfasser
zur rechten Herrschaft über den Stoff nicht gelangt ist. Die prinzipiellen An-
schauungen sind, obgleich gegen früher gemildert, durchaus anfechtbar. Die theo-
gonischen Spekulationen des Orients denkt sicli Gruppe recht äusserlich von den
Griechen übernommen (z. B. S. 423. 1016), ebenso die Mystik von Anfang an stark
orientalisch beeinflusst (1036). In hellenistischer Zeit soll dann die orientalische
Grundlage der griechischen Kultur durch die Berührung mit den orientalischen
Völkern wieder hervorbrechen und so das Griechentum auf eine niedrigere Stufe
sinken il458 ff. 1479). Aber dieser Prozess der Barbarisierung vollzieht sich erst
in nachchristlicher Zeit. Was die Griechen in ältester Zeit von dem Orient über-
nahmen, haben sie sich so völlig assimiliert, dass der hellenistische Kontakt mit
dem Osten sich unmöglich jener ältesten Entlehnungen als eines Vehikels bedienen
konnte. Denn sogar die damalige Wissenschaft war weit entfernt, jene orientali-
schen Elemente altgriechischer Kultur zu erkennen. Merkwürdig, dass der Ratio-
nalist, dem Uebertragung der Religion wahrscheinlicher dünkt als spontane Zeu-
gung und organisches Wachstum, hier eine Geschichtskonstruktion einführt, die
mystisch anmutet. — Zur Orientierung ist zu emijfehlen Wilamowitz, Geschichte
der griechischen Religion, Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts zu Frankfurt
a. M. 1904, 30 S. und ERohde , Die Religion der Griechen , Kleine Schriften
n 314—339. — Röscher, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie,
Leipzig 1884 ff. — Die Geschichte der griechischen Vorstellungen von dem Le-
ben der Seele nach dem Tode stellt Rohdes Meisterwerk Psyche (3. A. Tü-
bingen imd Leipzig 1903) dar, das weite Gebiete der griechischen Religionsge-
geschichte aufhellt. — Usener, Götternamen, Bonn 1896, gibt besonders wertvolle
Gesichtspunkte für die Geschichte des religiösen Synkretismus und die Wirksam-
keit monotheistischer Tendenzen. Vgl. die ausführliche Inhaltsangabe in Christi.
Welt 1899 Nr. 32. .33. — Welcker, Griech. Götterlehre, 3 Bde, Göttingen 1857—1863.
— Lobeck, Aglaophamiis sive de theologiae mysticae Graecorum causis, Königs-
berg 1829. — WissowA, Religion und Kultus der Römer, IMünchen 1902 (Handbuch
der klass. Altertumswiss. V 4) gibt, unter Verziclit auf vergleichende Religi(jnsbe-
trachtung, eine sehr klare und sorgfältige Gescliichtsdarsteilung und eine sichere
Rekonstruktion des Gebäudes der römischen Religion. Leider fehlt es für die
griecliische Religion an einer gleich lesbaren, vorsichtigen und zuverlässigen Ge-
samtdarstellung. Die Aufgabe der Religionsgeschichte ist liier auch sehr versclüe-
denartig und viel komplizierter, weil die Schichten mehr in einander gewachsen
als lose auf einander gelagert sind. — Es können liier nur die vorherrschenden
Strömungen gezeichnet werden, wie sie in den Mittelpunkten der Kultur hervor-
treten. Die entlegenen Landschaften werden natürlich oft erst spät oder gar nicht
von diesen Strömungen berühi-t, und die Inschriften geben ein sehr viel mannig-
faltigeres Bild und bezeugen vor allem neben einer Fülle von Singularitäten das
unveränderliche Fortleben der alten Religionsformen im volkstümlichen Glauben.
Aelteste Religion 55
1 ÄLTERK ENTWICKELUNG
Die bei den Griechen selbst herrschende Vorstellung, als wenn Homer
der Zeuge der ältesten griechischen Religion sei, ist nur geeignet, das wahre
Verständnis und die Geschichte der griechischen Religion zu verdunkeln.
Eine lange religiöse Entwickelung liegt vor Homer, aber ihre Geschichte
lässt sich nicht schreiben. Denn spärlich zerstreut liegen die Reste zum
Aufbau solcher Geschichte. Rückschlüsse aus den später fortwirkenden
Kräften auf die ursprünglichen Wurzeln der Religion, psychologische Kon-
struktion, Benutzung der Analogien anderer primitiver Religionen müssen
schliesslich das meiste tun, um einen Prozess vorstellbar zu machen, der
sich nicht im Lichte der Geschichte vollzogen hat. Sicher hat der Einfluss
älterer Kulturen und fremder Religionen eine Rolle gespielt; aber bei der
griechischen Fähigkeit, das Fremde sich zu assimilieren und innerlich anzu-
eignen, ist er nur in seltenen Fällen sicher zu fassen. Als gewisse Erkennt-
nis darf man heute bezeichnen, dass am Beginne der Entwickelung auch bei
den Griechen nicht etwa, wie man früher annahm, ein ursprünglicher Mono-
theismus stand. Monotheistische Tendenzen können sich erst auf Grund einer
langen religiösen Entwickelung herausbilden und durchsetzen, und sogar der
griechische Polytheismus der homerischen Dichtungen hat sich erst auf der
breiten Grundlage niederer Glaubensformen, roherer Vorstellungen von Gei-
stern und Dämonen erhoben, die auch als Unterschicht des Glaubens sich
vielfach lebendig erhalten haben. Wo der primitive Mensch W^irkungen
beobachtet und erlebt, die er nicht erklären kann, in der Gewalt des Feuers,
im Blitz und Donnei-, Regen und Sturm, im fiiessenden Wasser und im
wogenden Meer, empfindet er eine rätselhafte Macht, die stärker sein muss
als der Mensch, weil sie sich nicht fassen und greifen lässt. Er stellt sich
als Träger der Kraft ein Wesen vor, das er nach Analogie des eigenen
W^esens mit Bewusstsein und Wille begabt denken rauss. Eine Fülle von
Seelenwesen, die hinter den Phänomenen stehen, projiziert er in die Natur.
Die gestaltende Phantasie fasst die Götterpersonen in immer schärfere Um-
risse. Je nach den Wirkungen und natürlichen Bedingungen ihrer Erschei-
nung gibt sie ihnen menschliche, tierische oder abenteuerliche Mischgestalt,
gibt ihnen den Eigennamen und sichert sich durch eine ihr bequeme Wohn-
stätte ihre Gegenwart und Hilfe, ersinnt eine Fülle von Mitteln, sich die
Gottheit willfährig zu machen. Erfahrungen, die vom Seelenleben ausgehen,
bereichern die religiöse VorsteUungswelt. Die Rätsel des Entstehens und
Vergehens des einzelnen Menschenlebens, das Gefühl dauernder Nähe auch
des Verstorbenen führte zu dem Glauben, dass hinter dem sichtbaren Wesen
des Menschen ein den Tod überdauerndes höheres Doppelwesen stehe —
Traumleben und Erfahrungen des Heraustretens dieses Wesens in den ek-
statischen Zuständen bekräftigen ihn — , zur Annahme des Göttlichen im
Menschen und zum Kult der Verstorbenen. Es ist ein langer und keines-
wegs geradliniger Prozess iortschreitender Differenzierung und Ausgestaltung,
festerer Bestimmung und Erweiterung der Wirkungssphären, lokaler Ausbrei-
tung und Ausgleichung, Zurückdrängung der physischen Potenzen durch
geistige und sittliche, der die Religion der historischen Zeit geschaffen hat.
Die Beobachtung des regelmässigen Wechsels von Tag und Nacht, der
Wiederkehr der Jahreszeiten, der gleichartigen Bewegung der Himmelshchter
hat der Entwickelung der religiösen Vorstellungen die Richtung vom Ein-
zelnen und Zufälligen auf das Gleichartige und Allgemeine, von den be-
schränkten zu universaleren Göttern gegeben. Wie jener Prozess unbewusst
56 VI Hellenistische Religionsgeschichte: 1 Aeltere Entwickelung
den Fortschritt der gesellschaftliehen Formen, des Gemeinbewusstseins, der
Sittlichkeit in sich aufnimmt, so verhüllt er dem späteren Glauben wie der
modernen Forschung den ursprünglichen Gehalt und Wert der Götter. Die
Religion der klassischen Zeit, die für uns allein in betracht kommt, ist we-
sentlich durch zwei Momente bestimmt. Einmal finden in der staatlich an-
erkannten Religion die Formen des Staates und der Gesellschaft ihre Sank-
tion und ihren höchsten Ausdruck. Ferner hat die Schätzung der homeri-
schen Dichtungen als des höchsten geistigen Besitzes ^ der Nation zu einer
Ausgleichung der religiösen Vorstellungen, zum Aufgehen lokaler Gottheiten
in die gleichartigen panhellenischen geführt und der Entwickelung die Rich-
tung auf eine wesentlich durch Homer repräsentierte Einheit gegeben.
Dennoch ist die homerische Götterwelt ursprünglich nichts weniger als
das treue Abbild wirklich geltenden Glaubens. Sie ist das Erzeugnis einer
mit den Traditionen frei schaltenden und sie künstlerisch gestaltenden Dich-
tung, die im Spiele der Phantasie auch auf religiösem Gebiete eine Gesell-
schaft voraussetzt, die selbst nicht mehr sich religiös gebunden fülilt. So
haben die Rhapsoden die Götter mit allem Zauber der Poesie und Glanz
der Schönheit umldeidet, aber sie haben sie in die mensclüiche Sphäre herab-
gezogen und entheibgt. Diese Götterwelt befriedigte weder das überall in
den Tiefen des Volksbewusstseins lebendige religiöse Bedürfnis, noch konnte
sie vor der erwachenden Reflexion bestehen. Die Mystik wie die rationa-
listische Kritik treten in Gegensatz zu ihr. In der enthusiastischen Dio-
nysosreligion findet der Mensch ein tieferes persönliches Verhältnis zu dem
Gott, der den Herzen der Armen und Elenden näher steht als die aristo-
kratischen Olympier, der in den Wonnen der Ekstase ihn zu sich erhebt und
ihn in den Momenten des gesteigerten Daseins, der Einigung mit der Gott-
heit die Nöte des Lebens vergessen lässt. Das Erlösungsbedürfnis des
Menschen und eine ungeheure Steigerung des Innenlebens hebt damit an.
Die mystische Theologie der Orphiker fasst seit dem VI Jahrh. das religiöse
Erlebnis in feste Formen und verkündet die Lehre von den Scliicksalen
der Seele, die, durch eigene Scludd in den Kerker des Leibes gebannt, zu
leidvollem Dasein verurteilt ist, aber, durch Reinigungen von den irdischen
Schlacken befreit, im Tode die Erlösung und Erhebung zu einem seligen
Dasein erreichen kann. Die jenseitige Vergeltung, die nach gerechtem Ge-
richt geübt mrd, ist der Ausgleich der auf Erden herrschenden Ungerech-
tigkeit. Diese innerliche Frömmigkeit, die aus den rohen und elementaren
Formen der ekstatischen Religion hervorgegangen ist, aber von den unreinen
Schlacken sich befreit hat, ist seitdem eine mächtige Strömung, wie ihr
verschiedenartiger Einfluss auf Pythagoras, Pindar, Empedokles zeigt. Ihre
höchste Vollendung und abgeklärteste Gestalt erlangt sie in Piatos gran-
dioser Dichtung von den Schicksalen der Menschenseele. Die Fortsetzung
dieser Strömung und ihr Anschwellen in der nachchristlichen Zeit werden
wir später zu verfolgen haben.
Während die mystische Frömmigkeit auf ganz neuen Wegen die Be-
friedigung tieferer religiöser Bedürfnisse sucht, tritt die Spekulation der
ionischen Denker in bewussten Gegensatz zum herrschenden Polytheismus
und zur homerischen Dichtung. Freilich geben im Grunde dieselben Rätsel
des menschlichen Daseins und des Kosmos, die in den primitiven Formen
des mythischen Denkens und in den systematisierenden Versuchen theologi-
scher Dichter zuerst ihre Eiklärung fanden, auch den Anstoss zum Erwachen
der wissenschaftlichen Si)ekulation. Der Uebergang der religiösen in die
wissenschaftliche Welterklärung ist ein fliessender und allmälilicher. Beide
Strömungen durchkreuzen sich vielfach und laufen einander parallel. Und
Mystik. Kritik der ionischen Denker. Athenische Aufklärung 57
wenn die S[)t.'kulation in Jonien, wo die persische Invasion den i^rozess der
Befreiung des Individuums aus den Schranken der traditionellen Gebunden-
heit vollendet hatte, die Lösung der Probleme auf ganz neuen Wegen und
vielfach in ausgesprochenem Gegensatz zur religiösen Tradition sucht, so ist
sie docli in der Fassung der Fragen, der Formulierung der Sätze, dem Ziele
einheitlicher Welterldärung und dem kühnen Fluge der das Weltall um-
spannenden Phantasie trotz alles Gegensatzes von der mythischen Richtung
des Denkens beeinflusst, auch wo sie sich dessen nicht bewusst ist. Es ist
kein Zufall, dass auf die freie, öfter an Frivolität streifende Behandlung
der Göttermythen durch die ionischen Rhapsoden die energische Kritik der
ionischen Wissenschaft folgt. Beide Erscheinungen sind aus derselben Geistes-
richtung liervorgewachsen und Sym])tome der fortschreitenden Emanzipation
des Geistes von der religiösen Gebundenheit. Xenophanes ' stellt dem Poly-
theismus seine eine vollkommene Gottheit gegenüber, den Sterblichen an
Gestalt imd Gedanken nicht vergleichbar. Er erweist drastisch den Wider-
sinn anthropomorpher Götter. Er bekämpft den verhängnisvollen Einfluss,
den die Autorität Homers und Hesiods ausübt, die den Göttern alles ange-
hängt haben, was bei den Menschen für Schimpf und Schande gilt, stehlen
und ehebrechen und sich gegenseitig betrügen. Und dieselbe Richtung ver-
folgt Heraklit-, wenn er Homer aus den Preis wettkämpfen ausgeschlossen
wissen wdll und die Autorität der Sänger bekämpft. Im V Jahrh. suchen
dann ei*finderisclie Köpfe den Widerspruch homerischer Religion zur fortge-
schrittenen Sittlichkeit und Frömmigkeit durch allegorische Umdeutung zu
lösen. Wir sehen deutlich: Homer Avird zum Problem, weil seine Verteidiger
wie seine Gegner die Poesie nicht mehr naiv zu gemessen wissen, weil
die Schätzung der Poesie den Dichter auch mit dem Nimbus religiöser Au-
torität umgeben hat. Wir beobachten hier die ersten, freilich noch schwachen,
Ansätze zu einer Art Buchreligion, und sofort tauchen auch die Schwierig-
keiten auf, mit denen eine solche stets zu kämpfen hat. Das Buch findet
nur den Ausdruck der Sittlichkeit und Frömmigkeit seiner Zeit und seiner
Umgebung und widerspricht leicht dem Bewusstsein späterer Zeiten. Der
Widerspruch führt auf der einen Seite zur Bekämpfung und Verwerfung der
Autorität, auf der andern zur Verteidigung mit den Mitteln der Anpassung
und Umdeutung.
Die athenische Aufklärung des V Jahrh. (vgl. S. 14) setzt die Ge-
dankenarbeit der ionischen Wissenschaft fort und trägt sie in weitere Kreise.
Die Kritik der überlieferten Traditionen schreitet fort zu einer allgemeinen
Fassung des Problems der Religion, und die Antworten auf die Frage nach
dem Recht und der Wahrheit der ReUgion drücken die verscliiedensteu
zwischen zurückhaltender Skepsis und offen ausgesprochenem Unglauben
liegenden Auffassungen aus. An Stelle der absoluten Normen treten die
relativen Schätzungen. Man erkennt, wie viel von den väterlichen Traditionen
und Institutionen historisch geworden, durch mensclilichen Willen geschaffen
ist. Kann das alles also noch als absolut giltig, naturnotwendig, als gött-
liches Gebot erscheinen? Spricht nicht der Widerstreit der Sitten und Ein-
richtungen verschiedener Völker imd Stämme dafür, dass es auf dem Gebiete
des Konventionellen überhaupt keine W^ahrheit gibt? Auch auf religiösem
Gebiete ist diese Betrachtung mit dem dieser Zeit eigenen, keine Konse-
quenzen scheuenden Radikalismus durchgeführt worden. Zu allen Zeiten ist
Menschen, denen einseitig verstandesmässige Bildung und Kritik die Fällig-
keit religiösen Fülüens und Nachfülüens erstickt hat, die Rehgion als ein
1) Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker I^ Berlin 1906. Fr. 23. 10—16.
-') Ebenda Fr. 42. 104 (40. 57).
58 ^'i Hellenistische Religionsgeschichte: 1 Aeltere Entwickelung
so seltsames und überflüssiges Erzeugnis erschienen, dass sie den eigenen
Defekt als den ursprünglichen und normalen Zustand voraussetzen und eine
einmalige Genesis der Religion als menschliche Erfindung, ihre Ausgestaltung
inid Verbreitung als mechanischen Prozess der Entwickelung und Ueber-
traguug vorstellen zu müssen glaubten. Die rationalistischen Theorien der
Entstehung von Staat und Religion sind im Grunde alle schon zur Zeit der
Sophistik aufgestellt worden. Während die Ausbildung des politischen Den-
kens und des liistorischen Sinnes auf poKtischem Gebiet sie überwunden hat,
wirken sie auf religiösem Gebiet selbst in der Wissenschaft immer noch
nach. Demokrit ' sieht in der Furcht, welche die Wettererscheinungen, Blitz
und Donner, Kometen, Sonnen- und Mondfinsternis, im primitiven Menschen
erregen, ein Motiv des Götterglaubens. Nach Prodikos hätten die Menschen
alles, was ihnen den grössten Nutzen brachte, Sonne, Mond, Flüsse, Brod,
Wein, Feuer vergöttlicht -. Besonders verbreitet aber war eine von Plato
öfter bekämpfte Theorie, die in der Religion ein von den Mächtigen zur
Beherrschung der Massen erfundenes Mittel sieht. Kritias lässt Sisyphos in
einem uns erhaltenen Bruchstücke des gleichnamigen Satyrdramas eine
solche Theorie entwickeln-': Den rechtlosen Naturzustand, in dem die Ge-
walt herrschte, haben einst die Menschen durch Gesetze mit ihren Strafbe-
stimmungen beseitigt. Als sich dann aber herausstellte, dass auch die Ge-
setze geheime Vergehungen nicht verhüten konnten, kam ein besonders kluger
Mann auf den Gedanken, die Götterfurcht zu erfinden, um die Menschen
vom geheimen Bösen in Werken, Worten, Gedanken abzuschrecken. So ver-
breitet er den Glauben an die alles sehende und hörende Gottheit. Und sehr
glaubhaft weist er den Göttern den Himmel zum Wohnsitz an; denn von
dort kommen ja dem Menschen die Schrecken des Donners und Blitzes, von
dort erscheinen ihm die Wunder des Sternenliimmels und die Sonne mit
ihrem Glanz, von dort strömt der Regen herab. — Die Stimmungen der
neuen Zeit, die Zerrissenheit des innersten Lebens, die Fülle der Zweifel und
Probleme bringt auch hier Euripides wirkungsvoll zum Ausdruck, und der
Spott der Komödie wie die Massregeln der reaktionären Demokratie be-
weisen, dass weitere Kreise von dem Kampfe des AJten und Neuen erregt
wurden.
Aber es ist nicht zu vergessen, dass gerade die mit Sokrates anhebende
philosophische Entwickelung ihren Standpunkt über diesem Streit der Tages-
meinungen nimmt. Sie gewinnt, während die athenische Aufklärung mit
ihrer oberflächlich radikalen Erledigung dieser Probleme als Fortsetzung
ionischer Kulturentwickelung erscheint, eine sehr viel tiefere und ernstere
Stellung zur Religion. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Vor allem steht
die echt athenische Philosophie einer lebenskräftigen, von einem mächtigen
Staatswesen und einer hohen geistigen Kultur getragenen und künstlerisch
verklärten Religion gegenüber. Die Pietät für die väterlichen Traditionen,
das Verständnis für den Wert des Symbolischen in der Religion, der künst-
lerische Sinn für die Schönheit der Form, die Schätzung der liistorischen
Kontinuität, auch die Berührung mit jenem mächtigen Strome individuell
mystischer Frömmigkeit wirken je nach der Verschiedenheit der Individuali-
täten in Sokrates, Plato, Aristoteles zusammen, um trotz mancher kritischer
Aeusserungen gegen die religiösen Traditionen die ursprüngliche Verbindung
') Diels 8. 365, die ähnliche Ausführung bei Lucrez V 1218—1240 wird durch
Vennittelung Ejukurs mit Demokrit zusammenhängen; vgl. Kleanthes (S. 67) und
Seneca, Naturales Quaest. II 42, 3. -) Diels, Vorsokratiker (1. Auflage) S. 540,
vgl. Persaios (S. 67). ^) Diels S. 571, vgl. Cicero De nat. deor. I 77. 118.
Athenische Philosophie. Verfall der Religion. Tyche 59
von Philosophie und Religion wieder enger zu knüpfen und die Ethik durch
Aufnahme geläuterter religiöser Motive zu bereicheiu. Freilich gipfelt die
Weltanschauung des Plato und Aristoteles \ für die eine Trennung des Wis-
sens und Glaubens noch undenkbar ist, in einer individuellen, bei jenem
mystisch, bei diesem mehr ästhetisch gerichteten Frömmigkeit, die ihren Be-
kennen! einen vollen Ersatz für die Volksreligion geben wollte und musste.
Und insofern untergräbt auch diese positiv gerichtete Philosophie den Volks-
s^flauben, indem sie sich selbst an dessen Stelle setzt.
2 Uebersicht über die hellenistische Zeit
Den Prozess der religiösen Zersetzung, den die fortschreitende Wissen-
schaft und Kritik eingeleitet hat, besclüeunigt und vollendet die grosse Um-
wandlung der politischen Verhältnisse durch Alexander. So weit die Reli-
gion im politischen Leben begründet und der ideale Ausdruck der höchsten
sittlichen Güter des Gemeinwesens war, wurde sie im innersten erschüttert.
Wenn die Wurzel des stadt-staatlichen Lebens verdorrte, musste auch die
Blüte der in alle öffentlichen Institutionen verflochtenen Religion verwelken.
In dem Masse, wie die Städte zur Bedeutungslosigkeit herabsanken, sank
auch das Ansehen und der Kult der Götter, die ihnen vorstanden. Die Zeit
des Glanzes des attischen Reiches ist auch die Zeit, wo die nationale Kraft
und Bürgertugend im Bilde der Athena ihren idealen Ausdruck und in ihrem
Kult die glänzendste Darstellung findet. National beschränkte Götter teilen
die Geschicke ihrer Völker, erleben mit ihnen die Zeiten der Blüte und des
Niederganges. So erscheinen die lokalen Stadtgötter in hellenistischer Zeit
durch den grossen Verlauf der Geschichte in ihrer Wirkungssphäre beschränkt,
der alten bodenständigen Kraft beraubt, verflüchtigt und bedeutungslos, wenn
auch die berühmtesten hellenischen Heiligtümer durch den Philhellenismus
der Könige mit neuem Glänze umkleidet werden. Der Hellenismus ist zu-
nächst eine Zeit des Verfalles der griechischen Volksreligion. Das zeigt
sich besonders in dem Geschick der alten frommen Sitte des W^eihgeschenkes ^.
Sie dient jetzt der Befriedigung der Eitelkeit und des persönlichen Ehrgeizes,
wird des religiösen Gehaltes beraubt, veräusserlicht und verweltlicht. Und
die tiefere Seele echten religiösen Lebens vermisst man ebenso bei den neuen
Kulten und Pesten der Höfe wie bei den mit viel Reklame in Szene gesetzten
festlichen Veranstaltungen der Städte. Das Sakrale wird auch hier immer
mehr zur äusseren Etikette und leeren Form , zum Deckmantel politischer
Berechnung und kommunalen Ehrgeizes.
Die rasch auf einander folgenden Staatsumwälzungen und grossen Kata-
strophen der hellenistischen Zeit rufen bei der Menschheit ein Gefühl voll-
ständiger Unsicherheit und Unbeständigkeit aller Verhältnisse hervor, er-
') Aristoteles bezeichnet den Eindruck der meteorologischen Erscheinungen
und der Pracht des Sternenhimmels, der Gesetzmässigkeit der siderischen Bewe-
gungen einerseits, die in Ahnungen der Träume und im Enthusiasmus sich offen-
barende göttliche Kraft der Seele andrerseits als die beiden Quellen des Götter-
glaubens; s. Fr. 10 — 12 Rose, Zeller 11 2 S. 793 fif. — Im Grunde sind der Sternen-
himmel über uns und das Göttliche in uns (vgl. die Apotheose Piatos in der Elegie
an Eudemos und die Theorie des gottgleichen Herrschers) auch die wesentlichen
Faktoren seiner Religiosität. Herakles fasst er als süspy^"^''!? ßpoi:wv, s. Wilamowitz,
Euripides' Herakles I' S. 331 Anm. 121 (334). '") Reisch, Griech. Weihge-
schenk 1890 S. 3.
GO VI Hellenistische Religionsgeschtciite: 2 Hellenistische Zeit
sclüittern das Vertrauen auf die Zuläng-lichkeit der eigenen Kraft und auf
das Reg-iment der alten Götter. Dieser Weltenlauf scheint von der Tuxt)^
beherrscht, die nach Laune und Willkür Reiche zerstört und neue schafft,
das Hohe erniedrigt und das Niedrige erhöht, die ihre Macht in ruhe- und
regellosem Wechsel, am liebsten in ganz unerwarteten Schickungen offenbart.
Die Menschheit ist ein Spielball ihrer Launen. Die Tempel, Statuen, Weih-
geschenke, die ihr gestiftet werden, mehren sich seit der hellenistischen Zeit,
inid kaum eine der göttlichen Mächte spielt in der Literatur, besonders der
historischen und rhetorischen, eine grössere Rolle. Die mannigfach diffe-
renzierten und persönlich ausgestalteten Glücksgöttinnen gehen in die abstrakt
gefasste allgemeine Tyclie über. Was Plinius Nat. hist. II 22 von ihrem An-
sehen sagt, trifft auf die ganze hellenistisch-römische Zeit zu: tolo quippe
mundo et omnilms locis omnibusquc horls oinnium vocibiis Fortuna sola
uirocaiur ac noniinatur, una accusaiur, nna agilur rea, una co(filahu\
solo laudatur, sola atu/uilur. et cum conriciis colitur, rolubilis, a plerisque
rero et cacca exlslunatü, ratja^, inconstans, incerta, raria ind'Kjnoruntque
f'dutrix. Iiuic omnia expensa. huic onuiia fcruntur (ivvi'pta, et in tota ratione
morlaliuni sola ulramque paginam f'acit, adeoque obnoxü sunius sortis,
iit sors ipsa pro deo sit. Und mit Recht hebt Phnius hervor, dass sich in
der Stärke dieses Glaubens die ganze Unsicherheit der Vorstellungen von
den Göttern verrate. In allem Ernste wird ausführlich die Frage hin und
her erörtert, ob Alexander, ob die Römer ihre Erfolge der Tyche oder der
eigenen Tüchtigkeit verdanken.
Neben der Tyche wird die Eqxapjasvr; (oder 'Avayy.r^) als alles beherr-
schende Macht gefeiert; denn unter dem Einfluss der stoischen Lehre und
des immer weitere Kreise erfassenden Sternenglaubens gewinnt der Deter-
minismus an Boden. Aber auch von den religiösen Bezeichnungen der
höheren Mächte w^erden jetzt die unpersönlichen luid unbestimmten bevor-
zugt-, und der bunte Wechsel, in dem sich die Benennungen ablösen, be-
weist, dass nur die Erfahrung des störenden Eingreifens unberechenbarer
Faktoren in das Bereich menschlicher Handlungen zugrunde Hegt, dass man
auf klare Vorstellung des Wesens dieser Mächte verzichtet. In diesen vagen
Fassungen verrät sich die ganze Unsicherheit und Inhaltlosigkeit des reli-
giösen Gefühles, eine Ratlosigkeit, die sich in der Welt nicht zurechtzufinden
weiss. Mit der Verflüchtigung der persönlichen Götter und ihrer Zurück-
drängung durch die allgemeinen Gattungsnamen muss die persönliche Fröm-
migkeit an Gehalt und Innigkeit Einbusse leiden. Wolil äussert sich in
diesen abstrakten Fassungen der monotheistische Trieb oder richtiger die
Entudcklung zum persönlichen Göttlichen. Aber eine Vertiefung des reli-
giösen Gefühles (Beloch III 1 S. 444) kann darin nur erkennen, wer den
monotheistischen Formen an und für sich, abgesehen von dem Inhalt, den
sie fassen, den Vorzug vor dem Polytheismus gibt. Die monotheistische
1) E. Rohde, Griech. Roman- S. 296—304, Lorenz' Pseudolus- Ausgabe S. 21—
23, Deubner, Roschers Lexikon IH Sp. 2142 ff., von Scala, Studien des Polj-bios I
159 ff., Rainfurt, Zur Quellenkritik von Galens Protreptikos. Freiburg i. B. 1905
S. 10 ff. Demetrios von Phaleron leitet in dem Bruchstück bei Pol. 29, 21 den
Glauben an die Tyche von dem Eindruck der Katastrophen des letzten halben
Jahrhunderts her. — Vgl. Juvenal 10, 305. 3(36 = 14, 315. 316. ^) S. Krüger,
Theologumena Pausaniae, Leipzig 1860 S. 25 ff. Der Gebrauch der unbestimmten
Ausdrücke wie O-öös, tö 9-eiov, lö Saiiioviov ist älter (Nägelsbach, Naclihomerische
Theol. S. 138 ff.), ihre Bevorzugung und Bereicherung für die hellenistische Zeit
charakteristisch.
Unbestimmte Götterbegrifte. Epikureische Religion 61
Richtung des Hellenismus ist schliesslich doch nur das Produkt einer Auf-
lösung und Entleerung der Religionen. Ihre geschichtliche Bedeutung liegt
darin, duss sie die Formen geschaffen hat, in die das Christentum Eingang
finden und einen neuen religiösen Gehalt giessen konnte. Sie verbindet sich
vielfach mit universalen und monotheistischen Tendenzen, die sich schon
ähnlich in der selbständigen Entwicklung der fremden Religionen, besonders
der ägyptischen, geltend gemacht hatten.
Dennoch darf man dies Zeitalter nicht irreligiös nennen. Die Signatur
der beiden ersten Jahrhunderte des Hellenismus ist freilich der Rationalis-
mus. Aber an religiösen Unterströmungen hat es nie gefehlt. Nur sucht
sich das religiöse Bedürfnis neue Mittel zu seiner Befriedigung und neue
Götter. Die orientalischen und ägyptischen Kulte machen stetige Fortschritte.
Das Zuströmen neuer und die Entwertung alter Götter geht parallel. Die
religiöse Richtung der Philosophie, die von Poseidonios ausgeht, Augustus
Versuch einer religiösen Reformation sind dann Vorläufer einer religiösen
Reaktion, die, im H Jahrhundert mächtig anschwellend, der folgenden Ent-
^vicklung ihre Grundrichtung gibt.
3 Die Philosophie
Die Philosophie des hellenistischen Zeitalters will dem Gebildeten zu-
gleich Religion sein, mag sie nun in der Ethik überhaupt einen vollgiltigen
Ersatz für die Religion finden und diese verflüchtigen oder tolerieren (Skep-
sis und Epikur) oder die philosophische Religion an Stelle der volkstümlichen
setzen. Auflösend und zersetzend wirkt sie in jedem Falle auf die Volks-
religionen, auch wenn sie, wie die Stoa, Fühlung und Anschluss an die-
selben sucht.
In eA\dger ungetrübter Freude und Selbstgenuss, unbekümmert um diese
Welt und in ihren Lauf nicht eingreifend leben Epikurs anthropomorphe
Götter in den Z\^ischenw^elten als reinste Repräsentanten des hedonistischen
Lebensideales ^. Aber wie an der Aufrichtigkeit dieses Götterglaubens schon
wegen seiner erkenntnistheoretischen Begründung nicht gezweifelt werden
darf, so ist auch der Begriff der epikureischen Frömmigkeit durchaus ernst
zu nehmen. Im Gegensatz zu der auf Egoismus und Furcht gegründeten
volkstümlichen Frömmigkeit geht diese Frömmigkeit aus der interesselosen
Be\\ainderung der die Menschen überragenden Wesen hervor. Sie hat von
den Göttern gar nichts zu erwarten, weder zu hofften noch zu fürchten. Sie
ist eine w^esenthche Grundlage der atapac''a, indem sie den Menschen von
allen den Beängstigungen und Befürchtungen befreit, in denen der vulgäre
Götterglaube ihn gefangen hält. Sie ruht wesentlich auf ästhetischer Stim-
mung, schhesst zwar die Beteiligung an der väterlichen Religion nicht aus -,
tritt aber doch durch den ganz verschiedenen Inhalt ihres religiösen Fühlens
in schärfsten Gegensatz zur Volksrehgion. „Gottlos ist nicht, wer die Götter
der Menge vernichtet, sondern w^er den Göttern die Vorstellungen der Menge
anhängt" (S. 60, 7 Us.). „Erfüllte Gott die Gebete der Menschen, so würden
sie bald alle zugrunde gehen, da sie beständig einander alles Schhmme wün-
schen" (S. 259, 1). Und auch die sonst gebräuchlichen Religionsübungen
') Usener, Epicurea S. 71. 232 ff. '-) Usener S. 258, 14 xa-ä ~.b -dcxp'.ov
20 y.a-ä -obc. \ö^ov>c.. Cicero De nat. deor. I 85 7iori ego Epiaireos omnia sigilla ve-
nerantes und Oxyrynchos Papyri II Nr. CCXV (Wilamowitz, Gott. Gel. Auz. 1900,
S. 35).
(32 VI Hellenistische Religionsgeschichte: 3 Die Philosophik
erscheinen auf diesem Standpunkt absurd ^ ebenso Orakel wesen und jede
Art von Divination (S. 2G1, 262). Die Polemik richtet sich weiter gegen
die Mythen der Dichter, die den Göttern Affekte zuschreiben und von ihren
Kiinipt'en, Verwinulmigen, Zerwürfnissen, Ehebruch und" Fesselung, Geburt
und Tod zu erzählen wissen-. Werden die theologischen Ansichten aller
Denker bekämpft, so tritt doch in den Mittelpunkt der Polemik die stoische
Theologie und Vorsehungslehre. Weder in der Organisation des Menschen
noch in der des Kosmos noch in dem Weltlauf mit aUen seinen schreienden
Ungerechtigkeiten vermag Epikur irgendwie das Walten einer göttlichen
Vorsehung Avahrzunehmen ^.
Noch ausschliesslicher beschränkt sich die Skepsis der Akademie in
den religiösen Fragen auf negative Polemik. Selbst die uns erhaltenen zer-
streuten Reste ^ lassen noch deutlich erkennen, dass Karneades' (vgl. S. 28)
Bestreitimg des Götterglaubens, die Dichter, Philosophen und den Volks-
glauben berücksichtigte und keine Möglichkeit unerörtert Hess, die umfas-
sendste, gedankenreichste, scharfsinnigste ist, die das Altertum hervorgebracht
hat. Die Begründung des Götterglaubens aus der Allgemeinheit seiner Ver-
breitung, die Stoiker und Epikureer als Beweis anriefen, bestreitet Karneades
durch den Hinweis auf die Atheisten ; und der Stoa hielt er noch besonders
den Widerspruch der Berufung auf diese Instanz mit ihrem Dogma, dass
die Menge der Menschen Toren seien, vor^. Die anthropomorphen Vor-
stellungen werden bekämpft durch den Hinweis auf ihre Entstehung, auf den
Widersinn der aus der Uebertragung menschlicher GKedmassen, Tugenden,
Affekte auf die Götter sich ergebenden Konsequenzen ". AVenn sich Epikur
auch für die Annahme menschenähnlicher Götter auf die Allgemeinheit dieser
Vorstellung berief, so wird dem die Tatsache entgegengehalten, dass die
Aegypter ebenso fest von ihrem Glauben an die Tiergestalt der Götter
überzeugt sind, wie überhaupt mit Erfolg auf den Widerstreit der mannig-
fachen Vorstellungen über die Götter hingewiesen wird '. Der stoische Ver-
such, den Pantheismus mit der Volksreligion in Ausgleich zu bringen, wird
abgewiesen durch den Widerspruch gegen die allegorische Ausdeutung, die
den Götternamen einen ganz andern Sinn als den gewöhnlichen unterschiebe
und vergeblich die Absurdität der Mythen aufzuheben suche-. Und der
stoischen Gleichsetzung der vielfachen göttlichen Potenzen mit den Göttern
0 Lucr. V 1198
tiec pietas ullast velalum saepc videri
vertier ad lapidem atque omnis accedere ad aras
nee procumberc humi prostratum et pandere palmas
ante deiim delubra nee aras sangnine muUo
sparyere quadnipedum nee votis ncetere vota.
Plutarch Mor. p. 398 A sagt der Epikureer Boethos : Äiileo Tiav-ci y.ai yaJ.y.m auiJf^'jpäao[isv
aötöv. 2) Cicero De nat. deor. I 42, Philodem Ilspl euasßsia; her. von Gom-
perz, Leipzig 1866 und die von mir („Philos Schrift über die Vorsehung", Berlin
1892 S. 58 ff.) nachgewiesene epikureische Quelle Philos. ») S. 248 ff.. Die
epikureische Quelle Philos, s. Wendland a. a. O. 8. 68. 72. 73 ff. 12 ff. *) Cicero
De nat. deor. III und I 57 ff., Sextus p]mp. IX 137 ff., vgl. Schmekel, Die Philoso-
phie der mittleren Stoa, Berlin 1892. Vick, Hermes XXXVII S. 230 ff. «) Ci-
cero De nat. deor. 1 62 ff. III 11. — I 63. 86 hebt Cicero hervor, dass die grossen
Verbrecher sich durch keine religiösen Skrupel stören lassen , vgl. Plinius Nat.
Hist. n 21. 8) Cicero I 77 ff., HI 38 Sext. 152 ff. ■>) Cicero I 81.
82. m 47. «) Cicero HI 11 62. 63. Ebenso äussert sich der Epikureer 136.
40. 41.
Kritik dos Karneades. Stoischer Pantheismus 63
des Volksglaubens tritt Karneades durch Kettenschlüsse entg:egen, die den
Widersinn der Annahme aus der Ki)nse(|uenz einer unabsehbaren Götterreihe
deduzieren. Ist Zeus Gott, so muss es auch sein Bruder Poseidon sein. Ist
es Poseidon, so auch Acheloos. der Nil, jeder Fluss, dann aljer auch jeder
Bach'. Die Ablehnung auch nur des letzten Gliedes der Reihe führt zur
Ablehnun"- der ganzen Reihe und auch des ersten Gliedes. Andere Reihen
sind z. B. : Aphrodite, ihr Sohn Eros, "EXeoc;, U^6[io5, überhaupt die -äö-r^ ;
Demeter, Erde, Teile der Erde; Sonne und Mond, Lucifer, Planeten, Fix-
sterne, Iris, Wolken, alle möglichen meteorologischen Erscheinungen -. Kar-
neades bestreitet die gesamte stoische Kosmologie imd Teleolog-ie, die Auf-
fassung der Welt als Z,CiiOv und göttliches Wesen •', besonders die Lehre von
der Vorsehung. Der Behauptung, dass die Fürsoi'ge der Götter in der dem
Menschen verKehenen Gabe der Vernunft sich offenbare, widerspricht all das
Unheil, das aus dem gerade nach stoischer Lehre überwiegenden Missbrauch
dieser Gottesgabe folgt. Der Einwand, dass für den Missbrauch die Men-
schen aUein verantwortlich zu machen seien, wird abgewiesen, da die Mög-
lichkeit des Missbrauches in der von den Göttern geschaffenen Natur des
Menschen begründet wäre. Und wenn die Götter nicht alle Menschen gut
schaffen konnten, so sollten sie wenigstens für das Wohlergehen der Guten
sorgen^. Statt dessen sieht man, dass Glück und Unglück oft gerade im um-
gekehrten Verhältnis von Tugend und Laster verteilt sind. Das Glück der
Ungerechten vmd Gottlosen widerlegt die Annahme einer göttlichen Vor-
sehung. Wendet man ein, dass die Strafe sie, wenn auch oft spät, endlich
doch trifft, so wäre es doch richtiger, sie von vornherein an ihren Untaten
zu hindern. Und sagt man, dass die Frevler oft in Kindern und Kindes-
Idndern bestraft würden, so wäre das eine schreiende Ungerechtigkeit^. —
In ausführlicher Argumentation verwirft Karneades im Gegensatz zur Stoa
Astrologie und alle Formen der Divination "^ ; und der beliebten stoischen
Methode, den Unglauben in einer Flut frommer und erbaulicher Geschichten
zu ersäufen, setzt er den absoluten Zweifel an der Wahrheit solcher Erzäh-
lungen entgegen.
Dennoch gestattet, so schwer es uns begreiflich ist, selbst dieser Stand-
punkt eine Teilnahme am Kultus ; denn die Norm des Wahrscheinlichen, der
auch der zur skeptischen Zurückhaltung sich Bekennende in der Praxis des
Lebens folgen soll, gestattet ja, in der Lebensführung das anzuerkennen, was
man theoretisch für nicht erwiesen ansieht. So heisst es denn Cicero III 44,
Karneades habe nur die Beweise der Philosophen widerlegen wollen ; es habe
ihm die Absicht ganz fern gelegen, den Götterglauben aufzuheben. Und mit
einer den Zwiespalt geflissentlich hervorhebenden erstaunlichen Schroffheit
bekennt sich der Vertreter der akademischen Lehre bei Cicero, der Pontifex
Cotta zu der doppelten Buchführung auf den Gebieten des Wissens imd des
Glaubens, die ihm trotz aller Skepsis die Aufrechterhaltung des väterlichen
') Sext. IX 182, vgl. Cicero in 43. -) Sext. 186. 187—189 vgl. Cic.
III 52. — Cicero III 51. — Auä anderer Quelle stammen die Indices deorum III 42.
53—60, in denen alte theologische Pseudo-Gelehrsamkeit alle Traditionen durch
Unterscheidung synonymer Götter zu konservieren suchte ; s. Michaelis, De origine
Indicis deorum, Berlin 1898, der auch die von den christlichen Apologeten benutz-
ten Kataloge z. B. über geschlechtliche Ausschweifungen der Götter, Göttergräber
u. a. zusammenstellt. ^) Die Gründe s. Schmekel S. 305. 306, Vick S. 234 &.
*) Cicero IH 65—79. ^) Cicero III 80 ff., Wendland a. a. O. S. 47 ff. «) Wend-
land S. 24 ff. 36 ff., Boll Fleckeiseus Jahrb. Suppl. XXI S. 181 ff. — Hartfelder, Die
Quellen von Ciceros zwei Büchern De div., Freiburg i. B. 1878 S. 13 ff.
G4 VI Hellenistische Religionsgeschichte: 3 Die Philosophie
Glaubens ermöglicht ^ In dieser Anerkennung des Wertes der väterlichen
Tradition scheint sich die Skepsis von E})ikur nicht viel zu unterscheiden.
I\lerk\vürdi<>-erweise hat diejenige Schule, die mit ihrem Pantheismus
und dem Begrifte der immanenten Gottheit von den gewöhnlichen religiösen
Vorstellungen sich am weitesten zu entfernen schien, den engsten AnscUuss
an die Volksreligion gesucht. Im Zusammenhange der stoischen Philosophie
mit dem Kynismus ist diese Haltung der stoischen Theologie nicht begrün-
det; vom Kynismus hat sie nur das Mittel allegorischer Umdeutung der
Mythen übernommen. Die Kyniker haben von der Sophistik den Wider-
spruch gegen die Macht des Konventionellen geerbt, und sie haben auch im
Gebiete des religiösen Herkommens die extremen Konsequenzen gezogen und
mit plebejischer Roheit alles, was dem antiken Menschen heilig w^ar, mit
derbem Spott überschüttet. Durch ihre pietätlose Verwerfung aller väter-
lichen Tradition und jedes religiösen Brauches stechen sie von allen andern
Philosophenschulen ab und sind trotz ihres Monotheismus die Radikalen und
im antiken Sinne Atheisten, d. h. solche, die die väterlichen Religionsübungen
verwerfen'"^. Nur deren Ausübung erschien als berechtigte Forderung des
Staates, welcher der theologischen Spekiüation die grösste Freiheit Hess, so-
lange sie nicht an die Praxis der Religionsübvmgen rührte. Von jener kyni-
schen Negation, deren Einfluss noch Zenons UoXiTdoc verrät (S. 16), hat sich
die herrschende Theologie der stoischen Schule losgesagt.
Die Philosophie der Stoa zeigt ein merkwürdiges Doppelantlitz, reine,
nur wissenschaftlich interessierte Spekidationen auf der einen Seite, auf der
andern ein feinfüliliges Eingehen auf die Bedürfnisse der Zeit und eine An-
passimgsfähigkeit an die Wirldichkeit, durch die diese Philosophie wie keine
andere berufen war, in der Periode des älteren Hellenismus, unter der Herr-
schaft der römischen Republik, in der Kaiserzeit den Stimmungen der Zeit
einen zusammenfassenden Ausdruck zu geben. Betrachten wir zunächst auf
religiösem Gebiete die spekiüative Richtung. In stetem Wechsel der grossen
Weltperioden lässt die Gottheit Elemente, alle Wesen, den vielgestaltigen
Kosmos aus sich hervorgehen und nimmt alles wieder in die ursprüngliche
Einheit auf. In ewigen Rhythmen bewegt sich der Weltprozess in den immer
wiederkehrenden Grenzen der O'.ax6a[xr^ao? und exTiupwat?. Die eine göttliche
Urkraft, physisch als Pneuma und Aether, geistig als Weltseele, Xojoc, el\i<xp-
\iivri, r.pövoioi gefasst, durchdringt den Kosmos und hält jedes einzelne W>sen
zusammen. In grösserer oder geringerer Stärke, in feinerer oder gröberer
QuaUtät offenbart sie sich in bald unmittelbaren, bald mannigfach vermittel-
ten Wirkungen und Teilkräften, die von ihr ausgehen. Sie entfaltet sich in
den Elementen und offenbart sich in der feurigen Natur, der regelmässigen
Bewegung der Gestirne und dem dadurch bewirkten gleichmässigen Wechsel
von Tag und Nacht, Sommer und Winter ; sie durchdringt in der Stufenfolge
von voöc, '\>'^yJi, '-pua'.c, sctc die Einzelwesen. Dieser erhabene pantheistische
Monotheismus, der die Einheit und Gesetzmässigkeit des Kosmos aufs ^vir-
kungsvollste verkündet, der Physik und Ethik unter dasselbe götthche Gesetz
stellt und ihnen die tiefste Begründung gibt, hat auf die Läuterung der
religiösen Vorstellungen und auf die Verbreitung eines universalen Gottes-
begriffes einen mächtigen Einlluss ausgeübt.
Dennoch hat diese Theologie, die im Grunde nur ein göttliches Ur-
') Cicero III 2 opiniones , quas a maioribus accepimus 9 mihi enim unitm sat
erat, ita nobis inniores nostros tradidisse 43. Andere Belege in Rohdes Griech. Ro-
man- 229'. •') Zeller II 1^ S. 328 flf., Bemays, Lukian und die Kyniker, Ber-
lin 1879 S. 30 ff.
Verhältnis zum Volksglauben. Theologische Literatur 65
wesen, und zwar ein unpersönliches kennt, den Ansehluss an die volkstüm-
liche Religion j>etiissentlicli gesucht. Diese Anknüpt'mig ist sichei' nicht nur
bestimmt durch die politisclie Berechnung- und das praktische Intei'csse, den
volkstümlichen Götterglauben als eine für die Menge unentbehrliciie Stütze
der sittlichen Ordnung- aufrecht zu erhalten, sondern auch durch die Tiefe
eines religiösen Gefühles, das sich bewusst ist, menschlich beschränkte Bilder
und anthri)i)omorphe Vorstellungen nicht entbehren zu können, um die Macht
des Göttlichen und das persönliche Verhältnis des einzelnen zu demselben
zum Ausdruck zu bringen, und durch die pädagogische Absicht, den Volks-
glauben mit reineren religiösen Vorstellungen zu durchsetzen und so zum
Vehikel einer höheren pliilosophischen Religion zu machen. So entsteht eine
freilich nicht erfreuliche Vermittelungstheologie. Die Stoa findet die An-
knüpfung ihrer Theologie an den Volksglauben, indem sie als das beiden
gemeinsame Moment die Vorstellung stark betont, dass die Welt in allen
ihren Teilen von göttlichen Kräften und Wirkungen erfüllt ist, die wesent-
liche Differenz aber hinwegdeutet, dass der Volksglaube für jede Art dieser
Wirkungen einen besonderen persönlichen Urheber sucht, während die stoische
Philosophie sie als Aeusserungen der einen göttlichen Urkraft, als deren Teil-
kräfte und Vermittelungen fasst, die ebenso unpersönlich sind wie jene. Und
nachdem sie einmal sich gewöhnt hat, den volkstümlichen, in Sagen, Sprich-
wörtern, Dichtungen niedergelegten Vorstellungen eine besondere Bedeutung
beizulegen und in ihnen den symbolischen Ausdruck tieferer Weisheit zu
suchen, ergreift der Prozess der Harmonisierung- philosophischer und histo-
rischer Religion auch die ihm scheinbar völlig- widerstrebenden Gebiete des
abstrusesten Aberglaubens und bereichert das System mit Lehren, die nur
dem Wunsche, jene Ausgleichung konsequent durchzuführen, ihren Ursprung
zu verdanken scheinen. So rechtfertigt die Stoa Orakelwesen und Traum-
deutung- mit der Lehre vom göttlichen, im Enthusiasmus sich offenbarenden
Ursprünge der Seele; sie weiss Astrologie und alle Arten „künstlicher" Divi-
nation mit ihrer Lehre vom Schicksal und vom inneren Zusammenhange und
der Sympathie aller Teile der Welt in Einklang zu setzen; sie etabliert in
ihrer Dämonenlehre den niederen Volksglauben; sie bringt mit einem von
aller Kritik verlassenen Sammeleifer eine Unzahl frommer Geschichten zu-
sammen, um damit den wissenschaftlichen ScheinbeAveis zu ergänzen und zu
stützen.
Das Hauptmittel, die erwünschte Konkordanz herzustellen, ist die alle-
gorische Deutung. Wir wissen, dass schon die älteren Stoiker sich mit
allegorischer Umdeutung homerischer und hesiodischer Dichtungen, einzelner
Göttergestalten und Mythen beschäftigt haben. Aber für das wenige, was
uns von dieser Schriftstellerei erhalten ist \ müssen uns spätere Handbücher,
die den Niederschlag der sehr viel reicheren alten Erudition geben, ent-
schädigen. Sie bew^eisen durch ihre populäre Fassung, dass diese theologi-
sche Hannonistik auf weitere Kreise wirken wollte und sich auch weiter
Verbreitimg erfreute. Wir haben, schwerlich in ursprimgliclier Gestalt, von
dem berühmten Stoiker der neronischen Zeit, Cornutus, ein Handbuch, das
die Götter der Reihe nach allegorischer Umdeutung unterwirft -. Wir haben
eines unbekannten Heraklit homerische Allegoi'ien •', die wegen ihrer engen
1) S. z.B. Zeno Fi-. 100. 103. 121. 1(37. 169, Chrysipp in Stoic. vet. fragm. Bd.
II Fr. 909. 1061 ff. v. Arnim, Diogenes Fr. 33. '') Ed. Lang, Leipzig 1881. Der
Mangel an Zusammenhang, den Laug öfter dui'cli Annahme von Interpolationen
willküi-lich herstellt, spricht für spätere Ueberarbeitung. Vielleicht gehören dieser
die Am-eden w TiaiSiov, Tiai, -rexvov au (vgl. den Schluss der Schrift). ^) Ed.
Lietzmann, Handbuch z. Neuen Test. I, 2. 5
66 VI Hellenistische Religionsgeschichte : 3 Die Philosophie
Verlnndung- mit der grammatischen Gelehrsamkeit Alexandrias und Pergamons
nicht nach dem I Jahrh. n. Chr. angesetzt werden können. Probus zu Ver-
gil zitiert allegorische Auslegungen des Grammatikers Heraldeon (etwa aus
augusteischer Zeit), die zum Teil bei Sextus Empiricus wörtlich wiederkehren.
Dazu kommen Exzerpte bei Stobäus unter Plutarchs Namen, die auf dieselbe
Quelle zurückgehen wie verwandte Stücke unserer pseudoplutarchischen Vita
Homeri, endlich eine Fülle ähnlicher Deutungen beim Neuj^latoniker Por-
})hyrios und gleichartiges Material in mancherlei Scholiensammlungen. Alle
diese sich vielfach berührenden Schriften sind im wesentlichen aus gemein-
samer älterer Tradition abgeleitet, und wahrscheinlich hat ein Werk des
Krates (S. 28) die gemeinsame Grundlage gegeben ^
Durch meist willkürliche Etymologien werden die Götter des Volks-
glaubens zu physischen und geistigen Potenzen gemacht, ihre Mythen, Attri-
bute, Begleiter der stoischen Deutung angepasst, der Zweck, auf diesem
Wege wahre Frömmigkeit und IMoral zu verbreiten, offen ausgesprochen
(s. z. B. Coniutus S. 76). Zeus wird mit LJiv, der Accusativ A{a mit oca
zusammengebracht, Hera ist gleich d7]p, Hades (= 'Aiorj?) die untere Luft-
schicht. Die Häufung verschiedener sich ausschliessender Deutungen macht
an der Methode nicht irre ; denn die Fülle der Deutungen erweitert nur den
Machtbereich des Gottes und erhöht das Ansehen der tiefen Urweisheit, die
das Altertum in Symbole und Rätsel zu kleiden wusste (Corn. S. 76 2 ff.).
]\Iit Vorliebe werden die Götter zu AÖyot, göttlichen Teilkräften im Sinne
der Stoa erhoben ^. Der Mythos von der Zerreissung des Dionysos ist bild-
liche Einkleidung der Weinbereitung, Herakles und Odysseus werden zu
sittlichen Heroen umgedeutet.
Homer Avar zum Problem geworden. Die Allegoristen erkennen die
ältere Kritik als berechtigt an und sind im Grunde mit der Skepsis und
Epikur einig, dass es unmöglich sei, Göttern menschliche Leiden und Leiden-
schaften beizulegen, von ihren Kämpfen und ihrer Verwundung zu reden.
Aber sie meinen, in ihrer Methode allegorischer Deutung das unfehlbare
Mittel gefunden zu haben, die Ehre der Dichter zu retten, die radikalen
Konsequenzen Piatos und Epikurs abzulehnen und aus dem Urborne ältester
Weisheit immer neue Offenbarungen zu schöpfen. Homer ist die Quelle
aller W^eisheit und Erkenntnis, aus der alle Denker geschöpft haben, der
undankbare Plato vor allen ; die moderne Physik und Theologie, Kosmo-
graphie und Geographie ist ihm schon in allem bekannt gewesen. Die
Stimmen der Alexandriner, die in dieser pseudowissenschaftlichen Exegese
mit Recht die Verkennung des Avahren Wesens der Poesie sehen, werden
überhört. Die Schrift Heraklits offenbart, mit welcher Leidenschaft und
blindem Unverstand von Rationalisten und Allegoristen eine gleich schlechte
Sache geführt wird. Es gibt für Heraklit nur die Alternative, Homer der
Gottlosigkeit zu zeihen oder durch allegorische Auslegung zu beweisen-',
Mehler, Leiden 1851. ') Das Quellenverhältnis ist klargestellt durch Diels,
Doxographi S. 88 ff. Maass, Aratea S. 167 ff. >) Z. B. Corn. S. 20, 18 Tuy^ä-
vEt 8= 6 'Ep|jLy,5 ö Xiyoc, (ov, Sv d-eaxciXav 7ip6? f^iiä; s; oOpavou oi O-soi, 4, 13 Poseidon
Xdyos xaO-' ov I5isi tj cüaic;, 8, 13 Okeanos 6 or/.iwg vsöjisvos Xöyog, 29, 5. 51, 13.
^) Heraklit ed. Melder S. 1 ttäv-ws fäp yjaeßrjaev, sl jitiSsv y,XXr,f6prizz^ S. 45 ta'jxyjg
Toivuv Tf,g äaä^siag sv eci'tv dcvTi'^äpp.axov, säv §7ii8s';£o)[isv i,XXriyopri\i.B'/ov xöv |Jiö9-ov S. 54.
55. 88. 112 iTi'.Yvwceta!, , xö toy.o'y/ aöxqi doeßTf)|ia TziqXiv.r,z [leaxöv eaxt, cfiXoaocpiag, [Lon-
gin] Ilipl 'jio'jg 9, 7 äXÄä xaOxa cfoßöpä |idv, TcXr^v äXXwc:, sl |ir) y.ax' ä.XXTifopici.w XoLix'fiä.-
voixo, -avxär.aj'.v ä.H% xai oü ocp^ovxa x6 Tipdjiov und die dort von Vahlen angeführten
Parallelen.
Allegorische Auslegung-. Rationalisierende Mythenbehandlung 67
dass man nur den verbornfenen tiefen Sinn anstössififer Stellen zu entdecken
braiiclie, um aus ihnen die Mysterien tiefster Weisheit 7ai schöpfen. So
wird denn z. 13. ApoUon als Helios g^efasst und die Pest vom Sonnenbrand
abgeleitet, um für eine das sittliche Gefühl verletzende Handlung des Gottes
einen rein physischen Vorgang einzutauschen. Die Fesselung der Götter,
der Sturz des Hephaistos, das Aufhängen der Hera, der Ehebruch des Ares
mit Aplirodite u. a. m. wird im Sinne der stoischen Elementenlehre umge-
deutet, und das alles in der Ueberzeugung, dass damit erst das rechte Ver-
ständnis und der vollkommene Genuss der Dichtung ermöglicht werde. Diese
Auslegung ist den Allegoristen eine kostbare Geheimwissenschaft, die erst
den wahren dem nicht Eingeweihten völlig verschlossenen Sinn eröffnet ^ Als
uT^ovo'.a, äXAr^yopia, cpuatxo? Aoyo;, cpua^oXoyca stellen die Stoiker den ver-
borgenen Sinn dem auf der Oberfläche liegenden entgegen.
Die stoische Theologie beschränkt sich nicht auf die Anerkennung der
Göttlichkeit physischer Potenzen. Kleanthes erkennt vier Quellen des Götter-
glaubens an, die Ahnung des Künftigen, die dankbare Anerkennung der
nützlichen Gaben der Natur, die Wirkung der meteorologischen Erscheinungen
und als wichtigste den Eindruck des Sternenhimmels '^. Und Persaios, wie
Kleanthes Schüler Zenons, hebt besonders hervor, dass die Wohltäter der
Menschheit und die Dinge, welche dem Menschen nützen und sein Leben
erhalten, göttücher Verehrung gewürdigt seien ^. Eine noch mehr Kategorien
scheidende Behandlung des Poseidonios haben wir in mehreren abgeleiteten
Quellen^. Es sei nur erwähnt, dass hier als Beispiele der Vergötterung des
Nützlichen, neben der auch Vergötterung des Schädlichen angenommen wird,
Dionysos und Demeter d. h. Wein und Brod, als vergottete Wohltäter He-
rakles, Dionysos, die Dioskuren genannt werden.
4 Rationalistisch-pragmatische Mythenbehandlung
Mythos und Historie sind für das antike Be^vusstsein nicht so streng
geschieden, wie das moderne Gefühl anzunehmen geneigt ist. Der Mythos
ist den Griechen die älteste Geschichte. Das mythische Denken ist nie
durch eine die Wahrheit suchende Forschung Avirklich abgelöst und ausge-
scliieden worden. Die erwachende Reflexion und die fortschreitende Auf-
klärimg haben die Geltung des Mythos nicht beseitigt; sie haben nur dazu
geführt, dass er umgestaltet und den herrschenden Anschauungen bewusst
oder unbewiisst angepasst wurde. Er nimmt ein neues Kostüm an und
kleidet sich in neue Formen, aber aktuell ist er in weiten Kreisen stets ge-
blieben. Die frei gestaltende Dichtung der Rhapsoden, die uns noch heute
entzückende Kunst des ionischen Geschichtenerzählers , der konservative
Sammeleifer systematisierender Dichter und Genealogen, die auf die eigene
Klugheit und Skepsis stolze Pragmatisierung der ältesten Rationalisten, die
mysteriöse Weisheit der Allegoristen, sie sind alle Stadien eines zusammen-
hängenden Prozesses, der die Perioden der geistigen Entwickelung wieder-
spiegelt und der beweist, dass trotz der skeptischen und oft radikalen
Unterströmung das alte Erbe der Väter seinen mit den Zeiten freilich stark
wechselnden Wert behalten hat. Und nachdem besonders die peripatetische
.Schule die Methode gelehrt hatte, den Mythos in seinem ursprünglichen
') S. 5. 112. -) Fr. 528 in Stoic. vet. fragm. ed. von Arnim. 2 fan-
den wir bei Prodikos, 1 bei Aristoteles, 3. 4 bei Demokrit, Kritias, Aristoteles
3) Fr. 448 von Arnim. *) Ai'chiv für Gesch. der Philos. I S. 201 ff.
5*
68 VI Hellenistische Religionsgeschichte: 4 Mythenbehandlung
Sinne zu be^rreifen und zu geniessen, hat zwar die ernste Forschung' niclit
erfolglose Mühe aufgewandt, den reichen Bestand der Traditionen mit mi)g-
lichster Treue zu bewahren und mit tieferem Verständnis zu durchdringen ;
aber auch in hellenistischer Zeit ist der Trieb nicht erstorben, den Mythos
für die Gegenwart aktuell und lebensfähig zu machen, die alten Schätze
durch Umgestaltung und freie Erfindung in neuen Formen auszuprägen.
Alexanders Taten sind sofort in den Mythos projiziert worden. Das Unter-
haltungsbedürfnis forderte mit der fortschreitenden Bildung eine breite, für
ims fast völlig verlorene Literatur. Novellensammlungen, Liebesgeschichten,
utopische Politien, Reiseromane, die schon von den Zeitgenossen ins Phan-
tastische gezeichnete, von der rhetorisierenden Historie immer wieder nach
dem Zeitgescluuack und wechselnder Tendenz umgemodelte, endlich ganz in
den Roman auslaufende Alexandergeschichte mussten es befriedigen. Solche
Literatur ist an und für sich ephemer, sie wird immer neu aufgelegt, und
die Produktion der folgenden Generationen verschbngt die Erzeugnisse der
voraufgehendeu ; späte Ableger der Gattung müssen uns einen Ersatz geben
für die dürftigen Reste der auf diesem Gebiet der popiüären Literatur so
fruchtbaren hellenistischen Zeit. So erscheinen auch immer neue, gar keine
wissenschaftlichen Zwecke verfolgende, nur auf die imversiegüche Freude
des Griechen an schönen Geschichten rechnende Mythenbearbeitungen, in
denen aktuelle Tendenzen, rhetorische Effekte, pikante Züge die Naivetät
und den Zauber der alten Poesie verdrängen. Denn die Geschichten müssen
jetzt leidlich rationell sein, des Teratologischen und Märchenhaften entkleidet,
sich in den Grenzen der Möglichkeit bewegend. Dazu fordert der neu er-
schlossene oder jetzt leichter zugängliche Schatz orientalischer und ägypti-
scher Traditionen, Mythen, Novellen zu hellenisierender Umarbeitung heraus.
Das alles erzeugt eine reiche, zwischen Wahrheit und phantastischer Dichtung,
scheinbarer Wissenschaft und populärer Unterhaltung die Mitte haltende
Literatur.
Die rationalisierende Umdichtung ergreift die griechische wie die orien-
talischen Religionen. Es schien ein Leichtes, die an jener erprobten Me-
thoden und Prinzipien auch auf den gleichartigen Stoff dieser anzuwenden.
Denn die Voraussetzung ist dem Griechen und dem Römer selbstverständUch,
dass der polytheistische Glauben aller Völker den gleichen göttlichen Mächten
gilt, die nur mit verschiedenen Namen genannt werden ^ In diesem Sinne
hat Herodot die ägyptischen und griechischen Götter ausgeglichen, Tacitus
den germanischen die römischen Namen substituiert. Und diese Voraus-
setzung hat die Vermischung der Religionen erleichtert und gefördert.
Der unter Ptolemaios I (323 — 285) in Aegypten lebende Hekataios hat
in seinen AiyuTixiaxa die ägyptische Geschichte modernisiert und hellenisiert,
indem er die Ideale seiner Zeit, den aufgeklärten Absolutismus, philosophi-
sche Moralsätze, eine rationelle Religion in die alte Zeit verlegte-. Uns
gehen hier nur die rehgionsgeschichtlichen Ausführungen an: Die ersten
Menschen, die in Aegypten entstanden, hielten, als sie den staunenden Blick
auf den Kosmos richteten, Sonne und Mond für die beiden ewigen Götter;
sie nannten sie Osiris und Isis. Aber auch die Elemente, aus denen die
Welt wie der Leib aus den Gliedern sich zusammensetzt, nannten sie Götter,
') Wer sich diese Yorauüsetzung klar gemacht hat, darf z. B. für die Her-
leitung des Demeter- oder Dionysoskultes aus Aegypten sich auf antike Zeugnisse
nicht berufen. -) S. Schwartz, Rh. M. XL S. 233—262 und Wissowas Real-
enzykl. V Sp. 669 ff. Die Reste in Müllers Fragm. Hist. Graec. H S. 384 (unvoll-
ständig). Der grösste Teil von Diodor Buch I geht auf Hekataios zurück.
Hekataios 69
nämlich das Pneuma Zeus, das Feuer Hepluiistos, die Erde Demeter, das
Nasse Okeanos, die Luft Athena. In Gestalt der heiligen Tiere oder auch
Menschen erscheinen sie auf Erden'. Neben den himiiiHschen G()ttern gibt
es auch irdische, Sterbliche, die wegen ihrer Klugheit und ihrer Verdienste
um die Menschen Unsterblichkeit erlangten ; zum Teil sind es die ältesten
Könige Aegvptens. An der Spitze steht Helios, der seinen Namen nach
dem hiuuulisciieu Gott erhielt. Es folgen Kronos und Rhea, dann Zeus und
Hera. Ihre Kinder sind O.'^iris (= Dionysos) und Isis (= Demeter), Typhon,
Apollon -. Nach der Erlinduug des Getreides und seiner Bearbeitung erziehen
Osiris und Isis die Menschen zu milderen Sitten, indem sie zuerst die
Menschenfresserei abschaffen. Isis (= Demeter H-safxocpopo?) gibt ihnen Ge-
setze. Osiris gründet das ägyptische Theben und konsekriert dort seine
Eltern Zeus und Hera ; er fördert alle Erfindungen, Künste, den Ackerbau •''.
Isis A\'eiss nach seinem Tode ihm eine Fülle von Kultstätten in Aegypten zu
schaffen, und sie selbst findet nach dem Tode wegen ihrer Wohltaten gött-
liche Verehrung vonseiten der dankbaren Untertanen. — Mit Unrecht erhebt
das griechische Theben Anspruch auf Dionysos; in Wahrheit hat erst Or-
pheus, um einen Fehltritt der Semele zu verdecken, die Mysterien des Osiris
dortliin übertragen. Ueberhaupt machen die Griechen mit Unrecht die be-
rühmtesten Heroen und Götter sich zu eigen; auch Herakles ist Aegypter.
Von Aegypten aus hat Belos eine Kolonie nach Babylon geführt, wo er die
Chaldäer zu Trägern der ägyptischen Weisheit machte, Danaos eine andere
nach Argos; auch Kolcher und Juden sind, wie die Sitte der Beschneidung
beweist, Abkömmlinge der Aegypter, und die Athener stammen aus Sais *.
Nur der Grundriss der Darstellung konnte hier wiedergegeben werden ;
Details, ätiologische Begründungen, Varianten sind meist übergangen. Das
Gewebe ist leicht aufzulösen, und die mannigfachen Motive, die das kom-
plizierte Gebilde geschaffen haben, sind durchsichtig genug. Hekataios be-
ruft sich oft auf ägyptische Priester und führt auf ihre Autorität differierende
Deutungen und Traditionen zurück. Wir sehen, dass schon vor ihm, was
auch aus Herodot sich bestätigt, die theologische Spekulation in verwandter
Richtung sich bewegt hat ^. Es galt, eine gescliichtliche Erklärung zu finden für
») Diodor I 11. 12, vgl. Diog. Laert. I 10. -) Diodor 13.
3) Diodor hat hier 15, 6—8. 17 — 20. 5 aus einer andern Quelle einen Bericht ein-
gefügt, den ich wegen seines Alters und seiner verwandten Tendenz — nur das
Romanhafte drängt sich mehr vor — hier wiedergebe: In Nysa im glücklichen
Arabien, wo Dionysos geboren ist, erfindet und lehrt er den Weinbau. Um die
ganze Menscliheit der Gaben der Kultur teilhaft zu machen und um durch seine
Wohltaten unsterbliche Ehren zu erlangen, durchzieht Dionysos die ganze weite
Welt, mit dem lustigen Gefolge der Satyre und mit den ihnen aufspielenden Mu-
sen. Er durchwandert Aethiopien, Arabien, gründet in Indien ausser andern Städten
Nysa (mit Unrecht machen die Inder den Gott zu ilu'em Landsmann), überschreitet
den Hellespont, überwindet in Thrakien Lykurgos und lässt dort Maron in der
nach ihm benannten Stadt als Herrscher zurück ; seinem Sohn Makedon übergibt
er das seinen Namen tragende Land, Triptolemos schickt er als Kulturträger nach
Attika. Ueberall findet er ohne Widerstand (18, 5, vgl. Plut. De Iside 13 p. 356 B,
oben S. 19) freudige Anerkennung als Gott und besonders nach dem Tode die
ausgezeichnetsten Ehren. — Alexander ist offenbar das Vorbild der Heereszüge
und der Weltherrschaft dieses Dionysos. •*) Diod. I 28, 2. XL 3, 2.
^) Das beweist auch Plutarchs Schrift über Isis und Osiris, die, mitunter mit He-
kataios sich berührend, überwiegend andern Darstellungen und Deutungen folgt.
Dass z. T. alte Quellen benutzt sind, machen neuere im Resultat freilich differie-
70 VI Hellenistische Religionsgeschichte: 4 Mythenbehandlung
die anerkannte Identität von Göttern der verschiedensten Völker, für die
Aehnlichkeit von Kulten und Gebräuchen; die Spekulation schlug dieselbe
Richtung ein wie die durch die Völkerraischung von selbst auch im Leben
sich vollziehende Ausgleichung. Das gewaltige Alter der ägyptischen Tra-
dition, das schon dem Milesier Hekataios, Herodot, Plato so imponiert hatte,
führte von selbst zu der von der Eitelkeit ägyptischer Schriftsteller ge-
förderten Annahme, dass in Aegypten der Ursitz der Kultur und der Ur-
sprung der Menschheit sein müsse. Aber mit den historisch pragmatischen
Konstruktionen verbinden sich religiös rationalistische Tendenzen. Man will
das wahre Wesen der Religion aus dem Wüste der Traditionen heraus-
stellen, und da hatte die Aufldärung, wie wir schon sahen, nichts übrig
gelassen als Gestirne und Elemente einerseits, göttliche Menschen anderer-
seits. Man tut dieser Spekidation unrecht, w^enn man sie destruktiver
Tendenzen beschuldigt; sie ist viel eher bemüht, zu konservieren, was die
Kritik übrig gelassen hat. Für uns stellt sie den Bankerott der heidnischen
Rehgion bei den Gebildeten ans Licht, aber sie hat ihn nicht herbeigeführt
und herbeiführen woUen. Sie wird der getreue Ausdruck des Durchschnitts-
bewusstseins der Gebildeten sein, und gottlos ist sie erst der romantisch
archaisierenden Frömmigkeit der nachchristlichen Zeit erschienen.
Der Zusammenhang mit den früher dargelegten aufklärerischen Ge-
danken tritt auch darin hervor, dass beständig die Wohltaten und die nütz-
hchen Gaben als Grund der Apotheose hervorgehoben werden. Aktuell
politische Tendenzen und Beziehungen spielen mit. Die zu Göttern ge-
w^ordenen Könige werden wesentlich als Kulturträger geschildert^; sie ver-
wirklichen das Ideal, das in den Fürstenspiegeln der Zeit den Königen vor-
gehalten wurde. Wie die Pharaonen und die hellenistischen Fürsten ver-
zeichnen Osiris und Isis ihre res gestae auf Inschriften, die von Diodor I 27
im Wortlaut mitgeteilt werden. AUegorisierende und etymologische Er-
klärungen mögen irgend wie von der Stoa beeinflusst sein, wie auch der Pa-
rallelismus von Makrokosmos und Mikrokosmos stoisch ist; aber all die Ten-
denzen sind in der geistigen Richtung der Zeit überhaupt weit verbreitet^.
Eine ähnliche Theologie vertritt wohl etwas später als Hekataios Eulie-
meros^ in seiner Izpoc avaypacpr^. In der Form eines Reiseberichtes erzählt
Euhemeros, dass er auf der Fahrt aus dem roten Meer in den indischen
Ozean drei bisher unbekannte Inseln besucht habe. Nach Art der politischen
Utopien wird Verfassung und Lebensweise dieser Instdaner, der Panchäer,
als Ideal eines glückhchen Lebens geschildert, wie es Hekataios in ähnhcher
Einkleidung seiner Hyperboreerschrift den Bewohnern einer Insel im atlanti-
schen Ocean zugeschrieben hatte. Die Existenz der Inseln ist erdichtet, und
der Verfasser zeigt sich nicht einmal mit indischen Verhältnissen vertraut;
die Farben seines Bildes nimmt er wesentlich von Aegypten, wo wir seine
Heimat suchen dürfen. Auf einer der Inseln findet er auf einem hohen
Hügel ein Heiligtum des Zeus und in ihm eine goldene Säule, auf der in
heiliger Schrift Uranos, Kronos, Zeus ihre Taten (upd^zic) aufgezeichnet
haben (vgl. Hekataios). In der Wiedergabe dieser Schrift hat man also die
ganz authentische Göttergeschichte: Der erste König war Uranos, ein ge-
rende Untersuchungen wahrscheinlich. S. Welhnann, Hermes XXXI S. 221 ff.,
Heinze, Xenokrates S. 30. 81 ff., F. Dümmler, KI. Schriften H S. 457 ff. ') Die
peripatetischen Forschungen über die Entwickelung der Kultur (S. 16) wirken im
einzelnen ein. -') Vgl. auch Reitzenstein, Zwei religionsgeschichsliche Fragen,
Strassburg 1901 S. 77. ^) Der vorzügliche Artikel Jakobys in Wissowas Real-
enzykl. \1 gibt alle nötigen Quellennachweise.
Eiihemeros 7 1
rechter und wohltätiger Mann, der zuerst den Kult der himmlischen Götter
einführte (im Heiligtum hatte er eine Art Sternwarte) und daher den Namen
Helios bekam (vgl. Hekataios bei Diodor I 13, 1. 2). Es folgen Kronos und
Rhea, dann Zeus, der nach Babylon zieht und sich mit Belos befreundet, in
Pancliaia den Kult seines Grossvaters einrichtet, Syrien und viele andere
Länder durchzieht, die Wohltaten der Zivilisation mitteilend. Seinen eigenen
Kult verbreitet er auf diesen Zügen und baut sich den prachtvollen Tempel
in Panchaia. Nachdem er fünfmal die Erde durchwandelt, seine Freunde
und Verwandte in Satrai)ieen eingesetzt hat, endet er sein Leben in Kreta,
wo er bestattet wird, und geht zu den Göttern ein. Die mythischen
Streitigkeiten der Götter werden als Palastintriguen und Insurrektionen ge-
schildert. Im Detail, das hier nicht wiedergegeben werden kann, fehlt es
nicht an pikanten Zügen; so wird z. B. erzählt, der Koch des Königs von
Sidon, Kadmus, sei mit der Flötenbläserin Harmonia nach Theben durchge-
gangen, und das Bild der unzüchtigen Mysterien, die Aphrodite gestiftet
haben soU, scheint von orientalischen HeiUgtümern abgenommen zu sein.
Die Schilderung der stufenweisen Ent%\äckelung der Kidtur, der Heeres-
züge und Weltherrschaft des Zeus, die Konsekrierung der Vorfahren durch
die späteren Könige verrät eine weitgehende Uebereinstimmung des Euhe-
meros mit dem von ihm wohl benutzten Hekataios, die schon vorher in
Einzelzügen hervorgehoben vmd von Jakoby überzeugend dargelegt ist. Auch
Euhemeros unterscheidet die zwei Klassen der himmlischen und der irdischen
Götter imd nimmt die gleichen Motive für die Vergötterung der Könige an.
Nur tritt bei ihm die Selbstvergötterung in den Vordergrund. Für die frei-
willige Anerkennung der Göttlichkeit des Herrschers durch seine dankbaren
LTntertanen und für seine Konsekration nach dem Tode bot die Geschichte
seit Alexander die Beispiele. Aber die Selbstvergötterung hat erst Ptole-
maios Philadelphos nach 271/0 durch Einführung des Kults der iS-eot aosXcpoc
geschaffen (s. § 5), und Euhemeros' Schrift wird wegen der Polemik im
Zeushymnos des Kallimachos V. 8, 9 mit grösster Wahrscheinlichkeit früher
angesetzt. Man mrd annehmen dürfen, dass der Gedanke schon damals in
der Luft lag, imd dass höfische Literaten seiner Ausführung vorgearbeitet
haben.
Die Schrift des Euhemeros ist eine der ersten Prosaschriften, die in
die römische Literatur übergegangen sind. Sie hat in der Uebersetzung des
Ennius den Römern ebenso sehr gefallen, wie sie später den Beifall mo-
demer RationaHsten gefunden hat, und christliche Apologeten haben ihr
Waffen zur Bekämpfung des Polytheismus entnommen. So hat die Theo-
logie, die politische Persönlichkeiten durch ihre Verdienste, W^ohltaten, Er-
findungen göttbche Verehrung linden lässt und die alte Göttergeschichte
historisierend auflöst, den Namen Euhemerismus erhalten. In Wahrheit ist
Euhemeros gar nicht der Schöpfer einer neuen Theorie, sondern er hat nur
eine weit verbreitete Methode ^ zu einer neuen Darstellung der Urgeschichte
benutzt und dieser durch die überaus -wirksame Einkleidung eine besondere
Geltrmg verschafft.
Sogar ein relativ so zuverlässiger Schriftsteller wie Megasthenes, der
ebenfalls älter als Hekataios ist, zeigt sich in seiner Darstellung der indi-
schen Rebgion von dieser Strömung beeinflusst, wenn er Dionysos als Stifter
des Gottesdienstes, Städtegründer, Verbreiter der Kultur schildert und ihn
zum Dank für seine Wohltaten göttliche Ehren erlangen lässt, wenn er sich
ähnlich über die Apotheose des Herakles äussert"-, wenn er indische und
') 8. Lobeck, Aglaophamus S. 987—1004. "-) Diod. U 38. 39, 4, Arrian, Ind. 7.
72 VI Hellenistische Religionsgeschiciitk : 4 Mvthenbehandlung
griechische Götter vermischt. Und in diese Zeit gehört auch Leons in die
Form eines Briefes Alexanders an Olympias gekleidete Behandlung der ägyp-
tischen Religion \ Da werden Osiris und die mit Demeter gleichgesetzte
Isis \vie ihre Eltern zu Herrschern gemacht, und Isis führt den Kult ihrer
Eltern ein; Dionysos ist auch hier Weltherrscher.
]\Iit freiester Phantasie die Stoffe gestaltend, nur aufs Ergötzen und
Gefallen bedacht, scliilderte Dionysias Skytobrachion (II Jahrh.) die von ihm
in Libyen lokalisierten Sagenkreise des Dionysos, der Atlantier, der Ama-
zonen und die Argonautensage-. In den Atlantiern wird ganz wie in der
bisher betrachteten Literatur die Verbreitung der Kultur (auch Sternkunde)
durch die ältesten Könige (Uranos, Basileia = grosse Mutter, Atlas und
Kronos, Zeus), ihre Weltherrschaft, ihre Vergötterung nach dem Tode wegen
der eOspyeatac gescliildert ^. Und nach gleicher Methode werden der Kampf
des Ammonssohnes Dionysos mit Kronos, seine Verdienste um die Mensch-
heit und seine Apotheose erzählt"^. Das Fabelhafte beseitigt er in der alten
Weise durch rationalistische Umdeutung, die Charaktere zeichnet er mit
grellen Farben ins Tugendhafte oder ins Boshafte. Als Quellen schiebt er
alte erschwindelte Dichtungen vor, wie das später auch in den unter Diktys'
und Dares' Namen verbreiteten mythischen Romanen geschehen ist. So hat
um 100 n. Chr. Herennius Philon von Byblos einen Sanchuniathon vorgeschoben,
um durch eine alte Autorität seine Darstellung der phönikischen Götterge-
schichte zu decken, die uns besonders durch Eusebius' Exzerpte bekannt ist.
Der allegorischen Geheimniskrämerei wird die pragmatische Geschichte der
Götter gegenübergestellt. Sie sind Menschen gewesen. Die prinzipielle
Betrachtimg wird in die Worte gefasst: „Die ältesten Barbaren, besonders
Phöniker und Aegyptier, von denen die andern abhängig sind, hielten die Ei-fin-
der der für das Leben nötigen Bedürfnisse und die, welche den Völkern Gutes
taten, für die grössten Götter. Diese beteten sie als Wohltäter und Urheber
vieles Guten an und errichteten ihnen nach ihrem Tode Tempel." Die anderen
Ehren werden genannt, aber ausdrücklich bemerkt, dass auch die Gestirne
und Elemente für Götter galten, es also zwei Klassen von Göttern gab,
sterbliche und unsterbliche. Die Namen jener soUen öfter auf diese über-
tragen sein\ Beispiele solcher Gleichnamigkeit sind uns schon begegnet.
Die Kulturgeschichte Avird auch hier in eine Folge von £üpyj|JLaxa aufgelöst,
nur dass sie an phönikische Namen geknüpft sind.
Diese historisierende Mythenbehandlung lehrt durch ihre weite Ver-
breitung und ihre Anpassung an den Zeitgeschmack das religiöse Durch-
schnittsbewusstsein der Gebildeten am besten kennen : Gestirne vuid Elemente,
Fälligkeit der Menschennatur, durch den rechten Gebrauch ihrer geistigen
Gaben sich zum GöttUchen zu erheben. Die Gleichsetzung des Göttlichen
mit den Naturkräften, die zugleich im Zeitalter der Naturwissenschaften, die
den Menschen zu deren Herrn machen, eine Gefährdung der Religion be-
deutet, ist als das natürliche Ergebnis des früher geschilderten Aufklärungs-
prozesses begreiflich. Die Prinzipien und Urstoife der Philosophie wollten ja
') Müller, Fragm. Hist. Graec. II S. 231. 232. -) Auszüge bei Diod. m
66, 4—73. 56. 57. 60. 61, .52, 3—55, IV 40—55, s. Schwartz in Wissowas Realen-
zykl. V Sp. 929 ff. =•) S. besonders Diod. III 56. 57, 2. 60, .3. 5. *) Diod.
70, 3. 7. 8. 71, 5. 72, 1. 4. 73, 1. 3. 5 treten euhemeristische Tendenzen besonders her-
vor. °) Euseb. Präp. I 9, 29. — Noch sei auf die dieser Literatur zugehörigen,
aber mit Unrecht von manchen Euhemeros zugeschriebenen Berichte bei Firmicus
Maternus 6. 7. 10 hingewiesen. Auch sonst beweisen die Kirchenscliriftsteller die
Verbreitung der von diesen Tendenzen beherrschten Literatur.
Dioiiysios Skytobrachion. Elemente und vergötterte Menschen 73
in der Tat für die Erklärung der Welt und ihres Zusammenhanges dasselbe
leisten und besser leisten wie die mythischen Götter. Es ist begreiliich,
dass sie an deren Stelle traten. Die Göttlichkeit der Gestirne hatten J;*ytha-
goras, Plato, Aristoteles, die Stoa gelehrt. Und die Stoa hatte ja Gestirne
und Elemente mit den persönlichen Göttern des Volksglaubens gleichgesetzt
und konnte für die Planeten an die volkstümlichen Benennungen mit Götter-
namen anknüpfen. Aber die gelegentliche Erwähnung und knai)pe Behand-
lung dieser Götter in jenen religionsgeschichtlichen Schriften beweist, dass
sie für die Religiosität wenig zu bedeuten hatten. Eine neue Bedeutung
hat diese Theologie erst gewonnen, als die seit dem II Jahrh. vom Osten
vordringende Astrologie ihr einen reichen Inhalt und eine das Menschenleben
beherrschende Bedeutung gab. Indem man nun die Welt und Menschenleben
gestaltenden Kräfte im Sternenhimmel suchte, werden die azoiytloi. der um-
fassende Name für die Sternenmächte wie die elementaren Kräfte. Der
Glaube an Astral- und Elementargeister verbündet sich mit der niederen
Religion und dem Dämonenglauben, und <^zoiyzi(x bezeichnet jede Art Dä-
monen ^.
Wenn die euhemeristische Theologie in der Bedeutung, die sie den
Sternen und Elementen zuspricht, verblasste und für den Glauben der Zeit
wenig wirksame Gedanken der voraufgehenden religiösen Aufklärung über-
nimmt, ist sie dagegen völKg beherrscht von der Anerkennung der in den
überragenden Persönlichkeiten sich offenbarenden göttlichen Kraft, und auch
darin ist diese Theologie ein treues Spiegelbild der religiösen Strömungen
der hellenistischen Zeit. Denn in dem Glauben, dass grosse Leistungen,
segensreiche Taten den einzelnen über die Durchschnittssphäre des Menschen
erheben und die gewissesten Offenbarungen einer im Menschen wirkenden
göttlichen Kraft sind, ist der sicherste und am wenigsten bestrittene Kern
einer wirklich aufrichtigen Religiosität in dieser Zeit der grossen Persönlich-
keiten zu fassen; er muss einen Ersatz geben für den stark erschütterten
Glauben an besondere göttUche Mächte. Er soll der tiefste Sinn und die
Wurzel aller polytheistischen Religionen sein. Er lässt sich kaum treffender
formulieren als es Plinius Nat. hist. 11 7, 18. 19 tut: deus est mortali iu-
vare morlalem et haec ad aelcrnam gloriam via .... hie est vetustissi-
mus referendi bene merenlibus gratiam nios^ ut tales muninibus ascribant'-.
Aber es bedarf einer besonderen eingehenden Betrachtung, um dem moder-
nen Gefühl die Bedingungen verständlich zu machen, aus denen dieser Glaube
erwachsen und zu einer das Bewusstsein der hellenistisch-römischen Welt
beherrschenden, die anderen göttlichen Gestalten in Schatten stellenden
Macht geworden ist.
5 Mexschenveegötteruxg und Herrscheekult
Beloch in 1 S. 48 ff. 368 ff. — Kornemaxn, Zur Gesclüchte der antiken
Herrscherkulte, Beiträge zur alten Geschichte I 51 ff. — Otto, Priester und Tem-
pel im alten Aegyjjten, Leipzig 1905 I S. 137 ff. — Wexdlaxd, üonr.p, Zeitschr. f.
neutest. Wiss. V S. 335 ff.
Göttliches im Menschen anzuerkennen, sein besseres Ich 6a''[jLwv zu
^) Diels, Elementum S. 44 ff. Stoische und persische Elementenlehre verbin-
det Dio Chrys. R. XXXVI zu einem Ganzen. '-) Der Stoiker Antipater
(Stoic. vet. fragm. III Fr. 33. 34 v. A.) nimmt das £i»/üoi.7]xixöv in die Definition der
Gottheit auf.
74 VI Hkllp:nistische Religioksgeschiche: 5 Menschenvergötterung
nennen war dem Griechen natüriich : '\)\>yji oixr^xr'jptov oai|i,ovog sagt Demokrit
(Fr. 171 Diels), r^d-o;, ävxl'pwTK») Saqxwv Heraklit (Fr. 119), und sie schliessen
sich damit volkstümlichen Vorstelhmgen an. Feierliche Heroisierung her-
vorragender Toter, besonders der Städtegründer, kennen die Griechen schon
vor Alexander, und auch im kleinen Kreise konnte die Pietät der Hinter-
bliebenen teuere Tote in die Sphäre der Heroen erheben. Die Mystik hat
den Glauben an die Göttlichkeit der Menschenseele gestärkt. Aristoteles hat
dem Plato einen Altar errichtet ^ und in seinem Hymnus auf die Tugend den
verstorbenen Hermeias in Formen gefeiert, die an die Apotheose streifen.
Epikur bringen seine Jünger religiöse Verehrung entgegen, und in Alexandria
gab es einen Homerkidt-. Die politische Theorie des Plato und des Ari-
stoteles zeichnet das Bild des idealen Herrschers, der über den Gesetzen
erhaben sich selbst Gesetz und durch natürliche Ueberlegenheit über die
andern Menschen zum Herrschen berufen ist, der gottgleich unter den Sterb-
lichen wandelt. Er erscheint wie das geläuterte und abgeklärte Bild des
Uebermenschen der sophistischen Aufldärung, das, in der Ethik abgelehnt,
auf die Staatslehre doch eingewirkt hat, Aehuliche Anschauungen vom
Königtum vertritt Isokrates. Und als König Philipp in die griechischen Ver-
hältnisse eingriff, hat ihm ein Teil der Griechen überschwängHche Verehrung
entgegengebracht. In romantischen Ideen ist Alexander gross geworden,
und mit den höchsten Vorstellungen von seiner Mission übernahm er den
durch den korinthischen Bundesvertrag ihm vorgezeichneten Beruf. Seine
beispiellosen Erfolge und die mit den Erfolgen ins Gigantische wachsenden
Pläne steigerten sein Selbstbewusstsein und Hessen seine Person in der Vor-
stellung der Zeit das Mass des Menschlichen übersteigen. Schon von gleich-
zeitigen Historikern sind seine Person und seine Taten ins Uebermenschliche
und Wunderbare gezeichnet worden. Dazu kam, dass Alexander in das Erbe
der Pharaonen und der persischen Könige eintrat. Das orientalische Gefühl
der tiefen Kluft, die den König von den Untertanen trennt, der ägyptische
Glaube an die Inkarnation der Gottheit im Könige, der persische an den
göttlichen Nimbus des Herrschers wurden ihm von selbst entgegengebracht.
Alexander hat aber auch persönlich den Glauben an das Gottkönigtum be-
günstigt und gefördert, weil er seinem Weltreiche die höhere Sanktion gab.
Und so verschieden die Formen und Auffassungen waren, die Griechen und
Orientalen den Glauben an das Gottkönigtum ermöglichten, wird man an-
nehmen dürfen, dass Alexander selbst griechischen Heroenglauben und grie-
chische Vorstellungen von dem göttlichen Adel der Menschenseele, An-
knüpfungen an seinen Ahnen Heraides und an- Dionysos mit orientalischen
Glaubensformen in eins dachte, wie das dem Sinne seiner Griechisches und
Orientalisches verschmelzenden Politik entspricht. Zu betonen ist freilich,
dass der eigentliche Herrscherkult, trotzdem ihn auch Aegypten kannte, doch
zuerst auf griechischem Boden Alexander zuteil geworden ist und sich in
griechischen Formen bewegte. Gleiche göttUche Ehren brachten die Griechen
vielfach freiwillig Alexanders Marschällen entgegen. In ein System ist der
offizielle Herrscherkult in allmählich fortschreitender Ent^^dcklung in Aegypten
ausgewachsen. Ptolemaios I wird nach seinem Tode von seinem Nachfolger
konsekriert und später seine Gattin Berenike nach ihrem Tode seinem Kult
angeschlossen. Als Ptolemaios Philadelphos 271/0 seine Gattin Arsinoe ver-
») S. Immisch, Philol. XLV S. 1 ff. — S. 21 : „Piatos Bild ist schon für die
erste Generation der Seinen ein Heiligenbild gewesen, umrankt von frommer Le-
gende", vgl. Usener, Das Weihnachtsfest S. 70. 71. -) S. Watzinger, Das
ReUef des Archelaos von Priene, Berlin 1903 S. 20. 21 und Dio Chrys. R. XXXVI 14.
Vergötterung der Herrsclier. Inschrift von Rosette 75
liert, verbindet er ihre Konsekration mit dem weiteren folgenreichen Schritte
der Selbstvergötterung, indem er den Kult der il-eoc aoeXcpot einführt xmd,
wie es scheint, dem wohl 274 eingeführten oflizicllen Alexanderkult ange-
gliedert. Seit Ptolemaios IV (221 — 2U5) umfasst dann der Reichskultus eine
mit Alexander beginnende und bis zum lebenden Herrscher oder Herrscher-
paare herabführende Reihe ^ Andere Dynastien, besonders die der Seleu-
kiden, folgen dem Vorbilde der ägyptischen Entwicklung und suchen sie
durch pomphafte Titel zu überbieten. An den älteren Beispielen lässt sich
noch nachweisen, dass die Vergötterung des Menschen aus dem echtesten
Gefühl der Dankbarkeit und dem aufrichtigen Glauben an die durch den
Menschen wirkende göttliche Kraft herausgewachsen ist. Der Päan, mit dem
die Athener den siegreichen Demetrios Poliorketes 307 empfangen (Athe-
naeus VI p. 253) gibt das religiöse Gefühl der Zeit treu wieder: Wie die Sonne
und die lieben Sterne erscheint er ihnen mit seinen Genossen, als Sohn Po-
seidons und der Aphrodite. Die andern Götter sind ja doch weit fort, sind
überhaupt nicht oder hören uns nicht. Dich aber sehen wdr Auge ins Auge,
nicht in Holz oder Stein, sondern leibhaftig. Darum beten wir zu Dir, gib
ims Frieden ; denn du bist der Herr. — Man sieht in dem mächtigen Heer-
fürsten, der die Stadt aus den Kriegsnöten herausreisst, Frieden und Heil
bringt, den göttlichen Helfer und Heiland (awxTjp) ; denn er hat das geleistet,
was nach menschlicher Berechnung unmöglich schien oder mit menschlichen
Kräften nicht zu vollbringen war'-. Die Gottheit ist leibhaftig in ihm er-
schienen (evapyTj^ ETCLcpavsca, praesens deiis). Was ursprünglich tiefes und
wahres Gefühl war, wird dann zur konventionellen Tradition und höfischen
Etikette, wenn es auch in keinen Zeiten an Fällen fehlt, wo das ursprüng-
Hche Gefühl mit unmittelbarer Kraft zur Anerkennung neuer göttlicher Offen-
barung drängt. Der griechische Servüismus gegen die römischen Grossen
und der auf die Munifizenz der Wohlhabenden spekulierende Lokalpatriotis-
mus vernutzt dann nur zu sehr göttliche Ehren und Attribute; das Haupt-
bedenken gegen ihre verschwenderische Austeilung, dass sie doch auch er-
hebliche Kosten verursachte, überwindet man durch sinnreiche Erfindungen,
wde die beliebte Umarbeitung oder Umnennung älterer Statuen. Die neue
Bedeutung, die Apotheose und Herrscherkult durch das römische Imperium
gewinnen, die Kraft und Verbreitung, die der Glaube an göttliche Menschen
in der Kaiserzeit wieder erlangt, werden wir später zu betrachten haben.
BEILAGE
Inschrift von Rosette (Rascliid), dreisprachig (hieroglyphischer und demo-
tisclier Text neben dem griecMschen), vom 27. März 196 v. Chr. (Dittenberger,
Orientis graeci inscr. 90) :
^) Ein Beispiel in der Beilage. '■') Wie echt griechisch dies Gefühl ist,
beweisen Aeschylus' Schutzflehende 947 ff".
ü) 7:aI5ss 'ApysiGiaiv eü/saä-a;, y^pstöv
9-üs!.v -£ Xsißsiv 9-' wg S-solg 'OX'JiiTitO'.g
o-ovSä;, k~^l GWTYjpsj ob oi/oppoTicos.
76 Hellenistische Religionsgeschichte: Beilage
BaaiXsuovTo; toO veou ^ xa: T^apaXaj^ovxoc; xrjv ßaaiAstav 7:apa xoü uaxpoc;
-/■•jpi'ou j3aatA£'.(Ji)v - jxsyaXooo^ou ■' xoO tTjV AryuTixov xaxaaxrjaaiisvou xat xa 7:p6?
xou; I li-iO'jc; sOas^oOc, avxi7:aXcov Orccpxspou, xoü xov [litov xwv avö-pwrrwv STiavop-
il-coaavxo;, xupiou xp'.axovxacxy^p-'owv^, xaO-aT^cp 6 "H^aoaxog ö (xsya^ ^, jjaa'.Xew^
xail-arsp ö "Haioc;, | |i.eyac ßaaiXeu?; xwv xs avw xa: X(I)V xaxw X^pöv", exyovou
^^£(I)v tI):Xo7:ax6pü)v, ov ö "Hcpataxos £00xc[xaa£v ', co 6 "HX105 £Oü)X£V xtjv vcxtjv **,
E'Ixövo^'* t^cbar^s xoO A'.o;, ucoO xcü'HXtou^", nxoX£|xaiou | a!!wvO|3oou ^^, rjya7ir/{i£vou
O-ö xoO «iJö-ä'-. £xou? ivaxo'j £:p'c£p£(o; 'Aexou xoO 'Aexo'j 'AXE^avopo'j xa: {)'£G)v
-wxv'ipwv xal •ö'Ewv 'Ao£Xcpcbv xa: \)-£cov EÜ£py£X(I)v xa: d-zGiv tI>:Xo7;:ax6p(i)v
5 xa: ■8'EoO 'E7::cpavoö; EuXap:axoo . . , Die Priester, die gekommen sind
7 £:; M£(xcp:v zG) jJaa:X£: T.pb^ xr^v 7iavrjyi)p:v x^? 7xapaX7/];£0): x-^? | |'iaa:X£:ag
XTjs IlxoX£(Jia''o'j aiwvojjiou , y^yaTir^iiEvou utzo xoö OxJ-a, d-eoü 'ETc:cpavoOi;,
E'jxap:axo'j, y;v 7iap£Xa,3£v Tiapä xoO Tcaxpo; auxoO, auvaXi)£vx£5 £v xw £V
M£[Jicp£: :£pw xfj V)|ji£pa xaüxYj £:::av | 'E7:£:orj ßaa:X£us IIxoX£|xa:os a:ü)v6ß:o?,
7V;a-r^[ji£vos \j~b xoO Öft-a, ö-£Ö; 'E7::cpavYjC; EOx^P'-'^to?, 6 iy [Jaa:X£ü); IIxoXe-
[xyJ.o'j xa: ßaa:A:aayj; 'Apa:v6r^c, 8-£(Ji)v (l>:Ao~axdpa)V, xaxa r.o'/Xy. £Ü£py£xrjX£V
10 xa i)-' :£pa xa: zobz, £V a-Jxo:; övxa; xa: "zohc, 0^6 xy]v Ea-jxoO |3aa:X£:av xaa-
ao[Ji£VO'j^ (ZTzavxas, UTzapxwv ^£Ö<; £X ^£oö xa: x^eä^ xa^ö-aTiEp 'ßpO(; 6 xf]?
"1^:0; xa: 'Oa:p:o5 u:6g, 6 ETiap-uva^ x(o Tiaxp: auxoö 'Oa:p£:, xa T:po; ■9'£0u;
£0£py£x:xü)i; o:ax£:|jL£vo5 avax£^£:x£V £:$ xa :£pa dpyup:xa? X£ xa: a:x:xac; upoa-
65o'j; xa: oaTzava; T^oXXa; 0;:o{x£|Ji£vr]X£v £V£xa xoO xtjV Ai'yuTcxov £:; £uo:av^^
äyaysTv xa: xä :£pä xaxaaxr,aaat)-a: | xa:c x£ iauxoO 2'jva[Xc7:v 7:£-^:Xavv)-p(i)7:r^x£ i'*
-aaa:;. Aus der Aufzählung der Aveiteren Verdienste hebe ich hervor 6[xo:(i)5
19 0£ xa: xö o:xa:ov TCaa:v a7:£V£:[JL£V xaO-aTCEp 'Epii"^? 6 |Ji£yas xa: jJiEya; ^^, Z. 26 £V
26 öX:y(p XP°'*'^P "^"'V^ '^^ t:6X:v xaxa xpaxo; £:X£v xa: zobq £V aüxf, äa£,j£:(; ^"^ Tcav-
^) Ptoleraaios Epiphanes (205-181) war 196 erst 12 Jahre alt. -) Diadem.
Nach Z. 43 sollen 12 solche goldene Diademe mit Schlange die Königstempel krö-
nen. ^) Dasselbe Attribut III Macc 6 is. 39, vgl. meinen Index zu Aristeas unter
Söga. Von hier aus fällt auf den jüdischen Gebrauch von iisydcÄr] S6;a, iisyaXöSogos
für die göttliche Majestät (Bousset S. 308 f. = 2. A. 362) neues Licht. Tit 2 \> l7i;iq;ävetav
Tfjs Sögyjg -coü lisyctXou *£0'j. *) Wir kennen diese Periodenrechnung nicht. ^) Z. 4.
8. 9. 37 der ägyptische Name «I»9-ä. Die ägyptische Färbung, die (besonders im
Vergleich zum Dekret von Canopus vom J. 239/8, Ditt. 56) darin und auch sonst
hervortritt, zeugt für die Zurückdrängung des Hellenismus (vgl. S. 78). — V-^'^'^Z
(Z. 19 jisyas v-ai i^syas) *ede ist eine für Götter und Könige beliebte Bezeichnung;
s. Ditt. Or. inscr. 176, 4 = 178, 3 2o6xw ^)-£tp iisydXco iisyäXo), Strack Dynastie der Pto-
lemäer S. 276. 279 ff. Tit 2 12. ") ..Der grosse König der oberen und unteren
Gegenden (der Welt)" ist Attribut des "HX105. "') In der von Ammianus Marc.
XVII 4, 18. 23 angefühi'ten Inschrift ov "HXiog rLpoe-xp'.vsv, vgl. Rom 8 29. ®) Bei
Ammian. XVII 4, 22 "llXiog Q-sög SsairöxY); oOpavo-j TaiisaxYj ßaatXsI dsStüpvjfiai tö v.^ä.zo(;,
■/.%'. TY,v y.aTä -dcvxcov ägo-joiav. *') II Cor 4 4 Col 1 13 65 eaxiv slxeov toO O-so-j von
Jesus. '**) Ammian. 18 ßao-.Xs-jg Taiisoxir;^ 'HXiou -aig alwvößiog. Dass der Sonnen-
sohn dicht vorher Sohn der Philopatores hiess, wird gar nicht als Widerspruch
empfunden. ") Vgl. Z. 8. 9 und Note 10. Belege für die Ewigkeit als Attribut
der Herrscher s. Zeitschr. f. neut. Wiss. V Scoxy^p S. 344. 345, neutest. Parallelen
S. 349. '-') Wie Z. 9. 37. Aehnliche Wendungen bei Ammian., z. B. 20 ov 'Aiincov
äya-ä, vgl. I Clem 59-11.: Jesus riyaTLr^iiävos Tiaig Gottes. ") Heiterer Himmel,
übertragen vom glücklichen Zustande des Staates. Aehnlich wird auch später die
augustische Friedenszeit gerühmt. ") Kaum eine andere Tugend wird so oft
am hellenistischen Herrscher gerühmt wie die -jtXavO-pw-ta, vgl. Tit 3 \. '*) Ueber
die Bedeutung des Hermes s. Reitzenstein Poimandres. '") So werden auch
Z. 22 die Aufständischen von Lykopolis genannt. Der genaue Parallelismus der
Verbreitung fremder Götter 77
Tas oiecpT^-eipsv, xa^auep 'Ep{i7]c; xac 'i2po^ 6 tf;; "laio^ xal '(Jaipio; uioq exet-
pwaavxo toü$ £v toi? aÜTOi? tc-tiöc? aTzoatavta; Ttpoxepov Z. 34 xa: C£pa xal :^
vaoü? xal ^w[i.o'j? tGp'jaaxc xa xe 7ipoaS£c.|jL£va £T:'.ax£'jf^c; 7Tpoi6c(opi)-(öaaxo ' s/j'^'^
■i)"£oO £0£pY£xixoO - £v zoic. avY^xo'ja'.v £ic xo •O'EccrV o:avo'.av • T:poa-'jVi)'av6|x£v6; 35
X£ xa xtbv t£ptbv xt|itü)xaxa ävavEOöxo iizi xtJs £auxoü [3aa:X£ta? w? xaö-y,x£: ■
avO-'wv osocoxaatv auxw oi d-eol uyiEcav, VLxr^v, xpaxo?"' xai xaXÄ' äyaö'a 7:av-
xa, I xfj? ffaaLX£''a; 5'.a|JL£Vo6ar^; aux(T) xat xoi; XEXvot? Et? xöv ccTiavxa y^^o^o^) •
aYa{)-fj xuxvj, EOogEv xoi; tEpEüat. xwv xaxa xyjV x^^pav tEpwv Tzavxwv, xä O^ap-
Xovxa x[t[j.La Tiavxa] | xo) aiwvojiuo [3aa:X£C JIxo}v£|xa''o), TjYaKyjJLEvo) Otto xoO
Ü>y-ä, {)•£(]) "E7::q;av£r EOxap^'ax(;), oiaoito; 0£ xa! xa xwv yovEwv aöxcO 9-£(I)v <I>:Ä':.-
Tiaxoptov xa: xa xwv Tzpoyövcov xJ-ewv Eücpycxcbv xa: xa | xwv D-ecöv 'A&£//f wv xa:
xa X(i)V O-Ewv ^(üXYjpwv £7:a6^£:v jXEyaXü)? • axYjaa: Se xoO a:ü)Voß:ou ßaa:X£a);
IIxoXE|j,a''o'j {J'EoO "E7t:*^avo05 EOxap:axo'j sixova ev Exaaxo) lEpcö £v xw £7::'^a-
vsaxaxw xotzo), | r) 7i:poaovo[Jiaa9-y|aExa: IIxGX£{jia:'&u xoö £x;a[x6vavxoc; xfj AiyuTzxq) ^,
■^ TiapEaxr^^Exa: ö x'jp:(i)xaxos {ko? xoO :EpoO o:S&u5 aOxw ötiaov 7:xr^x:x6v . . .
6 Fremde Götter. Synkretismus. Astrologie uxd Magie
FoucART, Des associations religieuses chez les Grecs, Paris 1873. — Lafaye,
Histoire du culte des divinites d'Alexandrie, Paris 1884 (Bibl. des ecoles francaises
d' Athene et de Rome Bd. 33). — EZiebarth, Das griecli. Vereinswesen, Leipzig
1896 (Preisscliriften der Jablonowsldschen Gesellschaft Bd. 34).
Vor Alexanders Zeit hatten nur wenige fremde Kidte in Griechenland
Eingang gefunden. Dionysos hatte andere thrakische und phrygische Götter
nach sich gezogen: Kj^bele, die schon im V Jahrhiuadert der athenischen
Göttermutter angeglichen wurde, Bendis, Kotys, Sabazios. Adonis und die
semitische Aphrodite, Ammon und Isis wurden in Athen und an anderen
Stätten verehrt. Meist waren es zunächst private Genossenscliaften ({h:a-
(3ry.^ zpocvoi) von Ausländern, denen der Kult ihrer Götter gestattet wurde,
die aber auch griechische MitgKeder anzogen ^. Die Beteiligung an solchen
Kulten schien unbedenldich, wenn nur darüber die Ausübung der heimischen
Religion nicht vernachlässigt und, was öfter geschah, die öffentliche Moral
nicht gefährdet wurde.
Der Polytheismus ist tolerant gegen fremde Kulte, nicht exklusiv. Der
Grieche und Römer bezw^eifelt die Existenz der fremden Götter nicht; es
sind nur nicht seine Götter. Die fliessende Fülle der Göttergestalten, die
Möglichkeit, täglich neue Offenbarimgen zu erleben, bisher verborgene Götter
in ihrer Kraft zu erkennen, gibt dem Frommen ein Gefühl der Unsicherheit,
ob er auch jeder Gottheit das Ihre gegeben und nicht durch eine Unter-
lassung die religiösen Akte unwirksam gemacht habe. Dies dem Polytheis-
mus anhaftende Gefülil der Unsicherheit, der Wunsch, mit peinlichster Ge-
nauigkeit allen Pflichten genug zu tun, spricht sich in den Weihungen und
Anrufungen, die „allen Göttern" dargebracht w^erden", in der oft endlosen
Häufung der Beinamen eines- Gottes, der gern noch der Zusatz „oder wie
Taten des Gottes und des Herrschers scheint hier wie öfter durch Fiktion von Mythen
hergestellt zu sein. \) Auch dies eine stereotype in den römischen Kaiser-
inschriften wiederkehrende Wendung, s. iScnr^p S. 344. 2) Vgl. S. 67. 69 ff. ") Vgl.
Tyrtaios 4, 9 viy.yj xal xäpxog, Inschriften von Pergamon 246, 30 f. *) Die Inschrift
der Statue wird damit angegeben. ^) Frauen sowohl wie Sklaven schei-
nen in diesen Vereinen durchweg gleichberechtigt gewesen zu sein. •'j Usener,
Göttemamen S. 344, vgl. Wissowa S. 33. 38.
78 VI Hellenistische Religionsgeschicjitk: (J Frkmde Götter
du sonst genannt zu werden wünschest" beigefügt wird\ endlich in den
AVeihungen an ayvwaxoc •ö-soi aus-. Diese Fähigkeit der polytheistischen
Religion zur Aufnahme und Angliederung neuer Gottheiten erhält in helle-
nistischer Zeit durch die Beriilirung mit fremden Völkern einen neuen Antrieb.
Die Kircheni)olitik der Ptolemäer setzt sich nicht das Ziel der Helleni-
sierung der ägyptischen Religion. Was in dieser Richtung geschehen ist,
beschränkt sich auf Alexandria und hat sich weniger durch Regierungs-
niassregeln als durch die mit der Völkermischung von selbst erfolgende Aus-
gleichung der Religionen und durch die Neigung der Spekulation zum Syn-
kretismus vollzogen. Der Scharfblick der Ptolemäer erkannte im Bunde mit
dem ägyptischen Priestertum die sicherste Stütze des Thrones, in der Kon-
servierung und eifriger Förderung der Landesreligion das sicherste Mittel,
das Wohlwollen des Volkes zu gewinnen, zumal die Politik des Kambyses
und des Artaxerxes Ochos die Toleranz verletzt hatte. Zum Dank dafür
erbten sie die sakrale Sanktion der Pharaonen und erlangten allmählich die
Aufnahme des zuerst durch besondere eponynie Priester versehenen Herrscher-
kultes auch in altägyptische Kulte. Freilich hat diese weise zurückhaltende
Politik seit Ptolemaios Euergetes (247 — 221) ein zunehmendes Vordrängen
des ägyptischen Wesens ermöglicht.
Eine wirkliche auf Verschmelzung der Religionen zielende religions-
politische Aktion vermag man nur in der Einführung des Serapiskultus wahr-
zunehmen, so widerspruchsvoll auch die modernen Deutungen des Gottes
sind. Es scheint nach den neuesten Untersuchungen ^ wahrscheinlich, dass
Serapis nichts anderes als Osiris-Apis ist; diese Verbindung des Gottes mit
dem heiligen Stiere, der seine Inkarnation ist, entspricht altägyptischer An-
schauung. Wenn aber Ptolemaios I das Bild des Gottes, dessen Kult sich
erstaunlich rasch verbreitete, von ausserhalb herholte, so lag offenbar der
Verbindung griechischer Form mit ägyptischem Inhalte eine synkretistische
Absicht zugrunde. Und es ist bezeichnend, dass bei der Ueberführung des
Gottes aus Sinope und der Begründung des neuen Kultes Manethos (S. 15)
und Timotheos tätig gewesen sein soUen. Dieser Timotheos, der vielleicht
den tspo^ Xoyo; des Serapis verfasst hat, war Eumolpide und hat als solcher
die eleusinischen Mysterien in Alexandria eingeführt. Und wenn wir noch
von demselben eine ausführliche Darstellung der pessinun tischen Attissage
lesen ^, so liegt es nahe, auch diese Behandlung des phrygischen Kultes in
einen umfassenden Plan der Religionsmischung einzubeziehen. Dass alexan-
drinische Literaten in dieser Richtung tätig waren, ist schon S. 68 ff. aus-
geführt worden.
Die ägyptischen Kiüte haben in dieser Zeit die grössten Eroberungen
gemacht; Isis und Osiris oder Serapis, Horos oder Harpokrates und Anubis
sind am reichlichsten vertreten in den zahlreichen Inschriften, die uns Kult-
genossenschaften fremder Götter auf griechischem Sprachgebiete bezeugen.
Auf den Inseln des ägäischen Meeres, der Vorherrschaft der Ptolemäer, auf
*) Usener S. 336. 334. Der Gebrauch der rechten Namen bedingt ja die Wirkung
des Gebetes wie des Zaubers. Vgl. z. B. Horaz Cann. saec. 14 ff. -') Ich füge den
Zeugnissen Pausanias 1 1, 4 V 14, 6 für Altäre äyveoa-cov ^bS}v in Munychia und Olympia
und Diog. Laert. I HO (dvo'jvjiio'. in Athen) hinzu Tertull. Ad nat. 11 9, Adv. Marc.
I 9, Philostrat, Leben des Apollonios S. 2Ü7, 29 K atü:;poviaT£pov yäp t6 Tispl -dcvTcov
i>£ti5v £'j Xsys'.v v.a.i -aOta 'AOti^vy^oiv, oG y.ai dYvwoTwv 5a'.|i6vü)v ß(i)|iol Icp-jv-at. Der echt
polytheistische Zug ist in Act 17 «s äYvwa-o) O-ew der Tendenz zuliebe in sein ge-
rades Gegenteil gewandelt worden. ») S. Otto S. 11 ff. *) Hepding,
Attis, Giessen 1903 S. 103 ff.
Gleichsetzungen 79
dem griechischen Festlande, wohin die Ptoleraäer fort und fort die Fäden
ihrer Politik erstreckt haben, aber auch an Asiens Küsten und weiter hin-
aus haben sie zahlreiche Verehrer gefunden. Die reiche Ausgestaltung des
Kultkreises und seiner Symbole, die die Neugier reizte und die Sjjekulation
anlockte, die Verbindung asketischer Uebungen und weltlicher Lust in diesem
Kulte, die schon zu Herodots Zeiten geläufige Angleichung an griechische
Götter, die die phantasiereiche Ausbildung der Mythenkreise förderte, die
einzigartige Fähigkeit der Isis und des Serapis zur monotheistischen Aus-
weitung und Absorption anderer Götter, die oft bewährten Heilkräfte des
Serapis in leiblichen Nöten und die an den Kult geknüpften Jenseitshoff-
nimgen, das Ansehen, das ihm als der vermeintlichen Mutterstätte der eleusi-
nischen Mysterien und der ebenso populären Dionysosreligion zuwuchs —
alles das hat beigetragen, dem Kult eine wunderbare Verbreitung und Be-
liebtheit zu verschaffen.
Daneben dringen orientalische Kiüte vor. Die Mysterien der phrygi-
schen Götter mit ihrem die Sinnlichkeit in nächtlicher Feier durch wilde
Flötenweisen und Tänze aufs äusserste erregenden Orgiasmus, der packend
dramatischen Vorfülirung der Göttergescliichte , dem Wechsel leidenschaft-
licher Trauer und ausgelassener Festfreude dringen in weitere Kreise, und
auch die fremdartigsten Elemente, wie die semitische Selbstverstümmelung
finden in dieser nach neuen Reizen suchenden Zeit Verbreitung (Hepding
a. a. 0.). Von Syrien dringt in mannigfachen Gestalten die weibliche Göttin
und neben ihr Adonis vor ; und auch dieser dem phrygischen verwandte Kult
hat eine berückende Wirkung geübt, wie uns sein Zauber noch heute in der
Darstellung der hellenistischen Poesie eigenartig ergreift. Ich übergehe
andere orientalische Göttergestalten, deren Gehalt uns weniger fasslich ist.
Erwähnung verdient, dass in dieser Periode die Mithrasreligion die Form
angenommen hat, in der sie iliren späteren Siegeszug durch das römische
Reich antrat ^ Wir kennen die frülieren Stadien ihrer Entwickelung und
Ausbreitung nicht so genau wie ihre späteren Schicksale. Aber die kom-
plizierte Gestalt, in der sie uns später entgegentritt, trägt deutlich genug
die Spuren ihrer älteren Geschichte an sich. Ueber die persische Grund-
lage, die Religion des Mithra, als Botschafters des höchsten Lichtgottes und
Führers im Kampfe gegen das Reich der Finsternis, haben sich mancherlei
Schichten von Vorstellungen und Gestalten gelagert, die diese Religion im
fortschreitenden Zuge ihrer Propaganda von fremden Religionen übernommen
und sich assimiliert hat. Das deutlichste Zeugnis für den Beitrag, den der
Hellenismus beigesteuert hat, legt die die Kennzeichen hellenistischer Kunst
tragende Darstellimg des den Stier tötenden Gottes ab.
Wie die religiöse Praxis von selbst zur Identifizierung und Ausgleichung
der Götter verschiedener Nationen führt, wie die theologische Spekulation
diesen Prozess befördert, wurde schon gezeigt. Die Gleichungen von Isis
mit Demeter, Artemis, Aphrodite, Athena, Nemesis, von Osiris mit Diony-
sos, Attis, Adonis, von Serapis mit Asklepios, Zeus, Pluton, Dionysos, von
Bendis mit Artemis, Hekate, Persephone sind ganz gewöhnlich. Ahura-Mazda,
Verathragna, Anahita haben sich mit dem Vordringen der Mithrasreligion
nach dem Osten zunächst in Zeus, Heraides, Artemis gewandelt. Eine be-
sondere Sch\\ierigkeit für die religionsgeschichtliche Forschung ist, dass wir,
wie bei manchen keltischen und germanischen Göttergestalten, nur die Sub-
stitute kennen, die uns die Originalgestalten verkleiden. — In Fällen, wo
es nicht möglich schien, den gesamten Wesensinhalt eines fremden Gottes
durch einen griechischen oder römischen Namen zu vergegenwärtigen, wird
•) Cumont, Die Mysterien des Mithras, deutsch von Gehrich, Leipzig 1903.
so VI Hkllenistischk Religionsgeschichte: 6 Fremde Götter
die Ausgleichung vollzogen, indem mehrere Götternamen zusammengefasst
Averden, um die volle Summe jenes göttlichen Machtbereiches zu ergeben:
Dittenberger Or. inscr. 383, Z. 55 (Inschrift des Antiochos von Kommagene
vom iS'emrud-Dagh) : WnöXXiovoc, MiDpou IDdou 'Ep[Jioö xac 'Apxayvou 'Hpa-
-/Jicu; "Apstü^, 386, 7. 404, 21. G19, 3 Inscr. gr. III Nr. 136: MrjxpJ d-e(bv euavTrj
iaxp'vrj 'Acppoaxyj, C. I. Gr. 4262 (4042. 4683. 4713. 4713, e f) Ad 'HXUo
— epa;T;:oi (andere Beispiele bei Usener S. 341), Aber diese wachsende Fähig-
keit hervorragender Götter, andere Götterformen in sich aufzunehmen^ und
zu verschlingen, die Gewohnheit, persönliche Götterbegriffe bei- und unter-
zuorden hat dazu beigetragen, die Person zu verflüchtigen und an ihre Stelle
abstrakte Begriffe zu setzen; sie hat dem Monotheismus erheblich vorge-
arbeitet. Die Entleerung des persönlichen Gehaltes erklärt auch die Gleich-
setzung von Herrschern mit Göttern, denen sie in ihrem Wesen und Wir-
kungen verwandt schienen : Seleukos wird nach seinem Tode als Zebc, vixaxwp,
sein Sohn als 'Avxtoxos 'AtioXXwv aioxr^p konsekriert; Isis-Arsinoe, Arsinoe-
Aphrodite, Apollo-Augustus, Zeus-Nero sind andere Beispiele unter vielen -.
Beigabe göttlicher Sj-mbole und Angleichung der Herrscherbildnisse an Götter-
typen gestatten viele weitere Schlüsse. Nachdem man Herrschern göttliche
Attribute wie atoxYjp und eTiti^avfjc; beigelegt hatte, war ihre Gleichsetzung
mit Göttern ein natürlicher Schritt in der weiteren Entwickelung, der durch
die Erweichiuig und den auch sonst üblichen appellativen Gebrauch der gött-
lichen Personennamen erleichtert wurde.
Mit den orientalischen Göttern überflutet orientalischer Aberglaube die
hellenistische Welt. Der Glaube, dass das Schicksal des Menschen durch
die Konstellation der Geburtsstunde bestimmt werde, besonders durch die
Stellung der Planeten zu den Zeichen des Tierkreises, ist den alten Griechen
völlig fremd -K Der Platoniker Eudoxos und Theophrast zeigen zuerst Kunde
von dem babylonischen Sternglauben und äussern darüber ihre Verwunderung.
Dann hat Berossos (S. 15) den Griechen astrologische Lehren der Babylonier
vermittelt. Die Verbreitung und Bedeutung, die diese Lehren und die astro-
logische Praxis fanden, offenbart sich in der Aufnahme der Astrologie in die
stoische Theologie und in dem lebhaften Streite, der seit Karneades um ihre
Geltung geführt wurde. Und mit der hellenistischen Zeit setzt eine reiche
astrologische Literatur ein, welche die Lehren in ein System bringt und sich
in beständiger Kontinuität bis ins s])äte Mittelalter fortgesetzt hat. Das Lehr-
gedicht des Manilius aus Augustus' oder Tiberius' Zeit, die Tetrabiblos des
Ptolemaios (S. 36) und die Anthologie seines Zeitgenossen Vettius Valens,
endlich aus dem IV Jahrh. die Lehrbücher des Hephaistion und des JuMus
Firmicus Maternus, der später als christlicher Apologet aufgetreten ist, sind
die bekanntesten Vertreter der Gattung, deren unerschöpfliche Produktionen
wir erst neuerdings einigermassen zu übersehen begonnen haben*.
Aber der Grundstock der Tradition ist hellenistisch, und die ganze
spätere Tradition ist wesentlich abhängig von dem nach Kroll im 11 Jahrh.
') An älteren Beispielen wie Athena Nike oder Hygieia fehlt es nicht. Vgl. auch
Dittenberger, Or. inscr. II S. 598 ff., Index IH. -) Literatur bei Dittenberger,
Orientis inscr. 457, Beloch S. 373. 374. 443, Strack a. a. O. S. 140—143. Ueber Gleich-
setzung des Toten mit einem Gott s. Rohdes Psyclie II S. 359 ■'; Maaß, Orpheus
S. 241 ; Vollmer zu Statins S. 381. =*) Ich folge der Uebersicht von Kroll,
Neue Jahrb. VH 559 ff. und Cumont, Revue d'hist. et de litt. rel. XI S. 24 ff";
Hübler, Astrologie im Altertum 1879; Bouchö-Leclerq, L'Astrologie grecque, Paris
1899 ; Reitzenstein, Primandres S. 69 ff. *) Catalogus codicum astrologorum
graecoruni, Brüssel, seit 1898 sind sieben Hefte erschienen.
Astrologie. Magie 81
V. Chr. abp;efiissten Werk des Nechepso und Petosiris. Die ii))()kryphen
Namen des alten ä<>ypti.sehen Königs und seines Priesters, die den Lehren
eine höhere Autorität geben sollten, sind für diese Art Literatur bezeichnend.
Und die liktiven Autoren führten ihre Weisheit weiter auf Asklepios und
Hermes zurück. Das Werk ist in Aegypten entstanden, wo die, wie es
scheint, frühzeitig aus Babylon übernommene Astrologie eifrige Pflege fand.
In hellenistischer Zeit und vollends in der römischen Kaiserzeit waren die
,,Chaldäer", die überall ihre Weisheit feilboten, eine Landjjlage, und die
Massregeln der römischen Gesetzgebung (schon 139 v. Chr. wurden die
Astrologen aus Rom ausgewiesen) zeugen gerade dadurch, dass sie ihnen
ein höheres Wissen zutrauen, von der allgemeinen Geltung des Sternenglau-
bens, dem nicht wenige der römischen Kaiser ergeben waren.
Der Fatalismus, der in der Konsequenz des Sternenglaubens lag und
nur wenig dadurch gemildert wurde, dass diese gewaltigen Mächte doch auch
zugleich als persönliche Götter gedacht und nach solchen benannt wurden,
hat schwer auf der Menschheit gelastet und hat in weiten Kreisen eine hoff-
nungslose Stimmung und dumpfe Resignation verbreitet. Willen- und wider-
standslos fühlt sich der Mensch in das grosse Räderwerk des kosmischen
Mechanismus eingefügt, von seinen Schwingungen umgetrieben, unter die
Knechtschaft der erbarmungslosen Mächte gebeugt. Aus dem tiefsten Gefühl
heraus, von der Hilflosigkeit und niedergedrückten Stimmung, wie dieser
Glaube sie erzeugt hatte, eine Rettung gefunden zu haben, schreibt ein Christ
des n Jahrh. (Clemens Alex., Theodoti Exe. 71. 72) die Worte: „Verscliieden-
artig sind die Gestirne und ihre Kräfte, heilsame, schädliche, rechte, linke ....
Von diesem Widerstreit und Kampf der Kräfte rettet uns der Herr und
gibt uns den Frieden vor dem Kampfe der Kräfte und der Engel, den die
einen für, die andern wider uns führen". Aber längst schon bot sich denen,
die von des Schicksals Hand sich gebeugt fühlten und an der eigenen Kraft
verzweifelten, lockend und tröstend eine andere dunkle Macht als Helferin
an, die gleichfalls vom Osten kommende Magie. Persische Magier hatten
auf der Grundlage ihres religiösen Dualismus eine mit assyrischen und baby-
lonischen Superstitionen und Zauberformeln versetzte Theorie ^ geschaffen —
ein System, das in den Kampf der guten imd bösen Mächte zu Gunsten des
Menschen eingriff. An Zaubermitteln hat es den Griechen und Römern nicht
gefehlt; aber die orientalische Magie schien durch Alter ihrer Traditionen,
Vollendung der Technik, systematische Durchbildung die besten Garantien
zu bieten, und so hat auch der Glaube an die unheimliche Macht der Magier,
welche die oberen Mächte unter den mensclilichen Willen zu zwingen Avissen,
die hellenistische und spätrömische Welt beherrscht, und gerade die kaiser-
liche Gesetzgebung zeugt auch für die Macht dieses Glaubens ; denn sie setzt
voraus, dass die Magier sich wirklich im Besitze übernatürlicher Kräfte be-
finden. Die Zauberbücher der ägyptischen Papyri- gestatten jetzt einen
Einblick in die Fülle der Vorstellungen, die, von den Rudimenten rohester
Superstition bis zu plülosophischen Spekulationen reichend, aus allen Völkern
in bunter Mischung zusammengetragen sind.
1) Aegyptische Elemente sind hinzugekommen. Die Magie hat in Aegj'pten
eifrige Pflege gefunden, und ihre Propaganda ist zum grossen Teil von dort aus-
gegangen. 2) Dieterich, Papyrus magica, Jahrb. Suppl. XVI. Ders., Abraxas,
Leipzig 1891. Pap. Lond. ed. Kenyon Bd. IL Wessely in Wiener Denkschr. phil.
hist. Bd. 42. Wünsch, Antike Fluchtafeln, Kleine Texte für theol. Vorlesungen
und Uebungen, hr. von Lietzmann, 20. 21.
Lietzmann, Handbuch z. Neuen Test. I, 2.
82 VII Die religiöse Entwicklung: 1 Hkllenisiehing der röm. Religion
VII
DIE RELIGIÖSE ENTWICKELUNG UNTER DER RÖMER-
HERRSCHAFT
1 Hellenisieruxg der römischen Religion
Die Gescliichte der römischen Keligion ist der fürtschreitende Prozess
der Zersetzung der nationalen Religion durch Uebernahnie griechischer Göt-
ter, Riten, Vorstellungen. Wissowa hat kürzlich die Entwickelung mit muster-
hafter Klarheit dargestellt (s. S. 54). Hier können nur die wesentlichsten
Momente hervorgehoben werden. Nüchtern und beschränkt auf den Kreis
eines eng umgrenzten Lebens, dessen alltäglichen Funktionen sie vorstehen,
erscheint die älteste römische Götterreihe. Wir spüren keinen Hauch grie-
chischer Phantasie, die Personen, Bilder, Wirkungssphären, Geschichten der
Götter so wunderbar ausgestaltet hat. Die etruskische Kultur, die von der
o-riechischen stark beeinfiusst war, scheint dann Rom seine Göttertrias .Jup-
piter, Juno, Minerva gegeben zu haben, wie sie auch sonst die römische
Religion stark beeinfiusst hat. Die Einführung der sibyllinischen Bücher
zeuo-t für den von den unteritalischen Griechenstädten, besonders Cumä, un-
mittelbar vordringenden griechischen Einfluss. In den ersten Jahrzehnten
der Republik ist dann die Rezeption des Apollo, des Hermes, der Trias De-
meter, Dionysos, Köre erfolgt. Eine gewisse Zurückhaltung spricht sich noch
darin aus, dass Hermes als Handelsgott einen römischen Namen erhält, jene
Trias mit den echt römischen Göttern Ceres, Liber, Libera gleichgesetzt wird.
293 wdrd der in hellenistischer Zeit trotz der grossen Fortschritte des Me-
dizin zu besonderer Blüte gelangte Asklepiosdienst mit seinen Wunderkuren
von Epidauros nach Rom übertragen. Die Not des J. 217 führte zu reli-
giösen Begehungen nach griechischem Ritus und dem ZusammenscMuss eines
dem griechischen analogen Vereins von zwölf Göttern. Die Hellenisierung
des Kultes bietet jetzt die Möglichkeit, römischen Kult und römische Götter
nach griechischem Muster umzugestalten, auch wenn man auf Rezeption neuer
griechischer Götter verzichtete. Hatte der alte Glaube die Götter in engster
Verbindung mit den Objekten und Bezirken ihrer Wirksamkeit gedacht und
darum menschenähnlicher Bilder nicht bedurft, so führte die Berührung mit
den Schöpfungen der griechischen Kirnst zur Aneignung der griechischen
Bilder für die schon ausgeglichenen Götter, für solche, die griechischer Ana-
logien ermangelten, zu oft willkürlicher Umgestaltung griechischer Typen.
Bald folgt auch die Aufnahme derjenigen orientalischen Götter, die bereits
in der hellenistischen Welt sich ausgebreitet und hellenisiert hatten. Gegen
den 204 auf Geheiss der sibyllinischen Bücher eingeführten Kult der pessi-
nuntischen Kybele musste der Senat bald Massregeln ergreifen, und der
Bacchanalienskandal vom J. 1-86 offenbarte die Gefährlichkeit der orgiasti-
schen Kulte mit ihrer schwül sinnlichen Atmosphäre. Die Kriege gegen
Mithradates und die folgenden Kämi)fe im Orient brachten die Bekanntschaft
mit der Ma oder Bellona, einer der Kybele verwandten koppadokischen Göt-
tin, und mit Mithras. Und der Isiskult machte trotz aller seit 58 wieder-
holten Versuche, ihn zurückzudrängen, rapide Fortschritte.
Die Ueberflutung durch den Hellenismus machte den Römeni ihre Ge-
schichte, Kultur, Religion fremd und iniverständlich. Die Uebemahme der
Einfluss griechischer Religion und Spekuhition. Panaitios 83
irriechisclien Literaturg'attunjü:en und ihre Entwickelung unter dem fortwir-
kendt-n EinHusse der griechischen Muster hal)en diese Verdränj^ung des Na-
tionalen besclik'unif^t. Auch liir die Forscher, die sich später redJich be-
mühten, das Vei'ständnis des römischen Wesens zu gewinnen, war es nicht
mehr zu linden, weil den hellenisierten Römern die Abstraktion von den
hellenischen Ideen, die Ausscheidung^ des Fremdartigen eine Unmöglichkeit
war. Port und fort hatten die Dichter ihre Phantasie an der griechischen
Mythenwelt genährt, liatten naive Gleichungen griechischer und römischer
Götter übernommen und selbst vollzogen, die eigene Religion und Gescliichte
aus dem griechischen Mythenscluitze bewusst und unbewusst bereichert, ätio-
logische und etymologische Methoden und Spielereien der hellenistischen
Dichtung und Forschung sich angeeignet. Je mehr Rom in den Mittelpunkt
der Geschichte und der Geschichtschreibung trat, um so mehr waren Anti-
quare und Annalisten beeifert, die Fäden, mit denen besonders Timaios den
Westen an die ältere griechische Kultur geknüpft hatte, fortzuführen, durch
Geschichten von griechischen Emigranten und Gründungen bedeutsame Be-
ziehungen herzustellen, welche die spätere Entwickelung vorwegnahmen oder
vorbereiteten. Es erschien als eine grosse Aufgabe, besonders durch Ver-
bindung mit Troja und Karthago und die Ausgestaltung dieser Beziehungen,
Rom eine verlieissungsvolle Vorgeschichte zu geben, die seiner späteren
Grösse würdig war. Die von Griechen angeregte, durch patriotisches und
Familieninteresse in panegyrische Bahnen geleitete Phantasie hat durch Ver-
knüpfung der Schicksale Italiens mit den älteren Kulturvölkern, nach der
Schablone griechischer die Folge der Erfindungen darstellender Kulturge-
schichte, durch Uebernahme griechischer Methoden, Sagen- und Legenden-
motive, bald auch durch die verlogenen Künste griechischer Rhetorik eine
Pseudohistorie geschaffen, die den ungeheuren Abstand der Zeiten und Na-
tionalitäten verdunkelt hat. — Und mit dem Einflüsse der griecliischen Phi-
losopliie begann auch die theologische Spekulation der Griechen den Zer-
setzungsprozess der römischen Religion zu befördern. Der nüchternen Sin-
nesweise des Römers gingen rationalistische Theorien der Griechen besonders
leicht ein. Schon Ennius hat durch seine Uebersetzungen die Römer mit
jenem Buche des Euhemeros und mit dem vmter Epicharms Namen gehen-
den Lehrgedicht bekannt gemacht, das die Götter auf Elemente zurück-
führte. Den Versuch, philosophischer Spekulation durch die gefälschten
Bücher Numas Eingang und Einfluss auf die Religion zu verschaffen, machte
181 der Senat durch Verbrennung der Bücher zunichte. Seit der Zeit des
jüngeren Scipio hat dann die Stoa einen wachsenden Einfluss ausgeübt und
die tieferen Naturen gewonnen ; die epikurische Lehre, die im letzten Jahr-
hundert der Republik fast die Modephilosophie der Gebildeten war, wird
zurückgedrängt und sinkt seit Augustus zur Bedeutungslosigkeit herab. Zu-
nächst trat fi-eilich durch Panaitios (S. 30) den Römern die stoische Lehre
in einer stark rationalistischen Gestalt entgegen, die sie besonders durch den
Einfluss der karneadeischen Kritik gewonnen hatte. Durch die Annahme
der peripatetischen Lehre von der Weltewigkeit, der Vernichtung der Seele
im Tode, durch die Verwerfung der Astrologie und Mantik, durch den Ver-
zicht auf allegorische Mythendeutung hatte Panaitios die rehgiösen Momente
der Schullehre stark zurückgedrängt. Von Panaitios hat der Pontifex Q.
Mucius Scävola (f 82) die Unterscheidung einer dreifachen Theologie (S. 86)
und die Auffassung der Staatsrehgion als eines Zuchtmittels der Menge über-
nommen ; auch Polybios ^ weiss nur diese politische Bedeutung der für den
1) von Scala, Die Studien des Polybios, Stuttgart 1890 S. 206—210.
6*
84 ^'11 Dll^ RELIGIÖSE EKTWICKLÜNG: 1 HeLLENISIERUNG DER ROM. RELIGION
Weisen überflüssigen Religion zu schätzen. Der Akademiker Cotta (S. G3)
ist ein typisches Beispiel der Vereinigung religiöser Skepsis mit politischer
Wertschätzung der Religion und ])einlicher Erfüllung der hergebrachten Riten,
die auch dem Irreligiösen bei der Bedeutung der Religion im öffentlichen
Leben als selbstverständliche Pflicht des Bürgers erschien. Dieser Wider-
streit des religiösen Bewusstseins der Gebildeten und ihrer Teilnahme am
Kult hat die Zersetzung der Religion und die Entleerung ihrer Formen stark
befördert. In den Zeiten der niedergehenden Republik geht Missbrauch der
Religion als eines politischen Machtmittels neben Gleichgültigkeit und Ver-
nachlässigung der Kulte her.
Aber in dem Zeitalter der Revolutionen beobachten wir doch auch eine
stark anwachsende religiöse Reaktion. Diese Bewegung, deren Wirkungen
sich über Jahrhunderte erstreckt haben, scheint wesentlich auszugehen von
Poseidonios, dem Schüler des Panaitios; aber sie findet in ihrer Zeit einen
starken Widerhall. Schuldbewusstsein und Erlösungsbedürfnis, mystische
Grübeleien und Offenbarungen, die an altehrwürdige Namen geknüpft sind,
spiritistische und okkultistische Neigungen sind charakteristische Symptome
dieser Zeit, deren grosse Katastrophen das Gefülilsleben gewaltig erregt
haben. Poseidonios ^ hat die religiösen Motive der Stoa neu belebt und ver-
tieft. Der idealistische Zug der platonischen und aristotelischen Philosophie,
der durch die Jahrhunderte sich fortsetzende Strom griechischer Mystik, die
Ehrfurcht vor den religiösen Ueberlieferungen und Symbolen der Völker,
ein tiefes Verständnis für die religiösen Instinkte verbinden sich, um ein
gross gedachtes philosophisches System in einer religiösen Mystik gipfeln
zu lassen, auf die alle Teile desselben angelegt sind. Auch die exakten
Wissenschaften dienen schliesslich zum Preise der den Organismus der Welt
durchdringenden Gottheit, der in rauschenden Perioden hymnenartig erklingt.
Aber auch die niederen Gebilde des Glaubens, Astrologie, Mantik, Dämono-
logie werden, zum Teil poetisch verklärt und vergeistigt, für die religiöse
Stimmung verwertet. Die scharfe Polemik gegen die epikurische Lehre, die
bei den Römern erfolgreich Propaganda machte, bestätigt, dass Poseidonios
es auf eine Erneuerung der Religion und Erweckung des Glaubens abgesehen
hatte. Die Parallelisierung des Mikrokosmos von Leib und Seele, des Ma-
krokosmos von Welt und Gott wird durchgeführt, und die mystische Theo-
logie wurzelt in einer platonisierenden Lehre von den Schicksalen der Seele - :
Ein Teil des feurigen Gotteshaiiches , geht die Seele aus der himmlischen
Region ein in die niedere Welt und wird in den Kerker des Leibes gebannt,
durch seine Gemeinschaft in Begierden verstrickt und befleckt. Aber den
göttlichen Ursprung bezeugt sie im Streben nach Welt- und Gotteserkennt-
nis, in der unstillbaren Sehnsucht nach der Rückkehr in ihre wahre Heimat
und zur göttlichen Gemeinschaft. Wie die Sonne nur vom sonnenhaften
Auge erblickt, so kann das Wesen des Alls nur von der gottentsprossenen
Seele erkannt werden"'. Aber die volle Erkenntnis erlangt sie erst, wenn
sie vom Leibe befreit in rein ätherischer Gestalt zu ihrem Ursprünge zurück-
kehrt. Der volkstümliche Unterweltsglaube wird verworfen, aber die Jen-
seitsvorstellungen werden gewissermassen ])rojiziert in die kosmischen Sphä-
') In Nordens Kommentar zur Aeneis VI, Leipzig 1903 und bei Binder, Dio
Chrys. und Pos., Tübinger Diss., Borna-Leipzig 1905 findet man die reiche Litera-
tur verzeichnet. '') Vgl. besonders Corssen, De Posidonio Rhodio, Bonn
1878, der die Benützung des Pos. in Ciceros Tusc. und im Somn. Scipionis nach-
weist. 3) Citat des Poseidonios bei Sext. Emp., Math. VII 93 (Vorbild Pia-
tos Staat p. 508 A). S. Dieterich, Mithrasliturgie S. 55. 56.
Poseidonios 86
ren. Durch die Sphären des Wassers, der Luft und des Feuers sich erhebend
wird die Seele mannigfachen Läuterungen und Reinigungen unterworfen, bis
sie einzugehen vermag in die dem Aetlier nahe Region '. Nicht jede Seele ist
fähig 7Ai diesem Aufstiege und dieser Himmelfahrt. Nur ein gerechtes und
tugendhaftes Leben öffnet dem Menschen den Weg zum Himmel liinauf. Vor
allem die grossen Wohltäter der Menschheit und die Staatsmänner, deren
Leben ganz dem Heil ihres Volkes gewidmet ist, sind sicher, in die seligen
Regionen einzugehen-. Wem das Leben eine Vorbereitung auf den Tod
gewesen ist, wer schon im irdischen Leben den göttlichen Teil von der Be-
fleckung des Leibes rein zu bewahren bemüht gewesen ist, für den hat der
Tod seine Schrecken verloren; er ist für ihn der Eingang in ein besseres,
reineres Dasein, in das wahre Leben.
Die religiöse Grundstimmung der Weltanschauung des Poseidonios hat
nicht nur die spätere Entwickelung der Philosophie aufs stärkste beeinflusst
(S. 29). Sie hat direkt und indirekt auf die Religiosität weiter Kreise ein-
gewirkt. Vergil wiederholt das stark monotheistische Glaubensbekenntnis
von dem die Welt durchdringenden göttlichen Geist und dem ihm verwand-
ten Seelengeist -^ und die poseidonische Mystik hat den Stoff der Jenseits-
dichtungen, der dem VI Buche der Aeneis zugrunde liegt, geläutert und
sittlich vertieft; Poseidonios' Kidturentwickelung, pythagoreische Mystik und
Seelenlehre haben auf Ovids Darstellung des goldenen Zeitalters und seine
Kosmologie eingewirkt. Varros grosses synkretistisches Religionssystem ist
völlig beherrscht von den Gedanken des Poseidonios, und da er seine Anti-
quitates rerum divinarum dem Cäsar i. J. 47 gewidmet hat, liegt der Ge-
danke nahe, dass Cäsars politische Berechnung in dem Religionssysteme des
Poseidonios mit seiner Verbindung philosophischer Spekulation und volks-
1) Norden S. 29 ff. Dieterich, Mithrasliturgie S. 78 ff. '-) Die
Stellen sind für das dem Herrscherkult zugrunde liegende religiöse Gefühl so
wichtig, dass ich sie anführe: Cicero Tusc. I 27 — 32. 32 heisst es, das Wesen
der Götter solle mau sich nach dem Bilde der Menschen vorstellen, gui se natos
ad homines mvandos, tutandos, conservandos arbUrantur. abiit ad deos Hercules:
numquam abisset, nisi, cum inter homines esset, eam sibi viam munivisset. De leg.
n 19. 27 De off. III 25 De nat. deor. II 60. 62. De rep. I 12 neque enim est Ulla
res, in qua propius ad deorum numen rirtus accedat humana, quam civitatis aut
condere novas aut cunservare iam conditas. H 4 concedamus enim famae liomi-
7ium bene meriti de rebus communibus nt gener e etiam putarentur, non solum in-
genio esse divino. 17. 40. VI 13 omfiibus, qui patriam cotiservaverint, adiuverint, auxe-
rint, certum esse in caelo definitum locum, ubi beati aevo sempiterno fruantur. 16. 26
bene meritis de patria quasi linies ad caeli aditum patet. 29. Dass Cicero in den
cäsarischen Reden sich in demselben Vorstellungskreise bewegt, habe ich Zeitschr.
f. neutest. Wiss. V 8. 344 ff. gezeigt. Vergil, Aeneis VI 660 ff. (vgl. Norden S. 34. 35)
versetzt in die Gefilde der Seligen ausser den alten Heroen die fürs Vaterland
Gefallenen, die frommen Priester und Propheten, weiter
i?wentas aut qui vitam excoluere per artis
quique sui memores alias fecere merendo.
Vgl. VI 130 I 286 ff. 0\id Metam. XV 843 ff. IX 250 ff. Horaz C. IH 3, 10 ff. 33.
IV 2, 22. Epist. n 1, 4 ff. Hör. C. III 2, 21 virtus recludens immeritis fnori caelum
3, 9 ff. Properz IV 11, 101
moribus et caelum patuit: sim digna merendo,
cuius honoratis ossa veltantur avis.
Die hellenistischen Wurzeln solchen Glaubens sind S. 68 ff. aufgedeckt. ^) Aen.
VI 724 ff. Georg-. IV 218 ff.
86 VII Die reliCxIöse Entwicklung: 1 Hellenisierung der röm. Religion
tümlichen Glaubens, seinem weitherzigen Synkretismus und seinen vermitteln-
den und die Religionen ausgleichenden Tendenzen die Grundlinien einer für
sein Weltreich geeigneten Religion vorgezeichnet fand ; war doch dies Reich
im Sinne eines röuiisch-griechischen Königtumes gedacht.
Auch Varro • will die Religion und den alten Glauben, die ihm der
Vemaclilässigung und Vergessenheit zu verfallen scheinen, zu neuem Leben
erwecken, die ihrem eigenen Wesen entfremdeten Römer damit wieder ver-
traut machen. Die Wirkungssphären der Götter will er wieder aufzeigen,
damit man mit jedem Anliegen sich an die rechte Instanz wende. Unter
Berufimg auf Scävola (S. 83) unterscheidet er drei Auffassungen der Götter,
die mythische der Dichter, die physische der Philosoi)hen, die staatliche.
Die Götterwelt der Dichter wird verworfen wegen der unwürdigen Vor-
stellungen von Erzeugung, Gestalt, Eigenschaften der Götter (vgl. S. 62. 66).
Auch die staatliche Religion, die, jünger als der Staat, dessen Interessen
dient, hat gar nicht die Wahrheit zum Zweck; denn es gibt Wahrheiten,
welche die Menge besser nicht kennt, und Lügen, die sie besser für wahr
nimmt. Die Chilis religio ist als staatliche Institution aufrecht zu erhalten ;
hat ja doch die römische den Staat gross gemacht. Die wissenschaftliche
Prüfung besteht allein die philosophische Religion, und zwar stellt sich im
Widerstreite der verschiedensten philosophischen Meinungen die stoische
Lehre als die einzig wahre heraus : Der götthche Feuerhauch beherrscht,
wie die Seele den Leib durchdringt, die ganze Welt, die ewig und unver-
gänglich ist. Er ist gleich Zeus "-, alle andern Götter sind nur Teilki äfte
(I 15 b partes sire rirlntes) der göttlichen Urkraft, verschiedene Namen,
die im Grunde der einen Gottheit gelten. Sie offenbart sich in den Ele-
menten, durch die das Leben entsteht und erhalten wird, und in den Ge-
stirnen, denen wir segensvolle Wirkungen verdanken. Auf die Elemente
■wird das Wesen der Hauptgötter zurückgeführt. Aber neben den „ewigen"
Göttern statuiert er solche, die aus Menschen Unsterbliche geworden sind,
wie Kastor, PoUux, Liber, Hercules ^. Den Gründen, die gegen diese An-
nahme sprechen, verschliesst er sich zwar nicht; aber der praktische Nutzen,
den der Glaube an den göttlichen Ursprung und die Fähigkeit des Menschen,
einst in die göttliche Sphäre einzugehen, stiftet, schlägt die Bedenken
nieder •*.
Varro sucht in den religiösen Vorstellungen, Legenden, Gebräuchen
seines Volkes, besonders den ältesten, geheimnisvollen Sinn und tiefe Weis-
heit, und er hält sie für fähig, das Vehikel höherer, philosophischer Anschau-
ungen zu werden. Uebersteigt auch die philosophische Religion die Fassungs-
kraft der Menge, so wünscht Varro doch eine Läuterung der staatlichen
Rehgion durch die philosophische und hält eine aus beiden gemischte '' für
') Ich folge der vorzüglichen Sammlung der Reste von Buch I XIV XV XVI,
die für die Theologie wesentlich in betracht kommen, von Agahd, Jahrb. f. klass.
Philol. Suppl. XXIV 1898. Den Einfluss des Pos. auf Varro weist Agahd S. 84 ff.
nach. ■-) Der Judengott hat denselben Sinn: I 58b. *) I 22c ff. 7
XVI 43, vgl. S. 67. 69 ff. ■*) I 24. Auch Cicero De rep. VI 26 ff. und Vergil
VI 806 betonen die moralische Kraft dieses Glaubens. ^) 54a. Solche Mi-
schung beobachten wir auch in Ciceros Darstellung der Religionsverfassung De
leg. U 19 tf., deren Vergleichung mit Varro lehrreich ist. Manche Züge sind Kon-
zessionen an die fortgeschrittene Sittlichkeit und Aufklärung (dass diese auch in
Kultgebräuche eindrang, dafür geben Inschriften lehrreiche Zeugnisse: Dittenberger
SyUoge 566 Anm. 3, 567 Anm. 3 ; 633, 12). Aber auch Cicero zeigt dieselbe Ehr-
furcht vor dem mos maioriim und seiner Weisheit.
Varro. Stimmung des augustischen Zeitalters 87
die bestmögliche. Handelte es sieh um die CrUndung eines neuen Staates,
so würde er die wahre Religion einführen '. Für seine Person vertritt Varro
die reinen religiösen Anschauungen, die der von ihm beeinflusste Seneca und
die Moralisten der Diatribe verkünden. Er will die Götter gütig vorgestellt
wissen; der Fronnue soll sie wie die Eltern verehren, wäluend dei' Aber-
gläubige sie wie Feinde fürchtet'-. Der Opfer bedarf es nicht''; denn die
wahren -Götter fordern sie nicht, luid die aus Erz, Gyps, Marmor gebildeten
können sich auch nicht daran erfreuen, weil sie gefülillos sind (29 a — 30).
Die Einführung der Bilder hat die Furcht vor den Göttern vernichtet und
hat unreine und irrtümliche Vorstellungen von ihnen verbreitet (59)^.
Romantischer Sinn, ein ])hantastischer Zug zu den abenteuerlichsten
und überlebten Gebilden des Glaubens, antiquarischer Sammeleifer und
nüchterner Rationalismus haben zusammengewirkt, um ein höchst kompli-
ziertes Ganzes zu schaffen, das doch nur durch äusseren Schematismus zu-
sammengehalten -«drd, dessen sich kreuzende Tendenzen auseinanderstreben.
Varro ist nichts weniger als ein schöpferischer Geist, nicht einmal ein kon-
sequenter und systematischer Kopf; aber weil er eine rezei)tive Natur ist,
die feinhörig und empfänglich allen Eindrücken nachgibt, alle Strömungen
der Zeit in sich aufnimmt und alle Stimmen in sich nachklingen lässt, darum
gerade ist dies religionsgeschichtliche Werk mit allen seineu Widersprüchen
als ein treuer Spiegel der religiösen Richtungen seiner Zeit von unschätz-
barem Werte, einzig in seiner Art auch als Zeuge dafür, wie die griechische
Theologie das Werk der Zersetzung der römischen Religion vollendet, an
dem die griechischen Kulte seit Jahrhunderten gearbeitet hatten.
2 Die Stimmung der augustischen Zeit
Norden, Vergils Aeneis im Lichte ihrer Zeit, N. Jahrb. VII 249—282. 313—
334. — Gardthausen, Augustus und seine Zeit in zwei Teilen, Leipzig 1891—1904.
— Boissier, La religion romaine d' Auguste aux Antonius, 2 Bde, Paris 1874.
Varros Streben einer Wiederbelebung der nationalen Religion hat auf
das augustische Zeitalter mehr gewirkt als seine starken Ansätze zu einem
auf rationaler Grundlage zu vollziehenden Synkretismus der Religionen.
Denn der Prinzipat des Augustus, der im Gegensatz zu Antonius' phantasti-
schem Plane eines hellenistisch orientalischen Reiches ersteht, lenkt die
Politik in nationale Bahnen und belebt das nationale Gefülü,
In scharfen Kontrasten zeichnen uns die Zeugen des grossen Um-
schwunges den Gegensatz der Stimmungen des alten und des neuen Zeit-
alters °. Die seit Sulla sich unaufhörlich erneuemden Schrecken der Revo-
lution, die Ausrottung der Besten durch die Proskriptionen, der beständige
Wechsel der Besitzverhältnisse, die Verwilderung der Gesellschaft und Ent-
fesselung der unbändigsten Leidenschaften lasten schwer auf der Menschheit.
Man steht unter dem Gefühle, als wenn ein unsühnbarer Fluch durch die
Geschlechter fortwirke und zum Bürgerkrieg, Brudermord, erneuten und
') Aehnlich Maximus Tyrius Vin 9. Polybios VI 56, 10. '-) Die
Götterangst ist drastisch gezeichnet in Senecas und Plutarchs Schriften über den
Aberglauben (s. Wilamowitz Lesebuch VII 7). ^) Vgl. Apollonios von
Tyana bei Eus. Praep. ev. IV 13 Dem. ev. IH 3 (Zeller m 2^ S. 144. HB HI:
Exe. zu Rom 12 i). ^1 Aehnliche Aeusserungen hat Geflfcken. N. Jahrb.
XV S. 630 gesammelt. '") Sehr lehrreich ist das Gesamtbild des Velleius
H 89 (86, 1) und des Pliüo, Leg. ad Gai. 21.
88 VII DiK RELIGIÖSE Entwicklung: 2 Die Stimmung der augustischen Zeit
wachsenden Freveln treibe', als hätten alle Götter die Welt verlassen und
dem Verderben preisgegeben^. Die Schuld hat sich so gehäuft, dass sie
das Gei-icht herausfordert und dass man den Weltuntergang wie zur Zeit
der Sintflut erwartet^. Oder soll man die Stätten des Fluches verlassen und
in einer besseren Welt ein neues Leben beginnen * '? Sehnsüchtig verlangt
die müde und erschöpfte Menschheit nach Frieden.
Da ersteht in Augustus der Retter und Heiland. Seit seinem Siege
über Antonius bei Actium i. J. 31 ergreift die neue Stimmung, die seit dem
Frieden von Brundisium (40) sich vorbereitet, die ganze Menschheit. Dass
auch er den Weg durch rücksichtslose Gewalt und ungerechte Bluttaten sich
gebahnt hat, vergisst man, und man übersieht den revolutionären Ursprung
seiner Macht, seit das gesicherte Regiment wieder geordnete Verhältnisse
geschaffen hat. Die wilden Kräfte der Revolution hat er niedergezwungen
wie einst Juppiter die Giganten ^ Vom Himmel scheint er als Helfer '^ ge-
sandt, in den er einst wieder eingehen wird, hoffentlich erst nach langem
segensreichen Walten '. Der Ring der Zeiten hat sich geschlossen. Die
alte Blutschuld hat Augustus gesühnt** und eine neue Zeit des Heils eröffnet.
Das letzte, von der Sibylle geweissagte, goldene Zeitalter ist angebrochen als
Abschluss der früheren saecula''\ Recht und Gerechtigkeit und die Tugen-
den, die in den grausigen Zeiten die Welt verlassen haben, halten meder
') Horaz C. I 35, 33 in 6 Anfang und Schluss IH 24, 25, Epod. 7, wo der
Fluch von Romulus' Brudermord hergeleitet wird, 16; Vergil Georg. I 505 ff.
-) Catull 64 Schluss, Horaz C. I 2, 35. =>) Hör. C. H 2. Ovid hat Met. I 144 ff.
200 ff. die Farben aus der Gegenwart genommen. Mehr Material bei Dieterich,
Rhein. Mus. LY S. 211. 212. *) Horaz Epod. 16. Kiessling erinnert zu V. S9
an die Erzählung, dass Sertorius mit seinen Genossen die seligen Inseln habe
suchen wollen. — Derselbe bespricht zu C. IH 3, 37 Cäsars und Antonius' Pläne
einer Verlegung der Hauptstadt nach dem Osten. ^) Horaz C. III 4, 41 ff.
— Die Parallele Juppiter- Augustus auch C. I 12, 50 IH 5, 1 Properz Hl 11, 66 Ovid
Met. XY 858 Trist. 11 40 Fast. I 608 II 131. Sagt Hör. C. I 12, 17 von Juppiter
Wide nil mahis generatur ipso nee tiget qiiicqiiam simile aut seciinduin (vgl. Ovid Trist.
n 38 Met. XI 224), so heisst es C. IV 2, 38 von Augustus quo nihil maius meliiisve
terris fata donatere, ähnlich Epist. H 1, 17. Dass ein griechisches Muster zugrunde
liegt, beweist z. B. Aristides' Rede auf Zeus § 8. 9 (S. .340 Keil). — Seit Seneca
wird das Wirken des HeiTschers oft unter dem Bilde der stoischen Weltseele ge-
zeichnet, wie früher das des Juppiter. Zahlreiche Belege bei Frachter, Hierokles
S. 46. «) Yergil Georg. I 500. ') Horaz C. I 2, 45 IH 3, 11 Vergil
Georg. I .503 Aeneis I 289 Ovid Met. XV 868. 838 Trist. H 57, Carm. lat. epigr.
Nr. 18 Bücheier. s) Horaz C. I 2, 29 IV 15, 11. ») Horaz C. saeculare
25 ff. 57 (s. Kiessling) C. IV 2, 39 Yergil, Aeneis VI 792 (Nordens Komm. S. 317 ff.).
Ueber die Deutung von Yergils Ekloge 4 gehen die A.nsicliten auch der Neueren
(Lit. bei Gruppe S. 1491, vgl. S. Reinach, Cultes mythes et religions II S. 66 ff.)
immer noch auseinander. Mir scheint mit Skutsch (Aus Yergils Frühzeit, Leipzig
1901 S. 148 ff.) das Wahrscheinlichste, dass ein i. J. 40 erwarteter Sohn des Augu-
stus gemeint sei. Die einzelnen Yorstellungen, Beginn des neuen saeculum und
des goldenen Zeitalters, das Regiment Apollos, Sühnung der alten Schuld, Ursprung
von den Göttern und Rückkehr zu ihnen i49 maynuni lovis incrementum könnte nach
Anm. 5 amphibolisch gesagt sein), der pacatus orbis. kehren, wie meine leicht zu
vermehrenden Zeugnisse zeigen, .später in der Charakteristik des .\ugustus bestän-
dig wieder. Die Beziehung dieses Vorstellungskreises auf das Haus des Augustus
scheint nach der politischen Lage und nach der Stimmung der 1. Ekloge im J. 40
durchaus mögflich, die auf Pollios Haus höchst auffallend.
Institutionen des Aug'ustus 89
ihren Einzug ^ Die erschöpfte Menschheit atmet auf und erfreut sich des
lang entbehrten Friedens -.
In einer Reihe religiöser Akte hat Augustus mit seinem feinen Ver-
ständnis für die Bedeutung der Imponderabilien diesen Stimmungen einen
tieferen symbolischen Ausdruck gegeben und durch höhere Weihe sie für
die Befestigung seiner Herrschaft zu nutzen verstanden. Tiefen Eindruck
machte die Schliessung des lanusbogens, die er alten vergessenen Brauch
erneuernd zum Zeichen des Friedens 29 vollzogt, dann zweimal noch wieder-
holte. Um das Bewusstsein der Segnungen des neuen Regimentes und des
epochemachenden Einschnittes, den es bedeutete, lebendig zu erhalten, Hess
Augustus i. .T. 17 die .Jahrhundertfeier begehen '. Der Sinn des alten Brauches
war, dass durch den mit Sühnungen verbundenen Akt ein neues Zeitalter
des Heils inauguriert wurde und dass Unheil und Sünde des alten begrabenen
saeculum die nach göttlichem Willen gesteckte Grenze nicht überschreiten
konnten; die alten bösen Geister sollten für immer gebannt sein. Der Ge-
danke einer Säcidarfeier war schon lange bei der Sehnsucht nach besseren
Zeiten volkstümlich, schon Cäsar hat ihn erwogen und Gelehrte wie Varro
hatten sich mit der Theorie lebhaft beschäftigt. Augustus hat auch ihn in
den Dienst seiner Politik gestellt; den Theologen lag es ob zu beweisen,
dass der ihm passende Termin Avirklich die letzte von fünf Weltijerioden zu
je 110 Jahren, die zugleich eine Zeit der Wiedergeburt und Erneuerung des
Menschengeschlechtes sein sollte, eröffne, mid das authentische Orakel zu
schaffen. — Im J. 13 endlich nach Augustus' Rückkehr aus Gallien und
Spanien wurde die Ära pacis Augustae gestiftet^ und i. J. 9 geweiht.
Durch scheinbare Wiederherstellung und Belebung der alten Formen
und Ordnungen eine neue Grundlage des Reiches zu schaffen ist das Ziel,
das die augustische Politik auf allen Gebieten, auch dem religiösen, verfolgt
hat. Die verfallenen Tempel werden wieder aufgerichtet, den alten Göttern
neue Heiligtümer erbaut, die Priesterstellen besetzt und zum Teil vermehrt,
alte Feste und ehrwürdige Zeremonien zu neuem Leben erweckt. In der
Vergangenheit sucht man seine Ideale, und man meint, mit der Restauration
der alten Institutionen auch die altväterlichen Tugenden wieder lebendig
machen zu können. Einen tieferen Erfolg haben die reaktionären Versuche
einer Glaubens- und Sittenreform nicht gehabt. Aber die geistige Stimmung,
aus der die verunglückten Experimente hervorgegangen sind, hat ihre heil-
same Wirkung geübt und ist eine politische Macht gewesen. Die romanti-
schen Neigungen, wie die Literatur sie in der Idylle oder in utopischen
Bildern einer besseren Welt oder in sehnsüchtigem Rückblick auf das alte
Römertum darstellt, waren mm einmal volkstümlich ; denn sie waren geboren
aus den erschütternden Eindrücken der Schreckensära. Ein politisches Pro-
1) Horaz C. saec. 57, Vergil Aeneis I 291. ^) Horaz a. a. O. C. IV 5, 17. 15, 9
Epist. n 1, 251 VergU Aeneis VI 8.52 (Norden S. 328 und Neue Jahrb. S. 320), Ovid Ex
ponto I 1, 32 Met. XV 882 Trist. 11 2.85, Gardthausen Augustus I S. 480. 853. pacare ge-
braucht Augustus von sich Avdederholt im Monumentum Ancyranum, ebenso von ihm
Ovid Fast, n 18, Velleius 11 89, 6 pacatusque tictoriis terrarum orbis. Von Hercules (s.
Vergil Aen. VI 808 im Vergleich mit Augustus und Rotlistein zu Properz HI 11, 19)
und Bacchus, mit denen Augustus öfter verglichen wird, wird das Wort gern ge-
braucht. — Preis seiner Milde : Horaz C. saec. 52 Prop. II IG, 42 Ovid Amores I 2,
52 Trist. H 147. 512 Met. VHI 57 Seneca De dem. I 10, Mommsen, Res gestae S. 6,
Z. f. n. W. V S. 345. ^) Gardthausen I S. 478 ff. *) Gardthausen
I S. 1004 ff., Diels Sibyllinische Blätter S. 14. 15. 91. 127 ff., über den Sinn der Feier
Wissowa S. 864. ^) Gardthausen I S. 481. 852 ff.
90 ^ 11 H"': RKLiGiösE Entwickluni! : 2 Die Stimmung der augustischen Zeit
graram, das diese Stimmungen aufnahm, sie in einem Mittelpunkte sammelte,
ihnen Erfüllung verhiess, gab Avirklich der Zeit neue Ideale und einen
geistigen Aufschwung. Gewiss erreicht die Literatur zum Teil durch be-
doutende Talente eine hohe Vollendung in einer literarischen Entwickelung,
die aus sich heraus zu begreifen ist ; und die Anmut erotischer Tändeleien,
die neue lebensvolle Gestaltung alter Stoffe, die Fähigkeit der Darstellung
des innersten Gefühlslebens werden stets in der Poesie der augustischen Zeit
einen Höhepunkt der römischen Literatur sehen lassen. Aber die höchsten
Wirkungen erreichen in der Zeit doch die Schöpfungen, die von dem Geiste
der neuen grossen Zeit erfüllt und getragen sind. Die Entwickelung Vergils
von epikureischen Velleitäten und den gekünstelten Bucolica zu den an-
mutenden Schilderungen des Landlebens, endlich zum grossen Nationalepos,
das Mythos und Geschichte, Diesseits und Jenseits, Ideale der Vergangenheit
und aktuelle Tendenzen der Gegenwart, nationales und monarchisches Em-
pfinden verschmelzend alles zu dem Gesamtbilde einer dem vorbestimmten
Ziele zustrebenden grossen Entwickelung zu verbinden versteht, beweist, dass
er die Höhe erreichte, indem er den Gedanken und Idealen der Zeit, deren
Entwickelung er mit tiefstem Verständnis gefolgt war, die dichterische Ver-
klärung gab. Und so wenig Livius als Forscher gelten kann, so beruht doch
der eigenartige Reiz und die starke Wirkung seines Werkes darauf, dass
der Schimmer jener romantischen und sentimentalen Stimmungen, wie sie
schon in der Vorrede zum Ausdruck kommen, darüber gebreitet ist. Aber
überhaupt verleugnen die Schriftsteller der Zeit den Einfluss der herrschen-
den Strömungen nicht. Der politische Umschwung gibt der Literatur ein
neues Gepräge. Auch Dichter, die wie Horaz ihre besonderen Gaben oder
ihre der Politik abgewandten Neigungen nach anderen Richtungen weisen,
sehen wir den romantischen Stimmungen der Zeit sich gefangen geben oder
doch anempfindend sich in die ihnen neue Gedankenwelt einleben.. All das
beweist, dass sehr wesentlich diese Romantik, welche die idealen Kräfte in
den Dienst der augustischen Politik stellte, den Uebergang der Republik in
das Kaiserreich erleichtert, den grossen Wechsel, den sie als eine Rückkehr
zum Alten darstellt, verschleiert und so ein festes Vertrauen in die scheinbar
altrömischen Grundsätze der Regierung geschaffen hat.
Denn den neuen Geist Aveiss Augustus auch in den archaisierenden
Formen zum Siege zu bringen. Sein Schutzgott Apollo, auch Mars und
Venus als die göttlichen Urheber seines Hauses rücken in den Vordergrund
des Kultus. Die sibyllinischen Orakel werden in den mit Augustus' Hause
verbundenen palatinischen Tempel des Apollo übertragen. Der uralte Kult
der Vesta wird an das Haus des Kaisers angeschlossen, und die Penaten
der gens lulia werden mit denen des Staates verbunden; Schicksal und
Zukunft des römischen Volkes sind jetzt auf das Haus des Augustus gestellt.
Tritt in dem allen das deutliche Bestreben hervor, den Staatskult zum Träger
monarcliisclier Gefühle zu machen, so sucht Augustus auch für seine persön-
liche Herrscherstellung eine sakrale Weihet Seit 42 nennt er sich dipi
fi/iifs, der ihm 27 verliehene Titel Augustus (aeßaatoc) erhebt ihn über die
gewöhnliche Sphäre der Sterblichen imd zieht eine Grenze zwischen Herr-
schern und Beherrschten. Den Lares compilalcH wird bei Erneuerung ihres
Kultes i. .1. 7 V. Chr. der Genius des Kaisers beigesellt. Mit weiser Zurückhaltung
vermeidet Augustus, in Rom volle göttliche Ehren in Anspruch zu nehmen;
war doch Cäsar daran zugrunde gegangen, dass er ein hellenistisches König-
0 Zum folgenden vgl. O. Hirschfeld, Sitzungsber. d. Akad. z. Berlin 1888
S. 833 ff.
Poesie. Herrschcrkult. Sinn der Apotheose [)i
tum erstrebte und göttliche Verehrung beanspruchte. Dies Ziel, das Cäsar
mit rücksichtsloser Energie verfolgte, ist erst in dreihundertjähriger Ent-
wickelung wesentlich durch das Vordringen des orientalischen Geistes er-
reicht worden. Aber die ersten Schritte in dieser Kiehtung hat die Ueligions-
politik des Augustus getan. Dass ihm im Osten die göttlichen Ehren, mit
denen man dort die Herrscher und die römischen Grossen zu überhäufen
gewohnt war, von selbst zufielen, war natürlich. In den westlichen Pro-
vinzen hat er zur Stärkung des Regimentes selbst die Einführung des Kultes
des lebenden Herrschers gefördert, von italischen Städten ihn sich in den
späteren Zeiten seiner Regierung gefallen lassen. Wie Private natürlich die
Freiheit hatten, nach ilireni persönlichen Gefühl oder auch nach berechnen-
der Liebedienerei die ihnen passend scheinenden Ehrenbezeigungen zu wählen,
so geht selbstverständlich auch in Rom die hohe Sprache der Rhetorik und
der Poesie über die Beschränkung hinaus, die wir in den offiziellen Formen
des Kultus beobachten. Die Parallelisierung mit Juppiter, die Gleichstellung
mit Halbgöttern, die Anwendung der echt antiken Anschauung, dass Tugend
und Wohltun den grossen Menschen zu den Göttern erhebt^, auf Augustus
haben wir schon kennen gelernt. In der Angieichung an Apollo -, der Par-
allelisierung mit der Sonne ^, der allgemeinen Bezeichnung als Gott * bildet
die Kühnheit dichterischer Rede Anschauungen vor, mit denen man in der
nachaugustischen Zeit Ernst machte. — Die auf Augustus' Tod folgende
Konsekration war im Grunde nur die Bestätigung der Schätzung, die der
Lebende schon bei den Zeitgenossen gefunden hatte.
Die Apotheose liegt dem modernen Empfinden, welches die in Staat
und Kirche noch fortlebenden Formen des antiken Herrscherkidts in ihrem
ursprünglichen Sinne gar nicht mehr zu verstehen vermag, so fern, dass man
immer noch oft geneigt ist, in allen derartigen Aeusserungen verächtliche
Schmeichelei und Byzantinismvis zu sehen. Lässt sich diese Auffassung, die
einen scheinbaren Anhalt daran findet, dass die Persönlichkeiten dieser Zeit
kompbziert und von Widersprüchen nicht frei sind, schon für Horaz und
Properz nicht im geringsten wahrscheinlich machen , so ist sie vollends für
Vergil, dessen ganzes Wesen von dem stolzen Bewusstsein der durch Au-
gustus wiedergeborenen Römergrösse durchdrungen ist, vm durchführbar. Wie
aus dem grossen Umschwung aller Verhältnisse die hohe Schätzung des Au-
gustus, der nach den Zeiten des Schreckens der W^elt Ruhe, Woldstand und
alle Segnungen des Friedens wiedergegeben hatte, mit Notw'endigkeit her-
vorging, ist schon gezeigt w^orden. Und jeder Zw'eifel an der Aufrichtigkeit
jener Stimmen muss verstummen, wenn uns die gleichen Töne, ja noch vol-
lere, aus allen Enden des Reiches erklingen und die Literarischen Urteile
bekräftigen (s. Beilagen 4 — 7). Dass die Aegypter das verbrauchte Pathos
und den Wortschwall der alten Königstitulatur auch auf Augustus anwenden,
ist selbstverständlich. Sehr viel individueller sind die asiatischen Inschriften,
die im w^esentHchen dieselbe Stimmung, die wir schon aus der hauptstädti-
schen Literatur kennen, zum Ausdruck bringen'' : Auf die Zeiten des Schreckens,
*) Vgl. Nikolaos von Damaskos, Fragm. Hist. Graec. III S. 427, Dio Cassius
LH 35, 5 mi 9, 5, Ovid Met. XV 850, Tacitus Ann. IV 38. -) Horaz C.
I 2, 30. Auffallend und noch nicht genügend erklärt (Eindruck der äusseren Er-
scheinung ?) ist die sehr ausführliche Angieichung an Hermes 41 ff. ^) Horaz
C. IV 5, 5. 2, 46 (vgl. I 12, 46). *) Dens: Verg. Ekl. I 6 Prop. lU 4, 1 IV 11,
60, vgl. Horaz Epist. H 1, 15 C. IV 5, 31 ff. mit Kiesslings Anmerkungen. Das Stärk-
ste bei Ovid Ex ponto H 8 Ars I 204. 183. Einen Tempel will ihm Vergil, Georg.
lU 16 errichten. Gebet zu ihm Georg. 1 42 Ovid Ex ponto IV 9, 111. ») Ueber
9:2 ^11 r)i'' RELIGIÖSE Entwicklung : 3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit
der Hoffniings- und Mutlosigkeit, des drohenden Unterganges ist durch Au-
gustus ein neues Zeitalter des Heils und Friedens, der Neugeburt der ganzen
Menschheit gefolgt. Der durch göttliche Vorsehung der Menschheit als
höchste Gabe gesandte awir^p und S'jepysxr^; hat der Welt ein neues Aus-
sehen gegeben, Erfülhmg aller sehnenden Hoffnungen, gegenwärtiges Glück,
frohen Blick in die Zukunft gebracht. Es ist A\deder eine Lust zu leben.
Die konventionellen Formen des Herrscherkultes und der Apotheose haben
in der durch hellenistische Muster so stark beeinflussten römischen Poesie
wie in jenen Inschriften wieder neues Leben und einen tieferen Gehalt ge-
wonnen. Die Einstimmigkeit der Zeitgenossen beweist, dass echtes und
wahres Gefühl dieser hohen Schätzung zugrunde liegt. Und im Gegensatz
zu den sich widerstreitenden und schwankenden Auffassungen anderer Herr-
scher hat das Idealbild der Regierung des Augustus, me es unter dem un-
mittelbaren Eindruck seiner Taten die dankbare Mitwelt gestaltet hat, den
Wechsel der Jahrhunderte überdauert und sich so konstant behauptet, dass
selbst christliche Schriftsteller wesentlich in den Farben, die Rhetorik, Poe-
sie, Historiographie zu seinen Lebzeiten geschaffen haben, das Bild seiner
Regierung zeichnen, nur dass sie dem Beginn einer neuen Epoche vmd den
Segnungen des neuen Regimentes eine providentielle Beziehung auf Christus
geben ^
3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit
BoissiER Bd. U (S. 87). — Reville, Die Religion zu Rom unter den Seve-
rern, übersetzt von G. Krüger, Leipzig 1888.
Der Herrscherkult entwickelt sich weiter in der ihm von Augustus
gewiesenen Richtung. Die persönliche Haltung der einzelnen Herrscher dem
Kaiserkult gegenüber ist verschieden. Nach der weisen Zurückhaltung des
Tiberius erheben Caligula, Nero, Domitian Ansprüche auf volle Würden des
Gottes schon zu Lebzeiten, und die servile Schmeichelei tritt unter ihnen in
besonders grotesken Formen auf ^. Aber die Grundlinien des Kultes bleiben
zunächst die alten : Der verstorbene Herrscher wird durch die Konsekration
unter die diri erhoben und geniesst göttliche Verehrung. Der Genius des
lebenden Kaisers wird heilig gehalten. Um die wachsende Macht der neuen
Institution zu begreifen, muss man sich klar machen, wie sie von Anfang
an im allgemeinen Glauben der Zeit ihre Anknüpfungen suchte. Die Erhe-
bung Verstorbener in den Himmel war schon vor der Konsekration der
Herrscher eine der Pietät der Hinterbliebenen geläufige VorsteDung. Und
auch über den flagranten Widerspruch der sittlichen Qualität mancher Herr-
scher und ihrer Ehren als diri kam man hinweg; denn die Anknüpfung der
späteren diii an den im Vordergrunde stehenden Kult des Augustus bewies,
dass die Verehnmg mehr dem Amte als dessen zufälligen Trägern galt, und
die Zalil der diri wurde später mehrfach durch eine Ausscheidung der Un-
würdigen beschränkt. Die Verehrung des kaiserlichen Genius knüpfte an
die offiziellen Bezeichnungen geht hinaus die im Osten häufige Benennung des
Augustus als Gott und die von den römischen Dichtern gemiedene (s. Beilagen)
volle Gleichsetzung mit Göttern wie Zeus und Apollo. *) Beispiele in
Zeitschr. f. neutest. Wiss. V S. 352; Harnack, Mission-^ I S. 222 ff. -) Bei-
lagen 8—10. Was Domitian gegenüber Martial, Silius Italicus imd Statius an Adu-
lation leisten, geht über das zu augustischer Zeit übliche Mass hinaus (nur Ovid
kommt dem nahe).
Herrscherkult als Mittelpunkt der Religion 93
den altitalisclien Genienglauben an, dessen volkstümliche Vorstellungen durch
Vermischung mit dem hellenistischen Glauben an den jjersönliclien oa'!|JL(i)v
als das Göttliche im Menschen einen vertieften Inlialt erhalten hatten'.
In diesen Formen gewinnt der Kaiserkult eine immer weitere Verbrei-
tung, die durch Militär und Beamtentum besonders gefördert wurde. In
den Eiden der Beamten und Soldaten werden der Genius des lebenden Kai-
sers - und auch die diri neben die Götter gestellt. Im Heere knüioft die
Verehrung des Kaiserbildes an den Kult des Genius an. Durch das Attribut
Augustus werden viele Götter näher mit dem kaiserlichen Hause verknüpft.
Die andern Kulte werden mit Elementen des Herrscherkultes durchsetzt oder
durch dessen Glanz in Schatten gestellt. Ueber der verwirrenden Fülle der
im Reiche vertretenen Kulte und Religionsformen erhebt sich immer mehr
als der sie überragende Mittel})unkt die Kaiserreligion. In diesem Kult mit
seiner eigenartigen Verschmelzung patriotischen und religiösen Gefühles fand
die Reichsangehörigkeit der national und religiös so verschiedenartigen Glie-
der des Reiches einen als Bindeglied wertvollen gemeinsamen Ausdruck ; er
war ein Wahrzeichen der Reichs einheit. Auch dem Skeptiker und Indiffe-
renten gebot die Loyalität die genaue Beobachtung seiner immer mehr die
Akte des öffentlichen Lebens durchdringenden Formen. Fromme und Gott-
lose konnten in verschiedenem Sinne den Satz des Valerius Maximus ^ unter-
schreiben, dass den Cäsaren als den sichtbaren Göttern der Vorzug vor den
Olympiern gebühre, von denen man doch nur Unsicheres wisse, mid ohne
Zweifel haben viele so empfunden.
Es war ein ganz natürlicher Fortschritt in der Degradierung der alten
und der Erhebung der neuen Götter, dass jene diesen untergeordnet werden.
Der Hellenismus kannte ja längst die Gleichsetzung der Herrscher mit den
alten Göttern (S. 80), und im Osten wurde Augustus z. B. mit Zeus und
Apollo identifiziert^. Hatte im Westen ähnliches nur die Poesie in bild-
lichem Ausdruck gewagt, so trat es später in Rom selbst als realer Anspruch
auf. Commodus hat sich als Hercules verehren lassen, und die Zersetzung
des altrömischen Geistes führt zu anderen Versuchen der Art. Aurelian hat
sich als dominus et deus proklamiert und damit die Entwickelung zu dem
natürlichen Abschlüsse geführt, den sie in den hellenistischen Reichen rascher
gefunden hatte.
So hat denn die augustische Religionsreform eine wirkliche Erweckung
des alten Glaubens und tieferen religiösen Lebens nicht wirken können. Als
lebenskräftig hat sich nur der neue Herrscherkult erwiesen, aber seine Er-
hebung bedeutet zugleich den zunehmenden Vei'fall des alten Glaubens. Auf
dessen Kosten ist er gross geworden, bis er schliesslich selbst immer mehr
veräusserlicht wurde und durch groteske Formen vergebens die eigene In-
haltlosigkeit zu verdecken suchte. Die innere Zersetzung imd Auflösung
der römischen Religion hat die künstliche Wiederbelebung ihrer äusseren
Formen durch Augustus nicht aufhalten können. Gewiss hat sich seine
Zeit die restaurierte Orthodoxie gefallen lassen ; noch mehr, sie hat sie wirk-
lich als ein schönes Ideal angesehen, hat dies Ideal wie alles altrömische
Wesen mit ästhetischem Wohlgefallen betrachtet und mit dem Zauber ro-
") Usener S. 295 ff.; Rohde, Psyche U S. 316. 317. Auf die bedeutendsten
Persönlichkeiten der verschiedensten Völker wendet Dio von Prusa R. XXV den
Begriff an. -) Im Osten tritt an dessen Stelle auch die Person selbst, s.
Dittenberger, Orientis inscr. .532. ^) Von-ede. Vgl. die S. 75 gezeichnete
athenische Stimmung und Ovid Ex ponto I 1, 63 ut mihi äi fateant, quibus est ma-
nifestior ipse (Augustus). *) Dittenberger, Orientis inscr. 457. 659.
94 Vll DiK RELIGIÖSE Entwicklung : 3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit
mantischer Stimmungfen umkleidet. Aber die mit religiösen Gefühlen spie-
lende, sie zum ornamentalen Schmuck des neuen Reiches verwertende An-
emi)iindung- war keine Avirkliche religiöse Erweckung, obgleich sie selbst sich
dieser Illusion hingegeben hat.
Die römische Religion ist, vrie keine andere in dem Masse, Ausdruck
des Staatsgedankens, gebunden an die Formen des staatlichen Lebens und
durch dessen Kräfte getragen. Der enge Bund mit dem Staate ist ihr teuer
zu stehen gekommen. Es ist, als wenn der Staat frühzeitig ihre ganzen
Kräfte aufgesaugt, sie veräusserlicht und des Bewusstseins der eigenen Macht
und ihres innersten Lebens beraubt hätte. Die wunderbare sich stets ver-
jüngende Gestaltungskraft der griechischen Religion und ihre Fähigkeit, in
alten Formen Bewusstsein und geistigen Gehalt einer neuen Zeit auszudrücken,
hat sie nie besessen, und die Aufnahme griechischer Formen konnte den
]\Iangel nicht ersetzen. Lange ehe sie in die nach den Antoninen beginnende
Dekomposition des römischen Staates gezogen wurde, war sie schon inner-
lich verwelkt und abgelebt. Völlig untergeordnet unter die Interessen des
Staates, in den Kämpfen um Standesinteressen und politische Macht seit lange
raissbraucht und damit herabgewürdigt, belastet mit unverstandenen, aber
mit echt römischer Formenstrenge festgehaltenen Zeremonien aus den Zeiten
der Urväter, stand sie nicht nur in scharfem Gegensatz zu der durch die
griechische Propaganda in der Gesellschaft zur Herrschaft gebrachten Auf-
klärung, sie konnte auch die tieferen religiösen Bedürfnisse der Zeit nicht
befriedigen. Seit Poseidonios haben wir eine Steigerung und Vertiefung des
religiösen Lebens und des Gefühlslebens überhaupt beobachtet, die auch die
römische Welt ergreift und von Augustus zu Marc Aurel fortschreitend den
letzten Zeiten der untergehenden alten Welt das Gepräge mystischer Fröm-
migkeit gibt K Volkstümliche und philosophische Stimmungen der Art kreu-
zen sich. Die Philoso])hie hat das Innenleben vertieft ; sie hat die Religionen
zu reduzieren versucht auf eine reine philosophische Religion, in der das
individuelle religiöse Leben, die Erhebung der Seele durch das persönliche
Verhältnis zu Gott, die sittlichen Wirkungen eines reinen Gottesglaubens
mehr bedeuten, als Zeremonien und Opfer, Gelübde und Weihungen, durch
die rückständige, dem sittlichen Gefühl ^\idersprechende Formen der Fröm-
migkeit offen bekämpft werden. Die philoso])hisc]ie Propaganda hat solche
Anschauungen in die Massen getragen. Gerade dieser individuell gerichteten
Frömmigkeit gab die staatliche Religion mit ihren streng gebundenen For-
men, mit ihrer nationalen Beschränkung, zumal unter der Monarclüe die
Massen dem politischen Leben und den öffentlichen Interessen entfremdet
waren, keinen Raum und keine Befriedigung.
Gibt jetzt den einen die Philosophie den Inhalt ihres religiösen Lebens,
so finden ihn andere bei fremden Göttern, die ihnen mehr zu geben und zu
sagen haben als die altheimischen, und endlich wird eine völlige Verquickung
pliilosopliischer Ideen und einer alle möglichen Kulte deutenden religiösen
Symbolik herrschende Mode. Es ist für die Kaiserzeit symptomatisch, dass
das gesteigerte religiöse Leben mit leidenschaftlicher Gewaltsamkeit sich auf
die orientalischen Kulte wirft. Aeussere Momente haben diese Entwickelung
begünstigt. Die Ausdelmung der Reichsorganisation, die Völkermischung der
Hauptstadt und ihie Ueberflutung mit orientabschen Elementen, der gestei-
*) An Die Chrysostomos und Plutarch, Aristides und Maximus, Apulejus, Phi-
lostrat und Aelian kann man die Entwickelung in ihren mannigfachen Nuancen
beobachten. Auch im Roman drängt sich die erbauliche Tendenz vor: K. Bürger,
Studien zur Geschichte des griechischen Romanes IT, Blankenburg a. H. 1903 S. 12 flf.
Entleerung der .staatlichen Helij^ion. PYoinde Götter 95
gerte Verkehr, der lani>jiilirige Aufenthalt der Lepfionen in den Provinzen
und ihre Durchsetzuni;- mit Peregrim-n, endlich seit dem III Jahrli. das Auf-
kommen V(,)n Kaisern, die fremden Blutes sind und die national-römisches
Emptinden nicht kennen, fördern den Synkretismus der Relij^ionen. Die
römischen Götter gleichen sich immer mehr fremden an, jetzt auch keltischen
und germanischen, i;nd sind oft Decknamen für einen fremden, nicht immer
leicht festzustellenden Inhalt. Das Sinken der Bildung und der Verfall der
Wissenschaften befördert jede Art des Aberglaubens. Es war ferner natür-
lich, dass der Archaismus (S. 31. 35), gewohnt, in Althellas und Altrom seine
Ideale zu suchen, bald auch bei den nichtgriechischen alten Kulturvölkern
in die Lehre ging und auch hier Ideale und Quellen uralter Weisheit fand.
Und mit ihm arbeitet Hand in Hand eine Theologie, die wie so oft in Zeiten
des rehgiösen Verfalles besonders geschäftig, die abstraktesten und entlegen-
sten Reiigionsgebräuche und Vorstellungen besonders hochschätzt, weil sie
an ihnen die feinsten Künste ihrer tiefsinnigen Exegese entfalten kann.
Die fremden Götter, neben den ägyptischen und phrygischen, die schon
durch die hellenistische Propaganda verbreitet waren, besonders syrische
Baale und weibliche Göttinnen, machen gewaltige Eroberungen. Die Mithras-
religion wird die beliebteste Soldatenreligion und gewinnt im Reiche eine
Ausbreitung, die sie zum gefährlichsten Gegner des Christentums macht.
Rom wird ein Pantheon aller Götter. Die steigende Bedeutung der orien-
talischen Götter zeigt sich seit dem III Jahrh. besonders in ihrem Vordringen
bis in den Staatskidt. Wie Caracalla das Bürgerrecht auf den grössten Teil
der Reichsangehörigen ausdehnt, so nimmt er die Isis unter die Staatsgott-
heiten auf. Die nationale Widerstandskraft gegen die Invasion fremder
Götter ist völlig erloschen. Das Uebergewicht der fremden über die einhei-
mischen Götter tritt deutlich darin hervor, dass die christliche Polemik die
ganze Gewalt ihrer Leidenschaft im Kampfe gegen Kybele, Isis, Serapis,
Mithras entfaltet, die als die stärksten und gefährlichsten Gegner erscheinen.
Auf die unent^^'irrbare FüUe der bald rivalisierenden, bald sich ver-
schmelzenden Göttergestalten fremder Länder, ihrer Kult- und Mysterien-
vereine kann liier nicht eingegangen w^erden. Denn ihre Geschichte liegt
meist jenseits der Grenzen, in denen meine Darstellung sich zu halten hat;
sie interessiert uns hier nvir wesentlich als Abschluss der früheren Entwik-
kelung, in der die sie beherrschenden Motive sich vorgebildet haben. Auch
muss gegenüber einer starken Ueberschätzung dieser synkretistischen Reli-
gionsgebilde offen ausgesprochen werden, dass diese Motive und die der
ganzen Bewegung zugrunde liegenden Stimmungen höher zu schätzen sind
als die im besten FaU naiven, oft abstrusen und auch rohen Foi'men, in
denen der Trieb nach gesteigertem religiösem Leben seine Befriedigung
sucht. Dass der Neuplatonismus die Kräfte dieser Bewegung in sich auf-
nimmt, zeugt genügend für ihre Bedeutung. Aber reine und niedrige Mo-
tive, verstiegene Spekulation und krudester Aberglaube, zarte Mystik und
rohe Sinnlichkeit sind in ihr so verschiedenartig gemischt, dass sich die Fülle
der Erscheinungen nicht unter" ein allgemein gültiges Werturteil fassen lässt.
In der dramatischen Ausgestaltung dieser Kulte, in ihrem Reichtum an Li-
turgien, Sakramenten und Symbolen findet die Phantasie eine FüUe von An-
regungen und sinnlichen Erregungen, die besonders das weibliche Geschlecht
angelockt haben. Dieser Stoff vermag die Superstition der naiv Gläubigen
und den Verstand der Verständigen, der alles Mögliche in ihn hineindenken
konnte, zu befriedigen. Die Reinigungen und Kasteiungen, von den einen als
magisch wirksame Mittel, von den andern als Antrieb sittlicher Erneuerung
gefasst, stülten die Sehnsucht nach Erlösung und Erhebung der Seele. Offen-
90 VLl DiK RELIGIÖSE Entwickluncx : 3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit
barungen geben sichere Garantien der Heilsgewisslieit und des seligen Lebens
im Jenseits. Die Pliantasie dieser Zeit beschäftigt sich lebhaft mit den Jen-
seitsvorstellungen. Jenseitsdichtungen malen liebevoll mannigfache Bilder
vom Fortleben der Seligen und von den Strafen der Sünder aus. Durch
volkstümliche Spukgeschichten, Geisterzv^^ang, Seelenbeschwörungen beginnt
die Philoso])hie ihre Vorstellungen vom Jenseits und von der oberen Welt
zu bereichern. Zahlreiche Kultvereine geben Verheissungen seliger Unsterb-
lichkeit und stellen ihre Angehörigen unter den Schutz eines Gottes, der sie
einst zu den Seligen geleitet, mag es Hermes oder Persephone, Osiris, Mi-
thras oder EuaYyeAo; sein '.
Die dem Dienste fremder Götter geweihten Vereine boten dem indi-
viduellen Ausleben der Religion mehr Spielraum als die staatlichen Kulte.
Seelsorgerische Disziplinierung, stufenweiser Fortschritt der Weihungen und
Unterscheidung verschiedener Klassen der Gläubigen gaben immer neue An-
stösse zur Vertiefung und Steigerung des religiösen Lebens. Die sehr viel
höheren Ansprüche, die diese Götter stellten, schienen ihre grössere Macht
zu verbürgen. Und sie haben gegenüber den national beschränkten und
gebundenen eine allgemein menscliliche Bedeutung, einen kosmopolitischen
und universalistischen Zug. In der Ausweitung ihrer Sphäre haben sie die
Fälligkeit gewonnen, eine Fülle anderer Göttergestalten in sich aufzunehmen,
sich zu assimilieren oder unterzuordnen - ; und diese Kraft, die andern Gott-
heiten anzuziehen, ist ein wirksameres Mittel der Propaganda gewesen, als
es die Bekämpfung der andern Götter je hätte sein können. Und hinter
diesen Göttern steht eine Priesterschaft, deren ganzes Leben ihrem Dienste
und der Propaganda geweiht ist, die ein Interesse daran hat, die überragende
Bedeutung ihrer Götter zur Geltung zu bringen.
In dem späteren Synkretismus spielt Gestirn- und Sonnenverehrung eine
besonders wichtige Rolle. Wie wir sahen, hat die Philosophie dem Glauben
an die Göttlichkeit der Gestirne eine besondere Weihe und Anerkennung
unter den Gebildeten gegeben. Die Verbreitung der Astrologie verlieh die-
sem Glauben neues Leben und Geltung in breiten Schichten des Volkes,
Seit dem I Jahrh. v. Chr. drang, nach des Dio Cassius Zeugnis von Aegyp-
ten aus, die Planetenwoche vor, die ihre Entstehung dem Glauben verdankt,
dass die Planeten in siebentägiger Periode sich als Regenten je eines Tages
ablösen. Der Ursprung dieses Glaubens ist höchst wahrscheinlich in Baby-
lonien zu suchen. Diese Planetenwoche verdrängt völlig die achttägige rö-
mische Woche (nundinae), über die sie schon im III Jahrh. den Sieg erlangt
hat^. Und mit dieser orientalischen Woche verbreitet sich die Verehrung
der Planeten als Tages- und Schicksalsgötter, als der grossen Weltherrscher *.
') Rohde, Psyclie II S. 362 ff. Dieterich, Nekyia, Leipzig 1893. Maaß, Or-
pheus S. 209 ff. '-') So nimmt z. B. bei Apuleius Met. XI 5 Isis aUe weibliche
Göttinnen in sich auf, die in langer Reihe aufgezählt werden. — Eine Zusammen-
fassung der männlichen Hauptgötter gibt z. B. Celsus bei Orig. C. Cels. I 24. V
41. 45: Es ist gleichgültig, ob man den höchsten Gott Hypsistos, Zeus, Adonai,
Sabaoth, Amnion, Papaios nennt. =') Schürer, Zeitschrift für neutest. Wiss.
VI 1 ff. In Konkurrenz mit der astrologischen Woche fand die jüdische durch die
Diaspora weite Verbreitung. Sie zählt nur die Tage, hat aber keine Beziehung
zu den Planeten. Auch ihr Ursprung wird babylonisch sein, aber sie hat ihre von
der Planetenwoche gesonderte Geschichte. Die ältesten heidenchristlichen Ge-
meinden liaben die jüdische Woche übernommen. *) E. Maaß, Die Tages-
götter, Berlin 19U2.
Gestirn- iiiul Sonnenverehrung^ 97
Die Rolle, welche die Sterngötter in christlich y:nostischen Systemen
(vergl. X) und auch im allgemein christliclien Dämoncnghiuhen spielen , die
christliche Polemik gegen die Planeten Verehrung und die Tatsache, dass den-
noch in der siegreichen Kirche die heidnische Bezeichnung' der Wochentage
üblich wird, [)eweist die wachsende Macht dieses aus dem Osten stammenden
Glaubens.
Die 'Aufnahme des syrischen Baal und dann des palmyrenischen Bei
als des höchsten den Jupiter ablösenden Sonnengottes durch Elagabal und
Aurelian war nur ein letzter Schritt im siegreichen Vordringen syrischer
Götter und die öftentliclie Anerkennung der Geltung, die der Sonnengott
sich im Glauben der Zeit bereits erobert hatte K Seit der Mitte des I Jahr-
hunderts lässt sich seine zunehmende Verbreitung, die durch den Siegeszug
der Mithrasreligion gefördert wurde , verfolgen - ; aber die Wurzeln dieser
Entwickelung- reichen in hellenistische Zeit zurück •'. Das Attribut Jnriclus
bezeichnete die Allgewalt, die erst dem Christentum allmählich erlegen ist;
das Geburtsfest Jesu als der neuen Sonne ist mit bewusster Antithese unter
Kaiser Constantius auf den Tag der Geburtsfeier des Sol Inrlclus gelegt
worden. Die Bedeutung des Sonnendienstes offenbart sich auch in seiner
engen Verknüpfung mit dem Kult des Herrschers, der als irdisches Abbild
und Epiphanie des Sonnengottes erscheint. Diese Verehrung des Sol gab
dem Zuge der Zeit zu monotheistischer Ausweitung und zusammenfassender
Unterordnung der göttlichen Teilkräfte und Emanationen unter eine Haupt-
gottheit einen besonders festen Halt. Wir haben noch, in doppelter Brechung
bei Macrobius Saturnalien I 17 — 23 und in Julians IV Rede, ein theologisches
System, das eine Fülle von Göttergestalten, Sarapis, Apollo, Dionysos, Ares,
Hermes, Asklepios, Herakles, Attis, Osiris, Horos, den aramäischen Gott Adad
und andere, in den allumfassenden und welterhaltenden Helios aufgehen
lässt ^. Der Neuplatoniker Jamblich hat, vielfach ältere Gelehrsamkeit, z.B.
eine konsequent durchgeführte hellenistische Umdeutung Apollos in Helios
benutzend, diese Sonnentheologie zu der Zeit geschaffen, wo der Sonnenkult
in höchster Blüte stand. Aber die uns erhaltenen Reste eines verwandten
theologischen Systems des Cornelius Labeo (HI Jahrh.) ^ beweisen, dass die
Versuche, die Vielheit der Götter in einer monotheistischen Sonnenverehrung
zusammenzufassen, älter sind als Jamblich.
Die Pliilosophie tritt immer mehr unter den Einfluss der religiösen Zeit-
strömung; sie sieht vielfach in der nachchristlichen Zeit ihre Hauptaufgabe
darin, sich den Tendenzen der Theokrasie dienstbar zu machen. Sie wird
zur Theologie, indem sie ihre Erkenntnisse nicht mit den Mitteln wissen-
schaftlicher Forschung gewinnen will, sondern sie auf positive Autoritäten
und höhere Offenbarungen gründet und durch sie allein ihre Sicherheit ver-
bürgt sieht. In den alten Mythen und Kultgebräuchen findet Plutarch die
tiefste Weisheit, niedergelegt in Symbolen und Rätseln, die sich nur dem
frommen und durch religiöse Uebungen geläuterten Sinn erschliessen ''. Philo-
1) S. über die ganze Entwickelung jetzt Cumont, Les religions orientales
dans le paganisme romain, Paris 1907 S. 125 — 162. '-) Das Material hat Usener,
Rhein. Mus. LX S. 465 ff. gesammelt. ■') S. Gruppe 8. 1466. ^) S. Wissowa, De
Macrobii Saturnaliorum fontibus, Breslau 1880 S. 35 ff., und über die hellenistisclie
Umdeutung von Apollo in Helios Muenzel, De Apollodori Ilspl WzOvi libris Bonn,
1883. ^) Kalü, Philologus Suppl. V S. 756 ff. 748; vgl. auch Reizenstein, Poi-
mandres 8. 197 ff. und Buresch, Klaros, Leipzig 1889 8. 53. 54. ^) De Iside et
Osiride 9. 2. De E apud Delphos 2. De defectu oraculorum 2: Die Philosophie
hat die Theologie zum Ziele. — Pausanias VIII 8, 3.
Lietzinann, iiandbuch z. Neuen Test. I, 2. 7
98 Vll Die religiöse Entwicklung : 3 Religionsgeschichte der Kaiserzeit
so])hie und Poesie sind nach Maximus Tyrius (X. vgl. XXXII Dion I § 57
XXXVI i:; 3*2 if.) im Grunde identiscli ; nur die Mittel, mit denen sie die eine
Walirlieit verkünden, sind verschieden. Ja die Sprache der Poesie, die Mythen
und rätselhafte Wendungen bevorzugt, ist mit ihrem geheimnisvollen Dunkel
des unergründlichen Wesens der Gottheit vielleicht noch würdiger, jedenfalls
an Wahrheitsgehalt der Philosophie durchaus ebenbürtig. Die menschliche
Schwäche, so führt derselbe in R. VIII aus, bedarf nun einmal zur Anschauung
des Göttlichen der Bilder und Symbole. Und indem er die verschiedenartigen
Auffassungen und Darstellungen der Götter bei den verschiedensten Völkern
durchgeht, hndet er bei allen die wenn auch einseitig ausgeprägte Vorstellung
derselben Gottheit (vergl. XVII 4. .5). Diese philosophische Richtung reduziert
alle Pliilosophie (nur Epikur kommt für sie nicht in Betracht) auf ein theolo-
gisches Dogma, in dem sie die Summe der bisherigen i)hiloso])hischen Ent-
Avickelung erkennt, und sie setzt zugleich diese Theologie als eine Urolfen-
barung in die Anfänge der Menschheit. Man braucht die Religionen aller
Völker nur richtig zu deuten, um in allen als Kern den einen gemeinsamen
Gottesglauben zu finden ^ Indem diese im letzten Ziele ganz in Abstrak-
tionen aufgehende Spekulation in der Poesie ebenso das individuelle Schaffen
dichterischer Phantasie wie in der nationalen Rehgion tlie Offenbarung des
Volkscharakters verkennt, weiss sie den alten Gegensatz von drei Religionen
(S. 86) in vollste Harmonie aufzulösen. In Wahrheit wird freilich die philo-
sophische Religion zur Norm erhoben, nach der Poesie und Kult umgedeutet
werden; denn ein transzendental platonischer Gottesbegriff, der Gegensatz
der schaffenden Kraft und des Stoffes, der Ideen- und der Sinnenwelt bilden
den wesentlichen Gedankengehalt der höchst komplizierten Systeme -. Aber
doch leben diese Theologen der ehrlichen Ueberzeugmig. dass dieser Wahrheits-
gehalt bereits in früher Vorzeit in den polytheistischen Religionen offenbart
und erst später von den Philosoi)hen übernommen sei '■'. und dass sie den
alten Glauben lebendig machen. Ueber die Quellen ihrer Theologie geben
sie sich ähnlichen Illusionen wie Philo und Origenes hin. Die Abhängigkeit
der Philosopliie von der religiösen Entwickelung der Zeit zeigt sich nicht
nur in dieser Ableitung der Erkenntnisse aus höherer Offenbarung, sondern
auch in der mit den Grundgedanken schwer vereinbaren Uebernahme eines
reichen konkreten Stoffes. Denn unter der scheinbar reinen Höhenluft einer
philosophischen Religion breitet sich in dichten Massen die dumpfe Atmo-
sphäre der Superstition. Diese Theologie lässt alle, auch die niedrigsten
und rohesten Fonnen des Glaubens gelten und ordnet sie zu einem Systeme,
zu einer Art himmlischer Hierarchie. Die Götter des Polytheismus fasst sie
alle als Teilkräfte, Offenbarungen, Ausstrahlungen des höchsten Gottes oder
Exponenten seiner Wirkungen ; und so kann sich der Pliilosoph, der sie im
Grunde auflöst und als symbolische Darstellung einzelner Seiten der Gott-
heit fasst, doch einig fühlen mit dem naiv Gläubigen, der das Bild für die
Sache, die mythische Form für Wahrheit nimmt. Das Ueberge^^^cht des
monotheistischen Gefühles tritt darin hervor, dass alle Mythen und religiösen
Traditionen, die dem reinen Gottesglauben widersprechen, auf die niedere
Sphäre der Dämonen bezogen und zu dieser vielfach auch die Olympier
') S. z. B. Flut. De Iside (>7 Maximus XVII .5. Ueber seinen Vorläufer Dion
s. v. Arnim, Leben und Werke des Dion von Prusa, Berlin 1898, S. 476 ff. -) Vgl.
Hobein, De Maximo Tyrio, Jena 189.5, S. 40 ff. •'') S. besonders Max. XXXH 3.
Das Verhältnis der Philosophen zur Poesie, der von ihnen ohne Dank benutzten
Quelle ihrer Weisheit, wird ebenso gefasst, wie später von den Christen ihr Ver-
hältnis zu der heiligen Schrift.
Poesie luid Philosoplüe. Oifeubarungsurkunden 99
herabgedrückt werden ^
Das Bild des AjioUonios von Tyana, wie es mit wechselnden Tendenzen
immer von neuem gezeichnet wurde '-'. spiegelt die mannigfachen religiösen
Stimmungen der nachchristlichen Zeit wieder; magischer Zauber, Dämonen-
austreibungen, Wundergeschichten aller Art, asketische Lebensweise und eine
die roheren Religionsformen ablehnende, in der Sonnenverehrung gipfelnde
Frömmigkeit, daneben doch Ehrfurcht vor den volkstümlichen Religionen,
Em])fehlung- des väterlichen Brauches und Neigung, bei allen Völkern die
Spuren ursprünglicher Weisheit und Frömmigkeit zu entdecken, sind in diesem
Bilde vereinigt. Das alles verbindet der Mann, der als das Ideal des gött^
liehen Menschen und Träger neuer Offenbarungen hingestellt wird. Alexander
Severns vereinigt in seinem Betgemach mit einigen seiner göttlichen Vor-
gänger Apollonios, Christus, Abraham, Orpheus, Alexander den Grossen.
Es ist ganz natürlich, dass eine Zeit, deren Autoritätsglauben aus allen
Völkern Offenbarungen zusammensucht, auch nach neuen Enthüllungen ver-
langte , und die Avurden ihr in immer neuer Gestalt geboten. Wir sahen
schon, wie die hellenistische Pseudohistorie die Autorität alter fingierter
Urkunden vorscliiebt. Der Neupythagoreismus A\ärkt durch ganze Massen
gefälschter, auf berühmte Namen gesetzter Schriften. Die Orakelstätten und
der Orakelgiaube gewinnen in nachchristlicher Zeit neues Leben ^. Hatten
auch die alten Weissagungsstätteu ihren politischen Einfluss verloren, so
spielten sie eine um so grössere Rolle im Alltagsleben der Menschen, die
oft auch über die religiösen Probleme der Zeit Aufklärung durch Orakel
suchen. Das von Lukian gezeichnete paphlagonische Orakel mit seinem ge-
meinen Schwindel ist ein Zeichen der Zeit *. Seit dem III Jahrhundert v. Chr.
behandeln sibyllinische Dichtungen, Prophezeiungen ea: eventu mit phantasti-
schen Zukunftsbildern verbindend, die grossen Völkerschicksale und finden
auch Raum für eschatologische Visionen, philosophische Lehren, moralische
Diatriben. Altes und Junges, jüdische und christliche Umbildungen und Neu-
dichtungen sind in unserer in ihren Rezensionen stark fluktuierenden Sammlung
vereinigte Ganz in theologischer Sphäre bewegen sich die um 200 n. Chr.
entstandenen chaldäischen Orakel, die einen platonisierenden Gottesbegriff,
eine mit Elementen der volkstümlichen Religionen versetzte Emanationslehre,
eine mystische Seelenlehre zu einem Ganzen verbinden, das den Neuplatoni-
kern seit Porphyrios als Offenbarungsurkuude neben Homer und Orpheus
steht •*. Etwa zur selben Zeit veröffentlichen die beiden Juliane Samm-
lungen religiöser Offenbarungen ', und etwas später gründet Porphyrios auf
alle mögliche Orakelweisheit ein theologisches System ^. EnthüHimgen unter
Orpheus' Namen gehen durch alle Jahrhiinderte. Die unter dem Namen des
>) S. z. B. Maximus TjtIus XIV 5 ff.. Hobein S. 54 ff. Heinze. Xenokrates,
Leipzig 1892 verfolgt S. 79 ff. die Dämonenlelu-e von Xenokrates über Poseidonios
zu Plutarch und Maximus. äyYsÄo'. und genii ftiessen später vielfach mit den Dämo-
nen zusammen. '-) Vgl. Reitzenstein, Hellemstisclie Wundererzählungen S. 40 ff.
^) Rohde, Roman S. 305 ; Buresch, Klaros S. 39 ff. 48. .55. — Schon Augustus soll
2000 anonyme oder Pseudonyme Orakelbücher vernichtet haben (Suet. 31). ■*) Im
Alexander sive Pseudomantis 11 ff., vgl. Friedländer III S. 563 ff. '") Vgl.
Geffcken in Texte u. Unters. NF. VHI 1. Schürer, Gesch. d. jüd. Volkes III ^ 448 ff.
Bequeme Uebersicht in Kautzsch, Apokr. und Pseudepigr. n 177 ff. Hennecke,
Neutest. Apokr. I 318 ff. «) Kroll, Bresl. philol. Abhandlungen VH 1 und
desselben Uebersicht im Rhein. Mus. L S. 636 ff., unten K. X. ">) Ueber
ihre und verwandte Schriften s. Lobeck, Aglaophamus S. 98 ff. *) G. Wolf,
Poiphyrü de pliilosophia ex oraculis haurienda reliquiae, Berlin 1856.
100 Beilagen
Gottes Hermes gehende Literatur, die in hellenistische Zeit zurückreicht,
setzt im 11 und III Jahrh. n. Chr. wieder mit breiteren Massen ein und wird
das Organ der verschiedenartigsten Ideen ; daneben ist Asklepios beliebter
Autorname '. Fingierte Decknamen und vorgeschobene Autoritäten sind be-
sonders in der astrologischen und magischen Literatur fast die Regel. Ich füge
zu den schon S. 81 angeführten Namen noch Demokrit, Zoroaster, Ostanes,
Hystaspes, Amenhotep, Moses, Salomon als einige der gebräuchlichsten -. Als
Offenbarung des Mithras führt sich ein etwa aus dem II Jahrhundert stam-
mendes Zauberbuch ein, das die Mittel angibt, sich zum Himmel und zum
höchsten Gott zu erheben (vgl. X). In diesem Zusammenhange wären auch
zu nennen Sammlungen von Wundergeschichten und erbaulichen Erzählungen,
die zur Stärkung des Glaubens und zur Unterhaltung zugleich verbreitet
WTirden ^ ; die Sitte mancher Heihgtümer , die Wunder des Gottes in Stein
zu verewigen — aus Epidauros haben wir eine reiche von Priestertrug und
krudestem Aberglauben zeugende Sammlung ^ — hat zur Entfaltung dieser
beliebten Literaturgattung geführt. AU solche religiöse Literatur ist der
Natur der Sache nach ephemer und nicht auf die Dauer berechnet; sie ver-
geht so schnell, wie sie sich erneuert. Nach dem Einbhck, den uns besonders
die Papyri gewährt haben, können wir uns die Produktion auf diesem Gebiet
nicht mannigfach und fruchtbar genug vorstellen. Nur so wird uns der
Reichtum der sogenannten gnostischen und der christlichen Unterhaltungs-
literatur verständlich, auf die von ihren profanen Vorgängern aus das heUste
Licht fällt. Der für diese Zeit charakteristische unerschöpfliche Trieb zu
religiösen Neubildungen wdrd uns noch Kap. X beschäftigen.
BEILAGEN
1. Athenische Inschrift auf einer Marmorbasis (Ditt. Syll. 346):
'0 ofjjxos Td'.ov 'louXiov Kataapa apx^epsa y.od otxTaxopa xöv eauxoü ao)T;^pa
xac £U£py£xrjv,
2. Steininschrift aus Ephesos vom J. 48 (Ditt. 347):
['E'^icatcüv Vj ßouXYj y.cd 6 ofj[xo; '/.od ai aXXat 'EXXyjvtxa:] toAsc; ac iv x^^
'Aai'a y.axocxoüaat xac xcc ed-vr^ Ydiov 'IouX:ov Yatox) u:öv Kaiaapa xöv dp/cepsa
xa: auxoxpaxopa xac xö osuxepov ÜTiaxov, xöv a.Tzb "Apew^ xat 'AcppooecxTjs ■8'eöv
£7i:cpav^ xac xoivöv xoü dv^pWTitvou ßwu awxfjpa.
Die Zurückführung des julischen Geschlechtes auf Venus ist bekannt, auf-
fallend die auf Mars, den römischen Nationalgott. Sie ist charakteristisch für die
S. 90 gezeichnete Mischung altrömischer Traditionen mit denen des julischen Hauses.
3. Alexandrinische Inschrift, am Schluss auf das Jahr 33 v. Chr. datiert
(Dittenb erger, Orientis inscr. 195):
') Reitzenstein, Poimandres ; über Asklepios daselbst S. 120 tf. Ders., Helle-
nistische Theologie in Aegj^pten, Neue Jahrb. XHI S. 177 if. und Otto in dem S. 73
genannten Werke H S. 218 if. -) Belege s. Jahrb. Suppl. XVI S. 756. 757 ;
Dieterich, Abraxas S. 160. 161, Reitzenstein S. 120 fl'. 163, Gruppe S. 1489. Der
Namen Hystaspes hat auch bei Juden und Christen gegolten (Schürer HI S. 450)
wie Orpheus und Sibylle. •') Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen,
Leipzig 1906. *) Dittenberger, Sylloge H 802-804.
Kaiseriusclmften 101
'AvTwvcGv [xeyav xa|xi(i.rjxov 'A'^poScatoc Tzapdaixoc xov eauxoO \heov xac
eOepyexTjv . . .
Der Triumvir Antonius hatte in Alexandrien einen Ver^nügungsverein ä|ii-
|iT(TolJi(ov gegründet (Plut. Ant. 28. 72).
4. Aus einem mytilenäischen Volksbeschluss über Ehrungen des Augustus
(Ditt. Or. inscr. 456 Z. 35), aus dem Jahr 27 oder bald nachher:
e7nXoyoaaai)-ai oe xf^^ oixsta; {jteyaÄocppoauvr^s cxi xoü^ oupaviou zexeuyoii
OG^rj? xa: ^ewv uTispoyjjV y.aJ xpaxo«; e/ouaiv ouoetioxs ouvaxac auvs^iawQ'fjvai
xa xat xfj X'JXI/ xai^stvoTspa xai xfj :fi)0£c. sü 5s xi xouxwv STCtxuoioxepov xois
|ji£X£7i£:xa XP<ivo:c £Op£t)-rja£xa'. , 7:pö; |jLr^O£v xwv 0-eo7coc£tv aOxov stic tiXsov Su-
vr;ao(i£VWv £XX£L'J;£:v xtjv xtj; tioAecoc: Tcpoö'UiJiiav xa: £ua£i^£iav.
Man lernt die servile Bereitwilligkeit des Orients zur Zuerkennung jeder
Art göttlicher Ehren aus dieser Inschrift kennen.
5. Dekret des xo:v6v der asiatischen Griechenstädte über Verlegung des
Jahresanfanges auf den Geburtstag des Augustus und Einführung eines julia-
nischen Kalenderjahres, um 9 v. Chr. Wir haben Reste, auch der lateini-
schen Fassung, von Exemplaren aus Priene, Apameia, Eumeneia, Dorylaion
(Ditt. Or. II 458). Z. 1—30 enthält den Brief des Prokonsuls Paulus Fabius
Maximus, 30 — 77 den seinen Wunsch erfüllenden Besclduss:
I TioxEpov YjOziiJiv y) o)cp£Xt|Jiü)X£pa saxcv TJ xoö 'b'ECoxaxoü Kacaapos ys- 4
yid-Xioc. T^jXEpa, rjv xfj xwv Tiavxwv ap/jj i'aryv ' O'.xaiw^ av elvat 07ioXd|Jo:|Ji£V,
xa: £C (XYj xfj cpuasi, xto ys XP^^-V^P? ^"-' T^ ouoev oux' ooaTisrTixov xa: £:? axux^s
(X£xaߣ^r^xÖ5 oyfj\i.o(. dv(i)pö-toa£V - ixipxv xt sowxsv uavx: xw xGa[xw Ö4^:v, T^5:axa
av 0£ca[X£vw cp^opav ■\ d jjit] xo xo:vöv Tzavxwv £ux6x'!^/[J.a £7^£y£VVT|^^rJ, Kacaap •
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ov eic, £u£py£a:av ävO-pwTzwv s-Xv'JI pwacv äpsxf^?, üoTzzp t^jxeCv xa: xg:c; [ie^-' :i5
il[[i&c, awxfjpa TO[x'jiaaa] xöv TraucjGvxa [xsv TroXsfxGv xoafXYjaGvxa [ge izdvxv., cpav£:?
Ss] 6 Kataap xag eX^oa? xwv TzpoXa^ovxwv Eij-r^xEV ^. gu (xövgv xobc, Tzpb
*) Die Vorstellung findet in der Säkularfeier (S. 89) ihren typischen Ausdruck.
-) Vgl. Cic. pro Marcello 23, Res gestae divi Augusti c. 8 (Zeitschr. f. neutest.
Wiss. V lonr,^ S. 344). ^) Vgl. S. 88. *) Damals gebräuclüiche
Nebenform von a'jTc-), Parallelen zum Gedanken ::;wty;c. S. 344. ^) Ein
Walten der Vorsehung hat es gefügt, dass der in Asien übliche Jahresanfang dem
Geburtstage des Augustus nahe lag (der stoische Begriff der -pdvo-.a auch Z. 31).
Der lateinische Text redet nur von einem Zufall. «) Wie nachher a-v)o-
xä-ou TE/.rjÖTaTC/v. ') Vgl. S. 88 Anm. 5 und Nr. 6 Anfang. ") Die Worte
102 Beilagen
auxoO y£YGv6[Ta; sOspyixa.; OTrep[3a]X6[i£voc, aXX' o05' ev xoic. iooiikvoic. sXTrtofa
ä;coX'.7:o)v 07:£p|ioXfj;] , r^p^sv oe xo) y.6an(p xwv 5'/ auxov £Üavy£Xi[cov y) y£V£-
^Xtog] xoü x)'£oO, wird die Ausführung- des Vorschlages des Prokonsuls nebst
der Auszeichnung des Kranzes für diesen, AufsteUung des Briefes und des
Beschlusses im Tempel der Roma und des Augustus zu Pergaraon und in
den Konvents-Haujitstädten beschlossen.
6. Nr. 894 der lnscrii)tions in the British Museum, aus Halikarnass:
'E7i£: y'i aiwviGc; xa* ai)-avaxo; xoö Tiavxo? cpuatg xö [xsycaxov äya^iv T^pos
ÖTtEpßaXXouaa; £Ü£pY£a''a? dv^-pünoiq EXap^'aaxo Kacaapa xov ]i]£[jaaxc/V £V£vy.a-
ö jjLEvrj xto xa^' ^iixä^ £uoa{[iovL ßuo , TiaxEpa [j,£v xfj^ iocuxoö Tza-xpioo^ •9'£ä;
Pci)[Ji>3(;, Ata 6£ 7T;axp(Tjov y.a: awxfjpa xoO xocvoQ xwv av\)-pa)7iwv y£vou?, ou r;
upovoia xac; Tiavxwv £uxa; oux £7rXTjpü)a£ [aovov, dXXa xac ü7i£pf]p£V £tprjV£6ouai
[ji£V yap yfj xal rhaXaxxa, 7:6X£i5 0£ avi)-&öaov £uvo|Jiia 6{xovoia x£ xa: £u£xrjpca,
äy.[xr'; x£ xac cpopa Ttavxö^ £axcv ayaihoi), eXtcoowv |X£v XP^J'^'^wv Tzpbc. x6 |j,£XXov,
£i)^u|i,''a; &£ ziq xö Tcapöv xwv av^pwutov £V£U£7T;Xyja|JL£Vtov . äywa'.v xaE ayaX-
[laaiv •ö'uaia:^ X£ xa: uiavot? . . .
Den Titel pater patriae erhielt Augustus 2 v. Chr. P> wird den Griechen
verständlich gemacht als Zs^j; -a-:p(oo;.
7. Augustus offiziellen ägyptischen Titel (sich berührend mit S. 76)
gibt nach Lepsius Mommsen R. G. V S. 565 (Gardthausen II S. 241): „Der
schöne Knabe, lieblich durch Liebenswürdigkeit, der Fürst der Fürsten, aus-
erwälüt von Ptali und Nun, dem Vater der Götter, König von Oberägypten
und König von Unterägypten, Herr der beiden Länder, Autokrator, Sohn
der Sonne, Herr der Diademe, Kaisar, ewig- lebend, geUebt von Ptah und
Isis." W. Otto bemerkt mir, dass Augustus auch noch den Titel Horus und
Stier führt.
8. Beschluss aus Assos vom J. B7 auf einer Erztafel (Ditt. Syll. 364).
Ich drucke nur einen Teil ab :
5 'Euec "f} xax' suxV Tzotaiv dv^pwTzo:; eXma\i'Zlaoc Tatou Kai'aapo; r£p[Jia-
vcxoö Z£JiaaxoO i,Ye[io'r.cc y.axYjVy£Xxa'.. oOo£v de [X£xpov XO(.pöL:; £Üpr^x£v ö xoa-
|ji05, Tcaaa de TtdXo; xa: rcav cil-vo; cti: xrjv xoö {)-£oO ö^'-''' £<^7ü£ux£v, w? av xoü
T^ocaxo'j dvil-pwTzoi; aücbvoc; vOv everszGiXo;,, haben wir beschlossen, eine Gesandt-
schaft an den neuen Kaiser zu senden, um ihm zu gratulieren und um sein
Wolilwollen zu bitten. Es folgt der Huldigungseid der Assier.
9. Aus einem Beschlüsse der Kyzikener, bald nach dem Regierungsantritt
des Cabgaila (Ditt. SyU. 365):
'Eti£' ö v£o; "HXt&;^ Vd'ioz Kaiaap ^£[jaaxö; r£p[xav:xö; a'jvavaXd[x4'a'.
Tai; idi'X'.c. oc^yocIz xa: xdc oopu'^opou; xfj; y^y£[XGv{a: Y^ii-£Xr^a£v [jaatXy'ja«; -', tva
ö auxoü xö (X£yaX£tov xfj; äD-avaata; xat £v xoüxo) a£[xvc-x£pov r,, ,3aacX£wv xav
7:dvu £7i'.voü)a'.v £1^ £Oxapcaxcav xtjXcxouxo'j ■9-£oö £'jp£iv l'aa; o!.\xo'.'^dz o:; £ijrjp-
Xdpixo; £Üi; auvap/Jav xy;X'.xo6xo)v ^£ü)v y£y6vaai [5aa:X£t;, {I-ewv 0£ X^-P'"^'^
10 xouxo) oiacpipooacv ävx)'po)7:ivojv o'.aooxwv, o) v^ vuxxö; TjXtoc; xa: (st. rj) xö dcp-
■Ö-apxöv •ö-vr^TT]; cpuaEW?, wollen wir die Söhne des Kotys feierlich empfan-
der Lücke müssen den Sinn gegeben haben, dass Augustus die ahnungsvollen Hoff-
nungen, die man längst auf ihn setzte (S. 88) erfüllt oder übertroff"en habe, vgl. Nr. 6.
■) Vgl. Ditt. Nr. 376, den Beschluss der Akräphienser von J. 67, dem Nero einen
Altar mit der Aufschrift A-.i 'EÄE'jihEpiw Nspwvi, sl; alö)va zu weihen. Z. 33 wird dort
von iluu gesagt vio; H/.io; £-i/.ä|r|ac; -et; "VJ.Xrflv/ r.pcsLpyjiiivo; (= r.poripy/iisvos) sOsp-
:y,v 'K/.Xä5a. Anthologia Palatina IX 178. -') S. Nr. 5 Anm. 6.
■lüdiscli-hellenistische Geschichte 103
gen und dabei su^aai^a: uTisp xf;^ l'atou Kat'aafo; auov:ou O'.ajxovfj; xai tyj;
TouTtüv OMxrßicx.- ....
Wie die Söhne des Kotys, hatte ('alij;uhi aiich andere Fürsten, z. B. Autiochos
von Konnnagene und den Judenkünig Ayiippa, in ilue Herrschaft wieder eing-esetzt.
10. Inschriften von Priene, her. von Hiller von Gärtringen, Berlin 1906,
Nr. 229:_
AÜToxpatopa Ao(xcTcavöv Ka:aapa ^sjJaatGv [rep(xavtx6v], ^bov dvtxrjxov,
xTcaxr^v xfjc; toXcw; 6 ofnioc, 6 llp'.rjvsojv.
VIII
hellp:nismus und Judentum
JWellhausen, Israelitische und jüdische Cxeschichte *, Berlin 1901. — ESCHÜ-
RER, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi^, 3 Bde. Leipzig
1901. 1898, Registerbaud 1902. — WBousset, Die Religion des Judentums im neu-
testamentHchen Zeitalter-, Berlin 1906. — ABertholet, Die Stellung der Israe-
liten und der Juden zu den Fremden, Freiburg und Leipzig 1896. — Eine populäre
Zusammenfassung gibt WStaerk , Neutestamentliche Zeitgeschichte , 2 Bdchen,
Leipzig 1907 (Sammlung Göschen).
1 Palästinensisches Judentum
Der Syrerkönig Antiochos Epiphanes (175 — 164) hat versucht, dem Juden-
tum seine nationale und religiöse Sonderart gewaltsam zu rauben und es zum
Eingehen in den hellenistischen Kulturkreis zu zwingen. Der Plan des helle-
nistischen Fürsten ist begreifHch. Die Eigenart der jüdischen Religion, deren
Exklusivität ihr die den polytheistischen Religionen leichte und natürliche Ver-
schmelzung mit der griecliischeu Religion unmöglich machte, hat er nicht
verstanden und in dem prinzipiellen Standpunkt jüdischer Frömmigkeit nichts
als eigensinnige Widersetzlichkeit gesehen. Die Sympathien einer längst an
hellenistische Lebensformen und Einrichtungen gewöhnten aristokratischen
Partei unter den Juden schienen ihm Aussicht auf Erfolg zu bieten^. In
Wahrheit hat dann der gewaltsame Versuch dem Judentum die Augen ge-
öffnet für die vom Hellenismus ihm drohende Gefahr und es (seit 168) in
den Kampf für seine nationale Religion getrieben. Der Lauf der geschicht-
lichen Entmckelung hat aber bald den religiösen Gedanken, welcher der
kräftigste Hebel der Erhebung gewesen war, zurückgedrängt. Die gesetzes-
strenge Partei der Pharisäer, der spezifisch Frommen, hat sich der Pflege und
Sicherung des rehgiösen Erbes und Ge^\innes der Befreiungskämpfe gewidmet
und damit eine Aufgabe erfüllt, zu der die ins politische Weltgetriebe ver-
^) Die neueren Forschungen über Jesus Sirach haben neues Licht über die
damaligen Richtungen des Judentums verbreitet, s. R. Smend, Gott. Gel. Anzeigen
1906, S. 756 ff. Danach schrieb Sirach vor der syrischen Religionsverfolgung mit
starker antüiellenischer Tendenz. Er stellt die jüdische Religion dar als Weis-
heitslehre, die aller heidnischen Weisheit überlegen ist.
104 Vin Hellenismus und Judentum: 1 Palästinensisches Judentum
strickte, die Religion als Mittel zu politischen Zwecken benutzende Dynastie
der 3Iakkabäer mit ihrem usurpierten Hochj)riestertura ebenso unfähig wie
unwürdig erschien. Das Regiment der idumiiischen Bastarde (seit 41) und
dann die sich vollendende römische Fremdherrscliaft konnte die reUg^ö-
sen Erzieher nur darin bestärken , die Frömmigkeit wieder auf die der
Welt und der Politik abgewandte Richtung zurüclizuführen, die sie seit
dem Exil eingeschlagen hatte. Die Lösung der politischen Frage wurde
vertagt, man fand sich in das gottgewollte Provisorium, und man suchte
die Verwirklichung der Frömmigkeit nicht mehr im Staate, sondern in der
neben ihm hergehenden, der christlichen Kirche ähnlichen Organisation der
Gemeinde; erst der Druck der Römerherrschaft hat die Pharisäer zum Ein-
gehen auf die wachsende nationale Strömimg genötigt. Ihre religiöse Er-
ziehungsarbeit hat ihnen wirldich die geistige Herrschaft im Volk gesichert
und dem Judentum seinen besondern Charakter, die religiöse Richtung und
Gestaltung des Lebens, die schroffe Abschliessimg gegen alle Elemente fremder
Kultur, soweit sie nicht schon völlig assimiliert waren und als fremdartig gar
nicht mehr empfunden werden konnten, das starke Bewusstsein der auf dem
Gesetz beruhenden Einheit und der besonderen Ueberlegenheit des Volks-
tumes aufgeprägt. Diese Strömung hat sich durchgesetzt und das Volk er-
obert im Gegensatz zu der die oberen Schichten beherrschenden Stimmung
unter stets latenten , oft in offenem Kampf sich entladenden Spannungen.
Dieser Widerstand machte die Position der D3mastie des Herodes, die das
Judentum mit dem Hellenismus in Einklang bringen wollte, zu einer ver-
lorenen. So verschiedenartig die idumäischen Herrscher w^aren, die an die
hellenistischen Despoten erinnernde Kraftnatur des grossen Herodes (37 — 4
v. Chr.), der mit gleichem Pompe, aber geringerer Energie auftretende Hero-
des Antipas (4 v. — 39 n. Chr.), der liederliche und bigotte Herodes Agrippa I
(37, 40, 41 — 44 n. Chr.), darin sind sie sich doch gleich, dass sie den
Glanz weltlicher Kultur und Bildung suchen, in Gründungen und Bauten dem
Beispiel hellenistischer Herrscher folgen, fremde Institutionen übernehmen, auf
dem üblichen Fusse und in den weltlichen Verkehrsformen ihre Beziehungen
mit auswärtigen Staaten unterhalten, Komplimente und Ehren geben und
empfangen, vor dem Kaiser und seinen Grossen kriechen ^, keine Schranken
der Begierde und des Genusses kennen. Dass sie eine Art Gottesstaat zu re-
gieren hatten und ])ei offiziellen Gelegenheiten eine besondere Frömmigkeit zur
Schau trugen, w'erden draussen Stehende ihnen nicht angemerkt haben. Sie
verfolgten im Grunde nur die Richtung weiter, die schon die makkabäischen
Könige eingeschlagen hatten, und sie hatten den priesterlichen Adel der
Nation hinter sich, der sich von den hellenisierenden Tendenzen der vor-
makkabäischen Periode die Neigung zu Weltförmigkeit und Aufklärung be-
wahrt hatte und durch die rigorosen Heiligkeitsforderungen der exklusiven
Frömmigkeit sich in seiner Bewegungsfreiheit nicht hindern lassen wollte.
Was von griechisch-römischer Kidtur durch den Hof und durch das rö-
mische Regiment, durch die lebhaften Beziehungen zum Westen und durch die
wachsenden Bedürfnisse der Lebenshaltung, durch jüdischen Wandertrieb und
Austausch mit der Diaspora eingeführt wurde, hat sich meist an der Ober-
fläche der verfeinerten äusseren Zivilisation bewegt und auf die höheren
Schichten und die Städte beschränkt'-. An Literaten und Diplomaten, welche
') Herodes der Grosse baut mehrere Cäsareen und andere Tempel ausserhalb
des jüdischen Landes, in Jerusalem Theater und Amphitheater : Scliürer I S. 387 ff.
(11 4.5 ff.); Bertholet S. 247. 248. -') Schürer 11 42 ff., der unter anderem das
Eindringen griechischer und lateinischer Lehnwörter aus der Mischna erläutert.
Pbarisäismus. Hellenistische uikI orientalische Einflüsse 105
die griechische Sprache beherrschten, hat es aucli in Jerusalem nicht gefehlt;
sie waren leicht aus dem Palästina umgebenden Kranz hellenistischer Städte
und der dortigen Dias])ora zu beziehen; die meisten tragen keine jüdischen
Namen. Von geistigem Besitz der Griechen ist gewiss nichts in die Tiefen
des Jüdischen Volkes gedrungen, das unter der geistigen Herrschaft des
Pharisäismus von den Grundsätzen strenger Ausschliessung alles Fremd-
ländischen 'und von besonderem Misstrauen gegen den Hellenismus' beseelt
war. Vereinzelte griechische Elemente sind der Theologie durch die Schrift-
gelehrten der Diaspora vermittelt worden.
Sehr viel stärker sind unzweifelhaft die Einwirkungen des Ostens ge-
wesen, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann'. Was sagt allein
die eine Tatsache, dass das Judentum seine eigene Sprache aufgegeben hat!
Die israelitische Kultur, die schon vor dem Exil kein autochthones Gewächs
gewesen, sondern von fremden Elementen durchsetzt war, tritt uns in der
Periode des Judentums besonders in den niederen Schichten der Religion, in
Angelologie, Dämonologie, Kosmologie und Eschatologie mit einer solchen Fülle
neuen Materials bereichert, in solcher fluktuierenden Bewegung des religiösen Vor-
stellungslebeus begriffen entgegen, dass wir der Berührung mit fremden Völkern
den entscheidenden Anstoss zu dieser starken Umgestaltung und Mehrung des
früheren Besitzes zuschreiben müssen. Der Einfluss der innerasiatischen Kultur,
den das Judentum im Exil erfahren hatte, setzte sich durch die lebhaften Bezie-
hungen zu den babylonischen Gemeinden fort. Der in dieser Periode sich vollzie-
hende Prozess der Konsolidierung zuerst der neuen Gemeinde und dann des Staates
in der Makkabäerzeit ist ähnlich vne bei der ersten Eroberung Kanaans neben
der Abstossung eine stetige Absorption fremder oder gemischter Bevölkerung
durch den jüdischen Kern, eine fortschreitende Judaisierung, die, oft durch
Blut und Eisen, eine Nation zusammenbringt imd durch das stai'ke Band der
ritualen Religion zusammenschmiedet ^. Kein Wimder, dass trotz aller Strenge
der religiösen Disziplinierung in diesem Volke die Rudimente der verschie-
densten Glaubensformen fortleben, dass das Netz hellenistischer Städte mit
ihrer oberflächlichen westlichen Kultur und ihrer starken semitischen Unter-
schichten (S. 12), das Palästina umscliliesst, dass ähnliche ins Herz des Landes
eingesprengte Enldaven, dass Samarien, das vor und nach dem Magier Simon
stets ein fruchtbarer Boden für mancherlei Mischbüdungen gewesen ist, den
so leicht bestimmbaren niederen Schichten des Glaubens eine Fülle neuer
oder verwandter Vorstellungen zuführen konnte. Dass endlich die seit dem
n Jahrh. v. Chr. mächtig -vordringende Propaganda der innerasiatischen Re-
ligionen, die in Syrien gerade einen starken religiösen Gärungsprozess schuf
und sich mit griechischen Spekiüationen durchsetzte, auch an dem Judentum
nicht spurlos vorübergegangen ist, wird S. 122 if. gezeigt werden. Die Richtung
auf das innere Leben, die der Pharisäismus der Frömmigkeit gab, musste
zur Individualisierung der Anschauungen und freieren Entfaltung der reli-
giösen Vorstellungsw'elt führen. Wie schlicht und natürlich scheint die Fröm-
migkeit der Stillen im Lande gewesen zu sein, in der Jesus gross geworden
Vgl. auch seinen Registerband, S. 13 ff. Zahn, Einleitung ^ 1 S. 24 ff., der im ein-
zelnen den griechischen Einfluss sich zu ausgedehnt vorstellt. ') Schürer
n 67 ff. zeigt, wie eingehende Kautelen die Kasuistik der Schriftgelehrten für die
Berührung mit dem Heidentum aufstellte. '-) Einiges \^^rd IX 1 und X aus-
geführt werden. Zum folgenden vgl. auch Gunkel, Forschungen zur Religion und
Lit. des Alten und Neuen Testaments I S. 21 ff. '•') Vgl. auch Höschel,
Palästina in der persischen und hellenistischen Zeit, Sieglins Quellen und For-
schungen, Heft ö. Berlin 1903.
106 MI' Hellenismus und Judentum: 2 Hellenistisches Judentum
ist. Daneben Kreise, die begierig- auf geheimnisvolle Zukunftsoffenbarungen
lauschen und sich an einem grotesken mythologischen Api)arate erbauen. Dann
wieder die rigorose Askese des Täufers luid jenes sonderbaren Heiligen, den
Josej)hus' Selbstbiographie (§11 Niese) uns schildert, das besondere Heiligimgs-
streben der essäischen Gemeinschaft, überhaupt eine starke Neigung, die Fröm-
migkeit in engeren Kreisen zu pflegen. „Das Judentum war wie der Islam eine
komplexe Erscheinung, voller Antinomieen, aufnahmefähig wie alles Leben-
dige, nicht systematisch, sondern nur historisch zu begreifen. Die Pedan-
terie und die strenge Diszi])lin beherrschte nur die Praxis , liess aber auf
dem Gebiete des Glaubens luid der religiösen Vorstellungen eine merkwür-
dige Freiheit bestehen, wenngleich ge^Adsse Grundsätze nicht angetastet werden
durften. Es muss eine grosse, bunte und anarchische Literatur dieser Art
gegeben haben" '.
So steht das jüdische Volk freilich mitten in der kidturgeschichtlichen
und religionsgeschichtlichen Ent^A-ickelung, deren Bedingungen wesentlich der
Hellenismus geschaften hat. Aber so sehr die Fortbildung des Judentums
und die Ausgestaltung seines geistigen Lebens durch seine Verflechtung in
die Völkergescliichte und durch mancherlei fremde Einflüsse bestimmt ist,
lässt sich doch an keinem Punkte mit Sicherheit nachweisen, dass der griecliische
Geist auf die sich reicher eiitfaltende innere Entwicklung des palästinensischen
Judentums einen tieferen Einfluss ausgeübt hat. Die aus innerjüdischer Ent-
wäckelung nicht verständlichen fremdartigen Züge der essäischen Gemein-
schaft lassen mit Wahrscheinlichkeit von aussen gekommene Einflüsse vermuten.
Dass wir ihren Ursprungsort nicht nachweisen können, ist eine Erfahrung,
die sich in der religionsgeschichtlichen Erforschung dieser Periode oft wieder-
holt; dass sie von den Orphikem ausgegangen seien, scheint mir eine un-
wahrscheinliche und nicht genügend bewiesene Hypothese zu sein'-. Wie
das Christentum erst mit seinem Uebergange vom palästinensischen Boden
in die westliche Welt der Weltkultur sich zu erschliessen beginnt, so müssen
wir das jüdische Mutterland verlassen und uns der jüdischen Diaspora zu-
wenden, um einen tieferen Einfluss des Hellenismus auf die Entwickelung des
.Judentums wahrzunehmen.
2 Hellenistisches Judentum
Ein Ueberblick über die Verbreitung des Judentums in der griechisch-
römischen Welt, die jüdische Hellenisten stolz als Aussendung von Kolo-
nien bezeichnen ■', kann hier so wenig gegeben wie die vielumstiittene Frage
nach der Zeit der Gemeindegründungen in den hellenistischen Städten und
dem Anteil, der den ersten hellenischen Herrschern daran zugeschrieben ward "*,
erörtert werden. Für uns kommt hier vor allem Alexandria als die Kultur-
') Wellhausen S. :-303. .304. ') Zeller hat diese auch von Schürer H S. 385 ff.
angenommene Hypothese zuletzt in der Zeitschrift für wiss. Theo). 1899 S. 195 ff. ver-
treten ; s. dagegen Bousset S. .524 ff. Durch die von Josephus aufgetragenen helle-
nistischen Farben darf man sich hier wie in der philonischen Schilderung der Thei'a-
peuten (Jahrb. f. klass. Philo!. Suppl. XXH S. 748 If.) niclit täuschen lassen. Für Jose-
phus sind ja auch die Zeloten eine philosophische Sekte. ■'') S. Agrippa in Philos
Leg. ad Gaium 36 p. 587 M. und ähnlich Philo In Flaccum 7 p. 524 M., De vita con-
templativa 3 p. 474 M. ') Der konservativen Darstellung Schürers HI S. 10 if.
steht z. B. die starke Skepsis Boussets S. 71 ff. gegenüber. Die von Bousset S. 75
Die Diaspora im Verhältnis zum Hellenismus. Mischbildungen 107
Stätte in Betracht, wo der griechische Geist zwar keineswegs den einzigen,
aber den stärksten Einfluss auf das jüdische Denken ausgeübt hat. Um die
Mitte lies 111 .lahrh. ist eine jüdische Diaspora in Aegypten, t'reilicli ausser-
halb Alexandrias, urkundlich bezeugt'. Dei- Schluss, dass wir sie zu derselben
Zeit also auch in Alexandria vorauszusetzen haben, scheint mir wahrschein-
lich, ihr Beginn in der ersten hellenistischen Zeit, in welche die jüdische
Tradition ihn setzt, sehr möglich. Frühzeitig haben die Juden dort einen
besonderen Koramunalverbaud mit eigener Verfassung gebildet und sich bür-
gerlicher CTrleichberechtigung ei-freut.
Sehr viel grösser war für das Judentum der Diasjjora die Gefahr, sich
selbst zu verlieren und vom Hellenismus verschlungen zu werden. Hier trat
ihm eine gar nicht verwandte und zum Teil hoch überlegene Kultur entgegen.
Gewaltsamen und den Widerstand herausfordernden Hellenisierungsversuchen
war es nicht ausgesetzt. In den Städten vielfach mit besonderen Vorrechten
ausgestattet und als geeignetes Werkzeug der Kolonisation benutzt, sah sich
die Judenschaft der Diasporagemeinden den leise aber stetig wirkenden Be-
rührungen des griechischen Geistes ausgesetzt, durch den Gebrauch der
griechischen Sprache schon in die fremde Anschauungsweise hineingezogen,
durch den beständigen unvermeidlichen Verkehr mit Nichtjuden zur Nicht-
achtung vieler die Abschliessung fordernder Gebote, zur Müderung der natio-
nalen Vorurteile genötigt. Dass trotzdem das Judentum auch in der Diaspora
seine Eigenart bewahrt und selbst, wo es von griechischen Ideen stark infiziert
war, das nationale Bewusstsein kräftig betont hat, ist der straffen Gemeinde-
organisation und dem engen Zusammenhange mit der Muttergemeinde, wie
er auch in der planmässigen und einheitlichen Opposition gegen die christ-
liche Mission hervortritt, zuzuschreiben-. Das Judentum war schon in sich
zu sehr gefestigt, um in der Mischung der Völker sich zu verlieren. Eine
religiöse Mischbüdung, die den Charakter jüdischer Religion verleugnet, lässt
sich in Kleinasien in Konventikeln nachweisen, die den ü>\)'.otzq oder auch
x6p:os verehrten, in dem Sabazios und YMpioc, ^apccüd- zusammengeflossen
waren. Aehnliche jüdisch beeinflusste Vereine finden sich im bosporanischen
Reiche ^. In Athribis (im Süden des Delta) weihen Juden und der Komman-
dant der Gendarmerie zu Ehren des ägyptischen Königspaares eine -poasu/j;
bezweifelte Ansiedelung von Juden in Lydien und Phrygien durch Antiochos III
scheint mii' durch neue Funde durchaus bestätigt zu sein ; s. die Anm. 3 angeführte
Literatur. Selbst wenn man die Anfänge der LXX erst um 200 ansetzt, muss man
ein längeres Bestehen der jüdischen Gemeinde voraussetzen. Die aramäischen Pa-
pyri aus Assuan werfen jetzt neues Licht auf die jüdische Diaspora Aegyptens, s.
Archiv für Papyrusforschung IV S. 228 tf. ') Besonders Avichtig ist die aus der
Zeit des Ptolemaios Euergetes I (247—222) stammende Inschrift aus Schedia (Dit-
tenberger, Orientis inscr. 726) : Ousp ßaat^vscog nxoXsixai&u y.ai ^aaiXiaar,; Bspsvixyjs ddsX-
'^r,z xai yuvaiy.ös xai twv xsy.vwv xtjv TipoasuxrjV oc 'louSatou „Die Juden scheuten sich also
nicht, ihr Bethaus zu Gunsten des Königs der Völker zu weihen". (Wilamowitz, Sit-
zuugsber. der Akad. zu Berlin 1902, S. 1094.) Bei Dittenberger 742 wird eine spätere
Inschrift mitgeteilt, die eine Synagoge iisf;) liEyccÄw weiht, lieber dies Attribut s. auch
S. 76''. -) Der lebhafte Austausch der Schriften wird z.B. durch den Eingang
von Sirach und 11 Makk und die Subskription von Esther bezeugt. *) Cumont,
Les religions orientales dans le paganisme romain, Paris 1907 S. 77 ff., Schü-
rer, Sitzungsber. der Akad. zu Berlin 1897 S. 200 ff. und Cumont, Supplement ä
la reAiie de l'instruction publique en Belgique 1897 und Comptes rendus de l'Acad.
des inscriptions et helles lettres 1906 S. 63 ff., wo die Malereien des Grabes des
Vincentius (Maaß, Orpheus S. 209 ff.) aus dieser Mischbildung erklärt werden.
108 VIII Hellenismus und Judentum : 2 Hellenistisches Judentum
dem 'J'\)iaxoc. d-eöz. Die Benennung des Gottes legt auch hier den Gedanken
einer Mischbildung nahe, und der Hauptmann scheint doch nicht Jude
gewesen zu sein '. Der jüdische Verein der Therai)euten in Aegypten ist
wahrscheinlich unter Mitwirkung fremdartiger Einflüsse entstanden''. Aber
Entstellung oder Preisgabe des echt jüdischen Gottesglaubens war jedenfalls eine
seltene Ausnahme und nur bei versprengten Splittern des jüdischen Volkes, die
alle Fühlung mit dem Kern verloren hatten, möglich. Der jüdische Tempeldienst
im ägyptischen Leontopolis trug schismatischen, nicht häretischen Charakter
und ist zu immer grösserer Bedeutungslosigkeit herabgesunken.
Aber auch die strenge Bewahrung der nationalen Religion gab die
Freiheit einer weitgehenden Anpassung an die umgebende Welt, wenn nur
der prinzipielle Unterschied aufrecht erhalten wurde. Die jüdischen Gemein-
den sind, vrie die christlichen später, teils nach dem Muster antiker Kommu-
nalverfassung teils nach dem Vorbilde antiker Genossenschaften und Religions-
vereine organisiert worden. Gebräuche der Bestattung und Wendungen der
Grabschriften sind Avie von den Christen vielfach heidnischer Sitte entlehnt
worden. Die antike Fonn der Freilassung durch einen Scheinverkauf an den
Gott finden wir bei den Juden in Pantikapäum (Kertsch) wieder ^. Und vor
allem in den niederen Regionen des Glaubens finden wir eine ganz naive
Aufnahme heidnischer Elemente, einen lebhaften Austausch des Aberglaubens,
wie er sich unter ähnlichen Bedingungen der Völkermischung stets vollzieht
und auch im palästinensischen Judentum nur unter der Einwirkung anderer
Faktoren festgestellt ist (S. 105). Nicht nur sind jütüsche Gottes- und Engel-
namen in die profane Zauberliteratur eingedrungen, haben auch dort Salomon
und Moses , Jannes und Jambres etwas gegolten ^. Wir haben aus der
Zeit um 100 v. Chr. Steine aus Rheneia, dem Begräbnisplatz der Bew'ohner
von Delos, die zov -O-cGV xov ü'\)ia~oy, tgv 7>up:ov twv -v£'j|Jiaxwv xai Tzaar^c
aapxöc zur Rache einer an zwei Mädchen, Heraklea und Marthine, begangenen
Mordtat anrufen am heutigen Tage, an dem sich jegliche Seele unter Flehen
demütigt, d. h. am grossen Versöhnungstage. Diese Rachegebete sind aus
Wendungen der LXX zusammengesetzt, zeigen aber daneben manche An-
passungen an griechische Art •^. Aus dem III Jahrh. n. Chr. besitzen wir
eine jener vielen zu Beschwörungen vergrabenen Bleitafeln, aus Hadrumetum
in Afrika; sie enthält die Beschwörung eines abgeschiedenen Geistes, den
Urbanus der in ihn verliebten Domitiana zuführen. Der erste Verfasser der
Devotion muss Jude gewesen sein; denn der Gott, dessen Macht aufgeboten
wird, enthält lauter jüdische, der LXX entnommene Attribute''.
*) Dies nimmt Schürer III H. 88 an, doch s. VVilaniowitz a. a. O. und Ditten-
berger, Orientis inscr. 96. '-) S. Wendland, Jahrb. f. klass. Philol.
Suppl. XXII. ^1 S. zu dem allen Schürer III S. 38 ff., 18 ff. 53. Sehr
lehrreich ist die Insclirift der cilicischen lci'p'fi%-i'jz'xi bei Dittenberger Or. II 573.
') O. S. 100, Schürer HI S. 297 ff. •^) Deissmann, Philol. LXI S. 252 ff.
*) Derselbe, Bibelstudien, Marburg 1895 S. 23 ff. Ein ähnliches jüdisches Stück
auch im grossen Pariser Zauberbuch: Dieterich, Abraxas S. 138 ff. Vgl. auch
Wünsch, Antike Fluchtafeln Co. S. 81-) Nr. 4. — Die Verwendung der Bibel zu
Zauberzwecken auch bei den Christen wird jetzt erläutert durcli die in Rhodos
gefundene Bleirolle mit dem 80. Psalm, die im Weinberge vergraben war, um
dessen Gedeihen zu sichern. Julius Afrikanus rät, auf die Weinfässer das Psalm-
wort zu schreiben : ^Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist'. S. Hiller
von Gärtringen, Sitzungsber. der Akad. zu Berlin 1898 S. .582 ff. (Dieterich, Mithras-
liturgie S. 28). — Wie schwer oft die Scheidung der Elemente ist, zeigt der Streit um
den heidnischen, christlichen oder jüdischen Ursprung der Angelossteine von Thera:
Heidnische Urteile über das Judentum. Apokryphen 109
Die Beachtung, die das mit so wunderbarer Kraft vorwärts drängende
und doch so zäh in seiner Eigenart sich behau])tende Judentum der
Diaspora und seine Propaganda fand, prägt sicli in der Fülle antiker Zeug-
nisse und Urteile deutlich aus '. Gebildete Heiden haben sich vielfach günstig
über den jüdischen Gottesdienst ausgesprochen und ihm einen philosophischen
oder gar pantheistischen Charakter zugeschrieben-. Offenbar rückte der
Monotheismus und die bildlose Gottesverehrung für ihr Gefühl den jüdischen
Glauben der Religion der ])hilosophischen Aufklärung nahe, und auch die
Art, wie gebildete Juden ihre Religion darstellten, mochte diese Auffassung
bekräftigen. Noch Varro und Strabo ^ beide wohl von Poseidonios beein-
flusst, äussern sich ähnlich. Aber solche Sympathiebezeugungen treten zurück
hinter dem Antisemitismus, der mindestens seit dem Anfang des I .Jalirh.
V. Chr. die Literatur und das volkstümliche Empfinden beherrscht. Er ist
die Antwort auf die Erfolge der jüdischen Propaganda und zum Teil nur
eine Aeusserung der allgemeineren gegen die orientalische Invasion sich er-
hebenden Reaktion (S. 10). Josephus hat uns bedeutende Reste der beson-
ders in Alexandria gepflegten antisemitischen Literatur erhalten"*. Die bild-
lose Gottesverehrung und die in der Verachtung fremder Religionen sich
offenbarende Gottlosigkeit, die durch sonderbare Gebräuche geförderte soziale
Absperrung, der darin zutage tretende Mensclienhass und Hochmut, der um
so imberechtigter ist, als die Juden für die Kultur nichts geleistet haben —
das etwa sind die wesentlichen Vor^äirfe, die der Hass der Antisemiten ihnen
vorhält, von den boshaften Fabeln zu schweigen, die erst dieser Hass erzeugt
hat. Die apologetische Tendenz der Juden hat der Versuchung nicht wdder-
stehen können, dem Zerrbilde gegenüber ein Ideal des Judentums zu zeichnen,
das nur durch Anpassung an hellenistische Anschauungen und noch mehr
durch Verschweigen von charakteristischen Sonderzügen die Haltlosigkeit und
Nichtigkeit jener Vorwürfe erweisen konnte.
Wohl schon unter Ptolemaios Philadelphos wurde die Thora ins Grie-
chische übersetzt, mid seitdem haben jüdische Gelehrte an der Uebersetzung
der anderen heiligen Schriften gearbeitet. In zwei Generationen seit der
Ansiedelung der Juden in Alexandria ist also die sprachliche HeUenisierung
schon so weit fortgeschritten, dass man sich in der Synagoge zum Gebrauch
des Surrogates an SteUe des heiligen Textes bequemen muss. Denn dass
die Uebersetzung aus gottesdienstbcheu Bedürfnissen, nicht zunächst aus der
Absicht der Propaganda hervorgegangen ist, scheint sicher. Und was die
Tatsache für die Umwandlung der jüdischen Ideenwelt zu bedeuten hat, ist
erst kürzlich eindrückHch geschildert worden ^. An die Arbeit der Ueber-
setzung knüpft dann bald die der Bereicherung und Ergänzung der heiligen
Schriften. Die wertvollen Stücke, die uns imter dem Schutze der griechischen
Bibel erhalten sind , sind bterarliistorisch noch gar nicht in dem rechten
Zusammenhange behandelt worden*^. Da haben wir Gebete und Erbauvmgs-
S. Hiller von Gärtringen, Jahresbericht für Altertumswiss. CXVm 1903 S. 163.
1) S. die nützliche Sammlung von S. Reinach, Textes d'auteurs grecs et romains
relatifs an judaisme, Paris 1895, -) So schon Theophrast und Klearch, die
Schüler des Aristoteles: Schürer III S. 108; Reinach S. 8. 11, ebenda Megasthenes
S. 13, Hekataios S. 16, Hernüppos S. 39, Autor üspl öcLous S. 114. ») Ueber
Varro vgl. o. S. 86-, Strabo p. 760. 761 (S. 99. 242 Reinach). Ich zweifle, ob
man wegen des Stückes S. 56 Reinach Poseidonios mit Recht zum Antisemiten
macht (doch s. Josephus C. Apion. II § 79). Pos. gibt dort nur Relation, nicht eigenes
Urteil. ') Schürer III S. 397 ff., Bousset S. 87 ff., P. Krüger, Philo und Josephus
als Apologeten des Judentuins, Lpz. 1906 S. 1 ff. ^) Deissmann, Neue Jahrb. XI
S. 161 ff. ^) Schürer III S. 325 ff. gibt eine Uebersicht über diese in Kautzsch'
110 VII l Hellenismus und Judentum: 2 Hellenistisches Judentum
bücher, vor allem volkstümliche Geschichten, darunter solche Prachtstücke,
wie der Redestreit der Pagen im griechischen Esra 3 — 5o, die Audienz der
Esther, Susanna. Griechisch von Anfang an koncipiert, zeigen sie, wie
orientalische Geschichten ins Hellenistische übertragen werden und verraten
doch orientalische Erfindung in dem Pomp, zu dem sich der Ton oft erhebt;
ich wüsste mit diesem Tone sonst aus hellenistischer Literatur nur einzelne
Stücke der Thomasakten und Apiileius zu vergleichen (vgl. X) '. Auch die
verscliiedenen Rezensionen dieser Stücke zeugen noch zum Teil von der
Verwilderung, der solche volkstümliche Literatur unterworfen zu sein pflegt.
Diese Geschichten haben, wenn man einige jüdische Farben abnimmt, die
Marken einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volkes abgestreift, wie
ja auch ihr Ursprungsort zum Teil zweifelhaft ist. Die Zusätze zu Esther
fügen Urkimden ein, wie sie jetzt unter dem Einfluss der hellenistischen
Historie bei den Juden Mode werden; und da tritt ein starker Einschlag
des hellenistischen Hof- und Kanzleistiles deutlich hervor.
Jene hübschen noch von einheitlichem Stilgefühl getragenen Erzählungen
mit ihrem volkstümlichen Tone sind erfreulich, und wir wünschten nur \nel
von den Geschichten, die damals aus dem Orient in den Westen gewandert
sind, in relativ so originaler Form zu besitzen. Dagegen fäUt stark ab,
was griecliische Juden in bewusster Konkurrenz mit den hellenistischen Lite-
raturformen geschaffen haben. Das Aergste war die Reproduktion der heiligen
Geschichte in epischer und dramatischer Form. Aber auch die Nachahmung
der hellenistischen Historie und die Umgestaltung der eigenen Geschichte
nach ihren Massstäben war wenig glücklich. Ich hebe einige Beispiele heraus.
Gegen das Ende des Hl Jahrhunderts stellt Demetrios das chronologische
und genealogische Gerüst der israelitischen Geschichte fest. Mit peinlicher
Genauigkeit verwertet er alle biblischen Angaben vmd kennzeichnet die eige-
nen zu der Ergänzung der Lücken der Tradition aufgestellten Kombinationen
als solche. Griechische Forschungsmethode ist hier auf einen ihr zum Teil
sehr "widerstrebenden Stoff angewendet, Problemstellungen und Lösungen
sind in griechischer Art angeknüpft^.
Sehr -vdel freier und mit bewusster Tendenz bewegt sich die Phantasie
des Eupolemos (um 150) in den uns erhaltenen Resten seiner Schrift über
die Könige in Judäa. Ausschmückungen der biblischen Erzählung, starke
Uebertreibungen, eigene Erfindungen kennzeichnen, wie Freudenthal im ein-
Apokryphen übersetzten und erläuterten Stücke. Charakteristisch für die jetzt noch
herrschende Art der Behandlung ist Schürers Urteil über die Zusätze zu Esther
S. 3:-3ü, dass sie nichts Bemerkenswertes darbieten. ') Judith und Tobit
gehören natürlich auch hierhin, nur dass in ihnen orientalischer Geist und jüdi-
sches Empfinden stärker hervortritt. Für Judith nimmt man ein aramäisches
Original an. Aber auch die griechisch koncipierten Geschichten können einst
aramäisch erzählt sein. Anderes Wertvolle ist in der Haggada zerstreut (lesens-
wert z. B. Josephus, Alt. H 10 § 238 ff. Niese). Vergleicht man all diese Ge-
schichten mit Ruth, wohl dem einzigen Buche der Gattung, das, durch Gunkel,
eine rechte Würdigung der Form gefunden liat , so beobachtet man , dass die
alte köstliche Naivetät der Erzählung doch schon oft der Berechnung und dem
Raffinement gewichen ist. — Für das Wandern der Gesclüchten gibt ein lehrreiches
Beispiel, das zuletzt von Gressmann behandelte salomonische Urteil (Deutsche
Rundschau XXXUI Febr. 1907 S. 175 ff.), vgl. Bousset S. 564 ff. -) 221, 13 Stano-
pslciha'. o£ 223, 7 ära^r^iclv Si --.va, ich zitiere nach Freudenthals Alexander Polyhistor,
Breslau 1875. Neuere (Bousset S. 9. 22) setzen Demetrios wie Eupolemos später an.
B\ir meine Betrachtung ist die chronologische Streitfrage von geringer Bedeutung.
Hellenisierende Bearbeitung der Geschichte 111
zelnen gezeig't hat, die panegj'rische und a|)()h)^etisc'lie Tendenz. Uns geht
hier nur die Benutzung hellenistischer Farben und ^Motive an. Wenn die
dann von Phöniziern und Griechen übernommene Buchstabenschrift auf Moses
zurückgeführt wird, so zeigt sich hier das von den Juden reich entwickelte '
griechische Verfahren, die Kidturgeschichte in der äusseren Folge von eOpv',-
|xata darzustellen und diese an bestimmte Namen zu heften. Wenn die
griechische Reihe von Erfindern nun durch eine jüdische ersetzt wird, so ist
das die Antwort der jüdischen Apologetik auf jenen Vorwairf, dass die Juden
nichts für die Kultur geleistet hätten. Den in der Chronik berichteten Brief-
wechsel zwischen Salomo und Suron (= Hiram) bearbeitet Eupolemos mit gröss-
ter Freiheit und gibt ihm sein eigenes stilistisches Gepräge, wie es die profanen
Historiker tun, fügt auch zwei nach demselben Schema geformte Briefe des
Salomon und Uaphres hinzu. Beide Briefpaare sind in den konventionellen
Formen des hellenistischen Brief Stiles abgefassf-. Auch die fremden Könige
bezeugen dem Gott, den Salomo unbestimmt den grössten benennt, ihre
Achtung. Und wenn Uaphres David rühmt als 0£&&"/,i(xaa|Ji£V0s dnb xrp.Lxouxou
9-eoö, Suron von der Erwählung Salomos durch Gott (suXoyr^TÖc: 6 ■O-so?, o?
il'XsTo) redet, so ist die Sprache der ägj^ptischen Königsinschriften benutzt; s.
S. 76. 102 Nr. 7. Wenn endlich Salomon dem Hiram eine goldene Säule schickt,
die dieser dem tyrischen Zeus weiht, so scheint dem Autor eine Angleichung
seines Gottes an Zeus vorzuschweben, wie sie uns noch bei jüdischen Helle-
nisten begegnen wird. Die etymologische Spielerei, die Jerusalem als :£p6v
^oXo[iü)V05 erklärt, hat ihre Analogie in der dem Griechen unbedenklichen
Herleitung fremder Namen aus der eigenen Sprache ■'.
Mit einer Skrui)ellosigkeit, die vor völlig schwindelhaften Erfindungen
nicht zurückschreckt, ägyptische und biblische Gescliichtstraditionen vermengt,
behandelt Artapanos die Geschichte seines Volkes ganz nach dem Schema
und den Gesichtspunkten der hellenistischen Urgeschichte. Wie dort die
Götterkönige (S. 71. 72), so lehrt liier Abraham die Astrologie^. Der Iduge^
Joseph und Moses werden nach Art der w^ohltätigen und erfinderischen
Könige der euhemeristischen Historie gezeichnet. Moses, d. h. Musaios, der
Lehrer des Orpheus, macht die nützlichsten technischen Erfindungen und
entdeckt die Philosophie, teilt Aegypten in Distrikte, zeigt sich auch als
gewaltigen Kriegshelden ''. Und auch der übliche Schluss der hellenistischen
Königsgeschichte, die Apotheose, fehlt nicht. Die dankbaren Untertanen
lieben ihn und die Priester erheben ihn unter die Götter', nennen ihn Hermes^.
>) Freudenthal S. 117 Anm. — Die lebhafte Beschäftigung der Griechen mit den
Traditionen über sOpY^iiaxa ergibt sich aus dem Niederschlage in der Fülle der uns
noch erhaltenen Kataloge ; s. Kremmer, De catalogis heurematum, Leipzig 1890. Die
Christen benutzen später diese Literatur, um die Barbaren über die Griechen zu
erheben. -') S. Mendelssohns Probe der Aristeasausgabe . Dorpat 1897.
Aus Benutzung derselben konventionellen Formen erklären sich die von Freuden-
thal S. 110 hervorgehobenen Berührungen mit Aristeas. ^) Griechische
Etymologien ägj^tischer Götternamen z. B. bei Plut. De Iside 2. 14. 29. 60. 61.
Analoges aus Philo und Josephus bei Freudenthal S. 120 Anm. *) Dass
die Astrologie unter den Erfindungen der Juden oft betont wird, hängt mit ihrer
damals allgemeinen Schätzung und dem starken Einfluss, den sie wirklich aufs
Judentum ausgeübt hat, zusammen. Und die besondere Rücksicht auf Aegypten
erklärt sich auch aus der allgemeinen Hochschätzung seiner Kiütur (S. 70).
•^) 232, 2 a-jvsas'. -/.al vT-'^v/jSsi disvsYxövTa, wie es oft auch in euhemeristischer Hi-
storie lautet. '■') Selbst die Liebe der Feinde gewinnt er sich : 233, 27,
vgl. S. 19. 69 3. ') 238, 12 laod-ion x:\ir,!; xaTagtco^ivia, ein üblicher helle-
nistischer Ausdruck. ") Nach Hermes-Tot wird das Bild des Moses gezeich-
112 VIII Hellenismus und Judentum: 2 Hellenistisches Judentum
Und \\'ie in der hellenistischen Urgescliichte die späteren Herrscher ihre
Vorfahren verj>:öttern, so führt hier Moses den Kult seiner Mutter Merris
ein'. Ja der relijifiöse Synkretismus i>reift so weit, dass der jüdische Autor,
vielleicht beflissen jenen Vorwurf der Verachtung fremder Relig'ionen abzu-
wehren, selbst die Begründung- der religiösen Institutionen Aegy])tens seinem
Volke meint als Ruhmestitel zuschreiben zu sollen. Die Erzväter stiften
ägyptische Heiligtümer, Moses führt die verschiedenen Kulte der 36 ägypti-
schen Distrikte und auch Tierdienst- ein; der ätiologische Anlass der Insti-
tutionen wird zum Teil noch angegeben. Der Verfasser gibt ein für uns
singuläres Beispiel •' jüdischen Eingehens auf den religiösen Synkretismus,
das die Richtung, in der sich diese Denkweise bewegt, weiter verfolgt, als
es sonst geschieht.
In dem uns durch Alexander Polyhistor erhaltenen Stück eines sama-
ritanischen Historikers werden die Traditionen der verschiedensten Völker
in A\-illkürlicher Harmonistik verflochten^. Der Turmbau zu Babel Avird auf
die Giganten zurückgeführt. Henoch- Atlas hat die Astrologie erfunden,
Abraham bringt die Astrologie und andere Weisheit aus Babylonien zu den
Phöniziern und Aegyptem, deren Ansprüche auf Erfindung der Astrologie
zurückgemesen werden.
Die Mehrzahl der von uns betrachteten jüdischen Schriften sind nahe
verwandt jener hellenistischen Literatur, die Kiütur und Geschichte fremder
Völker den Griechen verständlich machen will. Freilich sind es dort meist
geborene Griechen, welche die natürliche Neigung nicht überwinden können,
das Fremde unwillkürlich der eigenen Vorstellvmgswelt anzupassen und so
ein durch griechisches Kolorit entstelltes Bild zu zeichnen. Hier sind es
Juden, die, ergriffen von dem Eindruck griecliischer Kultur und Wissenschaft,
ihre eigenen Traditionen der hellenistischen Völkergeschichte in ähnlicher
Weise einzuordnen bemüht sind, wie die Römer ihre Vorgescliichte nach
dem Vorbilde griechischer Mythenkreise umgestaltet und in Beziehung mit den
älteren Kulturvölkern gesetzt haben (S. 83). Die ersten jüdischen Versuche
einer heUenisierenden Umarbeitung der alten Geschichte sind allen Gefahren
erlegen, denen die ersten kindlichen, dazu nicht einmal spontan erzeugten,
sondern von aussen angeregten Ansätze historischer Forschung ausgesetzt
sein mussten. Sie leiden, jeder in seiner Art, an mannigfachen Fehlern, die
ungenaue Kenntnis der Quellen und ihre Ueberschätzung, äusserlich angelernte
Methode, vorschnelle Kombination, apologetische Tendenz und leicht erreg-
bare Phantasie mit sich bringen. Und hätten sie sich selbst von allen diesen
Fehlern freihalten können, so wären sie schon daran gescheitert, dass sie
net, s. Freudenthal S. 153 ff. und Willricii, Judaica S. 111 ff. Die übliche Ety-
mologie von 'EpiiY,; findet sich 233, 13. S. 235, 16 ff. begegnet die Vorstellung von
der Zauberkraft des rechten Gottesnamens. Die Personalbeschreibung des Moses
236, 29 ist in der Manier der bekannten Papyrussignalements gehalten (o. S. 23). Die
Herleitung der Beschneidung von den Juden ist die Umkehrung der griechischen
Annalmie ihres ägyptischen Ursprunges (Archiv für Papyrusforschung U S. 29).
') Freudenthal S. 154. -) Ueber den Abscheu, den sonst die jüdischen Hel-
lenisten gegen ihn äussern, s. Freudenthal S. 147 Aniu., Jahrb. Suppl. XXII S. 707.
*) Kleodemos-Malchos bescliränkt sich in dem kurzen Bruchstück S. 230 darauf.
Israel in die grossen Völkerschicksale einzubeziehen und ihm womöglich eine füh-
rende Rolle zuzuweisen. Ein starker religiöser Synkretismus würde sich mit seiner
Pseudohistorie wohl vertragen. Freudenthal hält ihn freilich für einen Samaritaner.
*) Ueber das einzelne vgl. Freudenthal S. 82 ff. Bousset S. 22 hält Eusebius An-
gabe, dass Eupolemos Autor des Hauptstückes sei, für glaubwürdig.
Haggada. Grenzen der Hellenisierimg 113
sich romanhafte Darstenung:en der Urgeschichte der Völker zum Muster
nahmen, die Staatenoi'ganisation, Kultur, Vorstellun^swelt der hellenistischen
Zeit in die Vergangenheit hineintrugen und willkürliche Konstruktionen einer
phantastischen Pseudohistorie waren '.
Im Grunde bewegte sich diese Umarbeitung der biblischen Geschichte
in denselben Bahnen, die der haggadische Midrasch schon lange verfolgt
hatte; der Inhalt der heiligen Schriften wird nach den Bedürfnissen und dem
Geschmack der späteren Zeit umgestaltet, breiter ausgeführt und phantastisch
ausgeschmückt, wie es die ältesten Zeugen der palästinensischen Haggada,
das Buch der Jubiläen und die Testamente der Patriarchen, auch die pseudo-
philonischen Libri antiquitatum - zeigen. Das Neue ist nur, dass in den
Prozess der beständigen Erweiterung und Bereicherung des Stoffes jetzt
hellenistische Motive hineingezogen werden. Babylonisch-palästinensische und
heUenisierende Exegese muss lange Zeit in lebhaftem Kontakte und Austausch
gestanden haben. Nur so erklärt es sich, dass in der genannten Literatur,
bei Philo und Josephus, in vereinzelten Beziehungen des Neuen Testamentes,
im Talmud und Midrasch ein gewisser Grund gemeinsamen haggadischen
Besitzes sich nachweisen lässt, dass es auch in den vom Hellenismus gar
nicht direkt berührten Quellen an Vorstellungen und Traditionen, die ursprüng-
lich nur auf hellenistischem Boden gewachsen sein können, nicht fehlt '^ Die
mehrfach beobachtete Abhängigkeit des Philo und Josephus von den durch
Alexander Polyhistor geretteten jüdisch-hellenistischen Stücken nötigt zu der
Annahme, dass diese Abhängigkeit sehr viel weiter geht, als das wenige,
was uns von älterer Literatur zufällig erhalten ist, erkennen lässt. Und
zwischen dem Jahre 40 v. Chr., wo der Polyhistor sein Werk veröffentlichte,
und Pliilo hat gewiss auch die jüdisch-hellenistische Produktion auf diesem
Gebiete nicht geruht; denn der Synagogenvortrag erhielt diese Geschichts-
behandlung stets lebendig und führte beständig zu literarischen Nieder-
schlägen.
Die spätere hellenistische Literatur lehrt, dass die bedenklichsten Aus-
wüchse der hellenisierenden Richtung, die willkürliche Kontamination der
heiligen mit der profanen Geschichte und vor allem das Paktieren mit dem
Polytheismus, keine rechte Resonanz gefimden haben und auch in der Ent-
wickelung des Judentums der Diaspora ausgeschieden sind ^ Die jüdische
SibyUe (III 2 18 ff.) betont, wie das Buch der Jubiläen 12, 15 ff. und Philo,
Abrahams entschiedene Abkehr von der Astrologie (s. dagegen S. 111. 112).
Zwar erklärt Aristeas in einem fingierten Gespräch dem Könige Ptolemaios
(§ 16), dass die Juden denselben Gott verehren, wie alle Menschen und auch die
Griechen, die ihn nur mit anderem Namen Zeus nennen, und Ptolemaios be-
kennt, diesem grössten Gott seine Herrschaft zu verdanken (§ 37, 19, vgl.
S. 111. 109). Aber trotz dieser Anpassung macht Aristeas dem Polytheismus
^) Ueber den Einfluss, den besonders Hekataios (S. 68) ausgeübt hat, s. jetzt
Geffcken, zwei griechische Apologeten, Leipzig 1907 S. X ff. Erst benutzte man
ihn, dann fälschte man unter seinem Namen. ^) Eine Uebersicht über
die ganze in Betracht kommende Literatur bei Bousset S. 14. 49 ff. ^) Freu-
denthal S. 66 ff.. Schürer II S. 338 ff. Ein dringendes Bedürfnis ist die Aufarbei-
tung des gesamten haggadischen Materials, mit Einschluss der hellenistischen Quel-
len, nach Art der für die Halacha grundlegenden Schrift von Ritter, Philo und
die Halacha, Leipzig 1879. Wer, wie ich, auf diesem Gebiete völlig Laie ist, findet
für Josephus wertvolle Nachweise in der von Th. Reinach veranstalteten franzö-
sischen Uebersetzung, Paris 1900 ff. *) Lehrreich ist Josephus' Verhältnis
zu Artapanos, s. Freudenthal S. 169 ff.
L i e t z m a n n, Handbuch z. Neuen Test. I, 2. 8
114 Vill lliaLEXISMUS UND JuDKNTUM: 2 HRLLli:NlSTISCHES JUDENTUM
keine Konzessionen, und Eleazar l)ekämi)ft bei ihm aufs Schärfste die euhemeri-
stische Vergötterung- von ]\Ienschen, die nützliche Erlindungfen gemacht haben,
als die hellenische Religionsform, und den ägy])tischen Tierdienst (§ 135 — 138) ',
Eine ausgeführte Polemik gegen die heidnischen Religionsformen enthält
tlie Weisheit Salomos (K. 13. 14). Sie wendet sich gegen die, welche, über
dem Geschöpf den Schöpfer vergessend, Elemente und Gestirne yergöttern.
Sie bekämpft mit wachsender Leidenschaft die Verehrung der Bilder, die
doch menschlicher Hände Werk und aus totem Stoff, Gold, Silber, Stein,
gefertigt sind, und die Vergötterung verstorbener Menschen. Auch der
ägyptische Tierdienst wird 11 10, 12 24, 15 is berührt. Wie Jes. 44] 2 if., Jer.
IO3 -:> lässt der Autor vor unseren Augen in der Werkstatt die Götzenbilder
allmählich entstehen, hat aber daneben von der Polemik griechischer Philo-
sophen gegen den Polytheismus manche Anregungen empfangen -. Aber
auch das Fremde weiss er in den abstrakte Deduktionen verschmähenden
Stil der jüdischen Spruch Weisheit umzusetzen, wenn er z.B. 14 10 zur Be-
streitung der Menschenvergötterung den konkreten Fall einführt, dass der
durch den Tod des Sohnes gebeugte Vater in der Einführung des Kultes
des Verstorbenen seinen Trost sucht ^.
Die festen Formen der jüdischen Apologetik in der weiteren Entwicke-
lung ihres Kampfes gegen den Polytheismus, ihre Abhängigkeit von der
])hilosopliischen Tradition und ihr Einfluss auf die christliche Polemik werden
K. IX 5 geschildert werden. Neben dem Angriff geht die Verteidigung
in mancherlei Formen einher. Die Geschichte und Legende der Vergangenheit
wird vielfach mit aktuellen apologetischen Tendenzen behandelt (II III Makk).
Zusammenfassungen jüdischer Gesetze werden gegeben, die in Auswahl, An-
näherung an verwandte griechische Sittenregeln und Anschauungen, Aus-
scheidung der nationalen, den Heiden unverständlichen oder anstössigen Be-
sonderheiten die panegyrische Tendenz deutlich verraten ''. Josephus gibt in
der Schrift gegen Apion den Beweis für das Alter des jüdischen Volkes, auf
das er nach griechischen Anschauungen besonderes Gewicht legt. Für die
jüdische Religion das gleiche Recht wie für andere zu fordern, fehlte es
nicht an äusseren Anlässen, und die jüdische Publizistik greift bei aktuellen
Konflikten ein: ein Beispiel sind Philos politische Broschüren. Wie man
längst erbauliche Schriften unter der Autorität ehrwürdiger Kamen der jüdi-
schen Urgescliichte verbreitet hatte, so machte man jetzt für den jüdischen
Monotheismus unter der Maske griecliischer Dichter und Denker Propaganda ^.
Den Einfluss, den die griechische Philosophie auf das Judentum der
Diaspora ausgeübt hat, dürfen wir uns, auch in Alexandria, nicht sehr tief-
gehend vorstellen. Das früher angenommene Bild einer in fortlaufender Kon-
tinuität mindestens vom Beginn des II Jahrh. v. Chr. bis auf Philo sich ent-
wickelnden jüdisch alexandrinischen Philoso})]iie ist als Phantom erkannt
worden. Die LXX zeigt keinerlei Bekanntschaft mit griecliischer Philosophie
und ihrer besonderen Terminologie ", so sehr man sich dies nachzuweisen
bemüht hat. Was Aristeas von philosophischen Vorstellungen aufgenommen
') Ueber Aristeas' Abliängigkeit von hellenischen Vorbildern s. Geffcken
S. XXIV. -) 8. Geffcken S. XXHI. ^) Vgl. z. B. die 239/8 erfolgte Vergötterung
der als Kind verstorbenen Tochter Ptolemaios des III : Dittenberger Orientis inscr.
56, 46—75. Reitzenstein, Zwei religionsgesch. Fragen S. 110 vergleicht passend
Fulgentius Mitol. I 1 p. 15, 21 ff. Helm und Minucius Felix 20, 5. ") Wend-
land, Jahrb. für klass. Philol. Siippl. XXII S. 709 ff. ^) Bei manchen die-
ser Fälschungen ist es strittig, ob sie jüdischen oder christlichen Ursprungs sind.
") S. Freudenthal, Jevvish quarterly review II S. 205 ff.
Apologetik. Alexandrinische Philosophie 115
hat, ist triviale Weisheit, wie sie damals auf der Gasse zu finden war ',
Was z. B. der Verfasser der Weisheit -' oder der des IV Makkabäerbuches
sich angeeignet haben, sind sehr verschiedenartige Vorstellungen, die sie
noch ganz mit jüdischem Empfinden durchdrungen haben. Die Grundlinien
eines Systemes, geschweige denn des philonischen, lassen sicli hier nicht
erkennen und Hessen sich auch weder im Ralnuen des jüdischen vSpruchbuches
noch dej' von der Diatribe beeinllussten jüdischen Predigt ■' entwickeln. Die
allegorische Gesetzesauslegung Aristobuls würde uns in der Tat einen Vor-
gänger Philos kennen lehren, wenn nur nicht der sjiätere christliche Ursprung
und die Abhängigkeit von Philo erwiesen wäre. Philo steht für uns isoliert
da und hat wohl auch nur einen kleinen Kreis von Gesinnungsgenossen um
sich gehabt. Die Vorläufer seiner Exegese, die er selbst erwähnt, dürfen
wir uns nicht als Systematiker vorstellen. Sie werden in Synagogenvorträgen,
aus denen auch Philos Schriftstellerei zum Teil herausgewachsen ist, die
allegorische Auslegung dazu benutzt haben, vor einem von griechischer Bil-
dung beeinflussten Publikum Gedanken und Lehren der griechischen Philo-
sophie zur Erläuterung heranzuziehen *. Dieser Einfluss griechischer Philo-
sopliie auf die Schrifterklärung erreicht in Philo die Höhe. Man kann das
lose gefügte Ganze seiner Philosophie in grossen Zügen darstellen, ohne
jüdischer Anschaiunigen zu gedenken, durch deren Ausscheidung sich fast
die Grundlinien leichter übersehbar darzustellen scheinen: Der Skeptizismus
als Grundlage der Forderung einer höheren mystischen Form der Erkenntnis,
scharf gespannter Dualismus zmschen Gott und Welt, Seele und Leib, die
stoische Tlieodicee, durch die Lehre von den Ideen oder Kräften mit dem
transcendentalen Gottesbegriff vermittelt, aber von ihrer pantheistischen Grund-
lage nicht ganz befreit, endlich eine die asketischen Tendenzen des Piatonismus
und den stoischen Grundsatz des naturgemässen Lebens vereinigende Etliik.
Andere Momente scheinen den Eindruck der griechischen Bildung zu verstärken:
Philo redet von „unserer Sprache" und meint die griechische ; er rechnet sich
wiederholt zu den Griechen, im Gegensatz zu den Barbaren. Während seine
Kenntnisse im Hebräischen mangelhaft sind, ist er durch seine Beherrschung der
griechischen Sprache allen andern jüdischen Hellenisten überlegen. Nach eige-
nem Zeugnis hat er den in Rhetorik und Philosophie gipfelnden Bildungsgang
der geborenen Griechen durchgemacht. Dazu die Literaturformen ^ : Traktate,
die philosophische Thesen mit dem von den Griechen erarbeiteten Gedanken-
material behandeln, in den Streit der Philosophenschulen einführen, den
jüdischen Standpunkt des Verfassers nur gelegentlich verraten. Breite dia-
tribenartige Einschläge in verschiedenen Schriften. Die Abhandlung über die
Vorsehung setzt den alten Streit des Frommen mit dem Gottlosen in einen
Dialog um, in welchem die fromme Theologie der Stoa die skeptischen und
epikureischen Zweifel überwändet. Die für griechische Leser bestimmte Bio-
graphie des Moses ist sichtHch ihrem Geschmacke angepasst ''. Die Formen
>) Die hellenistischen Formen seiner Komposition sind zu beachten : Fiktion
von Urkunden und Briefen, Problemstellungen, unglückliche Nachahmung griechi-
scher Deipnosophistik. -) Stoische Logos- und Pneumalehre ist hier ein Ein-
schlag in die jüdische Lehre der längst hypostasierten Weisheit. Ihre Bezeich-
nung als a-dppo'.a 7 25 und die Einführung der Lehre als Mysterien und Gnosis 6 22.
10 10, der Dualismus 9 13 zeigt Verwandtschaft mit dem Gnostizisnuis (s. X).
3) Freudenthal, Die Flavius Josephus beigelegte Schrift über die Herrschaft der
Vernunft, Breslau 1869 S. 38 ff. 109, Bousset S. 504. *) Freudenthal a. a. O.
S. 7. 137 ff. 5) Vgl. die Uebersicht der Schriften von L. Cohn, Philol. Suppl. VII
S. 387 ff. ») Einfluss der antiken Biographie, rhetorische und poetische Floskeln,
8*
IIG VUI Hellenismus und Judentum: 2 Hellenistisches Judentum
der profanen Exegese haben, wie schon der Titel zeigt, auf die ^r;XTj|jiaTa
xat Äuastg, und auch auf den grossen allegorischen Kommentar eingewirkt
(S. 26).
üennocli wird der komplizierten Individualität und dem eigenen Bewusst-
sein Philos nicht gerecht, wer einseitig die griechische Richtung seiner Bil-
dimg betont. Philo ist sich nicht bewusst, mit seiner Spekulation die Grenzen
des Judentums zu überschreiten, ihm irgendwie entfremdet zu sein. Er hält
treu zum Judentum und will mit aller seiner Forschung dessen Interessen
dienen '. Das eigentlich (Charakteristische ist doch, dass ihm die heilige
Schrift die Quelle aller Weisheit ist, dass er in ihr das ideale Königtum und
die philosophische Askese des Moses , das kosmopolitische und von den
Gedanken der Humanität getragene Gesetz, den philosophischen und priester-
lichen Charakter seines Volkes, alle Weisheit der Griechen und alle seine
Ideale beschlossen findet, dass er Philosopliie mit einem stark ausgeprägten
religiösen Charakter auf Grund einer Offenbarung vorträgt, sie in Theologie
umsetzt; äusserüch tritt das in der Anknüpfung der phüosopliischen Lehren
an Schriftexegese und ihrer beständigen Durchkreuzung mit biblischen Aus-
sagen entgegen. Damit steht er mitten in einer allgemeinen Entwdckelung,
welche die Spätantike beherrscht (S. 99), die er aber nicht erst begonnen
hat. Im Grunde vollzieht er, nur an einem andern Objekte und mit be-
sonderer Energie, denselben Prozess der Umdeutung und Uebersetzung volks-
tümlicher Religion in die philosophische Sphäre , \\ae die Stoa und Posei-
donios an der griechischen, Varro an der römischen Religion, einen Prozess,
dem er zu seiner Zeit in der theologischen Literatur und in Mysterien-
vereinen andere orientalische Religionen unterworfen sehen konnte. Das auch
hier nicht versagende Mittel ist die allegorische Auslegungsmethode, deren
S. 65 iF. behandelte Grundsätze wir bei ihm wörtHch wiederholt finden ^.
Den geistigen Sinn stellt er höher als den Wortlaut, aber auch ihn will er
bewahrt wissen, mindestens den des Gesetzes. Seine Bestimmungen soUen
imverändert bleiben, so lange Sonne und Mond und der ganze Himmel und
tue Welt besteht ^. Er bekämpft nicht nur den Buchstabenglauben, sondern
iy.qjpäasig, auch eine pikante, der Haggada (auf die er sich zu Anfang beruft) entnom-
mene Geschichte (I § 294 if. Cohn p. 127 M.), eingestreute Reden und Reflexionen zeigen
die hellenistische Farbe. Einiges greife ich heraus. Moses lernt griechische, as-
syrische, chaldäische Weisheit von Lehrern, die von den Völkern hergeholt sind
(1 § 21 ff. p. 84 M.), sein Tod ist eine Auflösung elg voöv YjÄLosiSioTaiov (H § 288
p. 179 M.), Sintflut und Untergang Sodoms werden unter dem Gesichtspunkte des
periodischen Wechsels von -/.aTaxÄ-jaiiöc; und iy.rJypin::'.: betrachtet (H § 53 ff. p. 142 M.,
Bousset S. .^24). — Ganz andere Tendenzen verfolgen die für jüdische Leser be-
stimmten Schriften über die Patriarchen, von denen nur die über Abraham imd
die über Joseph erhalten sind. Da sind Abraham, Isaak, Jakob als Typen der
durch [läO-Tjaig, cf'ja-.?, äay.r^oig zu erlangenden Tugend behandelt, das Historische wird
umgedeutet. Dass die leitenden Ideen von Poseidonios stammen, macht Mathilde
Apelt, De rationibus quibusdam quae Philoni Alexandrino cum Posidonio inter-
cedunt, Comm. lenenses VHI 1907 S. 123 ff. wahrscheinlich. — Auch Philos Zahlen-
symbolik stammt von Poseidonios, s. Borghorst, De Anatolii fontibus, Berliner
Diss. 190.Ö. ') Mommsens Urteil, R. G. V S. 496 ist ganz zutreffend. -) Reiches
Material bei Siegfried, Philo von Alexandria S. 165 ff. Der Zusammenhang mit
der Stoa tritt darin besonders deutlich hervor, dass Philo selbst wiederholt „phy-
siologische" Deutungen heidnischer Götter stoischen Quellen entnimmt: Wendland,
Philos Schrift über die Vorsehung S. 60. 61. ^} De vita Mosis II § 14 p. 136 M.
Die dort von Cohn angemerkten Parallelen zeigen, dass Mat5t8 Lc 16 i; ein alter,
Philo 117
auch die offenbar kleine Partei, die aus seinen Prämissen die uns so natür-
lich scheinende Konsequenz der Verwerfunj2;- der Ritualreligion zog.
So gross für uns Philos Wert als Quelle für die ihm vorliegende i)hilo-
sophische Literatur -war, so gering ist seine Originalität. Mit Philos lialb-
schlächtiger Pliilos()})hie köiuien weder die Neukantianer, die ihm jetzt die
unverdiente Ehre antun, ihn zu ihrem Vorläufer zu erheben, noch die .Juden
viel Staat machen. Von den Höhen seiner Religiosität, seinem innersten
Bekenntnis, der Hingabe einer Gott im Glauben ergreifenden, zur mystischen
Einigung mit ihm sich emporringenden, den Intellektualismus hinter sich
lassenden Frömmigkeit hat Bousset S. 513 ff. einen starken Eindruck em-
pfangen. So richtig dieser Eindruck ist, so ist doch auch hier die Originalität
noch geringer einzuschätzen, als es Bousset tut. Poseidonios hat die Rich-
tung des religiösen Erlebnisses Philos stark bestimmt. Die ]\Iystik tritt hier
mit einer besonderen Kosmologie in ganz der gleichen Verbindung auf, die
wir schon bei Poseidonios nachweisen können: Bis zum Monde sind die Ele-
mente über einander gelagert, über dem Monde beginnt die Aetherregion mit
den Gestirnen, die beseelte Wesen und sichtbare Götter sind, auf der höchsten
Himmelssphäre thront die oberste Gottheit. Die ganze Aether- und Luft-
region sind von Geistern erfüllt, Heroen und Dämonen oder Engeln, \byoi
und O'jvafiSLi; ' , sie alle unkörperliche Seelen. Einige von ihnen lassen sich
für immer in die Leiblichkeit und in die irdische Welt verstricken. Den
Geistern der unteren Luftregion ist die Möglichkeit des Abstieges zur Erde
und des Aufstieges zum Aether gegeben. Im Aether endlich wohnen die
reinsten Geister, Helfer, Mittler und Boten Gottes, die aber auch zeitweilig
aus Erbarmen herabsteigen, um im Traum oder Orakel den irdischen Seelen
Offenbarung, Tröstung und Hoffnung auf Erlösung zu bringen -. Damit ist
die Richtung der Frömmigkeit gegeben: Stufen%veise Erhebung zur Gottheit
bis zur letzten Einigung, die zugleich Erlösung von der Leiblichkeit und
Eingang in die siderische Region bedeutet, der antike auf platonischen Aus-
sagen, ekstatischer Religion und Mautik beruhende Begriff" der Inspiration,
aus der nicht nur Urtext und Uebersetzung der heiligen Schrift hervor-
gegangen ist, sondern die auch die Quelle jedes wahren religiösen Erlebnisses
ist. Der ganze Komplex dieser Vorstellungen gehört Poseidonios ^, der wolü
auch orientalische Vorstellungen in den Piatonismus verwoben hat. Dass Philo
ihn benutzt hat , steht fest ; aber er kann- auch daneben von der Theologie
der Mysterienreligionen beeinflusst sein ' ; denn dieselben Ideen werden wir
in den Rehgionsgebilden und in der Offenbarungstheologie des niedergehenden
Altertums überhaupt herrschend finden (vgl. X).
Das Judentum hat seinen beiden grössten Hellenisten, dem Philo und
dem Josephus, der es in rhetorisierender Zustutzung der jüdischen Geschichte
nach dem Zeitgeschmack und in tendenziöser Apologetik für einen Palästi-
nenser zu einer erstaunlichen Gewandtheit gebracht, aber auch in mancherlei
Spekidationen sich ergangen hat % kein treues Gedächtnis bewahrt. Der
fest geprägter Satz vorliegt. *) Dazu kommt noch platonische
Lehre von Ideen und Zahlen. — Die Annahme böser Dämonen verwirft Philo.
-] HauptsteUen: De gigant. § 6 ff . p. 263 M. De plantat. 13 ff. p. 331 M. De
somniis I 134 ff. p. 641. Das ganze Material und der Nachweis der Abhängigkeit
von Poseidonios bei M. Apelt S. 96 ff. Vgl. auch K. X. ^) O. S. 84 ff.,
M. Apelt 8. 114 ff. 122 ff. *) Wertvolle Hinweise in Reitzensteins Schriften,
niu" dass ich den besonderen ägj'ptischen Einfluss nicht als ganz sicher anerkennen
kann. '') Lewinsky, Beiträge zur Kenntnis der religionsphilosophischeu Anschau-
ungen des Flarius Josephus, Breslau 1887. P. Krüger a. a. 0., s. o. S. 109 *.
118 Vni Hellenismus und Judentum: 2 Hellenistisches Judentum
grosse Krieg gegen Rom (64 — 73) und der in den Aufständen unter Trajan
luid Hadrian wieder aufflammende Fanatismus liaben das Judentum in seiner
Exklusivität bestärkt. Das palästinensische Judentum hat gesiegt und die
Diaspora sich unter die Herrschaft seines Rabbinates gebeugt. Aber das
Christentum hat das Erbe des jüdischen Hellenismus angetreten, die griechi-
sche Bibel und , durch die alexandrinische Gelehrtenschule , die ])hilonische
Spekulation übernommen. Welchen gewaltigen Einfluss z. 13. allein die philo-
nischen Theorieen der Abhängigkeit griechischer Weisheit von Moses, der
Inspiration, des dop])elten Schriftsinnes, die Methode der allegorischen Aus-
legung, die Umsetzung der heiligen Bücher in Philosophie auf die christ-
liche Lehrentwickelung ausgeübt haben, das genauer auszuführen, zu zeigen,
wie vielfältig diese jüdische Saat auf christlichem Boden aufgegangen ist, die
Bilanz zu ziehen, ob der Weizen odei- das Unkraut überwog, ist hier nicht
der Ort.
Die Frage nur bedarf einer Erörterung, in A\elchem Verhältnis das Juden-
tum der Diasi)ora zur christlichen Propaganda gestanden hat. Mit der sich
vorbereitenden Loslösung des Judentums aus seiner partikularistischen Be-
schränkung und mit seiner Tendenz auf eine universale Gottesidee und Welt-
religion, mit der Ausbreitung in der Kulturwelt war der natürliche Trieb zur
Propaganda gegeben. ' Das Judentum der Diaspora hat ein starkes Bewusst-
sein seines weltgeschichtlichen Berufes; es hat die Pforten der Synagoge
weit aufgetan, den draussen Stehenden in strengeren oder freieren Formen
die Beteiligung an seinen gottesdienstlichen Uebungen ermöglicht und wirk-
lich einen starken Anhang von Proselyten und „Gottesfürchtigen'- gewonnen.
Trotz der vulgären abschätzigen Beurteilung des Judentums hat doch seine
Religion, die mit ihrem Monotheismus und ihrer strengen Moral sich als eine
Religion der Auf klärimg darstellte, eine bedeutende werbende Kraft besessen
und am erfolgreichen Vordringen der orientalischen l^ulte sich stark beteiligt.
Der Rückschlag erfolgt mit der strafferen Zusammenfassung des Judentums
imter der Herrschaft der Schriftgelehrten , seiner strengeren Zurückziehung
und Absonderung seit der Wende vom I zum 11 Jahrhundert. Die Exjjansions-
kraft, der Trieb zur Propaganda, der Missionseifer sind seitdem erloschen.
Auch hier tritt das Christentum, das den religiösen Universalismus von
den Schranken , an die er im Judentum gebunden blieb , endgültig befreit
(LK 3), in das Erbe und vollendet die vom Judentum begonnene Aufgabe.
Die Uebernahme der LXX und einer reichen religiösen Literatur durch das
Christentum, der Gebrauch von Gebeten, liturgischen Formen, Katechismen
jüdischen Ursprungs, der Anschluss der christlichen Apologetik an die jüdische
(IX 5) beweist, wie viele seiner vvdi'ksarasten Mittel und Kräfte der Propa-
ganda es dem Judentum verdankt. Man hat nun auch ansprechend die grossen
Erfolge der christlichen Propaganda zu erklären gesucht durch die natürliche
Anziehungskraft, die sie auf die jüdischen Gemeinden der Dias])ora ausgeübt
habe '. Diese für die neue Religion prädisponierten Gemeinden mit ihren
Proselyten und ihrem propagandistischen Eifer schienen die Brücke zu sein,
auf der flie christliche Predigt den ersten Zugang zur Welt fand, die Ope-
rationsbasis für ein sich immer weiter verzweigendes Wirken. „Das Netz-
werk der Synagogen stellt die Mittelpunkte und Linien der christlichen Pro-
paganda im voraus dar." .,Die christliche Religion ist eine Fortsetzung der
jüdischen Propaganda." Gewiss werden wir den Einfluss der dem Christen-
tum den Boden bereitenden jüdischen Diaspora nicht gering anschlagen dürfen.
M Harnack Mission I S. 1 ff. Bousset S. 92 ff. , vgl. über die jüdische Dia-
spora Schürer IE S. 102 ff. Bertholet 8. 303 ff.
Bedeutung der jüdischen Diaspora für das Christentum 119
Die äusseren Zeugnisse für diese inneren Beziehungen und Strömungen sind
freilich spärlich, und die Wahrscheinlichkeitsgründe, mit denen man sie zu
bestätigen gesucht hat, sind nicht alle gleich beweiskräftig. Das pjrbe,
welches das Christentum vom ])alästinensischen Judentum Ul)ernommen hat
und die besonderen Einwirkungen der jüdischen Diaspora sind im einzelnen
nicht leicht zu scheiden. Die Schlüsse, mit denen man das Verhältnis des
heidenchristlichen und judenchristlichen Teiles einzelner Gemeinden festzu-
stellen gesucht hat, sind unsicher und schwankend. Die schematische Dar-
stellung der Acta, nach der Paulus sich stets zuerst an die Synagoge gewandt
hätte, ist mit guten Gründen bestritten worden. Der Zusammenhang der
jüdischen Diaspora mit dem Mutterlande, die starke Einheit des jüdischen
Bewusstseins darf nicht unterschätzt, der Einfluss der Philosophie auf das
hellenistische Judentum nicht überschätzt werden ; der sehr verschiedenartige
Stand der Bildung und Einfluss griecliischer Denkweise, die Tatsache, dass
die jüdisch-hellenistische Literatur uns wesentlich die Höhenlagen der Bildung
zeigt, will berücksichtigt sein. Die geistige Umdeutung der Religionen ist
damals ein allgemeiner, nicht auf Judentum und Christentum beschränkter
Prozess. So ist die Warnung, zu verallgemeinern und zu viele Erscheinungen
unter den Einfluss des jüdischen Hellenismus zu stellen, berechtigt. Der
gemeinsame Besitz an Stimmungen, religiösen und sittlichen Ideen ist in
dieser Zeit auffallend gross. Die philosophische Propaganda begegnet sich
in ihrer monotheistischen Tendenz, in der Zurückführung der Frömmigkeit
von äusseren Formen und Uebungen , in der strengeren Sittbchkeit vielfach
mit dem Judentum, das ja in der Diaspora gerade unter dem starken Ein-
fluss der pliilosopliischen Aufklärung diese Richtung weiter entwdckelt hat.
Ob die Gedanken durch jüdischen oder profanen Hellenismus vermittelt sind,
ist für einzelne christliche Schriften schw'er zu entscheiden. Es liegt zum
Teil an der Dürftigkeit der uns erhaltenen profanen Literatur, dass wir oft
für die ältere christliche Literatur parallele Gedanken gerade im jüdischen
Hellenismus nachweisen können, die aber darum nicht speziell jüdisch zu
sein brauchen. Die Frage nach dem Einflüsse Philos z. B. scheint mir sehr
der Revision bedürftig. Mit voller Stärke setzt er erst bei den Alexandrinern
ein. Sicher bewdesen ist er für die frühere Zeit m. E. nur für Hebr., kaum für
irgend einen der älteren Apologeten'. Der in der ersten Hälfte des I Jahrb.
V. Chr. neubelebte Piatonismus hat sich durch alle Jahrhunderte fortgesetzt,
aber erst aus dem H Jahrh. n. Chr. sind uns einige kleine Schriften voll-
ständig erhalten; der ISeuplatonismus hat seine Vorläufer in Schatten ge-
stellt. Dieser zufällige Bestand unserer Ueberlieferung darf nicht dazu ver-
führen, die platonischen Elemente der christlichen Literatur des H Jahrh.
nur aus Pliilo herzuleiten und den })rofanen Piatonismus aus der Rechnung
auszuschalten. Ferner ist es auch unw^ahrscheinlich und nicht erwiesen, dass
Philo auf den Neuplatonismus einen stärkeren Einfluss ausgeübt hat. Die
schärfere Spannung des Dualismus, die Verstärkung der asketischen Moral
imd der religiösen Mystik, in der Philo über Plato hinausgeht, aber mit der
') Die Unsicherheit der Anklänge an Philo in der älteren christlichen Lite-
ratur, aus der Siegfried a. a. O. reiches Material gesammelt hat. sticht sehr ab
gegen die Gewissheit, mit der sich die Benutzung einzelner Stellen bei Klemens
und auch bei Origenes nachweisen lässt. Und Geffcken, der die philonischen Pa-
rallelen zu den Apologeten (zwei griechische Apologeten, s. Register S. 331) zu-
erst sorgfältig im einzelnen geprüft hat, hebt wiederholt die Differenzen im ein-
zelnen hervor und spricht meist vorsichtig von hellenistischer Tradition und hel-
lenistischem Charakter der Gedanken.
120 IX Hellenismus und Christentum : 1 Urchristentum u. Synkretismus
Haltunsc des Neuplatonismus sich berührt, sind nicht aus der jüdisch helle-
nistischen Philosophie hervorgegangen, sondern von der })rofanen übernommen.
Und die eigentliche Aufgabe der Forschung ist nicht, die Anklänge und Be-
rührungen der späteren })latonischen Literatur mit Philo unter der falschen
Voraussetzung seiner Benutzung zu betrachten, sondern aus ihnen ein Bild
des dem Philo vorliegenden, offenbar von Poseidonios stark beeinflussten
Piatonismus zu gewinnen.
Judentum und Christentum haben seit ihrem Uebertritt vom palästinen-
sischen Boden einen gleichartigen Prozess der Helle^iisierung erfahren. Der
jüdische Vorgang ist vielfach von vorbildlicher Bedeutung für die christliche
Nachfolge gewesen, aber berechtigt nicht zu einer Uebertreibung, wie sie in
E. Havets ^ Satze zum Ausdruck kommt, zu Paulus' Lebzeiten sei kein wirk-
licher Heide, d.h. niemand, der nicht schon Judaismus und Bibel kannte,
Christ geworden. Dass die Kirche die Erfolge der jüdischen Propaganda
völlig in Schatten gestellt hat, beruht \vesentlich auf der Vollendung des im
Judentum angelegten Universalismus der Religion.
IX
HELLENISMUS UND CHRISTENTUM
Die Schriften, aus denen man hier Belehrung schöpfen kann, sind zahllos.
Manche werden gelegentlich zitiert werden. Ich bemerke ausdrücklich, dass ich,
um nicht zu verwirren, manche Werke, denen ich Anregungen verdanke, nicht
erwähnt habe. Zweck meiner Auswahl aus der Literatur ist einmal, die Anfänger
auf die Schriften hinzuweisen, die sie am besten in die Probleme einführen und
den tiefer Dringenden auch mit der reichen Spezialliteratur bekannt machen, ferner
die theologischen Forscher mit der sie angehenden philologischen Literatur, die,
dem Zwecke dieses Werkes entsprechend, sehr viel vollständiger berücksichtigt
ist, vertraut zu machen. Ausser den in den früheren literarischen Vorbemerkungen
erwähnten Schriften, die fast alle das Thema gelegentlich berühren, kommen be-
sonders in Betracht: AHarnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums
in den ersten drei Jahrhunderten-, 2 Bde, Leipzig 1906 (auch Dogmengeschichte
und Wesen des Christentums). — FLooFS, Leitfaden zum Studium der Dogmenge-
schichte', Halle 1906. — OPfleiderer, Das Urchristentum, 2 Bde, Berlin 1902.—
PWernle, Die Anfänge unserer Religion '-, Tüb. und Leipzig 1904. — JGeffcken,
Aus der Werdezeit des Christentums, Leipzig 1904. (Aus Natur- und Geisterwelt
54. Bändchen). — EHatch, Griechentum und Christentum, deutsch von Preuschen,
Freiburg 1892. — GAnrich, Das antike Mysterienwesen in seinem Einfiuss auf das
Christentum, Göttingen 1894. — ELucius, Die Anfänge der Heiligenkults in der
christlichen Kirche, Tübingen 1904. — JBurckhardt, Die Zeit Konstantins des
Grossen*, Leipzig 1898. — PWendland, Hellenismus und Christentum, Leipzig
1902. — Natürlich bieten auch HHoltzmanns Neutest. Theologie, Weizsäckers apo-
stolisches, Knopfs nachapostolisches Zeitalter und die Kirchengeschichten reiches
Material. — WSoltau, Das Fortleben des Heidentums in der altchristlichen Kirche,
') Le christianisme et ses origines IV Paris 1881, S. 102.
Negatives Verhältnis des Urchristentums zum Hellenismus 121
Berlin liHX;, <;ibt weniger eine wissenschaftliche Behandlung als einen kräftigen, von
aktuellen Tendenzen beherrschten Appell an die Laien. Das Werk trägt ein stark
subjektives Gepräge. In der Konstruktion des ursprünglichen Christentums wirken
apriorische Voraussetzungen mit. Oft entscheidet das Gefühl diktatorisch, „was ur-
sprünglich und wertvoll, was fremdartige und fehlerhafte Ergänzung ist". Durchaus
irreleitend sind Sätze wie S. 20. 21, „dass alle Grundlehren des Christentums in einem
nahen Zusammenhange stehen mit dem, was wir als die edelsten Errungenschaften
antiker Kultur zu betrachten gewohnt sind". „Diese Kultur spiegelt sich, wenn man
genau zusieht, irgendwie fast in jedem Wort und Gleichnis Jesu'-. „Der christ-
liche Gottes- und Offenbarungsbegriff" ist nur die Foi-tführung und edelste Ent-
faltung der Ideen, welche antike Religion und antike Philosophie hervorgebracht
haben". — Die besten Dienste hat mir für diesen zweiten Teil geleistet FrCumont,
Les religions orientales dans le paganisme romain, Paris 1907, obgleich er sich auf
die innere Entwickelung des Heidentums beschränkt und die Beziehungen zum
Clmstentum nur streift. Das Vordringen des orientalischen Geistes und das An-
wachsen der mystischen Religiosität ist hier von einem Meister, der auch das
orientalische Quellenmaterial beherrscht, gezeichnet. Da Cumont reichliche Lite-
raturnachweise gibt, konnte ich in Anführung der neueren Literatur sparsam sein.
1 Urchristentum und religiöser Synkretismus
Brimo Bauer ^ hat einst den kühneu Versuch gemacht, die Entstehung
des Christentums aus der Entwickelung der profanen Philosophie und Moral
herzideiten. Seine radikale Hyperkritik, welche die ältesten christlichen
Quellen eliminiert und das Christentum als eine mit Vespasians Zeit beginnende
jüdische Metamorphose des griecliisch-römischen Stoizismus ansieht, ist über-
wunden, wenn auch die Parallelen, unter andern Gesichtspunkten betrachtet,
zum Teü der Beachtung wert sind. An Nachfolgern hat es Bauer freilich
nicht gefehlt, aber man kann sie sich selbst überlassen. Wer in den Haupt-
briefen des Paulus und in der synoptischen Grundlage nicht ganz indi\dduelles
religiöses Leben zu spüren vermag, der ist für historische Forschung auf
diesem Gebiete verdorben.
Christi Predigt hat kein Verhältnis zum Hellenismus. Wohl hatten die
Wogen der hellenistischen Staatengeschichte schon längst auch das jüdische
Volk ergriffen und seine Geschicke bestimmt, bis es die starke Hand des
Römers zu fühlen bekam und seiner Herrschaft sich fügen musste. Der
Gegensatz dieser Fremdherrschaft zu den Idealen der Vergangenheit und den
Zukunftshoffnungen erklärt die schwüle Stimmung, die Spannungen und Er-
regungen, die wir im politischen und religiösen Leben des Judentums dieser
Zeit beobachten. Aber die grossen geistigen Bewegungen und Strömungen,
die, mit erstaunlicher Geschwindigkeit sich verbreitend, der griechisch-römischen
Kultur der Zeit ein gleichartiges Gepräge geben, berühren, von der Diaspora
abgesehen, nur die Peripherie des jüdischen Volkes. Gemss ist auch Jesu
Verkündigung mannigfach bedingt durch jüdische Voraussetzungen und Be-
griffe, durch das jüdische Weltbild, durch den Gegensatz der pharisäischen
Frömmigkeit, wenn auch die Originalität der neuen Offenbarung und die
Macht des aus eigenster Erfahrung quellenden Lebens die zeitgeschichtlichen
Hüllen und Schalen durchbricht, die alten Formen mit neuem Gehalt erfüllt.
Gewiss ist auch Jesus ein Kind seiner Zeit und ein Sohn seines Volkes.
Aber in den geistigen Horizont, der ihn umgibt, sind die Probleme und Ge-
1) Cliristus und die Cäsaren, Berlin 1879.
122 IX Hellenismus und Christentum: 1 Urchristentum u. Synkretismus
danken der die griechisch-römische Welt beherrschenden geistigen Kultur
gar nicht eingedrungen '. Von dem hellen Lichte der Kulturwelt ist er nicht
beleuchtet, aber er strahlt in eigenem Glänze. Ueber die Möglichkeit re-
flektieren, üb etwa ein Gedanke des Sokrates oder der stoischen Predigt
durch irgend eine Vermittelung an sein Ohr geklungen ist, heisst mit einem
Zufall rechnen, der, selbst die Möglichkeit als wirklich genommen, das Ver-
ständnis seines tiefsten Wesens nicht fördern könnte. Gewiss hat die Ver-
flechtung des jüdischen Volkes in die grosse Völkergeschichte und die Völker-
und Kulturmischung der hellenistischen Zeit auch dem Judentum fremde Ge-
danken imd Vorstellungen vermittelt. Aber sicher nachgewiesen sind nur
babylonische und persische Elemente als lebenskräftige Bestandteile des jü-
dischen Volksglaubens. Es sind zum Teil ganz dieselben Gebilde, die, im
Gefolge der Astrologie, Magie, orientalischer Kulte in das griechische Sprach-
gebiet vordringend, auch ein Ferment der westlichen Religionsgeschichte ge-
worden sind, Dualismus, Angelologie, Dämonologie. Aber während diese
Einflüsse seit dem Exil in echt orientalischen, wenn auch schon synkretistisch
erweichten Formen das Judentum ergreifen -, gehen sie bei ihren weiteren
Vorstössen nach dem Westen eine Verbindung mit verwandten griechischen
und römischen Vorstelhuigsformen ein.
Die konvergierende Entwickelung der polytheistischen Religionen im
Osten und im Westen hatte einen breiten Boden analoger Vorstellungen und
verwandter Glaubensformen geschaffen. Der Kontakt der Völker und die
Wechselwirkung des Weltverkehrs erhob in hellenistischer Zeit diese paral-
lelen Erscheinungen und zufälligen Berührungen zum Bewusstseiu eines ge-
meinsamen Besitzes, dessen Bestand durch den Prozess fortschreitender An-
näherungen und Ausgleichungen gemehrt und gesichert wurde. Von diesem
Standpunkt betrachtet, hat auch das Judentum an diesem gemeinsamen Be-
sitze der Völker in den unteren Schichten des Volksglaubens einen starken
Anteil; es zeigt die auffallendsten Berülirungen mit dem griechischen und
römischen Glauben und hat dem Christentum auf den Weg seiner Welt-
mission ein Erbe religiöser Vorstellungen und Dispositionen mitgegeben, die,
in den heidnischen Religionen Aviederkehrend, eine Fülle von Anknüpfungen
und Wechselwirkungen erzeugten. Das wiclitigste dieser Gebiete ist die
Dämonologie und der Geisterglaube überhaupt.
Die bekannten Heilungsgeschichten der EvangeUen setzen den allge-
meinen Glauben voraus, dass böse Geister in den Leib des Menschen eingehen
und sich seinen Willen unterwerfen können, dass Krankheiten und ausserge-
wöhnliche Seelenerregungen auf ihr Wirken zurückzuführen sind^. Paulus
kennt ein in Rangordnungen gegliedertes Engelreich, Elementar- und Stern-
*) Vgl. auch Wellhausen zu Mc 15 - : „Dass nirgends ein Dolmetsch er-
wähnt wird, beweist nicht, dass Jesus griechisch konnte, denn die Erzählung
beschränkt sich auf einige Hauptsachen. An sich ist es freilich grade bei einem
Galiläer aus dem Volk nicht unmöglich". Scliürer U S. 63 ff. -) Bous-
set S. 542 ff. Cumont S. XVIH: „Bien des croyances de l'ancient Orient sont
parvenues en Europe par une double voie, d'abord par le judaisme plus ou
moint orthodoxe des communautes de la Diaspora, puis par les mysteres paiens,
Importes de Syrie ou d'Asie-Mineure". ^) Conybeare, Christian
demonology in Jewish Quarterly Review VIII IX. Bousset S. 381 ff. J. Weiss'
Artikel „Dämonen"' und „Dämonische" in Herzogs Realenc. ^ IV S. 408 ff. Harnack
Mission I S. 108 ff. Lucius S. 7. 10 ff. 120 ff. 298. Ueber Josephus vgl. Lewinsky
(o. S. 117 5) S. 4G ff. — Röscher, Ephialtes, eine Abhandlung über Alpdrücken und
Alpdämonen, Abh. der sächs. Ges., phüol. hist. Klasse Bd. XX.
Orientalische Elemente 123
geister, teuflische Scharen'. Er führt höliere Ofrenbarunfifen auf die Engel
zurück, und er redet von der Austlehnung- des Wirkungskreises des Satans
und deutet auf die gesclüechtLiche Vereinigung böser Geister mit den Weibern
hin. Die heidnischen Götter sind nicht leere Gebilde menschlicher Phantasie,
sondern wirkliche Wesen, und im Götzendienst tritt der Mensch in die Ge-
meinschaft der Dämonen. Die Fülle der Andeutungen beweist die aUge-
raeine Verl5reitung dieses Glaubens, den die gesamte kirchliche Literatur in
mannigfachen Variationen bezeugt. Die Art, wie diese Andeutungen und
Anspielungen ganz gelegentlich eingestreut werden, bereitet unserem Ver-
ständnis die grössten Sehwierigkeiten, weil uns auch sonst nur gelegentliche
Mitteilungen einen Einblick in diese untere Schicht des Glaubens gestatten ;
aber gerade diese Art beweist, dass Paulus bei seinen Lesern diesen ganzen
Vorstellungskreis als bekannt voraussetzt und auf ihr volles Verständnis
rechnen darf. Wir beobachten ein gewaltiges Ringen mit der Welt jener
dunklen Mächte, aber der Sieg wird nicht gewonnen kraft der Erkenntnis
von der Nichtigkeit der Existenz und der Wirkungen der Dämonen, sondern
kraft des Glaubens, dass Christus den Satan und sein Reich überwunden hat
und in der Parusie völlig vernichten wird. Es ist nicht sowolü ein Sieg in-
tellektueller Erkenntnis über den Wahnglauben als ein in jedem wahren
Christenleben sich immer wiederholender Sieg moralisch-religiöser Kraft über
die real und persönlich gedachten Mächte der Finsternis. Vv^eniger wegen seiner
heilenden Tätigkeit als wegen der Errettimg und Befreiung von der Herr-
schaft und Tyrannei der bösen Geister wird Jesus der awxvjp genannt; Er-
lösung von der Sünde, vom Tode, vom Gericht ist nur der weniger sinnfällige
Ausdruck für dieselbe Sache.
Auch in der griecliisch-römischen W^elt ist der Glaube an die den Luft-
kreis und die Welt erfüllenden guten und helfenden, bösen und schädlichen
Geister eine Macht. Er wurzelt in alten und tiefen Scliichten des Volks-
glaubens und hat sich durch die Jahrhunderte lebendig erhalten -. Seine Auf-
nahme in die philosophische Religion (S. 93. 117) und die fortgesetzten
Bemühungen der heidnischen Theologie um eine Theorie der liimmlischen
Hierarchie und des Geistesreiches bezeugen die wachsende Macht dieses Vor-
steUungskreises. Auch die monotheistische Spekulation hat, indem sie, die
christliche Betrachtung vorbereitend, die Götter zu Dämonen degradiert und
ihnen schädliche Wirkungen zuschreibt (S. 98), den Dämonenglauben verstärkt.
Die Religionen der Naturvölker bieten noch heute auffallende Parallelen zum
antiken Polydämonismus. Seinen Ursprung verdankt dieser keineswegs erst
orientalischen Einflüssen, wohl aber Verstärkung, Bereicherung, erhöhtes An-
sehen. Wir wissen jetzt, welche Bedeutung in der babylonisch-assyrischen
Religion der Glaube an die den Menschen von allen Seiten umlauernden und
gefährdenden bösen Geister hatte ^. Die nach dem Westen vordringende
Magie hat diesen Glauben verbreitet und mit griechisch-römischen Vorstel-
lungen verschmolzen. Der Parsismus hat dann, babylonische Vorstellungen
sich einverleibend und weiter tragend, den Glauben an den Kampf der Reiche
der guten und der bösen Geister und den Dualismus nach dem Westen ver-
breitet^. Auf dem Gebiete der Dämonologie hat der Orient durch sehr ver-
1) Siehe Everling-, die paulinische Angelologie und Dämonologie, Göttingen
1888. •-) Geffcken S. 216 ff., über den Roman s. Rohde S. 46 t. 465. 494. 525.
*) S. ausser der bei Weiss verzeichneten Literatur HeitmüUer, Forschungen zur
Religion und Lit. des Alten und Neuen Testaments I 2 S. 185 ff. und die vortreff-
liche Uebersicht von Fossey, La magie assyrienne, Bibl. de l'ecode des hautes etu-
cles. Sciences religienses, vol. XV Paris 1902, und K. X. *) Cumout
124 IX Hellenismus und Christentum: 1 Urchristentum u. Synkretismus
schiedene Vermittelungen und Vorstösse auf das Judentum wie auf die
griechisch-römische Welt gewirkt und die Ausgleichung der Religionen in
einer Weise gefördert, dass die Scheidung der im Volksglauben verbundenen
Elemente und die Nachweisung ihres Ursprunges der wissenschaftlichen Ana-
lyse oft gar nicht erreichbar ist. Es gab heidnische wie christliche und
jüdische Exorzisten. Die Kenntnis der heiligen Namen, welche die unfelü-
bare Wirkung ausüben ', und der peinlich genaue Gebrauch der Formeln sind
bei ihnen allen wesentliche Mittel der Kunst-.
Die profanen Erzählungen von Dämonenbeschwörungen erinnern viel-
fach an die christlichen. Lucian (Philopseudes 17) erzählt von einem Syrer,
„der alle Mondsüchtigen (xa-a-iTzx&vxa; rpo; xtjv aeXY'jV/iv), wenn sie die
Augen verdrehen und den Mimd voll Schaum haben (Mc 9 is), gesund macht
und genesen für hohen Lohn entlässt. Denn wenn er an die Liegenden
herautiitt und sie fragt, woher sie in den Körper eingedrungen sind, so
schweigt zwar der Kranke, der Dämon aber antwortet, griechisch oder bar-
barisch oder in der Sprache seiner Heimat redend, wie und woher er über
den Menschen gekommen ist. Er aber treibt ihn dann durch Beschwörungen
und, wenn der Dämon nicht gehorcht, durch Drohungen ^ aus. Ich wenigstens
sah ihn schwarz und russig ausfahren". Die Teilnehmer des Gesprächs bei
Lukian bestätigen diese Erfahrung und erläutern sie durch ähnliche Ge-
schichten*. Sie sind alle von der Existenz der Dämonen, der Möglichkeit
ihres Eingehens in menschliche Leiber und ihrer Austreibung überzeugt. Phi-
lostrats Leben des Apollonios ^ bietet ähnliche Erzählungen , die frülier, als
man fälschlich der Schrift eine gegen das Christentum gerichtete Tendenz
zuschrieb, als Nachbildungen der evangelischen Erzählungen angesehen wurden,
in Wahrheit die auffallende Verbreitung gleichartiger Vorstellungen beweisen.
Ein Weib fleht den Apollonios an, ihren sechzehnjährigen Sohn zu heilen,
der schon zwei Jahre von einem Dämon besessen ist. Der treibt ihn an
wüste Stätten *', verändert seine Sprache und den Ausdruck seiner Augen,
droht ihn in den Abgrund zu stürzen. Der Wundermann gibt ihr einen Brief
an den Geist öjv ä.Tzzi'ky^ y.d sxTiXfjCSt (III 38). Wie hier ein erotisches Motiv
des Dämon angedeutet wird, so erzählt Philostratos anderweitig von dem
Liebesverhältnis der Empusa oder Lamia mit Jünglingen (IV 28, VIII 7
S. 315, 11 K. II 4). IV 10 entdeckt Apollonios in Ephesos in der Gestalt eines
blinden Bettlers den Pestdämon und lässt ihn von der Menge steinigen. Er
sprüht Feuer aus den Augen und nimmt die Gestalt eines Hundes an. IV 20
S. 183 ff. 229 if. 1) S. z. B. den Londoner Papyrus bei Kenyon S. 67,
76 ff. igopy.L^io 02 ■/.a-.ic xwv äyicov övojiä":(ov . . . y.ai v.aTX t(ov cp-.y.'rwv övo\xä.~o)\ . . .
7:apä5og -röv v.Kir.-^i . Deissmann, Bibelstudien S. 42, Heitmüller und die S. 81 an-
geführte liiteratur. • '^) Jesus zeigt sich von traditionellen Formen
auch lüer frei, was schon den späteren Christen aufgefallen ist, s. Weiss S. 414.
3) Vgl. z. B. das äTZ'.x'.iiäv Mc 1 25. 3 12. Auf Mc 1 25 ^i\xw^-q~<. fällt ein besonderes
Licht durch Rohdes Nachweis (Psyche II S. 424), dass das Wort besonders
von Beschwörungen gebraucht wird. *) Die folgende Geschichte
von der Geisterbeschwörung mittels eines Ringes hat eine Parallele bei Ps. Plu-
tarch De fluviis 16, 2, aber auch bei Josephus (Bousset S. 388). Eisen gilt als
Schutz gegen Dämonen, s. Gruppe S. 895, Nordens Kommentar zur Aeneis VI
S. 163. 201 und Archiv für Religionswiss. X S. 41 ff. — Vgl. Radermacher, Rhein.
Mus. LX vS. 315. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen S. 3 ff. ^) Sein
Heroikos erzählt von Epiphanien der alten Heroen in der troischen Landschaft
auf Grund volkstümlicher Ueberlieferungen (Rohde, Psyche II S. 350. .351). *"') Mc
6 2. a. Mat 12 43, Bousset S. 389. 390.
Verschmelzung- mit hellenistischem Volksglauben 125
sagt Apolloniüs einem Jüngling, der seine Lehre verachtet, aui den Kupf,
dass er einen Dämon habe. Der Dämon lässt ihn abwechselnd lachen und
weinen. Auf die Drohungen des Apollonios verspricht er, flehend wie ein
Gemarterter', den .lüngling zu hissen und keinen Menschen mehr zu über-
fallen, fährt dann in eine Bildsäule.
Die Hypostasierung der Krankheiten und ihre Herleitung von Geistern
teilt das UJiristentum mit seiner Zeit"-- Wie die Krankheiten überhaupt, so
wurden von den Griechen schon seit ältesten Zeiten besonders epileptische
Zufälle, Aeusserungeu von Geistesstörung und Tobsucht aus der Besessenheit
durch eine Gottheit oder durch einen Dämon erklärt-'. Schon eine hip-
pokratische Schrift bekämjjft die Auffassung der Epilepsie als heiliger
Krankheit und ihre Behandlung durch Entsühnungen und Reinigungen, wie
Zauberer und Sühnpriester sie anwandten'. Man darf nicht annehmen, wie
es geschehen ist, dass die Praxis des Exorzismus überhaupt aus dem Orient
stamme, sondern nur, dass die orientalische Magie sich mit den verwandten
bei den Griechen üblichen IMitteln verbunden und sie sich unterworfen habe.
— Mit der däraonologischen Erklärung der Epilepsie hängt die Sitte des Aus-
speiens vor dem Epileptiker, das apotropäische Kraft hat, zusammen-"'. Die
Auffassung der Krankheit des Paulus als Epilepsie scheint mir immer noch die
wahrscheinlichste. Gestattet die Anerkennung, dass die Galater beim Anblick
seiner Krankheit nicht ausgespieen hätten (Gal 4 14), auch die Beziehung auf
andere Leiden, so scheint das Wort vom Engel, der ihn schlägt", auf die
Epilepsie am besten zuzutreffen '.
') Vgl. auch S. 145, 47, Kaj^ser öaxpüovxL swy.si -zö zä.a\xa. "/.al idalzo iir, ,'3aaavi^siv
(Mc 5 7) aüxö ixYjSs dvayxä^eiv ö\ioXoyeXv 5xi zi-q. lieber die genaue Parallele jener ganzen
Geschichte in den Petrusakten s. Reitzenstein S. 54. ^) Lc 13 n 7Lvs5[jia äa^-svsia;,
erläutert von Reitzenstein, Poimandres S. 19. ^) Usener, Götternamen S. 294.
Ebenso realistiscli wird ja mit gleicher Psychologie die Mantik aufgefasst, s. Nor-
dens Kommentar zur Aeneis VI S. 143 ff. *) Wilamowitz' Lesebuch VI 1.
s) S. die Leipz: Ausgabe von Theophrasts Charakteren 1897 S. 133, Helm (0. S. 39) S. 2GK
*) II Kor 12?. Aehnliche Ausdrücke werden von den Alpdämonen gebraucht, und
Alpdrücken und Epilepsie erscheinen der antiken Anschauung verwandt (s. Röscher
a. a. 0. S. 37 ff. und Eusebius, Kirchengesch. V 28, 12: Peitschen durch die Engel).
') So Krenkel, Beiträge, Braunschweig 1890 S. 47 ff., ablehnend Heinrici zu IL Kor.
S. 398. 405 ff. Kotelmanns Annahme ägj^jtischer Augenkrankheit, Verhandlungen
der 48. Philologenversamnilung 1906, S. 170—172, benutzt mit Unrecht auch Act 9
und gibt eine rationalistisch abschwächende Deutung des Wunders. Der Anblick
der Götter macht blind, das ist die Regel : Beispiele gibt Radermacher, Festschrift
für Gomperz S. 201. Bei den Fabeln des Aristeas § 314 — 316 wird ein Sageumotiv
zugrunde liegen, in dessen ursprünglicher Fassung die Epiphanie erfolgte. Und
der Ekstasenbericht II Kor 12 1 — 10 wäre ebenfalls aus dem Spiele zu lassen, wenn
nur der Arzt mit Recht versicherte, dass des Epileptikers „Bewusstsein erlischt
und daher jede Rückerinnei-ung an das während des Anfalls Erlebte fehlt". Es
liegt ja an und für sich keine Notwendigkeit vor, den visionären Zustand mit dem
epileptischen Anfall zu identifizieren. Freilich kann ich, einem dankenswerten
Hinweise J. Ilbergs, der auch Epilepsie für wahrscheinlich, ay.iXo-\> für einen bild-
lichen Ausdruck liält, Kotelmann eine ärztliche Autorität entgegenstellen. Ober-
arzt Dr. G. Ilbei-g, Sachverständiger für Geistes- und Nervenkrankheiten beim
Landgericht Dresden, stellt in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechts\\iss. XXI
1901 S. 453 die Annahme, an einen wirldichen epileptischen Zustand habe ein
Kranker niemals Erinnerung, als veraltet hin. „Nach und nach ist festgestellt, dass
die Eiinnerung an die während leichterer Dämmerzustände stattgehabten Ereisf-
126 IX Hellenismus und Christentum: 1 Urchristentum u. Synkretismus
Ferner teilt das Christentum mit seiner Zeit den schrankenlosen Wunder-
glauben. Die Heilberichte des epidaurischen Asklepiostempels ', eine seltsame
^^lischuni«- von durchsichtiq'em Priestertrug- und Naivität, die Wundergeschichten
im Leben des Apollonios und in den Romanen erinnern vielfach an den
Wuiidera})parat der apokiyphen A])ostelgeschichten. An Ves})asian tritt in
Alexandria ein Blinder und bittet ihn auf Grund einer Offenbarung des
Serapis , seine Augen mit Speichel zu bestreichen ; ein anderer bittet ihn,
auch unter Berufung auf den Gott, seine gelähmte Hand mit der Fusssohle
zu berühren. Das Heilverfahren glückt, trotz der starken Beilenken des
künftigen Kaisers-. Die Art, wie die Dämonenaustreibungen und die Wunder-
erzählungen der Evangelien von der jüdischen und heidnischen Polemik be-
handelt werden, wie die Absicht nicht so sehr auf Bestreitung der Tatsächlich-
keit wie auf Abschwächung durch Analogieen gerichtet ist, zeigt, wie weit
die Gemeinsamkeit dieser Vorstellungen reicht.
Die Dämonologie und Angelologie ist das Gebiet, auf dem das Christentum
von Anbeginn tiefere Beziehungen zu den polytheistischen Religionen auf-
weist •'. Aber dies Verhältnis gründet sich auf Anschauungen, die längst ein
integrierender Bestandteil des jüdischen Glaubens geworden waren und, zu-
nächst vom Judentum übernommen, erst in der weiteren Auseinandersetzung
mit dem Heidentum den verwandten profanen Vorstellungen angepasst und
angenähert sind. Schon in der urchristlichen Literatur mehren sich dann mit
der tortschreitenden Entwickelung die Entlehnungen heidnischer Anschauungen
und ^Motive, Anklänge und Beziehungen auf die hellenistische Vorstellungs-
welt. Der Eintritt des Christentums in die griechisch redende Welt, die
Beteiligung von Heidenchristen, die ihren früheren geistigen Besitz nicht wie
ein Gewand ablegen konnten, sondern einen Teil desselben in die Kirche
hinübemahmen, bringt notwendig das Einströmen hellenistischer Kulturelemente
nisse nicht aufgehoben zu sein braucht". In solchen Dämmerzuständen kommen
nach S. 449. 466. 442 unter anderm religiös - ekstatische Sinnestäuschungen und
Verzückungen, Vernehmen göttlicher Befehle, Erblicken leuchtender und greller
Farben, Sehen schreckhafter Gestalten vor. Die Deutung, der Krankheit des Paulus
auf Epilepsie ist danach jedenfalls nicht widerlegt, auch ein Zusammenhang der
visionären Erscheinungen mit der Epilepsie zu erwägen. Preuschen, Zeitschrift
für neutest. Wiss. II S. 193. 194 hält Aussatz für Paulus' Krankheit. Aber die minutiöse
Körperbeschreibung in der Eliasapokalypse ist sicher nach Massgabe des von Fürst,
Philol. LXI behandelten Materiales als willkürliche literarische Mache zu beurteilen
(vgl. o. S. 23). 1) S. Dittenberger Sylloge 802 ff. 807, o. S. 100. •=) Tac. Hist.
IV 81, Suetons Vespasian 7, Dio Cassius LXVI 8. Ueber den Speichel vgl. Mc 7 ss 8 23
Job 9 6, Gnippe S. 890. Die Bedenken und die starke Rationalisierung der Erzählungen
werden wir auf Rechnung der gebildeten Schriftsteller setzen, die es nicht über
sich bringen, die volkstümlichen Legenden unverändert weiter zu geben. Viele
beachtenswerte Parallelen zieht Reitzenstein, Wundererzählungen, z. B. S. 120 ff.
für die wunderbare Befreiung aus dem Gefängnisse, S. 125 für das Wandeln auf
dem Wasser. ^) Unsicheres berühre ich hier und im folgenden nur in
den Anmerkungen. Gruppe S. 1G09 ff. sieht in orientalischer Mystik ein Christen-
tum und Hellenismus verknüpfendes Band. Seine Begründung ist nicht glücklich,
aber von andern Gesichtspunkten aus komme ich K. X zu einer ähnlichen Vermu-
tung. Doch muss ich seiner Vorstellung, dass schon Jesus Ideen solcher Mystik
aufgenommen habe, widersprechen. Ich kann bei ihm von spezifischer Mystilv nichts
spüren; und wie soll sie uns greifbar sein, wenn auf der andern Seite wieder die
Ausscheidung der mystischen Abstrusitäten sein besonderer Vorzug sein soll
(S. 1626. 1610)?
Wunderglauben. Einströmen hellenistischer Vorstellungen 127
mit sich. Das Mass dieses Einflusses ist durch die Nationalität, durch die
höhere oder niedrigere Bildung des einzelnen bedingt. Aber im allgemeinen
beobachten wir ein stetiges Wachstum, je mehr wir von den ältesten Schriften
und Schichten der urchristlichen Literatur zu den jüngeren vordringen. Das
wird in Teil III bei Betrachtung der einzelnen Schritten gezeigt werden. Den
mythischen Realismus, z. B. den Engelglaubcn, sehen wii- mehr in den Vorder-
grund treten (Apoc und Lucas), und neben religiösen Vorstellungen, die wir
zum gemeinsamen Besitz der Völker zählen dürfen, begegnen bald auch solche,
die dem Griechentum entlehnt sind. Für die göttliche Geburt geben gi-iechische
Mythen und Legenden wohl die treffendsten Parallelen ^ Die Bezeichnung
der Christen als ~cpixat)-ap[xaTa tgö "/.oajjiou und Travxwv mpi'\)ri\x7, 1 Cor 4 is
ist erst recht verständlich geworden durch den Nachweis, dass diese Schimpf-
wörter den Verkommenen beigelegt zu werden pflegten, die sich für mehr-
tägige gute Verpflegung dazu hergaben, bei den Thargelien als Sühneopfer
zu faUen-. Taufe und Abendmahl sind frühzeitig aufgefasst und ausgestal-
tet worden nach dem Vorbilde der in den Kultvereinen üblichen Sakra-
mente. Aus diesen Kreisen sind die Vorstellungen von der Einigung mit
der Gottheit durch Genuss der geweihten Speise und von der magischen
Wirkung des Wortes übertragen oder doch bereichert ^ Es fragt sich nur,
wann dieser Einfluss beginnt; er ist wohl schon für Paulus in Betracht zu
ziehen, der die Atmosphäre der synkretistischen Erlösungsreligionen gekannt
hat (K. X). Dass Apoc 12 auf mj-thischer Tradition beruht, vielleicht der
Sage von Letos Flucht, Apollos Geburt und Drachenkampf nachgebildet ist,
ist anerkannt K Die jüdisch-christliche Apokalyptik verbindet sich in ihrer
späteren Entwickelung mit den griechisch-römischen Jenseitsdichtungen, imd
die apokryphen Apostelgeschichten bereichern sich mit Motiven der heid-
nischen Erbauungs- und L^nterhaltungsliteratur (s. Teil III).
2 Urchristliche Motive im Gegensatz ukd in der Annäherung an den
Hellenismus
Und dennoch darf man sagen : Das Urchristentum steht der griechisch-
römischen Kultur fremd gegenüber. Christentum und Weltkultur sind Grössen,
die zunächst kein inneres Verhältnis zu einander haben. Bis gegen die
IMitte des 11 Jahrhunderts herrscht diese kulturfremde Richtung vor. Die
Elemente der höheren hellenistischen Kultur dringen wohl aufs Christentum
ein, aber sie halten sich mehr an der Peripherie, und sie tragen den Charakter
des Zufälligen und Sporadischen, des Unbewussten und Unbeabsichtigten.
1) Usener, Religiousgescu. Untersuchungen S. 70 ff., der auch sonst Geburts-
und Kindheitsgeschichte Jesu von griechischen Motiven beeinflusst sein lässt
(vgl. Z. für neutest. Wiss. IV S. 1 ff.). Pfleiderer I 695 ff.; doch s. Gunkel, For-
schungen zur Religion und Lit. des Alten und Neuen Testaments I S. 67 ff., der
die Anschauung aus orientalischer Mythologie ableiten will. Die weite Verbrei-
breitung des Motives, dass beim Tode der Lieblinge der Götter die Sonne sich
verfinstert, bespricht Usener, Rhein. Mus. LV S. 286. -) Usener, Sit-
zungsbericht der Wiener Akad. CXXXVII 3 S. 59 ff"., Gruppe S. 923. ^) Die-
terich, Eine Mithrasliturgie S. 92 ff., H. Holtzmann, Archiv für Religionswiss. VII
S. 58 ff., Wellhausen zu Mc 641. Ms» ff., Gruppe S. 1615 ff. — Heitmüller a. a. O.
— Ders., Taufe und Abendmahl bei Paulus 1903. Rendtorff, Die Taufe im Urchri-
stentum, Leipzig 1905. Lietzmann Exe. zu I Cor 10 it. ■*) Dieterich, Abraxas
S. 117 ff., Gunkel S. 54 ff.
12S I^ Hellenismus und Christentum: 2 Ubchristliche Motivk
Die xo:v^, die durch Paulus das Organ christlicher Propaganda wird, ver-
mittelt hellenistische Vorstellungen und hellenisiert christliche Begriffe; aber
es sind zunächst volkstümliche Vorstellungen und Ausdrucksraittel, die dies
Stadium des Hellenisierungsprozesses dem ('hristentum nahe bringt. Es ist
bezeichnend, dass die älteste christliche Literatur weniger die literarische
xocvT; als die Unterströmung des gesprochenen Vulgärgriechisch verwendet,
der Einfluss der attizistischen Richtung ^ und die Rücksicht auf die höheren
Forderungen der Literatursprache erst bei Lukas wahrnehmbar zu werden
beginnt.
Dem papiernen Zeitalter ist die Tatsache nicht ohne weiteres verständ-
lich, dass Jesus nicht geschrieben hat. Kluge Leute haben darin ein Manko
gefimden, und Theologen haben öfter recht seltsam die Gründe erörtert, die
Jesus zu dem Verzicht bestimmt hätten, als ob er überhaupt die Möglichkeit
erwogen haben müsse, und sie haben die besondere Absichten zu enthüllen
gesucht, aus denen heraus die göttuche Versehung diesen Weg der Offen-
barung nicht gewählt habe -. Solche Problemstellungen beweisen die Un-
fäliigkeit, sich in Zeiten und Kreise zu versetzen, in denen das lebendige
Wort mehr gilt als das Buch. Sokrates und Epiktet haben auch nicht ge-
schrieben, weil sie Grösseres zu tun hatten, und selbst der grösste Meister
des Stiles, Plato, sieht im Phädros die Schrift als einen kümmerlichen Not-
behelf für das lebendige Wort an. Es ist ebenso bezeichnend, dass Petrus
und Johannes und Jakobus nicht geschriftstellert haben, wie dass die Kirche
bald darin einen Mangel sah, der beseitigt werden musste. Wie das älteste
Christentum kulturfremd ist, so ist es auch ursprünglich unliterarisch. Die
ältesten Briefe sind wirkliche Briefe, keine Literatur. Die Xoyia und die
Evangelien dienen dem Zwecke der Erbauung und Unterweisung. Auch ihnen
fehlt das entscheidende Merkmal der Literatur ^ die technisch-buchhändlerische
Edition und Verbreitung ; daher der fluktuierende und unsichere Zustand der
ältesten Texte, den erst die Kanonisierung zu beseitigen begonnen hat.
Christi Verkündigung hat kein Verhältnis zur höheren Weltkultur, weil
diese in den Horizont seiner Umgebung nicht hineinreicht. Wesentlich da-
rauf beruht der Eindruck der Unmittelbarkeit und unvergänglichen Frische,
der natürlichen Kraft und der durch keine Nebenrücksichten beirrten ge-
sclilossenen Einheit des Evangeliums. Und doch war es ein Glück, dass das
negative Verhältnis kein prinzipiell ausschliessendes war und Anknüpfungen
^) Sie setzte sich nur allmählich durch (S. 32), und auch abgesehen von
der volkstümlichen Literatur kennen wir Literaten, die der vorherrschenden
attizistischen Strömung gegenüber auffallend zurückgeblieben erscheinen. Kroll
hat im Catalogus codicum astrologorum graecorum V 2 Brüssel 1906 grosse
Proben von Vettius Valens (IL Jahrh. n. Chr.) mitgeteilt und seiner Sprache eine
Betrachtung gewidmet, in der auch die Berüliningen mit dem Neuen Testament
hervorgehoben werden. Ich wüsste in der Tat keinen Autor, der den Gegensatz
des reichen Wortvorrates und der Bildsamkeit der hellenistischen Sprache gegen
die Verarmung durch den Attizismus so lehrreich veranschaulichte und die Sprach-
fülle des Paulus zu erklären mehr geeignet wäre. -) Haussleiter, Die vier
Evangelisten, München 190G S. 2 ff. ^) Es ist für die Schätzung der alt-
christlichen Schriften wichtig, sieb die verschiedenen Stufen der Publizität zur
Zeit, wo es keine mechanische Vervielfältigung der Schriften gab, gegenwärtig zu
halten. Der Philologe macht sie sich z. B. am Schicksal der Lehrschrifteu des
Aristoteles, des Auctor ad Herennium, der ohne Zutun oder gegen Willen der Au-
toren oft erfolgten Verbreitung stenographisch aufgenommener Vorträge, einiger
zum Umlauf in kleineren Kreisen bestimmter Briefe Ciceros klar.
Exklusivität gegen die Kulturwelt 129
für die Zukunft nicht ausschloss. Aber die beiden nächsten Generationen
haben zunächst und weit überwiegend die Konsequenz der Exklusivität ge-
zogen. Die Mission als der Kampf gegen die finsteren Gewalten des Heiden-
tums zog mit Notwendigkeit die aggressive und feindliche Haltung gegen
die Kultur nach sich. Die Christen empfinden den schärfsten Gegensatz gegen
die Welt, die dem baldigen Untergange geweiht ist. Sie fühlen sich als
Bürger Giner höheren Welt und bezeichnen sich als neue Menschenrace.
Auch Philoso})hie und Literatur ist ein Stück der Welt, die sie bekämpfen
und überwinden. Nicht als Meister der Rede oder der Weisheit will Paulus
zu den Korinthiern gekommen sein. Er nennt sich einen Laien, was das
Reden betrifft, und weiss, dass seine Gegner seine Rede verachten. Ihm hat
Gott die Weisheit der Welt, welcher die Korinthier eine gefährliche Vorliebe
entgegenbringen, zur Torheit gemacht, und durch die Torheit des Evangeliums
will er die Glaubenden retten. Der Kolosserbrief warnt vor der Gefährdung
durch die Philosopliie und vor dem Truge mensclüicher W^eisheit. Und auf
der andern Seite wird der Kontrast ebenso scharf emj^funden und gezeichnet:
Die literarischen Gegner des Christentums sehen in ihm eine barbarische und
kulturfeindliche Lehre. Nebenströmungen fehlen auch bei Paulus nicht ganz
— ich erinnere schon hier an seine Schätzung der Obrigkeit und an seine
Annahme des ursprünglich auch den Heiden ins Herz geschriebenen Gottes-
gesetzes — ; und diese Strömungen gewinnen immer weitere Verbreitung.
Aber das Fortleben jener Motive bis in die Zeiten, wo die Kirche schon auf
dem Wege war, selbst eine Kulturmacht zu werden, beweist, wie tief die
weltfremden und weltfeindlichen Stimmungen im Urchristentum wurzelten
und wie die orientalische Strömung immer wieder mächtig hervorbricht. Auf
der einen Seite erkennt man in der Philosophie einen Bundesgenossen, be-
kämpft mit ihren W^aifen den Polytheismus, entfaltet nach ihren Problem-
stellungen und Gesichtspunkten den christlichen Glauben zum System einer
Weltanschauung; auf der andern Seite werden Stimmen laut, die von fana-
tischem Hass gegen die Philosophie zeugen und durch ein Zerrbild des Lebens
und der Lehren der Philosophen sie zu diskreditieren suchen ^ Auf der
einen Seite bemüht man sich eifrig, die Herrschaft über die profanen Lite-
raturformen zu gewinnen und jagt allen Künsten der griechischen Rhetorik
nach; auf der andern Seite zeigt man eine affektierte Gleichgültigkeit gegen
den Stil und wiederholt das traditionelle Urteil, dass der Christ die Schön-
rednerei verachte-. Und noch um 200, wo sich schon imter hellenistischem
Einflüsse alle christlichen Literaturgattungen hoffnimgsvoll zu entfalten be-
gonnen haben und die kleinasiatische Theologie eine hohe Blüte erreicht hat,
wird ernsthaft und leidenschaftlich die Frage erörtert, ob ein Christ über-
haupt literarisch tätig sein dürfe und ob der sichere Besitz der heiligen
Schriften nicht alle weitere Schriftstellerei imberechtigt und überflüssig er-
scheinen lasse ^.
Damit ist bereits der prinzpielle Standpimkt gegeben, auf den A^-ir uns
zu stellen haben, wenn wir zunächst Jesu Verkündigung und die Entwicke-
lung der von ihr ausgehenden Triebkräfte mit der Vorstellungswelt griechisch-
römischer Religion und Philosopliie vergleichen. Nicht nur in einzelnen
Sätzen (S. 53), sondern auch in Stimmungen und Empfindungsweisen be-
obachten wir eine auffallende Verwandschaft und Uebereinstimmung. Wer
den Blick auf das einzelne richtet, sieht sich leicht verführt, einen histori-
•) Geffcken, Neue Jahrb. XV S. 625 ff. : Die altchristliche Apologetik, und
Zeitschrift füi' das Gymnasialwesen LX S. 1 ff. -) Norden, Antike Kunst-
prosa S. 529 ff. 3) Wendland S. 9 ff.
liietzmann, Handbuch z. Xeuen Test. I, 2. 9
130 IX Hellenismus und Christentum: 2 Urchristliche Motive
sehen Zusammenliang zu suchen. Aber wer das Ganze überblickt und nach
Erwägung' aller Einzelheiten zu der Ueberzeugung gelangt ist, dass Jesu
Denkweise nicht griechisch und von den die Kulturwelt beherrschenden An-
schauungen gar nicht berührt ist, der muss es ablehnen, jene Beziehungen
unter dem Gesichtspunkt der Entlehnung und Abhängigkeit zu betrachten.
A\'ir haben den gemeinsamen Besitz der Völker in seinem Umfange schätzen
und die Tatsache der Kongruenz auch da anzuerkennen gelernt, wo unsere
Psychologie sie zu erklären nicht ausreichen will. Wir haben auf dem Ge-
biete der Religion und Spekulation bei den antiken Völkern auffallend pa-
rallele und konvergierende Entwickelungslinien beobachten gelernt und sind
skeptischer geworden gegen die Annahme einer geschichtlichen Abhängigkeit,
wo Wege und Medien der Vermittelung gar nicht nachzuweisen sind. Wir
lehnen eine Methode ab, welche die Uebertragung der Ideen sich nach Ana-
logie des Austausches der Waren und des Gerätes vorstellt und in ihrer
einseitigsten Anwendung uns schon jetzt zu der Konsequenz führt, dass der
Quell originaler Gedankenschöpfiuig möglichst in der äussersten historischen
oder prähistorischen Ferne gesucht \^'ird. Wir rechnen mit der Tatsache,
dass unter ähnlichen Voraussetzungen und Bedingungen dieselben oder ähn-
liche Gedanken wiederholt gedacht und nicht nur einmal spontan erzeugt sind.
In unserem Falle scheitert jene vorschnelle historische Konstruktion oft an
der Erfahrung, dass, auch wo einzelne Sätze und Lehren sich ähnlich sehen,
doch die letzten Motive imd Grundsätze, die sie hervorgetrieben haben, sich
imterscheiden. Die Aehulichkeit verringert sich, sobald man von der äusseren
Erscheinung zur Wurzel, von der Oberfläche zum Kern vordringt. Dennoch
wird mit dieser Ei'kenntnis die Aufgabe, die beiden von einander unabhängigen
Grössen zu vergleichen, nicht überflüssig und zwecklos. Die Analogien und
die Gegensätze der Anschauungen, die dieser Vergleich aufdeckt, sind gleich
lehrreich. Wie jene die Tatsache der raschen Verbreitung des Christentums
und seiner Umbildung in hellenistische Vorstellungs- und Ausdrucksformen,
so lehren diese die instinktive Abneigung, der das Christentum begegnete,
und die Widerstände, die es zu überwinden hatte, begreifen.
Die Frömmigkeit, die Jesus gelehrt und den Menschen vorgelebt hat,
bedeutet die grösste Vereinfachung und tiefste Verinnerlichung der Religion.
Das echte Wesen der Religion ist aus dem immittelbaren Erleben inniger
Gottesgemeinschaft geschöpft und am Gegensatze der pharisäischen Frömmig-
keit zu der leuchtenden Klarheit jener einfachen Sätze entwickelt, die wie
selbstverständlich und natürlich von der harmonischen Einheit der Persönlich-
keit auszustrahlen scheinen. Die Frömmigkeit ist das natürliche Verhältnis
der ihrem Gott in kindlichem Vertrauen sich hingebenden Seele, keine pro-
fessionelle W^issenschaft, die nur durch ihre zünftigen Vertreter gelehrt werden
könnte. Mit der GottesHebe ist die Nächstenliebe aufs Engste verbunden;
in beiden ist die Summe des Gesetzes gegeben. Die Religion ist nicht mehr
ein Sondergebiet, das neben den anderen Gebieten des Lebens liegt, sie ist
die Seele, die alles Leben und Tun des Menschen erneuernd mit ihren Kräften
durchdringen und erfüllen will: ., Jesus hat die Versittlichung der Religion
bis zum Ende geführt und der Sittlichkeit im ganzen Umfange die religiösen
Triebkräfte gesichert" '. Die spezifisch-religiösen Leistungen und die be-
sonderen Werke der Frömmigkeit als ein über dem niederen sich erhebender
höherer Pflichtenkreis, den man als autoritativ gegeben hinnimmt und nur
mit übernatürlicher Kraftanstrengung erfüllen kann, verlieren ihren Wert.
Die Frömmigkeit ist befreit von der erstickenden Last jüdischer Traditionen
*) Jülicher, Kultur der Gegenwart 14 8. 61.
Wesen des Christentums. Universalismus 131
und nationaler Vorurteile, auf ihre echtesten und innersten Motive zurück-
geführt, in ihrer einfachsten, reinsten Gestalt dargestellt. Die jüdischen
Traditionen werden nicht radikal verworfen; aber sie bekommen eine peri-
pherische Stelluno- oder werden als Adiai)hora toleriert. Jüdische Begriife
wei'den selbstverständlich übernommen; aber sie erfahren eine Vertiefung
und Vergeistigung, dass sie oft zu blossen Ausdrucksformen für einen neuen
Inhalt herabsinken. Der Begriff des Reiches Gottes wird von den nationalen
Schranken befreit und zu einer geistigen und schon gegenwärtigen Geraein-
schaft umgebildet. Die jüdisch-nationalen und politischen Zukunftserwartungen
werden durch die Betonung der individuellen Bedingungen und der persön-
lichen Verantwortung über das partikularistische Niveau erhoben und unter
der Herrschaft sittlicher Gesichts])unkte verklärt. Auch diese Entwickelung
ist vorbereitet im späteren Judentum ; aber durch diese Tatsache verliert die
Botschaft Jesu, die erst diese Entwickelung zum Ziele und zum Siege ge-
führt hat, nicht an Bedeutung, Das eben ist das Neue, dass die eine Frage
nach dem Heil der Seele als die alles beherrschende in den Mittelpunkt ge-
rückt \^drd, dass alle anderen Interessen und Sorgen ihr gegenüber eine
untergeordnete Bedeutung haben.
Die Emanzipation von den nationalen Schranken gibt dem Christentum
eine Richtung auf das allgemein Menschliche, eine universale Haltung, in der
die Zukunft seiner Weltmission begründet ist. Die Art, wie es den Schwer-
punkt in die innere Gesinnung, auf die innere Welt des persönlichen Geistes-
lebens legt, kommt der individualistischen' Strömung entgegen, die im Ge-
gensatz zur antiken Gebundenheit die hellenistisch-römische Menschheit
beherrscht. Auch die ungeheure Vereinfachung der Religion, ihre Auffassung
als des persönlichen Verhältnisses der Seele zu ihrem Gott, ihre Befreiung
von allem ihren Kern verhüllenden Aussenwerk bietet Beziehungen zu der
religiösen Aufklärung des Heidentums mit ihren monotheistischen Tendenzen,
ihrer Reaktion gegen das Formenwesen, ihrer Forderung einer reinen Sitt-
lichkeit und eines vernünftigen und geistigen Gottesdienstes. Freilich ist
der heidnische Monotheismus nicht aus religiösem Erlebnis, sondern aus
Reflexion und Kritik geboren, und er verleugnet diesen Ursprung nicht. Er
gibt eine Form, die auch indi^'iduelles religiöses Leben fassen kann, aber er
wurzelt nicht notwendig darin. Und die exemplarische und weltgeschicht-
liche Bedeutung des aus den nationalen und konventionellen Banden sich
lösenden christlichen Universalismus offenbart sich darin, dass nur hier der
universale Gedanke die seine Verwirklichung fordernde Kraft in sich trägt.
Der heidnische Vertreter des geläuterten Monotheismus und der aufgeklärten
Frömmigkeit erkennt die Verpflichtung zur Teilnahme am staatlichen Kult
an. Täte er es nicht, so müsste er aus der politischen Gemeinschaft, die
zugleich eine religiöse ist, ausscheiden. Nur in einem Wunschstaate könnte
er seine philosophische Religion verwirklichen (S. 87). — Der Polytheismus
ist weitherzig und tolerant, weil er andere Götter neben seinen gelten lässt.
Mit der Einverleibung fremder Stämme und Völker ist für Rom die Konse-
quenz der Aufnahme der G<)tter verbunden. Rom bewahrt seine Toleranz,
so lange es mit polytheistischen und national beschränkten Rebgionen zu
tim hat^ Die Toleranz versagt gegenüber dem Universalismus und der
Exklusivität des Christentums. Den abstrakten Begriff der Religionsfreiheit
hat Rom wie Athen nicht gekannt oder doch nicht rechtlich anerkannt. Die
') Die orientalischen passten sich leicht der staatlichen Religion an, ja sie
rechtfertigten den Glauben an die Göttlichkeit des Herrschers und stärkten den
Despotismus: Cumont, Monuments myst. de Mithra I S. 279 ff.
9*
132 IX Hellenismus und Christentum: 2 Urchristliche Motive
mutige Konsequenz des Universalisraus ist die Stärke der christlichen Idee,
erklärt aber auch die ganze Wucht des Widerstandes, den sie in der antiken
W^elt zu überwinden hatte. Diese Konsequenz scheidet das Christentum von
den i)liilosophischen Religionen, die alle in der Praxis mit den herrschenden
Religionsformen ])aktierten und dadurch zu theoretischen Konzessionen (Stoa!),
ja in der Folge zu immer grösserer Belastung mit historischem Stoff verführt
wurden, und gibt ihm die Ueberlegenheit der die Welt in die Schranken
fordernden Siegesgewissheit.
Der christliche Gedanke des einen allumfassenden Gottes hat zum Korrelat
die Idee der wesentlichen Einheit des Menschengeschlechtes, der Gleichheit
aller Menschen vor Gott. Die Idee ist vorbereitet und angelegt schon in der
Botschaft Jesu, indem sie die Religion von ihren nationalen Voraussetzungen
xuid Beschränkungen loslöst und auf eine allgemein menschliche Grundlage
stellt '. Das hängt damit zusammen, dass die Menschen, mit denen Jesus
lebte, noch den einfachen Naturformen der Menschheit in ihrer ewigen Be-
ständigkeit nahe standen. In ihrer prinzipiellen Bedeutung kommt die
Menschheitsidee freilich erst zum Durchbruch und zum klaren Bewusstsein
durch die Heidenmission. Für Paulus gibt es in der christlichen Gemeinschaft
nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Weib
(Gal 3-28, I Kor 12 i3, vgl. Eph 44 Kol 3 ii). Dem höchsten religiösen Mass-
stabe gegenüber sind die Unterschiede der Nation, des Standes, des Geschlechtes
indifferent. Dieser Standpunkt berührt sich mit den hellenistischen, beson-
ders stoischen Gedanken der Humanität, der allgemeinen Menschenwürde
und der gemeinsamen IMenschenrechte. Auch darin erinnert das Christentum
an die Stoa, dass der Gedanke der Gleichheit die politische Sphäre und die
äusseren Rechtsverhältnisse gar nicht berührt. Die Jünger Christi werden
in eine ideale Lebensordnung und zu einer Höhe der Weltbetrachtung er-
hoben, von der aus alle Unterschiede und Gegensätze der irdischen Zustände
völlig gleichgültig erscheinen. Ein soziales Programm liegt gar nicht im
Gesichtskreise der religiösen Lehre .Jesu, und von einer Tendenz der Kirche
auf Befreiung der Sklaven kann nicht die Rede sein — Sklaven hat es auch
im christlichen Hause und in kirchlichem Besitz gegeben — ; nur die Frage
darf gestellt werden, wie weit die christliche Lehre der Menschenliebe und
allgemeinen Brüderlichkeit die Spannungen der sozialen Verhältnisse ausge-
glichen, die Beziehungen von Herr und Knecht gemildert und versittlicht,
durch ihre erziehende Kraft die Bedingungen für die Aufhebung der Sklaverei
herbeiführen geholfen hat (vgl. S. 17).
So nahe sich christlicher und stoischer Humanitätsgedanken und Kosmo-
poHtismus stehen, sind sie dennoch in den treibenden Motiven und in den
Wirkungen unterschieden •'. Der antike Kosmopolitismus beruht auf der
Voraussetzung der Fähigkeit auch der barbarischen Völker zur Teilnahme an
den Güteni der geistigen Kultur, zur intellektuellen Erziehung. Der Stoa
ist der Mensch als Intellekt ein Glied des vernünftigen Kosmos, und die
Gemeinsamkeit des Logos schlingt das Band der idealen Gemeinschaft. Die
Stoa bleibt damit trotz aller Versuche der Massenwirkung und der Volks-
erziehung doch im Grunde der aristokratischen Haltung der griecliischen
Philosophie treu. Das Christentimi durchbricht den intellektualistischen
M Harnack, Mission I S. .31 ff. '-) Overbeck, Ueber das Verhältnis
der alten Kirche zur Sklaverei im römischen Reich, Studien zur Geschichte der
alten Kirche I, Schloss-Chemnitz 1875 S. 158 ff. ») S. jetzt Reitzeii-
steins Rede, Werden und Wesen der Humanität im Altertum, Strassburg 1907.
Christlicher und heidnischer Kosmopolit isimis 133
Standpunkt ^ oder vielmehr es kennt seine Massstäbe gar nicht. Es legt einen
andern Massstab an, einen neuen und die Menschheit wirklich umfassenden.
Es dringt auf den tieferen Naturgrund und innersten Kern des Menschen
und wertet seine Willensrichtuug als Ganzes und als P]inheit. Darum er-
scheint jede ^lenschenseele, auch die geistig ärmste und unbedeutendste, als
ein unendlich Wertvolles; ihre Schätzung ist ganz unabhängig von allen
Wertunterschieden und Abständen der Geburt, des Standes, der Bildung,
die für das vulgäre Urteil gültig sind. Was diese vertiefte in die Bruder-
bebe umgesetzte Humanität für die Bewährung der Sittbchkeit und Nächsten-
liebe bedeutet, welcher Abstand sie besonders trennt von der Selbstgenüg-
samkeit stoischen Tugendstolzes, der die Leiden gar nicht als Leiden anerkennt,
über sie frohlockt als die erwünschte Fobe zur Offenbarung der sittlichen
Grösse, der das Mitleid nicht zulassen wäll und im schbmmsten Falle die
Uebergewalt des Unglücks als einen göttlichen Wink betrachtet, freiwillig
die Bühne des Lebens zu verlassen, soll hier nicht ausgeführt werden. Das
ist klar, dass die kosmopolitische Tendenz des Christentums eine werbende
Kraft besass, mit der die philosophischen und die in einer Gnosis gipfelnden
synkretistischen Religionssysteme nicht konkurrieren konnten. Die Vorrechte,
die hier der Gedankenarbeit zugestanden werden, beschränken in der Praxis
das Prinzip des UniversaHsmus. Wie die christUche Sprache die Töne findet,
die in jeder Menschenbrust wiederklingen, so vermag den christbchen Begriff
der Menschenseele und Menschenw^irde wirkbch jedermann zu verstehen,
weil er sich selbst darin wiederfinden kann, jedermann die Bedingungen zu
erfüllen, an die der christliche Heilsbesitz geknüpft ist. Die ungeheuren
Unterschiede und Spannungen, die eine mit dem reichen Erbe der Vergangen-
heit belastete Kiütur in der Menschheit geschaffen hat, konnten überbrückt
scheinen durch diese geistige Neuschöpfung, die, weil sie nicht auf altem
Kulturboden gewachsen w-ar, die natürliche Grundlage des menschlichen
Wesens mit einer Frische und Unbefangenheit zu offenbaren scliien, die alle
Abstraktion nicht erreichen konnte. „Während der stoische Kosmopobtismus
nur gleichgültig machte gegen die natürbchen Bande und Schranken der
Gesellschaft, hat dagegen die christHche Liebe neue Bande gesclüungen" ^.
Mehr innere Beziehungen hatte im Grunde der christbche Universabs-
mus zu den orientabschen Kulten mit ihrer Lösung vom nationalen Boden,
ihren universalen Tendenzen, ihrem Trieb zur Propaganda, ihrer NiveUierung
der sozialen Gegensätze. Trotzdem das Christentum diese Rebgionen als
seine gefährlichsten Konkurrenten bekämpft hat, konnte es gerade in den
Kreisen, die sie um sich gesammelt hatten, verwandte Stimmungen, Ver-
ständnis, Empfängbchkeit finden.
Das Christentum gibt den Menschen die entscheidende Richtung nicht
auf die Welt, sondern auf Gott. Es will den Menschen auf eine höhere
geistige Daseinsstufe erheben. Der Gegensatz des natürlichen und des neuen
geistbchen Lebens wird in ganzer Schärfe empfunden; denn der Widerstreit
in der einzelnen Seele ist im Grunde nur der Einzelfall des Kampfes zwischen
den göttbchen Kräften und den Gewalten der Finsternis, der die Welt er-
füllt. Das religiös sittliche Leben entwickelt sich nicht in gerader Linie,
sondern unter starken Spannungen: Sündenerkenntnis und Verzweifeln an
der eigenen Kraft, Busse und Wiedergeburt. Diese Gegensätze sind schon
in Jesu Lehre im Keim enthalten; schon die Annahme seiner Botschaft be-
*) Poseidonios' Psychologie bot mit ilu-er Betonung des Willens und des
Trieblebens später der christlichen Spekulation Anknüpfungen. -) Pfleiderer I
S. 292.
134 IX Hellenismus und Christentum: 2 Urchristliche Motive
deutet einen Bruch mit der Verg^angenheit und den Beginn eines neuen
Lebens. Aber der Grundton der Predigt und ihre Wirkung ruht auf der
jenem Bruche folgenden Zugehörigkeit zum Reiche Gottes und der beseli-
genden Heilsgewissheit; und der überragende Eindruck des Wesens und der
Worte Jesu ist der eines wunderbaren Gleichmasses, einer sicheren Einheit
und Harmonie, welche die Welt überwunden und alle Kämpfe und Gegen-
sätze hinter sich gelassen hat, mag diese ruhige und sichere Geschlossenheit
der Persönlichkeit mehr ursprünglicher Besitz oder der Gewinn voraufgehen-
der Kämpfe und Erschütterungen gewesen sein. Es ist begreiflich, dass in
dem Masse, wie die folgende Entwickelung hinter diesem Ideale zurückblieb,
die Stimmung der Kontraste hervortreten und die dualistische Richtung sich
verstärken und in der metaphysischen Begründung auf transzendentalem
Untergrunde einen immer stärkeren Rückhalt gewinnen musste. Die Messias-
theologie der urchristlichen Gemeinde, die gespannte Erwartung der Parusie
Christi und des Erscheinens des unsichtbaren Gottesreiches, das damit ver-
bundene starke Einströmen des mythischen Realismus der jüdischen Apoka-
lyptik mit ihrer scharfen Antithese von Diesseits und Jenseits haben die
Spannungen und Gegensätze der Welt- und Lebensauffassung stark akzen-
tuiert ^ Paulus' Theologie, die das Bild des geschichtlichen Jesus durch den
himmlischen Christus verdrängt, die entscheidenden Akte in der oberen Welt
sich vollziehen lässt und alles in eine höhere Lage transponiert, die starke
Abhängigkeit seiner Ethik von der Eschatologie, der sie kräftige Triebfedern
verdankt, das sehnsüchtige Verlangen der Befreiung von der Endlichkeit und
Vergänglichkeit, in der die weltmüde Stimmung der jüdischen Apokalyptik
die ergreifendsten Töne findet, haben in derselben Richtung gewirkt. Der
ganze Mensch denkt in Kontrasten und Gegensätzen, die den Weltlauf und
das Menschenleben beherrschen.
Der christliche Dualismus mit seinen starken Antithesen widerspricht
der echt antiken Sinnesweise, oder sagen wir besser dem antiken Ideale. Im
christlichen Bewusstsein Entzweiung und Zwdespalt, Geist und Fleisch, gegen-
wärtige und zukünftige Welt, Gott und Belial, Weltgeschichte und Menschen-
schicksal ein beständiger Kampf, der erst mit der Vernichtung der Welt und
des Fleisches endet; im antiken das menschliche Wesen, Geist und Sinne,
als Ganzes und Einheit gefasst, Harmonie mit der umgebenden W^elt, Ein-
klang des Menschlichen und Göttlichen, Neigung, die Grenzen zwischen beiden
nicht scharf abzustecken; darauf beruhend das antike Schönheitsgefühl. Die
Empfindung für das Gleichmass der Kräfte, für die Einheit und Ganzheit
der Persönlichkeit lässt eine Gebrochenheit und Zerrissenheit der inneren
Seelenstimmung nicht aufkommen, schliesst Stimmungen wie die der eigenen
Ohnmacht, der Schuld und Sündenangst und des getrösteten Sündenschmerzes
aus. Noch in der stoischen Philosophie kommt das Selbstbewusstsein und
Kraftgefühl des antiken Menschen zum starken Ausdruck. Aus eigener Kraft
wird das Vertrauen auf die Verwirklichung des sittlichen Ideales geschöpft;
es gilt nur, dem Gesetze der eigenen Natur zu folgen; in dieser Welt liegen
die Kräfte und die Aufgaben des sittlichen Lebens beschlossen -. Selbst in
') Ich glaube, dass z. B. Loofs (I S. 53) den jüdischen (und auch den alt-
christlichen) Dualismus unterschätzt. Mit dem Satze „Der Satan ist ein geschaf-
fenes Wesen" ist Bousset nicht widerlegt. Es fragt sich, ob dieser theoretische
Satz wirklich eine Bedeutung hatte, dass er dem in der Etliik vorherrschenden
Dualismus die Wage hielt. Für das Durchschnittsbewusstsein möchte ich die Frage
entschieden verneinen. -) Seneca Ep. 31,3 mmm bonum est, quod beatae
Titae causa et fnmamentum est, sif/i fidere 5 turpe est etiam nunc dcos fatigare. quid
Christlicher und heidnischer Dualismus 135
der Kirche hat die antike Ethik und ihr moralistischer Intellektualismus als
Unterströraung sich behau])tet. Audi in der Kirche geht von Alters her
neben der spezifisch kirchlichen Moral, welche die übernatürlichen Faktoren
und ihre Bedeutung für die Gestaltung des sittlich religiösen Lebens betont,
eine an die eigene Leistungsfähigkeit des Menschen appellierende Moral ein-
her. Der Pelagianismus mit seinem Zurückgreifen auf die natürliche Sittlich-
keit bringt den oft gar nicht emj)tundenen Gegensatz zum klaren Ausdruck.
— Aber iii der antiken Entwickelung selbst wdrd der Rationalismus ver-
drängt durch Stimmungen, die jenen christlichen verwandt sind. Die Steige-
rung des religiösen Lebens setzt über die irdische Welt die durch einen
weiten Abstand von ihr getrennte obere Geisteswelt, gibt dem inneren Leben
einen ausserweltlichen Schwerpunkt und führt alle jene S])annungen ein, die
mit der dualistischen Auffassung des menschlichen Wesens gegeben sind.
Vor der höheren Wirklichkeit der Geisteswelt verblasst der Wert der sicht-
baren Welt. Das Vertrauen auf die eigene Kraft und auf die Leistungs-
fähigkeit der Vernunft ist erschüttert. Das Streben ist nicht mehr darauf
gerichtet, die natürlichen Kräfte des Menschen zu freier sittlicher Selbst-
bestimmung zu entwickeln, sondern sein ganzes Wesen in eine höhere Daseins-
form- zu erheben und übernatürlicher Kräfte teilhaft zu machen. Das Gefühl
der Schuld imd Schwäche, Sehnsucht nach Erlösung und göttlichem Beistand,
Verlangen nach Offenbarungen, willige Hingabe an Autoritäten haben wir als
vorherrschende Stimmungen des matergehenden Altertums kennen gelernt.
Judentum, orientalische Erlösungsreligionen, Philosophie begegnen sich darin.
Der Gedanke an einen Erlöser oder Mittler, der helfend eintritt, wo die
menschliche Kraft versagt, ist dieser mystischen Richtung, in der das Gefühl
des Alterns der Welt, der Gebrochenheit der Persönlichkeit, der Resignation
hervortritt , ganz geläufig ^. Die orientalischen Religionen verbreiten die
Gefühle für die menschliche Ohnmacht, Sündhaftigkeit und die ganze Tiefe
des Leidens -. Diese Stimmimgen haben auch die christliche Entwickelung
stark beeinflusst, haben in dem Zusammenwirken innerweltlicher und über-
weltlicher, natürlicher und supranaturaler Motive und Kräfte, in dem Neben-
einander lebensfreudiger und weltflüchtiger Tendenzen die Richtung des Chri-
stentums verstärkt, die einseitig die geistige Wirklichkeit über die sichtbare,
Gebundenheit über Freiheit, Offenbarung über Vernunft, Autorität über Per-
sönlichkeit stellt. Eine spezifisch religiöse Schätzung, die einen jenseitigen
Massstab an alle Gebiete des Lebens und an alle Aufgaben der Kultur anlegt,
ihrer selbständigen Bedeutung nicht gerecht wird und sie im letzten Sinne ver-
neint, bildet mit ihrer Disziplinierung des religiösen Lebens in der Welt imd in
der Kirche ein starkes Gegengewicht gegen die individualistische Strömung.
Das negative Verhältnis der Botschaft Jesu zu der Kulturarbeit der Welt
Hess eine Fülle von Fragen imd Problemen offen, vor die sich das Christen-
tum bei seinem Eintritt in die griechisch-römische Welt gestellt sah. Die
dringende Forderung der entscheidenden Wendung zum Reiche Gottes, der
gewaltige Ernst, mit dem das Heil der Seele über alle Güter der Welt ge-
setzt wurde, bew^egte sich in der Richtung einer Abwendung von der Wirk-
lichkeit und Lossagung von der Welt. Jene immer mehr das Bewiisstsein
beschäftigende und beherrschende Bedeutung der jenseitigen Welt und ihr
Gegensatz gegen die diesseitige, die Orientiening der Lebensauffassung am
TOtis opus est? fac te ipse felicem. 41. 53, 11. 12. ') M. Aurel I 17. IX 40. In
Senecas 52. Brief sehen ^^•il• die verschiedenen Stimmungen sich kreuzen. Mehr
Material bei H. Schmidt, Religionsgesch. Versuche und Vorarbeiten, her. von Die-
terich und Wünsch, IV 1 S. 33 ff. ^) Cumont S. 38 ff., und K. X.
136 IX Hellenismus und Christentum: 2 Urchristliche Motive
Jenseits und an der Zulcunft musste die gegenwärtige Weltordnung, deren
Ende so nahe bevorstand, in ihrem Werte herabdrücken, den Sinn von der
Gegenwart und den sittlichen Aufgaben des irdischen Lebens ablenken '.
Jüdische Ausdrucksformen, an die Jesu Predigt sich gebunden hatte, konnten
wieder mit ihrem ursprünglichen Inhalte gefüllt und damit dem tiefsten Sinn
der Predigt Jesu entfremdet werden. Das Evangelium wurde nach den alten
Formen und Kategorien des religiösen Lebens zum neuen Gesetz umgestaltet,
die Selbstverleugnung im Sinne prinzipieller Askese, einer an sich Gott wohl-
gefälligen Leistung gefasst. An Worten Jesu, die weltflüchtig sind und, ab-
getrennt von der besonderen Situation und Stimmung, nicht gemüdert durch
Rücksicht auf Gedanken, die in eine andere Richtung deuten, asketische
Lebensführung, Weltverachtung und Weltverneinung zu rechtfertigen scheinen,
fehlt es nicht. Das Leben Jesu und der Apostel selbst schien das weit-
abgewandte Ideal der Sittlichkeit zu bestätigen. Schon im II Jahrhundert
linden wir überall in den christlichen Gemeinden einen besonders geschätzten
Stand der Jimgfrauen und Enthaltsamen, die durch Verzicht auf die Ehe,
strenge Lebensweise, besonders Enthaltung von Fleisch und W^ein das höhere
Ideal christlicher Heiligkeit darstellen -. In den diesem Jahrhundert schon
angehörigen apokryphen Apostelgeschichten reissen die Apostel die Frauen
von üiren Männern los und lehren sie, den Ehestand als unrein zu betrachten.
Paulus bezeugt (Lietzmann zu Rom 14), dass es in der römischen Gemeinde
Christen gab, die sich eine asketische Lebensweise auferlegten. Vielfach ist
dann solche Lebensführung mit mancherlei Spekidationen verbunden und
theoretisch begründet, in zalilreichen Sekten zum allgemeinen Gesetze er-
hoben worden. Die Polemik des Kolosserbriefes imd der Pastoralbriefe schon
richtet sich gegen solche prinzipielle Auffassungen des Christentums. Die
Richtung geht in die Urzeit des Christentums zurück und mündet dann,
gesteigert durch die Spannung des religiösen Gefühles in den Zeiten der
Martyrien und durch die Reaktion gegen die zunehmende Weltförmigkeit der
Kirche im Mönchtume und in der kirchlichen Anerkennung eines doppelten
christlichen Lebensideales aus. So falsch es meines Erachtens ist, den Zu-
sammenhang dieser asketischen Richtung mit urchristüchen Motiven und ihre
stetige im wesentlichen innerchristliche Entwickelung zu verkennen und, statt
im Mönchtum den Gipfel dieser allmählich anschwellenden Strömung zu sehen,
es aus Uebertragung heidnischer Formen der Askese zu erklären, so be-
achtenswert ist doch die Tatsache, dass der weitabgewandten und asketischen
Strömung innerhalb des Christentums eine heidnische i)arallel läuft, die sie
vielfach beeinflusst und sich mit ihr verbunden hat. Das christliche Ent-
haltsamkeitsstreben mit seinen tiefen Motiven stiess auf eine dafür empfäng-
liche und darauf vorbereitete Welt.
Im ganzen betrachtet widerspricht christliche Weltverneinung, Verzicht
auf den Genuss des Lebens der echt antiken Gefühlsweise und Lebensauf-
fassung, für die Weltfreudigkeit, unbefangene Sinnenlust, das naive Aufgehen
des Menschen in der ihn umgebenden Welt charakteristisch sind. Aber an
der neuen Lehre, dass Pessimismus die allgemeine griechische Grundstimmung
und volkstümliche Auffassung des Lebens gewesen sei, ist doch so viel wahr,
dass die Bedeutung einer solchen starken Nebenströmung für das griechische
') Lucius S. 35 ff. Das heilsame Gegengewiclit, das der auf den Sieg des
Christentums und die Welteroberung vertrauende Optimismus und die kräftige
Entfaltung des neuen Gemeinschaftslebens bot, ist nicht zu übersehen. -) Knopf
S. 410. 439 ff. Lucius S. 37 ff. Keim, Aus dem Urchristentum I S. 204 ff. von
Dobschütz, Die urchristlichen Gemeinden S. 181 ff.
Christliche und heidnische Askese 137
Geistesleben nicht zu unterschätzen ist (S. 56. 84 if.). Und man darf sagen,
dass sie in der Spätantike fast die vDrherrschende Strömung Avird. Schon
dem Kynismus und der Stoa sind Leiden und Uebel das Wesentliche am
Menschenleben, und in den Meditationen des kaiserlichen Philosophen Marc
Aurel ergreift uns aufs tiefste die düstere Resignation ^ Schon die Tendenz
der hellenistischen Philosophien, den Menschen zu isolieren, ihn aus der
Welt in sein Inneres zurückzuführen, bereitet die scharfe Antithese und den
Konkurrenzkampf einer höheren Geisteswelt und der sichtbaren Welt vor.
Poseidonios' Ethik ist schon beherrscht von dem weltflüchtigen Zuge einer
auf das Jenseits gerichteten Mystik, die sich zusehends aus dem Orient be-
reichert. Und als dann der Neuplatonismus die Kräfte des Altertums in
einer der Zeitstimmung entsprechenden Synthese vereinigt, spannt er den
Gegensatz von Seele und Leib, Geist und Sinnlichkeit, Ideal und Leben aufs
äusserste. Die Theodicee und der Preis der Vollkommenheit der Welt darf
über die der sichtbaren Welt gegenüber vorherrschende Verneinung nicht
hinwegtäuschen. Der Optimismus gilt nicht der Welt als solcher, sondern
nur der Tatsache, dass in sie die göttlichen Kräfte hineinragen und in ihr
die grösstmögUche Entfaltung finden. Das niedergehende Altertum ist an
seinen früheren Idealen irre geworden. Und auch in seiner Lebensauffassung
kommt der Geist der Weltverneinung zum Ausdruck. Das asketische Lebens-
ideal ist auf sittlichem Gebiet das Komplement der transzendentalen Welt-
betrachtung. Neupythagoreische Askese sahen wir im I Jahrh. v. Chr. wieder
lebendig werden, in der stoischen Schule kommt der asketische Rigorismus
des Kynismus als das höhere Ideal der Sittlichkeit zur Anerkennung. Be-
sondere Sekten machen für Enthaltung von Fleisch und Wein Propaganda.
Seneca hat sich als Jüngling ein Jahr lang der Fleischnahrung enthalten und
sich nur durch die Bitten des Vaters von dieser Lebensweise abbringen lassen
(ep. 108, 22). Selbst in die Lebensweise weiterer Kreise dringt manches
von dieser asketischen Richtung ein, auch wo die strenge Durchführung des
Prinzipes unmöglich ist. Seneca erzählt uns, dass es in manchen Palästen
der Grossen Armenzimmerchen gab, in die man sich zeitweise zum einfachsten
Leben zurückzog (ep. 18, 7. 100, 6). Und diese besonders ins Auge fallenden
Erscheinungen sind nur Symptome einer in der philosophischen Literatur
aUer Schulen weit verbreiteten Forderung grösster Massigkeit und einfachster
Lebensweise. Dazu kommt, dass in den orientalischen Kulten auf Enthal-
tungen imd asketische Uebungen das grösste GcAAdcht gelegt wurde; schon
die augusteischen Dichter bezeugen uns -, dass mit diesen Kulten auch die
strenge Beobachtung der von ilmen für bestimmte Zeiten vorgeschriebenen
Enthaltungen besonders in der Frauenwelt Mode war. Die religiösen und
rationellen Motive werden vom Neuplatonismus zu einer Theorie der Askese
zusammengeschlossen, und Porphyrios' Schrift über Fleischenthaltung gibt
einen EinbHck in die Lebhaftigkeit der Debatten über die Frage der Askese
und die reiche sie betreffende Literatur ^. Und wenn das Christentum vom
Heidentum auf sittlichem Gebiet sich besonders schied durch die strenge
Beurteilung der Fleischessünden und der Laxheit heidnischer Moral das scharfe
Heilmittel geschlechtlicher Askese gegenüberzustellen geneigt war, so sehen
wir doch auch gleichzeitig die sittbch ernste Richtung des Heidentums von
reinen Grundsätzen über das Verhältnis der Geschlechter bis zum völHgen
') Vgl. auch Die Chrys. R. XXX § 10 ff. '-) 8. die Erklärer zu Properz
LI 33 Tibull 1 3, 23, um nur wenige Stellen zu nennen. Ueber das Reinheitsstreben
in der Mithrasreligion s. Cuinont S. 189. 190. ») S. die S. 16 zitierte Schrift
von Bernavs und Lietzmann zu Rom 14. Keim a. a. 0. S. 215 ff.
138 I^ Hellenismus und Christentum: 3 Paulus
Misstraiien gegen die Sinnlichkeit, zur abschätzigen Beurteilung der Ehe und
zur Anerkennung des Keuschheitsideales fortschreiten '. Die antike Lebens-
freudigkeit ist im Erlöschen. Stimmungen wie die des Paulus, der sich ab-
zuscheiden sehnt und Sterben für Gewinn hält, haben ihren Widerhall auch
in der antiken Welt.
Es ist natürlich, dass in der Atmosphäre der antiken Welt die spiri-
tualistischen und transzendentalen Tendenzen des Christentums ein bedenk-
liches Uebergewicht gewinnen mussten. Schon im II Jahrh. wird der christ-
liche Gott in die abstrakten Formen des platonischen gekleidet und dadurch
in eine solche Ferne versetzt, dass das Schwergewicht des religiösen Lebens
aus der W^elt herausgerückt wird und jetzt auch Motive und Tendenzen, die
aus der heidnischen Religiosität stammen, das einfache Wesen der christ-
lichen Frömmigkeit trüben. Die künstliche Steigerung und Erregung des
menschlichen Wesens, asketische Uebungen und geistliche Exerzitien als ein
Mittel, die Einigung mit der Gottheit in einer übermenschlichen Sphäre
herbeizuführen, kommen in Geltung. Das Bedürfnis, die weite Kluft, welche
die Gottheit von der Welt trennt, zu überbrücken, ruft die alten polytheisti-
schen Triebe wach und erhält sie lebendig. Die verklärten Märtyrer und
die Asketen werden als die Muster der Welt- und Lebensverachtimg zum
Range christlicher Heroen imd Mittler erhoben, die fürbittend für die Frommen
bei Gott eintreten und sie an der Gunst, die sie bei Gott gemessen, teil-
nehmen lassen. Was dem unmittelbaren Verhältnis zu Gott an Innigkeit des
Gefühles und Lebendigkeit des Vertrauens verloren geht, wächst dem Ver-
kehr mit diesen Schützern und Helfern zu. Der der eigenen sitthchen Voll-
kommenheit sich rühmende Tugendstolz äussert sich wieder mit antiker Naivetät
und antikem Pathos -. Der christliche Gedanke der Gleichheit aUer Menschen
vor Gott leidet starke Einbusse. Denn über dem Durchschnittsniveau der
gewöhnlichen Christen erhebt sich eine überragende geistliche Aristokratie.
3 Paulus
Die innersten Motive und vorherrschenden Stimmungen des Urchristen-
tums, der universale Monotheismus und der Gedanke der Einheit des Menschen-
geschlechtes, die konsequent religiöse Orientierung der Weltanschauung und
Lebensaufl'assung, die sich immer mehr auf entschiedene Betonung der jen-
seitigen Welt und der supranaturalen Faktoren, Entwertung der sichtbaren
') Heinrici, Beiträge III S. 38. 39. Der christliche Kampf für das Ideal
der Jungfräulichkeit wird zum grossen Teil mit Argumenten geführt, die der
antiken Geistesweit, besonders der Mystik des Neuplatonismus entlehnt sind.
Aber auch die zum Teil höchst trivialen Gedanken rationalistischer Art, wel-
che die antike Literatur zur Herabsetzung der Ehe geltend gemacht hat, Aver-
den seit Clemens nicht verschmäht. Dem Kampfe des Hieronymus gegen lovinian
verdanken wir die Erhaltung der köstlich humorvollen Ehebeti'aclitungen des Theo-
phrast. Dass der Christ sie aus Seneca abschreibt und mit dieser Waffe kämpft,
ist traurig; s. Bock, Leipziger Studien XIX. -) Oft kehrt jetzt der stoische
Gedanke (s. Literaturformen I 2, 4) wieder, dass die Leistungen des Märtyrers oder
Asketen das erhabenste Schauspiel für Gott seien (Lucius 8. 57 Anm. 11). Die
christlichen Heiligen werden mit den Philosophen verglichen (Lucius S, 58. 508 ff.).
Lucius hat die geschichtliche Entwickelung mit musterhafter Sorgfalt gezeichnet
und gezeigt, wie viele Faktoren und Motive, Bräuche und Missbräuche heidnischer
I'rönaimigkeit in ilir zu neuem Leben erweckt werden.
Loslösiui"' des Christentums vom .Iiulciidim 139
Welt und der irdischen Lebensaufgaben, asketische Lebensaulfassung- richtet,
erscheinen, im ganzen betrachtet und an dem Geist der besten und kräftig-
sten Zeiten des Griechentunis und Römertums gemessen, als der vollendete
Gegensatz des antiken Geisteslebens. Solange man wesentlich aus jenen
Zeiten das einheitUche Bild antiker Gcisteskultur meinte gewinnen zu können,
konnte es scheinen, als Avenn ilas Christentum als eine ganz fremde und
anders geartete Macht in die griechisch-römische Welt eingetreten und seine
Geschichte nur unter dem Gesichtspunkte des Kampfes und der Ueberwindung
der Gegensätze aufzufassen und zu begreifen sei. Die Erforschung der
geistigen Strömungen und Stimmungen, die das niedergehende Altertum be-
lierrschen, hat gelehrt, dass diese Zeit, in ihrer konkreten Eigenart erfasst,
dem Christentum eine Fülle von Anknüpfungen und Vermittelungen bot, ihm
verwandte Stimmungen und Gedanken entgegentrug, dass die Geschichte des
Christentums sich vielmehr unter dem. Bilde des Zusammenlaufens konver-
gierender Entwickelungslinien begreifen lässt.
Freilich ist diese Entwickelung nicht so notwendig und selbstverständ-
lich, wie es dem rückwärts blickenden Betrachter, der aus ihrem Ende
auch ihre innere Logik begreifen zu können meint, scheinen mag. Jesu
Predigt trägt mit ihrer Gebundenheit an jüdische Vorstellungen und ihrer
Anerkennung der praktischen Geltung des Gesetzes einerseits, ihrem prin-
zipiellen Emporstreben aus den nationalen Schranken andererseits ein Doppel-
antlitz. Sie schloss die Möglichkeit der Rückbildung ins Judentum wie
die des Sieges der vorwärts strebenden universalen Tendenzen in sich. Auf
der rückwärts gew^andten Seite steht die jerusalemische Gemeinde, die
Richtung der Zukunft bestimmt Paiüus. Die entscheidende Wendung zur
Loslösung des Christentums aus den Banden des Judentums ist erst durch
äussere Nötigungen herbeigeführt und erst allmählich zur klaren Erkenntnis
des christlichen Bewusstseins erhoben worden. Der Scharfblick des Hasses
der Feinde hat die Grenze früher und sicherer gezogen als die durch
Geburt und Traditionen im Judentum wurzelnde jerusalemische Christen-
heit. Die pharisäische Verfolgung hat den Gedanken der Unabhängigkeit
christlicher Heilsgewissheit und der notwendigen Abtrennung der christlichen
Gemeinschaft vom Judentume vorbereitet ^ , die Heidenmission hat den Ge-
danken in seiner ganzen Bedeutung zur Reife gebracht, noch ehe der grosse
jüdische Krieg imd die Zerstörung Jerusalems auch die Urgemeinde vom
Judentum schied. Und doch ist derselbe Mann, der das Christentum vom
jüdischen Boden in die heidnische Welt verpflanzt und ihm den Charakter
der Weltreligion gesichert hat, nicht nur geborener Jude, sondern auch als
Christ mit der einen Seite seines Wesens nur vom Judentum aus zu be-
greifen. Einerseits hat er die innere Notwendigkeit der Freiheit des Christen-
tums von den Schranken des Gesetzes klar erkannt und hat die Scheidung
mit mutiger Konsequenz durchgeführt, hat den neuen christlichen Geistes-
besitz wie kein anderer sich innerlich angeeignet, mit ergreifender Gewalt
verkündet, aus der einheitlichen Geschlossenheit des christlichen Bewusst-
seins die Richtlinien und Massstäbe für die Lösung aller sich drängenden
Fragen gefimden, die Gemeinden organisiert, alle Gebiete des Lebens mit
diesem Geiste durchdrungen. Nach seiner innersten Gesinnung ist er trotz
seiner Eigenart der bedeutendste Fortsetzer des Werkes Jesu. Andererseits ist
er trotz der prinzipiellen Scheidung vom Gesetze in höherem Masse, als er sich
bewusst ist, in jüdischen Anschauungen und Voraussetzungen befangen, ja er
hat ganz neue Verbindungen zwischen Christentum und Judentum geknüpft.
1) Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter- S. GO ff.
140 i^ Hellenismus ukd Christentum: 3 Paulus
Je weniger ihm das Bild des geschichtlichen Jesus lebendig war, um so
mehr tritt in den Vordergrund die Messiastheologie , deren Ansätze er von
der Urgemeinde übernahm , die er aber bereichert durch Fragestellungen,
Kategorien, Denkformen, in denen sich das geistige Leben des jüdischen
Schriftgelehrten bewegte. Wesentlich von dort her bringt er die Richtung
auf die metaplwsischen Spekulationen, den Gegensatz der gegenwärtigen und
der künftigen Welt, apokalyptische Stimmungen, den künstlichen Schrift-
beweis, der überall Typen imd Symbole findet, jene bedenkliche Methode,
welche die Scliriftautorität über das Gewicht innerer Gründe setzt und sich
gar nicht bewusst wird, dass in Wahrheit das subjektive Belieben die eigene
Erkenntnis als geoffenbarte Wahrheit ausgibt, die Konstruktion der Geschichts-
entwickelung nach theologischen Schemata. Dass er trotzdem an dem ent-
scheidenden Punkte die Trennung vom Judentum mit klarem Bewusstsein
für die prinzipielle Bedeutung vollziehen und damit dem Christentum seine
weltgeschichtliche Bestimmung sichern konnte, hängt mit seinen innersten
Erfahrungen zusammen. Die grosse religiöse Wandlung bedeutete für den
pharisäischen Christenverfolger einen völKgen Bruch mit seiner jüdischen
Vergangenheit, und die ihm mit dem neuen Glauben aufgehende Gewissheit
seiner Berufung als Heidenapostel und die dann anhebende Ausübung dieses
Berufes musste ihn in der Erkenntnis des neuen Glaubens als der universalen
und darum über alle nationalen und partikularen Schranken erhabenen Mensch-
heitsreligion bestärken. Freilich den ganzen Menschen kann nicht begreifen,
wer die beiden Seiten seines Wesens getrennt betrachtet und mit Ausschei-
dung des uns Fremdartigen und Abstossenden dem geschichtlichen Paulus
nach eigenem Geschmack ein Bild entgegenstellt, wie er hätte sein sollen.
Denn ohne seine jüdische Vergangenheit, die ein Atmen in der Religion und
eine Erfüllung des ganzen Lebens mit dem Ernste der höchsten Fragen und
mit dem Eifer um Gott bedeutete, ist auch der religiöse Genius gar nicht
zu verstehen.
Wie es für die Religiosität des Apostels von Bedeutung ist, dass er aus
ganz andern Schichten des Judentums als Jesus und sein Kreis hervorge-
gangen ist, so sind doch auch in seinen persönlichen Lebensverhältnissen
schon äussere Bedingungen gegeben, die ihn zum Werke der Heidenmission
geschickt machten. Seine Bildung ist freilich wesentlich die jüdisch-theo-
logische, aber die hellenistisch-römische Welt ragt doch von Anfang an in
seinen Gesichtskreis hinein^. Es wiU etwas sagen, dass er schon in der
Jugend in Tarsos Griechisch gelernt und die Bibel in griechischer Sprache ge-
lesen hat — denn die Sprache schon vermittelt Ideen — , dass er griecliisches
Leben gesehen hat. Vom Vater hat er die Civität überkommen und wohl
von Anbeginn nach weit verbreiteter Sitte einen Doppelnamen geführt. Er
fühlt sich als römischer Bürger und weiss seine Rechte als solcher geltend
zu machen'-. Die zufriedene Stimmung, mit der gerade die kleinasiatischen
Griechen das Kaiserregiment betrachteten ^, hat erkennen gelernt, jedenfalls
dem Weltreiche anders gegenübergestanden als der palästinensische Jude,
der die römische Oberherrschaft als eine vorübergehende Episode unwillig
zu ertragen gewohnt war, dem deren Vernichtung der Anbruch des Gottesreiches
bedeutete. Das römische Reich ist ihm eine positive Grösse und gottge-
wollte Ordnung, die Achtung, Gehorsam und Unterordnung fordert (Rom 13),
ja es ist ihm ein Hemmnis des Antichristes '. Er ist sich der Bedeutung ge-
*) Zur Ergänzung s. Literaturformeu I 2. -') S. über das alles Momm-
sen, Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus, Zeitschrift flu- neutest. Wiss. II
S. 81 ff. 3) Speziell über Tarsos vgl. Giemen, Paulus II S. 64. *) II Thess
Jüdische Voraussetzungen des Paulus. Hellenistischer Einfluss 141
rade der römischen Christengemeinde bewusst; es zieht ilin besonders nach
der Weltstadt, und er weiss (his Bedenken, dass sein Auftreten in Ilom seinem
Grundsatze, nicht auf anderer Leute Grund zu bauen, wideisprechen würde,
zu unterdrücken (Lietzmann zu Rom li:.). Als nach siebzehnjähriger Arbeit
das Abkommen mit den Aposteln in Jerusalem die Freudigkeit und Sicher-
heit seines Berufsbewusstseins gestärkt und ihm freie Bahn geschaffen hat,
da nimmt die Mission immer grössere Dimensionen an und bewegt sich in
rascherem Laufe. Das Gefühl der höheren Verpflichtung treibt ihn von Land
zu Land, die Zukunftspläne gehen immer mehr ins Weite. Er rechnet mit
ganzen Ländern und Provinzen. Die antike Vorstellung der or/wOUiJi,£vr^, jetzt
in der einheitlichen römischen Weltmonarchie repräsentiert, verschlingt sich
mit den eschatologischen Erwartungen des Apostels: Der Beruf des Welt-
apostels treibt ihn in fieberhafter Hast, in der kurzen Spanne der noch üb-
rigen Zeit das Evangelium durch die ganze Erde zu tragen und so die Pa-
rusie Christi vorzubereiten'. Auch der Gedanke der wesentlichen Einheit des
Menschengeschlechtes (S. 132) wird in der Einheit des Weltreiches eine Stütze
haben. Was er der Organisation des Reiches an Bedingungen für sein Wirken
verdankte, ist dem Apostel gewiss zum Bewusstsein gekommen. Die äusseren
Rechtsordnungen, der gesicherte und lebhafte Weltverkehr, das Strassensystem,
die relative Einheitlichkeit der Sprache und der Zivilisation sind äussere Momente,
ohne welche die raschen Fortschritte der Mission, das Wandern der Prediger,
der lebhafte Austausch der Gemeinden, das rasch sich ausbildende Bewusst-
sein der Einheit der Kirche undenkbar sind.
Doch vor allem müssen wir uns die Frage vorlegen, wie Paidus die
heidnische Welt und ihre Kultur beurteilt hat. Dass er der griechischen
Weisheit fremd und misstrauisch gegenübersteht und dass er von ihr nur zu-
fällig und oberfläcliKch berührt ist, haben wir schon bemerkt. Der heid-
nischen Religion und Sittlichkeit hat er seine Aufmerksamkeit zugewandt,
und wenn er auch ihre Entwickelung in ein willkürlich konstruiertes theo-
logisches Schema f asst, so weiss er ihr doch eine positive Seite abzugewinnen -.
Er übernimmt den stoischen ihm wohl durch das Judentum vermittelten Ge-
danken einer natürlichen Gotteserkenntnis, die aus den Werken der Schöpfung
gewonnen wird. Ebenso schreibt er den Heiden, auch hier von stoischer
Theorie berührt, ein natürliches sittliches Gefühl zu, das auf dem göttlichen
ins Herz geschriebenen Gesetze beruht. Auf dieser religiös-sittlichen Aus-
stattung beruht die Verantwortlichkeit des Heiden, wie die des Juden auf
der Kenntnis der gottgegebenen Thorah, beruht für beide die Gerechtigkeit
des göttlichen Strafgerichtes. Von der Erkenntnis des wahren Gottes haben
sich die Heiden abgewandt, und die Verleugnung der ursprünglichen Gottes-
vorstellung hat zum Dienst der menschen- und tierähnlichen Götterge-
stalten und zugleich zur Verdrängung der natürHchen Sittlichkeit, ja ihrer
Entstellung in den Hang zu unnatürlichen Lastern geführt. Es ist eine stark
schematische Zeichnung, die sich im einzelnen in den Formen der jüdischen
Apologetik bewegt. Die Schätzungen sind relativ und Schwankungen unter-
worfen. Bald erscheint die natürUche Gotteserkenntms und Sittlichkeit als ein
ursprünglicher, dann durch Abfall verlorener Besitz, bald wird sie als Be-
dingung der Verantwortung noch als gegenwärtig und jedermann zugänglich
vorausgesetzt ^. Im Römerbrief ist die natürliche Gotteserkenntnis das Korrelat
2 6 (Neumann, Hippolytus von Rom, Leipzig 1902 S. 4 ff.). — Jedoch missbüligt er
I Cor 6 das Rechtsuchen der Christen vor heidnischem Gericht. ') Lietzmann
zu Rom 15 19, Harnack, Mission I S. 63 K, Weizsäcker S. 193 ff. -) Lietzmann zu
Rom 1 u ff. Exe. zu 2 u ff. (I Cor 1 21), Weizsäcker S. 95 ff. ^) Weizsäcker
142 IX Hellenismus und Christentum: 3 Paulus
des Gesetzesbesitzes der Juden, aber Gal 4 8 — lo reisst der Eifer der Pole-
mik den Apostel fort, den Götzendienst, der doch erst aus der Verkelirung
jener Erkenntnis gefolgt ist, der mosaischen Gesetzesreligion parallel zu
stellen und mit ihr unter den gemeinsamen Begriff des Elementendienstes zu
fassen. So bewegen sich auch die Vorstellungen vom Wesen der Götzen
zwischen der Voraussetzung ihrer Realität, wo es den Kampf gilt, und ihrer
Nichtigkeit, wo der Massstab der überragenden Grösse Gottes und des Zieles
seiner vollendeten Herrschaft angelegt wird (vgl. S. 12B). Die Teilnahme am
Opfermahle bringt in die Gemeinschaft der Dämonen und in ihre Gewalt
(I Cor 10 2o), und doch sind es die stummen Götzen (I Cor 12 2, vgl. I Thess lo
Act 14 15. 19 2g), indem die Identität des Gottes und des Bildes vorausgesetzt
wird, übrigens nicht, wie man gemeint hat, durchaus mit Unrecht, da dies
nicht die Erfindung bequemer Apologetik und nicht nur grob materialistische
Auffassung des Judentums, sondern wirklich die herrschende Volksvorstel-
lung ist*. Macht man sich klar, wie es zuletzt von Lietzmann nachgewiesen
ist, wie viel traditionelle Stücke Paiüus in der Beweisführung des Römer-
briefs übernommen hat, wie er sie gepresst hat in ein künstliches Schema,
das seiner Konstruktion der jüdischen Entwickelung parallel läuft und sich
in den doch recht willkürlich geschiedenen Stufen: Ursprüngliche Anlage zum
Monotheismus, Verleugnung desselben und Verkelirung in Idoldienst, analoge
Entstellung der natürlichen Moral in alle Unnatur des Lasters, so wird man
in das überschwängliche Lob, das man oft dem tiefen Einblick des Paulus
in die Genesis und das AVesen des Heidentums gespendet hat, nicht ein-
stimmen — das Lob gälte ja auch zum Teil eigentlich der Stoa — und ihm
mehr Ehre erweisen durch die Annahme, dass er in der Praxis der Mission
individuellere und einfachere Mittel angewendet hat, als in dieser einem be-
stimmten Zweck dienenden Konstruktion der Menschengeschichte, deren Har-
monie mit der modernen Forschung man jedenfalls nicht mehr preisen darf
(S. 55).
Die Areopagrede Act 17 (vgl. 14i5ff.) bezeichnet Paulus gegenüber
einen schon fortgeschrittenen Standpunkt der Apologetik und einen beträchtlich
höheren Grad der Annäherung an zeitgenössische Anschauungen. Der Gott,
der nicht in Tempeln wohnt, die von Menschenhand errichtet sind, der be-
dürfnislose, der allen Leben und Odem gibt, der uns so nahe ist, die Wesens-
verwandtschaft des Menschen mit der Gottheit, in der er lebt und webt, der
S. 635. 636. ») Gruppe S. 980 IT., Friedländer III S. 605 ff., Radermacher, Fest-
schrift für Gomperz S. 197 if., Geffcken S. 197. 211. So hat ja schon die heidnische
Polemik die stummen Götzen aus Stein bekämpft, s. S. 87, Geffcken S. XX ff. 51. 196,
Bousset S. .850. Schon Celsus hebt die Uebereinstimmung hervor; s. Keim, Celsus'
wahres Wort, Zürich 1873 S. 5. 118. Der Kürze wegen verweise ich im folgenden
für Celsus auf Keims Rekonstruktionsversuch. Die denselben Gegenstand behan-
delnde neuere Schrift von Mutli ist völlig unzuverlässig und tendenziös. — Neben
diesen antiken Bekämpfern der Bilder fehlt es auch an Verteidigern nicht, die
Gottheit und Bild unterscheiden und Wei-t und Notwendigkeit symbolischer und
anthropomorpher Götterdarstellung feinsinnig zu schätzen wissen. Dions R. XII
§ 44 ff. und Maximus' R. VIII (Wilamowitz Lesebuch VII 8) vertreten diesen Stand-
punkt besonders wirkungsvoll, vgl. Geffcken a. a. O. Wie die christliche Apolo-
getik ihre einseitige Auffassung der antiken Polemik entlehnt, so ist mit der Ver-
breitung der Bilderverehrung in der Kirche, besonders seit Konstantin, auch die
bilderfreundliche Auffassung von (Christen adoptiert und die neuplatonische Theo-
rie, die im Bilde den Träger göttlicher Kräfte sieht, rezipiert worden. Der Gegen-
satz und Kampf der antiken Anschauungen hat sich so in der Kirche fortgesetzt.
Beurteilung des Heidentums. Areopagrede. Logoslehi'e 143
Protest geoen die Bilder aus Gold, vSilber, Stein, alles das sind Gedanken,
die besonders von der Stoa vertreten — in diesen Kreis weist ja auch das
Zitat V. 2« — , durch die Predigt der Aufklärung ])()i)ulär und in der fol-
genden christlichen Apologetik in engerer Anknüijfung an literarische Quellen
weiter entwickelt sind^ Die Einkleidung der Vorwürfe gegen Paulus in
eine an Sokratcs' Anklage erinnernde Form und der an die athenische In-
schrift anknüpfende Eingang der paulinischen Rede (S. 78) verstärken den
Eindruck, dass diese Anschauungen ein tieferes Eingehen auf hellenistische
Ideen bezeichnen und auf der Linie liegen, die von Paulus zur späteren Apo-
logetik führt. Die Apostelgeschichte gehört einer Periode an, in der die
universale Geltung der neuen Weltreligion nicht mehr ein Problem ist, um
das gerungen wird, sondern eine anerkannte Wahrheit, so selbstverständlich,
dass sie als alter Besitz der Kirche vorausgesetzt wird, und dass sie ihr
Licht auf die Auffassung der Menschheitsgeschichte zurückwirft. Die Tatsache,
dass die Bestimmung des Evangeliums für die Völker und für die ganze
W^elt schon in die Herrenworte der synoptischen Evangelien eindringt, dass sie
als natürliche Voraussetzung dem Johannesevangelium zugrunde liegt, beweist,
wie rasch sie gemeinchristlicher Besitz geworden ist. Die jüdische Gebun-
denheit schwindet ganz von selbst, seit die Auseinandersetzung mit dem
Judentum zurücktritt, die von ihm drohende Gefahr überwunden ist und das
göttliche Strafgericht über Jerusalem die Zukunft des Christentums von der
heiligen Stadt gelöst hat. Damit verlieren auch die Gedankenreihen des
Paulus, die in seiner jüdischen Vergangenheit wurzeln oder in seiner beson-
deren KampfessteUung gegen das Judentum entwickelt sind, ihre Bedeutung
oder doch ihren ursprünglichen Sinn. Dass die Logoslehre das Uebergewicht
gewinnt über die Messiastheologie, ist nur ein besonders deutliches Zeichen
dafür, dass das Christentum sich vom Judentum abgewandt und nach dem
Westen gerichtet, dass es seine Bestimmung für und seine Wahlverwandt-
schaft mit dem Hellenismus erkannt hat. Nur noch die heiligen Schriften
erhalten die Verbindung des Christentums mit seiner jüdischen Vergangen-
heit aufrecht, aber sie bedeuten nicht wie die Verbindung mit der Nation
und ihren Traditionen die Gefahr eines Rückfalls ins Judentum und eine
Bedrohung des Universalismus; diese Gefahr war durch das Lebenswerk des
Paulus für immer abgewehrt. Die Unabhängigkeit des Christentums war
trotz dieses ihm mit dem Judentum gemeinsamen Besitzes gesichert. Denn
der verschiedene Gebrauch der heiligen Schriften erweiterte die das Christen-
tum vom Judentum trennende Kluft. Und die Freiheit der Auswahl und
Exegese der Schrift ermöglichte die Anpassung an den christlichen Besitz-
stand, der durch den Schriftbeweis mit einer höheren Autorität umkleidet
vnirde.
4 Staat, Gesellschaft und Klrche
MoifflSEN, Der Religionsfrevel nach römischem Recht, Mist. Zeitsclu-ift LXIV
1890 S. 389 ff., Römisches Strafrecht, S. 567 ff. — Neumann, Der römische Staat
und die allgemeine Kirche , bis auf Diocletiau. I Leipzig 1890. — Ders., Hippo-
lytus von Rom in seiner SteUung zu Staat und Welt, I Leipzig 1902. — Bigel-
MAiR, Die Beteiligung der Christen am öffentlichen Leben in vorkonstantinischer
Zeit, Veröffentlichungen aus dem kirchenhistorischen Seminar München Nr. 8,
München 1902. — Harnack, Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche,
Kultur der Gegenwart I 4 S. 129—160. — Knopf, Nachapost. Zeitalter S. 83—147.
i) Geffcken a. a. O., S. XXXH. XXXHI, unten S. 152 ff.
14-4 IX Hellenismus und Christentum: 4 Staat, Gesellschaft und Kirche
Das antike Bewusstsein kennt wesentlich die Religion in der an die
Nation g-ebundenen Form und als Ausdruck des nationalen und patriotischen
Empfindens. Der Kaiserkult hatte zunächst dies Band verstärkt und der natio-
nalen Religion eine Stütze und einen neuen Mittelpunkt zu geben gesucht.
Und der Staat hatte Mittel, die Anerkennung seiner Religion zur Geltung
zu bringen. Der römische Bürger konnte durch die magistratische Religions-
})olizei zur Erfüllung seiner religiösen Pflichten angehalten, die Teilnahme an
fremden nicht repizierten Kulten ihm verwehrt werden. Verboten war an
und für sich keine Religion, aber die Ausübung einer jeden war nur ge-
stattet den Angehörigen der Nation, auf deren Boden sie gewachsen war. Die
strenge Durchführung dieses Nationalitätsprinzip es widerstrebte aber der Ent-
Avickelung des Reiches (S. 9. 92 ff.) und war ein Ding der Unmöglichkeit.
In der Praxis war zur Kaiserzeit jeder mit dem nationalen verträgKche und
ihn nicht negierende fremde Kult freigegeben. Die Ausübung der väter-
lichen Sitte war das Minimum, das man auf religiösem Gebiete zu fordern
sich beschränkte. Wie man darüber dachte, welchen Glauben man hatte,
oder ob man überhaupt die Götter leugnete, war im Grunde ebenso gleich-
gültig wie das Verhältnis zu andern Göttern und zu andern Kulten. Oinomaos
(II Jahrh. n. Chr.) konnte seinen ganzen Hohn über die Orakel des Apollon
ergiessen, und Lucian seine Göttersatiren publizieren, ohne darum ange-
fochten zu werden. Die religiöse Handlung, nicht die Gesinnung, war das
Entscheidende. Sehr charakteristisch ist, dass auch Epikureer und Skeptiker
die Beteiligung an der väterlichen Religion als selbstverständlich voraussetzen '.
Dem Judentum und dem Christentum erwuchsen die Schwierigkeiten daraus,
dass für ihren Monotheismus die Verständigung mit andern Religionen und
ihre äusserliche Anerkennung, die den orientalischen Religionen sonst so leicht
wurde, ausgeschlossen war.
Aber die Frage, warum das Judentum rechtlich im allgemeinen eine
bessere Behandlung und grössere Schonung erfahren hat, seine Gebräuche
geachtet sind und ihm gegenüber sogar auf die Forderung des Kaiserkultes
verzichtet ist, warum die Bekämpfung der jüdischen Religion als solcher
zu den Ausnahmen gehört, ist noch zu beantworten. Zum Teil werden die
Vorrechte, welche die Juden schon in den hellenistischen Reichen erlangt
hatten, nachgeAvdrkt haben; aber vor allem konnte der Gegensatz gegen
das Judentum nicht in so prinzipieller Schärfe wie gegen das Christentum
fühlbar werden, weil die jüdische Religion, obgleich mit ihrem Monotheis-
mus darüber liinausstrebend, doch auf nationaler Grundlage gewachsen
war und diese Grundlage festhielt. Diese Gebundenheit, die besonderen
Riten, namentlich die Beschneidung, bildeten ein starkes Hemmnis der Pro-
selytenmacherei und Hessen die jüdische Propaganda nicht als bedrohliche
Gefahr erscheinen. Wie der Grundsatz des Festhaltens an den von den
Vätern ererbten Gebräuchen bald das Judentum vom Christentum schied, so
war er ihm mit der allgemein antiken Anschauung gemeinsam, und nicht
ohne Grund betonen Celsus und Julian die Solidarität der Heiden und Juden
in der Bekämpfung des Christentums. Diese Bewahrung des väterlichen
Erbes ist dem ])alästinensischen Judentum mit dem hellenistischen gemeinsam
und gilt trotz aller Vergeistigung und Verflüchtigung der Religion auch den
hellenistischen Juden als Ruhmestitel des Volkes und als W^ahrheitsbeweis der
Offenbarung-. Es ist charakteristisch, dass die römischen Toleranzedikte zu
') S. 61 -. 63, andere Zeugnisse bei Keim, Rom und das Christentum S. 272.
273. Die Christen empfinden die Beteiligung der Philosophen am Kult als Inkon-
sequenz, Geffcken S. 32. *) Bousset S. 138.
Verhalten des Staates zu Judentum und Christentum 145
Gunsten der jüdischem Religion sich stets auf dies Prinzip berufen und dass
bei Josephus Nikohios das Recht der Völker, ihre religiösen Gebräuche zu
bewahren, als besonderen Vorzug der römischen Herrschaft ansieht *. Jüdische
und heidnische Polemik macht den Christen die Verleugnung dieses Grund-
satzes zum Vorwurf-. Die Haltung der christlichen Ai)ologeten diesem Vor-
wurf gegenüber ist inkonsequent und widerspruchsvoll ■'. Teils ist ihnen das
Christentum, wie bei Paulus, die höhere Stufe der Einheit, zu der alle Völker
erhoben werden sollen; teils übernehmen sie die antike Voraussetzung, dass
zu der Religion das Substrat eines besonderen Volkes gehöre, nennen sich
das wahre Israel und nehmen die israelitische Vorgeschichte für sich in An-
sj)ruch oder bezeichnen sich als das dritte Volk oder dritte Geschlecht — eine
Benennung, die auch vereinzelt im heidnischen Sprachgebrauch begegnet; ja
sie meinen auf jenen allgemeinen Grundsatz der Achtung vor der angeborenen
Religion die Forderung der Toleranz gründen zu können. Naive Befangen-
heit in antiken Voraussetzungen und berechnete Taktik, welche die univer-
salistische Tendenz des Christentums verschleiert, haben in verschiedener
Weise das Verhalten der einzelnen Zeugen bestimmt.
Mancherlei Gründe haben dem Christentum die abschätzige Beurteilung
der heidnischen Gesellschaft zugezogen. Auch auf diese jüdische Sekte — als
solche erschien zmaächst das Christentum — übertrug sich die Summe des
Wiederwillens, die sich gegen das Judentum angesammelt hatte. Die Christen
erschienen wie die Juden, weil ihr Monotheismus die Anerkennung fremder
Götter ausschloss, als die Atheisten im antiken Sinne des Wortes^. Die
Forderung, dass auch die Christen dem Genius des Kaisers ihre Ehrfurcht
bezeugen, den höchsten Gott auch unter dem Namen des Zeus'^, die Mittel-
wesen, die ja auch sie anerkannten, auch unter den Götternamen verehren
sollten '', schien im Zeitalter des religiösen Synkretismus so natürlich und so
harmlos, dass nur starke Hartnäckigkeit sie nicht erfüllen konnte. Als eine
Verfolgung der Religion als solcher und der Zugehörigkeit zu ihr empfand
man diese Fordeitmg nicht. Die Absonderung der Christen, ihre Abneigung,
vor Gericht zu erscheinen, Aemter zu bekleiden, Militärdienst zu leisten, die
in der schwer zu vermeidenden Beteiligung an religiösen Zeremonien und in
den Gewissensbedenken gegen den Eid beim kaiserhchen Genius begründet
war, ihre Verachtung der heidnischen Vergnügungen und Freuden der Ge-
selligkeit, ihr Misstrauen gegen alle Erwerbsarten, die in irgend einer wenn
auch entfernten Beziehung zum Götterdienst standen, überhaupt ihr weltab-
gew^andtes Wesen zog ihnen den Tadel des mangelnden Patriotismus, der
Abneigung gegen das Staatswesen ■, ja des odiiiin (leneris Innnani, der all-
gemeinen Misanthropie, zu; sie waren schlechte Bürger, fürs Leben und die
Gesellschaft imbrauchbar. Ihre Erwartung des nahen Weltendes bestätigte
1) Josephus Altertümer XIV § 227 ff. X.YI 163 ff. XIX 283—285. 290. 304.
306 Niese. — XVI 36. -) Keim, Celsus' wahres Wort S. 18. 34. 66 ff.
(wo dieser Unterschied ZA\ischen Juden und Christen hervorgehoben wird). Act
6 14. 16 21. 21 21. 28 17. Umgekehrt hat es eine Beurteilung des Judentums durch
die Christen gegeben, die es auf eine Linie mit dem Heidentum stellt (S. 152. 153),
») Harnack, Älission I S. 206 ff., Geffcken S. 99 ff. 158 ff. *) Geffcken S. 169.
186. Bigelmair S. 148 und vor allem Harnack, Texte und Unt. N. F. XHI 4.
■'•) Liberale Juden hatten das ja getan (S. 111. 113), und vereinzelte Christen fanden
es statthaft : Origenes, Ermunterungsschrift zum Martyrium 46. — Celsus bei Keim
8. 10. 70. 124. «) Keim S. 37. 114. 120 ff. 131 ff. In einigen gnostischen
Kreisen machte man wirklich Konzessionen. ') S. den warmherzigen
Appell am Schlüsse der Schrift des Celsus: Keim S. 137 ff.
LietziTiaiiu, Handbuch z. Neuen Test. I 'J. 10
146 IX Hellenismus und Chbistentum : 4 Staat, Gesellschaft und Klrche
den Eindruck und verletzte besonders den an die Ewipfkeit des Reiches
,ylaubtMulen Könierstolz. Freilich hatte ja die philosophische Proi)aganda An-
schauungen verbreitet, die der strengen Sittlichkeit der Christen nahekamen.
Aus den von ihr berührten Kreisen vernehmen wir den christlichen ver-
wandte Urteile : Klagen über Ungerechtigkeit der Gerichte, Geringschätzung
von Aemtern und Würden, die auch durch das Schwinden des alten Bürger-
sinnes unter dem Druck des Despotismus bedingt ist, Abscheu vor Schau-
spielen. Mimen, Zirkussjjielen und vor den Ausartungen der religiösen Feste,
Verwerfung des religiösen Formenwesens, übeihaupt scharfe Kritik der For-
men des öffentlichen und ])rivaten Lebens'. In Kreisen, wo solche An-
schauungen galten, war bei etwas genauerer Bekanntschaft mit der christ-
lichen Lehre die Schroffheit jener verbreiteten Aburteilung bald überwunden,
und auch die zunehmende Weltförmigkeit der Kirche hat die heidnischen Ur-
teile etwas gemildert. Aber über eine Schranke kam man besonders schwer
liinweg. Die Berührung mit der philoso})hischen Sittenpredigt weckte auch
bei Annen und Unwissenden das stolze Gefühl, Anteil zu haben an der
höheren Bildung, an der geistigen Aristokratie (S. 17. 132). Das christliche
Bekenntnis stiess herab in eine plebejische Gemeinschaft-, in der selbst das
Bildungsideal nicht galt und die dem barbarischen Aberglauben zugänglich
war. Denn die Gemeinden der beiden ersten Jahrhunderte setzten sich sehr
überwiegend aus den niederen Gesellschaftsschichten zusammen. Die Anbe-
tung des Gekreuzigten schien für dies Niveau zu passen, der Gegensatz des
Auferstehungsglaubens zum Unsterblichkeitsglauben den Abstand des Christen-
tums von griechischer Bildung zu offenbaren '^ Leichtgläubigkeit und Stolz
auf besondere Offenbarung ging liier mit Verachtung von Vernunft und Wissen-
schaft Hand in Hand^; für die Kultur hiess es', haben Christen wie Juden
nichts geleistet.
Dem Worte Jesu .,Entrichtet dem Kaiser, Avas des Kaisers ist und Gott
was Gottes ist'- schreibt man eine zu weitreichende Bedeutung zu, wenn
man darin den Grundsatz reiner Scheidung beider Mächte ausgesprochen
findet. Der Ton liegt auf der Ausscheidung des Politischen aus der reli-
giösen Sphäre, für die es indifferent ist ; auf die Frage nach seiner positiven
und selbständigen Bedeutung wdrd nicht reflektiert. Erst durch die Loslösung
des Christentums vom jüdischen Boden und seinen Eintritt in die heicbiische
Welt wurde die Frage akut und forderte eine prinzijjielle Antwort. Ent-
scheidend war die positive Schätzung des Staates durch Paulus (S. 140), die
vorherrschend geblieben ist. Die freundliche Beurteilung der Staatsgewalt
tritt in den Schriften des Lukas und im vierten Evangelium deutlich hervor.
I Petr wird die loyale Haltung selbst in Zeiten der Verfolgung bis zur Pflicht
der Fügsamkeit, auch wenn flie Obrigkeit Unrecht tut, aufrecht erhalten''.
Die Sitte, für den Kaiser und für die Obrigkeit im Gottesdienste zu beten,
ist für die christlichen Gemeinden früh bezeugt''. Mag schon in den staats-
freundlichen Aussagen schriftstellerische Berechnung und apologetische Ten-
') Wendland, Beiträge, besonders S. 38 ff. -') Bigelmair S. 206. 207,
Keim S. 11. 27. 40 ff. 80 ff. Ebenso anstössig ist dem Celsus, dass die Botschaft
gerade an die Sünder ergeht (S. 42 ff.) '') Keim S. 20 ff. 29 ff. 65. 89.
101. 111. 130, Geffcken S. 235. '] Keim S. 7. 51. 80. 104; Lucian, Leben
des Peregrinos Kap. 13. ") Vgl. Tit 3i Mart. Polyk. lO... ") I Tim
2i. o Polykarp an die Philipper 12 3 I Clem 60... 61 1 (Knopf S. 107. 108. 134). Ueber
die entsprechende jüdische Sitte s. Schürer I S. 483. H S. 302 ff. lU S. 340 ff. ;
dasselbe Gebet im Isiskult bei Apuleius XI 17 ; vgl. Cumonts grosses Mithraswerk
I S. 281.
Heidnische Urteile über das (Christentum. Kirche und Staat 147
denz mitspielen, so hat vollends die spätere Ajiolop^etik mit geflissentlicher
Absiclit die Loyalität betont. Sie hat jene Gnuidsiitze wiederholt, ja sie
hat behauptet, dass die Cliristen die treuesten und besten Untertanen seien,
dass duich sie der Gesamtzustand der Menschheit gehoben und der Bestand
des Reiches gesichert sei ; ja manche Apologeten stellen Christentum und
Römerreich als Verbündete hin '. Gewiss werden die Grundsätze der Aner-
kennung des Staates und der Loyalität, wie in der literarischen Vertretung,
so auch in der offiziellen Kirchenleitung im Vordergrunde gestanden haben.
Aber sie dürfen uns nicht hinwegtäuschen über die Bedeutung der entgegen-
gesetzten, oft latenten aber doch immer Avieder elementar hervorbrechenden
Unterströmungen, die, vom Judentum übernommen, durch die apokalyptischen
Hoftnungen lebendig erhalten und durch die Konflikte mit der Staatsgewalt
verschärft wurden. Diese Stimmungen machen die heidnische Beurteilung
des Christentums verständlicli und sind auch teilweise der Untergrund, von
dem sich jene christlichen Mahnungen zur Anerkennung der gottgeordneten
Obrigkeit abheben. Wie sehr die sehnsüchtige Erwartung der Ablösung
des gegenwärtigen Aion durch den künftigen die irdischen Güter und die
ganze Weltordnung entwerteter, ist schon bemerkt worden. Für den Gläu-
bigen hatten sie nur den Wert einer vorübergehenden Episode. Betete man
für den Kaiser, so betete man doch auch um das Ende der Welt und damit
auch des römischen Weltreiches. Und nun macht die junge Kirche die Er-
fahrung, dass sie mit der Loslösung vom Judentum auch den Schutz und
die Diüdmig verlor, die der jüdischen Sekte zugute kam, dass einer die
nationale Grundlage verlassenden Weltreligion auch eine die Staatsreligion
negierende und jede Beteiligung an ihr ausschliessende Propaganda verwehrt,
ihr gegenüber die Forderung der göttlichen Verehrung des Kaisers erhoben
wurde"-. Die johanneische Apokalypse gibt die Antwort auf diese Forderung,
die für das christliche Gefühl dem Verbot der neuen Religion gleichkam,
mid die Antwort ist, trotz dem Verzicht auf revolutionären Widerstand, die
Kriegserklärung gegen diesen den Cäsarenkiüt fordernden Staat. Die ganze
Summe des leidenschaftlichen Fanatismus, den das Judentum in den Zeiten
der Bedrückung gesammelt und in den letzten Jahrzehnten vor der Zerstö-
lomg Jerusalems zur höchsten Glut gesteigert hatte, vei'bindet sich bei dem
judenchristlichen Verfasser mit den Eindrücken der Gegenwart. Die Tempel-
schändung des Antiochos und des Kaisers Gaius hat sich erneuert und die
Schreckensgestalt Neros ist in Domitian T\deder lebendig geworden. Das
römische Reich ist das Werkzeug des Satans, seine- Macht stammt vom
Drachen, und der Antichrist ist sein Verbündeter. Der Tempel des Augustus
und der Roma in Pergamon ist der Thron des Satans, der Kaiserkidt der
grösste Greuel. Nur die Christen leisten dem gotteslästerlichen Gebote
der Anbetung der Kaiserbilder Widerstand, dem alle Völker der Erde sich
fügen, mad in A\ildem Jubel erschallt der Triumph über Babylons Fall.
Zu so lodernder Glut ist der christliche Fanatismus gegen das Reich nie
wieder entflammt. Die apokalyptischen Visionen haben sich in der Kirche
fortgesetzt, aber in Zeiten des Friedens Avenigstens tritt der Gegensatz
gegen das römische Reich zurück. Aber es will doch etwas sagen, dass
jene Apokalypse unter die heiligen Schriften der Christen aufgenommen
») Geffcken S. 63. 92. 162. 285. 311. 237 (Gebet), über Irenäus s. Neumann,
Hippolyt S. 54 ff. -) Es ist eine feine Beobachtung von Neumann, Staat
und Kirche S. 13 (vgl. Knopf S. 94. 95), dass der Konflikt des Christentums mit
dem Kaisertum nicht zufällig zuerst gerade in Asien, dem Hauptsitze des Cäsaren-
kults, akut wird.
10*
148 IX Hkllenismus und Christentum: 4 Staat, Gesellschaft und Kirche
wurde und die Richtlinien für die Zukunftshoflfnun^en der Christen g^ab. Es
war ein Glück, dass daneben Rom lo und 11 Thess 2ti (S. 140 ') in eine andere
Richtung wiesen und zu einer mildernden Umtleutung jener scharten Absage
an das Weltreich nötigten. Die Exegese dieser Schriftstücke spiegelt das
wechselnde Verhältnis der Kirche zum heidnischen Staate wieder ^
Die Forderung der Anbetung des Kaiserbildes führte zum Konflikte
des Christenturas mit dem Staat und war der Punkt, in dem der Kampf mit
langen Ruhepausen sich immer wieder erneuerte. In diesem Streitpunkt
offenbart sicli ein wesentlicher Gegensatz des Christentums gegen die antiken
Volksreligionen. Die Weigerung der Kaiseranbetung bedeutet den Protest
gegen die Gebundenheit der antiken Religion an Volk und Staat, die Tren-
nung der Religion von der politischen Sphäre, ihre Zurückführung in das
Heiligtum der Seele und die Freiheit des Gewissens. Die Leidenschaft, die
dieser Kami)f auf beiden Seiten entfesselt hat, kann nur ermessen und be-
greifen, wer sich klar macht, dass der von Jesus schon als natürlich ange-
sehenen Selbständigkeit und die anderen Interessensphären überragenden
Bedeutung des religiösen Lebens auf heidnischer Seite die ebenso selbstver-
ständliche Voraussetzung der engsten Verbindung des politischen und reli-
giösen Lebens, der Verpflichtung des Bürgers zur Beteiligung an der staat-
lichen ReUgion gegenüberstand. Die strenge Sonderung von der heidnischen
Religion und die gleichzeitige Anerkennung des heidnischen Staates, wie sie
im Christentum neben einander bestanden, war für das heidnische beide Sphären
verbindende Gefülü ein unvereinbarer Widerspruch, die christliche LoyaKtät
erschien darum als Phrase oder als Heuchelei. Der Gegensatz universaler
und nationaler Religion war freilich längst vorbereitet und auch ausgesprochen"-,
seit die nationalen Religionen sich vielfach von dem ursprünglichen Boden
gelöst, die Grenzen des Volkstumes überschritten hatten und in ihrer Zer-
setzung in jenen Prozess der Ausgleichung, Um- und Neubildung der Reli-
gionen eingetreten waren, der dem religiösen Individualismus gegenüber dem
Grundsatze cuiiis regio , eins religio sein Recht verschaffen sollte. Im
Grunde hatten die aus dem Osten vordringenden Religionen aUe Pionierarbeit
für das Christentum getan. Aber es ist das Verdienst des Christentums, den
Gegensatz in seiner ganzen Schärfe zum klaren Ausdruck gebracht und mit
unerbittlicher Strenge und Aufojjferung durchgekäm})ft zu haben.
Die christlichen Forderungen der Duldung der neuen Religion, ja ilirer
Anerkennung als staatserhaltender Macht, haben doch ihr inneres Recht, so
schwach namentlich ihre juristische Begründung ist und so wenig im Streite
der Parteien die eigentlich entscheidenden Gründe zu voller Klarheit ent-
wdckelt werden konnten. Der Kampf zwischen Staat und Kirche war kein
innerlich notwendiger und mit der fortschreitenden Entwickelung beider
Mächte war er immer weniger geboten. Der Bund zwischen Staat und Kirche,
den Konstantin geschlossen hat, beweist es, weil er kein aus willkürlicher
Laune hervorgegangener Akt, sondern das natürliche Ergebnis und die An-
erkennung des voraufgehenden Geschichtsprozesses war. Die gegen das
Christentum gerichteten Repressionen gründeten sich auf die Voraussetzung,
dass die Religion an die Nation gebunden, Ausdruck der Staatseinheit und
Angelegenheit des öffentlichen Leloens sei. Diese Voraussetzung war recht-
lich begründet, der Kampf gegen jede die Staatsreligion negierende Propa-
ganda war die natürliche Notwehr des nationalen Gefühles. Aber diese
Voraussetzung war durch die Macht der Tatsachen überholt und nichtig ge-
') Neumann, Hippolytus. -) Ed. Meyer, Gesch. des Altertums III 1,
S. 1G7 ff., ßousset S. 60 ff.
Xoutlikt mit dem Kaisertuui. Christentum als Reichsreligion 149
worden. Die gegen das Christentum angewandten Massregeln sind nur ein
Glied in der Kette der Akte, die das in Wahrheit untergrabene National-
get'ühl zu künstlichem Leben erwecken wollen, und die Ztifälligkeit und
Inkonsequenz des Vorgehens, seine Abhängigkeit von den gelegentlichen Aus-
brüchen der christenfeindlichen Volksstimmung, der rasche Wechsel, in dem
seit Diokletian von dem konsequenten Kampfe gegen die immer bedrohlicher
die Weit umspannende Organisation der Kirche zur Duldung übergegangen
wird, verrät das Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels an dem Recht
und der Wirksamkeit des Verfahrens. Die Ausdehnung des Reiches und die
JMischung der Völker, die Hellenisierung Roms und das stetige Vordringen
lies Orients, die Ausbreitung des Bürgerrechts und sein Aufgehen in die
Reichsangehörigkeit hatten dem Staate seinen nationalen Charakter genom-
men und eine Mischkultur geschaifen, in der das echt Römische gar nicht
mehr überwog. Die Reichsorganisation Dioldetians brachte dies Ergebnis
einer dreihundertjährigen Entwickelung ])olitisch zum klaren Ausdruck; aber
(.lie Reügionsfrage wurde durch den vmglückUchen Versuch seiner reaktionären
die Kirche geAvaltsam imterdrückenden PoKtik nur dringender. Die nationale
Religion, schon in repubbkanischer Zeit das Produkt vieler Rezeptionen des
Fremden mid Kompromisse, hatte eine analoge Entwickelung durchgemacht,
(üe deren völUge Zersetzung immer klarer offenbarte und eine religiöse Neu-
ordnung forderte. „Das Christentum hat den römischen Glauben nicht zer-
stört^ sondern ersetzt'- (Mommsen, Hist. Z. S. 418). Der Staat, der selbst
den politischen Partikularismus vermchtet hatte, durfte seine Augen nicht
vor der Tatsache verschliessen, dass die Invasion der orientalischen Religionen
dasselbe Werk auf religiösem Gebiete vollbracht hatte. Der Kaiserkiüt hatte
eine neue Grundlage der ReHgionseinheit bilden sollen ; aber er selbst war
schon ein fremdes, orientalisch-hellenistisches Element. Rom war als der
Mittelpmikt des Weltreiches die kosmopolitische Metropole aller Götter und
Kulte geworden. Der Staatskult war zu leeren Formalitäten herabgesunken,
und die tiefere Entwickelung des Innenlebens hatte die Reügion längst zu
einer Sache freier Wahl und individueller Selbstbestimmung gemacht. Die
Vermischimg der Völker hatte zur Ausgleichung der Religionen geführt. Die
Ueberzeugung, dass allen Volksreligionen in letzter Linie eine wahre Reli-
gion zugrmide liege, hatte sich seit Alexander verbreitet, zur Abstraktion
von den Besonderheiten und zur Reduktion auf einfachere Gebilde, ja auf
eine gemeinsame Grundlage geführt. Die pliilosophische Reflexion und Theo-
logie hatte diesen Prozess der Ausgleichung, Vereinfachung und Vergeistigung
der Religionen gefördert und die monotheistischen Tendenzen verstärkt.
Wie die Einheit des Weltreiches dem Gedanken des einheitlichen Menschen-
geschlechtes Halt und Stütze gab, so schien sie als Korrelat die Einheit der
Reichsreligion zu fordern. Nicht nur praktische Versuche, wde sie besonders
mit dem Sonnenkiüt gemacht wurden, sondern auch kühne Konstruktionen
der Spekulation, wie sie von Varro bis zum Neuplatonismus unternommen
wurden, bewegten sich in der Richtung. ..Wäre es möglich, politisch-zivili-
satorische Fragen ohne Erinnerungen und ohne Leidenschaften zu behandeln,
so hätte man es sich eingestehen müssen, dass das römische Reich, ^\ie es
war, mit dem Christenglauben sich wohl vertrug und dieser eigentlich nur
auf dem religiösen Gebiet zum Ausdruck brachte, was politisch sich bereits
vollzogen hatte" (Mommsen S. 419). In der Tat, welche Religion wäre in
gleichem Masse berufen gewesen, die Tendenzen der früheren Entwickelungs-
linien in sich zu verbinden und die religiöse Einigung der Völker herbeizu-
führen, wie die christliche ? Dass sie die monotheistischen Triebe der Zeit
befriedigen konnte, beweist die Tatsache, dass sie sich früh mit dem pro-
150 I^ Hellenismus und Christentum : 5 Christliche Ai^ologetik
fanen Monotheismus verbündet hat und noch in Konstantins Relij^ion die
seltsamste Mischung mit ihm eingegangen ist ; sie füllte aber die monotheisti-
schen Formen der Zeit mit einem neuen lebensvollen Inhalt aus dem frischen
Quell unmittelbarster religiöser Erfahrung. Sie erschien auf der Höhe ihrer
spekulativen Ausbildung als Philosophie, und doch befriedigte sie zugleich
in ihren Sakramenten und in den Niederungen des in ihr sich immer breiter
etablierenden antiken Volksglaubens alle Bedürfnisse dei' zeitgenössischen
Mystik und Superstition. Sie kam mit dem Schatze ihrer geoftenbarten
Schriften dem Autoritätsglauben der Zeit entgegen und bot sichere Garan-
tieen der Gewissheit ihrer Verheissungen. Und vor allem, sie stellte in den
schlichten Sätzen des Evangeliums Jesu die Frömmigkeit in einer das natür-
liche Gefülil gewinnenden Einfachheit und Reinheit dar und entging damit in
ihrem Kerne der Gefahr, der alle künstlichen Religionschö})fungen der Zeit
erlegen sind, der erdrückenden Belastung mit historischen Traditionen und
der alle universalen Tendenzen durchkreuzenden antiquarischen Richtung.
Aller Trübungen und Entstellungen ungeachtet, hatte sie mutig die Konse-
quenzen ihres Universalismus gezogen: Sie hatte die jüdischen Fesseln abge-
streift, sie hatte den Kampf mit allen Göttern aufgenommen, sie hatte den
Gedanken der einen Menschheit im christlichen Gemeinschaftsleben realisiert,
sie hatte eine wirklich universale den Weltkreis umfassende Organisation der
Kirche geschaffen, die den verfallenden Staat nach den vergeblichen Versuchen,
sie zu unterdrücken, den Bund mit der stärkeren Genossin, der Kirche, zu
suchen zwang — eine Organisation, die, durch staatliche Macht ausgestaltet,
den Untergang des Staates überlebt und den Ansturm der germanischen
Völker ausgehalten hat, die in diese Organisation liineinwuchsen und durch
sie mit dem Christentum auch im Reichsgedanken, im geistigen und religiösen
Besitz eine Erbschaft antiker Kulturentwickelung übernahmen.
5 Christliche Apologetik
Geffcken, Zwei griechische Apologeten, Leipzig IDüT, zeichnet die Grund-
linien einer Geschichte der apologetischen Literatur, behandelt ihre heidnischen
und jüdisclien Vorläufer und gibt eine kritische Ausgabe der Apologieen des Ari-
stides und des Athenagoras mit ausführlichem Kommentar. Seine sorgfältigen
Register, die die Uebersicht über die Traditionsmassen erleichtern, gestatten mir
in den Zitaten der Quellen und der neueren Literatur sparsam zu sein. — von
DoBSCHtJTZ, Das Kerjgma Petri, Texte und Unt. zur Gesch. der altchristlichen
Lit. XI 1. Leipzig 1894. Die Fragmente des Kerygma sind auch in Lietzmanns
Kleinen Texten Nr. 3 und in Preuschens Antilegomena- S. 88 ff. ediert. — Harnack,
Dogmengeschichte L' S. 4.55 .507, Loofs S. 114 ff., auf die ich besonders für die dog-
mengeschichtliche Bedeutung der Apologeten verweise. — Ueber die jüdische Apo-
logetik s. Wendland, Jahrb. Suppl. XXn S. 703—715 und Bousset a. a. O. 347 ff.
So paradox es klingt, die Geschichte der christlichen Apologetik ist
älter als das Christentum selbst. Denn ihre Genealogie führt zurück einer-
seits auf die Bekämpfung des Polytheismus durch die Proi)heten, andererseits
auf die mit Xenophanes beginnende, in der athenischen Aufklärung und
Philosophie schon einen Höhepunkt erreichende heidnische Kritik der Volks-
religionen. Diese Kritik hatte, wie S. 57. 61 ff. gezeigt ist, in hellenistischer
Zeit in Epikurs Lehre und besonders in der akademischen Skepsis eine syste-
matische Durchbildung erfahren, die in wirkungsvollen Argumentationsreihen
uUes, was gegen den Volksglauben sich vorbringen liess, ins Feld führt; sie
hatte auch die stoische Uradeutung der Volksreligion stark beeinflusst.
Vorläufer der christliclien Apologetik 151
Als (las Jiuleiituin. besonders in der Di:is|)orM, mit der griechischen Kultur
in Berührung- kaui und sich mit ihr auseinanderzusetzen anfing-, begann es
aucli eine gewisse Wahlverwandtschaft mit der Philosophie auf manchen
Gebieten zu entdecken. Die strenge Ethik der 8toa, der monotheistische
Zug ihrer Theologie, die auf eine Läuterung der Frömmigkeit gerichtete
})hilosophische Propaganda haben auch bibelgläubige Juden angezogen. Die
universaien Gedanken der Propheten und Psalmen flössen jetzt vielfach zu-
sammen mit der verwanilten Richtung der philosophischen Aufklärung. Die
beiden Ströme der von tlen Pro])heten ' ausgehenden jüdischen und der heid-
nischen Polemik gegen den Polytheismus iiiessen jetzt in ein gemeinsames
Bett zusammen. Diese beiden Richtungen, die in Motiven und einzelnen
Gedanken sich zum Teil auffallend berühren, verschlingen und kreuzen sich
in einer Weise, dass es oft schwierig ist, die Grenzen jüdischer Tradition
und des Einflusses heidnischer Religionskritik sicher abzustecken. Die jü-
dische Apologetik entwickelt sich zu einer systematischen Beurteilung der
verscliiedenen Formen des Heidentums, zu einem geschlossenen ])lanmässigen
Angriff gegen den Polytheismus, der gelegentlich durch die packenden
Aphorismen alter Propheten und Weisen und durch konkrete Bilder aus
dem religiösen Leben der Heiden belebt wird. Im Buche der Weisheit,
dem in Buch der Sibyllinen, bei Philo und Josephus sehen wür eine Kon-
tinuität der apologetischen Tradition in immer festeren Formen sich ausbilden,
hellenistische Elemente aber auch in die palästinensische Literatur eindringen.
Mit einer Mässigung, die dem Paulus fernliegt, werden verschiedene Stufen
des Polytheismus nach ihrem W^erte unterschieden, als die oberste der Dienst
der Gestirne und der Elemente, dem ja schon die Philosophie eine beson-
dere Weihe gegeben, den aber Karneades bestritten hatte, dann der Dienst
der toten Bilder, die von Menschenhand gefertigt sind, endlich, auch dies
in wesentlicher Uebereinstimmung mit dem antiken Urteil, der ägyptische
Tierdienst als die verwerflichste und niedrigste Form. Wie bei Paidus schwankt
die Auffassung der Götter hin und her zwischen ihrer Vorstellung als toter
Bilder und ihrer Auffassung als Dämonen, d. h. realer Mächte. Das Recht
der allegorischen Erklärung w'ird von der jüdischen Apologetik, wie vor-
her von den Epikureern und Skeptikern, der Stoa bestritten, freilich von
Philo für das alte Testament als selbstverständlich in Anspruch genommen
und zur Abw-ehr der gegen die biblischen Erzählungen von heidnischer Seite
gerichteten Angriffe gebraucht. Die jüdische Kritik an den Mythen und
ihren unwürdigen Vorstellungen vom Wesen der Göttei" wiederholt Gedanken
und Belege, in denen sich alle Philosophenschulen ziemlich einig waren.
Neben die Polemik tritt der kräftige Hinweis auf die Wahrheit der eigenen
Religion und die Propaganda (S. 114).
Die christliche Apologetik hat, trotzdem sie ja mit doppelter Front
gegen Juden und Heiden zu kämpfen hatte, doch, soweit sie sich ge-
gen das Heidentum richtet, zum grossen Teil die Traditionen imd Formen
der jüdischen übernommen, die Kontinuität der Entwickelung fortgesetzt.
Wir sehen das Christentum sofort mit seinem Eintritt in die Welt in diese
Spuren treten. Wie weit in der Polemik des Paulus, der das Buch der Weis-
heit gekannt hat, direkter oder durch das Judentum vermittelter hellenisti-
scher Einfluss anzunehmen ist, lässt sich im einzelnen nicht sicher ausmachen
(S. 141). Die Areopagrede und das Kerygma des Petrus zeigen dann schon
Fortschritte der Annäherung an den Hellenismus. Zur weiteren Bereiche-
rung des von den Juden übernommenen Erbes trug im II .lahrh. der leb-
» S. z. B. Ps. 115, Jer. 10, Jes. 4U lu tt., 4I7, 44i..— l-o.
152 1^ Hellenismus und Chbistentum: 5 Chmstliche Apologetik
liafte Kontakt mit der Philosophie bei. In tortgesetzten literarischen und
mündlichen Debatten erhielt sich, wie z. B. üinomaos, Sextus und Lucian
lehren, die philosophische Polemik gegen den Polytheismus am Leben, und
der gebildete Christ brachte schon aus seiner heidnischen Vergangenheit
WaÖ'en zur Bekämpfung des Heidentums mit. So wird denn das Erbe der
jüdischen Apologetik ergänzt und vervollständigt durch neue Eintragungen
aus philosophischen Quellen. Der Kampf heidnischer Aufklärung oder ge-
läuterter Frömmigkeit gegen den Volksglauben ward zum Teil vom Chnsten-
tum mit nur wenig veränderter Haltung fortgeführt, und die Abhängigkeit
mancher Apologeten von der religiösen Aufklärung des Heidentums^ ist oft
grösser, als sie selbst sich bewusst sind oder wahr haben wollen. Quellen-
untersuchungen, die auf einen bestimmten Namen auslaufen, sind hier frei-
lich aussichtslos, weil die philosophische Propaganda durch das lebendige
Wort wirkt oder sich in Schichten der Literatur bewegt, die uns nur durch
einige zufällige erhaltene Vertreter bekannt sind. Wir müssen uns darauf
beschränken, die Kontinuität der Gedanken und Formen der christlichen Apo-
logetik festzustellen und den Anteil zu bestimmen, den die einzelnen Philo-
sophenschulen dazu beigesteuert haben. Und selbst die Ermittelung des
letzten Ursprimges einzelner Gedanken unterliegt mitimter grossen Schwie-
rigkeiten, da die Kritik der verschiedenen Schulen schon aus der älteren
Aufldärung gemeinsame Motive übernommen und der spätere Eklektizismus
(iie Eigenart der Schulen auch auf diesem Gebiete ver^viscllt und vielfach
ausgeglichen hatte.
Wir richten zuerst die Aufmerksamkeit auf den festen Traditionsbe-
stand und den Durchschiiittsty]3us der Apologie, wie sie sich in der Pole-
mik gegen den Polytheismus darstellt. Aristides beginnt mit dem stoisch-
platonischen Gottesbegriif, der durch eine frühzeitig festgewordene Reihe
negativer Attribute bestimmt wird. Die Polemik gegen den Polytheismus
ist dreiteilig ^ Sie richtet sich zuerst in breiter und schematischer Aus-
fühnmg jedes einzelnen Gliedes gegen die Verehrung der Elemente, der
Sonne, des Mondes und der Gestirne, sowie ihrer Abbilder, durch die Chal-
däer. Im zweiten Teil, der dem griecliischen Glauben gilt, werden Leiden
und Laster der Götter erst im allgemeinen aufgezählt, dann die einzelnen Götter
behandelt. Der dritte Teil bekämpft den ägyptischen Tierdienst und die unwürdi-
gen Züge des Osirismythos. Dass die Götter den Menschen ein schlechtes sitt-
liches Vorbild geben, wird wiederholt betont. Nach einer etwas konfusen
Invektive gegen Dichter und Philosophen ^\drd im zweiten Haujitteil das
Verhältnis zum .Judentum gezeichnet. Sein Gottesbegriff und seine Menschen-
liebe findet Anerkennung ; aber sein Gottesdienst gilt doch in Wahrheit den
Engeln, indem die Juden Sabbathe, Neumonde, Passah, grosses Fasten (des
Versöhnungstages), Fasten, Beschneidung, Reinheit der Speisen beobachten.
Der Sinn der Ausfühnmg scheint zu sein, dass der rituale Charakter der
jüdischen Religion sie dem Heidentum annähere und auch in der ausgebil-
deten Engellehre ihre Abirrung vom reinen Monotheismus sich offenbare.
Die Verbindung beider Momente und die so geschaffene Beziehung des jü-
dischen Kultes auf die Engel ist Avillkürlich. Den dritten Hauptteil bildet
die Darstellung des neuen christlichen Glaubens und Geisteslebens.
' Es liegt dieser Dreiteilunji das richtige Bewusstseiu ziigTunde , dass der
Glaube der Chaldäer, als der wichtigsten Repräsentanten des Orients, und der
AegjT)ter für die Zeit eine besondere Bedeutung hat. Die Behandliuig der chal-
däischen Religion zeigt gute, aber stark getrübte Kunde, u. a. Bekanntschaft mit
dem Mythos vom Urmenschen (Geffcken S. 59).
Aristides. Kerygma. Brief an Diogiiet 153
Die Reste des Aristides zeitlich nahe stehenden etwas älteren Kerygma
des Petrus zeigen, dass der Apologet im wesentlichen ein fertiges Schema
übernommen hat. Beide Schriften operieren mit demselben traditionellen
Gedankenmaterial — nur die Figuren werden etwas andei'S gesetzt — und
berühren sich oft wörtlich, ohne dass doch ein Verhältnis der Abhängig-
keit, wahrscheinlich wäre. Auch in der Predigt des Petrus findet sich jene
fast stereotype Formel der göttlichen Attribute (Fr. II von Dobschütz). In
der Polemik gegen den Götzendienst (Fr. III) wird dann die griechische
und ägyptische Form, Verehrung der aus totem Stoff gefertigten Götzen-
bilder imd Verehrung der Tiere, aufs engste verbunden und seltsamerweise
beide den Griechen zugeschrieben. Wir sehen, wie verworren und unklar
die Vorstellungen von dem Glauben sind, der bekämpft wird; sie sind dem
Autor angeflogen aus Lektüre von Traktaten, die selbst schon eine stark
getrübte Tradition wiedergaben oder von ihm nur hall) verstanden sind. Es
folgt die stark an Aristides anklingende Kritik der Frömmigkeit der Juden
(Fr. IV), .,die den Engeln und den Erzengeln dienen, dem Monat und dem
Monde; und wenn der Mond nicht erschienen, feiern sie nicht üiren ersten
Sabbath nach dem Neumond noch Passah noch das (Laubhütten )-Fest noch
den grossen Versöhnungstag'-. Wir sehen, wie sich der Verfasser die schon
von Paulus (Gal. 4;» vgl. 3 ivi) behauptete Knechtungder Juden unter die GTOLveCa
vorstellte ^ Hier wird neben dem Engelkult eine Art Gestirn dienst den
Juden schvddgegeben, ihr Irrtum und ihre Schuld aber nicht in ihrem Kul-
tus überhaupt, sondern in der zeitlichen Bestimmung der Feste nach der
Beobachtung der Gestirne gesucht, offenbar im Anschluss an Gal. 4 o '^.
Dem heidnischen imd jüdischen Kultus wdrd auch hier das Christentum als
die allein wahre Religion gegenübergestellt.
Auch der Brief an Diognet ^, der wohl erst dem III Jahrhundert an-
gehört, zeigt eine ähnliche Anlage. Auch hier eine lange Aufzählung der
Stoffe, aus denen die Götter gefertigt werden, mit manchen beliebten Ge-
meinplätzen z. B. über die Herstellung von Götterbildern und gemeinem Gerät
aus gleichem Stoffe, über die Verwahrung der Bilder gegen Diebstahl. Der
jüdische Monotheismus ^ird gebilligt, aber die Art des jüdischen Kultes der
heidnischen ähnlich gefunden. Es ist eine Torheit, dem bedürfnislosen Gott
Opfer darzubringen ^. Ebenso wird die ganze jüdische Ritualreligion, die
1) v. Dobschütz S. 35 ff., der die Gleichstellung der Juden und Heiden mit andern
Beispielen belegt, Diels Elementum S. 50 ff. Die radikalere Verurteilung des Juden-
tums (Gal., Kerygma, Arist., Diognetbrief) spielt bei den Gnostikern noch eine grosse
Rolle, in der Kirche ist sie früh aufgegeben. In Justins Dialog wirkt sie nirgends nach ;
hier dreht sich der Streit wesentlich um die rechte Auslegung und Beziehung der
Schriftstellen. Justin selbst bezeugt aber noch K. 47 eine strengere Beurteilung
des Judaismus, die von ähnlichen Gesichtspunkten bestimmt gewesen sein mag.
-') Dass es im Grunde ein Widerspruch ist, dass derselbe Paidus, der in seinen
Gemeinden die jüdische Woche eingeführt hat, hier den Juden die Beobachtung
der Zeiten vorwirft, hebt Schürer, Zeitschr. für ueutest. Wiss. VI S. 42 hervor.
Ebenso auffallend ist, was Justin Dial. K. 29 über den Sabbath sagt. ^) Wi-
lamowitz' Lesebuch Vm 3. *) Darin stimmt der jüdische Hellenismus (Zeug-
nisse bei P. Krüger (o. S. 109 *) S. 28), die philosophische Aufklärung, das Clu-istentum
eigentlich übereiu; und die Polemik gegen die jüdischen Opfer ist besonders an-
tiquiert in einer Zeit, wo die Juden gar nicht mehr in der Lage waren, ihren
Opferkult auszuüben. — Die Akten des Apollonios i; 16 ff. (Knopf, Ausgewählte
Märtyrerakten S. 39) geben das etwas abgewandelte Schema: Vergötterung des toten
Stoffes, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, aber dieselben Gedanken.
154 i^ Hellenismus und Christentum: 5 Christliche Apologetik
Unterscliei(lun<>- dev »S])eisen, die ängstliclu" Sabbathbeoitchtung-, die Wert-
sciiätzung der Besclmeidung, die Beobachtung der Zeiten als läclierlich be-
zeichnet. Auf dieser Folie werden dann die Christen als Träger eines neuen
geistigen Lebens geschildert, durch das heidnischer Polytheismus und jüdische
„Deisidämonie" überwunden ist.
Damit sind bereits die Grundlinien, auf denen sich diese Literaturgat-
tung bewegt, gezeichnet. Dieselben Motive werden auch sonst wiederholt;
sie werden bald kurz angedeutet, bald breiter und freier ausgeführt: Alte
dialektische Argumente gegen den Polytheismus, bei Athenagoras z. B.
aus guter skeptischer Quelle geschöpft. Aufzählung der Laster, Leiden-
schaften, Schwächen, Leiden, aller eines Gottes unwürdigen Züge der heid-
nischen Mythologie ^ und Bestreitung des Rechtes allegorischer Auslegung.
Der Nachweis, dass gerade die wegen ihrer tieferen Gotteserkenntnis ge-
suchten Mysterien die sittlich abstossendsten Göttergeschichten erzählen.
Daneben die rationalistische Theorie von den zur Göttlichkeit erhobenen
Menschen. Der Gegensatz christlicher Moral und heidnischer Unsittlichkeit
\%-ird gezeichnet, oft zum Zwecke des Nachweises, dass die den Christen
schuldgegebenen Frevel, mit der christlichen Lehre und dem christlichen
Leben unverträglich, gerade auf heidnischem Boden wachsen und durch das
Vorbild der heidnischen Götter gerechtfertigt scheinen. Zeigt schon die
christliche Sittenpredigt formale und sacliliche Berührungen mit der heid-
nischen Diatribe, so wird geflissentlich die Uebereinstimmung oder Aelm-
lichkeit der Philosophie mit der christlichen Lehre im Monotheismus, in den
Vorstellungen von der Schöpfung, vom Weltbrande, Weltgericht, Unsterb-
lichkeit hervorgehoben. Freilich müssen die Zeugnisse, auf die man sich
beruft, oft gepresst oder willkürlich gedeutet werden, um nutzbar zu sein;
absichtlich oder unwillkürlich werden sie öfter dem Zwecke konformer ge-
staltet. Jüdische und christliche Fälschungen bekräftigen die Harmonie mit
den griechischen Dichtern und Denkern -. Und mit der Berufung auf die
Zeugnisse der Philosophen geht ihre stillschweigende Benutzung Hand in
Hand. Der christliche Gottesglaube nimmt stoisch-platonische Farben ■' an,
in den alttestamentlichen Schöpfimgsgedanken As-ird die stoische Vorsehungs-
lehre und Theodicee ' eingetragen (der Anfang schon I Clem. 20. 38). Und den-
') Sehr wirkungsvoll werden öfter die Strafgesetze aufgezählt, gegen die die
Götter sich vergangen haben ; Geflfcken S. 80. 273. 286. — Polemik gegen Homer, dem
seine VeriiTungen vorgerechnet werden, z. B. bei Minucius Felix K. 23, Pseudo-Justin
Oratio ad Graecos K. 1. Cohort. K. 2. Die älteren Vorlagen s. Geffcken S. XVHI
Helm (0. S. 39) S. 42. -') Die enge Verbindung von Philosophen und Dichtern
entspricht dem allgemeinen Bewusstsein der Zeit, o. S. 98, Geffcken S. 77. 171.
3) Stoischer und platonischer Gottesbegriff Avaren nicht mehr scharf geschieden
(Geffcken S. 35 ff'. 170), AAie vielfach angenommen Avird. Innnanenz oder Tran-
szendenz sind nicht mehr an die Stoa oder an die Akademie gebunden. Der Stoiker
Boethos (Zeller III 1 S. 5.54. .5.55), die Schrift llsol -/.öaiioy (Capelle Neue Jahrb. XV
S. .529), die Betonung der ethisch-religiösen Seite der Gottesidee in der Stoa seit
Poseidonios, die zur persönlichen Fassung drängt und den Pantheismus zurück-
treten lässt (Seneca, Epiktet), zeigt die Annäherung und den Austausch der Schulen
und bedeutet zugleich eine Bereicherung mit Stimmungen, die den christlichen
verAvandt sind. *) Eine gute Uebersicht über die stoische Theodicee gibt
jetzt Capelle, Arch. für Gesch. der Philos. XX S. 176 ff. Ihr Einfluss auf die christ-
Uche Literatur (Geffcken S. 34. 190j verdient eine gründliche Untersuchung. Ausser
den Apologeten sind besonders ergiebig die pseudoklementinischen Schriften.
Recogn. B. \TII 10—34 und auch sonst ist noch der Zusammenhang mit Poseido-
Grundgedanken der ApologetUc 155
uucli finden die Apologeten kein klares und widerspi-uchsloses Verhältnis zur
Philosophie. Die Vorstellungen dui'chlaufen die verschiedensten Nuancen von
der Annahme einer Üflenbarung- des göttlichen Logos in der heidnischen Philo-
sophie bis zu der eines an den heiligen Schriften begangenen Plagiates oder
der Verbreitung- der entstellten Wahrheit durch die Dämonen ; und die wi-
dersprechenden Auffassungen durchkreuzen sich öfter bei demselben Autor.
Neben freudiger Anerkennung der Denker hämische Freude an ihren Irr-
tümern und Sch\\ ächen, und die Vorstellung, dass ihre Tugenden im Grunde
doch nur glänzende Laster sind, dass ihre Lehre und ihr Leben sich wider-
sprechen \ Mit boshafter Schadenfreude wird der Anekdotenklatsch, durch
den die ausgeartete literarhistorische Forschung der Alexandriner die Bio-
graphie entstellt hatte, zur Herabsetzung der Philosophen hervorgeholt. Aus
dem bequem bereit liegenden IMaterial der doxographischen Handbücher wird
der Widerstreit der seltsamen Leute, die auf die alten Rätselfragen die
widersprechendsten Antworten geben und sich gegenseitig totschlagen, wir-
kungsvoll dargelegt und der Bankerott der antiken Philosophie konstatiert;
die gleichzeitige Skepsis z. B. Lucians treibt es ebenso. Und die religiöse
Philosophie der Zeit hatte es auch schon gelernt, eine sichere Erkenntnis
nm- von höherer Offenbarung zu erwarten, wie es die Apologeten tun. Der
Beweis für das Alter der christlichen Religion wird nach jüdischem Vor-
bilde (S. 114) gegeben; er verbindet sich beim Syrer Tatian mit heftiger
Invektive gegen griecliischen Kulturstolz und mit der Behauptung der Ueber-
legenheit der Barbaren -, von der ja die Griechen sich allmälilich auch zu
überzeugen anfingen (S. 16). Die Frage der Religionsfreiheit und die nach
dem Rechte des Vorgehens gegen die Christen wird erörtert, ohne dass die
entscheidenden Punkte mit juristischer Schärfe erfasst würden ■'. Die An-
griffe der Heiden erforderten eine Widerlegung und nötigten zum Eingehen
besonders auch auf die Stellung zu Staat und Gesellschaft. Die heidnische
Polemik hat frühzeitig zu literarischen Niederschlägen geführt, und die
Streitschriften gegen das Christentum zeigen einen festen Traditionsbestand
und eine Kontinuität, die der Geschichte der Apologien vergleichbar ist *.
Die scharfe und oft treffende Kritik, die Celsus z. B. an der Anstössigkeit
oder Unglaubwürdigkeit biblischer Geschichten übt, führt die Apologetik auf
ein neues Gebiet und hat ihr ernstliche Schwierigkeiten bereitet. Auch
hier tritt die Gemeinsamkeit der Voraussetzungen beider streitenden Parteien
wenigstens darin hervor, dass Origenes den Wortlaut mancher alttestament-
lichen Geschichten preisgeben muss imd sie nur durch allegorische Deutung
zu retten weiss. Der alte Streit um das Recht solcher Deutung erneuert
sich (S. 62. 151).
So zeigt uns die apologetische Literatur eine im Grundbestande ziem-
lich feste, in allen Einzelheiten fluktuierende, allmählich sich mehrende und
erweiternde Masse. Jüdische und heidnische Polemik wirken auf das Wachs-
tum dieser Literatur ein. Aber auch die besondere Bildung des einzelnen
und das im allgemeinen sich hebende Bildungsniveau führt immer neue Stoffe
nies sicher zu beweisen, ebenso in den Schriften des Eusebius. \) Auch in
der Beirrteilung- der Philosophen bietet das spätere Altertum, besonders Lucian,
viele Parallelen: Hehn S. 17. 40 ff. 81 ff. 227 ff. -) Aehnlich ist die Stim-
mung in den "Opo-. 'Aay.Är,-'.oO, Reitzenstein Poimandres S. .349. ^) Gefälschte
christenfeindliche Kaiseredikte werden als Waffe gebraucht, s. Geffcken, Nach-
richten der Ges. der Wiss. zu Göttingen, Philologisch-hist. Klasse 1904 8. 278 ff.
— lieber Interpolationen des Josephus s. Schwartz, Zeitschr. f. neutest. Wiss. L\
S. 59. 60. *) Geffcken S. 240. 241. 256 ff. 295 ff.
X56 iX Hellenismus und Christentum : 5 Chjristliche Apologetik
dem alten Bestände zu, der, vde war z. T. schon sahen, aus mythographischen
Handbüchern und den Historikern, aus dem doxographischen ^ und biogra-
phischen Zweige der philosophischen Literatur, aus den philosophischen
Debatten und Flugschriften der Gegenwart, aus der Kunstgeschichte und
den Schriften über Erfindimgen (o, S. IIH) sich bereichern Hess. Einzelne
Punkte, wie der Weissagungsbeweis und die Lehren von den Dämonen, von
der Auferstehung, vom Gericht finden eine immer eingehendere Erörterung
und zum Teil bald auch Behandlung in Spezialschriften. Der erfreulichste
Teil der apologetischen Schriften ist stets die Darstellung der neuen Fröm-
migkeit und des neuen sittlichen Lebens; da bringt fast jeder einzehie wert-
volle Zeugnisse, ergreifende Einzelzüge, originelle Wendungen. Aber die
Position des Kampfes zwang diesen Männern eine Aufgabe auf, der die
meisten von ihnen, besonders die älteren, in keiner Weise gewachsen waren
und die keine reine Lösimg gestattete. Es galt, das Evangelium in die ihm
nicht adäquate Form philosophischer Lehre umzusetzen, seine die Welt negie-
rende Ethik mit einer reich entwickelten Kultur auszugleichen '^ ; dabei
musste man vor den kaiserlichen Adressaten oder dem gebildeten Publikum,
an das man sich wandte, die Ansprüche der höheren Litteraturformen be-
friedigen, um den Beweis der Bildungsfreundlichkeit des Christentums zu
geben ; denn darauf hatte man es abgesehen, auch w^enn man mit der christ-
lichen Einfalt kokettierte. Die so entstandene Literatur einer Uebergangs-
zeit trägt in der Dürftigkeit ihrer Theologie, deren philosophische Orien-
tiermig das Wesen des Christentums nicht zum Ausdruck kommen lässt und
sehr wesentliche Anschauungen eliminiert oder neutralisiert, in dem oft hilf-
losen Ringen mit der Form, in der Unselbständigkeit der Gedankenbew^egung
und der oft sklavischen Abhängigkeit von der Tradition, die grobe Missver-
ständnisse und Irrtümer, Widersprüche und Inkongruenzen mit sich bringt,
in der Häufung des Stoffes und der Argumente, in der tendenziösen Mache
den Charakter zwitterhafter Halbheit an sich. Die christliche Literatur wen-
det sich hier zuerst an ein heidnisches Publikum, aber cUe ersten Schritte
auf dem fremden Boden sind imsicher und schwankend. Die ältesten Apo-
logieen tragen einen papiemen Stil an sich. Sie lehnen sich an fremde
Formen und an fremde Gedanken. Darum schleppen sie so viel veraltetes,
für die aktuellen Kämpfe der Gegenwart wertloses und unbrauchbares Mate-
rial mit sich. Darum geben sie im Grunde so w-enig aus für das Verständ-
nis der Religiosität ihrer eigenen Zeit, die wir aus ganz andern Quellen
uns lebendig machen müssen (K. X). Und doch was hätten diese Apolo-
geten uns von der religiösen Bew-egung ihrer Zeit erzählen können, wenn
nicht das Bildungsstveben und der Rationalismus ihnen das Prunken mit anti-
quarischem Materiale und das Ignorieren des Vordringens der orientalischen Re-
ligionen, die in der Apologetik erst seit der Mitte des III Jahrh. mehr Beach-
tung finden, geboten hätte ! Die Polemik gegen den Fatalismus bildet ein festes
Inventarstück der grösseren Apologieen -^ ; aber er ist hier eine philosophische
Lehre, die mit dialektischen Argumenten bekämpft wird, die wir besser aus
der scharfsinnigen Schrift des Peripatetikevs Alexander von Aphrodisias
(II Jahrh. n. Chr.) kennen leimen K Welche Gewalt der Schicksalsglaube
in der Religiosität der Zeit besass (K. X), lässt uns nur der Syrer Tatian
eben ahnen, wenn er von dem ungerechten Regimente der £C|j.ap|i£vr;, von
der Befreiung der Christen von der tyrannischen Planetenherrschaft redet
') S. Diels, Doxographi graeci, Berlin 1879. -) Schwartz, Hermes XXXVHI
S. 92. =) Geffcken 8. 244. 103. *) Supplementum Aristotelicuni II 2 S. 164 ff.,
Berlin 1894. Geffcken S. 103. 244.
Quellen. Vervollkoninimin«;- der literarischen Formen 157
(K. 8 ff. 29). Aber die Apolof>etik liat es wesentlich abgesehen auf eine
Auseinandersetzung mit der antiken Bildung. Den wahren Ertrag der grie-
chischen Denk- und Kulturarbeit will es dem (!hristentum als neue reiche
Gabe darbringen, ihn annektieren und um})rägen und sein besseres Besitz-
recht an der Philosoi)hie behaupten, wie es längst an den heiligen Schriften
der Juden geltend gemacht war. Die aus dem Osten vordringenden Reli-
gionen hab»n sich mit mancherlei Elementen der westlichen Kultur ver-
schmolzen; aber das Christentum ist weit über sie hinausgegangen, indem
es den Anspruch, die philosophische Wahrheit als seinen ursprünglichen Be-
sitz mit Beschlag zu belegen, vom .ludentum übernommen und konsequent
durchgeführt hat.
Wie im CTedankengehalte ein langsames Steigen des Bildungsniveaus, so
zeigt die Apologetik in den literarischen Formen die wachsende Annäherung
an die antiken Muster, die sich auf keinem andern Gebiete des christlichen
Schrifttums so vollständig verfolgen lässt. Die Eutwickelung bewegt sich
freilich nicht durchaus in gerader Linie, da die Fähigkeit der Gedankenfidi-
rung und die formelle Kunst durch die individuelle Bildung stark bedingt
ist; an oberfläclüichen und in ihrer Bildung zurückgebliebenen Skribenten,
die sich ohne jede Selbständigkeit in alten ausgetretenen Geleisen bewegen,
hat es keinem Jalu-hundert gefehlt. Aber im ganzen ist ein zunehmender
Fortschritt von gedankenarmer Abhängigkeit von der Tradition und unge-
schickter Entwickelung der Ideen zu freierer Bewegung, individueller Dar-
stellung, Beherrschung der Form zu beobachten. Aristides stellt sich noch
ebenso unselbständig und dürftig in den Ideen wie ungeschickt in der Form
dar. Die Komposition im Grossen ist ganz schematisch, die Einführungs-
und Schlussformeln der einzelnen Glieder sind von ermüdender Monotonie;
an ganz unnötigen Wiederholungen fehlt es nicht. Und auch Justin zeigt,
obgleich er sich schon mit grösserer Sicherheit und Freiheit auszusprechen
weiss, ein starkes Unvermögen, den Stoff übersichtlich zu disponieren, einen
Gedanken straff durchzuführen, eine bedenkliche Neigung zu Gedankensprün-
gen, Entgleisungen und Abschw^eifungen. Die Formgebung misslingt so oft,
weil er den Stoff nicht völlig beherrscht und mit fremdem nicht innerlich
verarbeitetem Gedankenmaterial operiert. Darum stechen die Partien, wo
er aus eigener Erfahrung und voller Kenntnis von der christlichen Sittlich-
keit und dem christlichen Gemeinschaftsleben redet, so vorteilhaft von ihrer
Umgebung ab. Und dass der Dialog mit dem Juden Tryplion, dessen reiz-
volle Einleitung den Einfluss antiker Motive ^ verrät, wenn man von der
durch die Sache gebotenen Ueberladung mit Bibelzitaten absieht, eine sehr
viel glücklichere Komposition zeigt, liegt doch wesentlich daran, dass er
hier sich in einer ihm vertrauteren Gedankenwelt bewegt. An ähnlichen
Schwächen, der Unklarheit der jedem Aiigenblickseinfall nachgebenden Ge-
dankenfolge , der völlig kritiklosen Benutzung trüber Traditionen , dem
Prunken mit falsch oder halb verstandener Gelehrsamkeit leidet Tatian, und
doch zeigt der Stil, der mit seiner unruhigen Bewegung und seinen zerris-
senen kurzen Gliedern, Antithesen und pointierten Wendungen bald an die
Diatribe, bald an das Raffinement der sophistischen Rhetorik erinnert, starke
schriftstellerische Berechnung und die formale Schulung der zeitgenössischen
Rhetorik; er straft die affektierte Verachtung der schönen Form, die er ge-
flissentlich hervorhebt, lügen. Der Brief an Diognet zeigt die ganze Ele-
ganz gefälligster, freilich auch an der Oberfläche der Probleme sich bewe-
gender Rhetorik.
») Helm S. 42.
158 IX Hellenismus und Christentum-. 5 Christliche Apologetik
Es hat einen eigenen Reiz zu sehen, wie auf diesem Gebiet der kon-
ventionellen Formen und traditionellen StolFmassen, die vielen, die besser
nicht zur Feder gegriffen hätten, die literarische Produktion erleichterten,
doch allmählich sich literarische Persönlichkeiten mit individuellerer Haltung
erheben. Die übernommenen Stoffmassen werden schärfer gesichtet und in-
nerlich verarbeitet. Unbrauchbares Avird beiseite gelegt, bessere Quellen ge-
sucht, die lose aneinandergereihten Gedanken werden zu strafferer Einheit
zusammengefasst. Schon Athenagoras bezeichnet einen Fortschritt. Und
kann noch Clemens der Fülle der andrängenden Anschauungen nicht Herr
werden und seinen Stoff nicht planmässig disponieren, so zeigt er doch die
hoffnungsvollsten Ansätze zu einer freieren und reicheren Ausgestaltung der
apologetischen Gedanken. Und so erstehen in Origenes und Eusebius ' In-
dividualitäten, die trotz mancher Schwächen ihrer literarischen Komposition
durch das Mass ihres Wissens, die Herrschaft über die Form, die Sicherheit
und das starke Bewusstsein ihres religiösen Besitzes den besten Vertretern
tler zeitgenössischen heidnischen Kultur sich durchaus gewachsen, ja über-
legen zeigen.
Die römische Apologetik stellt sich von Anfang an, wenigstens dem
schriftstellerischen Vermögen nach, sehr viel erfreiüicher dar. Die anmutige
Szenerie, das Geschick der dialogischen Einkleidung, die Fähigkeit der Cha-
rakterisierung, der in der Apologetik seltene und darum wohltuende Ton der
Urbanität, cüe Eleganz der Stilformen und rhetorische Koncinnität der
Glieder- lassen in Minucius Felix den in rhetorischer Schule gereiften und
an besten Mustern gebildeten Autor erkennen. Die alten Motive erhalten
hier individuelle Farbe und originelle Gestalt. Es zeugt von Kunstgefühl,
dass auch der Gegner seinen Standpunkt ^A-irkungsvoll und einnehmend ent-
faltet. Von skeptischen und epikureischen Zweifeln, die meist Ciceros Dialog
De natura deorum entlehnt sind, ausgehend, erreicht Cäcilius' Rede die Höhe
in der Entwickelung des von echtem Patiiotismus eingegebenen Gedankens,
dass die grosse Vergangenheit Roms und seine glorreiche Geschichte für die
Macht der römischen Religion zeuge und dem guten Bürger die Pflicht auf-
lege, den alten Glauben treu festzuhalten, um dann auf die den Christen
vorgeworfenen Frevel und auf ihren Wahnglauben einzugehen. Die W^ider-
legung führt zuerst Gedanken der stoischen Theologie im Anschluss an Ci-
cero gegen die philosophische Skei)sis ins Feld, wirft sich dann mit ganzer
Wucht und rücksichtsloser Energie auf den Nachweis, dass Rom nicht durch
Frömmigkeit, sondern durch Ungerechtigkeit, Frevel, Bluttat gross geworden
sei, um endlich den Widersinn der gegen die Christen gerichteten Verleum-
dungen aus der Höhe des Bewusstseins christlicher Sittlichkeit aufzuzeigen.
Dann der stürmische Tertulhan mit dem Raffinement seiner Dialektik, der
bedeutenden Fähigkeit, alte Gedanken in prägnante Formen umzusetzen und
ihnen eigene Prägung zu geben, mit neuen Wendungen und Pointen immer
neue Wirkungen zu erzielen, mit der flackernden Unruhe des alten Diatri-
benstiles, ein sprachschöpferischer Geist, der aus den Tiefen der Volkssprache
neue Kräfte zu schöpfen wusste. Es ist, als wenn die Römer den Kampf
mit dem vollen Bewusstsein seiner politischen Tragweite und darum mit
1) Zu welcher Hen-schaft über die antiken literarischen Formen, Methoden,
Kunstmittel Eusebius vorgeschritten ist, zeigt für die Kirchengeschichte Schwartz'
Abhandlung über deren Oekonomie in Bd. 11 seiner Ausgabe. '^) Norden,
De Minucii Felicis aetate et genere dicendi, Greifswald 1897. — Norden und
Geffeken treten für die Priorität des Minucius vor Tertullian ein, anders Kroll,
Rhein. Mus. LX S. 307 ff.
Verflachung des Evangeliums. Abhängigkeit von der iJildung der Zeit 159
einer packenden Leidenschaft führten, M'elche die griecliischen Apologeten klein
und schwächlich erscheinen lässt. „Drei Namen, wie TertulHan, Laktanz,
Augustin wiegen alle hellenischen Ai)ologeten auf, so bedeutend Eusebius,
namentlich als Gelehrter bleibt'- (GelTcken S. 277).
Es ist nicht leicht, zu einer unbefangenen Beurteilung der A})ologeten
zu gelangen. Von der Ueberschätzung ist man ja glücklich losgekommen
und hat sich meist entwöhnt, ohne Einschränkung von den tiefen Studien
und der umfassenden Gelehrsamkeit, von der originalen Philosophie und
dem Gedankenreichtum der Apologeten bewundernd zu reden. Eine treue
und unverfälschte Wiedergabe des Christenglaubens kann den Männern nicht
zugeschrieben werden, die ihn in die Formen der griecliischen Philosophie
fassen, mit ihren Ideen bereichern und nach ihren Fragstellungen in der
Richtung der Metaphysik zu erweitern beginnen; was freilich nicht im ge-
ringsten ausschliesst, dass sie sich mit dem Gemeindeglauben eins gewusst
haben. Legt man an sie den Massstab des Urchristentums, so bezeichnen
sie zweifellos eine Verarmung und Entleerung des spezifisch christlichen
Geistes, eine Verkümmerung seiner stärksten Motive, ein Sinken des reli-
giösen Niveaus, „eine Beraubung durch die Philosophie". Freilich kann
diese Herabstimmung des christlichen Geisteslebens und die Ermattung seiner
ursprünglichen Triebkräfte nach den ersten Zeiten seiner originalen Entfal-
tung mit ihren tiefen Erregungen und Spannungen und mit der reichen
Entwickelung des religiösen Lmenlebeus fast wie eine Notwendigkeit er-
scheinen, und dies Nachlassen der Kräfte ist ja überhau})t für das nachapo-
stolische Christentum charakteristisch. In eine neue Welt verpflanzt, andern
Lebensverhältnissen imd Kulturbedingungen gegenübergestellt, in die Sprache
und die VorsteUungswelt der griecliisch-römischen Menschheit eingehend,
vom religiösen Niveau auf das verstandesmässiger Reflexion übertragen, musste
der neue Glaube viel von seinem ursprünglichen Charakter und von seinem
originalen Gehalt einbüssen.
Die neuen Aufgaben, die mit der Propaganda des Evangeliums in der
heidnischen Welt gegeben waren, fassen die Apologeten, äusserUch betrachtet,
im weitesten Sinne. Sie woUen das Pacit der antiken Kulturentvdckelung
ziehen, das gesamte geistige Erbe der Vergangenheit überschauen und ent-
scheiden, was das Christentum sich zu eigen machen, was es ablehnen soll.
Dass sie sich das Ziel so hoch zu stecken wagen, hängt damit zusammen,
dass sie sich der Schwierigkeiten der Aufgabe und des eigenen Unvermö-
gens nicht bewusst sind. Ihre Sachkenntnis ist zu gering, als dass sie des
richterlichen Amtes gerecht walten könnte. Und ihre Stellung zur antiken
Kultur ist widerspruchsvoll : Auf der einen Seite treibt sie der Kampfeseifer,
die Gegensätze zu suchen und scharf zu accentuieren, die Schatten geflis-
sentlich hervorzukehren, eine dunkle Folie für den strahlenden Glanz des
Christentums zu schaffen und auch schlechte Mittel zu dem Zwecke nicht zu
verschmähen; auf der andern Seite sind ihnen oft die tiefsten Gegensätze
(S. 131 ff.) verhüllt und verschleiert, weil sie das Evangelium schon in Vor-
stellungsformen und Begriffe der Zeitbildung aufgenommen und damit ver-
schmolzen haben. Sie wollen für den neuen Glauben gegen die alte Welt
streiten, und in Wahrheit setzen sie zum Teil den Kampf geistiger Strö-
mungen, die sich schon in der antiken Welt befehdet haben, nur um einige
neue Streitpunkte und Kampfmittel bereichert, fort.
Aber um gerecht zu sein, dürfen wir nicht vergessen, dass die Unbe-
fangenheit und Sachlichkeit des Urteils, die der leidenschaftslose Richter
aus grösserem zeitlichen Abstände zu finden vermag, von dem in der Hitze
des Kampfes und im lebendigen Strome der Entwickelung Begriffenen nicht
160 1>^ Hellenismus und Christkntum: 5 Chhlstlichb Apologetik
zu evAvarten ist. Und die Schwächen und Einseitigkeiten der älteren Apo-
logetik werden begreiflich, wenn wir sie mit dem Malie der Kultur ihrer
Zeit messen. Die Apologeten haben im besten l^'alle die Durchschnittsbil-
dung ihrer Zeit, und diese Zeit hat keine lebenskräftige Kultur und kein
tiefes und reiches Geistesleben mehr (S. 32 ff'.). Das einseitige Streben nach
formaler Bildung hat den \vissenschaftlichen Sinn verkümmern lassen. Man
bezieht allgemein sein Wissen aus Kompilationen und dürftigen Kom])endien.
Man liest die Klassiker zwar, aber man liest sie wesentlich als Stilmuster.
Man sucht im Gefühl der eigenen Schwäche und des Epigonentums seine
Ideale in der Vergangenheit, man bereichert sich aus ihr mit romantischen
Stimmungen, aber man bringt es so doch nur zu einer gemachten und künst-
lichen Kultur, die sich an der Oberfläche bewegt und des inneren Lebens
entbehrt; und es fehlt ganz an dem verfeinerten historischen und psycho-
logischen Sinne, um die Kräfte des früheren geistigen Lebens verstehen und
tiefer ergreifen zu können. So wird die nach rückwärts gekehi'te, dem Le-
ben abgewandte Betrachtung zu einer drückenden Last für ein Geschlecht,
das den stärksten Glauben an die Autorität des Alten hat und überzeugt
ist, dass alle geistige Arbeit längst getan. Wissen die Summe früher ge-
fundener Wahrheiten, Bildung Aneignung fremder Gedanken ist. Der Pjin-
fluss der Popularphilosophie und auch der Rhetorik ihrer Zeit auf die Apo-
logeten ist schon in einzelnen Punkten hervorgehoben worden; sie sind aber
überhaupt nur aus der Bildungss})häre ihres Zeitalters zu begreifen. Aus
ihr erklären sich zum guten Teil die Schwächen der älteren Apologeten, die
Dürftigkeit ihrer historischen Kenntnisse, die kritiklose Benutzung abgeleiteter
Quellen, die archaisierende und antiquarische Richtung, der Eklektizismus,
durch dessen trübes Medium sie die Geschichte der Philosophie sehen, der
Gharakter des Unfreien und Angelernten, des Fragmentarischen und Unaus-
geglichenen, der ihrer Schriftstellerei anhaftet, die Bücherluft, welche die
meisten atmen. Es sind Fehler, die sie mit ihrer Zeit teilen, einer Zeit, die
arm ist an geistiger Produktion und an literarischen Individualitäten.
Man muss, um das rechte Augenmass für die Schätzung der Apologeten
zu gewinnen, das Ziel ins Auge fassen, das die von ihnen eingeleitete Ent-
wickelung erreicht hat. Sie inaugurieren den weltgeschichtlichen Prozess,
in dem das Evangelium unter dem Einflüsse der griechischen Philosophie
sich umgestaltet zu einer umfassenden philosophischen Weltanschauung, die
als festgeschlossenes Ganzes den Kampf mit dem Hellenismus bestehen und
ihn überwinden konnte, indem es seine besten Kräfte und Gedanken sich
aneignete. Mag man die starke Einbusse spontanen religiösen Lebens, die
dieser Prozess für die Individuen bedeutet, bedauern, man rauss ihn als eine
Notwendigkeit begreifen und den Segen, den er durch die Bewahrung des
Erbes antiker Kultur und der Kontinuität des geistigen Lebens gebracht
hat, anerkennen. In den schwachen Anfängen der Apologetik schon wird
der nicht nur Verkürzung und Verkehrung des Christentums, sondern zugleich
die hofi*nungsvollen Keime zu einer neuen Entwickelung erkennen, der den
Massstab hernimmt von den Höhen, die der Prozess in Origenes und Au-
gustin erreicht. Man mag zweifeln, ob in ihren Systemen heidnische Meta-
physik oder das Evangelium überwiegt, aber man wird sie für die Kultur-
geschichte der Menschheit so wenig missen mögen, Mie ihre Rivalen, die
Neuplatoniker. Die Notwendigkeit und den Gewinn dieser Entwickelung
kann auch der anerkennen, der unsere Zeit dazu für reif hält, den von jeder
Hellenisierung oder Modernisierung befreiten urchristlichen Gedanken und
Motiven Verständnis und Empfänglichkeit entgegenzubringen.
Bedeutimg der Apologetik. Hypothesen über L'r.spriiuy der Gnosis. iGi
X
SYNKRETISMUS UND GNÜSTIZISMUS
EdeEaye, Introduction ii l'etude du guosticisme, Bd. XLV. XLVl der Revue
de riiistoire des religions (auch besonders erschienen Paris 1003), <^il>t eine vorzüg-
liche Einführung in die Probleme. — Pflkidkrers Darstellung Bd. II hat ein be-
sonderes Verdienst durch die Berücksichtigung der apokryphen Apostelgeschichten.
— Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, Te.xte und Unt., her. von
Gebhardt und Harnack, XV 4, hat in der Lehre von der Himmelfahrt den Mittelpunkt
vieler Systeme erkannt und ihre Grundformen dargelegt. — Bousskt, Die Hini-
melsreise der Seele, Archiv für Religionswiss. IV S. 136—169. 229 — 273. — Eine
bequeme Uebersicht über das ganze Material gibt Hilgexfeld, Die Ketzergeschichte
des Urchristentums, Leipzig 1884.
So reich im einzelnen der Ertrag der neueren Arbeiten über den Gno-
stizismus ist, so lassen doch auf diesem Gebiete die religionsgeschichtliclien
Forschungen in noch grösserem Masse als die das Quellenverhältnis der
antihäretischen Schriften behandelnden Untersuchungen leicht das Gefühl auf-
kommen, als wenn die Hypothesen sich gegenseitig widerlegten und aufhöben,
als wenn trotz aller Bemühungen ein sicherer Ertrag der Erkenntnis in den
prinzipiellen Fragen überhaupt nicht zu verzeichnen wäre. Durch zwei Ein-
seitigkeiten, die zu überwinden erst der Anfang gemacht ist, haben die neue-
ren religionsgeschichtlichen Forschungen diesen ungünstigen Eindruck selbst
verschuldet. Unter der Nachwirkung der Tatsache, dass die kirchliche Polemik
eine Fülle religiöser Gebilde als gleichartig zusammengefasst, alle Avillkürlich
mit dem Namen Gnosis belegt und mit wachsender Leidenschaft als Entstel-
lungen christlicher Lehre, als antichristlich und antikirchlich bekämpft hat,
war man daran gewöhnt worden, alle diese mannigfaltigen Erscheinungen als eine
im letzten Grunde einheitliche Grösse anzusehen. Man fragte nach dem Ur-
sprünge der ganzen Bewegung, und man meinte einen gemeinsamen Aus-
gangspunkt finden zu können. Die Frage nach der Entstehung der Gnosis
wurde sehr verschieden beantwortet: Orphismus, babylonische Religion, Par-
sismus, Buddhismus, ägyptische Religion, gnostisches Judentum oder Philo-
nismus erschienen in buntem Wechsel als der Zauberstab, mit dem man alle
Türen meinte öffnen zu können. Andere glaubten an der Hand der traditio-
nellen Successionsreihen, die doch zum Teil ebenso willkürlich konstruiert
sind wie oft die antiken C'.OLOoyjyl der Philosophenschulen, die wahren Grund-
linien der geschichtlichen Entwicklung begreifen zu können. Dann haben
für Hippolyt wenigstens Salmon-Stähelin versucht, das tiefer liegende
religionsgeschichtliche Problem in ein rein literarhistorisches zu verwandeln.
Sie meinten, von dem richtigen Eindruck der weitgehenden Verwandtschaft
mancher in Hippolyts Elenchos behandelter Systeme in Grundgedanken,
Motivierung, Exemplilizierung ausgehend, die Einheit auf die literarische
Mache eines Fälschers zurückführen zu können, welcher der vielköpfigen
Hydra der Gnosis noch einige neue Häupter hinzugefügt, mit den Produkten
seiner Phantasie Hippolyt düpiert und ihm ein A\'illkommenes Mittel gegeben
hätte, die Häresien vollends zu diskreditieren.
Das allen diesen Versuchen zugrunde liegende Gefühl einer gewissen
Einheit und eines inneren Zusammenhanges der diese sehr komplexen Bil-
dungen beherrschenden Grundmotive war nicht unberechtigt, so bedenklich
die Art war, wie vielfach die Differenzen übersehen und die verschieden-
Lietzmann, Handbuch z. Neuen Test. I, 2. 11
162 ^ Synkretismus und Gnostizis.mus
artigen Ersclieinuiigen unter einheitliche Formehi gezAvungen wurden. Dass
man den geschichtlichen Grund der Gleichartigkeit nicht tinden konnte, lag an
einer zweiten Einseitigkeit, an der Isolierung dieses Forschungsgebietes von
der allgemeinen hellenistisch-römischen Religionsgeschichte. Den Einfluss
des heidnischen Synkretismus auf die Gnosis verkannte man nicht; aber die
Vorstellungen, die man von ihm mitbrachte, waren noch so vage, dass sie
die Forschung nicht ernstlich fördern konnten.
Der ..Gnostizismus'' ist nach seinen heidnischen Elementen eine Teil-
erscheinung des mit Alexander und für die orientalischen Religionen schon
früher beginnenden religionsgeschichtlichen Prozesses, dessen Wesen man mit
den Schlagwörtern bezeichnen kann: Entwurzelung und nationale Entschrän-
kung der Religionen, Austausch und Annäherung, Hellenisierung des Orien-
talischen, Vergeistigung durch spekulative Uradeutungen, Vertiefung durch
die Bedürfnisse des besonders in den orientalischen Kulten gepflegten reli-
giösen Individualismus. Das Gemeinsame der ,,gnostischen" ^ Religionsbil-
dungen ist, dass das Christentum in die vom Osten mächtig vordringenden Ten-
denzen der Ausgleichung und Verschmelzung der Religionen hineingezogen
wird. Dass der Einfluss, den das Christentum ausübt, und der Anteil, den
es beisteuert, in den einzelnen Erscheinungen, die man unter dem Namen
Gnosis umfasst, ein sehr verschiedener ist, dass er alle Stufen von zentraler
Beherrschung bis zur peripherischen Stellung und zufälligem Accidens durchläuft,
wird später an Beispielen gezeigt werden. Das gnostische Quellenmaterial
hat auch für den Religionshistoriker des Hellenismus exemplarische Bedeu-
tung, weil er hier für drei Jahrhunderte die treibenden Kräfte der allgemeinen
religiösen Bewegung in den Niederungen der volkstümlichen Propaganda wie
auf den Höhen der Spekulation, in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkungen
und in dem Reichtum ihrer Produktionen an Originalquellen studieren und
in einer Art beobachten kann, wie es sonst nur die religiösen Papyri -
ermöglichen, nicht die überwiegend die Höhenlagen darstellende Literatur.
Die den Gnostizismus beherrschenden Tendenzen und Hauptströmungen
offenbaren sich schon in der früheren hellenistisch-römischen Entwicklung.
Für die ägyptische Religion haben wir verhältnismässig reiches Jlaterial •*,
um den Prozess der hellenisierenden Umbildung, Sublimierung, spekulativen
Vergeistigung übersehen zu können, von Manetho und Hekataios, Apion und
Chairemon Bruchstücke oder reichliche Exzerpte, dann Plutarchs theologische
Schriften und Horapollos Werk; wir hören von manchen Schriften, die be-
stätigen, wie lebhaft das Interesse an der ägyptischen Religion, wie mannig-
fach die Versuche waren, eine Annäherung an die griechische auf i)hiloso-
])hischer Grundlage herbeizuführen. Diese Literatur ist zum Teil eine Be-
gleiterscheinung der Propaganda der Kulte, und wir beobachten von Plutarch
bis zu den Neuplatonikern, wie die Schätzung auch der für den gebildeten
') Man mag den engeren Begriff Gnosis aus praktischen Rücksichten fest-
halten, wenn man sich nur bewusst ist, dass man nach der Verwandtschaft der
Methoden und Ziele mit gleicliem Rechte von heidnischer Gnosis z. B. in chaldäi-
schen Orakeln und hermetischen, plutarchisclien und neuplatonischen Schriften
reden darf. -) Nur sie gewähren sonst, abgesehen von gelegentlichen Zeug-
nissen der Schriftsteller, einen Einblick in die reiche volkstümliche und darum
schnell vergängliche Literatur auf diesem Gebiete. Denn ausser den Massen der
zufällig erJialtenen ägyptischen Papyri hat uns die literarische Tradition ja fast
nur Schriften erhalten, die der Stil geadelt zu haben schien. — lieber Gnostisches
in den Papyri s. Dieterich, .Jahrb. Suppl. XVI S. 704 ff. und Abraxas. ^) Vgl.
Otto a. a. 0. II S. 215 ff., o. S. 1.5. 68 ff. und besonders Reitzensteins Poimandres.
Religionsgeschichtliche Stellung der (inosis 163
Geschmack überwundenen und absurden Relif?ionsformen, Gebräuche, Sym-
bole zusehends wächst. Wir wissen, dass auch ä^'yi»tisc-hc Priester an dieser
hellenisierenden Umgestaltnnt>' ihrer Religion nicht unbeteiligt gewesen sind,
die sie ja schon vor der hellenistischen Zeit durch theologische Spekulatio-
nen vorbereitet und erleichtert hatten. Die sjjekulative Zersetzung der Reli-
gionen ist der Boden und die Voraussetzung für die durch Steigerung des
religiösen 'Lebens veranlassten Neubildungen der chi-istlichen Zeit.
Auch die phrygische Religion und die des Mithras ist in hellenistischen
Schriften behandelt worden. Für die syrische Religion haben wir die Schrift
eines zwar ungläubigen, aber doch scharfen Beobachters (Lucian De dea
Syria). Die orientalischen Religionen treten uns bei ihrer Propaganda im
römischen Reich in stark umgewandelter Gestalt entgegen, und zu dieser
Umbildung haben Anpassung an verwandte Kulte, Uebernahme griechischer
Formen, theologische Spekulation mitgewirkt. Die Götter gewinnen eine
weitere kosmische Deutung und einen universalen Zug. Die angesehensten
und in ihrer Propaganda siegreichsten Götter absorbieren stamm- oder wesens-
verwandte Gestalten oder ordnen sie sich als Begleiter unter ^ ; Mischgestal-
ten werden durch Kombination gescliailfen, kosmologische und theologische
Spekulationen heften sich an die Kulte und bilden die Religion zu einer
Art Weltanschauung um. Die ägyptische Religion zeigt sich besonders bild-
sam und fähig, Vehikel aller möglichen philosophischen Ideen zu Averden.
Die vom Osten vordringende Astrologie, von Anfang an schon Produkt des
orientalischen Synkretismus, tritt zugleich als Religion und als Weltanschau-
ung auf und passt sich die heterogensten Elemente an. Aber selbst die
syrischen Baale treten uns bei ihrem Vordringen nach dem Westen in ganz
neuer Geltung als Sonnengötter entgegen; auch hier wird der theologischen
Arbeit die Erweitervnig ihres einst sehr beschränkten Bereiches zu umfassen-
der kosmischer Bedeutung zu verdanken sein-.
Das Christentum hat sich am frühesten und intensivsten in Syrien,
Kleinasien, Aegypten verbreitet, den Ländern, die durch ihren besonderen
W^ohlstand und ihre hohe Blüte in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit
in hervorragendem Masse die materielle Kultur und den Bildungsstand des
Reiches bestimmt haben. An fremdartigen Einflüssen auf das Christentum^
und mannigfachen Ausprägungen desselben hat es schon auf diesem Boden
nicht gefehlt, wie Avir Einwirkungen der Art S. 107 sogar auf versprengten
Posten des Judentums kennen gelernt haben. Die bedenkliche Spaltung und
Mannigfaltigkeit der Gemeinschaften, die sich christlich nannten, ist durch die
straffe Kirchenorganisation erst seit dem II Jahrh. allmählich beseitigt Avorden.
Im phrygischen Montanismus sehen Axdr die Erscheiniingen der ekstatischen
Rebgion, die in diesem Lande epidemisch Avaren, in christlicher Form wieder
lebendig Averden. Der christliche Charakter der Aberkiosinschrift lässt m. E.
sich nicht bestreiten, aber das Christentum der Grosskirche ist es nicht, zu
dem die Gemeinde des hierapolitanischen Bischofs sich bekannt hat.
Das Christentum dringt auf denselben Wegen und in denselben Jahr-
hunderten nach dem Westen vor, in denen die orientalischen Religionen ihre
grossen Eroberungen machen. Auch diese bedienen sich der y.ovn^ als des
Organes ihrer Propaganda'. Auch sie sind in einem Hellenisierungsprozesse
^) Beispiele bei Cumont 8. 75 ff. -) Cumont 8. 14.5 ff., vgl. Lidzbarski,
Baisamem, Ephemeris für semitische Epigraphik 1 S. 243 ff., und über die Mischung
der Kulte in Syrien überhaupt Schürer II S. 21 ff. ^) lieber Kleinasien s.
Harnack, Mission II S. 1.55 ff. ^) Aber sie mischen, um sich den Nimbus
des Heiligen und Unverstandenen zu geben, Wörter der ursprünglichen Kultsprache
II*
llji X Synkretismus und Gnostizismus
begriffen, wie ihn ähnlich das Christentum durchzumachen gehabt hat. vSie
sind beherrscht von verwandten Motiven: Streben nach Reinheit und Erlö-
sung, rigoroser Askese, SeHgkcitshoffnung, Verh\ngen nach neuen Offenba-
rungen und Mysterien. Kein Wunder, dass diese Kulte vielfach geneigt waren,
mit der neuen Religion als einem mächtigen Bundesgenossen sich zu verei-
nen, wie sie sich mit einander vielfach verschmolzen, und sie in den Strudel
der allgemeinen Religionsmischung zu ziehen. Liess sich nicht auch der
Stoff der christlichen Religion durch ty])ologische und symbolistische Be-
trachtung den allgemeinen Ideen der Erlösungsreligionen dienstbar machen?
Liess sich nicht Jesu Leben so gut wie das des Osiris, des Attis, des Mithras
als eins der Bilder des leidenden, sterbenden, wieder auflebenden Gottes
darstellen, ein typisches Vorbild des qualvollen Leidens und Ringens, das
sich Menschenlos und Menschenschicksal nennt, eine Versicherung zugleich
des Glaubens an die Seligkeit der Erlösung ? Wie lockend und rührend
erklingt selbst Celsus' und Por])hyrios' Ruf an die Christen, in ihr Lager
überzugehen ; sie Avussten nicht, dass ihre sarkastische Kritik der heiligen
Schriften jede Verständigung ausschloss. Am Manichäismus haben wir ein
sicheres Beispiel aus späterer Zeit, wie eine orientalische Religion bei ihren
Verstössen nach dem Westen nicht nur andere synkretistische und gnostische
Bildungen absorbierte, sondern auch sich zum Zwecke dei' Propaganda zu-
sehends christianisierte '''.
Der Anstoss zu den gnostischen Bildungen ist ausgegangen von der reli-
giösen Invasion des orientalisch-hellenistischen Synkretismus. Wie die Sek-
tiererei sich stets mit Vorliebe einen religiös fruchtbaren Boden zur Be-
stellung wählt, so hat jene Bewegung sich mit besonderer Macht auf die
christbchen Gemeinden gestürzt^. Schicksale und Geschichte der orienta-
lischen und der gnostischen Kulte laufen vielfach parallel und bezeugen den
engen Zusammenhang beider Erscheinungen : In beiden dieselbe unendliche
Verzweigung des Konventikelwesens, dieselbe Triebkraft zu immer neuen
Bildungen, dieselbe Vorliebe für religiös dramatische Schaustellungen. In
beiden dieselbe starke Spannung der Kontraste, die wir auch im kirclilichen
Christentum sich verstärken sahen : Das dualistische Weltbild, Geist und Sinn-
lichkeit, rigorose Askese und lasziver Libertinismus oft aus einer Wurzel
hervorspriessend. In beiden die Unterwerfung des religiösen Stoffes unter
Ideen, die spekulative Auflösung des Historischen. Die Abhängigkeit
von den Zeitströmungen lässt in beiden Kreisen den Piatonismus eine wach-
sende Macht gewinnen, lässt aber zugleich — was nur ein scheinbarer
Widerspruch ist; denn der Piatonismus selbst macht die gleiche Entwicklung
durch — antiquierte und absurde Gebräuche, rohe Zeremonien, grotesken
ein (Dieterich, Mithrasliturgie S. 39, Helm S. 25). Auch dafür fehlt es nicht an
urchristlichen Parallelen, z. B. Abba, Maran Atha. ') In den Zauberpapyi-i,
den chaldäischen Orakeln, bei Numenius und Porphyrius beobachten wir auch Auf-
nahme jüdischer Elemente. -') Ueber die Möglichkeit, dass auch die Apostel
des Mithras gelegentlich Anleilien beim Christentum gemacht haben, s. Harnack.
Mission II S. 273. Auch Dieterich, Mithrasliturgie S. G8- weist sie nicht ab. Er
selbst bemerkt S. 59 ', dass in dem von ihm behandelten Text S. 4, 4 die Bildung
des Menschen Otiö ßpaxiovogi iwzi\xo'j xal Segiä; ans Alte Testament ankHngt, 4, 20
•}T.b v.^ä.-rj');, (jLsya^-'sSuvdcixou y.al Ssgtä; yz'.^öq. und 8, 18 y.?.sli)-pa toO oupavoO vgl. die Pa-
rallelen in Hatch-Redpath, Konkordanz zur LXX S. 784. 767 (anderes in Cumonts
grossem Mithraswerk I S. 41 "). Die Kindheitsgeschichte des Mithras ist vielleicht
nach der Jesu gestaltet: Cumont a. a. O. I S. 341. '') Vgl. Harnack, Mission
n S. 263.
Orientalische Relig'ioneii und Gnostizismus 165
Aberglauben und Besclnvörung, ]\loder und Schutt alter Vergangenheit in
immer breiteren Massen autkommen. Auf beiden Seiten Religionen, die sich
in mehreren Stockwerken erheben, wie sich auch schliesslich das kirchliche
Christentum, nur in edleren Formen, darstellt; den Gebildeten reicht man
die feinere Speise der Spekulation, dem Pöbel das tägliche Brot des Aber-
glaubens. Beide nach dem Westen und vor allem nach Rom stürmisch vor-
drängenden Bewegungen erlangen im III .lahrh. die weiteste Verbreitung
und Verzweigung. Die Kirche bezwingt zuerst den in ihre Mauern einge-
drungenen Feind und geAvinnt dann den Sieg über ihre orientalischen Kon-
kurrenten.
Die Erscheinungsformen des Gnostizismus sind ebenso mannigfaltig wie
die des religiösen Lebens der Zeit überhaupt. Ist die Bewegung von aussen
in die Christenheit hineingetragen, so sind doch die Mischungsverhältnisse,
in denen Christliches und Heidnisches sich verbunden haben, sehr verschieden.
Wir haben Gebilde, in denen das Christliche nur wie ein zufälliger Einschlag
erscheint und vielleicht wirklich eine spätere Zutat ist. Wir haben andere
Formen, wo die christlichen Motive, Stimmungen, Gedanken überwiegen, der
heidnische Einfluss sich nur in der Formensprache und in Uebernahme un-
wesentlicher Elemente verrät. Dort mag der Heide einige christliche Reiser
auf heidnischen Stamm gepfropft haben ; liier mag ein kirchlicher Christ,
der sich durch die Reize einer orientalischen Mysterienlehre hatte fangen
lassen, sein Christentum mit einigen fremden Elementen versetzt haben.
Es über-^degen in unseren kirchlichen Quellen begreiflicherweise die Systeme,
in denen die christliche Lehre als der innere Kern erscheint, um den sich
die heidnischen Schalen angesetzt haben. Die Tatsache, dass die Ketzerbe-
streiter ihr Interesse wesentlich auf die christlichen oder christlich infizier-
ten Kouventikel richteten, verschleiert uns wahrscheinlich die Erkenntnis,
wie viele rein oder überA\degend heidnische Konventikel der Art es gegeben
hat. Die Grenzen der „gnostischen" Gemeinden nach der Richtung der
orientalischen Kultvereine sind gCAAiss ebenso fliessend und unbestimmt ge-
wesen Avie die nach der Grosskirche liin. Um die ganze Gefahr, mit welcher
der Gnostizismus die Kirche bedrohte, zu begreifen, muss man sich nicht
nur die Tatsache vergegenwärtigen, dass die Kirche erst im Kampfe mit
dieser flutenden Bewegung erstarkt ist und ihre straffe Organisation, den
Kanon, das Bekenntnis geschaffen und als sichere Grenzmarken ihres Be-
standes festgestellt hat ; man muss sich auch klar machen, welchen starken
Rückhalt, welche Quellen beständiger Erneuerung die gnostische Bewegung
an der orientalischen Propaganda hatte, der sie ihre Entstehung verdankt.
Die Forschung ist noch weit entfernt, auf diesem Gebiete die letzten
Früchte der Erkenntnis pflücken zu können. Zunächst ist sogar Verzicht
auf das letzte und höchste Ziel geboten und vor allem die dringende Auf-
gabe der sorgfältigen Analyse der einzelnen Gebilde in ihre besonderen
Elemente in Angriff zu nehmen. Berufen zu solcher Arbeit ist nur, wer die
religiöse und pliilosophische Entwicklung der hellenistischen Zeit übersieht
und die älteren Quellen der orientalischen Religionen zu benutzen weiss.
Hier möchte ich nur an der Analyse einzelner gnostischer Gebilde und der
Geschichte einiger Ideenkomplexe das Bild der ganzen EntA\-ickeIung, wie
ich es in grossen Zügen zu zeichnen gewagt habe, zu bestätigen suchen und
vor allem den weitgehenden Parallebsmus und engen Zusammenhang rein
heidnischer und .,gnostischer" Religionsbildungen erläutern.
Die Lehre vom Aufstieg der Seele zum Himmel ist besonders geeignet,
um den Synkretismus, wie er sich in den verschiedensten Mischungen der
Völkervorstellungen, religiöser und philosophischer Traditionen darstellt, an-
IQQ X Synkretismus und Gnostizismus
sohaulich zu machen. Weit verbreitet ist in dieser Zeit die Lelire, dass die
Seele vom Himmel niedersteigend die Eigenschaften der Planetensphäi*en,
durch die sie hindurchgeht, annimmt, um schliesslich ins leibliche Dasein
einzugehen. Nach dem Tode hat sie die Himmelsreise in umgekehrter
Richtung zurückzulegen, um auf den einzelnen Stationen die Bedingungen
des irdischen Daseins abzulegen und gereinigt in ihre urs])rüngliche Heimat,
in das Reich des Lichtes zurückzukehren. Der Kreis dieser Vorstellungen
weist nach dem Orient, besonders auf den Einfluss babylonischer Astralreli-
gion, die dem Westen längst auf mancherlei Wegen vermittelt war, auf
griechischem Sprachgebiet mit den verwandten Vorstellungen anderer Völker
und philosophischen Ideen vielfach verschmolzen', in der Verbindung mit
dem Parsismus auch durch die Mithrasreligion verbreitet war-. Das
orientalische Bild der Seelenreise ist so schon in vorchristlicher Zeit in
griechisches Glauben und Denken übergegangen. Poseidonios, der in seiner
Theologie östliche Einflüsse, besonders von der Astrologie erfahren hat,
scheint diese orientalischen Vorstellungen gekannt und mit den platonischen
Lehren von den Schicksalen der Seele verbunden zu haben -K Für die nach-
chiistKche Zeit sind dann die Zeugnisse sehr zahlreich. In den chaldäischen
') S. Dieterich, Mithrasliturgie S. 180 ff. Helm S. 102. •') Cumont
S. 152. 192. 292 ff. 309 (auch Archiv für Religionswiss. IX S. 328 ff.). =*) Ich
glaube mit Cumont, dass Berührungen der von Poseidonios abhängigen Autoren
mit sicher vom Orient beeinfiussten, besonders jüdischen (s. Bousset) Quellen nötigen,
dem Pos. solche Mittelstellung zuzuschreiben. Von der Annahme orientalischer
Beeinflussung des Pos. aus modifiziert sich dann auch Dieterichs Auffassung des
Weltbildes der Mithrasliturgie. — Poseidonios starker Einfluss hat dann den Auf-
bau der späteren Systeme bestimmt. Gewisse Grundlinien des metaphysischen
Gebäudes kehren seit Poseidonios in den wichtigsten Systemen konstant wieder:
Die Stufenfolge der Sphären und Elemente vom reinsten Aethei-, dem Sitz des höch-
sten Gottes, herab bis zur Erde; die entsprechende Rangfolge der Geister (Gestirn-
geister, Heroen. Dämonen, Engel) , die in wachsender Entfernung vom höchsten
Gott bis zur irdischen Welt lierabreichen; Fall, Läuterung, Erhebung zum Licht-
reich als die Stadien der Seelengeschichte (mit der Betrachtung des Abstieges der
Seele als Materialisierung, der Materie und des Fleisches als etwas Unreinem, der
Seele ursprünglich Fi-emden ist die asketische Ethik gegeben); die Abhängigkeit
der Seele von guten und bösen Geistern. Wir finden diesen Grundriss wie bei
Poseidonios so auch bei Philo (S. 117), bei Neuplatonikern wie bei Origenes (Har-
nack, Dogmengeschichte I'' S. 587) und Eusebius (s. z. B. Tricennatsrede c. 1. 2
p. 196 ff'. Heikel, Theophanie I 36 p. 54 Gressmann), bei Proklos und Synesios
(vgl. die Parallelen, die Wilamowitz, Sitzungsber. der Akad. zu Berlin 1907 S. 272 ff.
zieht), aber auch ähnlich in den chaldäischen Orakeln und bei Hermes (S. 89 Par-
they). — Wie christlich muss dem, der den Ursprung der christlichen Vorstellungen
nicht kennt, Senecas Trostschrift an Marcia c. 25 klingen: Die sterblichen Reste
ihres Sohnes, die im Grabe ruhen, sind ihm im Grunde so fremd wie das Kleid
dem Leibe. Er selbst ist der Erde entflohen und hat. in der Luft gereinigt {ex-
purf/atur, über den heidnischen Ursprung des Purgatorium s. Norden zur Aeneis
S. 25 ff.), sich zum Lichtreich erhoben. Dort weilt er unter den Seligen, in der
Gemeinschaft mit den ihm voraufgegangenen Lieben und blickt von der oberen
Welt auf die Seinen herab. Vgl. Rohdes Psyche H S. 320, o. S. 84. Der Einfluss
des Poseidonios auf die Stelle des Seneca ist nachgewiesen. Die christlichen Theo-
logen haben Mühe gehabt, so vergeistigten Vorstellungen gegenül)er den Aufer-
stehungsglauben plausibel zu machen, und die sublimeren griechischen Foraien
haben auch in der Kirche neben den gröberen jüdischen sich behauptet.
Hiimiielt';ihrt der Seele: Poseidoiiius. Mitlirasrt'Iinioii 1G7
Orakeln (S. 99) ist die Menschenseele ein Teil des göttlichen voO;, beim Abstiege
vom Aetlier wird sie mit der Leiblichkeit umkleidet, in die Knechtschaft des
Körpers verstrickt. Davon befreit erstrebt sie die Rückkehr zur Gottheit, die
gute Dämonen (oder Engel) zu fördern, l)öse zu hindern suchen'. Im späte-
ren griechischen Volksglauben werden diese bösen Geister teXwvac (Zöllner)
oder TsAwvia genannt, wohl weil sie dem Menschen den Weg- versperren
und ihm «inen Tribut abfordern-. Die Mischung orientalischer und griechi-
scher Anschauungen erschwert auf diesem Gebiete oft die Aufgabe, sicher
den Ursprung der einzelnen Vorstellungen oder ihrer Elemente zu bestimmen,
und es war vorschnell, wenn Anz in seiner sehr verdienstlichen Arbeit meinte,
dass mit der Zurückführung des Kernes dieses Vorstellungskreises auf die
babylonische Religion diese auch als der eigentliche Ausgangspunkt der
gnostischen Bewegung erwiesen sei.
Betrachten wir nun die Ausgestaltung, welche die Himmelswanderung
der Seele in den synkretistischen Religionsgebilden gefunden hat. Celsus
berichtet uns von INIysterien des Mithras, in denen Planetensphären und
Fixsternhimmel als •/.l'.\X7.q STiTaTZoXog ^ mit einem Tore darüber dargestellt
seien und vom Durchgang der Seele durch sie gehandelt werde. Nach baby-
lonischer Tradition waren hier den Planeten verschiedene Farben zugeteilt.
Der Durchgang durch die Tore war unzweifelhaft so ausgemalt, dass
die Seele an jedem die dem Planeten entsprechende Eigenschaft beim Ab-
stiege annahm und beim Aufstiege ablegte'.
Wir A\issen, dass der Neuplatonismus auch die Mithrasreligion als Illu-
stration seiner Lehre benutzt hat, und begreifen es, dass Porphyrios das
Bild der Himmelsreise der Seele in mehreren Anklängen als bekannt vor-
aussetzt. Er redet vom Durchgang durch die sieben Sphären als Eingang
ins Leben und lässt die Seele auf diesem Wege die körperlichen Eigen-
M Kroll, De oraculis Chaldaicis 8. 50 ff. Ihre Verwandtschaft mit dem Gno-
stizismus hebt Kroll S. 68 ff", und Rhein. Mus. L S. 639 hervor. ~) KrolL
Rhein. Mus. L S. 637. 638, andere Beispiele in den Thomasakten p. 257, 11. 281, 10
Bonnet. Die Bezeichnung wird nicht aus dem Volkshass, der die Zöllner zu bösen
Geistern macht, sondern daraus zu erklären sein, dass die Astralgeister, den Zöll-
nern gleich , den Weg sperren und ihren Tribut fordern. So ist auch in einem
babylonischen Texte vom „Vogt der leidvollen Strasse" die Rede (Anz S. 86).
Ueber den Kampf guter und böser Geister um die Seele vgl. Norden zur Aeneis
S. 7^ =*) Vgl. Reitzenstein, Poimandres S. 9. 10, zum Ganzen Anz S. 79 ff.
*) Darum hebt Celsus bei Origenes Gegen Geis. VI 22 (s. Cumonts grosses Mithras-
werk II S. 30. 31 und die Erklärung I S. 38. 117 ff.) zum Teil die Charaktereigen-
schaften der einzelnen Planeten hervor. Er berührt sich dabei mit einem Scholion
des Servius zu Vergils Aeneis VI 714, das mit andern aus platonisierender Vergil-
exegese stammt; vgl. besonders die Charakterisierung des Kronos dmxh ßpaSuxy^s
(wie z. B. Catal. cod. astrol. II p. 161, 3. V 2 p. 36, 34), des Hermes als xp-^\ia.xiozric.
des launenhaften Ares mit den Worten : aim descendvM animae, trahunt secum tor-
porem Saturni, Martis iracundiam, Mercurii lucri cupuUtatem. Die lateinische Schil-
derung des Seelenabstieges und die andern von Lobeck im Aglaophamus S. 933 ff.
und von Bousset, Archiv für Religionswiss. IV 166 ff. gesauunelten Parallelen ge-
statten, mit ziemlicher Sicherlieit die Hinnnelsreise jener Mithrasmysterien zu re-
konstruieren. Planeteudarstellungen sind in den Mithräen häufig. Cumont weist
darauf hin, dass in Ostia zu Füssen der Planetenfiguren sieben halbkreisförmige
Tore in den Boden gezeichnet sind, und vergleicht die i-TaTtöpoc; ßaO-iiic; der chal-
däischen Orakel. — Zu den Planetenfarben ist jetzt auch Vettius Valens im Catal.
cod. astrol. V 2 p. 36. 87 zu vergleichen.
1G8 ^ Synkretismus und Gxostizismus
Schäften ^vie Gewänder sich anlegen, die Avieder abzustreifen das letzte Ziel
der luenschlii'hen Entwicklung ist. Er weiss von Theologen, die Sonne und
Mond als Seelentore bezeichnen, die Sonne tut' den Aufstieg, den Mond für
den Abstieg'.
Weiter berichtet Celsus von einer christlichen Lehre, die das Bild des
Jenseits, zum Teil durch Figuren veranschaulicht, darstellte und den Auf-
stieg der Seele zum Himmel behandelte. Origenes hat darin die Lehre der
Ophiten erkannt und sich zum Zwecke der Widerlegung des Celsus eine
Schrift der Sekte zu verschaffen gewusst, die sich aber nicht völlig mit der
Vorlage des Celsus deckte. Nach Celsus' Angabe waren die sieben Archon-
ten in Tiergestalt als Löwe, Stier, Drache, Adler, Bär, Hund, Esel- dar-
gestellt (Orig. VI 30). Da Celsus offenbar mit gutem Grunde jene Mithras-
niysterien und diese gnostische Lehre vergleicht, dürfen wir wohl die tieri-
schen Darstellungen, welche die astrale Bedeutung der Geister verdrängt
haben, auf Einwirkimg der Mithrasreligion zurückführen, die freilich nur den
ersten Anstoss gegeben haben wird zu Anschauungen, die dann wohl auch
vom ägyptischen Tierdienst beeinflusst sind. Wissen wir doch, dass einzelne
Grade der Mysten des Mithras Tiernamen trugen und dass es gerade sieben
Grade waren. Die Ehrentitel Löwe und Rabe werden oft bezeugt; und
wenn Porphyrios in den Mithrasmysterien eine Einteilung der Gläubigen in
Klassen von Löwen, Hyänen, Raben. Adlern, Geiern kennt-', so werden wir
wohl in der Organisation der Vereine auch für diesen Punkt manche Varia-
tionen annehmen dürfen. Die Vermutung einer analogen Bezeichnung der
*) Porphyrios bei Stobäus, Eklogen II p. 171, 1 Waclismuth: zoü (ok) npmzo'j
picj ■?, 5'.£fo5(>; (dasselbe Wort bei Celsus) 5tä xwv §7ixa a-^aipcov y-Y'^^P'^'''^- ^^ absti-
nentia I 31 p. 109, 14 Nauck'^ wird das Ausziehen der Scpiiä-Livoi -/ixwvsj, d. h. die
neuplatonische Ertötung der Sinnlichkeit, gefordert. Der biblische Ausdruck (Gen
3 •.•>) wird von Gnostikern und Neuijlatonikern in dieser symbolischen Bedeutung
gebraucht: Bernays (o. S. 16*) S. 143. 144, Cumont, Les religions orient. S. 309 (vgl.
KroUs und Dielüs Register zu Proclus In rerap. und In Timaeum, xitwv und TrspißXyjiJLa,
Hermes Trismegistos p. .55, 5. 10. 78. 79 Parthey, [Clemens] Homilieen VIII 23). Die
Herleitung der Körperlichkeit von den Gestirnen findet sich auch in Porphyrios'
Sententiae ed. Mommert p. 14. — Die Seelentore: De antro nympliarum 29 p. 76, 23
(vgl. 6) Nauck. — In der „Mithrasliturgie" (S. 10 Dieterich) werden zuerst die sie-
ben unsterblichen Planetengötter beschworen, dann aber ein sehr viel grösserer
Apparat aufgeboten. Ich glaube mit Cumont (Revue de l'instruction publique en
Belgique XLVII S. 1 — 10), dass der von Dieterich behandelte Text von Anfang an
gewesen ist, wofür er sich gibt, eine als Offenbarung des Mithras eingeführte An-
weisung der Mittel, durch die der Myste sich allinälilich durch die Himmelsregio-
nen bis zum höchsten Gott erheben kann, niclit eine Liturgie. Auch hier haben
wir eine Misclduldung, in der die mit ägyptischen Elementen durclisetzte Mithras-
religion doch wohl eine etwas grössere Rolle spielt, als Cumont annimmt. Seine
Einreihung in die hermetische Literatur scheint mir zu übersehen, wie sehr die
Grundlinien aller dieser Religionsbücher oft übereinstimmen. -') Vgl. Wünsch,
Die sethianischen Verfluchungstafeln S. 86 ff., ein Archon mit Eselsgesicht auch in
den Koptisch-gnostischen Schriften, her. von Schmidt I p. 334, andere tierköpfige
ebenda p. 207 und in dem von Bonwetsch, Gott. Nachr. 1896 edierten slavisch er-
haltenen Baruchbuch. Aegyptische Analogieen bei Cumont, Revue S. 3 ^ Dieterich
S. 71. 72. Ezechiel kennt vier Dämonen mit Köpfen , die Apoc in Gestalt von
Mensch, Löwe, Stier, Adler: s. Gunkel a. a. O. S. 44 ff. 'i Die Zeugnisse
bei Cumont I S. 314 ff. II S. 42. .535, vgl. Dieterich, Bonner .Jahrbücher, Heft 108
S. 37.
Porpliyiios. ()i)liiten 169
Archonten und der Grade der Mysten wird dadurch wahrsclieinlicli, dass
nach Celsus' Bericht (VI 33) die ^nostisdie Lelire die Menschen 7ai der
Gestalt der Archonten zurückkehren liess, so dass sie Löwen, Stiere, Drachen,
Adler, Bären oder Hunde werden. Während Celsus nur den Doppelnamen
des letzten Archonten, mit einer Abweichung von Ürij^enes, angibt, weiss
dieser alle sieben Namen aus seiner Quelle aufzuführen — ein Mehr, das
wohl schon diese Quelle von der des Celsus unterscliied : M'./a-r'iX, ^oup^'/jA.
'Pa'^arjA. Vocpp'J/^. WauD-apatOiK Kpaxa(O))'. Oapil-apatoD' (Celsus (-)a'^a[Jaa)H-) oder
OvoTjA. Also die vier in der Zauberlitei-atur öfter benutzten jüdischen Engel-
namen neben drei noch nicht sicher gedeuteten. Celsus (VII 40) weiss,
dass die Christen Beschwörungen gegen jene tiergestaltigen Geister und gegen
die göttlichen Türhüter lernen und dass sie Mühe haben, die Namen der
i)"jpwpoi sich einzuprägen. Auf der Kenntnis der rechten Namen beruht ja
die Wirkung des Zaubers ; der jNLj'ste der .,Mithrasliturgie" i'ühmt sich z. B.,
die Namen zu wissen, „die noch nie in deutlicher Sprache ausgesprochen
wurden von einer menschlichen Zunge oder menschlichem Laut oder mensch-
licher Stimme, die ewig lebenden und hochgeehrten Namen" (S. 8. 10 Die-
terich)'. Solche für die Auffahrt der Seele bestimmten Besclnvörungen teilt
Origenes VI 31 mit. Sie richten sich an TaXoaj^atoi)-, "lato, iSajjawv)', Aoto-
valoi;, Aatacpaios, ADmocIoc, "ßpaioc. Ob es dieselben Namen und Formeln
sind, die Celsus las, ist wieder zweifelhaft-. Origenes setzt diese Kräfte
mit den vorher genannten tiergestaltigen Archonten gleich; ob das eine dem
Celsus noch unbekannte spätere Ausgestaltung der Dichtung ist, lässt sich
nicht entscheiden. Sekundäre Mischbüdungen sind beide Archontenlisten,
Zahl und Zeitfolge der Schichten bestimmen zu wollen müssen wir meist
in dem verworrenen und verwirrenden Chaos dieses Synkretismus verzichten.
Ein Rudiment der ursprünglich astralen Bedeutung, die sonst nur in der
Benennung apxovxes nachklingt, hat sich sogar gerade in der zweiten Liste,
die 'laoaXpioO- mit Oat'vwv, d. h. Saturn, gleichsetzt^, erhalten, obgleich hier
der Wortlaut der Beschwörimgsformeln auf eine weit ausgesponnene reli-
giöse Phantastik deutet. Dass, trotzdem es sich um den Aufstieg der Seele
handelt, die Richtung von oben nach unten verfolgt wird, stellt die Quelle
des Origenes unter die abgeleiteten unverstandene Elemente sinnlos über-
nehmenden gnostischen Gebilde*. Aber die Grundlinien zeigen noch deut-
*) Aehnlich Koptiscli-gnostische Schriften, her. von Schmidt I p. 295. 296. 310,
vgl. Anz S. 21 ff. -) Wenn VII 40 in dem Zitat aus Celsus -/.ai töc 5ai|xövt,a
pr,[iaxa xä Tzpöc, xöv Xio^nv. .... -xai xobg äXXou; [xal xobg] ifsoTisaio'j? i)"jpwpoüc; richtig
überliefert wäre, hätte Celsus Archonten und Pförtner geschieden, Origenes Aväre
also anders berichtet, wenn er bald darauf und VI 31 die Identität voraussetzt.
Aber vielleicht tue ich recht, -xal zobg an zweiter Stelle einzuklammern. Die Phan-
tastik der Formeln VI 31 wdrd etwas aufgehellt durch das, w'as Celsus VI 34 be-
richtet. 3) An2 S. 12. 13. *) Die Umkelu-ung der Ordnung möchte
Anz daraus erklären, dass hier ursprünglich der Abstieg des Erlösers, nicht der
Aufstieg der Seelen, geschildert, war. Mir scheint der Gebrauch derselben Formeln
für den Abstieg des Erlösers unwahrscheinlicli und auch im einzelnen unpassend.
Aber woher stammt denn die in dem Texte der Formeln voi'handene , nur nicht
ganz streng durchgeführte Zählung der Geister als 7. (6.) 5. u. s. w . (nicht 1. 2. 3.) ?
Warum hat der, welcher die richtige, dem Aufstieg entsprechende Zählung einführte,
nicht die Formeln selbst in die rechte Ordnung gebracht? Folgende Lösung des
Rätsels scheint mir wahrscheinlich: Da wir wissen, dass das Diagramm wie unsere
koptischen Texte Figuren enthielt, werden diese Formeln in eine Zeichnung der
Tore eingetragen gewesen sein, auf der das 7. Tor oben auf der Seite stand, um
170 X Synkretismus und Gnostizismus
Höh das ursprünoliclie Weltbild, wie es den Vorstellungen von der Himmel-
fahrt der Seele zugrunde liegt: Von einer Sphäre zur andern erhebt sie sich.
An jeder Station tritt ihr den Weg sperrend der Archon des Planeten gegen-
über. Die Kenntnis des Wesens der Mächte und ihrer wirkungsvollen Namen,
die Aufweisung bestimmter Symbole verscheuchen den Archon, so dass die
Seele eine Station nach der andern „frei passieren'- kann; mit dem letzten
Tore hat sie .,den Zaun der Bosheit'* überwunden, hat Teil am Lichte des
Sohnes und des Vaters. Gute Engel, die der Seele auf ihrem Wege Bei-
stand leisten, und böse, die den Archonten zur Seite stehen, scheinen das
Drama weiter belebt zu haben (Orig. VI 27, vgl. o. S. 167-).
Der Grundriss dieser Lehre ist heidnisch, wie sie auch Celsus in einem
Mithraskonventikel in rein heidnischer Gestalt vorgefunden, Porphyrios und
andere Heiden sie gekannt haben. Durch Umformungen, Ei'weiterungen,
Eintragungen konnte diese Lehre mit dem Stoffe christlicher und anderer
Religionen bereichert werden. Die Vergleichung der verwandten Bildungen
und die auf eine voraufgehende Geschichte und einen längeren Bildungs-
prozess weisende Ablagerung der Schichten in den einzelnen Gebilden haben
uns den Fluss der Entwickelung und die fortschreitende Verwilderung der
Traditit)nen, die nur das Grundmotiv unverändert lassen, kennen gelehrt.
Andere wilde Sprösslinge derselben Wurzel, die hier nicht besprochen wer-
den sollen ^ zeigen wieder neue Formationen. Neben die sieben Archonten
konnten andere Geisterreihen treten; die feindlichen Mächte, Nachstellungen
und Kämpfe, "svelche die Seele zu bestehen hat, die sie errettenden Beschwö-
rungen konnten immer länger gedehnt, die Geschichte der Seelenreise immer
bunter ausgemalt werden. Mithrasliturgie und Pistis Sophia bieten nieder,
um ein heidnisches und ein gnostisches Beispiel zu wählen, Beispiele der
Aufbietung eines viel reicheren Apparates. Bei Justin nehmen zwölf Engel
den Platz der sieben Archonten ein, d. h. der Zodiakalkreis ist an die Stelle
der Planetensphären getreten "^ Endlich konnte die Spekulation die konkre-
ten Gestalten durch abstrakte Begriffe verdrängen und so die Gebilde in
eine höhere Lage transponieren. Als Beispiel führt Anz S. 17 die Barbelo-
gnostiker an, die neben den Proarchon die hypostasierten Begriffe aO^aoeta,
y.ay.ca, ^fjXog, ',f;i)-6vo;, spivuc, ir,'.'&'j\iiy. stellten. Sie haben offenbar die Laster,
welche die Seele beim Abstiege in den Planetensphären annimmt (S. 166 f.),
an Stelle der Archonten gesetzt.
Für das Uebergewicht der Ethik ül^er den mythologischen Apparat sei
noch die Lehre des Poimandres vom Aufstieg der Seele erwähnt, zugleich
ein weiteres vortreffliches Beispiel rein heidnischer Parallelbildungen zu gno-
stischen Lehren-': Nach der Auflösung des Leibes steigt der Mensch nach
oben und übergibt der ersten Zone tYjV a'j^rjT!.XY|V svspye'.av xa: ty,v |JL£'.wxr/.y^v,
verliert in den weiteren Zonen einzelne Laster und Leidenschaften. Befreit
von den Bedingungen des körperlichen Seins geht die Seele in ihrer wahren
Natur in die Ogdoas ein', i)reist dort mit den Seelen, die sich über ihr
die ävo3o; anschaulich zu machen. Sie wurden dann in falscher Ordnung abge-
schrieben. DemOrigenes den In-tum zuzuschreiben, trage ich wegen seiner sorg-
fältigen Uebergangsformen (zlW i;f,?) einiges Bedenken. ') Anz S. 16 ff.;
Preuschen, Die apokryphen gnostischen Adamschriften, Giessen 1900 S. 60 ff.
-) Anz S. 19, vgl. Reitzenstein S. 231. -'j I i< 24— 2ü p. 14 Parthey; Reitzen-
stein, Poimandres S. .52 ff. :«(). Zielinski, Archiv für Religionswiss. VIII 8. .329 ff.
') Auch die Ogdoas l)egegnet, wie in andern gnostischen Systemen und Zauber-
papyri, bei den Barbelognostikern. — Aehnlich sagt die Seele bei Orig. VI 31.
offenbar beim Durchgange durch die Ogdoas 2v9-ev zl/.-.v.yM,: -ijjL-oiiai , cfwtög y,5Y,
Andere Uiiostiker. Poiuumdres. Astrologische Religion 171
Erscheinen freuen, den Vater. Sie hört weiter jenseits der Ogdoas die
Kräfte Gott preisen', steigt mit den andern zum Vater auf, in den sie alle,
selbst zu Kräften geworden, eingehen. „Das ist das schöne Ziel für die.
welche die Gnosis haben, vergottet zu werden.'"
\'erzweitlung über die niederdrückende Gewalt und den unerbittlichen
Zwang der Sternenmächte, wie sie durch orientalisclien Astralkult und Astro-
logie verbreitet wurden, hat die Sehnsucht nach Erlösung und Erhebung über
die Gewalt der himmlischen Kräfte hervorgerufen (S. 81). Die Stimmungen,
gegen welche die Reaktion sich erhoben hat, treten uns jetzt beim Astro-
logen Valens (II Jahrh. n. Chr.) in ihrer ganzen die Kräfte des Menschen
lähmenden Gewalt gegenüber-: Menschliche Freiheit ist eitler Wahn, des
Schicksals Gesetze schlagen jeden in Ketten. Eine Beute und ein Spielball
in den Händen der göttlichen Kräfte, besonders der bösen, die das Ueber-
gewicht über die guten haben, wird der Mensch in die Leiblichkeit und
Schuld, in die beständigen Irrungen des Lebens verstrickt und zur Strafe
von den Geistern gequält und gepeinigt. Religiosität und Moral dieser
Weltanschauung erschöpft sich in dem Rate, willenlos sich den Launen des
Schicksals zu fügen, Trost und Hoffnung aufzugeben, als Soldat und Sklave
der £:jjLap[x£vrj ihr Kommando zu befolgen •'. Gegen diese trostlose Lebens-
auffassung erheben sich die von uns Ijetrachteten Formen einer magischen
Religiosität. Die Grundlagen jener astrologischen Weltanschauung werden
dabei im Grunde gar nicht angefochten; der Ausweg aus dem hoffnungs-
losen Kreise der Notwendigkeit wird gefunden, indem der Mensch in einen
Bund tritt mit höheren Mächten, mit deren Hilfe er die Gewalt der niede-
ren brechen und im irdischen Dasein schon in der Ekstase, nach dem Tode
durch die Himmelfahrt die Erlösung von der Knechtschaft der Archonten
finden kann. Er geht ins Reich des höchsten Gottes ein und erhebt sich
über die niedere Welt, die dem drückenden Zwange der Planetengötter
unterworfen ist. Arnobius (II 62) redet spöttisch von denen, die sich rüh-
men, sie seien als Gotteskinder den Gesetzen des Schicksals enthoben und
der Rückkehr zu ihrer himmlischen Heimat sicher, und von Magiern, die im
Besitze von Beschwörungen sein wollen, durch welche die Mächte gezwungen
würden, der gen Himmel fahrenden Seele den Weg freizugeben (vgl. II 13
und S. 169). So wird auch der Myste der „Mithrasliturgie'- befreit von
der bitteren, unerbittlichen Not und vom Schicksalszwange*. Der Sinnen-
lust ergeben war der Held des Romanes des Apuleius der Macht des blinden
Schicksals verfallen, das alle seine Launen an ihm ausliess, bis die gnädige
Göttin Isis ihn erlöst und zur Freiheit berufen hat. „Mag nun das Schick-
sal gehen und seine Raserei und Grausamkeit gegen andere kehren. Denn
über die, welche unsere Göttin in ihren Dienst genommen hat, hat ein feind-
liches Schicksal keine Gewalt". Und die Summe der erbauUchen Geschichte
des Lucius verkündet der Isispriester mit den Worten: „In sich gehen mögen
die Gottlosen und ihren Irrtum erkennen. Hier steht Lucius von all seinen
früheren Leiden befreit und triumphiert voll Freude über die Fürsorge der
lispos 'jioü y.al Tiaxpö?. Dasselbe Ziel in der Mithrasliturgie S. 4, 7 ff. 14, ;51. *> S.
Kroll, De oraculis Chaldaicis S. 54. Dieterich, Abraxas S. 33. -) Catal. co-
dicum astrol. V 2 p. 29, 2. 19. 30, 10. 33, 19. 35, 18. 37, 20. Ueber den Einfluss der
Astrologie auf die Gnosis vgl. Geffcken, Sitzungsber. der Akad. zu Berlin 1899
8. 704. 705. 3) Dieselbe Stimmung bei Seneca Epist. 77. 12 Nat. quaest. II
35. 36, vgl. Helm S. 121, BoU, Jahrb. Suppl. XXI S. 146. 150, [Clemens] Homilieen
XIV 3 = Recogu. VIU 2. *) Vgl. auch Hermes Trismegistos p. 102 ff., die
chaldäischen Orakel S. 59 Kroll und Rohdes Psyche II S. 387.
172 X Synkretismus und Gnostizismus
irrossen Isis über sein Scliicksal"'.
Auch die Kirche hat sich mit dem astrolu^ischcii Fatalismus auseinan-
dergesetzt. Eine reiche Literatur bezeugt, welche Kraft ihre Theologen an
seine Widerlegung gesetzt haben-. Und doch hat nicht nur der astrologische
Glaube unter den Christen eine Avachsende Macht gewonnen, auch die Kirche
iiat sich seineuj Eindringen nicht zu widersetzen vermocht: Die Planeten-
woche ist rezipiert, die Planetengötter sind in die sieben jüdisch-christlichen
Erzengel umgesetzt, das astrologische Weltbild ist von den Theologen nur
wenig ins Christliche umgebildet worden. Auch Christus wird als der Er-
löser aus den Banden des Schicksals gepriesen; die Gläubigen sind der
SchicksalsgCAvalt entrissen und unter seine Fürsorge gestellt''. Der Schick-
salsglaube der astrologischen Religion ist auch schon der Hintergrund, von
dem sich im Kontraste der Christusglaube des Epheserbriefes abhebt': Es
gilt zu ringen mit den oberen Mächten und Weltherrschern. Auch hier er-
scheint der über die ganze Geisterwelt erhabene Christus als die den nieder
ren Geistern überlegene Kraft, und das letzte Ziel für den Gläubigen ist,
auch einst siegreich in die obere Welt einzugehen.
Die Geschichte der Menschenseele, ihres himmlischen Ursprunges, ihrer
irdischen Leiden, ihrer Rückkehr zur oberen Einheit wird nicht nur in Bil-
dern dargestellt, die Gestirnreligion und Weltbild des Orients zur Voraus-
setzung haben. Der heterogenste Stoif kann zur Illustration dieses Vor-
stellungskreises verwertet Averden. Die mancherlei Schichten, die in dem
von Hipjiolyt benutzten Naassenei'buch über einander gelagert sind, geben
lehrreiches Zeugniss für die Fähigkeit des religiösen Synkretismus, immer
neuen Stoö" an sich zu ziehen und seinen Ideen dienstbar zu machen. In
die eigentlich wirksamen, tiefsten Motive naassenischer Frömmigkeit führt am
besten der von Hippolyt am Schluss'' mitgeteilte naassenische Hymnus: Die
Seele ist dem Gesetze des mittleren Reiches, das zwischen Geist und Materie
steht, unterworfen. Bald strebt sie empor zum Lichte, bald jammert sie
im Elende und weiss irrend keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der Leiden,
dem bitteren Chaos zu finden. Da bittet Jesus den Vater, mitleidig auf die
') Metam. XI 15, vgl. über die religiösen Anschauungen des Apuleius Zinzow,
Psyche und Eros, Halle 1881 S. 113 f. "-) Boll S. 182 ff.; Schürer, Zeitschrift
für neutest. Wiss. VI S. 44 ff. ^) S. z. B. Clemens und Tatian, o. S. 81. 156.
Tatian c. 9 siiiapiisvrjs ävwxspoi, Hermes S. 104, 14 £t]iap!JLsvr,c; OTcspävto y-slvai. Schmidt,
Texte und Unt. VIII S. 471, Reitzenstein S. 78. 103. 107. *) Besonders in
Betracht kommen ligff. (zu V. 21 övoixa vgl. S. 169). 3 lo. 612 (xoaixoxpäxopss ist ste-
hende Bezeichnung der Planeten). 2 •• S.^^yjiä^ ty^s egouaiag tou äspos (Reitzenstein,
Poimandres S. 49 2). 2 a werden Begierden des Fleisches und Gedanken ähnlich
selbständig gedacht wie in dem oben behandelten Vorstellungskreise. 3 19 -t t6
rJ.dTo; y.al [if/z.o; y.al ''r^og y.al 'p<x^oc, hat Reitzenstein S. 25 in andern Religionsbil-
dungen der Zeit nachgewiesen. Vettius Valens bietet andere auffällige Parallelen.
Auch das Bild der militia C/nisti kann hier wie bei andern Autoren von der Anti-
these zu dem auch in orientalischen Religionen üblichen Bilde (Cumont S. XIII ff.)
beeinflusst sein. '■') Philos. V 10, zuletzt behandelt von Swoboda, Wiener
Studien XX VH 299 ff., der die in ähnlichem anapästischen Masse gefassten Verse
vergleicht, die Grenfell-Hunt, Fayum towns and their papyri S. 82—87 ediert haben.
Aber dass Avir hier die Fortsetzung des Hynmus hätten, ist eine unAvahrscheinliche
Vermutung. Denn 1 ) ist es ganz unsicher, dass der Papyrus eine Höllenfahrt Christi
enthält. Es kann z. B. eine Hadesfahrt der Seele und diese ein Teil der Auffahrt
der Seele sein, die die von den Geistern vollzogenen Höllenstrafen beobachtet
(o. S. 85, griechischer Baruch c. 4). 2) fordert der Hymnus, wie oben gezeigt ist,
eine andere Fortsetzung als die Höllenfahrt.
Erlösun2:sreli":ionen. Naassener 173
Anne, die seinem Hauche entsprungfen ist, zu blicken. Mit den (den Durch-
gang ermöglichenden) a'-ppayioe; ' will er hinabsteigen, alle Aeonen durch-
wandern, alle ^Mysterien und Gestalten offenbaren, die Geheimnisse des hei-
ligen Weges als Gnosis kundtun. — Als Komplement fordert die Dichtung
den Aufstieg der Seele, der wohl, etwa nach der ütl'enbarung der Gnosis,
auch in der Fortsetzung der Dichtung geschildert war. Die naassenische
Phantasie -hat sich hier sicher in der Richtung der oben gescliilderten Himmel-
fahrten mit ihrem reichen Geisterapparate bewegt. Diesen Teil der Lehre
oder der Dichtung wegzuschneiden hat der von Hippolyt benutzte Theologe
allen Grund gehabt; denn er bewegt sich in der Richtung sjjekulativer
Mythendeutung, für die er ein einfacheres Weltbild mit 3 — 4 Stockwei'ken
zugrunde legt-. Die üppig wuchernde Phantasie dieses Theologen ist von
einem etwa aus Hadrians Zeit stammenden Liedchen angeregt ■', das u. a.
Attis, Adonis, Osiris, Korybas, Papas gleichsetzt. Das hat ihm den Anlass
gegeben, diese und andere IMythen in einer den Text des Gedichtes erklä-
renden, mit Gelehrsamkeit ])runkenden Rede als Illustration der Schicksale
der Menschenseele erbaulich zu behandeln^. Ich greife nur einige Proben
heraus, um eine Vorstellung von dieser phantastischen, barocke Formen für
abstrakte Ideen suchenden Theologie zu geben: Die Liebe der Aphrodite,
Persephone, Selene zu Adonis '' und Endymion stellt das Trachten aller Teile
der Welt nach Beseelung, die der Göttermutter zu Attis die Erhebung der
Seele in das höchste Himmelsreich dar. Osiris und Hermes, mit dem auf-
wärts gerichteten Phallos gebildet, bedeuten das Emi)orstreben der Seele zur
oberen Welt und zur Vereinigung mit dem idealen Urmenschen. Allegorische
Homererklärung nach Art des Porphyrios deutet Hermes Psycliopompos, ety-
mologische Spielerei in der Weise der Stoa Korybas und andere Gestalten im
Sinne dieser Theologie. Vor allem aber verweilt der Redner mit besondei-er
Liebe bei der Deutung der Darstellungen, Attribute, Namen, mythischen Ge-
schichte des Attis. Hier kann nur die Grundrichtung seiner Spekulationen
angedeutet werden: Die Entmannung des Geliebten durch die Göttermutter
bedeutet die Zurückführung der männlichen Kraft der Seele in die obere
Welt, viyjoc, nennen Attis die Phryger, wenn er im Kerker des Leibes
begraben ist, Gott, wenn er sich wieder in sein ursprüngliches Wesen ge-
wandelt hat, axapTTo; den ins Fleisch und seine Begierden eingegangenen,
TToXuxapTio? den erhöhten, tAt.'xz (von T^auc'.v) den alle ungeordnete und
regellose Bewegung zur Ruhe bringenden, an den aus allen W^eltregionen
der Ruf ergeht: Tzaüs, Tzaöe xrjv aaujxcpwv'av xoü XGa|j.ou". So stellen seine
Schicksale die der Menschenseele typisch dar, Geburt luid Grab, Fall und
Erhöhung.
Wir sehen in diesem Falle deutlich, wie aus dem religiösen Erlebnis,
das der Hymnus ergreifend darstellt und das die Mysterien den Gläubigen
nahe brachten, eine immer weitere Kreise ziehende komplizierte Theologie
herauswächst, die, weit entfernt auf den guten Geschmack abschreckend zu
wirken, den Religionsübungen des Konventikels in den Augen der Gebilde-
ten einen tieferen Sinn und eine spekulative Bedeutung geben will. Ich
habe diese Theologie dargestellt, ohne ihre christhchen Elemente zu erwäh-
nen. Von den Grundgedanken geht durch diese Ausscheidung nichts ver-
') S. Koptiscli-gnostische Schriften, her. von Schmidt S. 321. -) Bousset.
Arcliiv S. 23.5. 3) Behandelt von Wilamowitz, Hermes XXXVII S. 329, Reitzen-
stein, Poimandres S. 98. *) Zu benutzen ist jetzt Ausgabe und Erklärung
Reitzensteins S. 83 ff'. '•') Adonis begegnet auch in der Pistis Sophia c. 146.
") Dieselben Gedanken in christlicher Theologie bei [Clemens] Homiüen XVII 9. lu.
171 X Synkretismus und Gnostizismus
loren, da das christliche ]\rateTial nur eine Exerapel- und Ilhistrationsreihe
neben vielen andern ist. Reitzensteins scharfsinnige Analyse, die es aus-
schaltet, hat so viel dargetan, dass es oft störende Zutat und s))äterer Ein-
schlag ist. Freilich ist in diesem Falle, wie in der Ai)okalypse oder in der
hermetischen Literatur, die Absonderung der Schichten nicht ein Problem,
das eine rein literarhistorische Lösung gestattet. Das Scheidewasser scharfer
Logik versagt leicht in den trüben Massen religiöser Phantastik. Dass aber
in der Tat rein ethnische Bildungen zugrunde liegen, die nah vom christ-
lichen Firniss nicht überzogen waren, beweist die Existenz einer noch ver-
wandten Attistheologie in Kaiser Julians V Rede auf die Götterrautter. Sie
war mir schon vor Jahren der Ausgangspunkt einer Analyse, die mich zu
ähnlichen Ergebnissen geführt hat, wie sie Reitzenstein von anderen Gesichts-
])unkten aus gewonnen hat. Ich glaube nachweisen zu können, dass Julian
liier wie in der R. IV (S. 97) Jarablich benutzt hat, Janiblicli und der Naassener-
text auf ältere stoisch-])latonische Umsetzung des Mythos zurückgehen. Es
genügt für meinen Zweck, auch hier einige Grundgedanken hervorzuheben, die
zeigen, -wie weit die heidnische Predigt der gnostischen parallel läuft: Attis
ist die vom voü? ausgehende Kraft, die alle loyoi und (xhioci in sich schliesst
und in die Materie einführt. Ueberschreitet er gegen die Weisung der
Göttermutter die Milchstrasse (= xov FaXXov Tioxajxov), die Grenze der obe-
ren und der unteren Welt, so geht er ein in die Höhle und gesellt sich der
Nymphe, d. h. er verbindet sich mit der üXt] und verfällt der yevea:^. Da
greift die Göttermutter aus der oberen Welt ein; durch die Entmannung,
d. h. die Beseitigung der (XKeipia., erhebt sie ihn in das Himmelreich. Was
der Gott erlebt hat, ist nicht ein einmaliges Ereignis, sondern beständig ist
Attis Gefährte der Mutter, beständig quillt er über von Schöpferkraft, wdrd
er in seinem masslosen Trachten beschränkt und von der Erde wieder auf seinen
himmlischen Thron erhoben. Und was er gelebt und gelitten, ist allgemeines Er-
lebnis und Schicksal. Uns allen gilt die Mahnung, vom Niederen uns ab-
und dem Höheren uns zuzuwenden. Und nach des Gottes Entmannung ruft
die Trompete nicht ihn allein, sondern uns alle nach oben, die wir himm-
lischen Ursprung und irdischen Fall mit ihm teilen. Auch uns heissen die
Götter herausschneiden die Masslosigkeit, aufsteigen zum Begrenzten, Ein-
heitlichen, Einen, als Erlöste mit Attis das Freudenfest feiern. — Es wäre
leicht, diese Gedankenreihen, die in mannigfachen Variationen wiederholt
werden, ins Christliche zu transponieren oder christliche Parallelen dafür
zusammenzustellend '
In dem in letzter Zeit viel behandelten- Hymnus der Thomasakten wird
die Lehre von der Erlösung in eine die ganze Pracht orientalischer Erzäh-
lungskunst entfaltende Novelle gekleidet: Aus dem östlichen Reiche wird
der Königssohn als kleines Kind von den Eltern nach dem Westen geschickt.
Das Prachtgewand und der Purpurrock wird ihm ausgezogen. Nach Aegyp-
') Dieterich S. 176 ff. Das Wesentliche ist, dass in verschiedenen orientali-
schen Kulten Aufleben, Erhebung, Errettung des Gottes dem Mysten das gleiche
Schicksal verbürgt. '-) Preuschen, Zwei gnostische Hymnen, 1904. Reitzen-
stein, Hellenistische Wundererzälilungen S. 103 ff. Burkitt, Urchristentum im Orient,
deutsch von Preuschen, Tübingen 1907 S. 134 ff. Apuleius Erzählung von Amor
und Psyche mit ihrer merkwürdigen Verbindung von Märchenmotiven, Jenseits-
bildem, spekulativ-allegorischen Elementen bedarf jetzt auch auf Grund der Ana-
logieen der Thomasakten einer neuen Analyse. Das Problem ist behandelt z. B.
von Zinzow (o. S. 172'), Heinrici, Preuss. Jahrb. XC 1897 S. 390 ff.; vgl. Friedlän-
der 1 S. .5.3.5 ff. — Audi in IV Esra 9. 10 hat Gunkel allegorisierte Novelle vermutet.
Jiiliiiu. 'riioniasakten 175
ten soll er ziehen, die von einer Schlange bewachte Perle im "Meere zu ge-
winnen. Und er zieht durch Maisan, Jiahylonien, Sardfd^ ' nach Aegy])ten.
Trotz der Warnung vor den Aegyptern kostet er unvorsiclitig von ihrer
Speise -, dient ihrem Könige, vergisst seine Herkunft, vergisst die Perle. Da
kommt aus der Heimat ein Schreiben, das ihm die seiner unwürdige Knecht-
schaft vorhält, ihn erinnert, dass er ein Königssohn ist, erinnert an die Perle,
an sein Pminkkleid und seinen Purpurrock. Da kommt der Königssohn zu
sich, gedenkt seiner Herkunft und Freiheit, schläfert die Schlange ein und
gewinnt die Perle. Sein schmutziges Gewand lässt er in Aegypten. Nach
langer Wanderung empfängt er an der Grenze der Heimat sein Prunkgewand-',
das er vergessen hatte und das ihm nun wie ein Spiegelbild seiner selbst
erscheint. Damit bekleidet steigt er auf zu den Toren der Begrüssung und
Anbetung und betet an den Glanz des Vaters.
Der allegorische Charakter der Erzählung ist nicht zu verkennen.
Nöldeke^ fasstihn in folgende Worte: ,,W^ir haben hier das alte gnostische
Lied von der Seele, die, von himmlischem Ursprung, auf die Erde gesandt
wird und hier ihren Ursi)rung und ihre Aufgabe vergisst, bis sie durch
höhere Offenbarung erweckt wird, ihren Auftrag vollzieht und nun nach
oben zurückkehrt, wo sie das himmlische Kleid, ihr ideales Ebenbild, wieder-
findet und in die Nähe der höchsten Himmelsmächte gelangt". Der Kreis
dieser Vorstellungen liegt sicher zugrunde, wenn auch Preuschen und Reitzen-
stein^ mit Recht aus schärferer Exegese den Schluss gezogen haben, dass
der Verfasser der Akten sich unter dem Königssohn nicht die Menschenseele,
sondern Christus vorgestellt habe, der durch die Aeonen hinabgeht, sich ent-
äussert, den in die Materie gesenkten Lichtfunken befreit, zum Himmel auf-
steigt; denn das Motiv vom Sterben und Wiederaufleben des Gottes dankt
ja seine religiöse Wirksamkeit der vorbildlichen Bedeutung für das allgemeine
Menschenschicksal. An deutlichen christlichen Beziehungen fehlt es in dem
Stücke überhaupt — ein Beweis, dass, wenn ein Christ, etwa Bardesanes,
es konzipiert hat, schon dieser in den ihm vertrauten allgemeinen Bildern
orientalischer Erlösungsreligion auch den Kern der christlichen Erlösungslehre
umschlossen fand, wie später der Redaktor der Thomasakten. Reitzenstein
hat neuerdings in Frage gestellt, ob aus der uns erhaltenen syrischen Fassung
mit Recht auf syrischen Ursprung der Dichtung geschlossen werden dürfe,
und die Dichtung auf eine ägyptisch-hellenistische Sage zurückführen wollen ''.
Reitzensteins Vergleich mit dem verwandten Mythus eines demotischen Papy-
rus und die von ihm angeführten ägyptischen Parallelen sind sehr beachtens-
wert. Er meint nun S. 129, dass der Syrer mit der Freude nachbarlichen
Hasses gerade Aegypten zum Land der Unreinheit und der Unholde gemacht
habe. Aber solche spätere Umgestaltung scheint mir darum unwahrscheinlich,
weil die allegorische Deutung Aegyptens als der Leiblichkeit, Sinnlichkeit,
Sündhaftigkeit sehr verbreitet und schon sehr früh bezeugt ist^.
An ägyptischen Glauben finden wir gnostische Spekiüationen angeknüpft
^) Gemeint sind die drei .Himmelsregionen: Preuschen S. 52. '-) Tertul-
lian De anima 23 : Apelles sollicitatas refert animas terrenis escis de super caelestibus
sedibus. '^) Aehnlich Pistis Sophia c. 7 flf. Die Vorstelhmg siderischer Gewänder,
welche die Seele wechselt, die bildliche Bezeichnung der Leiblichkeit als Kleid ist
uns schon begegnet. Hier hat auch Paulus' Vorstellung vom himmlischen und ver-
klärten Leibe ihren Ursprung, vgl. Bousset S. 233. 234. ^) Zeitschrift der deutsch,
morgenländ. Ges. XXV S. 677. ■'\ Vgl. auch Usener, Tlieol. Abb. für Weizsäcker
S. 211. ^) Etwas anders begründet Dieterich, Bonner Jalirb. Heft 108 8. 30 die
Annahme ägyptischen Ursprungs. ') Belege aus Philo, Origenes, den Gnostikern
i7Ü ^ .SVNKHKTISMUS üKD GNOSTIZISJUJS
in einer der spätesten hennetisclien Schriften, die aber von sehr viel älteren
\'orl)il(lern abhängig' ist, der Köpr^ xda[jLO'j, von der Stol)äus uns grosse Stücke
orlialten hat ' : Der oberste Gott bildet aus einer genau bescliriebenen che-
nüschen Mischung viele ^lyriaden Seelen, weist ihnen bestimmte Bezirke im
Himmel an und bedroht sie mit Fesselung und Züchtigung, wenn sie ihr
Bereich überschreiten. Aus einer neuen Mischung niederer Elemente bildet
er dann Menschen und heisst jene vollkommeneren Seelen an dem Reste der
[Mischung ihre schaffende Tätigkeit entfalten. So entstehen die Tiere. Stolz
auf ihre Leistungen werden die Seelen übei'mütig, überschreiten ihre Grenzen
und halten ihre Beschränkung auf eine Stätte für Tod. Um seine Drohung
wahr zu machen, beschliesst der Götterkönig Menschen zu bilden-, damit
im Menschenleibe die Seelen gestraft werden. Die Planetengötter steuern
ihre Gaben bei. Hermes bildet das Menschengeschlecht, die Seelen werden
in die [Menschenleiber gebannt. Da erkennen sie ihre Verdammung und stöhnen
vor Kummer. Ergreifend Avird ihr mannigfacher Jammer über den Wandel
geschildert •"'. Inbrünstig ertönt ihr Flehen nach Erlösung, und der Gott ant-
wortet ihnen, dass, wenn ihre Verfehlungen nur gering sind, sie die Ver-
bindung mit dem Fleische verlassen und in den Himmel eingehen, in anderm
Falle der Wanderung in Tierleiber werden unterworfen werden. Die Theorie
der Seelenwanderung wird dann ausführlich entwickelt'; dass dabei Adler,
Löwen, Drachen, Delphine erwähnt werden, erinnert an die Ophiten (o. S. 168).
Momos übt dann Kritik an dem Werke des Hermes: Ein kühnes Unterfangen
ist es, den Menschen zu schaffen mit seiner sinnlichen Ausstattung und mit
seinem Drange, die Mysterien der Natur zu enthüllen, in ihre Tiefen einzu-
und anderen bei Siegfried, Philo von Alexandria, s. Register S. 405, Pistis Sophia
c. 18 und den Xaassenerbericht (in Reitzensteins Poimandres S. 90 '). ') Ich
zitiere nach Wachsnuitlis Stobäus I p. 389 ff. Reitzenstein, Poiniandres (s. Register
S. 377), hat zuerst die Richtung für das Verständnis der Schrift gewiesen. Vgl. Zie-
linski, Archiv für Religionswiss. VII S. 359 ff. '-) Ueber die Doublette der
Menschenschöpfung s. Zielinski S. 366. •"*) 395, 19 aO-Xta ndayoiisv .... ä-nb [jisYäXwv
■TS xai Äa|i7:ptt)v slg äx'.iia y.al -aTisivi o'hoyc, £y"/.ay-s'.px^7jad|is9-a OY.r,wih\ia.zoi. u. s. w. Das
ist ganz die Stimmung des Naassenerhynmus, z. B. V. ^ tiots 5' slg iXssiv' ixpmxo-
IisvY; y.Xais'. (V. t), aber auch des Seufzens der Kreatur bei Paulus, der, wie wir sehen,
auch den Ausdruck ay.YjV(-)|j.a aus der religiösen Begriffswelt seiner Zeit entlehnt hat.
Stob. 396, 18 a-^' wv sig o'.a. xaTs^rdisv nach Empedokles Fr. 119. 120 Diels, denn auch
der alte Strom griechischer Mystik hat eingewirkt. Platonische Floskeln z. B.
397, 12 ff. 398, 10 ff., stoische Theodicee Avirkt 386, 3 ff. ein, 400 der stoische Preis
der menschlichen \'ernunft, 40G die stoisclie Kulturentwickelung in den Farben des
Poseidonios. — Mit dem Naassenerbericht finden sich mancherlei Berührungen:
Hippolyt 136, 17. 21 Duncker (= S. 84 Reitzenstein) Knechtung und Züchtigung
durch Eingehen in den Leib. 144, 60 D. (= 88 R.) Zitat jenes Verses des Empe-
dokles. 164, 83 (= 96 R.) und Stob. 385, 22 W. wird die Erkenntnis der oberen
Welt mit den grossen, die der niederen mit den kleinen Mysterien verglichen.
146, 87. 148, 3 D. (= 89 R.) xpi^s-.v von den Seelen (Stobäus 395, 12). 170, 81 D. wie
Stob. 410, 9 ff. das oben S. 67 ff. besprochene Bild der in den Lnftregionen von der
Seele angezogenen Gewänder. — Schwerlich zufälliji ist die Berührung von Stob.
403, 21 ff. mit Vergils Aeneis VI 620 und Umgebung. ') Sehr lehrreich i.st es,
die Stufenfolge der Menschenklassen p. 398 mit ihrem \'orbilde, dem platoiüschen
Phädrus p. 249 d zu vergleichen. Der König hat in der Köre die erste Stelle (S. 97.
178), und das superstitiöse und theurgische Gesindel macht sich unglaublich breit.
Die Seelenwanderung findet sich z. B. auch bei Basilides, vgl. Sclunidt, Texte und
Unt. Vni S. 418.
Köpyj y.öa|iO'j. Tendenzen der religiösen Neubildungen 177
dringen. Weoliselndi' Bt'gii-rdon und täuschende Holfnunj^en, Furcht und
Kummer sollen ihn bedrängen untl hemmen, Fieber ihn niederdrücken. Her-
mes billigt den Vorsclüag- und schafft die alles Irdische unter ihre unabänder-
lichen Gesetze zwingende und knechtende Adrasteia. Noch fehlte überall
die rechte Gnosis (402, 27 W.). Die erst eben eingekerkerten Seelen fügen
sich nicht Avillig in ihr Schicksal, ihi-es ursprünglichen Adels sich bewusst
lehnen sie sich auf, stiften Krieg, Gewalttat, Frevel. Anklagend erscheinen
die Elemente vor dem höchsten Gott und beschweren sich über die Ent-
weihung'. Die Erde begehrt mit allem, w-as sie trägt, die Gottheit zu
fassen oder doch wenigstens eine heilige Emanation. Und Gott sendet Osi-
ris und Isis den Menschen als Helfer, die Sittlichkeit und Kultur verbreiten. —
Zur Anklage der Elemente können wir wieder eine christianisierte Fassung
eines Abschnittes der clementinischen HomiLieu (VIII 17) vergleichen, der
auch sonst merkwürdige Parallelen zur hermetischen Schrift bietet. In einem
zweiten Stücke (Stob. p. 407 ff.) wird die Genesis der königlichen Seelen, ihre
Verwandtschaft mit den Göttern, ihre Erhabenheit über die andern Seelen-
Idassen geschildert, sehr charakteristisch für die Stütze, die der Herrscher-
kult in allen orientalischen Religionssystemen fand. Die Verschiedenheit der
seelischen Charaktere und menschlichen Eigenschaften wird teils von den
sie hinab geleitenden und in den Leib einschliessenden Engeln und Dämonen,
teils von den Oertern ihres Ursprungs, teils von den Elementen, teils von
den Teilen oder Gliedern der als mensclilicher Organismus dargestellten Erde -
hergeleitet.
Meine knappe Zusammenfassung konnte nur einige der auch den
Gnostizismus beherrschenden Motive und Gedanken hervortreten lassen:
Emanationen, Hypostasierung von Begriffen zu göttlichen Gestalten, das
ganze Drama der Seelengeschichte, Materialisierung der seelischen Funktionen
und Herleitung von oberen Mächten, die niederdrückende Gew^alt der Scliick-
salsmächte und als ihr Komplement das inbrünstige Verlangen nach Erlösung,
die Erlösung der Einzel-Seele nur ein Glied des kosmischen Erlösungsprozesses.
Der Zweck meiner Behandlung der Gnosis war, jene die hellenistische römi-
sche Welt sich erobernden Strömungen einer neuen religiösen Kultur als die
Macht zu erweisen, von der auch die Propaganda der Gnostiker ihren Aus-
gang genommen und die entscheidende Richtung empfangen hat. Die ganze
Fülle der Erscheinungen konnte und wollte ich nicht entfernt erschöpfen.
Auf die Konsequenzen meiner Auffassung dieser ganzen Entwicklung auch
für das Urchristentum muss ich noch hindeuten. Lange ehe die Wellen der
orientalischen Propaganda nach Rom schlugen, hat der orientalische Synkre-
tismus in seiner Verbindung mit hellenistischer Spekulation auf den Osten,
besonders auf Syrien, Aegypten, Kleinasien stetig eingewirkt. Von den trei-
benden rehgiösen Kräften dieser Bewegung können wir uns eine klare Vor-
stellung nur aus den späteren synkretistischen Religionsbüchern bilden, die ja
aber auch meist auf frühere Stadien einer ihnen vorausliegenden Entwicke-
lung deuthch hinweisen. Die fi'üheren Spuren der Wirksamkeit dieser orienta-
') Vgl. Diels, Elementum S. 47. Höfischer Stil und Zeremoniell ist nachge-
bildet, so 403, 19 -/pTiiiaTi^siv 405, 23 ivTuxia. Vgl. auch 399, 17 w 'E^\rr„ ifswv O-oii-
vy,|iaTOYpä-^s. 395,4 jisYaXdeogo; vgl. S. 763. ■') P. 410 wird die Fi-age, ob der
Seele schon das Geschlecht anhaftet, erörtert, auf die, wie TertiiUian De anima 36
lehrt, die Gnostiker verschiedene Antworten gaben, o-ks sl^lv appsvs; oOis d-y,Xz:%:.
„Und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib, und keine
Kleider, keine Falten umgeben den verklärten Leib.'- Vgl. Wüamowitz, Gott. gel.
Anzeigen 1904 S. 664, Preuschens Antilegomena ^ S. 2. 12. 84.
Lietzmann, Handbuch z. Xeueu Test. I, i'. 12
178 X Synkretismus und Gnostizismus
lisc-hen Einflüsse beginnen wir jetzt sicherer zu erkennen. Poseidonios, von
dem die religiöse Literatur der folgenden Zeiten in hohem Masse abhängig
ist, hat mancherlei orientalische Vorstellungen und Stimmungen vermittelt.
Ohne die Einwirkungen, die Philo von ihm und von der religiösen Bewegung
des Orients empfangen hat, ist seine Weltanschauung nicht verständlich. Dass
die hieratisi-he Sprache der Apokaly])se und des Johannesevangeliums von
dieser heidnischen Mystik berührt zu sein scheint, wird in Teil 111 ausgeführt
werden. Und ähnlich steht es auch mit Paulus, dessen Religiosität einen
starken Einschlag von diesen Motiven, die ihn beständig berühren mussten,
empfangen hat. Die starken Kontraste seiner Frömmigkeit, die gefährliche
S})annung von Geist und Fleisch imd die Tendenz zur Askese, die Neigung zur
Hypostasieruug oder Materialisierung der geistigen Funktionen und religiösen
Vorgänge, Mj^sterien- und Offenbarungsbegriff, das Bild der in Stockwerken
über einander gelagerten Welt, das Erlebnis der eigenen Auffahrt, die reali-
stische Vorstellung der oberen Geisterklassen, der Knechtung des Menschen
unter ihre Gewalt, des Kampfes gegen diese Gewalten, die Sehnsucht nach
einer Erlösung, die sich auch bei ihm zu kosmischer Bedeutung erweitert
und steigert — alles das sind Bilder, Gedanken, Stimmungen, für welche
die Religiosität der rein heidnischen Mystik eine Fülle von Analogien ' bietet,
ilie sich nur in einem Buche erschöpfen liessen. Das Christentum als Erlö-
sungsreHgion werden wir erst auf diesem Untergründe recht verstehen lernen
müssen. Für diese Periode gilt wirklich die Parole ex Oriente lux. mit der
jetzt so starker Missbrauch getrieben Avird; aber es ist schwer für uns,
die "v\dr uns nur auf dieser Erde heimisch fühlen, deren Auge ganz
verdunkelt und deren Seele mit undui-chdvinglichen Hüllen überkleidet ist,
in die fremden Regionen dieses Lichtes uns zu erheben. Und wir meinen
auch, in ihnen Jesus nicht zu finden, dessen Bild sich von diesem Dunstkreise
so klar abzuheben scheint. Aber vor ihrer Hellenisierung hat Jesu Lehre
einen Prozess der Orientabsierung durchgemacht, für den Paulus von ent-
scheidender Bedeutung ist. Mit jüdischer Theologie und dem nei;en christ-
lichen Geistesleben verschmilzt sich bei Paulus die Mystik der orientalischen
Erlösungsreligionen und bereichert ihn nicht nur mit einzelnen Stimmungen
und Vorstellungen, die accidentiell sind, sondern bestimmt die Haltung seiner
zentralen Christusmystik, um die sich jene Gedanken und Motive gruppieren.
Das ist nicht vorzustellen als Prozess mechanischer Uebertragung und Ent-
lehnung, sondern nach der Analogie der Hellenisierung des Christentums als
eine unbewusste und unwillkürliche Umbildung auf dem Boden eines von
der Atmosphäre jener orientalischen Religionen stark erfassten Bewusstseins.
Dass eine direkte Berülirung mit dieser Atmosphäre stattgefunden hat-, dass
aber auch diese Vorstellungen durch das Medium des Judentums und pauli-
nischer Gemeinden, die imter ihrem Einfluss standen, auf Paulus gewdrkt
haben, scheint mir gleich wahrscheinlich. Was uns an der paulinischen
Religiosität fremdartig und paradox erscheint, stammt oft gerade aus dieser
Atmosjihäre und konnte in seiner Zeit seine Wirkung nicht verfehlen. Man
mag die Fassung des Gunkelschen Satzes (S. 88) „das Urchristentum des
Paulus und des Johannes ist eine synkretistische Religion" beanstanden, weil
') Erst nachträglich sehe ich, dass Gunkels bewunderungswürdiges Feinge-
fühl a. a. O. S. 86 ff. diesen orientalischen Einschlag weniger bewiesen als divi-
natorisch geahnt hat, dass Bousset S. 144. 145. 234 schon ähnliche Schlüsse gezogen
hat. S. besonders Dieterich. -) Auf die Spuren der Mithrasreligion in Tar-
sos (Cumonts Mithraswerk 1 S. 240. II S. 189. 438) sei nur als auf eine Möglich-
keit der Venxdttelung liingewiesen. Vgl. Pfleiderer 1 S. 44 ff.
Paulus und die orientalischen Erlösungsreligionen 179
sie die starke Einheitlichkeit der religiösen Grundstinimung nicht zum Aus-
druck bringt. Der Gedanke selbst, dass orientalische Gnosis auf die beson-
dere Religiosität des Paulus gewirkt hat und dass dieser Faktor den unleug-
baren Abstand zwischen dem Christentum des Paulus und dem Evangelium
Jesu erklären hilft, ist m. E. unanfechtbar, imd man rauss von Religion
seltsame Vorstellungen haben, wenn man in der Erkenntnis, dass das Evange-
lium im Apostel neues und individuell bestimmtes religiöses Leben entzündet
hat, eine Grefahr und nicht einen neuen Beweis für die erstaunliche Produk-
tionskraft und das intensive Leben des Urchristentums sieht.
Diese Einwirkung auf Paulus allein könnte mahnen, Wirkung und Wert
der orientalischen Religiosität nicht zu gering einzuschätzen. Die Stimmungen
und Motive sind das eigentlich Wesentliche und dauernd Wertvolle; sie über-
raschen und ergreifen uns immer wieder, wenn oft der trostlose Ballast des
mythischen und rituellen Apparates imsern äussersten Widerwillen erregt
hat'. Poseidonios und Philon, die Gnosis und der Neuplatonisraus, Origenes
und Augustin zeigen alle mehr oder weniger einen Einschlag dieser orienta-
lischen Religiosität, und schon die Namen erwecken die Perspektive in weite
Fernwirkimgen. Die Verfeinerung der Psyche und die Individualisierung des
innersten Seelenlebens, die das Christentum der modernen Menschheit als
dauernden Besitz vermittelt hat, hat sich ztinächst vollzogen durch eine Ver-
tiefung imd Steigerung des religiösen Lebens, auf die neben dem Evangelium
der orientalische Synkretismus direkt wie durch jüdische tmd christliche
Vermittelung eingemrkt hat.
Eine alte, reiche Kulturwelt im Sterben und in der Agonie, im Sehnen
nach einer Neuschöpfung und Wiedergeburt, in einer nicht zum Ziele kom-
menden Unruhe des Gottsuchens — so stellt sich uns das niedergehende
Heidentum dar. Dass das Christentum in diese gährende Welt neue und
hohe Ideale gestellt hat, dass es aber auch aus ihr die hoffnungsvollen tmd
lebensfähigen Keime, sittliche und religiöse Kräfte an sich gezogen hat, hat
ihm den Sieg gegeben. Darum kann man sagen : Die Betrachtung der helle-
nistisch-römischen Kultur unter dem Gesichtspunkte ihres Verhältnisses zum
Christentum ist unter andern möglichen diejenige, die den letzten Ertrag der
ganzen Entwdckelung, mit welchen Empfindttngen man sie auch begleiten
mag, am besten zum Ausdruck bringt.
^) Wer das für Illusion hält, lese z. B. Gunkels Nachdichtungen im Aprilheft
der Deutschen Rundschau 1907.
12 =
BILDERANHANG
von Hans Lietzmann
Die im folgenden gegebene Auswalil von Bildern soll einem analogen Zwecke
dienen wie die Inscliriftenbeilagen : ans dem reichen Material, das dem pliilologi-
schen Fachmann zur Hand zu sein pflegt oder jederzeit bequem erreichbar ist,
sollen dem nicht in so glücklicher Lage befindlichen Leser wenigstens einige we-
nige Proben geboten werden, die zur Illustration der vorn im Text gegebenen
Darstellung dienen können. Von manchem, das bisher nur kurz berührt worden
ist, werden die Abbildungen mit einigen Worten der Erläuterung versehen, eine
klare Anschauung schaffen, die gerade in religionsgeschichtlichen Dingen von be-
sondero hohem Wert ist. — Herr Geheinu-at Loeschcke-Bouu hat die grosse Freund-
lichkeit gehabt, alle bei der Erklärung der Bilder in Betracht kommenden Fragen
mit mir durchzusprechen, ihm verdanke ich's si quid boni inerit.
TAFEL I: Auf der Höhe der Velia, welche die Niederung- des römischen
Forums von dem Colosseumsplatze trennt, erhebt sich über der Triumphal-
strasse der Sacra ria noch heute der Bogen des Titus \ das Denkmal der im
Jahre 70 erfolgten Zerstörung des jüdischen Nationalstaates und seines Heilig-
tums, des Tempels zu Jerusalem. Das auf der Nordseite im Innern des Bogens
unterhalb der Kassettendecke der Wölbung angebrachte Relief zeigt die
Krönung des auf der Quadriga fahrenden siegreichen Titus durch die Victoria,
die entsprechende Stelle der Südseite bildet die wichtigste Szene aus dem
Triumphzug ab: wir erblicken rechts den Titusbogen selbst, den der Feld-
herr mit seinem glänzenden Gefolge bereits passiert hat. Nun nahen sich
die Haui)tstücke der Beute, auf den Schultern der lorbeergeschmückten,
nur mit leichter Tunika bekleideten Soldaten ruhend, dazwischen schreiten
gesenkten Hauptes gefangene Juden. Vor jeder Gruppe wird auf hoher
Stange eine Tafel getragen, welche dem zuschauenden Volke die Bedeutung
des folgenden Schaustückes meldet. Zuerst kommt der Tisch für die Schau-
brote (Ex 25 23 — yo), auf dessen Platte ein Opfergefäss steht; über die Stege,
welche seine Beine paarweise verbinden, sind im Kreuz die zwei silbernen
Posaunen gelegt (Num 10 i — lo), deren Schall das Opfer zu begleiten pflegte.
Es folgt der siebenarmige Leuchter (Ex 25 3i — lo) aus getriebenem Golde,
der gleich dem Schaubrottisch im Vorraum des AUerheiligsten seinen Platz
*) A. Philippi, röm. Triumphalreliefe (= Abh. d. sächs. Ges. d. Wiss. phil.
bist. Gl. VI) S. 252.
Tafel 1. 2. ;} 181
hatte. Eine neue Tafel flahinter kündet ein weiteres Beutestück an, das auf
dem Relief keinen Platz mehr gefunden hat.
TAFEL 11 bietet zwei Darstellungen, die nach hellenistischen Vor-
bildern geschaffen und für zwei hellenistische Kulturzentren besonders cha-
rakteristisch sind. Die Schutzgöttin von Antiochia (Vatikan) ist keine
andere als die Götternuitter Kybele selbst: das Diadem der Mauerkrone
macht sit kenntlich (vgl. Taf. VI 2). Ihre Wohnung sind die Berghöhen
des Silpios, die sich hinter Antioclüa erheben: darum erblicken wir sie hier*
auf einem Felsen sitzend. Während die Rechte ein Aehrenbündel erhebt,
schweift ihr Auge liinaus in die weite Ebene, die sie mit diesen Früchten
des Feldes reich zu segnen gedenkt. Ihren Fuss setzt sie dem unwillig
sich aufbäumenden Orontes auf die Schulter, dessen wilde Fluten Stadt und
Land so oft mit Verwüstung bedrohen. In lässiger Ruhe hat sich der
Vater N i 1 (Vatikan) behaglich gelagert, ein Riese von mächtigem aber nicht
plumpem Kör}ierbau, das ernste Anthtz umrahmt von Bart und Haupthaar,
dessen reiche Fülle sich in gewellte Strähnen gliedert, leise vom Wind be-
wegten Wogen vergleichbar. Aber um den gewaltigen Mann tummelt sich
das fröhliche Leben eines echt alexandrinischen Idylls. Sechzehn der kleinen
,,Putten", welche die hellenistische Kunst geschaffen hat und die seitdem
bis zum heutigen Tage zu den unentbehrlichen Requisiten der bilden-
den Kunst wie der Poesie gehören, umspielen den Vater: die heiligen Tiere,
Krokodil imd Ichneumon, müssen mittun, auf cüe Getreide spendende
Rechte klettern zwei Bürschchen, und eins greift dem Alten in die Locken
und wdnkt dem Bruder, ihm nachzusteigen. Am höchsten ist das Kerlchen
geklettert, das sich stolz oben im Füllhorn umblickt, während seine Kame-
raden über das Ende des Hornes und den Rücken des träumenden Sphinx
lustig hinabrutschen. Selten ist eine so nüchterne Tatsache wie die, dass
der Nil alljährlich sechzehn Ellen steigt, so anmutig ausgedrückt worden.
TAFEL in gibt zwei Proben hellenistischer Porträtkunst. Zunächst
den schlicht behandelten Kopf des Poseidonios nach einem Neapeler
Marmor, dessen klare, ruhige Züge um des S. 84 ff. gesagten willen für
uns von ganz besonderem Interesse sind. Das zAveite Bild gibt einen
Broncekopf des Neapeler Museums wieder, den man frülier für
Seneca oder CaUimachus hielt. Es ist neben dem allbekannten blinden
Homer das beste Beispiel für die Meisterschaft, mit der die hellenistische
Kunst nach Lysipp ihr enormes Können in der Wiedergabe des Porträts
in den Dienst der Aufgabe stellte, non tradilas ruihts, Idealköpfe der Ver-
gangenheit darzustellen. In wirren Strähnen fällt das Haupthaar in die
gefurchte Stirn. Die Augen blicken herb, scharf zeichnen sich die Backen-
knochen ab und eine tief eingerissene Linie zieht sich von den Mundmnkeln
zu den Nasenflügeln; ein kurzer ungepflegter Bart umgibt den halbgeöff-
neten Mund, aus dem ein Wort des Spottes zu klingen scheint. Mit beson-
derer Sorgfalt ist die Muskulatur des langen hageren Halses gearbeitet. Der
Kopf war darauf berechnet, halb von vmten gesehen zu werden (also anders
wie unsere und alle andern veröffentlichten Abbildungen) und stellt vielleicht,
wie die Barttracht lehrt, einen Dichter der alten Zeit, etwa einen Jambo-
graphen wie Archilochos oder Hipponax ' dar.
*) So Loeschcke und bei Gelegenheit der Erklärung einer Marmorreplik des
Kopfes Furtwängler Sammlung Somzee 1897. S. 36. Taf. 26.
182 Bilderanhang
Kaiserkult
TAFEL IV: S. 93 ist erwähnt worden, dass Commodus sich als
Herakles verehren Hess. Im Konservatorenpalast auf dem Capitol zu
Rom ^ befindet sich eine Darstellung von ihm im Kostüm dieses Heros. Der
Löwenrachen dient ihm als Helm, die Rechte führt die Keule, die Linke hält
die goldenen Äpfel der Hesi)eriden. Rechts und links von der Büste waren
wie Wappenhalter zwei Seekentauren angebracht, wohl um die Seegewalt
des Kaisers zu dokumentieren. Direkt unter der Büste spielt ein halbmond-
förmiger Amazonenschild auf den Beinamen des Commodus „Amazonius" an,
darunter bildet ein Himmelsglobus (mit Horoskop ?) das Fundament des Auf-
baus. Zwei knieende Frauengestalten, gekreuzte Füllhörner mit den Händen
stützend, scheinen Personifikationen gehorsamer Pro\änzen zu sein.
Aus den zahlreichen Darstellungen der Apotheose von Kaisern heben
wir die des Antoninusund der Faustina heraus, die sich an der Basis der
Antoninsäule befand und jetzt im Giardino deUa Pigna des Vatikans steht'.
Links unten ruht ein Jüngling, dessen Linke einen Obelisken umfasst: die Per-
sonifikation des Campus Mitrlms (auf dem Augustus einen Obelisken hatte
errichten lassen), des Ortes an welchem der Scheiterhaufen des entsclilafenen
Kaisers lohte. Ein Genius mit mächtigen Fittichen schwingt sich von dort
gen Himmel empor vmd trägt auf seinem Rücken das göttliche Herrscher-
paar den di superi entgegen. Zwei Adler, wie sie stets aus den Scheiter-
haufen der toten Kaiser als Träger der königlichen Seele emporzusteigen
pflegten ^ begleiten den Flug. In der linken Hand trägt der Genius einen
von einer Schlange umringelten Himmelsglobus, der das Horoskop der
Konseki'ationsstunde angibt und somit zum Zeugnis für die S. 76 f. 170 ff.
behandelte Bedeutung der Astrologie dienen mag. Die rechte untere Hälfte
des Bildes füUt die dea Roma aus, die ihren linken Arm auf den Schild
mit dem Wappen Roms, der säugenden W'ölfin, stützt: zu ihren Füssen sind
Kriegstrophäen ausgebreitet.
TAFEL V 1) Das erste Bild gibt einen Laribus Augusti (S. 90) geweihten
Altar wieder, den ein inafßisler rici namens Roscius gewidmet hat '. Die
Reliefdarstellung zeigt uns die Darbringung des altrömischen Opfers der
Suovelaurilia. Mit Binden, die um die Mitte des Leibes gewunden sind,
geschmückt werden ein Stier und ein Schwein zum Altar geführt, das dritte
Tier, das Schaf, hat in dem engen Raum keinen Platz mehr gefunden. Im
Hintergrunde links steht mit einem Kranz auf dem Haupte der Opferdiener
mit den Geräten, am Altar treffen beim Schall der Flöte die ponlifices die
Vorbereitimgen zur heiligen Handlung.
Kleinasiatische Gottheiten
TAFEL V 2) Im .lahre 204 v. Chr. wurde auf Geheiss der sibyl-
ünischen Bücher der heilige Meteorstein der Idaeischen Magna Mater von
Pessinus nach Rom überführt und erhielt auf dem palatinischen Hügel ein
Heiligtum angewiesen, dessen Grundfesten heute noch stehen. Als das Schiff
') Heibig, Führer durch die Sammlungen Roms I ' n. 553. -) Vgl. Pe-
tersen bei Amelung, Skulpturen des Vatikanischen Museums. Bd. I S. 887 ff. Taf. 116.
») Marquardt, Rom. Staatsverwaltung LH- S. 275. 467 i. ^) Vgl. Corp. Inscr.
Lat. VI 30957.
Tafel 4. 5. ü 183
Salria bei der Eiutalut in den Tiber stecken blieb, zu^- (Uiiudia (Quinta es
allein aus der Untiefe heraus prccata propolam, nt ila dcinnm sc scquerelur,
si sibi pudicHia conalarel und bewies durch dies j^öttliche Wunderzeichen
die Unrichtigkeit des yegen sie erliobenen Klatsches '. Das in Rom (Vatikan)
erhaltene Relief - stellt die Szene mit der künstlerisch wirkungsvollen Variante
dar, dass statt des heiligen Steines die Göttin selbst auf dem Verdeck des
Schilfes tliront.
Zugleich mit ilem hl. Stein gelangt auch das i)hrygische Kultpersonal
der Göttermutter, die verschnittenen Gallig nach Rom und geniesst dort für sich
und seine dem Römer höchst fremdartigen Gebräuche obrigkeitlichen Schutz.
In der Kaiserzeit begegnet uns mehrfach als das Haupt dieses Kultes der
Archigallus, der sogar römischer Bürger ist.
TAFEL VI 1) zeigt das im kapitolinischen Museum zu Rom betind-
liche Relief eines solchen Archigallus in vollem Ornat-'. Er ist be-
kleidet mit einer Aermeltunika und einem Mantel. Um den Hals ringelt
sich ein schlangengestaltiges Halsband. Den Kopf deckt ein Schleier, auf
den ein mit drei Schildern geschmücktes Diadem gedrückt ist. Die Me-
daillons enthalten in der Mitte ein Bild des idäischen Zeus, zu beiden Seiten
den mit der phrygischen Mütze bedeckten Attis. In das Haar sind Woll-
binden geflochten, welche laug auf die Brust herabfallen. In der linken
Hand trägt der Priester eine Schale mit Früchten, darunter den der Kybele
heihgen Pinienzapfen ; darüber erblicken wir eine an beiden Enden mit dem
Zeuskopf verzierte Geissei, deren drei lange Lederriemen mit Knochen- oder
Bleistücken reich besetzt sind. Die rechte Hand hebt einen Granatapfel
und drei grüne Zweige empor. Darüber hängt ein Paar cymbala, dem auf
der andern Seite eine Handpauke entspricht: darunter sind eine gewöhnliche
gerade imd die gekrümmte phrygische Flöte gekreuzt, unter diesen die
geheimnisvolle cistn. Am 24 März, dem dies sanyuinis, vereinigten die
Flöten ihren SchaU mit dem Klang der Becken und Tambourins zu sinn-
betörender Wirkung, im wilden Tanze drehten sich heulend die GalH und
unter den Schlägen der Geissei troif vom Rücken das Blut, bis in höchster
Ekstase die Priester mit scharfen Dolchen ihre Arme zerfleischten, die von
der Gegenwart ihrer Gottheit berauschten Jünger das blutige Opfer der
Selbstentmannung vollzogen ^.
2) Einen heute zerstörten Kybele alt ar hat Zoega BassiriHevi tav. 13.
14 veröffentücht. Er trägt die Inschrift M(alris) Dfcum) M(afinapJ Ifdaeae)
el Attinis und L(ucius) Cornelius Scipio Orfihis i(ir) c(/arissimusj augiir
taurnboliuin sire crioboliiim fecil die IUI kal(endas) Marl(ias) Tusco et
Anullinn cos(nlibii)s (= CIL VI 505 Hepding Attis S. 88).
Der genannte hohe Beamte und Stifter des Altars ist also am 26 Februar
295 n. Chr. durch Besprengung mit dem Blut eines geopferten Stieres und
Widders eingeweiht, ..wiedergeboren- worden (vgl. S. 174). Beide Opfer-
tiere sind denn auch mit den breiten Leibgurten und den um die Hörner
geschlungenen Wollbinden auf der Rückseite des Altars zu beiden Seiten
der heiligen Pinie dargestellt. Diese selbst ist mit Glocken, einer Hand-
*) Sueton Tiberius 2 u. ö. Vgl. Wissowa, ReUg. u. Kultus d. Römer 8. 263.
2) Vgl. CIL VI 492 Bloch im Philologus LII 581 flf. Heibig Führer 1 ^ n. 433. ^) Hei-
big, Führer I > n. 422 ( ^ n. 433) Wissowa, Religion u. Kultus d. Römer S. 265. Mar-
quardt, Staatsaltertümer III- S. 368 f. *) Die lebendige Schilderung einer
solchen im Kult der 'dea Syria', die mit der Kybele vereinigt erscheint, sich ab-
spielenden Szene verdanken wir Apuleius Metam. VIII 27. Näheres bei Hepding,
Attis S. 160 ft'. Cumont, relig. orient. p. 69 f.
184
BlLDERANHAN«
))auke, einer Kohrilöte, einem Korbe und einei' ci.sla beliiingt. Vögel sitzen
in seinen Zweigen, unter ihnen ein Hahn. Im Attis-Kybelekult spielt die
Pinie eine grosse Rolle: unter ihr hat sich einst Attis entmannt, sie gilt
aber auch als SNinbol des Gottes selbst und wird am 22 März in feierlicher
Prozession in das Kybeleheiligtum getragen '. Auf der Vorderseite des
Altars sehen wir Attis selbst in geschlitzten Hosen, mit der i)hrygischen
Plätze bedeckt, in der Linken ein Tanibourin haltend lauschend hinter der
Pinie stehen ; neben ihm im Boden steckt sein Stab, das pedtnu. Von links
führt mit ihrem Löwengespann Kybele heran, um das Versteck des Geliebten
ausfindig zu machen, welches ihr bald das Krähen des in den Pinienzweigen
sitzenden Hahnes kenntlich machen wird; das Haupt schmückt die Mauer-
krone, über der ein Schleier herabwallt, die Linke stützt sich auf ein Tam-
bourin. die Rechte hält einen Lorbeerzweig.
Ueber die Sabazi osmy st er i en (vgl. S. 77. 107 ') belehrt uns ein
Bilderzyklus der im Bereich der Prateextatkatakombe befindlichen Viucentius-
gruft in Rom, den Garrucci - veröffentlicht hat. An der Wand über dem
Arkosolgrabe, dessen Wölbung und Lünette die Bilder schmücken, steht die
Inschrift Vi/iiceuti hoc o/sliuni?J (jiieles '^ quol rides; phires nie anteces-
.spnniL 0)11 lies e^rpecfo: matidnca, liide el beni at ^ me: cum rlbes, beue
l'uc, hoc lecum feres •'. Dann folgen die Verse
yuniinis iiiitisles Sitba-zis Vüicentius hie e/sl
(JJui Sacra sanclu deuiii " inente pia co[lmJt.
Sabazios ist eine dem Dionysos verw^andte phrygische Gottheit ', die
auf ihrem W^eg nach Westen mit den verschiedensten anderen göttlichen
Wesen Verbindungen eingegangen ist. So hat die Namensähnlichkeit sie
auch zu einem Doppelgänger des jüdischen lac-'js ^aj^awll- gemacht und
einen jüdisch-sjaikretistischen
Kult ähnlich dem des T'j'tatoc;
hervorgebracht , dem mög-
licherweise unsre Vincentius-
bilder angehören ^. Die ersten
drei Bilder sind dem Gedächt-
nis der Gattin des Priesters
Vibia gewidmet: wie einst
die Proserpina, so hat auch
sie der Unterweltsgott ge-
raubt, Hermes der Seelenge-
leiter führt das Viergespann
dem wie ein Brunnenloch ge-
formten P^ingang der Unter-
_ weit zu. So stellt das erste
Ai.biiduriK 1. '" Bild die abrepUo Vibies el
discpiisio (=^ discesslo) dar. Auf dem zweiten Bild erblicken wir den
Thron des Herrschers im Totenreich Dispaler und seiner Gattin Ae?'a cura
') Wissowa, Kel. n. Kultus 266. Cumont, rel. orieiitales 6!) fl'. -') Storia
deir art. cristiana VI p. 171 ff. tav. 493. 494, wonach unsere Abbildungen. Neu
veröffentlicht von Wilpert, Die Malereien der Katakomben Roms Taf. 132. 133.
Erklärung hei E. Maass, Orplieus S. 207 ff. Zur Inschrift vgl. Buecheler, Carmina
epiirraphica n. 1317. CIL VI 142. •'') Für quietis? ^) = ueni ad wie
nachher ribes = vires. ■•) Vgl. Apoc 14 13. ") deiim-deoruin. ') Näheres
bei Gruppe M\^hologie II 1.532 ff. **) Vgl. Cumont in Comptes rendues de
l'Academie des Inscriptions 1906 p. 63 ff. und rel. orient 79 f.
Vincentiusfirruft
186
(= "Hpa -/.oüpay). Von rechts erscheint, geführt vom Mercuris mmlins,
Vibia, hinter ihr schreitet als Fürsprecherin beim Totengericht Alcestis, die
typische Mustergattin, um zu bezeugen, dass die Verstorbene ihr gleich ge-
Auf der andern
A£XAC\RK'^
i^TK'^mMWK'
wesen sei
Seite des Thrones stehen die
drei Schicksalsgöttinnen '. die
Fallt d'imua. Das Gericht
befindet die Vibia für würdig
der ewigen Seligkeit: auf
dem Lünettenbilde (3) ist
links die Jitdiiclio Vihles dar-
gestellt: der (liuicliifi hntuts
führt sie durch das himmlische
Tor in die blumigen Auen des
Paradieses, auf denen wir be-
reits zwei Selige mit Knöchel-
spiel oder Blumenpflücken
beschäftigt erblicken. Im Hin-
tergrunde sitzen die durch
Richterspruch der unerbittlich
strengen Götter, die euphe-
mistisch .,die Guten'- genannt werden, für untadelig befundenen bononun
htdicio iudicall beim himmlischen Mahle unter den Bäumen des Gartens,
mit Kränzen geschmückt in festlichen Kleidern, Vibia unter ihnen. Ans
Abbildung 1.
Abbildung 3.
Ende dieses seiner verstorbenen Gattin gewidmeten Cyklus hat sich der
überlebende Vincentius selbst gestellt: beim Kultmahle der septe(m) pii
sacerdotes des Sabazius erblicken A\-ir den Vincentius, gleich zwei anderen
Kollegen mit einer hohen phrygischen Mütze geschmückt : die Zugehörigkeit
M Ihren Bart verdankt die Mittelste nur dem Zeichner Garruccis. Die Ab-
bildung bei Wilpert zeigt deutlicli ein bartloses Gesicht.
186
Bilderanhang
zu dem ^eweiliten KoUejariuni verbürgt auch ihm den Zutritt zum Orte der
Seligkeit.
TAFEL VII I) Um ihrer Bedeutung für das Neue Testament (Act 19
■j:j — u) willen sei hier auch
die Artemis von Ephe-
sus nach einem Neapeler
Exemplar abgebildet'. Kopf,
Hände und Püsse des Ori-
ginals waren aus Ebenholz
geschnitzt, daher sind sie
in vielen der erhaltenen Ko-
pien schwarz gefärbt. Die
Göttin trägt die Mauerkrone
auf dem Haupte, hinter dem
sich die volle Mondscheibe
rundet. Zu beiden Seiten
des Kopfes wie auf dem
oberen Teile des den Un-
Abhiidung 4. terlcib eng umspannenden
Gewandes befinden sich geflügelte Stiere und Widder, wie sie die babylonische
Kunst geschaffen hat und die Phantasie des Apokalyptikers (Apoc 4 7) erblickt.
Auf beiden Armen kriechen schmeichelnd Löwen zu ihrer Herrin empor, deren
unzählige Brüste unter dem ägisartigen, mit Reliefarbeit verzierten, Halskra-
gen hervorquellen. Die Biene am unteren Saum des Kleides erinnert daran,
dass die Priesterinnen der ephesinischen Artemis ixs/.'.'jaa'. hiessen.
Isis
TAFEL VII 2) Im Laufe des I Jahrhunderts vor Christus hat sich
trotz wiederholter Abw^ehrmassregeln des Staates der Isiskult, der schon
weite Gebiete des Ostens erobert hatte, auch in Rom heimisch zu machen
gewusst. Auf dieser Wanderung durch die östlichen Mittelmeergebiete ist
viel von der spezifisch ägyptischen Eigenart der Form verloren gegangen
und eine Assimilation an das griechische eingetreten. Die Abbildung 2 gibt
die für die hellenistisch-römische Zeit typische Darstellung der Isis, w-ie sie
in zahlreichen Repliken sich findet ^, nach einem Exemplar des Neapeler
Museums wieder. Ueber die Tunika ist der mit Fransen besetzte Mantel
geschlungen und seine Enden sind auf der Brust zum „Isisknoten" geschürzt.
Das gewellte Haar deckt ein Schleier, die Stirn überragt das Symbol der
Göttin, die Mondscheibe und die Lotosblüte. Die rechte Hand hält die
metallene Klapper, das Sistnim, empor, während die linke einen mit Nil-
wasser gefüllten Henkelkrug hält.
Das folgende Relief (3) aus dem vatikanischen Museum stellt eine Isis-
prozession dar. Voran schreitet die an der Stirn mit dem Symbol ihrer
Göttin geschmückte Priesterin, um deren linke Hand sich die heilige Uräus-
schlange windet: in der rechten trägt sie ein Gefäss. Hinter ihr folgt der
„Hierogrammateus'- mit Sperberfedem an der Mütze, aus der heiligen Rolle
') Zahlreiche Repliken bei S. Reinach, Repert. de la Stutuaire I 298 ff'. II
321 f. in 98. Dazu vgl. Röscher, Lexikon I 588 ff". Die Statuen stammen sämt-
lich aus römischer Zeit. Wichtig die Münze Archäol. Zeitung 41 S. 284 Fig. 4.
-) S. Reinach, Repertoire de la Statuaire I 87. 611 ff. FI 420 ff. 809 f. IH 124 f.
Tafel 7. 8. 9. 10 187
Gebete rezitierend. Dann kommt eine in Tücher gehüllte Gestalt, die einen
grossen Krug mit dem zur Reinigungszeremonie dienenden Nilwasser auf
beiden Armen trägt. Die den Beschluss bildende Dienerin schwingt in der
Rechten das klirrende Sistrum und trägt in der Linken eine mit eigentüm-
lichen Ansätzen am Stiel versehene Schöpfkelle.
TAPEL VIII: 1) Wie auf dem vorigen Relief die fülirende Priesterin
als Kopfschmuck das Symbol der Göttin trug, so zeigt uns der in 1 wieder-
gegebene athenische Grabstein ' eine Isispri esterin im vollständigen
Kostüm ihrer Herrin. Soterion, der Eigentümer des Grabes, wie uns die
Inschrift belehrt, hat sich selbst in feierlicher Positur, die Testamentsrolle
in der herabhängenden Linken, an der Seite seiner Gattin, welche Priesterin
der Isis war, auf dem Grabsteine darstellen lassen.
MiTHRA
Von den zahlreichen Monumenten des Mithraskultes, die F. Cumont ^
gesammelt hat, ist hier eins der grössten, die auf beiden Seiten mit Reliefs
bedeckte Platte eines Mithraeum zu Heddernheim wiedergegeben
(TAFEL IX imd X: Cumont nr. 251). Den Mittelpunkt der Vorderseite
nimmt die auf den meisten Platten wiederkehrende Stiertötung in Anspruch.
Die Darstellung steht unter dem bestimmenden Einfluss eines seit den
Perserkriegen in der griechischen Kunst verbreiteten Motivs, das zunächst
in verschiedeneu DarsteUnngen des Herakles seinen Ausdruck findet, der die
Hirschkuh von Keryneia am GcAveih packt und das sich sträubende Tier
mit dem Knie zu Boden drückt. TAFEL VIII 2 gibt eine Bronzegruppe
dieses Typs in Palermo wieder, die auf eine Komposition des Lysipp zu-
rückgeht. In der Schiüe des Phidias war dies Motiv bereits auf Nike über-
tragen: an der Balustrade des Tempels der Athena Nike w^ar die Göttin
in dieser Haltung eine Kuh opfernd dargestellt ^. In hellenistischer Zeit wurde
dies letzte Motiv noch weiter durch Menaechmus (III Jh.) umgestaltet * und
ist in dieser Form oft wiederholt '\ Ein Beispiel aus dem vatikanischen
Museum bietet das Relief TAFEL IX 2.
Nach dem Vorbild des Menaechmus ist dann wohl im ersten Jahrhundert
der Kaiserzeit die uns vorliegende Mithrasgruppe entworfen worden (vgl.
S. 79).
Was nun den Inhalt der Darstellung anlangt, so ist es nur durch aus-
giebige Kombination von Nachrichten und Darstellungen möglich gewesen,
den Sinn dieses Gewirrs von Figuren zu enträtseln "'. lieber dem flattern-
den Mantel erblicken wir einen Raben, der dem Mithra vom Sonnengott den
Auftrag gebracht hat, den Urstier, das erste Geschöpf des Ahura Mazda
zum Heile der Welt zu töten. Darauf hat Mithra das Tier verfolgt und in
einer Höhle zu Boden geworfen : während die Linke in die Nüstern des von
dem Knie des Helden niedergedrückten Stieres greift, bohrt die Rechte ihm
den tödlichen Dolch in den Hals. Zwei Gefährten, Cautes und Cautopates,
1) Vgl. V. Sybel, Skulpturen zu Athen nr. 530. -) Textes et Monuments
relatifs airx mysteres de Mithra 1895 — 99. Weitere Nachweise bei Cumonts rel.
Orient. 299 fif. ») Archäol. Anzeiger VI 122 Fig. 17 d. Vgl. Kekule, Die Balu-
strade der Athena Nike. *) Plinius nat. hist. 36, 80 vitidus genu premitur.
'=-) Vgl. z. B. S. Reinach, Repertoii-e de la statuaire I 113. 190. 350. «) Cumont
Textes et Mon. I 304 ff. und bei Röscher, Lexikon d. griech. u. röm. Mythologie s.
V. „Mithras". Vgl. auch Cumunt, Die Mysterien des Mithra, deutsch von Gehrich.
188 Bilderanhang
stehen Fackeln tragend ilirem Meister zur Seite. Aber schon nahen die
feindhchen Abgesandten des Aliriman: Während ein Skorpion die Hoden
des Stieres zerfleischt um seinen Samen zu vergiften, schlürft die Schlange
das in den Krater fliessende Blut, auch der Löwe lauert darauf, sein Teil
zu erhalten. Doch Mithras treuer Hund, der vorher schon die Beute auf-
gespürt hatte, bewacht die aus dem todwunden Tier entschwebende Seele
und geleitet sie zum Himmel, aus dem Leichnam entstehen trotz Ahrimans
Bemühungen die heilsamen Pflanzen, vor allen Weinstock und Getreide:
wie denn schon in der Darstellung aus dem emporgeworfenen Schwanzende
drei Aehren herauswachsen ; aus seinem durch den Mond geläuterten Samen
die Tiere, die wir auf der Rückseite der Platte (X) fröhlich über die Grotte
springen sehen, in der an der Leiche des toten Stieres Helios dem Mithra
eine Weintraube reicht. Auf der oberen Leiste der Vorderseite erblicken
wir links den zu Berg fahrenden Helios, welcher den Mithra an seiner Seite
den Wagen besteigen heisst, rechts die zu Tal fahrende Nacht. Darunter
links eine Episode aus einem früheren Stierabenteuer; Mithra schleift das
erbeutete Tier an den Hinterfüssen mit sich. Daneben setzt er dem Helios
die Strahlenkrone auf und reicht dann einem Knieenden (Helios ?) die Hand.
Die runde Wölbung der 0})fergrotte schmücken die Bilder des Tierkreises,
ein Zeichen des auch in die Mithrareligion eingedrungenen Einflusses der
babylonischen Astrologie : muss doch die Seele des Frommen von Mithra
geleitet sieben Himmel durchschreiten, um von allen uaO-Tj gereinigt die
höchste Seligkeit zu erlangen (S. 167 0".). In dem Zwickel rechts sehen wir,
wie Mithra zur Zeit einer von Ahriman gesendeten Dürre durch einen Pfeü-
schuss Wasser aus dem Felsen lockt, das die davor knieenden Menschen
gierig trinken. In dem Viereck rechts daneben (unter dem Kopf) ist die
Geburt des Mithra dargestellt; mit halbem Leibe ragt er aus dem „mütter-
lichen Felsen'- heraus. Darunter schreitet er nackt, nur mit der phrygischen
Müt'ze bekleidet, auf einen Feigenbaum zu, um sich vor dem Sturmwind mit
dem abgehauenen Laub zu decken. Die übrigen Darstellungen sind uns
nicht verständlich. Medaillons mit den vier Jahreszeiten schmücken die
Ecken.
Ein Heiligtum des Mithras (Mithraeum) zeigt TAFEL XI 1, und
zwar das jetzt von Wasser angefüllte und unzugänglich gewordene unter
S. demente in Rom (natürlich ist es kein Zufall, dass sich über dem
heidnischen Kultort eine christliche Kirche erhoben hat). Die Form dieser
Heiligtümer ist im ganzen Gebiet des römischen Reiches wesentlich gleich.
Weil in der Legende des Gottes die Höhle eine so bedeutsame Rolle spielt,
hat man entweder Felsgrotten gewählt oder dem Versammlungsort durch
Wölbung der Decke den Charakter des aiilrum ^= aTir^Xa^ov gegeben. Durch
einen Vorraum betritt man das Heiligtum : die Eingangswand ist frei, an
den drei andern Wänden beünden sich die etwas abgeschrägten Podien, auf
denen die Gläubigen Platz nahmen. Da der Raum zum Liegen zu schmal
ist, wird man gekniet haben. An der Hinterwand befand sich das Relief
des Stiertöters von den Altären des Sol und der Liinu flankiert : man sieht deut-
lich die Stelle, aus der es herausgebrochen ist, davor war zwischen den Podien
der Opferidatz. Die Mithraeen sind alle klein und fassen höchstens 100 Per-
sonen: so liegt der Schluss nahe, dass nur die höheren Grade der „Einge-
weihten'- Leo, Perses, llclioibomus. Paler nicht aber die niederen Rang-
stufen des Corax Crypliius Miles zu den Mysterien der Crypta Zutritt
hatten (vgl. S. 168).
Tafel 9. 10. 11. l'J
189
.lUlMTI'.U DOMCHKNUS
Jupiter Dolichenus, dem die TAFEL XII reproduzierte Bronze-
platte in Gestalt einer Pfeilspitze geweiht ist, gehört zu den aus dem Orient
durch die Soldaten nach dem Westen veri)Hanzten .syrischen Baalim. Seine
Heimat _ist die Stadt Doliche in der zwischen dem Oberlauf des Euphrat
und dem Taurusgebirge gelegenen Landschaft Commagene. Von hier aus
ist er durch die syrischen Truppen nach Italien und weiter in die Donau-
und Rheinlande, ja bis nach Brittanien verbreitet \\orden und hat sich be-
sonders um 20() grosser Gunst beim hohen und niederen Militär erfreut.
Vom Kult und Wesen dieses Kriegsgottes wissen wir nicht mehr, als das
Wenige was uns die bildlichen Darstellungen lehren K Unsere Platte zeigt
ihn, wie üblich, auf einem Stier stehend, mit der phrygischen Mütze auf
dem bärtigen Haupte, in der hoch erhobenen Rechten eine Doppelaxt, in
der linken den Blitz. An dem quer über die Brust geschnallten Bandelier
hängt das Schwert, die Beine sind nach orientalischer Weise mit Hosen be-
kleidet. Sowohl die Doppelaxt wie die Rosette auf der Stirn des Stieres
machen übrigens einen Zusammenhang dieser jungen Winkelreligion mit der
1500 Jahre älteren kretisch-mykeni-
schen Kultur wahrscheinlich. Beson-
ders lehrreich ist nun aber die Dar-
stellung für den Synkretismus der
mittleren Kaiserzeit : auf den syrischen
Gott schwebt die Nike mit Kranz und
Palme zu. Ueber ihm erblicken wir
die Büste des strahlengekrönten He-
lios, unter ihm eine seltsame Gruppe :
in der Mitte eine Gottheit, welche
das Sistrum der Isis, die IMauerkrone
der Kybele, und die Fackel der De-
meter-(Artemis-Hekate?) tragend auf
einem Esel steht: offenbar das weib-
liche Komplement zum männlichen
Baal. Rechts und links von ihr zwei
Genien mit halbem Leibe aus rätsel-
haften Gewinden (Felsen?) heraus-
wachsend , die auf ihren Häuptern
die Büsten der Luna und des Sol,
in ihren Händen Fackeln in Form von
fiilmina tragen.
Paxtheos
Ein besonders schöneä Beispiel
des Ineinandergehens der verschie- Ab^iidunn .-..
denen Einzelgottheiten zeigt die folgende Darstellung der FortunaPanthea-
nach einer Berliner Bronze. Als man sich daran gewöhnt hatte, verschie-
* Vgl. Cumont Art. „Dolichenus- in Pauly-Wissowa Real-Enzykl. V 1276 ff.
-) Vgl. C. Friedrichs Kleinere Kunst u. Industrie im Altertum (1871) Nr. 1988. Rö-
scher, Lexikon I 2 S. 1534.
i90 BlLDEEANHANG
dene Götter mit einander zu identifizieren, trieb die Entwickelung unauf-
haltsam dem weiteren Ziele zu, alle Götter als verschiedene Offenbarungs-
t'ormen eines einzigen allumfassenden „Pantheos" ^ zu betrachten. Jeder
Kidt pflegte natürlich den von ihm speziell verehrten Gott als diesen „All-
gott" zu betrachten, so dass wir Jupiter, Serapis, Aphrodite, Isis, Silvanus
u. a. m. mit diesem Beinamen bezeichnet linden. Die zahlreichen figürlichen
Darstellungen liefern den Kommentar dazu. So erblicken wir hier die am
Füllhorn kenntliche Fortuna, deren Haupt ausser einem Diadem das Symbol
der Isis zugleich mit dem Halbmond der Artemis schmückt. Am Rücken
sind die Flügel der Nike, über die Brust ist das Hirschfell (vSjjp'.g) der
Artemis oder einer Bakchantin geschlungen, während sie über den Rücken
den Köcher der Artemis geworfen hat. Die rechte führt das Steuerruder
der Tyche, um den Arm. schlingt sich die heilige Schlange des Asklepios,
und aus dem Füllhorn schaut das Knaben gleich gebildete Dioskurenpaar.
' Vgl. Usener, Götternamen S. 345 f.
Berichtigungen:
S. 29 § 3 Zeile 5 „echt" zu streichen.
S. 44 Anm. 2 gehört zu Z. 21.
S. 50 im Titel Hes 3 statt 4.
S. 67 ' „Heraklit" zuzufügen.
Nicht störende Versehen sind übergangen worden.
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