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Full text of "Die hellenistisch-römische kultur in ihren beziehungen zu judentum und christentum"

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PAUL  WENDLAND 


DIE  HELLENISTISCH- 
RÖMISCHE KULTUR 


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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/diehellenistiscOOwend 


DIE 


HELLENISTISCII-RÖMISCnE  KULTUR 


IN  IHHKN  BKZIEIIUNGKN  ZU 


JUDENTUM  UND  CHRISTENTUM 


VON 


Dr.  PAUL  WENDLAND 

O.  PKOFESSOK  IN  BKESLAU 


Mit  5  Abbildungen  im  Text  und  12  Tafeln 

(HAlfDBÜCH  ZUM  NEUEN  TESTAMENT  I,  2) 


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TÜBINGEN 

VERLAG  VON  J.  C.  B.  M  OHR  (PAUL  SIEBECK) 
1907 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


DRUCK  VÜX  II.  LAUPP  JK  IX  TÜBINGEN 


INHALTSÜBERSICHT 

Seite 

Allgemeine  Literaturnachweise 1 

I  D i  e  w e  1 1 g e s c li i  c h t  li c h e  B e d e u  t u n g-  d e s  H 6 11  e n i s m u s     .     .  2 

II  P  o  1  i  s  u  n  d  M  o  n  a  r  c  h  i  e (j 

1  Die  Gegensätze  der  Verfassung 0 

2  Die  neuen  Mittelpunkte  der  Kidtur 10 

3  Neue  Stellung  der  Literatur  und  Wissenschaft 10 

III  Kosniopolitismus  und  Ind  i  vidualismus 13 

1  Kosmopolitische  Stimmung  der  neuen  Zeit 13 

2  Die  Stoa IG 

3  Individualismus 19 

4  Realismus 22 

IV  G  e  s  c  h  i  c  h  t  e  d  e  r  B  i  1  d  u  n  g  s  i  d  e  a  1  e 24 

1  Die  hellenistische  Entwickelung       24 

2  Rhetorik  und  Philosophie  im  Kampfe  um  Rom       27 

3  Römische  Vorherrschaft 29 

4  Zweite  Soplüstik 32 

5  Schulwesen 38 

V  Die  philosophische  Propaganda  und  die  Diatribe     ....  39 

1  Geschichte  der  Diatribe 39 

2  Bedeutung  der  philosophischen  Propaganda 43 

3  Das  Verhältnis  der  pldlosophisch-ethischen  Propaganda  zum  Chri- 
stentum      .  50 

VI  Hellenistische  Religionsgeschichte 54 

1  Aeltere  Entwickelung       55 

2  Uebersicht  über  die  hellenistische  Zeit 59 

3  Die  Philosophie Öl 

4  Rationalistisch-pragmatische  Mythenbehandlung G7 

5  Menschenvergötterung  und  Herrscherkult 73 

Beilage  (Inschrift  von  Rosette) 75 

6  Fremde  Götter.    Synkretismus.    Astrologie  und  Magie       ....  77 
VII  Die  religiöse  Entwickelung  unter  der  Römerherrschaft     .  82 

1  Hellenisierung  der  römischen  Religion 82 

2  Die  Stimmung  der  augustischen  Zeit       87 

3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit      92 

Beilagen  (Kaiserinschriften) 100 

Vni  Hellenismus  und  Judentum 103 

1  Palästinensisches  Judentum 103 

2  Hellenistisches  Judentum lOG 

IX  Hellenismus  und  Christentum 120 

1  Urchristentum  und  religiöser  Synkretismus 121 

2  Urchristliche  Motive  im  Gegensatz  und  in  der  Annäherung  an  den 
Hellenismus 127 


IV  Inhaltsübersicht 

Seite 

3  Pauhis 138 

4  Staat,  Gesellschaft  und  Kirche 143 

5  Christliche  Apologetik 150 

X  S ynkretismn  s  und  G  nostizismns 161 

Bi  Id  e  ra  n  ha  n  "•  von  Hans  Lietzmann 180 


DIE  HELLENISTISCH-RÖMISCHE  KULTUR 

JGDroysen,  Geschichte  des  Hellenismus-,  3  Bde,  Gotha  1877  hat  zuerst 
das  Verständnis  des  hellenistischen  Zeitalters  eröffnet.  —  BNiese,  Geschichte  der 
griechischen  und  makedonischen  Staaten  seit  der  Schlacht  bei  Chaeronea,  3  Bde, 
Gotha  1893.  1899.  1903.  —  JBeloch,  Griechische  Gescliichte  EU  1.  2  Strassburg  1904 
gibt  die  beste  Einführung.  —  JKaerst,  Geschichte  des  hellenistischen  Zeitalters  I 
Leipzig  1901  behandelt  bis  jetzt  nur  die  Grundlegung  des  Hellenismus  in  Philipps 
und  Alexanders  Zeit  mit  besonderem  Eingehen  auf  die  vorbereitenden  Gedanken 
der  Aufklärung  des  sophistischen  Zeitalters  und  der  philosophischen  Spekulation. 
—  Auf  dem  Grunde  einer  tief  eindringenden  Charakteristik  der  gesamten  Kultur 
zeichnet  UvWilamowitz  die  Geschichte  der  griechischen  literatur  in  der  Kultur 
der  Gegenwart  I  8  S.  1—236,  Berlin  und  Leipzig  1905.  —  FSusemihl,  Geschichte 
der  griechischen  Literatur  in  der  Alexandrinerzeit,  2  Bde,  Leipzig  1891.  1892  (Nach- 
sclilagewerk).  —  Weite  kulturgeschichtliche  Gesichtspunkte  eröffnet  ERohdes  Grie- 
chischer Roman-,  Leipzig  1900.  —  Von  EZeller,  Die  Pliilosophie  der  Griechen, 
kommen  Bd.  HI  l'->  und  IH  2 \  Leipzig  1880  und  1903  in  Betracht.  —  JPMahaffy, 
The  süver  age  of  the  Greek  world,  Chicago  1906.  —  Für  die  römische  EntAsdcke- 
lung  ist  ThMoioisexs  Römische  Geschichte  und  daneben  sein  römisches  Staatsrecht 
vor  allem  zu  befi'agen.  Die  kulturgeschichtlichen  Kapitel  der  Römischen  Geschichte 
sind  immer  noch  in  der  Art,  wie  sie  alle  Aeusserungen  des  römischen  Lebens  in 
ihrer  Einheit  begreifen,  unübertrotfen.  Bd.  V,  der  die  Geschichte  der  Provinzen 
in  der  Kaiserzeit  behandelt,  ist  für-  den  Theologen  der  wichtigste.  —  LFriedläkder, 
Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms  in  der  Zeit  von  Augustus  bis  zum 
Ausgang  der  Antonine",  3  Bde,  Leipzig  1888—1890.  —  FLeo,  Die  römische  Lite- 
ratur des  Altertums,  in  dem  schon  erwähnten  Bande  der  Kultur  der  Gegenwart 
S.  313—373.  —  ESCHWARTZ,  Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur-,  Leipzig 
1906  (s.  besonders  IV  Polybios  und  Poseidonios,  V  Cicero).  —  Pöhlmaxxs  und 
Nieses  Abriss  der  griechischen  und  der  römischen  Geschichte  in  IvMüllers  Hand- 
buch der  klassischen  Altertumswissenschaft  HI  4.  5.  —  Gerade  noch  hinweisen  kann 
ich  auf  das  bedeutende  und  gedankenreiche  Werk  von  LHaitk,  Rom  und  Romanis- 
mus im  griechisch-römischen  Osten.  Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Sprache. 
Bis  auf  die  Zeit  Hadrians,  Leipzig  1906.  Es  gibt  eine  ausgezeichnete  Ergänzung 
meiner  Darstellung,  besonders  auf  politischem  Gebiete.  Verwerten  konnte  ich  es 
nur  für  Kap.  Vni.  IX.  Den  Theologen  kann  diese  genussreiche  Lektüre  nur  drin- 
gend empfohlen  werden.  —  UvWiLA>i03yi.TZ ,  Griechisches  Lesebuch,  je  2  Halb- 
bände Text  und  Erläuterungen,  Berlin  1902  ist  mit  seinen  Textproben  und  den 
ihnen  vorausgehenden  Einleitungen  am  besten  geeignet,  den  Anfänger  in  die  hel- 
lenistische Literatur  einzuführen  und  ihm  eine  lebensvolle  Anschauung  zu  vermit- 
teln. —  Am  Ende  von  Teil  III  wird  ein  gemeinsames  Register  für  Teil  II  und  IH 
beigegeben  werden. 


Lietzmann,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  1,2. 


I  Die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des  Hellenismus 


DIE  WELTGESCHICHTLICHE  BEDEUTUNG  DES  HELLENISMUS 

Die  Zeit  liegt  noch  nicht  hinge  zurück,  da  das  Zeitalter  des  Hellenis- 
mus, d.  h.  die  Geschichte  des  Weltreiches  Alexanders,  der  aus  ihm  hervor- 
gegangenen hellenistischen  Reiche,  ihres  Aufgehens  ins  römische  Weltreich 
bis  zur  Einverleibung  Aegyptens  (30),  dem  Bewusstsein  der  Gebildeten  fast 
ebenso  entschwunden  war  wie  die  jüdische  Geschichte  und  Literatur  zwischen 
Esra  und  Jesus.  Wenige  Ausnahmen  abgerechnet  —  die  Geschichte  der  Phi- 
losophie dieser  Zeit  ist  am  weitesten  gefördert,  weil  man  sie  stets  im  ge- 
schichtlichen Zusammenhange  behandelt  hat  — ,  beruhte  auch  das  Interesse 
der  Pliilologen  an  der  hellenistischen  Literatur  nicht  auf  einer  unbefangenen 
geschichlichen  Schätzung  ihres  eigenen  Wertes,  sondern  auf  der  Bedeutung, 
welche  die  gelehrte  Forschung  dieser  Zeit  für  Tradition,  Textgestaltung, 
Erklärung  der  klassischen  Literatur  besitzt.  Diese  klassizistischen  Vorurteile, 
die  ein  Verständnis  des  Hellenismus  auch  der  modernen  Forschung  lange 
Zeit  unmöglich  gemacht  haben,  gehen  in  letzter  Linie  zurück  auf  die  atti- 
zistische  Reaktion ,  die  zu  Augustus'  Zeit  siegreich  durchgedrungen  ist 
(s.  Teil  I).  Sie  bedeutete  zunächst  ein  Zurückschraidien  der  natürlichen 
geschichtlichen  Entwickelung  auf  sprachlichem  und  literarischem  Gebiete  um 
3 — 4  Jahrhunderte;  sie  eroberte  sich  aber  bald  weitere  Gebiete  als  die  der 
Sprache  und  des  Stiles.  Sie  ist  nur  der  Vorläufer  einer  allgemeineren 
reaktionär  romantischen  Strömung,  die,  ein  deutliches  Zeichen  des  Epigonen- 
tums, in  der  griechisch-römischen  Kiiltur  des  II  Jahrhunderts  n.  Chr.  be- 
sonders erstarkend,  die  Wiederbelebung  des  Altertums  nicht  nur  in  Sprache 
und  Literatur,  sondern  auch  in  Religion  und  Kunst,  öffentlichen  Einrichtungen 
und  Formen  des  Lebens  erstrebt.  Unfähig,  die  Aufgaben  der  Gegenwart 
tatkräftig  zu  erfassen,  orientiert  sie  sich  an  den  Idealen,  die  sie  in  einer 
fernen  Vergangenheit  sucht.  Diese  rückläufige  Bewegung  stigmatisiert  den 
Hellenismus  als  eine  im  Grunde  unerlaubte  Episode  der  Geschichte ;  es  ist, 
als  wenn  die  geschichtliche  Bewegung  in  den  Jahrhunderten  des  Hellenismus 
stille  gestanden  hätte.  So  wurde  die  hellenistische  Literatur  durch  den  Sieg 
des  Attizismus  dem  Untergange  geweiht ;  nur  einem  Teile  der  Poesie  ist  es 
besser  ergangen,  weil  sie  sich  nicht  in  der  Sprache  des  Lebens,  sondern  in 
den  konventionellen  Formen  der  historisch  gewordenen  Gattung  bewegte, 
und  weil  zur  Zeit  des  Attizismus  die  hellenistischen  Dichter  bereits  für  die 
Römer  von  Catull  bis  Ovid  Stilmuster  geworden  waren,  die  nicht  mehr  ent- 
behrt und  verdrängt  werden  konnten.  Aus  den  versprengten  Trümmern 
und  zerstreuten  Resten  der  hellenistischen  Literatur,  durch  Rückschlüsse  aus 
römischen  Nachahmungen  und  späteren  Umarbeitungen  auf  die  Originale  ein 
lebensvolles  Gesamtbild  der  Kterarischen  und  geistigen  Entwickelung  zu  ge- 
"winnen,  ist  eine  der  sch^^derigsten  Aufgaben  der  Wissenschaft.  Es  ist  be- 
greiflich, dass  es  des  Fortschrittes  der  Methoden  im  Zeitalter  der  liistorischen 
Wissenschaft  und  auch  des  starken  Anstosses  durch  neue  Funde  bedurft  hat, 
um  auch  nur  die  Aufgaben  richtig  zu  stellen. 

So  stammt  der  Begiiff  der  klassischen  Literatur  und  des  klassischen 
Altertums  aus  der  Spätantike.  Damals  hat  man  nach  subjektivem  Geschmack 
aus  der  Literatur  einen  Ausschnitt  gewählt,  dem  man  aus  formal  ästhetischen 
Gründen  eine  kanonische  und  normative  Bedeutung  zuschrieb,  wie  die  Kirche 
der  Bibel  aus  religiösen  Gründen.  Die  klassische  Literatur  allein  erschien, 
wie    als    passende  Lektüre    zur    formalen  Bildung    der  Jugend,  so  als  einzig 


Genesis  und  Vüriirteile  des  Klassizismus 


würdiges  Muster  der  stilistischen  Naclialiniung  und  Objekt  der  Forschung. 
Die  beschränkte  Auswahl,  die  vorwiegend  stilistische  Schätzung,  der  ent- 
fernte Stand|)unkt  des  Betrachters  erleichterten  es,  in  der  Antike  die  Einheit 
und  das  Ideal  zu  sehen.  Diese  idealisierende  und  nivellierende  Betrachtung 
hat  auf  die  Renaissance  und  auf  den  modernen  Klassizismus  stark  eingewirkt, 
so  mannigfach  das  Ideal  abgewandelt  war,  das  man  im  Altertum  ausgeprägt 
fand,  und  so  wenig  man  sich  vielfach  dieses  im  Grunde  schon  durch  die 
kanonische  Auslese  der  Literatur  gegebenen  Einflusses  bewusst  war.  Winkel- 
manns Offenbarung  der  absoluten  Griechenschönheit,  sein  Begriff  der  stillen 
Einfalt  und  edlen  Grösse  der  griechischen  Kunst  wurden  der  Gesichtsi)unkt, 
unter  dem  der  Klassizismus  auch  die  griechische  Literatur  und  das  Griechen- 
tum überhaupt  als  Menschheitsideal  zu  verstehen  strebte.  Sie  haben  stärker 
gewirkt  als  die  bedeutenden  Ansätze  zu  einer  Erkenntnis  der  geschichtlichen 
Entwickelung. 

J.  G.  Droysen  ist  seiner  Zeit  weit  vorangeeilt,  indem  er  in  seiner  Ge- 
schichte des  Hellenismus  (1.  Aufl.  1836  und  1843)  die  Entwickelung  und  die 
treibenden  Kräfte,  die  Bedeutung  des  Hellenismus  für  die  Kontinuität  der 
geschichtlichen  Entwickelung  und  für  die  Kultur  der  Menschheit  wirkungs- 
voll dargelegt  hat.  Die  Arbeit  des  Spatens,  die  Ausgrabung  hellenistischer 
Städte  (Pergamon,  Magnesia,  Priene),  die  Fülle  neu  entdeckter  Inschriften 
und  Papyri  hat  die  Forschung  mächtig  gefördert  und  ihr  gebieterisch  neue 
Aufgaben  und  Ziele  gestellt,  die  durch  den  Widerspruch  ästhetisierender 
Feinschmecker,  denen  die  grossen  geschichtlichen  Probleme  fern  Liegen,  nicht 
aus  der  Welt  geschafft  werden  können.  Die  gründliche  Erforschung  des 
Urchristentums  weist  fort  und  fort  auf  die  Notwendigkeit  hin,  wie  das 
spätere  Judentum,  so  überhaupt  die  Geschichte  der  Kultur  in  ihren  Wurzeln 
zu  erforschen,  welche  die  Welt  zur  Zeit  der  Ausbreitung  des  Christentums 
beherrschte. 

Kein  moderner  Philologe  leugnet,  dass  die  Kultur  des  V  und  IV  Jahr- 
hunderts nach  dem  Reichtum  originaler  mid  wahrhaft  schöpferischer  Ge- 
danken, nach  der  Grösse  ihrer  geistigen  Heroen  einzig  dasteht,  dass 
sie  in  der  typischen  Ausprägung  der  Weltanschauimgen  und  Lebens- 
auffassungen, in  der  Ausbildung  der  künstlerischen  Formen  das  Grösste  ge- 
schaffen hat,  dass  antiker  und  moderner  Klassizismus  sich  ein  Verdienst  er- 
worben haben,  indem  sie  das  wertvollste  Erbe  des  Altertums  bewahrten  und 
die  Menschlieit  seinen  ewigen  Gehalt  schätzen  lehrten.  Aber  durch  diese 
Schätzung  darf  der  Hellenismus  nicht  um  seine  Rechte  verkürzt  werden.  Er 
hat  eine  neue  Kultur  hervorgebracht,  deren  Formen  und  Anschauungen  zum 
Teil  bis  in  die  Gegenwart  herrschen  oder  nachwirken.  Er  hat  neue  Literatur- 
gattungen geschaffen  und  alte  auf  die  Höhe  ihrer  Entwickehmg  geführt.  Er 
hat  die  Fachwissenschaften  zur  höchsten  Blüte  gebracht.  Und  auch  wer  die 
selbständige  Bedeutung  des  Hellenismus,  die  Schaffung  neuer  geistiger  Werte, 
die  ilim  verdankt  wird,  verkennen  wollte,  der  müsste  ihm  doch  das  Verdienst 
zuschreiben,  dass  das  Griechentum  neben  dem  Christentum  die  Grundlage 
unserer  Kultur  geworden  ist.  Es  ist  eine  geschichtliche  Erfahrimg,  die  auch 
an  der  Rebgion  Jesu  sich  bewährt,  dass  neue  geistige  Schöpfungen  nicht  in 
ihren  originalen  Formen,  in  der  ursprünglichen  Fassung  und  Verbindung  der 
Ideen  sich  weitere  Kreise  erobern.  Sie  müssen  erst,  so  zu  sagen,  auf  ein 
niederes  Niveau  geführt,  in  starrere  und  leichter  fassHche  Formen  ausge- 
prägt werden,  um  allgemeinere  Anerkennung  und  Geltung  zu  finden.  So  hat 
der  Hellenismus  den  Ertrag  der  älteren  griechischen,  vor  aUem  attischen 
Geistesarbeit  und  Kulturentwickelung  in  die  Formen  gegossen,  die  ein  Ge- 
meinbesitz der  Kidturvölker  geworden  sind.    Und  in  gewissem  Sinne  erreicht 

1* 


4  I  Die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des  Hellenismus 

die  griechische  Geschichte  ihre  Höhe  in  der  Periode,  wo  das  Griechentum 
seine  grosse  Bestimmung  der  geistigen  Eroberung  und  Erziehung  der  Völker 
erreicht. 

Der  Hellenismus  hat,  um  nur  seine  grössten  Wirkungen  zu  erwähnen, 
erstens  an  den  Römern  eine  grosse  Erziehungsaufgabe  erfüllt.  Die  römische 
Kulturentwickelung,  namentlich  seit  dem  zweiten  punischen  Kriege,  erscheint 
als  ein  fortschreitender  Hellenisierungsprozess,  der  Religion  und  Sitte,  Sprache 
und  Literatur,  schliesslich  auch  zum  grossen  Teil  die  originalste  römische 
Schöpfung,  das  Recht,  durchdringt  und  eine  Kultur  erzeugt,  die  man  einem 
Palimpseste  mit  unterer  römischer  und  oberer  griechischer  Schrift  vergleichen 
könnte.  Mag  für  den  antiquarischen  Forscher  dieser  Prozess,  der  das  Ver- 
ständnis des  echten  Römertums  so  sehr  erschwert  hat,  einen  beklagenswerten 
Verlust  bedeuten,  für  die  Geschichte  der  Menschheit  ist  er  ein  unendlicher 
Gewinn  und  Segen  gewesen.  Denn  er  hat  dem  römischen  Volke  erst  die 
Kraft  gegeben,  Träger  einer  grossen  Kulturmission  unter  den  Völkern  des 
westlichen  Mittelmeers  zu  werden.  Der  Hellenismus  hat  den  Römern  die 
vorbildlichen  griechischen  Literaturformen  vermittelt,  hat  die  römische 
Sprache  geschmeidig  gemacht  und  noch  in  der  Kaiserzeit  einen  neuen  Stil 
gezeitigt,  dessen  originalste  Ausgestaltung  wir  in  Tacitus  bewundern;  das 
feine  Gefühl  der  romanischen  Nationen  für  Wohlklang  und  Gesetzmässigkeit 
der  Sprache  ist  hellenistisch-römisches  Erbteil.  Der  Hellenismus  hat  den 
Römern  und  damit  allen  Völkern  einen  wesentlichen  Beitrag  zur  grammati- 
schen, logischen,  rhetorischen  Terminologie  beigesteuert.  Die  mittlere  Stoa 
hat  den  gebildeten  Römern  ihre  höchsten  sittlichen  Ideale  zum  Bewusstsein 
gebracht  und  wirkungsvoll  gepredigt,  hat  den  Anstoss  zur  Vergeistigung  und 
Verinnerlichung  der  Religion  gegeben.  Begriff  und  Formen  des  hellenistischen 
Königtums  haben  allmählich  den  römischen  Prinzi})at  zur  absoluten  Monarchie 
umgestalten  geholfen  und  in  staatlicher  und  kirchlicher  Organisation  bis  auf 
die  Gegenwart  nachgewirkt.  Wenn  Ihering  die  Ueberwindung  des  Natio- 
nalitätsprinzips durch  den  Gedanken  der  Universalität  als  die  welthistorische 
Aufgabe  Roms  bezeichnet,  die  zuerst  durch  Verbindung  der  Völker  zur 
Einheit  des  Staates,  dann  durch  die  Einheit  der  Kirche,  endlich  durch  die 
Rezeption  des  römischen  Rechtes  erfüllt  sei,  so  ist  nicht  zu  vergessen, 
welchen  Anteil  der  Hellenismus  an  der  Bewältigung  dieser  Aufgabe  hat. 

Weiter,  wir  haben  gelernt,  die  alte  Kirche,  wie  sie  in  Glauben  und 
Lehre,  Sitten  und  Kultformen,  Literatur  und  Kunst  geworden  ist,  als  das 
Produkt  eines  Kompromisses  zwischen  Urchristentum  und  griechisch-römi- 
scher Kultur  zu  begreifen.  Aber  das  Griechentum,  mit  dem  die  Kirche  vor 
allem  sich  auseinanderzusetzen  hatte,  von  dem  sie  kämpfend  so  viel  gelernt 
und  übernommen  hat,  ist  das  hellenistische.  Dämonenglauben,  Jenseitshoif- 
nungen,  Volksglauben,  Aberglauben  und  Kultformen  des  Hellenismus  haben 
einen  starken  Einfluss  ausgeübt.  Die  xotv/j  ist  das  Organ  der  christlichen 
Propaganda  imd  der  ältesten  christlichen  Schriften  gewesen.  Die  Kirche 
fand  das  Bewusstsein  der  Gebildeten  von  stoischer  Religiosität  und  Moral 
beherrscht  vor.  Sie  fand  den  stoischen  Pantheismus  vor,  an  den  die  Areo- 
pagrede  anknüi)ft,  und  die  Ausdeutung  der  Volksgötter  als  Teilkräfte  der  einen 
Gottheit,  und  sie  hatte  einen  starken  Anhalt  an  der  monotheistischen  Tendenz 
und  an  der  Zersetzung  des  Polytheismus,  die  beide  von  der  Philosoi)hie 
mächtig  gefördert  waren.  Sie  setzte  die  Polemik  der  Philosophie  gegen  den 
Polytheismus  fort,  und  sie  entlehnte  von  der  vStoa  die  allegorische  Aus- 
legimgsmethode,  mit  der  sie  das  Anstössige  und  Paradoxe  ihrer  heiligen 
Schriften  dem  Geschmacke  der  Zeit  anziehend  machen  konnte.  Sie  sah  auch 
Plato  wesentlich  durch  das  Medium  des  späteren  Piatonismus  und  des  Neu- 


Einfluss  des  Hellenisimis  auf  HiHnertinn  und  Kirche  5 

platonismus,  d.  h.  sie  verstand  ihn  im  Sinne  einer  mystischen,  einseitig  auf 
das  letzte  Ziel  einer  Erkenntnis,  die  jenseits  aller  verstandesmässi^'er  Tätig- 
keit liegt,  gerichteten  Frömmigkeit.  Sie  ist  von  der  asketischen  Moral  der 
Stoa  und  des  Neuplatonismus  beeinflusst  worden.  Sie  hat  die  Theodieee 
der  Stoa  und  des  Neuplatonismus  übernommen,  und  der  Neuplatonismus  hat 
sehr  we«entlicli  zur  Ausgestaltung  ihrer  himmlischen  Hierarchie  heigetragen. 
Sie  hat  eine  Reihe  hellenistischer  Literaturi'ormen  sich  angeeignet  luul  lebendig 
erhalten. 

Auf  dem  Prozesse  der  Hellenisierung  des  römischen  Volkes  und  der 
Kirche  beruht  die  Kontinuität  der  Kultur,  welche  die  antike  und  die  moderne 
Welt  verbindet.  Durch  die  grosse  Mittlerrolle,  die  Römertum  und  Kirche 
gespielt  haben,  ist  gewiss  auch  viel  von  den  geistigen  Errungenschaften  der 
klassischen  Zeit  in  das  moderne  Bewusstsein  übergegangen,  aber  es  ist  zu- 
nächst übei'geleitet  worden  in  der  eigentümlichen  An])assung  und  Umformung 
der  Ideen,  in  der  Ausprägung  der  Formen,  die  der  Hellenismus  geschaffen 
hat.  Wo  er  die  massgebenden  Anschauungen  nicht  aus  den  neuen  Kultur- 
bedingungen selbständig  geschaffen  hat,  hat  er  doch  die  Nuancen  und  Begriffs- 
formen gefunden,   die  gedauert  haben. 

Gewiss  hat  die  Kirche  die  wertvollsten  Ideen  und  geistigen  Kräfte  des 
Griechentums  wie  des  Christentums  nur  durch  mancherlei  Trübungen  und  Bre- 
chungen aufgefasst  und  vermittelt ;  sie  hat  den  Kern  mit  immer  mehr  decken- 
den Hüllen  umldeidet  und  unkenntlich  gemacht;  sie  hat  den  Ertrag  der  über- 
kommenen Bildung  in  immer  starrere,  das  ursprüngliche  Leben  bannende  und 
den  Geist  tötende  Formen  gefasst.  Aber  sie  musste  es ;  denn  sie  hatte  eine 
harte  Arbeit  der  Erziehung  an  rohen  Völkern  zu  verrichten.  Aber  sie  hat  doch 
die  latenten  Kräfte  des  Christentums  und  Griechentums  bewahrt,  die  nur  in 
ihren  ursprünglichen  Wirkungen  wieder  ergriffen  und  neu  belebt  zu  werden 
brauchten,  um  in  der  Reformation  und  im  Pietismus,  in  der  Renaissance 
und  im  Klassizismus  eine  innere  Wiedergeburt,  ein  frisches,  die  alten  Formen 
und  Hüllen  sprengendes  Leben  zu  erzeugen.  Sie  hat  die  Verbindung  mit 
den  grossen  Zeugen  vergangener  Welten  aufrecht  erhalten  und  damit  den 
Zugang  zu  den  reinen  Quellen  ermöglicht,  aus  denen  die  Völker  in  den 
Zeiten  ihres  geistigen  Aufschwunges  ihren  Lebensinhalt  und  ihre  Ideale  be- 
reichern konnten.  Als  die  Renaissance  diesen  Zugang  suchte,  waren  die 
Römer  die  Führer.  Die  Renaissance  hat  das  Griechentum  wesentlich  in 
römischer  Auffassimg  und  Färbung  gesehen,  und  es  waren  die  durch  römische 
Literatur  vermittelten  besten  Gedanken  des  Hellenismus,  in  denen  sie  ihr 
Ideal  fand.  Auch  der  Klassizismus,  der  die  Ueberlegenheit  und  Originalität 
des  Griechentums  erkannte,  hat  an  ihm  nur  die  Seiten  gesehen,  die  seinem 
Menschheitsideale  entsprachen.  Das  klassizistische  Dogma  vom  harmonischen 
Griechentum  als  Einheit  und  als  Ideal  ist  dann  durch  die  historische  Forschung 
für  immer  vernichtet.  Statt  dessen  erhebt  sich  die  grosse  Aufgabe,  die 
kontiniderliche  Entwdckelung  der  griechisch-römischen  Kultur  mit  den  mannig- 
faltigen sich  kreuzenden  und  ablösenden  Strömungen  zu  zeichnen  und  uns 
damit  das  Verständnis  für  die  Grundlagen  unserer  Kultur  zu  eröffnen.  Das 
für  die  allgemeine  Kultur  der  Menschheit  wichtigste  Glied  dieser  Entwickelung 
ist  der  HeUenismus,  wichtig  besonders  auch  für  das  Verständnis  der  Ge- 
schichte der  christlichen  Kirche.  Denn  das  Christentum  hat  sich  zuerst  die 
hellenistische  und  die  hellenisierte  römische  Welt  erobert.  Es  hat  nicht 
gesiegt,  indem  es  nach  dem  Bankerott  des  Heidentums  als  ganz  neue  Grösse 
in  die  freie  Lücke  eintrat,  wie  man  es  sich  etwa  früher  vorstellte.  Es  hat 
auch  nicht  um  den  Preis  der  Vernichtung  der  heidnischen  Kultur  den  Sieg 
gewonnen.     Die    vielfach   konvergierende   und  parallel  laufende  profane  und 


6  n  PoLis  UND  Monarchie:  1  Die  Gegensätze  der  Verfassung 

christliche  Entwickelung  führt  zu  einer  Annäherung  und  Ausgleichung,  in 
der  das  Christentum  alle  assimilationsfähigen  Kräfte  der  heidnischen  Kidtur 
absorbiert  und  so  den  Uebergang  vom  Alten  zinn  Neuen  erleichtert.  Mit 
gewissem  Recht  könnte  man  auch  über  diese  Entwickelung  als  Motto  das 
Wort  des  Horaz  setzen,  in  dem  er  den  Einfluss  des  griechischen  Geistes  auf 
dfts  Römertum  formuliert :  Griechenland  besiegte  seinen  Sieger. 

Eine  vollständige  Kulturgeschichte  in  den  Grundlinien  zu  zeichnen, 
übersteigt  nicht  nur  die  Grenzen  des  mir  zur  Verfügung  stehenden  Raumes, 
sondern  auch  das  Mass  meiner  Kräfte.  Selbst  ein  Kenner  wird  es  noch 
nicht  wagen,  eine  Geschichte  des  griechischen  Wirtschaftslebens  oder  des 
griechischen  Rechtes  in  hellenistischer  Zeit  zu  schreiben,  trotzdem  wir  den 
letzten  Jahren  höchst  fruchtbare  Anregungen  und  wertvolle  Spezialarbeiten 
verdanken;  durch  die  Arbeiten  von  Beloch,  Mitteis,  Wilcken,  Bücher, 
E.  Meyer  sind  die  Fragen  eben  erst  in  Fluss  gekommen'.  Mit  dem  Zweck 
des  Handbuches  war  die  Beschränkung  auf  die  Strömungen  der  geistigen 
Kidtur  gegeben.  Wo  liegen  die  Grundlagen  und  Wurzeln  der  Kultur,  mit 
der  das  Christentum  sich  auseinandergesetzt  hat?  Welche  Stimmungen  und 
Dispositionen  fand  es  in  der  Welt  vor,  in  der  es  eine  so  grosse  Umwälzung 
hervorgerufen  hat?  Unter  welchen  fördernden  und  hemmenden  Momenten 
hat  es  sich  verbreitet  und  entwickelt?  Welche  Erscheinungen  der  Kultur 
haben  es  positiv  oder  negativ  beeinflusst?  Diese  Fragen  fasst  meine  Skizze 
ins  Auge.  Sie  möchte  die  vielen  wertvollen  Arbeiten  neuerer  Theologen  — 
ich  nenne  vor  allen  Harnack  und  Hatch  —  ergänzen,  indem  sie  ein  zu- 
sammenhängendes Bild  der  Hauptströmungen  der  kulturgeschichtlichen  Ent- 
wickelung gibt  und  darum  ihren  Standpunkt  nicht  erst  in  der  Zeit  nimmt, 
wo  die  energische  Auseinandersetzung  des  Christentums  mit  dem  Hellenismus 
beginnt;  nur  zur  Vervollständigung  des  Bildes  wird  die  nach  dem  H  Jahrh. 
n.  Chr.  liegende  Entwickelung  berücksichtigt.  Der  lebendige  Kontakt  theo- 
logischer und  philologischer  Forschung  auf  den  beide  angehenden  Gebieten, 
den  auch  diese  Arbeit  zu  fördern  bestimmt  ist,  wird  der  Vervollkommnung 
dieses  Versuches  zugute  kommen,  welcher  der  Nachsicht  und  der  anregen- 
den Kritik  in  gleicher  Weise  bedarf. 


II 
POLIS  UND  MONARCHIE 

1  Die  Gegensätze  der  Verfassung 

Für  das  politische  Bewusstsein  des  Griechen  ist  es  charakteristisch, 
dass  er  den  Staat  sich  wesentHch  im  Sinne  der  TioÄti;,  des  beschränkten 
Stadtstaates,  vorstellte.  Die  politische  Spekulation  des  Plato  und  des  Ari- 
stoteles ist  in  den  Voraussetzungen  dieses  Begriffes  befangen.  Der  Nieder- 
gang Athens  ist  auch  dadurch  bedingt,  dass  es  über  diesen  zugleich  durch 
die  religiösen  Institutionen  festgelegten  Umfang  nicht  hinauskommen  und  für 
sein  Reich  die  Verfassung  nicht  finden  konnte. 

')  S.  auch  Riezler,  Die  Finanzen  und  Monopole  im  alten  Griechenland,  Ber- 
lin 1907. 


Aufgabe  des  Werkes.    Griechische  Staatenbildung  und  Theorie 


Die  Last  der  Pflichten  und  Leistungen,  die  der  antike  Stadtstaat  seinen 
Bürgern  auferlegte,  ist  dem  modernen  ]\lensohen  schwer  vorstellbar.  Der 
Staat  ist  der  höchste  Lebensinhalt  des  Bürgers,  und  das  hohe  Mass  der 
Teilnahme  des  einzelnen  am  öffentlichen  Leben  ist  nur  dadurch  ermöglicht, 
dass  die  Klasse  der  bevorrechteten  Bürger  sich  erhebt  über  den  breiten 
Unterbau  des  rechtlosen,  den  wirtschaftlichen  Bedürfnissen  dienenden  Sklaven- 
tums. '  Nach  modernem  Massstabe  muss,  wer  diese  dienende  Bevölkerung 
in  Anschlag  bringt,  den  antiken  Demokratien  eine  aristokratische  Ver- 
fassung zuschreiben.  Wieder  spiegeln  die  Voraussetzungen  der  politischen 
Theorien  die  Macht  des  das  Leben  des  Individuums  umspannenden  und  mit 
den  festesten,  religiös  sanktionierten  Banden  umschlingenden  Staatsgedankens. 
Sie  ofienbart  sich  in  der  platonischen  Ueberspannung  des  StaatsbegrifFes  und 
in  der  aristotelischen  Auffassung  des  Staates  als  eines  Organismus,  dem  sich 
die  einzelnen  als  Glieder  einzuordnen  haben,  als  des  höchsten  Zweckes, 
durch  den  die  sittlichen  Aufgaben  und  Pflichten  des  Individuums  bestimmt 
werden.  Es  ist,  als  solle  die  äusserste  Anspannung  aller  Kräfte  den  Mangel 
der  räumlichen  Beschränkung  des  antiken  Staates  ersetzen. 

So  sehr  die  politische  Zerrissenheit  die  Entwickelung  der  geistigen 
Kultur  gefördert  hat,  hat  sie  doch  die  staatenbildenden  Kräfte  gehemmt. 
Seit  dem  peloponnesischen  Kriege  hatten  die  verderblichen  Kämpfe  der 
auseinanderstrebenden  Stadtstaaten,  die  sich  verzehrenden  Gegensätze  der 
inneren  Parteien,  die  Verdrängung  des  nationalen  Gedankens  durch  parti- 
kularistische  und  egoistische  Interessen  bewiesen,  dass  die  Zeit  der  antiken 
t^oXe:;  abgelaufen  war.  Auf  diesem  zerklüfteten  Boden  war  die  Verwirk- 
lichung des  Gedankens  nationaler  Einheit,  der  in  den  gemeinsamen  Festen 
seinen  Ausdruck  gefunden  hatte,  der  durch  Berührung  mit  den  fremden 
Völkern  und  die  Mehrung  des  gemeinsamen  geistigen  Besitzes  gestärkt  war, 
der  die  treibende  Kraft  in  den  Befreiungskämpfen  gewesen  war  und  von 
den  Rhetoren  fort  und  fort  wirkungsvoll  gepredigt  wurde,  unmöglich.  Der 
Widerstreit  der  kleinstaatlichen  Interessen  hatte  die  zur  Einigung  drängen- 
den Kräfte  lahm  gelegt.  Philipp  und  Alexander  wurden  die  Träger  der 
Idee  nationaler  Einheit,  die  den  Griechen  des  Festlandes  von  aussen  aufge- 
zwungen Averden  musste  und  von  ihrer  Majorität  bald  als  Erlösung  vom 
Fluche  der  Kleinstaaterei  freudig  begrüsst  wurde;  sie  stellten  die  pan- 
heUenischen  Tendenzen  und  den  volkstümlichen  Gedanken  eines  Feldzuges 
nach  Asien  in  den  Dienst  ihrer  Politik. 

Die  Griechen  haben  sich  zum  Teil  schnell  in  die  neuen  Formen  der 
monarchischen  Regierimg  gefunden.  Dass  die  Griechen  Kleinasiens,  die  in 
ihrer  exponierten  Stellung  im  Festland  längst  keinen  sicheren  Rückhalt  mehr 
fanden,  Alexander  freudig  zufielen  und  von  ihm  die  Wiederkehr  geordneter 
und  gesicherter  Verhältnisse  erwarteten,  war  natürlich.  In  der  hellenistischen 
Propaganda  sind  die  lonier  ein  bedeutender  Faktor.  Im  Grunde  neigte 
überhaupt  die  Stimmung  der  Zeit  der  monarchischen  Form  zu,  und  die  zer- 
rüttete Demokratie  hatte  schon  in  mancher  Gemeinde  die  Tyrannis  auf- 
kommen lassen.  Die  geistige  Entwickelung  hatte  in  weiten  Kreisen  dem 
monarchischen  Gedanken  den  Boden  bereitet.  In  wiederholten  Versuchen 
stellt  Xenophon,  der  kein  schöpferischer  Geist,  aber  für  die  seine  Zeit  be- 
herrschenden Stimmungen  höchst  empfänglich  ist,  Ideal  imd  Grundsätze  der 
monarchischen  Herrschaft  theoretisch  und  im  Beispiele  dar.  Die  Ideal- 
philosophie gestaltet  das  Bild  des  wahren  Herrschers,  dessen  überlegener 
Genius  Kraft  und  Recht  zur  Umbildung  der  Gesellschaft  und  zur  Organisation 
des  lebensfähigen  Staates  nach  den  Gesetzen  der  Vernunft  in  sich  trägt; 
und  durch  die  syrakusische  Monarchie    hofft  Plato    sein  Staatsideal  verwirk- 


8  n  PoLis  UND  Monarchie:  1  Die  Gegensätze  der  Verfassung 


liehen  zu  können.  Derselbe  Isokrates,  der  noch  im  Jahre  380  sein  Athen 
zur  Verwirklichung-  des  nationalen  Einheitsgedankens  und  des  Kreuzzuges 
gegen  die  Perser  auffordert,  gibt  bald  seinen  Gedanken  und  Hoffnungen  die 
Richtung  auf  die  Monarchie.  An  lason  von  Pherä,  Dionysios,  Archidamos, 
endlich  an  Philippos  richtet  er  abwechselnd  sein  in  den  Grundgedanken 
gleiches  Programm  der  Vereinigung  aller  hellenischen  Kräfte,  welche  die 
Griechen  von  der  Zerrüttung  der  Kleinstaaterei  erlösen  und  zur  Besinnung 
auf  ihre  wahren  Aufgaben  und  höchsten  gemeinsamen  Interessen  führen  soll. 
Selbst  Demosthenes  muss  widerwillig  die  Ueberlegenheit  der  Monarchie  in 
der  planvollen  Verwertung  der  Kräfte  und  in  der  energischen  Durchführung 
einer  zielbewussten  Politik  anerkennen.  Die  richtige  Ueberzeugung,  dass 
nur  die  ^Monarchie  grosse  politische  Aufgaben  zu  lösen  vermöge,  und  die 
Sehnsucht  nach  einer  starkeii,  Ordnung  und  Sicherheit  verbürgenden  Staats- 
gewalt erklärt  es,  dass  in  der  hellenistischen  Welt  trotz  der  wilden  Kämpfe 
um  Alexanders  Erbe  das  monarchische  Bewusstsein  sich  erstaunlich  schnell 
verbreitet  hat  und  die  politische  Theorie  bald  beherrscht.  Philipps  starke 
Hand  hat  nicht  gewaltsam  das  Ende  der  griechischen  Geschichte  herbeige- 
führt, sondern  sie  rascher  zu  dem  Ziele  geleitet,  dem  die  natürliche  Ent- 
wickelung  zustrebte,  das  für  die  Westgriechen  die  syrakusische  Monarcliie 
zu  verwirklichen  suchte. 

Die  TzoXeiq  Griechenlands,  die  grösseren  und  kleineren,  werden  jetzt 
dem  Reiche  eingegliedert.  Ihre  Freiheit  und  Autonomie  werden  scheinbar 
bewahrt,  tatsäclilich  durch  die  Leistungen  für  Heer  und  Flotte  und  durch 
die  Verlegung  des  politischen  Schwergewdchtes  nach  aussen  bedeutend  ein- 
geschränkt; sie  sind  gegen  früher  zu  einem  kümmerlichen  Scheindasein  ver- 
urteilt. So  stehen  sie  zuerst  seitab  von  dem  grossen  Gange  der  neueren  Ge- 
schichte, in  den  sie  sich  nur  langsam  finden.  An  Reaktionen,  die  über  das 
Neue  wie  eine  Episode  meinten  hinwegkommen  zu  können,  hat  es  nicht  ge- 
fehlt. Der  Widerstreit  der  Grossmächte  gibt  auch  den  Kleinen  die  Möglich- 
keit, eine  politische  Rolle  zu  spielen.  Der  in  romantischen  Träumen  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  vertauschende  Grossmachtsdünkel  verleitet  Athen 
wiederholt  zu  unerlaubten  Aspirationen  und  bringt  es  an  den  Rand  des  Ver- 
derbens. Der  Abglanz  der  alten  Herrlichkeit  und  die  Höhe  seiner  geistigen 
Kultur  sichern  ihm  immer  wieder  eine  unverdiente  Schonung  und  bewahren 
es  vor  dem  Schicksal,  das  Korinth  146  durch  die  Römer  gefunden  hat.  Be- 
deutende Kräfte  entfalten  neben  Sparta  der  ätolische  und  der  achäische 
Bund.  Indem  bei  den  inneren  Fehden  und  angesichts  der  von  Makedonien 
drohenden  Gefahr  die  Hilfe  der  Römer  angerufen  wdrd,  beschleunigt  sich 
das  Schicksal  Griechenlands  imd  des  Ostens.  Zwar  herrscht  eitel  Freude 
luid  lauter  Jubel  über  die  Uneigennützigkeit  der  Römer,  als  an  dem  Isthmien 
des  J.  197  der  Pliilhellene  T.  Quinctius  Flamininus  die  bisher  den  Makedo- 
nen  untertänigen  griechischen  Staaten  für  frei  erklärte.  Aber  das  Ende 
des  dritten  makedonischen  Krieges  lehrte,  was  Rom  unter  Freiheit  verstand, 
und  die  Zerstörung  Korinths  brachte  den  Griechen  zum  Bewusstsein,  dass 
es  ihnen  ergangen  war  wie  dem  Pferd  in  dei-  Fabel,  das  den  Menschen  frei- 
willig als  Reiter  aufnimmt. 

Griechenland  und  die  östlichen  Provinzen  haben  dann  das  Mißregiment 
der  römischen  Oligarchie  und  die  Leiden  des  mithradatischen  und  der  Bür- 
gerkriege so  gründlich  durchgekostet,  dass  sie  in  dem  Uebergang  zur  Monar- 
chie eine  Erlösung  sahen.  Das  kaiserliche  Regiment  brachte  eine  geordnete 
Verwaltung,  sicheren  Rechtsstand,  grössere  Selbständigkeit  der  Gemeinden. 
Um  die  Bedeutung  des  neuen  Regimentes  richtig  einzuschätzen,  muss  man 
zui-  Ergänzung  und  Berichtigung    der   den  Hofklatsch    bevorzugenden  stadt- 


Hell.  Monarchie.    Das  i-epulilik.  und  das  in()nai-clii.sche  Regiment  Roms 


römischen  Literatur  die  inschriftlichen  Zeugnisse  und  die  vielen  Stimmen  der 
in  der  griechischen  Reichshälfte  lebenden  Schriftsteller  heranziehen,  die  laut 
von  den  Segnungen  der  neuen  Ordnung,  von  uufblüheiulem  Leben,  von  der 
sich  hebenden  materiellen  und  geistigen  Kultur  zeugen.  Der  Osten  lebte 
sich  schnell  in  den  neuen  Stand  der  Dinge  ein.  Das  monarchische  Bewusst- 
sein  war  hier  auch  nie  erloschen.  Die  römischen  Grossen  hatten  hier  viel- 
fach als  Despoten  gehaust,  und  der  Servilismus  hatte  ihnen  pomphafte  De- 
krete, göttliche  Ehren,  Statuen,  Tempel  geweiht,  kurz  sie  mit  allen  Aus- 
zeichnungen überhäuft,  die  man  früher  den  Fürsten  darzubringen  gewöhnt  war. 
Unter  sehr  viel  grösseren  Schwierigkeiten,  die  man  im  Osten  gar  nicht 
empfinden  konnte,  vollzog  sich  in  Rom  der  seit  Sulla  mit  unvermeidlicher 
Notwendigkeit  sich  vorbereitende  Uebergang  der  römischen  Rei)ublik  zur 
Monarchie.  Die  rechtlichen  Formen  für  die  Stellung  des  Herrschers  waren 
schwer  zu  finden.  Das  Königtum,  dessen  Name  im  Osten  einen  guten  Klang 
hatte',  war  hier  sakral  verpönt.  An  dem  Versuche,  die  Formen  des  helle- 
nistischen Königtums  zu  übertragen,  war  Cäsar  zu  Grunde  gegangen.  Auch 
die  rechtlichen  Formen  der  Reichsangehörigkeit  zu  finden  war  schwierig. 
Rechtlich  war  der  römische  Staat  immer  noch  Stadtstaat,  und  das  Bürger- 
recht war  trotz  seiner  Ausdehnung  auf  Italien  auf  die  fiktive  Zugehörigkeit 
zur  Stadt  Rom  gegründet.  Diese  unnatürliche  Zwischenstellung  zwischen 
Stadt  imd  Staat  trat  dadurch,  dass  Cäsar  das  Bürgerrecht  an  ganze  Provinzen 
verlieh,  noch  schärfer  hervor.  Diese  Verleihung  war  eine  natürliche  Folge 
seines  Reichsgedankens,  aber  sie  widerstrebte  dem  römischen  Empfinden.  Im 
Gegensatz  zu  Cäsar  sclilug  Augustus'  Politik  nationale  Bahnen  ein  und  suchte 
möglichsten  Anschluss  an  die  verfassungsmässigen  Formen.  Er  verzichtete 
darauf,  der  faktischen  Stellung  des  princeps  einen  unzweideutigen  rechtlichen 
Ausdruck  zu  geben  und  begnügte  sich  mit  einem  Umfang  der  Kompetenzen, 
in  denen  die  überragende  Bedeutung  der  Persönlichkeit  sich  Geltung  ver- 
schaffen konnte.  Es  war  ihm  mehr  um  die  Sache  als  um  die  Form  zu  tun, 
und  er  ging  mit  der  ihm  eigenen  jeden  Schritt  sorgfältig  erwägenden  Be- 
hutsamkeit vor.  Ob  er  die  spätere  Entwickelung  vorausgeschaut  und  vne 
er  sie  sich  gedacht,  oder  ob  er  gemeint  hat,  der  Prinzipat  werde  auf  die 
Dauer  der  klaren  staatsrechtlichen  Begründung  entbehren  können,  wissen 
wir  nicht.  Allmählich  ist  dann  die  Grundlage  der  wirklichen  Monarcliie 
geschaffen,  die  Dyarchie  der  augustischen  Zeit  in  das  absolute  Regiment 
übergeführt  worden.  Wesentlich  hat  der  wachsende  Einfluss  der  östlichen 
Reichshälfte  dahin  gewirkt,  dass  die  im  Osten  herrschende  Auffassung  des 
Principates  sich  durchsetzt  und  die  dreihundertjährige  Ent\\dcklung  in  dem 
Absolutismus  endet,  dem  schon  Cäsar  so  nahe  war.  Im  Grunde  ist  es  der- 
selbe Prozess  der  Auflösung  des  nationalen  Bewaisstseins,  der,  wie  er  zum 
Absolutismus  führt,  so  die  civitas  in  die  Reichsangehörigkeit  aufgehen  lässt 
und  auf  reHgiösem  Gebiet  zur  Anerkennung  aller  im  Reiche  vertretenen 
Religionen,  wie  vorher  aller  italischen,  führte.  Begonnen  hat  diese  Ent- 
^^ickelung  eigentlich  schon  im  11  Jahrh.  v.  Ch.  damit,  dass  die  römische  Po- 
litik unter  dem  Eindruck  der  Ueberlegenheit  der  griechischen  Kultur  auf 
eine  Romanisierung  des  Ostens  verzichtete.  Es  war  natüi'lich,  dass  die 
hellenistische  Kultur  der  östlichen  Reichshälfte,  je  stärker  ihr  Einfluss  auf 
allen  Gebieten  hervortrat,  um  so  mehr  die  Kultur  des  latinisierten  Westens 
mit  fremdartigen  hellenistischen  und  vom  Hellenismus  rezipierten  imd  ge- 
milderten orientalischen  Elementen  zersetzen  musste. 


')  Cicero  De  imperio  24,  Sallust  Fragm.  V  3  Maurenbrecher.    Im  Osten  ^^  ird 
schon  Augustus  der  Titel  ßaaiXeüs  beigelegt. 


10  11    POLIS  UND  MONARCmE:  2  DiE   NEUEN  MITTELPUNKTE  DER  KULTUR 


2    Die  neuen  Mittelpunkte  der  Kultur 

Auch  tue  individuellen  Lebensbedingungen  sind  mit  dem  Aufkommen 
der  neuen  hellenistischen  Reiche  völlig  geändert.  Der  einzelne  ist  aus  dem 
festen  Verbände  des  Stadtstaates,  der  seinem  Leben  Ziel  und  Eichtung  gab, 
gelöst.  Eine  Fülle  von  Kräften,  die  früher  im  Dienste  der  TioXt^  verbraucht 
wurden,  wird  frei.  So  weit  sie  nicht  im  idyllischen  Kleinleben  aufgehen, 
suchen  sie  ein  anderes  Feld  der  Betätigung.  Die  kommunalen  Aufgaben 
können  die  besten  Kräfte  nicht  mehr  locken  und  den  Ehrgeiz  nicht  befrie- 
digen. Das  Leben  gravitiert  jetzt  nach  aussen,  besonders  nach  den  Höfen 
imd  den  neuen  Zentren  der  Kultur.  Es  ist  charakteristisch,  dass  die  meisten 
bedeutenden  Persönlichkeiten,  politische  und  literarische  Grössen,  ihre  Heimat 
verlassen  imd  sich  einen  neuen  Wirkungskreis  suchen.  Wen  politischer 
Ehrgeiz  lockt,  der  findet  als  Söldnerführei',  höherer  Beamter,  Diplomat  seine 
Rechnimg;  die  Beamtenhierarchie  braucht  grosse  imd  kleine  Talente.  Die 
Eroberung  des  Ostens  führt  einen  Aufschwimg  des  A\drtschaftlichen  Lebens 
herbei  und  öffnet  auf  dem  Gebiete  der  Lidustrie  und  des  Handels  imter- 
nehmenden  Geistern  neue  Wege.  Ein  starker  Strom  von  Auswanderern 
ergiesst  sich  jetzt  nach  dem  Osten,  besonders  in  die  neuen  Griechenstädte. 
Abenteurer  und  Parvenüs  sind  jetzt  beliebte  Typen  der  Literatur. 

Mit  dem  II  Jahrh.  v.  Chr.  beginnt  dann  Rom  in  den  Mittelpunkt  des 
Völkerlebens  zu  treten.  Die  literarische  Produktion  der  Griechen  ist  viel- 
fach berechnet  auf  das  römische  Publikum,  auf  seine  Interessen  und  Bedürf- 
nisse. Philosophischer  und  rhetorischer  Lehrbetrieb  erfährt,  wie  wir  sehen 
werden,  eine  Umgestaltung,  die  durch  den  Zweck  der  Propaganda  in  der 
römischen  Gesellschaft  bestimmt  ist.  Griechische  Rhetoren,  Philosophen, 
Literaten  ^  finden  in  Rom  ein  fruchtbares  Feld  ihrer  Tätigkeit.  Aber  diese 
Richtung  des  geistigen  Lebens  nach  Rom  liin  ist  nur  das  Symptom  einer 
allgemeinen  dortliin  flutenden  Bewegung,  die  ihre  Höhe  in  der  Kaiserzeit 
erreicht.  Die  aufstrebenden  Kräfte,  aber  auch  bedenkliches  Gesindel  aUer 
Art,  drängt  Ehrgeiz  und  Abenteuerlust  in  das  bunte  Getriebe  der  Weltstadt, 
und  die  patriotische  Klage  wird  immer  wieder  laut,  dass  Rom  eine  griechische 
oder  orientalische  Stadt  geworden  sei.  Die  beständige  Aufnahme  von  Skla- 
ven aus  aller  Herren  Länder,  das  Aufstreben  vieler  durch  Betriebsamkeit 
und  Fleiss  dem  freigeborenen  Proletariate  überlegener  Elemente  des  Sklaven- 
standes in  die  oberen  Klassen,  der  gleichzeitige  Rückgang  der  vornehmen 
Geschlechter  und  die  Barbarisierung  des  Heeres  haben  auch  dazu  beigetragen, 
der  römischen  Gesellschaft  ein  ganz  anderes  Aussehen  zu  geben. 


3    Neue  Stellung  der  Literatur  und  Wissenschaft 

Die  Hebung  des  allgemeinen  Bildungsniveaus,  die  Verbreitung  der  Bil- 
dung über  weitere  Kreise  ist  für  die  Kultur  der  hellenistischen  Zeit  charak- 
teristisch.   Die  literarische  Produktion  schwillt  zu  einem  früher  nicht  geahn- 


')  Polybios  (XXXII  10)  sagt,  bald  nach  168  zum  jüngeren  Scipio,  wenn  er  sich 
die  griechische  Bildung,  um  die  sich  jetzt  die  Römer  so  eifrig  bemühten,  aneignen 
wolle,  könne  es  ihm  an  Lehrern  nicht  fehlen :  tzoX'j  yäp  8y/  xi  q;uXov  djiö  xf/g  'EXXidoz 
är-.ppäov  öpcT»  Tö)v  xo'.oüxwv  dvO-pw-cuv.  Vgl.  Hillscher,  Hominum  literatorum  Graeco- 
rum  ante  Tiberii  mortem  in  urbe  Roma  commoratorum  historia  critica,  Fleckeisens 
Jahrb.  Suppl.  XVIH  S.  353—444. 


Die  neuen  Centren  der  Kultur  u.  ihre  Bedeutun;^'  für  das  soz.  u.  ^'•eist.  Leben       1 1 

ten  Umfange  an.  Die  grosse  politische  Umwandlung  warkt  in  dieser  Richtung 
ähnlich  Avie  zur  Zeit  des  Ueberganges  der  römischen  Re])ul)Iik  ins  Kaiser- 
reich. Die  Fülle  der  frei  gewordenen  Kräfte  wird  jetzt  mehr  als  früher 
durch  literarische  Aufgaben  und  schriftstellerischen  Ruhm  gelockt.  Wie  der 
Pomp  der  Höfe  der  Kunst  und  dem  Kunstgewerbe  ein  neues  Feld  der  Be- 
tätigung _gibt,  so  findet  auch  das  geistige  Leben  seinen  Mittelpunkt  an  den 
Höfen;  es  ist  bewusst  und  unbewusst  von  politischen  und  höfischen  Inter- 
essen beeinflusst.  Die  Literatur  ist  eine  Macht,  mit  der  auch  die  Fürsten 
rechnen  und  durch  die  sie  die  öifentliche  Meinung  beeinflussen.  Das  Schreib- 
werk spielt  besonders  in  der  wohlgeordneten  Verwaltung  Aegyptens  und 
seinem  Beamtenapparate  eine  grosse  Rolle.  In  Hof-  und  Geschäftsjournalen, 
Beamtenprotokollen,  Briefen  -wird  seit  Alexander  in  den  Archiven  ein  unge- 
heures, auch  für  den  Historiker  nutzbares  Rohmaterial  aufgespeichert  ^  Auf 
die  Initiative  der  Fürsten  wird  es  vielfach  von  Literaten  bearbeitet  zu  um- 
fassenden Geschichtswerken  oder  zu  ephemeren  Berichten  über  Tagesereig- 
nisse und  Hoffeste,  die  dem  Publikum  die  Tagespresse  ersetzen.  Ptolemaios  I 
verschmäht  es  nicht,  einen  schmucklosen,  auf  das  Material  der  Archive  ge- 
gründeten Bericht  über  Alexanders  Feldzüge  zu  veröffentlichen.  Pyrrhos, 
Arat  und  andere  haben  ihre  Memoiren  geschrieben.  Die  Fürsten  teilen  die 
literarischen  Interessen  ihrer  Zeit,  geben  der  Literatur,  in  der  sie  zum  Teil 
dilettieren,  eine  FüUe  von  Anregung  und  Förderung.  Fürsten  und  Fürstinnen 
nehmen  die  Widmung  von  Schriften  entgegen  und  werden  von  den  Hof- 
dichtern gefeiert. 

Für  die  rege  Förderung  der  Wissenschaft  durch  das  Königtum  hat  der 
grosse  Zögling  des  Aristoteles  das  für  die  hellenistischen  Herrscher  vorbild- 
liche Beispiel  gegeben.  Wir  wissen,  dass  in  seinem  Generalstab  die  wissen- 
schaftliche Abteilung  nicht  fehlte.  Sorgfältige  Beobachtungen  der  ethno- 
grapliischen,  geographischen,  botanischen,  zoologischen  Tatsachen  wurden 
aufgenommen,  die  wissenschaftlichen  Berichte  im  Reichsarchive  zu  Babylon 
gesammelt.  Die  Bearbeitung  wenigstens  des  botanischen  Materials  liegt  uns 
in  der  ganz  neue  Bahnen  der  Forschung  eröffnenden  „Pflanzengeographie" 
Theophrasts,  des  Schülers  des  Aristoteles,  vor-. 

Plato  imd  Aristoteles  hatten  einen  Gelehrtenverein  in  sakralen  Formen, 
mit  einem  Schiülokal  und  Schidvermögen,  Bibliothek  und  Studienapparat, 
geschaffen  und  so  der  wissenschaftlichen  Arbeit  eine  Organisation  gegeben, 
durch  welche  die  verschiedenartigsten  Kräfte  nach  dem  Plane  und  nach 
den  beherrschenden  Gesichtspunkten  des  Meisters  zu  einem  grossen  Gesamt- 
bau der  Wissenschaften  zusammenwirkten.  Nach  diesem  Muster,  das  noch 
auf  die  Oi'ganisation  der  christlichen  Gelehrtenschulen  des  Altertums  und 
damit  bis  auf  die  Gegenwart  fortge^\drkt  hat,  und  wohl  auf  Anregung  des 
Peripatetikers  Demetrios  von  Phaleron  wurden  in  Alexandria  die  ersten  staat- 
lichen Institute  zur  Pflege  der  Wissenschaft  durch  königliche  Stiftung  ge- 
gründet, die  beiden  Bibliotheken  und  das  mit  reichen  Mitteln  ausgestattete 
Museion,  in  dem  die  angesehensten  Gelehrten  zu  gemeinsamer  Arbeit  und 
stetiger  Fortpflanzung  der"  Wissenschaft  vereinigt  waren.  Die  Forderung 
der  ideahstischen  Pliilosophie,  dass  der  Staat  in  der  Bildung  seiner  Bürger 
die  wichtigste  Aufgabe  zu  sehen  habe,  ist  nicht  ganz  ^^'irkungslos  verhallt. 
Alexandria  wird  durch  die  neuen  Schöpfvmgen  das  Zentrum  literarischer  und 
wissenschaftlicher  Produktion  und  eines  gegen  frühere  Zeiten  schwunghaft 
betriebenen  Buchhandels.    In  einen  fruchtbaren  Wettbewerb  mit  dem  wissen- 


1)  Wücken,  Phüologus  LUX  S.  102  ff.  -)  Bretzl,  Botanische  Forschungen 

des  Alexanderzuges.    Strassburg  1903. 


12  11  l'oLis  UND  MoNARriiu::  3  Neue  Stellung  der  Literatur 

schaftlichen  Leben  Alexaudrias  ist  nur  Perg-amon  seit  dem  11  Jahrhundert 
einy^etreten,  das,  die  khissischen  Traditionen  aufnehmend  und  fortbildend, 
eine  bedeutende  und  eigenartige  Kultur  erzeugt  und  als  Stütze  seiner  Herr- 
schaft dem  Barbarentum  gegenübergestellt  hat.  Antiochia  am  Orontes,  das 
schon  Seleukos  und  Antiochos  zu  einer  hellenischen  Stadt  ausgebaut  hatten, 
hat  trotz  der  Höhe  der  äusseren  Zivilisation  und  seiner  Bedeutung  für  die 
hellenistische  Propaganda  nie  konkurrieren  können.  Zu  einem  tieferen  geisti- 
gen Leben  ist  es  in  Antiochia  erst  in  der  späteren  christlichen  Zeit  gekom- 
men. Syrische  und  griechische  Kultur  gingen  liier  neben  einander  her;  aber 
orientalische  Ueppigkeit  und  Sinnlichkeit  hat  den  Grundzug  des  Lebens 
dieser  blasierten  Grossstadt  gebildet.  Athen  bleibt  nach  wie  vor  der  Mittel- 
punkt der  philosophischen  Entwicklung,  obgleich  die  bedeutendsten  Vertreter 
der  Philosophie  aus  dem  Osten  zuwanderten.  Neben  der  Akademie  und  dem 
Peripatos  setzten  sich  die  Schulen  des  Zenon  und  des  Epikur  dort  fort.  Auf 
den  Philoso])henschulen  beruht  in  hellenistischer  Zeit  die  geistige  Bedeutung 
und  die  Kultur  Athens,  das  sonst  nur  vom  Erbe  der  Vergangenheit  zehrt. 
Mit  den  pliilosophischen  Koryphäen  Athens  pflegen  die  Fürsten  die  lebhaftesten 
Beziehungen;  an  den  Höfen  selbst  konnte  die  Philosophie,  wie  es  scheint, 
nicht  recht  gedeihen.  Von  den  hellenistischen  Freistaaten  hat  sonst  nur 
Rhodos  für  das  geistige  Leben  der  Zeit  Bedeutendes  geleistet  und  im  Be- 
ginn der  römischen  Herrschaft  durch  seine  philoso])hischen  und  rhetorischen 
Schulen  Athen  fast  in  Schatten  gestellt. 

Die  literarischen  und  philhellenischen  Neigungen  der  hellenistischen 
Fürsten  haben  die  römischen  Grossen  aufgenommen  und  fortgesetzt.  Es  ist 
ein  Beweis  des  Aufschwunges  des  literarischen  Lebens,  dass  seit  dem  H  Jahr- 
hundert in  Rom  ^äelfach  die  politische  Rede  als  literarisches  Erzeugnis  ver- 
öffentlicht wird.  Man  beginnt  clie  Bedeutung  der  Literatur  fürs  öffentliche 
Leben  zu  schätzen.  Die  Vornehmen  lassen  sich  gerne  griechische  Schriften 
widmen,  haben  griechische  Literaten  in  ihrer  Umgebung  oder  sammeln  lite- 
rarische Zirkel  um  sich  und  tragen  dafür  Sorge,  dass  ihre  Taten  der  Nach- 
welt in  der  Beleuchtung-,  die  sie  selbst  wünschenswert  finden,  überliefert 
werden.  Viele  von  ihnen  schreiben  selbst  ihre  Memoiren  oder  Autobiogra- 
phien, die  von  parteipolitischen  und  a])ologetischen  Interessen  beherrscht 
sind.  Im  Zeitalter  der  niedergehenden  Rejniblik  s])ielt  die  Literatur  der 
Flugschriften  eine  grosse  Rolle.  Von  i)olitischen  Zwecken  ist  Cäsars  Bericht 
über  seine  gallischen  Kriege  und  seine  Darstellung  des  Bürgerkrieges  ein- 
gegeben und  beherrscht.  Auch  Augustus  schreibt  seine  Memoiren,  wie  auch 
später  viele  Kaiser  und  Angehörige  des  kaiserlichen  Hauses.  Die  Sitte  der 
orientalischen  Herrscher,  ihre  Taten  auf  Inschriften  zu  verherrlichen  und 
seilest  der  Nachwelt  zu  überliefern,  pflanzt  sich  in  hellenistischen  Reichen 
fort  und  lebt  in  erfreulicheren  Formen  im  Rechenschaftsberichte  des  Augustus 
A\ieder  auf  ^  Zu  Ciceros  Zeit  gibt  es  in  Rom  schon  einen  lebhaften  buch- 
händlerischen Betrieb,  Die  erste  öffentliche  Bibliothek  gründet  Asinius  PoUio ; 
Augustus  fügt  zwei  weitere  liinzu-,  und  ihre  Zahl  mehrt  sich  dann  rasch. 
Die  Sitte  öffentlicher  Recitationen  trägt  dazu  bei,  neue  Erzeugnisse  der 
Literatur  rasch  bekannt  zu  machen  und  literarisches  Interesse  zu  verbreiten; 
auch  sie  begegnet  uns  schon  in  der  hellenistischen  Welt  und  ^vird  von  dort 


')  Wie  Augxistus  verstanden  hat,  die  zeitgenössische  Literatur  seinen  Zwecken 
dienstbar  zu  machen,  wird  später  gezeigt  werden.  '^)  Ueber  die  Verwaltung 

der  Bibliotheken  s.  O.  Hirschfeld,  Die  kaiserlichen  Verwaltungsbeaniten^  S.  298  ff. 
—  Ueber  die  Ausgestaltung  der  Archive  und  der  kaiserlichen  Kanzleien  s.  Peter, 
Die  geschichtliche  Literatur  über  die  römische  Kaiserzeit  I  S.  223.  329  ff. 


Neue  Kulturcentren.    Hellenen  und  Barbaren.    Menschheitsbegriff  13 


nach  Rom  übertragen  sein.  Seit  Vespasian  wird  der  höhere  Unterricht  immer 
mehr  in  staatlichen  Betrieb  genommen  oder  von  den  Gemeinden  organisiert, 
öffentliche  Professuren  und  Bildungsinstitute  werden  geschaffen.  Seit  Cäsars 
Konsulat  (59)  versorgt  die  offiziöse  Staatszeitung,  die  nach  Art  unserer 
Tagesblätter  angelegt  ist,  die  Welt  mit  allen  wissenswerten  Nachrichten  aus 
dem  öffentlichen  Leben  und  bald  auch  mit  amüsantem  Stadtklatsch. 


III 
KÜSMÜPOLITISMUS  UND  INDIVIDUALISMUS 

1  Kosmopolitische  Stimmung  der  neuen  Zeit 

Als  Träger  des  panhellenischen  Gedankens  und  der  griechischen  Kultur 
schafft  Alexander  sein  Weltreich,  in  dem  Asiaten  mit  Makedonen  und  Grie- 
chen zu  einem  Ganzen  verschmolzen  werden  sollen.  Die  Annahme  des  per- 
sischen Hofzeremoniells,  die  Gründung  neuer  Militärkolonien  mit  ihrer  Völker- 
mischung, die  Begünstigung  der  Ehen  zwischen  Griechen  und  persischen 
Frauen,  die  Anpassung  der  Verwaltimg  an  die  überlieferten  Formen,  die 
Anerkennung  der  Kulte  der  eroberten  Länder  fördern  die  Verschmelzung 
imd  führen  der  neuen  Kultur  ungriechische  Elemente  zu.  Aber  als  die  trei- 
bende Kraft  der  neuen  Kulturentwicldung  ist  doch  von  vornherein  der  grie- 
chische Geist  gedacht,  der  die  OÄT;  der  ungriecliischen  Völker  sich  unter- 
werfen und  ihr  seine  Formen  aufprägen  soll.  Und  der  optimistische  Glaube 
an  die  überlegene  Macht  des  griechischen  Geistes  und  die  grosse  ]Mission, 
die  er  in  der  Erziehung  der  barbarischen  Völker  erfüllen  müsse,  hat  nicht 
getäuscht.  Trotzdem  das  Reich  Alexanders  zerfällt,  geht  doch  die  Saat, 
die  er  ausgestreut  hat,  auf ;  eine  einheitliche  Weltkultur,  die  in  der  Einheit 
der  griechischen  Sprache  und  Denkweise  begründet  ist,  umspannt  die  helle- 
nistischen Reiche  ^  Dass  der  langsam  fortschreitende  Hellenisierungsprozess 
sich  nur  die  Städte  und  die  oberen  Schichten  unterwerfen,  nicht  das  ganze 
Hinterland  und  das  Volkstum  bewältigen  konnte,  dass  dann  überall  eine 
starke  nationale  Reaktion  ihm  Einhalt  gebietet.  Altägyptisches  und  Koptisches, 
Syrisches  und  Persisches  mächtig  vordringt,  ist  wesentlich  in  dem  Verfall 
und  der  sinkenden  Kraft  zuerst  der  hellenistischen  Reiche,  dann  des  Römer- 
reiches  begründet.  Die  nie  ausgestorbenen  altorientalischen  Traditionen 
dringen,  wie  man  besonders  auf  dem  Gebiet  der  Kunst  und  der  ReHgion, 
aber  auch  des  Rechts,  beobachten  kann,  gegenüber  der  sinkenden  Kraft  der 
hellenistisch-römischen  Kultur  in  der  Spätantike  mit  wachsend  siegreicher 
Gewalt  erobernd  vor-.  Dass  die  Hellenisierung  des  Ostens  nicht  zum  glei- 
chen Ziele   gelangt   ist  vrie    die  Romanisierung  des  Westens,    offenbart  sich 


*)  Ueber  das  Mass  der  Hellenisierung  der  verschiedenen  Landschaften  (in 
Kleinasien  ging  sie  sehr  viel  weiter  als  in  Syi-ien)  vgl.  Mitteis,  Reichsrecht  und 
Volksrecht  S.  17  ff.  -)  Ueber  die  freilich  hier  erst  in  den  Anfängen  stek- 

kende kunstgeschichtliche  Forschung  können,  ausser  Strzygowskis  grösseren  Wer- 
ken, seine  Aufsätze  in  der  Beilage  zur  Allg.  Zt.  1902  Nr.  40.  41  und  Neue  Jahrb. 
XV  S.  19  ff.  orientieren. 


14  111    KOSMOI'OLITISMUS    UND   INDIVIDUALISMUS:    1    KOSMOPOL.   STIMMUNG 

auch  in  der  Spaltung  der  östliclien  Kirchen  nach  Nationen  und  Sprachen,  ver- 
»lii'hen  mit  der  Einheit  der  Organisation  und  Sprache  der  römischen  Kirche. 
Alexanders  Glaube  an  die  Kulturfähiykeit  der  barbarischen  Völker,  an 
die  Möglichkeit  ihrer  Verschmelzung  mit  den  griechischen  Eroberern  war 
etwas  Neues,  was  den  griechischen  nationalen  Vorurteilen  widersprach  und 
sie  zur  Opposition  herausforderte.  Dem  griechischen  Nationalempfinden  ist 
der  in  Sprache,  Sitte,  politischen  Formen  und  Religion  begründete  Rassen- 
unterschied zwischen  Griechen  und  Barbaren  unüber\\'indlich  und  unüber- 
brückbar'. Dem  Herrenvolk  der  Griechen  stehen  die  von  Natur  zum  Dienen 
bestimmten  Barbaren  gegenüber.  Sucht  doch  selbst  Aristoteles  die  Sklaverei 
durch  den  Unterschied  der  Rassen  als  von  der  Natur  gewollt  zu  begründen! 
Die  Politik  seines  Zöglings  verstand  er  nicht,  wenn  er  Alexander  riet 
(Fragm.  658  Rose),  über  die  Griechen  nur  Hegemonie,  über  die  Barbaren 
i)espotie  zu  üben,  für  jene  als  Freunde  und  Verwandte  zu  sorgen,  diese  wie 
Tiere  oder  Pflanzen  zu  nutzen.  Diese  Zweiteilung  in  Herren  und  Knechte 
verwirft  ein  Jahrhundert  später  Eratosthenes  (bei  Strabo  I  p.  66,  67,  vgl. 
Cicero  De  republ.  I  58);  nach  Tugend  und  Schlechtigkeit  allein  solle  man 
die  Menschen  beurteilen  und  scheiden,  und  die  seien  keineswegs  an  den 
Unterschied  der  Rassen  gebunden.  Dies  Wort  spiegelt  deutlich  den  Fort- 
schritt der  Zeiten  und  das  erweiterte  Menscheitsbewusstsein  wieder.  Die 
Menschen,  denen  sich  durch  Alexanders  Eroberungen  ganz  neue  Welten  und 
unendliche  Weiten  eröffnen,  können  nicht  mehr  Hellenen  im  alten  Sinne  des 
Wortes  bleiben.  Die  neue  Kulturentwicklung  wirkt  nivellierend.  Die  dia- 
lektischen Unterschiede  werden  abgeschliffen,  und  auf  der  Grundlage  des 
Attischen  erhebt  sich  die  einheitliche  Weltsprache,  die  y,oivri.  Eine  fort- 
schreitende Ausgleichung  der  Rechtsbräuche  und  Ansätze  zu  einem  inter- 
nationalen Rechte  sind  zu  beobachten.  Ein  Durchschnittsniveau  der  allge- 
meinen Bildung,  die  mehr  in  die  Breite  als  in  die  Tiefe  geht,  wird  geschaffen, 
dem  gegenüber  die  früher  stark  differenzierten  Sonderheiten  der  Sitte  und 
der  Bildung  zurücktreten.  Ueber  den  Grenzen  der  Stäunne  und  Nationen 
erhebt  sich  die  Schöpfung  des  neuen  Weltreiches,  und  der  Begriff  der  o\.y.ou[iivri 
fordert  als  Komplement  den  Begriff  des  allgemeinen,  aus  den  nationalen 
Schranken  gelösten  Menschentums.  Die  grossen  politischen  Katastrophen, 
die  neuen  Formen  der  Gesellschaft,  der  Zug  nach  dem  Osten,  die  Steigerung 
des  Verkehrs  werfen  die  alten  Scliichten  der  Gesellschaft  gewaltsam  durch- 
einander, verwischen  die  alten  Standesunterschiede  und  gleichen  die  sozia- 
len Gegensätze  aus.  Die  rationalistische  Aufklärung  Athens  hatte  schon  den 
Menschen  und  die  menschlichen  Verhältnisse  zum  Objekt  der  Forschung  er- 
hoben, hatte  alle  natürlichen  und  religiös  sanktionierten  Formen  des  mensch- 
lichen Daseins  und  die  Grundlagen  der  Gesellschaft,  das  Verhältnis  der  Ge- 
schlechter und  Stände,  Staatsverfassung,  Eigentum,  Moral,  Religion  in  Frage 
gezogen  und  als  Problem  gefasst;  sie  hatte  mit  konsequentem  Radikalismus 
den  Menschen  herausgehoben  aus  den  konventionellen  Schranken  und  Vor- 
urteilen. Sie  hatte  damit  der  neuen  Entwicklung  vorgearbeitet;  aber  alle 
diese  kühnen  Fragstellungen  und  schnellfertigen  Antworten  gewannen  jetzt 
einen  grösseren  Ernst  und  eine  vertiefte  Bedeutung,  wo  die  alten  Formen 
der  Gesellschaft  durch  die  geschichtliche  Entwicklung  gelockert  oder  gelöst 
und  neue  in  der  Bildung  begriffen  waren.  Und  wenn  der  griechische  Geist 
die  treibende  Kraft  und  der  beherrschende  Faktor  der  neuen  Kulturentwick- 
lung \^airde,  so  konnte  er  doch  die  neue  Kulturmission  nur  erfüllen,  indem 
er  über  die  nationalen,  religiösen,  sittlichen  Schranken,  in  denen  er  befangen 


')  Eichhorn,  ßäpßapo;  quid  significaverit,  Leipziger  Diss.  1904. 


Auflösung  der  iiutionulcii  Si'hraiila'ii.     Interesse  für  fremde  Kidturcn         15 


war,  hinauswuchs  und  den  Ausdruck  für  das  umfassendere  Welt-  und  Mensch- 
heitsbewusstsein  der  neuen  Zeit  fand. 

Der  erweiterte  politische  und  ji;eoi>raphisclie  Horizont  führt  zu  einer 
neuen  Bestimmung-  des  Verhältnisses  von  Griechen  und  Barl)aren.  Man 
lernt  die  uralten  Kulturen  der  orientalischen  Völker  kennen,  und  die  histo- 
rische Forschung-  unterzieht  sich  bald  der  Aufgabe,  den  Griechen  diese  Kul- 
turen bekannt  und  verständlich  zu  machen.  Der  babylonische  Belspriester 
Berossos  erschliesst  in  seinem  Antiochos  I  Soter  (281 — 2G1)  gewidmeten 
Werke  den  Griechen  die  babylonische,  der  ägyptische  Priester  Manethos  die 
ägyptische  Kultur.  Vor  diesen  ernsthaften  Werken  bevorzugte  leider  der 
Geschmack  der  Griechen  romanhafte  Darstellungen,  die  von  stark  aktuellen 
Tendenzen  beherrscht  waren.  Berossos  und  Megasthenes'  Ivor/.a  übten  nicht 
den  Einfluss  wie  das  phantastische  ältere  Werk  des  Ktesias ,  das  über  den 
ganzen  Reiz  ionischer  Erzählungskunst  verfügte.  Und  die  Kenntnis  des 
Aegyptischen  bezog-  man  lieber  aus  dem  leicht  lesbaren  Werke  des  Abderiten 
Hekataios,  der  Ideale  seiner  Zeit,  den  aufgeklärten  Despotismus,  die  ratio- 
nalistische Religion,  Grundsätze  der  Ptolemäerpolitik  in  die  Pharaonenge- 
schichte projiziert.  So  ist  die  Erforschung  der  Literatur  fremder  Völker  in 
den  ersten  Anfängen  stecken  geblieben  und  von  den  Griechen  überhaupt  nie 
als  wissenschafthche  Aufgabe  ernstlich  in  Angriff  genommen.  Wir  hören 
von  der  Aufnahme  einer  Fülle  zoroastrischer,  wohl  gefälschter  Schriften  in 
die  alexandrinische  Bibliothek  i,  und  die  Septuaginta-Legende  knüpft  an  das 
Interesse  für  die  Literatur  fremder  Völker  an.  Vorschnelle  Konstruktionen 
und  willkürliche  Vorstellungen  vom  Verhältnis  der  griechischen  Kultur  zu  der 
orientalischen  ersetzen  den  Mangel  solider  Forschung.  Man  leitet  griechische 
Götter  und  Kulte  aus  Aegypten  ab,  lässt  die  griecliischen  Denker  von  dort 
ihre  Weisheit  holen;  wo  die  Kultur  eine  so  lange  und  alte  Geschichte  hat, 
soll  der  Ursitz  der  Weisheit  sein. 

Die  Schätzung  der  Barbaren  hat  sich  gewandelt.  Einst  hatten  ioni- 
sche Forscher  mit  offenem  und  vorurteilsfreiem  Blick,  mit  ausgesprochenem 
Interesse  für  alles  Neue  und  Fremdartige  eine  Fülle  von  Beobachtungen  über 
die  barbarischen  Völker  niedergelegt;  Herodot  hatte  durch  das  Alter  der 
ägyptischen  Kultur  sich  gewaltig-  imponieren  lassen  und  in  vorschneller  Kon- 
struktion die  Griechen  zu  Schülern  der  Aegypter  gemacht.  Dann  hat  die 
Sophistik  den  Völkersitten  ein  lebhaftes  Studium  zugewandt,  aber  mit  dem 
einseitig  rationalistischen  Interesse,  aus  dem  Widerspruch  der  Sitten  die  Un- 
möglichkeit einer  absoluten  Sittlichkeit  zu  deduzieren,  und  die  skeptische 
Philosophie  hat  diese  unfruchtbare  Betrachtung  durch  Jahrhunderte  fortge- 
setzt. Der  Historiker  Ephoros  und  Aristoteles  und  seine  Schide  haben  dann 
ein  ungeheures  Material  zusammengebracht  und  nach  historischen  Gesichts- 
punkten zu  bearbeiten  begonnen.  Dies  Material  ist  in  hellenistischer  Zeit 
weit  über  die  Grenzen  des  griecliischen  Sprachgebietes  liinaus  erweitert.  Mit 
gesteigertem  Interesse  betrachtet  man  Leben  und  Sitten  der  fremden  Völker. 
Poseidonios  hat  mit  schärfstem  Blick  die  Sitten  und  Lebensformen  der 
Kelten  gezeichnet-  und  mit  den  aus  Homer  bekannten  primitiven  Lebens- 
formen der  Griechen  verglichen.  Und  neben  die  vorurteilslose  Beobachtimg 
tritt  bald  sentimentale  und  idealisierende  Betrachtung-  der  Naturvölker  und 
Barbaren-''.  Eine  kulturmüde,  von  den  künstlichen  Lebensformen  unbefrie- 
digte Welt  sucht    gern    ihre    Ideale    in    fernen    Zeiten    oder  Gegenden.     Die 


1)  Cumont,  Textes  et  mon.  fig.  rel.  aux  myst.  de  Mithras  I  S.  23.  32,  Z.  f.  neu- 
test.  Wiss.  I  8.  268.  ■')  Wüamowitz,  Lesebuch  n  217.  ^)  E.  Rohde, 

Griech.  Roman  ^  S.  21.5  ff. 


IQ  III  Kosmopolitismus  und  Individualismus:  2  Die  Stoa 

Vorstellnni>en  eines  f^flückseliq-en  und  eines  rohen  und  elenden  Naturzustandes, 
Kulturfveiuliiikeit  und  Kulturüberdruss  gehen  in  heUenistischer  Zeit  neben- 
einander und  kreuzen  sich.  Seihst  die  ])eri])atetische  und  epikureische  Dar- 
stellung der  stutenweisen  Entwickelung  der  Kultur  hat  sich  von  sentimen- 
talischen  Zügen  und  von  dem  Gefühl,  dass  der  Fortschritt  der  Kultur  nur 
mit  Opfern  und  notwendigen  Uebeln  erkauft  wird,  nicht  frei  halten  können'. 
Es  überwiegt  aber  später  die  kulturfeindliche  Betrachtung.  Bald  sucht  man 
das  Ideal  der  Sittlichkeit  und  Unverdorbenheit  in  den  ])rimitiven  Zuständen 
der  Naturvölker,  bei  Aethiopen  oder  Juden,  Skythen  oder  Mysen ;  bald  ver- 
legt man  es  in  ])hantastischer  Dichtung  in  weltferne  und  unbekannte 
Gegenden;  bald  projiziert  man  es  in  das  goldene  Zeitalter.  Kynismus  und 
Stoa  stellen  gern  das  Barbareilieben  als  Muster  der  von  ihnen  geforderten 
einfachen  und  naturgemässen  Lebensweise  der  Entartung  der  Kiütur  ent- 
gegen. Aehnliche  Tendenzen  treten  beim  Philosophen  Seneca  stark  hervor, 
und  diese  sentimentale  und  moralisierende  Betrachtung  durchdringt  Tacitus' 
Germania,  in  der  AusAvahl  und  Gestaltung  des  Stoffes  ganz  auf  die  Anti- 
these :  Natur  und  Kultur  gestellt  ist.  Die  Spätantike  leitet  dann  endlich  ihre 
Ideale,  die  ihr  noch  geblieben  sind,  und  die  ganze  griechische  Geistesarbeit 
aus  orientalischen  Quellen  ab  und  sucht  im  Osten  ihre  tiefsten  Offenbarungen. 
Sie  bezeugt  damit,  dass  die  Quellen  des  griechischen  Geisteslebens  versiegt 
sind.  Es  ist,  als  fühle  sie  sich  ihres  besten  Erbes  unwürdig  und  verkaufe 
es  an  den  Barbaren. 


2  Die  Stoa 

Den  adäquaten  Ausdruck  für  die  Weltanschauung  des  neuen  Zeitalters 
findet  die  Stoa.  Die  Mehrzahl  der  älteren  Stoiker  stammt  aus  dem  Osten, 
aus  einem  Gebiete  der  Völker-  und  Kulturmischung-.  So  verbinden  von  vorn- 
herein keine  engen  Fäden  sie  mit  den  national  hellenischen  Anschauungen 
und  historischen  Traditionen,  und  diese  historische  Voraussetzungslosigkeit 
macht  die  Stoa  vorzüglich  geeignet,  die  neuen  Grundlagen  des  Daseins  theo- 
retisch festzulegen.  Rationalismus  und  Dogmatismus  ist  die  Signatur  dieser 
Philosophie.  Dieselbe  göttliche  Urkraft,  physisch  und  geistig  gefasst,  durch- 
dringt, den  Dingen  Form  und  Wesen  gebend,  das  All  und  ist  zugleich  das 
Gesetz,  dem  der  Mensch  sich  unterzuordnen  hat.  Denn  auch  des  Men- 
schen Wesen  ist  Xoyoc  wie  jene  göttliche  Kraft,  deren  Absenker  der  mensch- 
liche Xöycq  ist;  es  wird  von  der  Stoa,  die  in  den  Affekten  Irrtümer  des 
Verstandes  sieht,  rein  intellektualistisch  gefasst.  Der  Xoyo;,  durch  den  der 
Mensch  ein  ^öJov  xo'.vwvixov  ist  (so  Chrysipp  Bd.  III  S.  43.  76  ff.  von  Arnim), 
ist  auch  das  die  Gesellschaft  l)ildende  Prinzip.  Auf  ihm  beruht  die  Ver- 
bindung aller  vernunftbegabten  Wesen,  Götter  und  Menschen,  zu  einer 
gi'ossen  Geraeinschaft. 

Programmatisch  steht  am  Beginn  der  hellenistischen  Zeit  eine  der  ersten 
Schriften  Zenons,  die  TioA'.xeia-.  In  ihr  trat  noch  der  Einfluss  des  unge- 
milderten  Kynismus  hervor,  der  das  Naturgesetz  an  Stelle  aller  Menschen- 
satzungen stellte  und  sich  das  Ziel  setzte,  die  giltige  Moral  umzuwerten. 
An  ihn  hat  Zenon  bezeichnenderweise  Anschluss  gesucht.     Der  wahre  Staat 


')  Bernays,  Theophrastos'  Schrift  über  Frömmigkeit,  Berlin  1866.  Norden, 
Fleckeisens  .Tahrb.  Suppl.  XIX  S.  411  ff.  DjToff,  Zur  Quellenfrage  bei  Lucretius, 
Bonn  1904.  -)  .S.  das  Verzeiclinis  der  Fragmente  bei  von  Arnim,  Stoicorum 

fr.  I  S.  72  und  Crönert  in  Wesselys  Studien  VI,  Leipzig  1906  S.  53  ff. 


Idealisierung  der  Barl)areii.     Zeiious  Staatslehre  und   ihr  Fortwirken.         17 

ist  der  Kosmos,  in  den  die  einzelnen  beschränkten  menschlichen  köXbk;  auf- 
zugehen bestimmt  sind,  seine  Bürger  sollen  alle  Menschen  sein,  gleichmässig 
von  dem  einen  göttlichen  Gesetze  beherrscht.  Bürger,  Freunde,  Verwandte, 
Freie  sind  nur  die  Guten ;  nicht  die  Bande  des  Blutes,  sondern  Tugend  und 
Gleichheit  der  sittlichen  Interessen  bestimmen  die  Zugehürigkeit  zu  dieser 
Gemeinschaft.  Dieser  Staat  bedarf  nicht  der  Tempel  und  Götterbilder,  die 
als  das  Werk  menschlicher  Hände  der  Götter  unwürdig  sind^,  nicht  der 
Gerichte  und  Gymnasien,  nicht  der  Ehe  und  des  Familienlebens,  auch  nicht 
des  Geldes  und  der  üblichen  iyy.uv.Xio;,  naioeia..  Und  wenn  Zenon  Männern 
und  Frauen  die  gleiche  Tracht  vorschreibt,  so  sehen  wir,  dass  vor  der  in 
der  Vernunft  begründeten  Gemeinschaft  alle  Unterschiede  nicht  nur  des 
Standes,  sondern  auch  des  Geschlechtes  als  nichtig  betrachtet  werden. 

Zenon  selbst  und  noch  mehr  seine  Nachfolger  haben  diese  Grundsätze 
gemildert  und  die  extremen  Konsequenzen  abgeschnitten.  Aber  die  Grund- 
gedanken des  Kosmopolitismus  und  der  Humanität,  einer  allgemeinen  Ver- 
brüderung und  Versöhnung  der  Menschheit,  eines  göttlichen,  ins  Herz  ge- 
legten Naturgesetzes,  das  über  die  geschriebenen  und  beschränkten  Menschen- 
gesetze erhaben  ist,  haben  doch  einen  sittigenden  und  erziehenden  Einfluss 
ausgeübt,  me  die  unendlichen  Variationen,  in  denen  sie  wiederholt  werden  -, 
beweisen.  Durch  das  läuternde  Medium  der  mittleren  Stoa,  durch  Cicero, 
Seneca  und  die  Fülle  der  uns  bekannten  und  der  verschollenen  Moralisten 
haben  sie  auf  die  weitesten  Kreise  und  bis  auf  die  Gegenwart  gewirkt. 
Mann  und  Weib,  Grieche  und  Barbar,  Freier  und  Sklave  w-erden  unter  den 
allgemeinen  Begriff  der  Menschheit  gefasst,  und  die  stoische  Predigt  der 
freilich  einseitig  intellektualistisch  gefassten  Menschenwürde  hat  zur  Nivel- 
Herung  und  Ausgleichung  der  sozialen  Gegensätze,  hat  auch  zur  Hebung  der 
Lage  der  Frauen  beigetragen.  Der  Unterschied  von  Herr  und  Sklave  ver- 
geht vor  dem  höheren  Unterschiede  der  wahren  inneren  Freiheit,  die  sich 
in  jeder  Lebenslage  bewähren  lässt,  und  der  Knechtung  durch  die  Leiden- 
schaften, vor  der  freie  Geburt  und  auch  der  Purpur  nicht  bewahren.  Das 
schwere  Problem  der  Sklavenfrage,  die  der  antiken  Gesellschaft  oft  als  das 
furchtbarste  Gespenst  erschien,  wird  theoretisch  wie  im  Spiele  gelöst,  und 
die  praktische  Lösung  erübrigt  sich  auf  der  Höhe  eines  Standpunktes,  der 
an  das  äussere  Glück  keine  Forderungen  stellt  und  sich  in  alle  gottgegebenen 
Schickungen  fügt.  Aber  der  lahme  und  als  Sklave  geborene  Epiktet  hat 
die  Wahrheit  der  Lehre  innerlich  erlebt,  und  die  begeisterten  Worte,  die 
ihm  und  seiner  Predigt  der  wahren  Freiheit  in  dankbarer  Verehrung  ein 
Sklave  auf  einer  Steinschrift  in  Pisidien  ^  geweiht  hat,  beweisen,  dass  manchem 
der  Mühseligen  und  Beladenen  die  stoische  Lehre  wirklich  Erhebung  und 
Frieden  der  Seele  gegeben  hat.  Und  was  wichtiger  ist,  die  stoische  Moral, 
zu  der  sich  die  Gebildeten  bekannten,  hat  stark  eingewirkt  auf  die  Milde- 
rung der  Sitten  und  die  Erweichung  der  antiken  Vorurteile  im  Verhalten  zum 
Sklaven.  Nicht  nur  Cicero,  Seneca,  der  jüngere  Plinius  bezeugen  es.  „Die 
Milderungen  der  Sklaverei  durch  das  Kaiserrecht  gehen  wesentlich  zurück 
auf  den  Einfluss  der  griechischen  Anschauungen  zum  Beispiel  bei  Kaiser 
Marcus,  der  zu  jenem  nikopolitanischen  Sklaven  wie  zu  seinem  Meister  und 
Muster  emporsah  (Mommsen,  R.  G.  V  S.  250)"^. 

Jene    extreme   zeuonische  Forderung   gleicher    Tracht    der  Frauen   wird 


')  Vgl.  auch  Fr.  266:  Die  Tugenden  der  Bürger  sind  das  beste  Weihgeschenk. 
-)  Auf  Philon  (v.  Arnim  III  S.  79.  80)  und  auf  die  Christen  haben  sie  stark  einge- 
wh-kt.  3)  Hermes  XXIII  S.  542  ff.  ^)  Material  bei  A.  Schneider,  Zur 

Geschichte  der  Sklaverei  im  alten  Rom,  Zürich  1892. 

Lietzmann,  Handbuch  z.  Neueu  Test.  I,  2.  2 


18  in  Kosmopolitismus  und  Individualismus:  2  Die  Stoa 

nicht  wiederholt.  Aber  die  Gleichberechtigung  der  Frau  wird  fort  und  fort 
von  der  Stoa  gefordert,  und  nicht  nur  wie  von  Plato  im  staatlichen  Interesse. 
Zahlreiche  uns  noch  erhaltene  Traktate  fordern  für  das  weibliche  Geschlecht 
die  gleiche  Bildung,  behandeln  die  Ehe  in  dem  Sinn  einer  innigen  Lebens- 
und Interessengemeinschaft.  Auch  hier  hat  die  Stoa  einer  gerechteren  Ge- 
setzgebung voi'gearbeitet  und  ihr  den  Boden  bereitet,  und  die  von  späteren 
römischen  Juristen  vertretene  Auffassung  der  Ehe  ^  ist  die  stoische.  In  der 
geistigen  und  sittlichen  Lebensgemeinschaft  finden  sie  iliren  Zweck,  w^ährend 
die  antike  Anschauung  ihren  Zweck  einseitig  in  der  Fortpflanzung  des  Ge- 
schlechtes und  der  Versorgung  des  Staates  mit  Bürgern  gesucht  hatte. 

Zenons  Staatslehre  vertritt  zwar  im  Gegensatz  zum  ethischen  Atomis- 
mus Epikurs  energisch  die  organische  Auffassung  der  Gesellschaft  und  be- 
tont den  Geraeinschaftstrieb.  Aber  es  ist  doch  nicht  Zufall,  dass  er  vom 
J^wov  y.oivcovLxöv  im  Gegensatz  zum  aristotelischen  uoXotcxov  redet.  Die  For- 
men des  Idealstaates  sind  so  abstrakt  gefasst,  und  das  Ideal  schwebt  in  so 
weiter  Ferne  von  dieser  Welt,  dass  die  Lehre,  in  ihrem  ursprünglichen  Sinne 
verstanden,  eher  den  politischen  Trieb  zu  ersticken  als  zu  stärken  und  die 
praktisch  politische  Tätigkeit  auszuschliessen  schien,  wie  sich  die  stoischen 
Schulhäupter  auch  in  der  Praxis  wirklich  von  ihr  fern  gehalten  haben.  Aber 
die  abstrakte  Fassung  gestattete  eine  Füllung  mit  konkreterem  Inhalt,  die 
Zweideutigkeit  mancher  Sätze  (z.  B.  des  Satzes  TioXctsuaexac  6  aocpo^,  der 
politische  Tätigkeit  forderte,  aber  auch  von  der  philosophischen  Arbeit  des 
Weisen  verstanden  werden  durfte)  bot  wie  auf  religiösem  Gebiet  die  Mög- 
lichkeit weiterer  Akkommodationen.  So  konnte  auf  der  einen  Seite  die 
mittlere  Stoa,  die  pobtischen  Theorien  des  Plato  und  Aristoteles  aufnehmend 
und  fortbildend  und  vom  Bilde  des  römischen  Staates  beeinflusst,  ein  posi- 
tives Verhältnis  zum  Staate  gewinnen  und  das  politische  Denken  eines  Poly- 
bios,  Sci])io,  Cicero  aufs  fruchtbarste  anregen ;  auf  der  andern  Seite  konnte 
in  der  Kaiserzeit,  wo  wieder  die  kynischen,  weitabgewandten  Tendenzen  her- 
vordringen, die  stoische  Lehre  die  Unterlage  für  einen  unfruchtbaren  oppo- 
sitionellen Doktrinarismus  hergeben^. 

Wir  wissen  zu  wenig  von  Zenons  TZoXizda,  um  die  interessante  Frage 
nach  ihrer  psychologischen  Genesis  erklären  zu  können,  w^enn  auch  einzelne 
Beziehungen  auf  Plato  nachweisbar  sind.  Ist  es  ein  Zufall,  dass  die  radikale 
Theorie  die  schöne  griechische  Welt  noch  unbarmherziger  in  Trümmer  schlägt 
als  die  politischen  Katastrophen,  deren  Augenzeuge  Zenon  gewesen  ist?  Ist 
ihm  die  Weltweite  seines  Kosmopolitismus  und  seine  ideale  iizjocXotioXk;  auf- 
gegangen unter  dem  Eindruck  des  Weltreiches  Alexanders,  das  er  entstehen 
und  doch  bald  wieder  in  Stücke  gehen  sah  ?  Ist  seine  Polemik  gegen  aUe 
Formen  und  Voraussetzungen  der  antiken  ttqX'.c;  vielleicht  bedingt  durch  die 
Katastrophe,  die  sie  in  ein  grösseres  Ganze  verschlungen  hat?  Und  ist  ihm 
die  Perspektive  des  Aufgehens  aller  Staaten  und  Nationen  in  seinen  Ideal- 
staat eröffnet  durch  den  ähnlichen  Prozess,  den  er  erlebt  hatte?  Wer  den 
ungeheuren  Abstand  dieser  Theorie   von  Plato    imd  Aristoteles  zu  ermessen 


')  So  z.  B.  Modestinus  (III  .Jalirli.)  Digesten  23,  2:  futpfiae  sunt  coniiinctio 
maris  et  feminae  et  consorthnn  o?nnis  vitae,  ilivini  et  luimaiii  iuris  coimitunicatio  (vgl. 
Ihering,  Geist  des  röra.  Rechtes  II  1  *  S.  208.  Es  genügt  z.  B.  die  Stoiker  Muso- 
nius  S.  07  Hense  (s.  Beilage  4  zu  I  Cor)  oder  Hierokles  S.  54,  19  von  Arnim  (beide 
heben  auch  das  religiöse  Moment  hervor)  zu  vergleichen,  um  die  Annahme,  Mo- 
destinus stehe  schon  unter  christlichem  Einflüsse,  als  ganz  unbegründet  abzuweisen. 
2)  Doch  fehlt  es  auch  unter  den  späteren  Stoikern  nicht  an  solchen,  die  ein  posi- 
tives Verhältnis  zum  Staat  vertreten;  s.  Frachter,  Hierokles  S.  38  ff. 


Die  Stoa  und  Alexander.    Die  Zeit  der  grossen  Persönlichkeiten  19 

weiss,  wird  einen  solchen  Zusammenhang  sehr  wahrscheinlich  und  es  be- 
greitlich  finden,  dass  Alexanders  Taten  die  Phantasie  des  Philosophen  ebenso 
wie  die  der  Historiker  angeregt  haben.  Die  Parallele  zwischen  Alexanders 
Weltreich  und  stoischem  Idealstaat  ziehen  schon  die  hier  sicher  von  alter 
Quelle  abhängigen  ])lutarehischen  Reden  De  fortuna  Alexandri  in  geistvoller 
Weise.  Alexanders  Bedeutung  wird  hier  auf  seine  philosophische  Bildung 
zurückgeführt;  aber  mit  seinen  Leistungen  hat  er  alle  Philosophen  in  Schätz- 
ten gestellt.  Er  ist  der  grosse  Erzieher  der  Völker  zu  hellenischer  Sitte 
und  Bildung  und  dadurch  der  grosse  Wohltäter  der  Menschheit.  Als  der 
gottgesandte  ^Mittler  und  Versöhner  vereinte  er,  wo  es  die  Macht  des  /oyo^ 
nicht  vermochte,  Wattengewalt  brauchend,  alles  zu  einem  grossen  Ganzen, 
wie  in  einem  festlichen  Krater  Leben,  Gesinnung,  Ehe,  Lebensweise  der 
Völker  mischend  und  sie  lehrend,  die  oixoujjievrj  für  ihr  Vaterland,  die  Guten 
für  Verwandte,  die  Schlechten  für  Fremde  zu  halten ',  den  Unterschied  von 
Hellenen  und  Barbaren  künftig  nur  nach  Tugend  und  Sclilechtigkeit  zu ; 
messen  -.  So  kann  das  Vermählungsfest  in  Susa  als  Symbol  der  Vereinigung  i 
der  beiden  Welten  Europas  und  Asiens  gefeiert  werden. 


3  Individualismus 

Der  Individualismus  ist  für  die  hellenistische  Zeit  ebenso  charakteristisch 
wie  der  Kosmopolitismus,  der  ihn  nicht  ausschliesst,  vielmehr  der  geeignetste 
Boden  ist,  auf  dem  er  gedeihen  kann.  Die  Schranken,  die  bisher  durch 
Staat,  Gesellschaft,  Religion  dem  einzebien  gesteckt  waren,  haben  sich  ge- 
lockert und  gelöst.  Das  Individuum  gemnnt  jetzt  die  Freiheit,  sich  selbst 
zu  leben.  Der  Abstand  der  alten  Komödie  mit  ihrem  aktuell  politischen 
Inhalt  vom  Milieu  der  neueren  Komödie  beweist,  wie  sich  der  Lebensinhalt 
geändert,  die  Interessensphäre  durch  das  Zurücktreten  der  öftentlichen  Pflich- 
ten des  Bürgers  verengert  hat.  In  der  Fülle  privater  Vereine  sucht  jetzt 
das  Gemeinschaftsbedürfnis  einen  Ersatz ;  dass  sich  z.  B.  die  Künstlervereine 
verschiedener  Städte  zu  umfassenden  Verbänden  zusammentun,  ist  eine  Neue- 
rung, die  bei  der  Zersplitterung  des  Städtelebens  in  älterer  Zeit  nicht  denk- 
bar gewesen  wäre  ■'.  Seit  die  Interessen  am  öffentlichen  Leben  zurücktreten, 
gewännt  das  häusKche  Leben  für  den  Mann  eine  grössere  Bedeutung,  und 
das  kommt  auch  der  Frau  zugute.  So  verschieden  die  Stellung  der  Frau 
sich  hier  und  dort  durch  Sitte  und  Tradition  gestaltet  hatte  —  in  Sparta  und 
in  Rom  war  sie  stets  viel  freier  als  in  Athen  —  beobachten  wir  doch  in  hel- 
lenistischer Zeit  im  allgemeinen  eine  fortschreitende  Emanzipation  von  den 
beengenden  Schranken  altvaterischer  Sitte,  und  die  höfische  Mode  hat  die 
freiere  Entwickelung  begünstigt.  Die  immer  tiefere  und  individuellere  Töne 
findende  erotische  Poesie  scheint  das  intensivere  und  innigere  Gefühlsleben 
im  Verhältnis  der  Geschlechter  wiederzuspiegeln. 

Wenn  es  gewiss  zum  Teil  die  besten  und  gesundesten  Elemente 
waren,  die,  der  Heimat  treu,  fern  vom  Weltgetriebe  in  idyllischem  Da- 
sein,   wie    es    später   Plutarch    so   anziehend   schildert,    ihr  Genüge    fanden. 


')  I  c.  6.  Die  zenonischen  Farben  schimmern  hier  ebenso  durch  wie  8  p.  330 
DE  svög  uTrYjXoa  Xi^foo  xa  ^:il  yr^g  xal  [iiäg  TroXi-siag,  gva  Sf^iiov  ävO-pcÖT^oog  &:zavTag  äito- 
<pf(Vai  ßo'jXöixsvo;  ....  £15  äv  vöp,os  äTüav-ag  dvd-pcüuoug  iTtsßXeT^e  y.cü  iipbg  Sv  dixaiov  ö)^ 
Tipö;  y.o'.\b\  5'.qj7.oOv-o  cf^S-  —  Auch  der  Anklang  von  I  6  an  Onesikritos  bei  Strabo 
p.  715.  716  spricht  für  eine  alte  Quelle.  -)  Anklang  an  Eratosthenes  (s.  S.  14), 

der  330  A  zitiert  wird.  ^)  Ziebarth,  Das  griechische  Vereinswesen  S.  192  flf.  71. 

2* 


20  ni  Kosmopolitismus  und  Individualismus:  3  Individualismus 

den  Talenten  und  den  ehrgeizigen  Naturen  öffneten  sich  jetzt  neue  Bah- 
nen und  Aufgaben ,  die  den  gesteigerten  Wettbewerb  der  Kräfte  heraus- 
forderten. Die  Zeit  der  grossen  jiolitischen  Umwälzungen  und  Erschüt- 
terungen, welche  die  Völker  ergriffen  und  die  Grundfesten  der  Gesell- 
schaft wankend  machten,  brachte  auch  in  die  trägen  Massen  eine  gewalt- 
same Erregung  und  trieb  alle,  die  in  den  Wirbel  der  grossen  Bewegungen 
gezogen  wurden,  zur  Anspannung  aller  Kräfte.  Es  ist  die  Zeit  eines  ge- 
steigerten imd  gehobenen  Daseins,  einer  fieberhaften  Spannung,  wo  die  Men- 
schen mit  Einsetzung  des  ganzen  Wesens  um  Behau])tung  und  Durchsetzung 
der  Persönlichkeit  ringen  und  im  Kampfe  die  eminent  persönlichen  Eigen- 
schaften, klare  Berechnung  des  Zieles  und  energischer  Wille,  rasche  Ent- 
schlussfähigkeit und  der  das  Leben  leicht  aufs  Spiel  setzende  Wagemut,  aufs 
äusserste  entfaltet  werden,  eine  Zeit,  die  mit  ihrem  Reichtum  an  grossen 
und  glänzenden  Persönlichkeiten,  freilich  auch  an  Gewaltmenschen  und  Ver- 
brechern grossen  Stiles  an  die  Renaissance  erinnert:  Antipatros  und  Kassan- 
dros,  Antigonos  und  Demetrios  Poliorketes,  Agatholdes  und  Pyrrhos,  die 
beiden  ersten  Ptolemäer  seien  genannt  als  einige  der  scharf  ausgeprägten 
und  individuell  reich  entwickelten  Persönlichkeiten  dieser  Zeit,  wie  sie  uns 
ähnlich  nicht  in  der  älteren  griechischen  Geschichte,  wohl  aber  in  den  Zeiten 
der  untergehenden  römischen  Republik  begegnen.  Und  daneben  eine  Reihe 
bedeutender  Frauen,  die  durch  fein  gesponnene  Intriguen  und  durch  das 
kokette  Spiel  ihrer  Reize  jiolitischen  Einfluss  gewinnen  oder  selbst  in  füh- 
render Rolle  an  unbeugsamem  Stolz,  rücksichtsloser  Energie,  brutaler  Ge- 
walttätigkeit den  Männern  ihrer  Zeit  nichts  nachgeben :  Olympias ,  Kynane 
und  ihre  Tochter  Eurydike,  die  alle  drei  gelegentlich  die  Zügel  der  Regie- 
rung ergreifen  oder  an  der  Spitze  von  Truppen  marschieren  und  alle  ein 
gewaltsames  Ende  finden,  Alexanders  viel  umworbene,  von  Antigonos  be- 
seitigte Schwester  Kleopatra,  Berenike,  Arsinoe  und  Demetrios'  Gattin  Phila, 
eine  Reihe  gewalttätiger  Frauen  des  Seleukidenhauses.  Vereinzelt  treten 
jetzt  Frauen  auch  in  der  Literatur  hervor. 

Aber  diese  freie  Entfaltung  und  starke  Ausprägung  der  Persönlichkeit 
in  den  obersten  Schichten  der  Gesellschaft  ist  doch  nur  das  Symptom  der 
allgemeinen  stark  individualistischen  Richtung  der  Zeit.  Das  Gefühl  der  Ein- 
heit des  Individuums  mit  Umgebung  und  Welt  ist  dem  Bewusstsein  des 
Gegensatzes,  der  Unabhängigkeit  und  Selbständigkeit  gewichen.  Es  ist  die 
Zeit  der  befreiten  Individualität,  in  der  die  Konsequenzen  der  mit  der  So- 
phistik  beginnenden  individualistischen  Strömung  gezogen  werden ;  denn  die 
traditionellen  Mächte,  die  früher  der  Entfesselung  der  Subjektivität  entgegen 
standen,  sind  jetzt  beseitigt  oder  erschüttert.  Von  dieser  neuen  Stimmung, 
der  Ueberzeugung  vom  Recht  und  der  Bedeutung  der  Persönlichkeit  ist  auch 
die  hellenistische  Philosophie  beherrscht.  In  den  Philosoi)hien  dieser  Zeit 
überwiegt  das  praktisch  ethische  Interesse,  und  die  Ethik  ist  individualistisch. 
Sie  offenbart  den  Zug  zur  Isolierung  und  freien  Entwickelung  des  Indivi- 
duums gerade  so  deutlich,  wie  die  frühere  Verbindung  von  Politik  und  Ethik, 
die  Bestimmung  des  sittlichen  Lebensinhaltes  durch  die  Zwecke  des  Staates 
die  Gebundenheit  des  Individuums  und  seine  Abhängigkeit  vom  Gemeinwesen. 
Die  stoische  Apathie,  die  epikurische  Gemütsruhe,  die  skeptische  Ataraxie 
haben  alle  das  gemeinsame  Prinzip,  dass  sie  der  sittlichen  Tätigkeit  die 
Richtung  von  der  Aussenwelt  aufs  Innere  geben  und  das  sittliche  Ideal  in 
der  Unabhängigkeit  und  Loslösung  des  Individuums  von  allen  äusseren  Lebens- 
bedingungen, in  der  Isolierung  von  der  Gemeinschaft  suchen.  Am  einseitig- 
sten hat  diese  Individualisierung  der  Ethik  Epikur  durchgeführt  und  das 
persönliche  Wohlbefinden  als  höchste  Norm  aufgestellt.     Staat  und  Religion, 


Individualismus  i.  d.  Philosophie.     Die  Persönlichkeit  in  dei'  Literatur       21 

Wissenschaft,  Kunst,  Poesie  fällt  im  Grunde  der  Konsequenz  dieses  Prinzips 
zum  Opfer.  ixXuxiov  eauxou;  ex  xoö  izspl  xa  iyxuxXta  xa:  TioXcxcxa  6£a(jiw- 
xrjpi'ou  sagt  Epikur^  Und  wir  sahen  schon,  dass  die  Stoa  das  Gemeinschafts- 
leben in  so  abstrakte  Sätze  fasste  und  die  Forderung  der  Beteiligung  am 
Staatsleben  durch  solche  Fülle  von  Ausnahmen  und  Klauseln  einschränkte, 
dass  in^ihrer  Entwickelung  die  individualistische  Tendenz  der  sozialen  die 
Wage  hielt.  Aber  indem  von  ihr  der  Mensch  ganz  auf  sich  selbst  gewiesen 
und  gelehrt  wird,  nur  in  seinem  Innern  den  festen  Halt  und  die  Bedingungen 
des  Glückes  zu  finden,  wird  eine  der  Naivetät  des  antiken  Menschen  ganz 
fremde  Vertiefung  des  Innenlebens  erzeugt,  die  in  der  Sorge  für  die  Seele 
und  in  der  Beschäftigung  mit  dem  besseren  Ich  die  höchste  Lebensaufgabe 
sieht,  in  der  peinlichen  Beobachtung  und  Regelung  aller  Seelenregungen,  in 
einer  methodischen  Selbsterziehung  aufgeht,  die  die  fortschreitende  Annähe- 
rung an  das  sittliche  Ideal  sich  zum  Ziele  setzt.  Diese  Richtung  auf  sitt- 
liche Erziehung  und  Selbsterziehung  geht  schon  von  der  Paränetik  der  alten 
Stoa  aus  und  ist  von  stoischen  Moralisten  auf  dem  Wege  der  Predigt,  Er- 
bauungsliteratur, persönlicher  Seelsorge  stets  gepflegt  worden  (s.  Kap.  V).  Sie 
tritt  uns,  bereichert  durch  starke  von  Plato  und  Poseidonios  ausgehende  reli- 
giöse Motive  in  der  seelsorgerischen  Korrespondenz  des  Seneca  und  seinen 
drei  an  Serenus  gerichteten  Schriften,  in  der  Pädagogik  des  Epiktet  und  in 
den  Selbstbetrachtungen  des  Kaisers  Marcus  —  und  das  sind  nur  einzelne 
hervorragende  Repräsentanten  der  Gattung  —  als  ein  starker  Strom  ent- 
gegen, der  sich  mit  dem  mächtigeren  Strom  der  parallelen  christlichen  Ent- 
wäckelung,  die  in  Augustins  Selbstbekenntnissen  ihre  Höhe  erreicht,  vielfach 
berührt. 

Die  individualistische  Richtung  der  hellenistischen  Philosophie  äussert 
sich  auch  darin,  dass  die  stoische,  epikurische,  skeptische  Ethik  in  der  Aus- 
malung des  Ideales  des  Weisen  gipfelt.  Das  Ideal  soll  gewissermasseu  per- 
sonifiziert geschaut  werden.  Auf  einsamer  gottähnlicher  Höhe  steht,  unbe- 
rührt von  allen  äusseren  Verhältnissen,  von  Liebe  und  Hass  der  Menschen, 
auch  von  den  schwersten  Schicksalsschlägen  gar  nicht  in  seinem  Innern  ge- 
trofi'en,  in  unerschütterlichem  Gleichmut  der  stoische  Weise  da,  als  gehöre 
er  zu  einer  ganz  anderen  Welt  (Seneca  Dial.  II  15  2).  Und  weil  die  recht 
schematische  Zeichnung  des  stoischen  Bildes  des  Weisen  nicht  wirksam  ge- 
nug war,  beschäftigt  man  sich  mit  besonderer  Liebe  mit  den  wenigen  Exem- 
plaren, in  denen  das  Ideal  verwirklicht  war,  zeichnet  Persönlichkeit  und 
Leben  des  Sokrates,  Antisthenes,  Diogenes  nach  diesem  Muster  und  stellt 
sogar  in  Herakles  und  Odysseus,  indem  man  die  ethische  Umdeutung  ihrer 
Mythenkreise  im  Sinne  einer  in  allen  Mühen  sich  bewährenden,  die  Lust  be- 
kämpfenden Tugend  durchführt,  die  ältesten  Repräsentanten  des  Ideals  dar^. 
Noch  stärker  tritt  das  persönliche  Moment  hervor  in  Epikurs  Schide.  In 
der  Person  des  Meisters  sieht  die  Pietät  der  Schule  schon  zu  seinen  Leb- 
zeiten das  Ideal  verkörpert,  und  derselbe  Trieb  zum  Kultus  der  grossen 
Menschen,  der  zur  Vergötterung  der  Herrscher  führt,  offenbart  sich  liier  in 
der  religiösen  Verehrung  dös  Schulgründers,  dessen  Auftreten  als  göttliche 
Epiphanie  betrachtet,  dem  das  göttKche   Attribut  des    atoxr^p  beigelegt  wird. 

Der  individualistische  Zug,  der  in  der  Wissenschaft  zur  Spaltung  der 
Berufszweige  führt,  tritt  auch  in  der  literarischen  Kom])osition  bedeutsam 
hervor.     Die   Biographie    ist    erst    in    dieser   Zeit   geschaffen.     Die    grossen 


')  Spruchsammlung-  Nr.  58,  Wiener  Studien  X  S.  196.  ^)  Ueber  die 

Entwickelung-  der  stoischen  Lehi-e  vom  Weisen  s.  Hirzel,  Untersuchungen  zu  Cice- 
ros  philosophischen  Schriften  II  S.  273  ff. 


22  HI  Kosmopolitismus  und  Individualismus:  4  Realismus 

Persönlichkeiten  treten  jetzt  auch  in  den  Mittelpunkt  der  Historie.  Polybios 
bekennt  sich  prinzipiell  zu  der  Ueberzeugung-  von  der  Bedeutung  der  Persön- 
lichkeiten für  den  Lauf  der  Geschichte.  Bei  Sallust,  Tacitus  und  in  der 
späteren  Kaisergeschichte  sehen  wir  die  Persönlichkeiten  in  die  beherrschende 
Stellung  vordringen,  Institutionen  und  Verwaltungsgeschichte,  die  Bewegungen 
der  Massen  darüber  immer  mehr  vernachlässigt.  An  scharfe  Zeichnung  der 
Charaktere,  psychologische  Analyse  und  Motivierung  der  Handlungen  stellt 
man  jetzt  hohe  Anforderungen.  Alexanders  Persönlichkeit  forderte  beson- 
ders die  schon  in  der  Literatur  des  IV  Jahrhunders  ausgebildete  Kunst  der 
Charakterisierung  heraus ;  freilich  schuf  auch  die  Rhetorik  frühzeitig  ein 
äusserliches  Schema  psychologischer  Ent\\icldung,  nach  dem  der  Stoff  will- 
kürlich gruppiert  und  umgestaltet  ^\alrde.  Die  indirekte  Art  der  Charak- 
teristik, ^\ie  sie  z.  B.  Thukydides  geübt  hatte,  die  aus  den  Taten  und  be- 
sonders den  Reden  der  Helden  das  Ethos  hervorleuchten,  aber  das  absicht- 
lich zurückgehaltene  Urteil  des  Autors  nur  erraten  und  erschliessen  lässt, 
wird  durch  direkte  Beurteilung  und  Charakteristik  der  handelnden  Personen 
durch  den  Historiker  verdrängt  ^  Und  im  Gegensatz  zu  der  künstlerischen 
Art  des  Thukydides  und  Plato,  zu  der  die  vornehme  und  keusche  Zurück- 
haltung alles  Persönlichen  gehört,  stellt  sich  die  eigene  Person  des  Autors 
jetzt  ohne  jede  Scheu  dar.  Er  begleitet  die  agierenden  Personen  mit  Liebe 
und  Hass ;  er  durchsetzt  sein  Werk  mit  Urteilen  und  Reflexionen  und  lässt 
uns  in  die  Werkstatt  seines  Schaffens  blicken ;  er  äussert  sich,  besonders  in 
der  Vorrede,  auch  in  Exkursen,  über  Zweck  und  Methoden  der  Geschicht- 
schreibung im  allgemeinen  und  über  seine  besonderen  Tendenzen,  verteidigt 
seinen  Standpunkt  gegen  Vorläufer  und  Rivalen. 


4  Realismus 

Individualismus  und  Realismus  sind  eng  verbunden.  So  einseitig  es 
war,  das  Verhältnis  des  klassischen  Griechentums  zur  modernen  Bildung 
unter  den  Gegensatz  von  Idealismus  und  Realismus  zu  fassen,  so  stark  der 
gesunde  Wirklichkeitssinn  der  Griechen  auch  in  klassischer  Literatur  und 
Kunst,  sogar  mitunter  in  einer  für  modernes  Fühlen  fremdartigen  Weise  sich 
äussert,  so  ist  es  doch  gerade  für  den  Hellenismus  charakteristisch,  dass  die 
typischen  und  konventionellen  Formen  der  Richtung  auf  treue  und  lebens- 
volle Nachbildung  der  Wirklichkeit  w^eichen.  Im  Porträt  und  im  Genre  hat 
die  hellenistische  Kunst  Grosses  geleistet,  und  die  Porträtkunst  erlebt  noch 
in  den  beiden  ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit  eine  erfreuliche  römische 
Nachblüte'-.  Es  scheint,  dass  in  der  verschiedenen  Art,  wie  die  Künstler 
die  Aufgabe,  Alexanders  Persönlichkeit  darzustellen,  fassen,  die  alte  ideali- 
sierende und  die  neue  charakterisierende  Richtung  der  Porträtkunst  in  einen 
bezeichnenden  Gegensatz  treten.  Die  neue  Richtung,  die  dem  Individuellen 
den  Vorrang  vor  dem  Typischen  gibt,  dringt  dann  siegreich  durch ;  sie  findet 
in  der  jetzt  glücklich  ergänzten  Demosthenesstatue  vom  Jahre  280  einen  voll- 
endeten Ausdruck.  Wie  lebendig  stellen  uns  die  Silbermünzen  die  ersten 
Ptolemäer  vor  Augen !  Und  mit  welcher  Anschaulichkeit  und  Lebenswahrheit 
weiss  die  hellenistische  Kunst  Menschen  fremder  Rasse  in  ihrer  Eigenart 
vorzuführen!     Dasselbe  Streben   nach   Naturwahrheit   beherrscht   die   genre- 


')  I.  Bruns,  Die  Persönlichkeit  in  der  Geschichtschreibung  der  Alten,  Berlin 
1898.  ■-)  Vgl.  Michaelis  in  Springers  Handbuch  d.  Kunstgescliichte  I '  (1904) 

S.  332  ff.  397  ff.     Wickhoif,  Die  Wiener  Genesis  S.  20  ff. 


Indiviilualisinus,  Realismus,  Naturalisnius  in  Kunst  niul  Literatur.  23 

haften  Darstellungen.  Dass  öSatuitreue,  Wahrheit,  sprechende  AehnHchkeit 
die  Forderungen  waren,  die  man  an  diese  Art  der  Kunst  vor  allem  stellt, 
bezeugen  auch  die  literarischen,  in  manchen  Anekdoten  typisch  ausgej)rägten 
Kunstuvteile ;  es  sei  an  Herodas'  Frauen  im  Asklepiostempel  erinnert.  Feine 
genrehat'te  Züge  geben  mythologischen  Darstellungen  der  Kunst  und  der 
Dichtung  einen  indivualisierendeu  Charakter. 

Am  Beginne  dieser  Periode  stellen  als  Muster  einer  dann  weit  verbreite- 
ten Gattung  die  aus  den  ethischen  Studien  des  Peripatos  herausgewachsenen 
Charaktere  Theophrasts^  Darstellungen  von  Charaktertypen,  wie  Schmeichler, 
Prahler,  Abergläubischer  u.  s.  w.  Der  Mensch  wird  als  einheitliche  Persön- 
lichkeit gefasst,  aus  deren  Ethos  wie  mit  innerer  Notwendigkeit  Lebens- 
formen, Redewendungen,  die  ganze  Art,  sich  zu  geben  und  darzustellen, 
hervorgehen.  Eine  Fülle  von  Einzelbeobachtimgen  werden  mit  wunderbarer 
Schärfe  als  Aeusserungen  desselben  Charakters  unter  einen  Begriff  gefasst. 
Diese  Richtung,  den  Menschen  und  die  Einheit  seines  Wesens  in  der  ganzen 
Fülle  seiner  Betätigungen  und  Einzelzüge  zu  fassen  und  darzustellen,  hat 
die  peripatetische  Biogra})hie  beherrscht,  und  mit  dieser  Methode  hat  An- 
tigonos  von  Karystos,  zugleich  Künstler  und  KunstschriftsteUer,  seine  fes- 
selnden Philosophenporträts  gezeichnet.  Und  in  derselben  Art  hat  auch 
Aristoteles  gelehrt,  das  Völkerleben  in  allen  seinen  Aeusserungen  als  Ein- 
heit aufzufassen.  Charakterismen  von  Typen  und  Individuen  spielen  in  der 
moralisierenden  Philosophie,  in  der  Historie  und  in  der  Rhetorik,  die  bald 
Rezepte  dafür  aufstellt,  eine  grosse  Rolle.  Die  Manier  artet  dann  immer 
mehr  in  äusserliche  Schablone,  öde  und  mechanische  Aufzählung  aus.  Die 
nachchristliche  Historie  gibt,  sogar  von  homerischen  Helden,  pedantische, 
meist  aufs  Körperliche  beschränkte  Personalbeschreibungen,  die  nach  dem 
Vorbüde  der  polizeilichen  Steckbriefe  abgefasst  sind,  und  derselbe  abge- 
schmackte Typus  begegnet  auch  in  apokryphen  Apostelgeschichten. 

Eine  hohe  Kunst  individualisierender  Charakteristik  entfaltet  die  neuere 
Komödie,  besonders  Menander,  in  der  feinen  Zeichnung  der  Charaktertypen 
der  kleinbürgerlichen  athenischen  Gesellschaft.  Dieselbe,  der  Karrikatur  sich 
nähernde  Fähigkeit  der  Charakterisierung  zeigt  das  stark  realistische  Possen- 
spiel des  Mimus,  der  freilich  stets  die  Welt  des  Gemeinen  und  Niedrigen 
bevorzugt  hat,  die  höher  stilisierten  Mimiamben  des  Herondas  mit  der  Fülle 
ihrer  lebenswahren  Gestalten  des  Kupplers  und  der  Kupplerin,  des  Schul- 
meisters und  des  Schusters,  der  launischen  Dame  und  der  faulen  Magd;  es 
ist  derselbe  auch  den  Schmutz  und  die  Gemeinheit  suchende  Naturalismus, 
der  die  Charaktertypen  der  Kleinkunst  auszeichnet.  Und  dass  auch  solche 
Stoffe  künstlerisch  geadelt  werden  konnten,  wenn  mit  dem  gesunden  Wirk- 
lichkeitssinn, mit  der  Schärfe  der  Beobachtung  und  mit  der  Freude  der 
Wiedergabe  Beherrschung  der  Kunstforaien,  tieferes  und  verfeinertes  Ge- 
fühlsleben, ein  weiterer  geistiger  Horizont  sich  verbanden  und  den  Künstler 
über  das  Niveau  der  Wirklichkeit  erhoben,   die  er  schildert,  beweist  Theokrit. 

Aber  der  Reichtum  des  geistigen  Lebens  und  der  Kultur  des  Hellenis- 
mus lässt  sich  nicht  in  einigen  Formeln  erschöpfen,  die  immer  nur  beson- 
ders hervorstechende  Richtungen  und  Stimmungen  betonen  können.  Gerade 
die  reichere  und  freiere  Ausgestaltung  der  Lebensformen  und  Kulturbedin- 
gungen, die  Fülle  geistiger  Interessen,  neben  einander  gehender  oder  wech- 
selnder Strömungen,  die  komplizierte  Undurchsichtigkeit  des  Gefühlslebens 
unterscheiden  ihn  von  der  früheren  Zeit  imd  nähern  ihn  der  modernen  an. 
„Die  hellenistische  Zeit  ist  ganz  und  gar  anders,  kompliziert  im  Aussen-  und 


1)  Proben  in  Wilamowitz'  Lesebuch  n  302. 


24      IV  Geschichte  der  Bildungsedeale  :  1  Die  hellenistische  Entwickelung 

Innenleben.  Lire  Seele  ist  überaus  sensitiv,  gleich  empfänglich  für  die 
•weichste  Sentimentalität  und  den  harten  Egoismus,  für  romantische  Schwär- 
merei imd  das  Trotzgefühl  einer  neuen  Welt.  Sie  ist  mit  einem  Worte 
modern".  .,In  dem  geistigen  Antlitz  des  Hellenismus  sind  zwei  Hauptzüge, 
die  miteinander  unvereinbar  scheinen.  Das  eine  ist  die  Freude  an  der  Re- 
präsentation, dem  Pomp  und  Schmuck,  der  erhabenen  Pose :  darin  liegt  das, 
was  wir  an  ihm  barock  nennen  dürfen.  Daneben  aber  steht  die  intimste 
Freude  an  der  weltverlorenen  Stille,  dem  Frieden  des  engen  natürlichen 
Kreises,  am  Feinen,  Kleinen.  Die  Marmorhallen  des  alexandrinischen  Palastes, 
der  Riesentempel  von  Didyma  imd  der  rhodische  Koloss  haben  den  Freund- 
schaftsgarten des  Epikuros,  die  kölschen  Landhäuser,  in  denen  Theokrit  ver- 
kehrt, die  Studierzimmer,  in  denen  Kallimachos  dichtet  und  Archimedes 
forscht,  neben  sich.  Dem  entspricht  im  literarischen  Leben  der  rauschende 
Stil,  der  am  liebsten  über  die  ganze  Welt  hintönen  will,  und  die  Schlicht- 
heit, die  von  der  Wahrheit,  um  die  sie  ringt,  einem  empfänglichen  Freunde, 
man  kann  auch  sagen  dem  unbekannten  nacharbeitenden  Kollegen,  berichtet, 
und  das  Raffinement  des  ganz  intimen  Kunstwerkes.  In  Wahrheit  wurzelt 
beides  in  der  befreiten  Individualität,  die  sich  je  nach  den  Lebenszielen  sehr 
versclüeden  äussert"  ^. 


IV 

GESCHICHTE  DER  BILDUNGSIDEALE 

1  Die  hellenistische  Entwickelukg 

Die  sophistische  Aufklärung  hatte  einst  in  Athen  ein  enzyklopädisches 
Bildungsideal  geschaffen.  Schon  um  im  Konkurrenzstreite  der  Schulen  be- 
stehen zu  können,  hatte  jeder  Lehrer  den  Anspruch  gestellt,  in  wenigen 
Jahren  oder  gar  Kursen  seinen  Schülern  die  ganze  Bildung,  so  versclüeden 
ihr  Begriff  und  ihre  Faktoren,  unter  denen  Rhetorik  und  Eristik  vorherrsch- 
ten, gefasst  wurden,  zu  vermitteln.  Im  Gegensatz  zu  dem  dürftigen  Ele- 
mentaiimterricht  war  seitdem  das  Bedürfnis  einer  höheren  Bildung  allgemein 
anerkannt.  Aber  der  sophistische  Unterricht  war  zugeschnitten  auf  die  Auf- 
gaben des  praktischen  Lebens  und  wollte  eine  Erziehung  zur  TloXcxcxyj  dpsxrj 
sein.  Dass  Plato  und  Aristoteles  trotz  der  unendlichen  Vertiefung  ihrer 
Forschung  erst  in  Wahrheit  ein  allumfassendes  Bildungsideal  aufstellen  imd 
festhalten  konnten,  war  nur  möglich,  weil  sie  die  Wissenschaft  nicht  als  eine 
in  begrenzter  Zeit  zu  bewältigende  Summe  von  Kenntnissen  fassten,  sondern 
als  eine  Aufgabe,  der  das  ganze  Leben  zu  widmen  war,  weil  sie  durch  ihren 
Unterricht  vor  allem  Forscher  bildeten,  deren  Lebensberuf  die  Wissenschaft 
war,  und  weü  die  Gesamtarbeit  der  Schule  die  Verwirklichung  des  Ideales 
zu  ermöglichen  schien,  das  die  Kräfte  des  einzelnen  überstieg.  Aber  schon 
in  dieser  Periode  bereitet  der  wissenschaftliche  Fortschritt  die  Eraanzipie- 
rung  der  einzelnen  Disziplinen  von  der  Philosophie  und  ihre  selbständige  Ent- 
wickelung  vor,  und  die  Schüler  des  Plato  und  Aristoteles  mit  ihren  sehr 
verscliiedenartigen  Neigungen  zeigen  deutlich  die  wachsende  Tendenz  zur 
Differenzierung  und   Spaltung    der  Wissenschaften.     Der   Zusammenhalt   und 

')  Wilamowitz,  Neue  Jahrb.  III  S.  526  und  Kultur  der  Gegenwart  S.  92. 


Enzyklopäd.  Bildungsideal.     Plato  und  Aristoteles.    Blüte  d.  Fachwissenscli.       25 

das  einigende  Band  der  Wissenschaften  geht  in  hellenistischer  Zeit  immer 
mehr  verloren,  und  mit  der  Zurücksetzung  der  Pliil()SO])hie  in  Alexandria 
fehlt  der  ]\Iittel])unkt,  in  dem  sie  ihre  natüi'lichc  Einigung  hätten  iinden 
können.  Umgekehrt  verliert  die  Philosophie  die  lebendige  Fühlung  mit  den 
FacliAvissenschaften,  besonders  mit  der  Naturwissenschaft,  verliert  damit  die 
beste  Que_ile  ihrer  Bereicherung  und  Erneuerung  und  verzichtet  auf  die  wich- 
tige Aufgabe,  die  Summe  der  Erkenntnisse  ihrer  Zeit  zu  ziehen.  Es  sind 
meist  bedenkliche  und  recht  fragwürdige  Gebiete,  wo  die  Stoa  einen  leb- 
haften Kontakt  mit  den  Fachwissenschaften  behält,  Astrologie,  allegorische 
Homererldärung,  später  auch  Zahlensyrabolik.  In  der  Erneuerung  älterer 
Spekulationen  sucht  man  eine  befriedigende  Erklärung  der  Welträtsel.  Wie 
die  Stoa  auf  Heraklits  Lehre  vom  Logos  und  vom  Uebergange  der  Elemente 
ineinander  zurückgreift,  so  erneuert  Epikur  Demokrits  Atomistik,  und  der 
Aufbau  der  Metaphysik  ist  wesentlich  bestimmt  durch  die  praktische  Ab- 
zweckung  des  Systems  auf  die  Ethik.  Die  Akademie  entwickelt  sich  zu 
einer  Skepsis,  welche  die  Grundlagen  aller  Wissenschaften  mit  scharfer  Dia- 
lektik in  Frage  stellt  und  damit  das  Interesse  an  ihrer  Fortbildung  verliert. 
Der  dogmatische  Materialismus  Epikurs  ist  wissenschaftlich  so  unproduktiv 
und  unfruchtbar,  wie  er  es  zu  allen  Zeiten  gewesen  ist.  Er  ist  einseitig 
auf  den  Zweck  gerichtet,  die  natürliche  Erklärung  der  Phänomene  sicherzu- 
stellen, und  er  erreicht  den  Zweck,  indem  er  die  physikalischen  Lösungsversuche 
von  den  älteren  Forschern  übernimmt  und  zur  Wahl  stellt.  Das  wissen- 
schaftliche Interesse  beschränkt  sich  darauf,  die  Probabilität  der  mechani- 
schen Erklärung,  welcher  Art  sie  auch  sei,  festzustellen.  Das  wahre  Leben 
der  Philosopliie  pulsiert  in  der  Ethik,  und  in  der  Wirkung  auf  die  breiten 
Massen  erfüllt  sie  eine  grosse  Kulturmission  (s.  Kap.  V). 

Der  Reichtum  der  sich  differenzierenden  Lebensformen  offenbart  sich, 
wie  auf  anderen  Gebieten,  so  in  der  Wissenschaft  in  der  Teikmg  der  Be- 
rufszweige und  Fachwissenschaften.  Auch  darin  gleicht  der  Hellenismus  der 
modernen  Zeit.  Der  Komplex  und  die  Sonderung  der  artes  liberales  ist  ein 
Erzeugnis  dieser  Epoche.  Auch  im  Unterricht  zeigt  sich  die  Teilung  der 
Aufgaben.  Der  Grammatiker,  der  Rhetor,  der  Philosoph  lösen  sich  in  der 
Heranbildung  der  Jugend  ab ;  wer  nicht  Gelehrter  werden  will,  kostet  nur 
eben  von  den  Fachwässenschafteu.  Wenigstens  das  ist  eine  Errungenschaft 
der  grossen  philosophischen  Entwickelung  in  Athen,  dass  man  in  der  Philo- 
sophie die  Krone  und  den  Gipfel  der  höheren  Bildung  sieht. 

Die  von  der  Philosophie  emanzipierten  mathematischen  und  empirischen 
Wissenschaften  gehen  jetzt  ihre  eigenen  Wege  imd  erreichen  eine  früher 
nicht  geahnte  Vertiefung  und  Vervollkommnung  ihrer  Methoden.  Mathematik 
{EukHd,  Archimedes,  Apollonios  der  Bearbeiter  der  Kegelschnitte)  und 
Astronomie  (Aristarchos'  von  Samos  heliozentrisches  System,  Hipparch),  die 
mit  mathematisch  astronomischen  Mitteln  ganz  neu  geschaffene  Geographie 
(Eratosthenes  und  Hipparch),  Mechanik,  Optik,  Medizin  nehmen  einen  unge- 
heuren Aufschwamg.  Im  III  Jahrh.  stehen  die  exakten  Wissenschaften  in 
Alexandria  auf  der  Höhe  ihrer  Entmckelung.  Was  alles  später  das  Mittel- 
alter durch  arabische  Uebersetzungen  und  die  Renaissance  dui'ch  die  neu 
entdeckten  griechischen  Originale  an  Anregungen  von  der  exakten  Wissen- 
schaft des  Altertums  erfahren  hat,  geht  im  wesentlichen  auf  die  Errungen- 
schaften dieser  Epoche  zurück. 

Sprachliche  und  literarhistorische  Fragen  und  Probleme  hatten  beson- 
ders seit  der  Zeit  der  Sophistik  lebhafte  Erörterung  und  in  den  Philosophen- 
schulen eifrige  Pflege  gefunden.  Eine  selbständige  Wissenschaft  wdrd  die 
Philologie  erst  in  Alexandria.   Diese  von  Alexander  ins  Leben  gerufene  griechi- 


26      iV  Geschichte  der  Bildungsideale:  2  Reth.  u.  Philos.  im  Ka.mpfe  um  Rom 

sehe  Stadt  stand  zunächst  ausserhalb  der  Kontinuität  historischer  Traditionen. 
Keine  geschichtlichen  Beziehungen  verbanden  sie  direkt  mit  der  älteren 
griechischen  Geschichte  und  Kultur.  Sollte  auf  dem  hoffnungsvollen  Neu- 
lande eine  eigene  Kultur  erwachsen,  so  mussten  die  Fäden  mit  der  Ver- 
gangenheit geknüpft  werden.  In  dieser  neuen  Welt  sah  man  die  ältere 
griechische  Literatur  als  einen  kostbaren  Schatz  an,  der  aber  erst  gehoben  wer- 
den musste.  Sie  erscliloss  sich  nicht  wie  die  zeitgenössische  Literatur  ohne 
weiteres  dem  Verständnis.  Dialekte  und  die  konventionellen  Formen  der 
Kunstsprache,  allgemeine  Kulturbedingungen  und  besondere  Lebensverhält- 
nisse, aus  denen  die  Produktionen  herausgewachsen  waren,  mussten  erforscht 
imd  das  als  fremdartig  Empfundene  verständlich  gemacht  werden.  In  zwei- 
hundertjähriger eindringender  Arbeit  hat  sich  die  alexandrinische  Grammatik 
bemüht,  die  Schätze  der  klassischen  Literatur  zu  ordnen,  das  zum  Verständ- 
nis der  Texte  nötige  spracliliche,  antiquarische,  literarhistorische  Material 
zusammenzubringen,  die  Texte  aus  den  zuverlässigsten  Quellen  zu  konsti- 
tuieren, durch  neue  Ausgaben  die  stark  verwilderten  und  verwahrlosten  Viü- 
gärtexte  zu  verdrängen. 

Gelehrte  Forschung  und  schöne  Literatur  gehen  vielfach  Hand  in  Hand. 
Die  Forschimg  hat  freilich  mitunter  die  Poesie  auf  gelehrte  Abwege  und  in 
Künsteleien  getrieben,  hat  die  Geltung  konventioneller  und  angelernter  For- 
men über  den  natürlichen  Ausdruck  des  lebendigen  GefüMs  gestellt.  Aber 
sie  hat  auch  die  Poesie  aus  dem  griechischen  Legendenschatze  mit  tiefen 
Motiven  und  romantischen  Stimmungen  bereichert.  Und  wo  echte  dichte- 
rische Begabung  sich  paart  mit  der  strengen  Schulung  durch  das  Studium 
der  alten  Kunstformen,  entstehen  wie  in  der  Elegie  imd  in  der  Epigramm- 
dichtung mit  ihrer  Fülle  persönlicher  und  momentaner  Stimmungsbilder, 
überhaupt  in  den  Ideinern  Gattungen  der  Poesie  wahre  Kabinettstücke  feiner 
Kirnst ;  an  aktuellen  Produktionen,  die  nur  aus  dem  frisch  piüsierenden  Leben 
zu  begreifen,  aber  durch  die  Kunst  geadelt  sind,  fehlt  es  nicht. 

Die  alexandrinische  Exegese  hat  Methoden,  Technik,  Kommentai'fonnen 
geschaffen,  die  in  mannigfachen  Abwandlungen  und  Ausartungen  sich  auf 
immer  weitere  Gebiete  ausbreiten.  Es  ist  eine  Kontinuität  der  Buchformen 
und  Technik,  zum  Teil  auch  der  Methode,  die  sich  in  der  seit  dem  I  Jahrh. 
aufblühenden  und  bald  üppig  wuchernden  Exegese  der  Schriften  der  grossen 
Philosophen  und  in  der  Behandlung  der  heiligen  Schrift  durch  Philo  und 
Origenes  bis  in  späte  Zeiten  fortsetzt. 

Es  zeugt  von  dem  Ernst,  mit  dem  die  wissenschaftlichen  Aufgaben 
erfasst  wurden,  dass  erst  spät  aus  der  Exegese  die  Grammatik,  wie  wir  sie 
verstehen,  als  System  herauswuchs.  Wir  besitzen  in  nicht  ganz  originaler 
Gestalt  und  in  vielen  Ueberarbeitungen  verschiedener  Sprachen  die  griechi- 
sche Techne  des  Dionysios  Thrax  (um  100  v.  Chr.),  die  in  mannigfachen 
Verraittelungen  bei  den  Römern,  bei  denen  schon  in  der  ersten  Hälfte  des 
II  Jahrh.  die  griechische  Grammatik  Eingang  fand,  fortlebte  und  von  allen 
Kiütui-völkeni  rezii)iert  worden  ist. 


2  Rhetorik  und  Philosophie  im  Kampfe  um  Rom 

VON  Arnim,  Leben  und  Werke  des  Dio  von  Prusa,  Berlin  1898  8.  4—115.  — 
Norden,  Die  antike  Kunstprosa,  2  Bde,  Leipzig  1898.  —  Kroll,  Cicero  und  die 
Rhetorik,  Neue  Jahrb.  XI  S.  681-689  (vgl.  Rh.  M.  LVIH  S.  552  ff.). 

Die  Grenzen  zwischen  Philosophie  und  Rhetorik  sind  jetzt  anerkannt, 
eine    reinliche  Scheidung   zwischen    beiden    hat  sich  vollzogen.     Einst  hatte 


Alexaudi-.  Grammatik,    Hir  Verhältnis  ziir  schönen  Literatur.  Schulrhetorik       27 


auch  die  sophistische  TratSe-'a,  eine  Mischung  von  formaler  Redegewandtheit 
mit  trivialer  Ethik  und  Politik,  wenn  wir  von  den  speziellen  Liebhabereien 
einzelner  Sophisten  absehen,  sich  als  cp'.Xoaocpia  geben  und  dafür  gelten 
können.  Piatos  einschneidende  Kritik  hat  für  immer  die  sophistische  Rhe- 
torik imd  Eristik  von  der  wahren  Wissenschaft  geschieden,  die  selbstän- 
digen Aufgaben  der  Philosophie  festgestellt  und  den  neuen  Begriff  dieser 
über  die  praktischen  Aufgaben  des  Lebens  sich  hoch  erhebenden  Wissen- 
schaft zur  Anerkennung  gebracht.  Auch  Aristoteles  trennt  die  Rhetorik 
(wie  die  Dialektik)  als  formale  Disziplin  von  der  Philosopliie ;  aber  sein 
scharfer  Blick  für  die  Forderungen  des  praktischen  Lebens  weiss  ihre  Be- 
deutung zu  schätzen.  Er  bearbeitet,  den  Anregungen  des  platonischen 
Phaidros  folgend,  den  rhetorischen  Stoff  nach  systematischen  und  logischen 
Gesichtspunkten  und  nimmt  die  Rhetorik  als  Nebenfach  in  seinen  Unterricht 
auf.  Aber  diese  zufällige  Personalunion  konnte  nicht  hindern,  dass  die  W^ege 
der  Philosopliie  und  der  praktischen  Rhetorik  geschieden  blieben  und  in  der 
weiteren  Entwicklung  immer  mehr  auseinander  gingen.  Wohl  wurden  im 
Peripatos  und  auch  in  der  gänzlich  der  Skepsis  verfallenden  Akademie  rhe- 
torisch gehaltene  Disputierübungen  fort  imd  fort  gepflegt  und  nahmen  beim 
Herabsinken  des  wissenschaftlichen  Niveaus  der  Schulen  einen  breiteren  Raum 
ein.  Wohl  erhob  die  Stoa  die  Rhetorik  sogar  zu  einem  integrierenden  Be- 
standteil ihrer  Philosophie,  wenn  auch  ihre  abstrakte,  in  Definitionen  und 
Distinktionen  auslaufende  Behandlung  des  Faches  praktisch  uufiiichtbar  war 
vmd  nur  das  vom  Rhetor  Hermagoras  im  II  Jahrhundert  geschaffene  neue 
System  der  Rhetorik  mit  einigem  terminologischen  BaUast  beschwert  hat. 
Im  Grimde  entspricht  doch  nur  die  Haltung  der  epikurischen  Schule,  welche 
die  Rhetorik  von  ihrem  Unterrichte  ausschliesst  imd  ihre  eigenen  Wege 
gehen  lässt,  dem  wirklich  bestehenden  Verhältnis  von  Philosophie  und  Rhe- 
torik. Denn  diese  hat  in  der  Tat  jetzt  ihre  eigene,  von  der  Philosophie 
nicht  beeinflusste  Entwicklung.  Die  praktische  Bedeutung  der  Beredsam- 
keit ist  freilich  durch  die  neue  politische  Ent"\%ickkmg  ebenso  gesimken  A\"ie 
beim  Uebergange  der  römischen  Republik  ins  Kaiserreich;  sie  wird  durch 
die  Schulrhetorik  abgelöst.  In  dem  kommunalen  Scheinleben  der  Zeit  konnte 
der  Rhetor  keine  grossen  Triumphe  feiern.  Von  parlamentarischen  Leistungen 
hören  wir  nichts.  Die  Gerichtsrede,  die  im  Athen  des  IV  Jahrhunderts  zu 
einer  imnatürUchen  Bedeutung  aufgebauscht  war,  tritt  jetzt  wieder  in  ihre 
bescheidenen  Grenzen  zurück  und  gilt  dem  Rhetor  selbst  als  inferior  und 
plebejisch.  Der  Advokat  erscheint  in  der  Komödie  öfter  als  komische  Figur. 
Die  pompösen  Inschriften  der  hellenistischen  Zeit  zeigen,  besonders  in  den 
Huldigimgen  vor  den  Herrschern,  stark  rhetorische  Mache  und  konventionelle 
Formen,  die  einen  Einfluss  der  Rhetorik  aiif  die  Kanzleien  erschüessen  lassen. 
Praxis  mid  Theorie  des  späteren  py.a'.Ä'.'/.oz  aö^oz  muss  auf  hellenistische 
Tradition  zurückgehen  ^  Aber  hellenistische  Eukomien  haben  wir  nicht, 
oder  doch  nur  in  Trümmern,  imd  der  Versuch  einer  Rekonstruktion  ilirer 
Formensprache  aus  den  Inschriften  könnte  diesen  Verlust  nicht  decken. 
Einen  Ersatz  für  den  Untergang  der  lebendigen  Beredsamkeit  findet  der 
Rhetor  in  den  Deklamationen.  In  pitinkvoUen,  alle  Reizmittel  des  Klanges 
aufbietenden  Vorträgen  feiert  er  seine  höchsten  Triumphe,  berauscht  er  sich 
und  seine  Hörer.  Deklamatorische  Schulübungen,  deren  meist  fiktive  Themata 
uns  wenig  geniessbar  scheinen,  sind  auch  das  Liebhngsmittel  zur  formalen 
Bildung  der  Jugend,  die  das  Hauptfeld  der  rhetorischen  Tätigkeit  bildet. 
Und  für  die  Ausbildime:  des  Stiles  leistet  die  Rhetorik,  indem  sie  die  fein- 


*)  S.  Wendland,  Z(ü-r,p,  Zeitschr.  für  neutest.  Wissensch.  V  S.  343  Anm.  7. 


28      rv  Geschichte  der  Bildukgsideale:  2  Rhet.  u.  Philos.  im  Kampfe  um  Rom 

sinnigen  Beobachtunuen  des  Aristoteles  und  des  Theophrast  über  die  ver- 
schiedenen Stikliaraktere  der  Prosa,  Wortwahl  und  Periodenbau,  Kunstmittel 
der  Prosa  fortführt,  Bedeutendes  und  bildet  ein  heilsames  Gegengewicht 
gegen  die  Ausartung  des  wissenschaftlichen  Stiles  in  Formlosigkeit  und  Ver- 
unstaltung der  Sprache  durch  terminologische  Künsteleien.  Und  die  Be- 
deutung der  Rhetorik  tritt  darin  hervor,  dass  der  historische  Stil  immer 
mehr  ihrem  verhängnisvollen  Einfluss  verfällt,  und  die  mittlere  Stoa,  die 
steifen  Formen  der  alten  Schulsprache  verlassend,  die  höheren  Ansprüche 
des  rhetorisch  verfeinerten  Stiles  befriedigt.  Als  im  II  Jahrhundert  die 
griechische  Propaganda  wie  eine  gewaltige  Flutwelle  sich  über  Rom  ergiesst, 
tritt  in  dem  Konkurrenzstreite  der  Bildungsinteressen  die  Rhetorik  als  eben- 
bürtige Rivalin  der  Philosophie  gegenüber.  Nur  einige  Hauptdaten  mögen 
die  raschen  Vorstösse  der  hellenistischen  Bewegung  erläutern,  die  in  der 
Doppelsprachigkeit  der  besseren  römischen  Gesellschaft  zu  dieser  Zeit  ihre 
Voraussetzung  hat.  173  werden  die  Epikureer  Alkaios  und  PhiHskos  aus 
Rom  ausgewiesen.  (167  kommen  nach  dem  Kriege  mit  Perseus  1000  grie- 
chische Geissein,  unter  ihnen  Polybios,  nach  Rom).  165  erscheint  der  Per- 
gamener  Krates  als  Gesandter  in  der  Stadt  und  hält  dort  grammatische  Vor- 
lesungen. 161  werden  die  griechischen  Rhetoren  und  Philosophen  ausgewiesen. 
Ins  Jahr  155  fällt  die  Gesandtschaft  der  drei  Pliilosophen,  des  Skeptikers 
Karneades,  des  Peripatetikers  Kritolaos,  des  Stoikers  Diogenes,  deren  Vor- 
träge den  einen  die  ungeheure  Kulturbedeutung,  den  andern  die  Gefahr  des 
Griechentums  zum  Bewusstsein  bringen.  Es  verschlug  wenig,  dass  der 
patriotische  Hass  des  alten  Cato  gegen  das  Gift  des  Griechentums  dem 
Aufenthalte  der  Philosophen  in  Rom  ein  vorschnelles  Ende  bereitete.  Man 
suchte  jetzt  die  griechische  Weisheit  an  deren  Quelle,  und  die  vornehme 
Jugend  eignete  sich  die  höhere  Bildung  an  den  griechischen  Studiensitzen 
in  Athen  und  Rhodos  an.  Und  wenn  die  Staatsmänner  nach  dem  Osten 
gingen,  hielten  sie  es  für  Pflicht  der  Höflichkeit,  den  Pi'ofessoren  ihre 
Reverenz  zu  machen  und  ihre  Vorträge  zu  hören.  Und  bald  setzt  auf  römi- 
schem Boden  die  Propaganda  durch  Uebersetzung  philosophischer  Schriften 
ein,  die  in  Ciceros  Leistungen  ihre  Höhe  erreicht.  „Die  Anziehungskraft 
des  griechischen  Wesens  ward  von  den  römischen  Bürgern  wahrscheinlich 
nachhaltiger  und  tiefer  empfunden  als  von  den  Staatsmännern  Makedoniens, 
eben  weil  jene  ihm  ferner  standen  als  diese.  Das  Begehren,  sich  wenigstens 
innerlich  zu  hellenisieren,  der  Sitte  und  der  Bildung,  der  Kunst  und  der 
Wissenschaft  von  Hellas  teilhaftig  zu  werden,  auf  den  Spuren  des  grossen 
Makedoniers  Schild  und  Schwert  der  Griechen  des  Ostens  sein  und  diesen 
Osten  nicht  italisch,  sondern  hellenisch  weiter  zivilisieren  zu  dürfen,  dieses 
Verlangen  durchdringt  die  späteren  .Jahrhunderte  der  römischen  Repu- 
blik und  die  bessere  Kaiserzeit  mit  einer  Macht  und  einer  Idealität, 
welche  fast  nicht  minder  tragisch  ist  als  jenes  nicht  zum  Ziel  gelangende 
politische  Mühen  der  Hellenen.  Denn  auf  beiden  Seiten  wdrd  Unmög- 
liches erstrebt:  dem  hellenischen  Panhellenismus  ist  die  Dauer  versagt 
und  dem  römischen  Hellenismus  der  VoUgehalt'*  (Mommsen,  RG  V  S.  231). 
Der  Hellenisierungsprozess,  der  früher  mehr  zufällig  an  einzelnen  Punkten 
eingesetzt  hatte  und  von  Literaten  besonders  gefördert  w^orden  war,  ergreift 
im  II  Jahrhundert  das  ganze  römische  Volkstum.  Und  indem  sich  der  Helle- 
nisieiimg  ein  hoffnungsvolles  Arbeitsfeld  erschliesst,  wird  von  neuem  der 
alte  Streit  um  die  Bildungsideale,  der  Gegensatz  der  Rhetorik  und  der 
Philosophie,  der  der  formalen  Praxis  des  Lebens  dienenden  und  der  höheren 
geistigen  Bildung,  mit  einer  Heftigkeit  ausgefochten,  als  wären  die  Streiter 
sich   bewusst   gewesen,    dass    die   Herren    der  W^elt    auch    über  die  Zukunft 


Hellenisierung  Roms.    Philosophie  und  Rhetorik  im  Kampf  um  Rom        29 

ihres  Bildungsideals  zu  entscheiden  hätten.  Wir  wissen,  dass  die  drei  Philo- 
sophen jener  Gesandschaft  Wortführer  im  Streite  gegen  die  Rhetoren  ge- 
wesen sind,  und  wir  kennen  noch  zum  Teil  die  Argumente,  mit  denen  sie 
gekämpft  haben.  Aber  der  praktisch  gerichtete  Sinn  des  Römers,  der  die 
Gewalt  der  Rede  als  mächtige  Waffe  in  den  politischen  Kämpfen  längst 
schätzen  gelernt  hatte,  bekannte  sich  zu  der  die  staatsmännischen  und  red- 
nerischen Bedürfnisse  befriedigenden  Bildungsweise.  Der  Dilettantismus  siegt 
über  die  tiefere  Wissenschaft.  Pancis  philosopUarl  blieb  römischer  Grund- 
satz, und  nur  auf  wenige  erlesene  Geister  hat  die  Philosophie  einen  tieferen 
Einfluss  ausgeübt.  Die  Rhetorik,  die  jetzt  auch  philoso})hische  Geraeinplätze 
gern  behandelt,  nimmt  einen  frischen  Aufschwung,  und  mit  ihrer  neuen 
Zielen  zustrebenden  Entwicldung'  wird  auch  schon  die  Ausbildung  des  für 
alle  künftige  Schuldoktrin  massgebenden  Systems  des  Hermagoras  zusammen- 
hängen, das  bezeichnender  Weise  die  Gerichtsrede  wieder  in  den  Vorder- 
grund rückt.  Auch  Philosophen  folgen  dem  neuen  Zuge  der  Zeit  und  neh- 
men die  Rhetorik  wieder  in  ihren  Unterricht  auf.  Und  aus  dem  lebhaften 
Streite  der  Schulen  geht  als  reifste  Frucht  das  vielseitige  Bildungsideal 
Ciceros  hervor,  das  er,  wohl  Anregungen  eines  akademischen  Lehrers  (An- 
tiochos  ?)  folgend,  in  seinen  Büchern  De  oratore  und  im  Orator  wirkungsvoll 
dargestellt  hat.  Eine  die  Fachwissenschaften  beherrschende  und  in  der  Philo- 
sophie gipfelnde  Bildung  soll  der  Grund  sein,  auf  dem  allein  die  Beherr- 
schung der  Technik  der  Rede  gewonnen  werden  und  eine  Virtuosität  der 
Rede  gedeihen  kann,  die  durch  historische  Schulung  und  juristische  Schärfe, 
Berechnung  aller  psychologischen  Wirkungen  und  Beherrschung  aller  logischen 
und  künstlerischen  Mittel  die  höchste  Vollendung,  die  Harmonie  von  Ge- 
danken und  Form,  erreicht.  Auch  die  Römer,  welche  dies  Ideal  stark  auf 
sich  haben  wirken  lassen,  \\ae  Tacitus  und  Quintilian,  haben  diese  für  den 
Römer  einzige  Vielseitigkeit  der  Bildung  nicht  mehr  erreichen  können ;  sie 
haben  das  Ideal  nur  aus  der  Ferne  bewundert,   ohne  es  erreichen  zu  können. 


3  RÖMISCHE  Vorherrschaft 

Ausser  Norden  (S.  26)  s.  Wilamowitz,  Asianismus  und  Atticismus,  Hermes 
XXXV  S.  1—52. 

Seit  der  Mitte  des  II  Jahrhunderts  schon  gravitiert  das  geistige  Leben 
und  die  literarische  Entwicklung  auch  auf  griechischem  Gebiete  ganz  nach 
Rom.  Die  letzte  grosse  Schöpfung  echt  griechischen  Geistes  ist  das  System 
des  Stoikers  Poseidonios  (um  100  v.  Chr.,  vgl.  Kap.  VI  1),  in  dem  tiefer  hi- 
storischer Sinn  und  Fälligkeit  für  exakte  Forschung,  spekulativer  Trieb  und 
religiöses  Gefühl  wunderbar  vereinigt  sind.  So  schafft  er  einen  in  Philosophie 
und  religiöser  Mystik  gipfelnden  architektonischen  Aufbau  der  Wissenschaften 
und  fasst  noch  einmal  den  ganzen  Ertrag  des  griechischen  Geisteslebens  in 
einen  weiten  systematischen  Zusammenhang,  Nur  Origenes  hat  später  ähn- 
liches versucht,  ohne  ihn  erreichen  zu  können.  Poseidonios  ist,  in  der  Spät- 
antike vom  Neuplatonismus  und  von  Aristoteles  abgelöst,  der  die  nächsten 
Jahrhunderte  eigentlich  beherrschende  Geist.  Nicht  nur  die  fachwissenschaft- 
liche Literatur  schliesst  sich  zum  grossen  Teil  an  seine  Schriften  an  und 
lebt  von  seinen  Gedanken.  Er  hat  die  Ent\\'icklung  der  Stoa  in  neue  Bahnen 
geleitet,  Neupythagorismus  und  Piatonismus  hat  er  aufs  stärkste  beeinflusst 
und,  von  Plato  stark  ergriffen,  der  religiösen  Stimmung  einen  gewaltigen 
Ausdruck    gegeben,    die,    in  Seneca  und  Plutarch,  im  Piatonismus  und  Neu- 


30        IV  Geschichte  der  Bildungsideale:  3  Römische  Vorherrschaft 


]ilatonismus  in  wachsender  Stärke  hervortretend,  der  Spätantike  ihren  eige- 
mn  Charakter  gibt,  wie  er  auch  direkt  und  indirekt,  z.  B.  durch  Vermitte- 
hing  Phih^s,  die  christliche  Literatur  stark  beeinflusst  hat.  jMan  kann  den 
Khodier  Poseidonios  den  letzten  grossen,  dem  Römertum  unabhängig,  aber 
verständnisvoll  gegenüberstehenden  Griechen  nennen.  Schon  vorher  hatte 
Polybios  seinen  gi'iechischen  Landsleuten  Roms  Grösse  und  ihre  Ursachen 
verkündet,  nachdem  er  im  Scijjionenkreise  mit  dem  Gedanken  der  grossen 
Kulturmission,  die  es  zu  erfüllen  hatte,  vertraut  geworden  war.  Gleichzeitig 
bildet  der  aus  dem  rhodischen  Freistaat  stammende  Stoiker  Panaitios  die 
strenge  Schuhnoral  in  weltmännischem  Sinne  zu  einer  für  die  Nobilität  be- 
stimmten, wirklich  lebensfälligen  edlen  Sittenlehre  um,  die  vom  Gedanken 
der  Humanität  getragen  ist.  In  ferne  Zeiten  hat  sein  Werk  durch  das 
ciceronische  Medium  (De  officiis)  und  dessen  Christianisierung  durch  Am- 
brosius  gewirkt.  Auch  die  Fachwissenschaften  werden  jetzt  von  den  Griechen 
für  die  Bedürfnisse  der  Römer  bearbeitet;  die  Forschung  tritt  immer  mehr 
hinter  der  Popularisierung  der  Wissenschaft  zurück ;  Breite  der  Propaganda 
und  Sinken  des  ^^'issenschaftlichen  Niveaus,  rhetorischer  Flitter  und  wissen- 
schaftliche Ignoranz  gehen  Hand  in  Hand.  Wir  beobachten  einen  fortge- 
setzten Prozess  der  Verdünnung,  Exzerpierung,  Trivialisierung,  der  sich  von 
der  echten,  meist  alexandrinischen  Forschung  zu  den  uns  erhaltenen  Hand- 
büchern vollzieht.  Wir  beobachten  den  Prozess  in  den  doxographischen 
und  mythographischen  Handbüchern,  in  den  Kommentaren,  in  den  lexikali- 
schen und  literarhistorischen  Hilfsmitteln.  Grosse  Sammelwerke  (wde  Dio- 
dors  liistorische  Bibliothek  zur  Zeit  des  Augustus)  entstehen,  die  ein  Surro- 
gat für  den  Reichtum  der  frülieren  Literatur  geben  und  auch  wirklich  deren 
Untergang  herbeifüliren,  weil  sie  der  geringer  gewordenen  Bildung  des 
grossen  Publikums  besser  entsprechen. 

Das  Bildungsniveau  des  griechischen  Sprachgebietes  sinkt,  auch  die 
allgemeine  Kultur  erfährt  im  Osten  einen  Niedergang  durch  den  schon  von 
Polybios  für  Griechenland  beobachteten  Rückgang  der  Bevölkerung,  durch 
die  römischen  Annexionen  und  die  ihnen  voraufgehenden  Kriege,  durch  die 
Miss^^irtschaft  der  römischen  Oligarchie  und  die  schweren  Verwüstungen  der 
mithradatischen  und  der  Bürgerkriege.  So  erklärt  es  sich,  dass  Rom,  nach- 
dem es  sich  hellenisiert  hat,  in  der  schönen  Literatur  die  Führung  über- 
nimmt und  dem  Griechentum  den  Vorrang  abläuft.  Der  Kompromiss  zwischen 
Hellenismus  und  römischem  Wesen  hat  zu  einer  inneren  Einigung,  zu  einer 
neuen  geschlossenen  Kultur  geführt,  die  es  der  Persönlichkeit  ermöglicht, 
sich  selbständiger  darzustellen  und  freier  zu  bewegen.  CatuU  und  Cicero, 
Horaz  und  Vergil,  Tacitus  haben  in  der  gleichzeitigen  griechischen  Literatur 
nicht  ihresgleichen.  Mit  dämonischer  Kraft  gibt  Augustus  seiner  Zeit  auch 
geistig  ein  einheitliches  Gepräge  (vgl.  VII  2) ;  alle  die  Welt  beherrschenden 
Stimmungen  und  Strömungen  gehen  von  Rom  aus.  Schon  in  jenem  erneu- 
erten Kampf  um  die  Bildungsideale  hatte  Rom  den  Ausschlag  gegeben  und 
der  den  praktischen  Bedürfnissen  des  Lebens  dienenden  rhetorischen  Bildungs- 
weise zum  Siege  verhelfen.  Und  wenn  auch  die  folgenreiche  attizistische 
Bewegung  ihre  griechischen  Vorläufer  gehabt  haben  muss,  für  uns  wird  sie 
erst  kenntlich  und  zur  Macht  ist  sie  erst  geworden  in  den  literarischen 
Kontroversen  und  Stilerörterungen  der  letzten  Jahre  Ciceros,  wo  der  um 
Cäsar  sich  sammelnde  Kreis  die  Forderung  der  Nachahmung  attischer  Muster, 
speziell  des  schlichten  Stiles,  als  dessen  Hauptrepräsentant  Lysias  erscheint, 
erhebt,  Cicero  dieser  Bewegung  sein  vielseitiges  und  überlegenes  Ideal  einer 
alle  Nuancen  des  Stiles  beherrschenden  Redekunst  entgegenstellt  (Orator, 
Brutus).    Griechische  Repräsentanten  der  attizistischen  Bewegung  lernen  wir 


Anpassung-  d.  «iriecli.  Lit.  au  d.  röni.  Interessen.     Ueber^ewiclit  d.  yihn.  Lit.       31 

erst  unter  Augustus  in  Dionysios  von  Halikarnass  und  Cäcilius  kennen,  und 
sie  schreiben  den  Sieg  ihrer  auch  von  Augustus  begünstigten  Richtung  dem 
Einfluss  des  weltbeherrschenden  Rom  7,u.  Aber  dieser  scheinljare  Sieg 
konnte  nicht  hindern,  dass  schon  unter  Augustus  durch  den  Einfluss  lielle- 
nistischer  Rhetorik  ein  neuer  Modestil  aufkam,  der  im  Gegensatz  zu  cicero- 
nischem  Periodenbau  sich  in  kurzen,  zerhackten  Gliedern  bewegte,  durch 
scharf  pointierte,  epigrammatische  Sentenzen  und  abgezirkelte  Antithesen, 
durch  alle  Reizmittel  des  sprachlichen  Klanges  und  sangartigen  Vortrages 
zu  wirken  suchte.  Die  Zuwanderung  hellenistischer  Rhetoren,  das  Ueber- 
wuchern  deklamatorischer  Uebungen  (vgl.  S.  27),  die  mit  ihren  gesuchten, 
abenteuerlichen  Themata  die  Unnatur  des  Stiles  herausforderten,  die  Kon- 
kurrenz der  Rhetoren,  die  sich  durch  Steigerung  der  Mittel  zu  überbieten 
und  auszustechen  suchten,  haben  diesen  forcierten  und  manierierten  Stil  ge- 
fördert, von  dem  uns  die  rhetorischen  Memoiren  des  älteren  Seneca  reich- 
liche und  unerquickliche  Proben  mitteilen,  und  der  durch  den  Philosophen 
Seneca  seine  künstlerische  Ausgestaltung  gewonnen  hat.  Folgenschwer  lastet 
jetzt  auf  der  römischen  Geistesentwicklung  die  Einseitigkeit  formal  rheto- 
rischer Bildung,  die  den  Rückhalt,  den  sie  in  Cicero  an  einer  umfassenden 
Geisteskultur  besessen  hatte,  verliert.  Die  Rhetorik  wird  die  herrschende 
Macht  im  geistigen  Leben  und  in  der  literarischen  Produktion.  Sie  unter- 
wirft sich  die  Geschichtsschreibung,  die  als  ein  opus  Oratorium  gilt  und  dem 
Zwecke  dienen  soll,  alle  Mittel  rhetorischer  Virtuosität  zu  entfalten;  be- 
schränkte sich  doch  die  historische  Bildung,  die  man  beim  Rhetor  aufnahm, 
darauf,  dass  man  die  Geschichte  als  Exempelsammlung  seinen  Zwecken  füg- 
sam zu  machen  wn,isste.  Sie  schafft  eine  Popularphilosophie,  die  aus  philo- 
sophischen Problemen  rhetorische  Prunkstücke  gestaltet.  Sie  durchdringt, 
nachdem  sie  selbst  stark  in  die  Sphäre  der  poetischen  Sprache  eingegriffen 
und  das  früher  so  feine  Gefühl  für  die  Grenzen  der  Stilgattungen  erstickt 
hat,  alle  Gebiete  der  Poesie.  Alle  Mittel  der  Rhetorik  hat  Ovid  in  die 
Poesie  eingeführt,  Persius  und  Juvenal  haben  dann  die  Satire,  Lucan  das 
Epos  rhetorisiert. 

Aber  eine  Reaktion  gegen  diesen  sich  erschöpfenden  Modestü  war 
unausbleiblich.  Deutlich  tritt  sie,  wohl  die  nie  ganz  ausgestorbenen  atti- 
zistischen  und  klassizistischen  Tendenzen  aufnehmend,  uns  unter  den  Flaviern 
in  dem  erfreulichen  Buche  des  nüchternen  Quintilian  entgegen,  der  den  zer- 
rissenen, effektvollen  Stil  des  Seneca  verwirft  und  die  Rückkehr  zu  Cicero, 
d.  h.  zu  einer  natürlichem  Sprache  und  zum  kunstvollen  Periodenbau  predigt. 
Aus  der  klassizistischen  Richtung  ging  dann,  auch  durch  antiquarische  For- 
schung schon  länger  vorbereitet,  seit  Hadrian  eine  ausgesprochen  archaistische 
Strömung  hervor.  Sie  sucht  ihre  Muster  in  der  vor  Cicero  liegenden  Lite- 
ratur und  produziert  einen  aus  allen  möglichen  Redefloskeln,  Reminiszenzen, 
Altertümeleien  zusammengesetzten  buntscheckigen  Stil,  dessen  abschreckend- 
stes Muster  uns  der  Rhetor  Fronto,  Marc  Aureis  Lehrer  und  Freund,  gibt. 
Diese  rückwärts  gewandte  Ent\\dcklung,  in  der  sich  das  in  dieser  Zeit  oft 
ausgesprochene  Bewusstsein  des  Epigonentums  und  der  Dekadeuce  ausdrückt, 
erweitert  die  Kluft  zwischen  lebender  und  literarischer  Sprache.  Die  auf 
ein  künstliches  Sprachniveau  gehobene  Literatur  ist  den  befruchtenden  Be- 
rührungen mit  der  volkstümlichen  Sprache  entzogen,  ihrer  Wirkung  auf 
weitere  Kreise  beraubt.  Das  Berufsliteratentum  hat  es  dahin  gebracht,  dass 
die  Literatur,  die  in  der  Republik  das  natürliche  Erzeugnis  und  der  Wider- 
schein des  \%drklichen,  öffentlichen  und  privaten  Lebens  war,  jetzt  eine  Welt 
für  sich  bildet,  ein  gesondertes,  von  der  Wirklichkeit  entferntes  Leben  führt. 
Seit  der  Mitte  des  III  Jahrhunderts  versiegt  sogar  die  schöpferische  Produk- 


32  IV  Geschichte  der  Bildungsideale:  4  Zweite  Sophistik 

tion  der  Jurisprudenz.    Nur  die  Christen  bringen  in  die  stockende  literarische 
Produktion  neue  Bewegung  und  frisches  Leben. 


4  Zweite  Sophistik 

S.  die  Literatur  S.  29  und  Rohde,  Griechischer  Roman  S.  311  ff.,  Kleine 
Schiiften  11  75  ff.  —  Hatch,  Griechentum  und  Christentum,  deutsch  von  Preu- 
schen,  Freiburg  1892. 

Die  griechische  Entwicklung  läuft  nicht  völlig  parallel,  aber  sie  führt 
doch  zu  einem  ähnlichen  Ziele.  Wohl  leben  freiere  hellenistische  Stilrich- 
tungen fort  imd  wirken  in  dem  tiefen  Ethos  und  der  Sprachfülle  des  Autors 
Ilepl  ü^ouc.  und  des  Plutarch,  auch  des  Juden  Philo  erfreulich  nach.  Helle- 
nistische Wörter,  Formen  und  Wendungen  mischen  auch  unbewusst  und  un- 
freiwillig diejenigen  ein,  die  reines  Attisch  zu  schreiben  sich  vorsetzen.  Aber 
der  ]Modestil  Roms  hat  keine  griechische  Parallele.  Die  griechische  Ent- 
■wicklung  ist  gradliniger  und  gravitiert  entschieden  nach  dem  Attizismus,  und 
Dionysios  (S.  31)  hat  mit  seinen  triumphierenden  Worten  über  dessen  Sieg 
Recht  behalten.  Das  neue,  an  der  Vergangenheit  orientierte  StiHdeal,  das 
die  literarische  Sprache  um  mehrere  Jahrhunderte  zurückschraubt,  dringt 
"«-irklich  durch.  Es  schafft  den  bis  in  die  Gegenwart  fortdauernden  ver- 
hängnisvollen Dualismus  zwischen  der  Sprache  der  Literatur  und  der  des 
Umganges,  die  tiefe,  vmüberbrückbare  Kluft  zwischen  Bildung  und  Volkstum. 
Die  Sprache  der  Bücher  ist  jetzt  nichts  weniger  als  der  natürliche  Ausdruck 
des  Gedankens.  Sie  ist  das  Produkt  künstlicher  |i.:'[j.rpc?,  archaisierender 
Studien,  zusammengelesen  aus  literarischen  Reminiszenzen,  bald  auch  mit 
Hilfe  von  Sprachreinigern  geflickt  und  gestoppelt.  Dabei  entwickelt  sich 
auch  hier  der  Attizismus  zum  Teil  zum  geschmacklosen  Archaismus,  indem 
die  Grenzen  der  Stilgattungen  überschritten  und  ohne  Scheu  auch  poetische 
Ausdrücke  und  Wendungen,  weil  sie  attisch  sind  und  in  den  Lexika  standen, 
von  manchen  Autoren  reichlich  eingestreut  werden.  So  trägt  die  ganze 
Literatur  dieser  Richtung  den  Stempel  des  Gemachten  und  Künstlichen;  der 
Attizismus  hat  alles  getan,  über  sie  eine  unerträgliche  Oede  und  Langeweile 
zu  breiten.  Und  diese  Literatur  ist  uns  in  breiten  Massen  erhalten,  während 
der  Attizismus  den  Untergang  der  hellenistischen  Literatur  herbeigeführt 
hat,   die  vor  seinen    einseitig    stilistischen  Masstäben  nicht  bestehen  konnte. 

Die  Rhetorik  ist  die  grosse  Beherrscherin  auch  der  griechischen  Lite- 
ratur. Sie  verwüstet  die  Prosagattungen,  die  sie  annektiert  hat ;  sie  infiziert 
nicht  nur  die  Poesie,  sondern  im  Grunde  rottet  sie  sie  aus  —  Nonnos  und 
seine  Schule  schaffen  erst  wieder  Beachtenswertes  — ;  denn  sie  proklamiert, 
wie  einst  Gorgias  und  Isokrates  getan  hatten,  mit  vollem  Bewusstsein  den 
Konkurrenzkampf  mit  der  Poesie,  welche  sie  durch  die  Vielseitigkeit  ihrer 
Produktionen  in  Schatten  stellen  und  überflüssig  machen  will. 

Etwa  seit  Vespasian  wird  die  literarische  Produktion  der  Griechen 
wieder  lebendiger  und  vielseitiger,  um  schliesslich  der  versiegenden  römischen 
Literatur  den  Rang  abziüaufen.  Das  Schwergewicht  des  römischen  Reiches 
neigt  seit  Hadrian  nach  dem  Osten,  und  der  Gegensatz  der  beiden  Reichs- 
hälften verschärft  sich  auch  in  der  Sprache  und  Bildung.  Unter  dem  viel- 
gepriesenen Frieden  der  Kaiserzeit  und  den  straffen  Formen  der  Verwaltung 
erholt  sich  der  Osten  langsam  von  den  Leiden  und  Verwüstungen  der  repu- 
blikanischen Zeit  (S.  8.  30),  von  den  bitteren  Enttäuschungen,  die  das  republi- 
kanische Regime  ihm  gebracht  hatte.  Die  Ausbildung  der  Gemeindeverfassung 
unter  kaiserlichem  Regimente  ermöglicht  den  Städten  freiere  Bewegung,   der 


Zweite  Sophistik.    Einseitig  stilistisches  Ideal  33 

Sinn  für  die  kommunalen  Interessen  belebt  sich.  Das  Selbstbewusstsein  der 
Griechen  steifet ;  sie  fühlen  sich  wieder  als  Träj^er  der  Kultur,  als  geistige 
Herren  der  Welt  und  meinen  gar,  überlegen  auf  römische  Barbaren,  ihre 
Sprache  und  Kultur  herabsehen  zu  dürfen'.  Die  Rhetorik  steht  im  Mittel- 
punkt der  geistigen  Interessen.  Man  pHegt  diese  neue  mit  Vespasian  beginnende 
rhetorische  Entwicklung  mit  dem  Namen  „Zweite  Sophistik"  zu  belegen  nach 
dem  Vorgange  ihres  Geschichtsschreibers  Philostrat,  der  sie  willkürlich  an 
die  erste  Sophistik  anknü})ft.  Smyrna  und  Athen,  seit  dem  IV  Jahrhundert 
Antioclüa  imd  Konstantinopel,  treten  in  dem  rhetorischen  Treiben  als  Füh- 
rerinnen hervor,  an  dem  aber  jedes  Städtchen,  das  Anspruch  auf  Bildung 
erhebt,  sich  irgendwie  beteiligt.  Ausser  der  aufsteigenden  EntAvicklung  der 
Kultur  und  den  Antrieben  der  attizistischen  Bewegung  wirken  noch  beson- 
dere Ursachen  zur  Förderung  dieses  Bildungsstrebens  mit.  Die  Gunst  der 
Kaiser,  besonders  der  Athen  mit  Wohltaten  überhäufende  Philhellenismus 
Hadrians,  schafft  dotierte  Professuren  der  Rhetorik.  Die  Kommunen  und 
reiche  Private  folgen  dem  von  oben  gegebenen  Beispiele.  Die  Hebung  des 
öffentlichen  Schulwesens  und  Vermehrung  der  Anstalten  für  höheren  Jugend- 
unterricht bedeuten  vor  allem  Hebung  des  rhetorischen  Betriebes.  Die  Teil- 
nahme der  Vornehmen  und  aller,  die  gebildet  heissen  wollen,  an  rhetorischen 
Vorlesungen  und  Schaustellungen  wird  Modesache.  Den  Intelligenzen  öffnet 
sich  ein  hoffnungsvolles  Arbeitsfeld.  Die  Konkurrenz  der  rhetorischen  Schau- 
stellungen und  Produktionen,  der  Brotneid  und  Streit  der  Meister  und  ihres 
Gefolges  führen  zu  einer  Agonistik,  die  das  Publikum  vielfach  mit  derselben 
Leidenschaft  wie  die  Zirkusspiele  erfüllt.  Das  Feld  der  Betätigung  der 
rhetorischen  Kräfte  ist  ein  recht  mannigfaltiges.  Die  Gerichtsrede  und  der 
Knabenunterricht  fällt  den  Unbedeutenderen  zu.  Die  Grösseren  pflanzen 
als  Lehrer  ihre  Zunft  fort.  In  öffentlichen  gefeilten  Prunkreden  oder  in 
extemporierten  Stegreifreden,  deren  Thema  sie  aus  dem  Publikum  sich  stellen 
lassen,  feiern  sie  ihre  Triumphe.  Der  äussere  Pomp  des  Auftretens  und  der 
stark  modulierte  Vortrag  unterstützt  alle  die  längst  erprobten  Kunstmittel 
der  Rede,  mit  denen  sie  das  Ohr  ihrer  Hörer  bezaubern.  Einem  Volke,  das 
über  gar  keine  rhetorische  Tradition  verfügt,  ist  es  recht  schwer,  die  Wir- 
kung dieser  Kunstmittel,  die  alle  auf  den  lebendigen  Vortrag  berechnet 
sind  und  die  man  an  der  Beredsamkeit  der  romanischen  Völker  noch  heute 
studieren  kann,  sich  lebendig  zu  machen.  Es  ist  keine  blosse  Phrase,  wenn 
diese  Rhetoren,  wo  sie  von  dem  Seelenzustande  dieser  Produktion  uns 
Rechenschaft  ablegen,  wie  G.  d'Annunzio  in  die  Sprachsphäre  des  Enthusias- 
mus, der  Inspiration  und  Ekstase  greifen  müssen. 

Je  mehr  dieses  rhetorische  Treiben  in  den  Mittelpunkt  des  geistigen 
Lebens  tritt  und  alle  höheren  Interessen  in  unnatürlicher  Weise  absorbiert, 
um  so  höher  steigt  die  soziale  Stellung  der  rhetorischen  Professoren  und 
ihr  massloses  Selbstgefühl,  von  um  so  hellerem  Glänze  sind  die  Koryphäen 
umstrahlt.  Die  Sophisten  haben  die  führende  RoUe  im  kommunalen  Leben, 
oft  zum  Heüe  ihrer  Vaterstadt  —  denn  der  alte  Bürgersinn  lebt  wieder  auf 
und  äussert  sich  in  hochherziger  Liberalität  — ,  öfter  zur  Befriedigung  ihrer 
eigenen  Eitelkeit.  Mit  Vorliebe  werden  sie  wie  früher  die  Philosophen  zu 
diplomatischen  Missionen  verwendet  und  haben  die  ehrenvolle  Aufgabe, 
Kaiser  und  Vornehme  in  pomphaften  Reden  zu  begrüssen.    Es  ist  ein  ebenso 


')  Zeugnisse  bei  Peter,  Die  geschichtliche  Literatur  über  die  römische  Kaiser- 
zeit I  S.  26.  6,  Heinze  De  Horatio  Bionis  imitatore,  Bonn  1889  S.  10  ff.  Sehr  cha- 
rakteristisch ist  Apollonios'  Aerger  über  die  römischen  Namen  bei  Philostrat,  vita 
ApoUonii  IV  5  (L.  Hahn,  Rom  und  Romanismus  S.  157.  158). 

Ijietzmann,  Handbuch  z.  Xeuen  Test.  I,  2.  3 


34  IV  Geschichte  der  Bildungsideale:  4  Die  zweite  Sophistik 

beweintes  rhetorisches  Treiben  -w^ie  im  Athen  des  IV  Jahrhunderts  v.  Chr.,  und 
dennoch  ist  der  Abstand  ein  gewaltiger.  Dort  die  aus  dem  Leben  heraus- 
gewachsene Beredsamkeit  der  Volksversammlungen  und  Gerichte,  hier  eine 
künstlich  gezüchtete  Rhetorik,  die  sich  in  der  Scheinwelt  fingierter  Dekla- 
mationen bewegt  und  alle  Akte  des  Lebens  mit  dem  unnötigen  Pompe  der 
Phrase  und  mit  lärmendem  Pathos  umkleidet;  wir  haben  nur  zu  viel  von 
Theorie  und  Praxis  jeder  Art  von  Gelegenheitsreden. 

Was  war  nun  der  Ertrag  dieser  fieberhaft  gesteigerten  rhetorischen 
Produktion"?  Man  hat  es  wirklich  in  der  künstlerischen  Gestaltung  der 
Rede,  in  der  Reinheit  des  Stils  und  in  der  [xiixrpi^  erstaunlich  weit  gebracht, 
und  die  stilistischen  Leistungen  eines  Aristides  von  Smyrna  (II  Jahrh.)  und 
die  unendliche  Mühe  mid  Arbeit,  die  sie  voraussetzen,  müssen  wir  bewundern. 
Als  zweiter  Demosthenes  T;vird  er  gepriesen  und  ist  auch  in  der  Stiltheorie 
der  würdige  Vorläufer  des  für  die  folgenden  rhetorischen  Lehrbücher  mass- 
gebenden Hermogenes  gewesen.  Es  gibt  sogar  Virtuosen  des  Stiles,  die  mit 
chamäleonartiger  Wandlungsfähigkeit  in  verschiedenen  Stilgattungen  und 
Dialekten  schreiben.  Aber  der  wesentliche  Erfolg  der  Bewegung  ist,  dass 
das  Bildungsideal  sich  verengert  zum  Stilideal.  Das  dem  Griechen  ange- 
borene Gefallen  an  der  schönen  Fonn  überwuchert  das  Interesse  am  Gedanken. 
Nicht  um  der  Sache  ist  es  dieser  Schönrednerei  zu  tun,  sondern  der  Stoff, 
auch  der  höchste,  ist  nur  das  Mittel,  an  ihm  die  Formkünste  zu  entfalten. 
Phrasenreichtum  und  Gedankenleere  gehen  Hand  in  Hand.  Dass  man  sich 
bewusst  ist,  in  der  klassischen  Literatur  das  köstlichste  Erbe  einer  grossen 
Vergangenheit  zu  besitzen,  ist  von  den  heilsamsten  Folgen  gewesen.  Aber 
man  beraubt  sich  ihrer  besten  Wirkungen  und  ihres  reichsten  Ertrages, 
indem  man  an  sie  die  einseitig  stilistischen  Masstäbe  des  „reinen  Attisch" 
anlegt,  das  ein  Phantom  der  Studierstube  ist.  Dionysios  hat  weder  die 
poesievolle  Einleitung  des  Phaidros  noch  den  dithyrambisch  schwungvollen 
Stil  seiner  zweiten  Sokratesrede  geniessen  und  in  ihrer  künstlerischen  Voll- 
endung begreifen  können.  Er  übt  an  Plato  eine  völlig  schulmeisterliche 
Kritik,  und  die  Rezepte,  nach  denen  er  sein  verunglücktes  Geschichtswerk 
komponiert  hat,  hält  er  dem  Thukydides  mit  nörgelnder  Kritik  als  die 
Normen  vor,  nach  denen  er  Besseres  hätte  leisten  können.  Und  so  geschickt 
und  merkwürdig  die  ausgedehnte  Polemik  des  Aristides  gegen  Plato  und 
seine  Verteidigung  der  Rhetorik  ist,  sie  beweist  doch  seine  Unfähigkeit,  in 
die  Gedankenwelt  des  reichsten  Geistes  des  Altertums  einzudringen  und 
Ideale  zu  begreifen,  die  diese  Welt  und  die  Scheinwelt  der  Phrase  hinter 
sich  lassen.  Die  schöne  Form  und  die  stilvolle  Gestaltung  und  Ausbildung 
der  Rede  ist  jetzt  Inbegriff  und  Grundlage  der  Bildung.  Diese  formale 
Bildung  ist  die  Vorbereitung  für  jede  öffentliche  Tätigkeit  \  und  die  Jugend 
der  besseren  Familien  geht  durch  die  Schulen,  die  diesem  Bildungsideale 
luüdigen.  Petronius  hat  schon  in  seinem  Sittenroman  (c.  1)  an  diesem 
Lehrbetriebe  die  schneidendste  Kritik  geübt.  Die  pathetischen  Deklama- 
tionen, sagt  er,  „wären  erträglich,  wenn  sie  nur  denen,  die  zur  Beredsam- 
keit gelangen  sollen,  den  Weg  weisen  wollten.  Nun  bringen  sie's  mit  dem 
Schwulst  der  Dinge  und  dem  ganz  leeren  Phrasengeklingel  nur  dahin,  dass 
sie,  wenn  sie  aufs  Forum  kommen,  sich  in  eine  ganz  andere  Welt  versetzt 
fühlen.  Und  darum,  glaube  ich,  werden  die  Jünglinge  in  der  Schule  ver- 
dummt, weil  sie  nichts  von  dem  hören  und  sehen,  was  in  dieser  Welt  vor- 
geht, sondern  von  Seeräubern,  die  mit  Ketten  am  Ufer  bereit  stehen,  von 
Tyrannen,    die    durch  Edikte    den  Söhnen  befehlen,    ihren  Vätern  die  Köpfe 


»)  Vgl.  Mitteis,  Reichsrecht  und  Volksrecht  S.  189  ff. 


Stilideal.    Allgemeine  reaktionäre  Strömung  35 

abzuschneiden,  von  Orakelsprüclieu  für  die  Pestilenz,  dass  drei  oder  mehr 
Jungfrauen  geopfert  werden  sollen,  honigsüsse  Reden,  Worte  und  Sachen 
wie  verzuckert  und  geölt.  Die  damit  gross  gezogen  werden,  können  so 
wenig  klug  sein,  wie  die  gut  riechen  können,  die  in  der  Garküche  wohnen. 
Nehmts  mir  nicht  übel,  ihr  vor  aUcm  liabt  die  Beredsamkeit  zugrunde  ge- 
richtet. Denn  indem  ilir  mit  leerem  und  eitlem  Wortschwall  euer  Spiel 
treibt,  habt  ihr  bewirkt,  dass  der  Leib  der  Rede  entkräftet  wurde  und  ver- 
fiel  Die  erhabene  imd  so  zu  sagen  keusche  Rede  ist  nicht  bunt- 
scheckig und  nicht  geschwollen,  sondern  erhebt  sich  in  natürlicher  Schönheit. 
Kürzlich  erst  ist  die  aufgeblasene  und  abgeschmackte  Geschwätzigkeit  aus 
Asien  nach  Athen  gCAvandert  und  hat  den  auf  das  Hohe  gerichteten  Sinn 
der  Jugend  gewissermassen  mit  verderblicher  Ansteckung  erfüllt,  und  nach- 
dem einmal  das  Ideal  verdorben  war,  hat  die  (wahre)  Beredsamkeit  aufgehört 
und  ist  verstummt.  Und  wer  hat  schliessKch  den  Ruhm  eines  Thukydides 
und  Hypereides  erreicht?  Nicht  einmal  ein  vernünftiges  Gedicht  ist  hervor- 
getreten, und  nichts  konnte  zur  rechten  Reife  kommen,  da  alles  von  der- 
selben Nahrung  wie  übersättigt  war."  Gilt  auch  diese  Kritik,  soweit  sie 
stilistisch  ist,  dem  S.  31  gezeichneten  Stile,  so  trifft  sie  doch,  was  sittliche 
Hohlheit,  eitle  Anmassung  und  Unterdrückung  der  andern  Bildungsinteressen 
angeht,  auch  auf  die  zweite  Sopliistik  vöUig  zu  ^. 

Es  wäre  freilich  ungerecht,  zu  verkennen,  dass  die  Interessen  der  zweiten 
Sophistik  nicht  auf  den  Sftl  beschränkt  sind.  Aber  alle  ihre  Bestrebungen 
ordnen  sich  jenem  höchsten  Interesse  unter  und  werden  dadurch  in  falsche 
Bahnen  gelenkt.  Die  archaisierende  Richtung  geht  über  die  attizistische 
Stilbewegung  hinaus  und  ergreift  und  erobert  sich  weitere  Gebiete.  Sie 
schafft  ein  an  der  Vergangenheit  orientiertes  romantisches  Ideal.  Sie  er- 
strebt auf  allen  Kulturgebieten,  in  Sprache  und  Literatur,  Religion  und 
Kunst,  Sitte  und  Lebensformen  die  Wiederbelebung  der  Vergangenheit,  in 
der  sie  ihre  Ideale  verwirklicht  sieht.  Sie  fördert  vor  allem  die  seit  dem 
II  Jalirh.  deutlich  wahrnehmbare  Steigerung  und  Vertiefung  des  reUgiösen 
Lebens.  Aber  auch  diese  Religiosität  ist  künstlich  gemacht;  sie  -«-urzelt 
nicht  im  Leben,  sondern  in  der  Vergangenheit.  Sie  steht  dem  Volkstum 
fremd  gegenüber,  weil  sie  stark  ästhetisch  imd  literarisch  ist,  das  Glied  einer 
wesentlich  aus  Bücherstudien  gewonnenen  Weltanschauung,  deren  Ziel  die 
Repristination  der  Religion  und  die  künstliche  Belebung  alter  Glaubens-  und 
Kiütformen  ist.  Sie  gleicht  auch  darin  der  modernen  Romantik,  dass  sie 
sich  in  stark  stilisierten,  oft  fast  theatralischen  Formen  äussert  (Aristides' 
'Ispol  Aoyoi).  Und  selbst  die  neuplatonische  Philosophie  und  Religion,  die 
schönste  und  reinste  Blüte,  welche  die  reaktionär  religiöse  Entwickelung 
schliesslich  hervorgebracht  hat,  ist  zu  sehr  ästhetisch  orientiert,  zu  sehr 
belastet  mit  dem  ganzen  Erbe  der  griechischen  Literatur-  und  Kulturent- 
wickelung, zu  einseitig  berechnet  auf  diejenigen,  die  spekulieren  und  philo- 
sophischen Exerzitien  sich  widmen  können,  um  im  Volkstum  Boden  gewinnen 
und  im  Kampfe  mit  der  jugendfrischen,  in  ungebrochener  Kraft  aufstreben- 
den christlichen  Religion  bestehen  zu  können.  Die  tote  Last  der  Vergangen- 
heit drückt  auf  diesem  Geschlechte,  erstickt  jede  vorwärts  strebende  Ent- 
wickelung und  ruft  das  Gefühl  des  Niederganges-  hervor. 

Mit  Recht  hat  man  gesagt,  dass  das  Griechentum  zum  Teil  am  Kultus 
der  schönen  Form  zugrunde  gegangen  ist.     Mit  viel  Liebe  und  erstaunlichem 


l 


>)  Vgl.  die  Kritik  Plut.  De  ratione  audiendi  7  p.  41  D,  9.  -)  S.  z.  B. 

Seneca,  Columellas,Vorrede,  Gellius  Hl  10,  11,  Cyprian  Ad  Demetrianum  3  und  die 
von  Hirzel  bei  Gardthausen,  Kaiser  Augustus  11  3  S.  882  augeführten  Stellen. 

3* 


36  1^'  Geschichte  der  Bildungsideale:  4  Die  zweite  Sophistik 

Fleiss  hat  man  die  Form  fiepflep:t  und  verschönt,  gedrechselt  und  gefeilt; 
darüber  hat  man  endlich  den  Gehalt  verloren  und  den  Geist  vergessen.  An 
Keaktionen  liat  es  freilich  so  wenig  gefehlt  wie  an  Nebenströmungen.  Dass 
das  formalistische  Bildungsideal  sich  die  Welt  erobern  konnte,  ist  wesentlich 
darin  begründet,  dass  es  an  dem  heilsamen  Gegengewichte  der  Fachwissen- 
schaften und  der  Philosophie  fehlte ;  beide  Momente  hängen  übrigens  auch 
mit  einander  zusammen.  Von  Poseidonios  zu  Seneca  und  dem  älteren  Plinius, 
dessen  Nachfolgern  und  Excerptoren,  vollends  zu  Isidor  ist  über  viele  Etappen 
ein  fortgesetztes  Sinken  der  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  und  des 
Sinnes  für  exakte  Forschung  selbst  bei  denen,  die  für  Kenner  gelten,  zu 
beobachten ;  Kuriositätensammlungen  nehmen  den  Platz  der  fachwissenschaft- 
lichen Literatur  ein.  Und  wenn  Ptolemaios  (II  Jahrh.  n.  Chr.)  uns  gross 
erscheint  und  seine  Zeit  wirklich  überragt,  so  wissen  wir  jetzt,  dass  seine 
Bedeutung  wesentlich  auf  der  verständnisvollen  Benutzung  alexandrinischer 
Forschung  beruht  und  sein  System  eigentlich  gar  nicht  seinen  Namen  ver- 
dient; und  dass  er  dem  astrologischen  Wahngiauben  gehuldigt  hat,  steht 
durch  den  sicher  erbrachten  Nachweis  der  Echtheit  der  Tetrabiblos  fest. 
Wir  dürfen  ihm  das  nicht  einmal  zum  Vorwurf  machen ;  denn  der  Glaube 
ist  damals  allgemein,  und  seine  einzigen  Gegner,  die  Skeptiker,  sind  alles 
andere  eher  als  Kulturträger  und  Vertreter  des  wissenschaftlichen  Geistes. 
Für  sie  ist  die  Polemik  gegen  die  Astrologie  nur  ein  Glied  in  der  Kette 
der  Auflösung  aller  Wissenschaften  und  der  Bestreitung  ihrer  Möglichkeit. 
Auch  Galen  ist  uns  nicht  mehr  der  bahnbrechende  Forscher,  als  den  ihn 
das  Mittelalter  gepriesen  hat;  wesentlich  auf  der  zuverlässigen  Darstellung 
des  Wissensstandes  seiner  Zeit  und  der  verständigen  Verarbeitung  der  älteren 
Forschungen  beruht  sein  Verdienst;  an  Traumorakel  und  Wunderheilungen 
des  Asklepios  glaubt  er,  und  sein  Reklaraebedürfnis  verschmäht  nicht  den 
Nimbus  des  Wunderniannes.  Die  Mathematik  wendet  sich  in  bedenklicher 
Weise  der  Zahlensymbolik  zu.  Die  Verbreitung  der  Skepsis  im  II  Jahrh. 
n.  Chr.,  für  die  Lucian  und  die  für  ihre  Zeit  glänzenden  Schriften  des  Sextus 
Empeirikos  zeugen,  ist  auch  ein  Symptom  der  Unfruchtbarkeit  und  Verödung 
des  tieferen  geistigen  Lebens. 

Proteste  gegen  die  einseitige  Ueberschätzung  der  Form  sind  beson- 
ders von  den  Philosophen  erhoben  worden  (Norden  S.  376  ff.).  Aber  viel 
hatte  die  Philoso})hie  ihrer  Zeit  nicht  zu  sagen,  und  wenn  wir  vom  Neuplatonis- 
mus  absehen,  Neues  nicht  zu  bieten.  Die  fruchtbare  Berührung  mit  den 
Fachwissenschaften  hatte  sie  verloren,  und  sie  laborierte  teils  am  einseitigen 
Zuge  zur  philologischen  Forschung,  teils  am  Moralisieren.  Seit  der  Er- 
neuerung der  aristotelischen  Lehrschriften  durch  Andronikos  (I  Jahrh.  v.  Chr.) 
ging  die  in  der  Berliner  akademischen  Ausgabe  der  Comraentaria  in  Aristo- 
telem  uns  so  anschaulich  vor  Augen  tretende  Betriebsamkeit  der  peripateti- 
schen  Schule  in  sachlicher  und  sprachlicher  Exegese  der  Schriften  des 
Meisters  auf.  Die  Erkenntnis  dessen,  was  der  Meister  gemeint  hat,  die  sie 
wirklich,  auch  für  uns,  auf  mannigfache  Weise  gefördert  haben,  interessierte 
diese  Ei)igonen  viel  mehr  als  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  überhaupt.  Auch 
die  Produktion  der  ])latonischen  Schule  bewegt  sich,  selbst  nach  dem  Auf- 
schwünge der  S])ekulation  durch  Plotin,  überwiegend  in  Interpretation  der 
Schriften  des  Meisters,  und  der  neue  Kommentar  zum  Theätet  (Berliner  Klas- 
sikertexte II  19U5)  offenbart  ihre  auffallend  frühe  Ausartung  in  traurigen  Scho- 
lastizismus.  Für  Peripatos  und  Akademie  gilt,  was  Seneca  (Epist.  108,  23)  sagt: 
quae  philosnphia  fuil,  facla  philnlofiia  est.  Der  seit  dem  II  Jahrh.  v.  Chr.  in 
allen  Schulen  wahrnehmbare  Eklektizismus  ruft  diese  Reaktion  der  pliilologi- 
schen  Richtung  und  Quellenforschung  hervor.  Und  ähnlich  lauten  selbst  für  die 


Verfall  der  Wisseiiscluiiten.     Versiegen  der  Philosophie  37 


Stoa  Epiktets  Klagen  (lluiulbuch  49,  vgl.  die  in  Schenkls  Ausgabe  ange- 
führten Parallelen):  „Wenn  einer  prahlt,  dass  er  Chrysipps  Bücher  verstehe 
und  erklären  könne,  so  sage  bei  dir  selbst:  Wenn  Chrysipp  nicht  unklar 
geschrieben  hätte,  so  hätte  der  Mensch  nicht,  wessen  er  sich  rühmen  könnte. 
Ich  aber,  was  will  ich?  Die  Natur  erkennen  und  ihr  folgen.  So  frage  ich 
nun:  Wer  ist  ihr  Exeget?  Und  wenn  ich  höre:  Chrysipj),  gehe  ich  zu  ihm. 
Aber  icli  verstehe  seine  Worte  nicht;  so  suche  ich  dafür  einen  Exegeten. 
Und  bis  dahin  habe  ich  noch  nichts  Bewundernswertes  geleistet.  Finde  ich 
aber  den,  der  mir  die  Worte  klar  macht,  so  bleibt  mir  noch  übrig,  die 
Lehren  zu  befolgen.  Das  ist  das  einzig  Bewundernswerte.  Eifere  ich  aber 
nur  der  Vollkommenheit  des  Exegeten  nach,  was  bin  ich  dann  anderes  als 
Grammatiker  geworden,  nicht  Philosoph?  Der  einzige  Unterschied  ist,  dass 
ich  statt  Homer  Chrysipp  erkläre."  Durch  Marc  Aureis  Gründung  staat- 
licher Lehrstühle  für  die  vier  Philosophenschulen  in  Athen  und  die  Nach- 
folge, die  das  Beispiel  bei  andern  Kaisern  und  Gemeinden  fand,  scheint 
diese  antiquarische  Richtung  der  Philosophie  nur  gefördert  zu  sein.  Dass 
sie  mit  der  Rhetorik  nicht  konkurrieren  konnte,  ist  klar.  Sie  blieb  dem 
Markte  des  Lebens  fern,  auf  die  Schule  beschränkt.  Die  Vorlesungen  wurden 
von  den  Studierenden  belegt  und  gehört.  Sie  waren  ein  Mittel  der  Geistes- 
zucht neben  andern.  Den  geistigen  Lebensinhalt  konnten  sie  der  Seele 
nicht  geben. 

Aber  konnte  das  nicht  die  philosophische,  besonders  die  stoische 
Moral?  War  sie  nicht  ein  bedeutendes  Gegengewicht  gegen  die  Macht  der 
Phrase?  War  die  Stoa  nicht  durch  ihre  Massenpropaganda,  wie  sie  von 
Strassen-  und  Wanderpredigern,  durch  Traktate  und  Volksbücher  ausgeübt 
w'urde,  einer  heilsamen  Gegenwirkung  gegen  die  Herrschaft  der  Rhetorik  fähig  ? 
Wer  Epiktet  und  Marc  Aurel  zu  seiner  Erbauung  zu  lesen  gewöhnt  ist  und 
sie  auf  sich  hat  einwirken  lassen,  wird  solchen  Einfluss  nicht  ableugnen. 
Gewiss  hat  die  Stoa  Grosses  geleistet  für  die  Erziehung  der  Menschheit, 
die  Verbreitung  der  Gedanken  der  Humanität  und  allgemeinen  Menschen- 
würde, für  die  Hebung  des  allgemeinen  sittlichen  Niveaus  (s.  S.  16  if.).  Aber 
nicht  alle  Moralisten  stehen  auf  der  reinen  Höhe  eines  Epiktet,  der  was  er 
sagt  auch  innerlich  durchlebt  hat  und  darum  die  ans  Herz  greifenden  Töne 
findet,  und  dabei  äussert  er  sich  doch  über  den  Erfolg  seiner  Unterweisung 
recht  pessimistisch.  Die  Schriften  nicht  nur  des  Lucian  und  der  Satiriker  sind 
erfüllt  von  Klagen  über  Philosophen,  die  ihren  Beruf  als  Gewerbe  treiben, 
durch  äusserlich  auffallendes  Gebahren,  kynische  Manieren,  kapuzinerhafte 
Tiraden  Aufsehen  erregen  und  Hörer  finden  wollen.  Die  Sippe  der  Salon- 
pliilosophen  und  Schürzenjäger,  Schmarotzer  und  Bettelphilosophen,  Schreier 
und  Goeten  diskreditiert  auch  die  wenigen,  die  des  hohen  Namens  würdig 
sind.  Und  auch  aus  einem  anderen  Grunde  konnte  eine  wirkliche  Erneuerung 
und  Vertiefung  der  Sittlichkeit  von  der  stoischen  Predigt  nicht  ausgehen, 
"s\de  wdr  ja  auch  sehen,  dass  der  Neuplatonismus  die  Stoa  völlig  in  Schatten 
stellt.  Die  Mittel  rein  moralisierender  Predigt  sind  bald  aufgebraucht,  und 
nachdem  man  sie  fünf  Jahrhunderte  angewendet  hatte,  waren  sie  erschöpft 
und  vernutzt.  Eine  Moral,  die  sich  zu  speziellster  Kasuistik  entwickelt  und 
die  Pliilosopliie  zur  „Lebenskunst",  den  Philosophen  zum  Erzieher  herabge- 
drückt hat,  zeugt  damit  selbst  von  dem  Mangel  tiefer  sittlicher  Motive  und  auf 
das  Innerste  des  Menschen  wirkender  Kräfte.  Geflissentlich  betonen  diese  Plii- 
losophen,  \%ie  gering  und  leicht  fassbar  doch  die  Quintessenz  der  Philosophie  sei  ^ 


1)  Seneca,  Ep.  38,  1 ;  Epiktet  I  20,  14 ;  Bouhöfifer,  Epiktet  und  die  Stoa,  Stutt- 
gart 1890  S.  6  ff. 


38  IV  Geschichte  der  Bildungsideale:  5  Schulwesen 

Vollends  gegen  die  Macht  der  Rhetorik  konnte  diese  Predigt  nicht  aufkommen. 
Sie  war  selbst  meist  stark  infiziert  von  der  Rhetorik.  Wohl  ging  der  Streit 
zwischen  Philosophen  und  sophistischen  Rhetoren  hin  und  her;  aber  die 
Grenzen  beider  Gattungen  waren  doch  fliessend,  und  wir  wissen  nicht,  wo 
wir  einen  Dio  Chrysostomos  oder  Maximus  Tyrius  passender  einordnen.  Was 
die  philosopliischen  Schönredner  an  Moralplätzen  zu  geben  hatten  —  die 
Wiederkehr  fester  Fonnen  und  Schemata  zeigt,  wie  äusserlich  es  oft  ange- 
lernt war  — ,  hatten  die  Sophisten  ihnen  auch  abgelernt,  und  sie  meinten, 
es  besser  machen  zu  können.  So  ist  denn  wirklich  der  Wohlklang  der  Rede 
und  die  schöne  Phrase  das  Erbteil  des  Griechentums,  das  am  längsten  ge- 
dauert hat,  das  die  Spätantike  eigentlich  beherrscht,  ja  ihren  Untergang 
überlebt  hat. 


5  Schulwesen 

Die  Masse  der  literarischen  Produktion  und  die  Ausbreitung  der  Bildung 
in  hellenistischer  Zeit  Hessen  von  selbst  voraussetzen,  dass  der  starke  Bildungs- 
trieb der  Zeit  eine  Verbesserung  auch  des  Elementarunterrichtes  und  des 
Schulwesens  herbeigeführt  haben  müssen,  wie  sich  ja  der  höhere  Unterricht 
seit  der  Zeit  der  Sophistik  neue  Formen  geschaffen  hatte  und  später  der 
Staat  die  Pflege  und  Förderung  der  Wissenschaft  als  seine  Aufgabe  erkannt 
hatte.  Erziehungs-  und  Unterrichtsprobleme  stehen  in  der  Tat,  seit  Plato 
und  Aristoteles  ihre  fundamentale  Bedeutung  erkannt  und  ihnen  in  ihrer 
Staatslehre  einen  so  breiten  Raum  gegönnt  haben,  im  Vordergrunde  des 
Interesses.  Die  Literatur,  die  diese  Fragen  behandelte,  muss  sehr  ausgedehnt 
gewesen  sein.  Und  wenn  wir  auch  nicht  viel  mehr  als  Titel  ^  haben,  so 
können  uns  doch  auch  hier  die  auf  ältere  Quellen  zurückgehenden  Schriften 
der  römischen  Zeit  einen  Ersatz  geben'-.  Plutarchs  Schrift  über  Kinder- 
erziehung und  Quintilian,  auch  Tacitus'  Dialogus  und  die  Reste  des  varroni- 
schen  Loghistoricus  Catus  de  liberis  educandis  erfreuen  durch  den  sittlichen 
Ernst  und  den  Reichtum  fruchtbarer  Gedanken,  die  uns  vielfach  ganz  modern 
anmuten  und  auch  wirklich  heutzutage  oft  als  neueste  Weisheit  gepriesen 
werden.  Der  Grundstock  dieser  Gedanken  über  Erziehung  ist  durch  neuere 
Quellenuntersuchungen  ^  auf  eine  Schrift  des  Chrysii)p  zurückgeführt  worden. 

Aber  auch  in  der  Praxis  des  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens  fehlt 
es  nicht  an  Fortschritten.  Die  338  beginnende  RestaurationspoHtik  Athens 
führt  zu  einer  Reform  des  Ephebeninstitutes,  die  uns  jetzt  durch  Aristoteles' 
Athenerstaat  genauer  bekannt  ist,  und  viele  hellenistische  Inschriften  zeugen 
für  das  Interesse  an  der  Organisation  der  Ephebenerziehung.  Nach  einigen 
Zeugnissen  der  Inschriften  aus  verschiedenen  Jahrhunderten  zu  schüessen, 
scheint  öÖentliche  Organisation  oder  Ueberwachung  des  Schulwesens  in 
hellenistischer  Zeit    die    Regel   gewesen   zu    sein^.      Polybios"'   muss    Grund 


>)  S.  Grasberger,  Erziehung  und  Unterriclit  im  klassischen  Altertum  11  S.  10  ff. 
-)  Vgl.  Prächter,  Die  griechisch-röniische  Popularphilosopliie  und  die  Erziehung, 
Progr.  Bruchsal  1886.  ^)  Zu  dem  Resultate   sind   unabhängig  von  einander 

Gudeman,  Taciti  dialogus,  Boston  1894  S.  XCIX— CHI  und  Dyroff,  Die  Ethik  der 
alten  Stoa,  Berlin  1897  gelangt;  vgl.  von  Arnim,  Stoicorum  fragmenta  UI  S.  183. 
184.  ■»)  S.  z.  B.  Dittenberger,  Sylloge  306.  523  (vgl.  Mommsen  R.  G.  V  S.  349). 

552,  30.  60.  619,  43,  Inschriften  von  Priene  112,  74.  113,  28.  114,  21  und  Ziebarth 
in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft  XIX  S.  307.  ^)  Be- 

zeugt von  Cicero  De  republica  IV  3. 


Schulwesen.    Popularisierung  der  Philosophie  39 


gehabt  haben,  der  Regelh)si^keit  des  römiselieu  Juf^endunterrichtes  gegen- 
über an  die  besseren  griechischen  Ordnungen  zu  erinnern.  In  Rom  kümmerte 
sich  der  Staat  um  die  Schulen  nicht.  Sie  waren  im  Westen  ganz  der  pri- 
vaten Betriebsamkeit  überhissen  und  wurden  vielfach  von  Sklaven  oder 
Freigelassenen  versehen.  Auch  an  Hauslehrern,  besonders  griechischen,  fehlte 
es  nicht,  während  die  alte  Sitte,  dass  die  Söhne  den  Elementarunterricht 
vom  Väter  em])fangen,  immer  mehr  schwindet.  Der  Staat  hat  in  der  Kaiser- 
zeit nur  für  die  Organisation  des  höheren  Unterrichtes  Bedeutendes  gelei- 
stet, und  die  grösseren  Gemeinden  sorgten  später  für  Lehrer  der  Bered- 
samkeit ^  Aber  das  allgemeine  Interesse  für  die  Fragen  der  Erziehung 
und  Bildung  ist  ein  sehr  lebendiges,  das  Bewusstsein  ihrer  Bedeutung  wird 
oft  sehr  lebhaft  ausgesprochen.  Die  Notwendigkeit  einer  sorgfältigen  Er- 
ziehung und  eines  gründlichen  Unterrichtes  auch  des  Weibes  wird  oft  aus- 
führlich begründet  (Frachter  S.  6),  Erlernen  des  Lesens  und  Schreibens  wieder- 
holt für  alle  Menschen  gefordert'^. 


DIE  PHILOSOPHISCHE  PROPAGANDA  UND  DIE  DIATRIBE 

Teletis  reliquiae  ed.  Hense,  Freiburg  1889.  —  Wilamowitz,  Der  kynische 
Prediger  Teles,  Philol.  Unt.  IV,  Berlin  1881  S.  292—319.  —  Heinze,  De  Horatio 
Bionis  imitatore,  Bonner  Diss.  1889  (s.  auch  Heinze,  Rh.  M.  XLV  S.  197  ff.  und 
Gercke,  Rh.  M.  XLVni  S.  41  ff.).  —  Eichenberg,  De  Persii  satirarum  natura  at- 
que  indole.  Breslauer  Diss.  1905.  —  Schuetze,  Invenalis  ethicus,  Greifswalder  Diss. 
1905.  —  Weber,  De  Senecae  pliilosophi  dicendi  genere  Bioneo,  Marburger  Diss. 
1895.  —  Norden,  In  Varronis  saturas  Menippeas,  Jahrb.  Suppl.  XVIII  (s.  auch  Hense, 
Rh.  M.  LXI  S.  1  ff.).  —  Musonii  reliquiae  ed.  Hense,  Leipzig  1905.  —  Wendland, 
Quaestiones  Musonianae,  Berlin  1886.  —  Ders.,  Philo  und  die  kynisch-stoische 
Diatribe  (=  We.  und  O.  Kern,  Beiträge  zur  Geschichte  der  griechischen  Philo- 
sophie und  Religion),  Berlin  1895.  —  Prächter,  Hierokles  der  Stoiker,  Leipzig 
1901.  —  Einen  Teil  von  Hierokles'  etliischer  Prinzipienlehre  (Berliner  Pap.  9780) 
und  seine  bei  Stobäus  erhaltenen  Traktate  hat  von  Arnim  ediert,  Berliner  Klassi- 
kertexte IV  1906.  —  Bernays,  Lukian  und  die  Kyniker,  Berlin  1879.  —  Martha, 
Les  moralistes  sous  l'empire  romain^,  Paris  1872.  —  Hirzel,  Der  Dialog,  2  Bde, 
Leipzig  1895.  —  Helm,  Lucian  und  Menipp,  Leipzig  1906. 


1  Geschichte  der  Diatribe 

Einst  hatten  Plato  und  Aristoteles  einen  aristokratischen  Zirkel  auser- 
lesener Jünger  in  ihre  Philosophie  eingeweiht  und  auch  in  den  Schriften, 
die  für  ein  weiteres  Publikum  bestimmt  waren,  sich  doch  wesentlich  an  die 
Kreise  der  höchsten  Intelligenz  gewendet.  In  der  hellenistischen  Zeit  nimmt 
die  Philosophie  vielfach  ein  demokratisches  Gepräge  an.     Neben  der  stiUen 


1)  S.  0.  S.  33.  37,  Friedländer  Sittengesch.  I  315  ff.  und  Ausgabe  des  Petron, 
Leipzig  1891  S.  50  ff.  '-)  S.  z.  B.  Sextus  Emp.  p.  610,  6  B. 


40        V  Die  philosophische  Propaganda:  1  Geschichte  der  Diatribe 


Arbeit  der  Schulen  geht,  besonders  in  der  Stoa,  eine  ProiJ.iganda  her,  die 
sich  an  die  Massen  wendet.  Die  Nivellierung  der  Gesellschaft,  das  steigende 
Bildungsbedürfnis,  die  Richtung  der  Philosophie  auf  die  ethischen  Grund- 
wahrheiten und  die  praktischen  Lebensfragen,  die  hohe  Vorstellung  der  Stoa 
von  ihrem  erzieherischen  Berufe,  der  in  dem  Begrifife  der  allgemeinen 
Menschenwürde  und  in  der  Betonung  der  sozialen  Pflichten  begründet  war, 
erklären  die  Ausdehnung  der  Propaganda.  Schon  Sokrates  hatte  auf  dem 
Markte  im  lebhaften  Verkehr  mit  schlichten  Bürgei'n  und  Handwerkern  seine 
Erfahrung  bereichert,  hatte  jede  Begegnung  zum  Anlass  einer  das  Nach- 
denken über  sittliche  Fragen  anregenden  Gesprächführung  genommen  und 
es  als  seine  Mission  aufgefasst,  jedermann  zur  Selbstprüfung  und  Besinnung 
auf  den  tieferen  Sinn  seines  Lebens  und  Treibens  zu  nötigen.  Diese  Seite 
der  sokratischen  Traditionen  pflanzt  sich  durch  die  Vermittelung  des  Kynis- 
mus  in  die  hellenistische  Welt  fort  und  findet  dort  die  eifrigste  Pflege.  An 
breiter  Oeffentlichkeit  vollzieht  sich  die  Wirksamkeit  des  Kynikers  Diogenes, 
des  ersten  der  Bettelphilosophen.  Er  wirkt  vor  allem  durch  das  Beispiel 
und  stellt  dem  Menschen  das  Ideal  der  Bedürfnislosigkeit  und  Abhärtung, 
des  naturgemässen  Lebens  leibhaftig  vor  Augen.  Die  äussere  Erscheinung 
schon  ist  ein  lauter  Protest  gegen  alle  Formen  der  herrschenden  Sitte,  sie 
wiU  dem  Verständnis  der  Masse  in  eindrücklicher  Form  die  Richtung  der 
Gedanken  andeuten,  in  der  sich  die  neue  Lehre  bewegt.  Der  Inhalt  dieser 
Lehre,  die  Verwerfung  aller  äusseren  Güter,  in  denen  die  Menschen,  vom 
Scheine  getäuscht,  die  Bedingungen  des  Glückes  sehen,  die  Anerkennung 
der  Tugend  und  der  aus  ihr  fliessenden  unerschütterlichen  Seelenruhe  als  des 
einen  Gutes,  die  Nichtigkeit  der  Ziele,  denen  die  Menschen  nachjagen,  vor 
dem  einzig  würdigen  Lebensziele,  der  Sorge  um  das  Seelenheil,  die  Zurück- 
führung  der  komplizierten  Lebensformen  einer  von  Traditionen  und  Kon- 
ventionen belasteten  Kultur  auf  die  Einfachheit  des  Naturzustandes,  dieser 
Inhalt  ist  so  einfach  und  leicht  fasslich,  wie  die  Formen  und  Anwendungen, 
in  denen  er  zum  Ausdruck  kommt,  mannigfaltig  sind.  Denn  alles  Tun  und 
Treiben  der  Menschen,  die  ihnen  selbstverständlichen  und  zur  zweiten  Natur 
gewordenen  Gewohnheiten  und  Sitten  geben  dem  Kyniker  beständigen  An- 
lass, die  falschen  Werte  in  ihrer  Sinnlosigkeit  und  Vernunftwidrigkeit  auf- 
zudecken und  ihnen  die  wahren  Werte  gegenüberzustellen.  Volkstümlich  ist 
die  Art,  wie  die  Aeusserungen  herauswachsen  aus  der  Beobachtung  des 
Nächstliegenden  und  aus  ganz  aktuellen  Anlässen,  volkstümlich  die  dem  Ge- 
dächtnis sich  leicht  einprägende,  scharf  [)ointierte  Fassung  des  Apophthegma 
mit  ihren  durch  den  Grundsatz  der  Umwertung  der  Werte  von  selbst  sich 
aufdrängenden  Antithesen  und  Wortspielen,  volkstümlich  die  Vorliebe  für 
plebejische  Sprache  und  derbe  Vergleiche.  Diese  Bonmots  sind  hervorge- 
gangen aus  dem  die  ganze  Lebendigkeit  des  griecliischen  Temperamentes 
widerspiegelnden  Verkehr  von  Person  zu  Person,  im  Augenblicke  imjjro- 
visiert  und  nur  auf  Augenblickswirkung  berechnet.  Aber  diese  Wirkung 
war  eine  so  zündende,  dass  frühzeitig  dieser  mündliche  Verkehr  sein  Abbild 
in  der  Literatur  fand.  Die  Schüler  sammelten,  was  sie  selbst  von  den 
Meistern  gehört  und  was  die  Tradition  ihnen  bot,  immer  neue  Bearbeitungen 
bereicherten  den  Stoff  und  führten  ihn  weiter  aus.  Die  lose  aneinanderge- 
fügten Worte  wurden  zum  Teil  geordnet  nach  sachlichen  Rubriken  oder 
auch  nach  Szenen  :  Diogenes  bei  den  Räubern,  Diogenes  auf  dem  Sklaven- 
markt, Diogenes  und  Alexander,  Diogenes  in  Olympia.  Neuer  Stoff  wuchs 
zu,  indem  die  berühmtesten  Namen  die  sich  mehrende  Fülle  kursierender 
Kemworte  anzogen  ^  Das  Bonmot  wurde  dann  nur  noch  zum  Ausgangs- 
')  Unsere  Hauptquellen  sind  die  meist  aus  solchen  Apophthegmensammlungen 


Formen  der  kynischen  Propaganda.    Bion,  Teles,  römische  Satire  41 


punkte  oder  zur  Illustration  t'iut'r  brcitert'n  Ausführunjj,-  der  Situationen  und 
Gedanken  benutzt,  wie  sie  für  die  Diogenestraditionen  z.  B.  Dio  Chry- 
sostomos  gibt.  Die  Entwickelung  und  das  Wachstum  dieser  Literaturgattung- 
aus ihrer  urs})rünglic'h  gar  nicht  literaiischen  Grundlage  hat  die  schlagend- 
sten Parallelen  an  der  UeberlietVrung  des  Evangelienstoflfes,  nur  dass  hier 
die  religiöse  Pietät  die  Traditionen  früh  konsolidicit  und  vor  weiteren  Ent- 
stellungeiT  durch  üi)i)ig  wuchernde  Foi-tbildung  und  Umbildung  bewahrt  hat. 

Philosophen  anderer  Schulen  bewegen  sich  bald  in  denselben  volks- 
tümlichen und  in  ihrer  Wirkung  erprobten  Formen.  Bion  von  Borysthenes 
(um  280)  bildet  sie  fort  zu  einem  höchst  effektvollen  Vortrage,  indem  er 
den  Kynismus  mildert,  durch  Berührung  mit  andern  Philosoi)henschulen  den 
Gesichtskreis  erweitert,  die  Kunstmittel  der  hellenistischen  ]\Ioderhetorik 
wirkungsvoll  verwertet.  Die  grösste  Lebendigkeit,  sich  überstürzende 
Fragen,  fingierte  Einwürfe  der  Gegner  vmd  Antworten,  Einführung  personi- 
fizierter Abstraktionen,  Bevorzugung  lose  aneinander  gefügter  Glieder  vor 
periodischem  Satzbau,  alle  jene  volkstümlichen  Mittel  vmd  rhetorischen  Pointen 
kennzeichnen  den  Stil  der  neuen  Gattung,  der  Diatribe.  Sie  ist  das  stili- 
sierte Abbild  der  Formen,  in  denen  die  philosophische  Propaganda  auf  die 
Massen  wirkt,  wie  der  platonische  Dialog  den  Schuldialog  und  seine  er- 
zieherischen Wirkungen  idealisierend  darstellt.  Sie  ist  die  Abart  und  Aus- 
artung des  Dialoges,  der  in  ihr  nur  noch  rudimentär  fortlebt,  weil  der  zu 
der  ungebildeten  Menge  redende  Prediger  bei  ihr  nicht  die  Fähigkeit  zu 
lebendiger  Teilnahme  am  Gespräche  findet,  wie  der  Philosoph  im  engen 
Kreise  seiner  Jünger,  und  darum  selbst  den  Gedanken,  Vorurteilen,  Ein- 
wendungen der  Laien  Ausdruck  geben  und  sie  ihnen  gewissermassen  vom 
Gesicht  ablesen  muss. 

Wir  kennen  Bion  nur  aus  späteren  Zitaten,  die  die  Eigenart  seines 
starke  Effekte  suchenden  Stiles  deutlich  widerspiegeln.  Eine  Vorstellung 
von  der  Anlage  seiner  Diatriben  ermöglichen  uns  sechs  noch  erhaltene  Ver- 
träge des  Kynikers  Teles  (um  250),  die  als  moralphilosophische  Traktate 
publiziert  sind.  Sie  sind  unter  dem  starken  Eindrucke  des  bionischen  Vor- 
bildes entstanden,  und  für  die  glücklichsten  Pointen  und  Vergleiche  wird 
Bion  wiederholt  als  Quelle  zitiert.  Der  unbedeutende  und  unselbständige 
Nachahmer  ist  für  uns  wdchtig  als  Vertreter  der  Gattung,  als  einer  der  vielen 
in  der  Reihe  dieser  ephemeren,  ebenso  schnell  vergehenden  wie  sich  immer 
wieder  erneuernden  Produktionen. 

Die  Kette  der  griechischen  Ueb erlief erung,  aus  der  uns  zufällig  das 
eine  GKed  erhalten  ist,  reisst  dann  für  uns  ab,  bis  die  römischen  Nach- 
bildungen uns  die  griechischen  Originale  zu  ersetzen  beginnen.  Der  zufällige 
Bestand  des  uns  Erhaltenen  darf  über  die  zusammenhängende  Kontinuität 
und  das  ununterbrochene  Fortleben  der  Formen  nicht  hinwegtäuschen. 
Ausdrücklich  bezeugt  Cicero  die  Existenz  zahlreicher  popularphilosophischer 
Traktate,  und  wir  wissen  auch,  dass  solche  Themata  in  den  Rhetorenschulen 
zur  Uebung  behandelt  wurden;  Horaz  setzt  den  Typus  des  Moralpredigers 
und  seiner  Schriftsteller  ei  als-  bekannt  voraus  und  polemisiert  gegen  mehrere 
Repräsentanten  der  Gattung  (Wendland,  Beiträge  S.  6.  63.  64).  Er  selbst 
führt  in  den  bunt  gemischten  Inhalt  der  römischen  Satura  auch  philosophi- 
sche Themata  ein  und  behandelt  sie  zum  Teil  in  engem  Anschluss  an  grie- 
chische Vorlagen,  wie  manche  uns  erhaltene  griechische  Paralleltexte  beweisen. 


U 


kontaminierten  Kynikerbriefe  (I  Jahrh.  n.  Chi\)  und  Diogenes  Laert.  VI.  Erheb- 
lich höher  hinauf  führen  die  Diogenes-Anekdoten  eines  Pap.  des  I  Jahrh.  v.  Chr. ; 
s.  Crönert  in  Wesselvs  Studien  VI  S.  49  ff. 


■12  \'   I^lK   PHILOSOPHISCHE  PROPAGANDA:   1   GESCHICHTE  DER  DiATRIBE 

Der  leichte  Gesprächston,  welcher  der  Diatribe  und  der  Satire  gemeinsam 
war,  knüpfte  dies  ganz  natürliche  Band,  das  auch  die  weitere  Entwickelung 
der  Diatribe  wesentlich  bestimmt  hat.  Denn  nach  Form  und  Gehalt  hängen 
auch  die  Satiren  des  Persius  (um  60  n.  Chr.)  und  des  Juvenal  (um  100) 
aufs  engste  mit  der  Diatribe  zusammen.  Die  Art  der  Vermittelung  zwischen 
beiden  Gattungen  ist  eine  gar  mannigfaltige.  Die  Geschichte  der  einzelnen 
Themata  und  Motive  lässt  sich  oft  durch  Jahrhunderte  verfolgen,  aber 
Quellenuntersuchungen,  die  auf  bestimmte  Namen  auslaufen,  führen  hier  nicht 
zum  Ziele,  weil  sie  nicht  mit  unzähhgen  ims  verlorenen  Mittelgliedern  rechnen. 
Der  Typus  der  horazischen  Satire  hat  auf  Persius  und  Juvenal  stark  ge- 
wirkt. Von  beiden  wissen  wir,  dass  sie  durch  die  Schule  der  Moderhetorik 
(S.  31.  35)  durchgegangen  sind,  die  ein  später  römischer  Sprössling  jener  hel- 
lenistischen Rhetorik  war,  die  schon  den  Bion  beeinflusst  hatte.  Auch  diese 
Moderhetorik,  die  jene  Stilmittel,  die  vnr  schon  bei  Bion  und  Teles  beob- 
achteten, lebendig  erhalten  hatte,  behandelte  popidarphilosophische  Themata. 
Und  Persius  selbst  schildert  in  der  schönsten  seiner  Satiren  (V),  was  er  der 
engen  Lebensgemeinschaft  und  der  Innigkeit  des  Verkehres  mit  dem  Stoiker 
Cornutus,  seinem  Lehrer,  zu  verdanken  habe.  —  Wenn  Horaz  selbst  Epist. 
II  2,  60  die  Diatriben  des  Bion  als  sein  Vorbild  nennt,  so  "will  er  nur  einen 
besonders  berühmten  und  typischen  Repräsentanten  der  Gattung  nennen. 
Uebernommen  hat  er  nachweislich  auch  manche  Gedanken  des  Aristipp  und 
des  Ariston,  die  der  Art  des  Bion  verwandt  sind ;  und  bestimmt  hat  ihn  zu 
dieser  Bereicherung  der  Satire  mit  Diatribenstoifen  gewiss  vor  allem  das 
dauernde  Fortleben  dieser  Gattung,  deren  Bedeutung  ihm  die  Aufgabe  nahe 
legte,  sie  durch  dichterische  Verklärung  in  eine  höhere  Sphäre  zu  heben. 
Die  mancherlei  Kanäle,  durch  die  ihm  die  alten  und  immer  wieder  neu  aus- 
geprägten Gedanken  der  Diatribe  zugeführt  sind,  aufzufinden,  müssen  wir 
verzichten,  zumal  die  Wirkung  des  lebendigen  Wortes  auf  diesem  Gebiete 
nicht  zu  unterschätzen  ist. 

Der  Grundton  und  die  hervorstechende  Farbe  der  gesamten  Schrift- 
stellerei  des  Philosophen  Seneca  ist  der  Diatribenstil.  In  das  sittliche  Pathos 
dieses  Stiles  lässt  Seneca  mit  Vorliebe  auch  die  physikalischen  Erörterungen 
der  Naturales  quaestiones  auslaufen,  den  Brief  hat  er  fast  ganz  der  Herr- 
schaft dieses  Stiles  unterworfen.  Auch  hier  hilft  uns  Teles  wesentlich,  die 
Genesis  des  Stiles  Senecas  bis  in  die  hellenistische  Rhetorik  zurückverfolgen 
zu  können.  Aber  auch  hier  ist  keine  direkte  Verbindung  anzuknüpfen, 
sondern  es  sind  mannigfache  Vermittelungen  durch  die  jüngere  Diatribe  und 
durch  die  den  Weg  der  Philosophie  so  vielfach  kreuzende  und  an  den  alten 
Stoffen  sich  versuchende  Schulrhetorik,  welche  die  stilistische  Entwickelung 
Senecas  in  ihrer  Richtung  bestimmt  hat,  anzunehmen. 

Die  Diatribe  ist  in  ihrer  anfänglichen  kynischen  Gestalt  eine  eigen- 
artige Mischung  von  Ernst  und  Scherz,  ein  echter  Repräsentant  der  kyni- 
schen Gattung  des  aTCODOa'.OYsXotov,  das  skurrile  Element  tritt  ursprünglich 
stark  in  ihr  hervor.  Von  diesem  Zuge  war  beherrscht  die  seit  Diogenes 
üppig  wuchernde  und  in  verschiedenen  Gattungen  sich  versuchende  parodische 
Poesie  der  Kyniker,  auch  sie  ein  Erzeugnis  jener  Kontrastwirkungen  gegen 
die  geltenden  Grössen,  die  der  Kynismus  auf  allen  Gebieten  suchte,  und  mit 
der  Diatribe  in  Stimmung  und  Motiven  nah  verwandt.  Wir  haben  noch 
interessante  Reste  solcher  Parodien  und  Tiacyvoa^  Und  auch  hier  gibt  uns 
wieder  eine  römische  Nachbildung,  Varros  mit  der  Diatribe  sich  vielfach  be- 
rührenden   Saturae    Menippeae,    und   daneben  Lucian   eine  Vorstellung   einer 


0  Wachsmuth,  SUlographi^  S.  68  ff. 


Seiieca,  kyuische  Parodie,  spätere  Diatribe.    Volkspredigt  43 

Art  dieser  kynischen  Dichtimg',  der  aus  Versen  und  Prosa  gemischten  Satiren 
des  Menippos  von  Gadara  (um  280). 

Die  Stilformen  der  alten  Diatribe  treten  später  nur  in  den  von  Arrian 
mit  so  musterhafter  Treue  wiedergegebenen  Gesi)räclien  Epiktets  und  auch 
bei  Plutarch  stärker  hervor.  Philo  und  Musonius  in  seinen  von  Lucius  aufge- 
zeichneteji  Gesprächen  vertreten  zuerst  einen  neuen  Typus  des  populären 
Traktates,  der  sich  trotz  aller  Abhängigkeit  von  der  älteren  Entwickelung 
stilistisch  scharf  von  der  alten  Diatribe  scheidet.  Uebersichtliche  Disposition, 
systematische  Ordnung  der  Gedanken,  breite  und  doktrinäre  Darlegung,  ge- 
rundeter Periodenbau,  Entfernung  oder  Milderung  jener  grellen  Lichter  und 
starken  Effekte,  Zuiiicktreten  des  dialogischen  Elementes  sind  die  unter- 
scheidenden Merkmale.  Wie  die  alte  Diatribe  die  lebhaft  bewegte,  tem- 
peramentvolle, prickelnde  Beredsamkeit  der  hellenistischen  Zeit,  so  zeigt  die 
junge  den  gleichmässigen  Fluss  der  attizistischen  Rhetorik.  Dieser  Ueber- 
gang  der  Diatribe  in  die  zusammenhängende  Predigt  oder  Abhandlung  wird 
es  auch  erklären,  dass  0'.o(.xp'J^!],  b'AXz^ig,  otaXoyo;,  o[v.lia  immer  mehr  den 
ursprünglichen  Sinn  der  Wechselrede  verlieren  und  die  allgemeine  Bedeutung 
des  Vortrages  oder  der  Abhandlung  annehmen.  Durch  die  ruhige  Haltung 
des  lehrhaften  Vortrages  verliert  die  Diatribe  den  besonderen  Reiz  jenes 
Stiles,  der  auch  trivialen  Gedanken  durch  originelle  Fassung  und  konkrete 
Einkleidung  ihre  Wirkung  sicherte.  Die  wiederholte  Behandlung  immer 
gleicher  Themata  führt  zur  Ausbildung  konventioneller  Formen  und  stereo- 
typer Gemeinplätze,  zu  bestimmten  Gedankengruppierungen,  welche  die  Pro- 
duktion auf  diesem  Gebiete  vielfach  recht  eintönig  gestalten.  Sehr  lehrreich 
ist  in  dieser  Hinsicht  die  weitgehende  Uebereinstimmung  zwischen  Philo  und 
Musonius,   die  sich  nur  aus  der  Kontinuität  der  Tradition  erklären  lässt. 

Durch  Wärme  und  Wahrheit  des  Gefühls,  Reichtum  der  Erfahrung, 
Originalität  der  Formen  überragt  die  grosse  Schar  der  Moralisten  Dion 
Chrysostomos,  der  als  echter  Wanderprediger  die  Grundsätze  der  kynisch- 
stoischen  Etliik  in  Städtereden,  bei  den  Barbaren,  am  Hofe  verkündet  hat. 
Die  weitere  Entwickelung,  in  der  Maximus  (II  Jahrh.),  Themistios,  auch 
Libanios  und  Julian  (alle  IV  Jahrh.)  besonders  hervortreten,  ist  durch  den 
wachsenden  Einfluss  des  Piatonismus  und  die  Herrschaft  der  Rhetorik  be- 
stimmt. Die  theologische  Predigt  sehen  wir  bei  Aristides  und  Julian  neben 
die  ethische  treten. 


2  Bedeutung  der  philosophischen  Propaganda 

Für  den  Fortschritt  des  philosophischen  Denkens  hat  die  Diatribe 
nichts  zu  bedeuten,  und  so  bringen  ihr  denn  auch  die  Historiker  der  Philo- 
sophie, deren  Zweck  w^esentlich  auf  die  Darstellung  des  Gedankenzusammen- 
hanges der  Systeme  gerichtet  ist,  ein  geringes  Interesse  entgegen.  Um  so 
grösser  ist  die  kulturgeschichtliche  Bedeutung  der  Diatribe  und  der  philo- 
sophischen Massenpropaganda,  aus  der  diese  Literaturgattung  herausgewach- 
sen ist.  Weit  mehr  durch  das  lebendige  Wort  als  durch  die  Schrift  hat 
diese  Propaganda  Grosses  geleistet  für  die  Volksaufklärung,  die  sittliche  Er- 
ziehung der  Menschheit,  die  Anerkennung  fester  sittlicher  Grundbegriffe.  Es 
ist  nur  ein  Symptom  der  mehr  in  die  Breite  als  in  die  Tiefe  gehenden  Ent- 
wickelung der  Philosophie,  dass  die  Historiker  Polybios,  Diodor,  Tacitus, 
der  Geograph  Strabo,  Dichter  wie  Vergil  und  Horaz  einen  philosophischen 
Untergrund  für  ihre  Stimmungen  suchen  —  auf  ein  System  darf  man  sie 
darum  nicht  festlegen  — ,    dass  Lukrez  Epikurs  Lehre    und    Manilius  Astro- 


44  V  DiK  i'iiii,080i'm.sc'HK  Propaganda:  2  JiinK  Bedeutung 

logie  und  stoische  Schicksalslehre  in  Verse  fassen,  dass  philosophische  Flos- 
keln in  Grabschriften  und  im  Alltagsf^ekritzel  sich  breit  machen.  Ein  ge- 
wisses Gemeingut  philosophischer  Gedanken  bestimmt  das  Durchschnitts- 
niveau der  Bildung".  So  unerfreulich  manche  Begleiterscheinungen  dieser 
l)hilosophischen  Aufklärung  sind,  so  sehr  die  in  diese  Richtung  geleitete 
Propaganda  die  Philosophie  ihren  höchsten  Aufgaben  entfremdet,  ihre  In- 
teressen verengert  und  ihre  Entwickelung  gehemmt  hat,  so  gross  ist  doch 
die  moralische  Wirkung  der  Bewegung  zu  veranschlagen.  Lange  ehe  die 
christlichen  Prediger  die  neue  Botschaft  durch  die  Welt  trugen,  sind  heid- 
nische Prediger  im  derben  Tribon,  mit  Stock  und  Ranzen  ausgerüstet,  bar- 
fuss  und  mittellos  dieselben  Wege  gewandelt,  der  Menschheit  eine  neue  Bot- 
schaft zu  bringend  In  den  Gräueln  und  W^irren  der  ersten  hellenistischen  Zeit, 
in  einer  aus  den  Trümmern  der  Vergangenheit  zu  neuem  Leben  sich  empor- 
ringenden, von  allen  Erschütterungen  der  Uebergangszeit  und  der  Ungewiss- 
lieit  der  Zukunft  gequälten  Gesellschaft  fanden  die  kynischen  Prediger  zu- 
erst den  fruchtbaren  Boden  für  ihre  Mission  und  die  Formen  der  volkstüm- 
lichen Predigt,  die  dann,  von  den  anfänglich  rohen  Mitteln  und  skurrilen 
Formen  befreit,  das  bessere  Gewissen  und  die  höheren  Ideale  einer  in  ba- 
nausisches Genussleben  und  sittliche  Entartung  versinkenden  Menschheit  dar- 
stellen konnte.  Diese  Prediger  fühlen  sich  als  Träger  einer  höheren  Mission 
und  göttliche  Sendboten,  welche  die  Menschheit  zu  beobachten  und  zu  be- 
aufsichtigen haben,  als  Aerzte,  die  sich  der  kranken  Menschheit  annehmen 
müssen  -. 

Die  etliische  Massenpropaganda  nimmt  dann  einen  neuen  Aufschwung 
und  erreicht  ihre  höchste  Blüte  in  der  römischen  Kaiserzeit.  Aehnliche  Be- 
dingimgen  wde  im  Anfang  der  hellenistischen  Periode  erklären  den  Umfang 
der  über  aUe  Grossstädte  sich  ausbreitenden  und  die  weitesten  Kreise  er- 
greifenden Bewegung,  Der  sinnlose  Luxus  und  die  Orgien  des  Lasters,  der 
wachsende  Druck  des  Despotismus  und  der  sich  ihm  fügende  Servilismus  sind 
schon  im  I  Jalirh.  n.  Chr.  deutliche  Vorzeichen  der  bei  aller  Höhe  der  ma- 
teriellen Kultur  verfallenden  Zivilisation  und  der  sittlichen  Entartung.  Frei- 
lich verdanken  wir  ja  wesentlich  den  Moralisten  und  Schriftstellern,  die  von 
ihrer  strengen  Richtung  beeinflusst  sind,  die  grösste  Fülle  der  Zeugnisse  für 
die  sittlichen  und  gesellschaftlichen  Zustände  der  Zeit,  und  gewiss  hat  das 
Pathos  moralisierender  Deklamation  sich  von  Uebertreibungen  und  Verallge- 
lueinerungen  nicht  frei  gehalten.  Und  wir  dürfen  diese  Sittenschilderungen 
nur  für  das  Leben  der  Hauptstädte  verwerten.  Aber  wer  da  meinen  möchte, 
dass  die  Klagen  ernster  und  patriotischer  Schriftsteller  mehr  in  überstrenger 
Moral  als  in  dem  wirklichen  Zustande  der  höheren  Gesellschaft  begründet 
seien  ^,  den  wird  besonders  die  Lektüre  Martials,  der  wie  früher  Ovid  die 
Durchschnittsmoral  der  römischen  Gesellschaft   repräsentiert,    eines  Besseren 


')  xaxäoy.o-LOc;  und  i-iaxo-o;:  Reiche  Stellensammluug-  bei  Norden,  Jahrb.  Suppl. 
XIX  S.  377  ff.  Aus  dem  Vorwurf  des  uliena  negotia  curare,  der  dem  Kyniker  öfter 
gemacht  wird  (Horaz  Sat.  II  3,  19,  Epiktet  lU  22,  97)  erklärt  Zeller  (Sitzungs- 
bericht Akad,  Berlin  1893)  den  I  Petr  4  15  gebrauchten  Ausdruck  äXXoTpiosTiioxoTios. 
'^)  Auf  den  Vorwurf  schlechten  Umganges  erwidert  Antisthenes  bei  Diog.  Laert. 
VT  6  -/.al  oi  la-cpoL  \i.z~%  zilvi  ^/oao<'i'^-:or/  siaiv,  ccX/>'  oi)  Ti'jpsx-o'jGiv.  Diogenes  in  Sto- 
bäus'  Florileg.  III  S.  462,  14  Hense:  oOSs  y^P  '-«"P^?  Oy.sia;  ü)v  r.oir^-.'.v.bz  §v  Toig  Oyt- 
aivo'ja-.  Tr,v  5!.a-:p'.^7)v  Tiotslxai,  vgl.  Dio  Chrys.  Rede  VIII  §  5  (Sternbach,  Wiener  Stu- 
dien IX  S.  191).  AehnUch  Matth  9  u.  12  (vgl.  dazu  H.  Grotius).  —  Epiktet  lU  23, 
30  iaxpetöv  iax-.v,  ävdpeg,  x6  xoü  cptXojöcpou  oxoXelov.  ^)  Ich  selbst  habe  Beiträge 

S.  6.5.  66  falsch  geurteilt. 


Ilire  IMüte  in  dt'r  KaisiTzcit.    Neue  Stelluiij,'-  der  IMiilosopliie  45 


belehren.  Das  Bild  der  römischen  Gesellschaft,  das  dieser  formgewandte 
Dichter  uns  vor  Augen  stellt,  ist  ein  höchst  unerfreuliches.  Mit  kynischer 
Offenheit  enthüllt  er  die  Geheimnisse  der  widernutürlichen  Laster  und  sieht 
an  den  ärgsten  Auswüchsen  nur  die  läclierliche  Seite.  Zwischen  Reichtum 
und  Proletariat  fehlt  der  starke  iNIittelstand.  Die  Exist(i;nz  des  nicht  be- 
sitzenden Bürgertums  ist  zum  grossen  Teil  auf  öffentliche  Spenden  und  auf 
Klientenbettel  bei  den  Reichen  gegründet,  und  den  höchsten  Ton  sittlicher 
Entrüstung  findet  der  Dichter,  wenn  er  über  das  Knausern  der  Wolühaben- 
den  mit  den  Sportein  klagt.  Und,  was  diese  Gesellschaft  am  meisten  von 
der  moderner  Grossstädte  zu  ihren  Ungunsten  imterscheidet,  die  Arbeit  fehlt 
im  Tageslauf  der  Freien  oder  nimmt  den  geringsten  Platz  ein  '.  Die  ethi- 
sche Predigt  ist  die  berechtigte  Reaktion  gegen  die  Verkommenheit  der  Ge- 
sellschaft, die  Antwort  auf  die  Propaganda  des  Lasters,  und  es  ist  natür- 
lich, dass  sie  den  schweren  Uebeln  scharfe  Heilmittel  entgegensetzt.  Seit 
dem  I  Jahrh.  v.  Chr.  hat  die  neup^-thagoreische  Sekte  mit  ihrer  reinen  Ethik, 
asketischen  Lebensweise,  strengen  Diät  erfolgreich  Anhänger  geworben.  Seit 
dem  I  Jahrh.  n.  Chr.  erstellt  der  Kynismus  zu  neuem  Leben  und  nimmt  den 
Kampf  gegen  die  verderbte  AVeit  energisch  Avieder  auf.  Die  Stoiker  selbst 
erinnern  sich  wieder  ihres  Ursprunges  und  greifen  vielfach  auf  die  strengeren 
Lebensformen  und  Grundsätze  der  Kyniker  zurück;  es  ist  oft  nur  eine 
schmale  Grenzscheide,  die  Kyniker  und  Stoiker  trennt-.  Die  starke  An- 
näherung imd  Ausgleichung  der  Moral  der  verscliiedenen  Philosophenschulen 
ist  überhaupt  für  die  Zeit  charakteristisch.  Was  wir  von  stoischen,  kyni- 
schen,  neupythagoreischen  Moraltraktaten  haben,  ist  in  der  Walil  der  The- 
mata, Tendenz,  Haltung  gleichartig,  nur  in  Ton  und  Nuance  verschieden. 
Aber  die  Literatur  ist  eine  mehr  zufällige  Begleiterscheinung  einer  ausge- 
breiteten, auf  das  lebendige  Wort  und  persönliche  Einwirkung  gestellten 
Propaganda,  die  seit  der  hellenistischen  Zeit  der  sozialen  Stellung  der  Pliilo- 
sophen  ganz  neue  Formen  geschaffen  hat.  Als  Berater  und  Seelsorger  nehmen 
sie  in  den  vornehmen  Häusern  und  auch  bei  Hofe  eine  ähnliche  Stellung  ein 
wie  später  die  Schlosskapläne  ^.  Bei  Unglücksfällen  spenden  sie  in  wohlge- 
setzter Rede  Trost  und  werden  ans  Bett  der  Sterbenden  gerufen^.  Als 
Hofmeister  überwachen  sie  den  Lebenswandel  vornehmer  Zöglinge,  die  sie 
oft  auf  Universitäten  begleiten.  Seneca  hat  solche  erzieherische  Tätigkeit 
bei  Nero  erfüllt,  ohne  ihn  dauernd  in  bessere  Bahnen  leiten  zu  können;  er 
hat  dann  im  kleinen  Kreise  der  ihm  Nächststellenden  eine  eminent  seelsorge- 
rische und  individuell  gestaltete  Wirksamkeit  entfaltet  (o.  S.  21).  Einen 
kleinen  Kreis  eng  verbundener  Jünger  sammeln  Cornutus  in  Rom,  Epiktet 
in  Nikopolis,  sein  Lehrer  Musonius  sogar  in  seiner  Verbannung  auf  Gyara 
zu  regelmässigem  Unterrichte  um  sich,  in  dem  es  in  erster  Linie  auf  sitt- 
liche Erziehung  und  Seelenleitung  abgesehen  ist^,  wenn  auch  daneben  die 
theoretische  Unterweisung  nicht  fehlt.  Dass  Musonius  und  Epiktet  nichts 
geschrieben  haben,  zeigt  schon  allein,  wo  sie  den  Schwerpunkt  ihrer  Tätig- 
keit suchten.     Die  zündende  Wirkung  der  Vorträge  eines  Fabianus  und  De- 


*)  Für  varü  labores  setzt  Martial  IV  8  in  seiner  Beschreibung  des  Tageslaufes 
des  Römers  zwei  volle  Stunden  an;  vgl.  Plinius  Epist.  I  9.  -)  Wendlaud, 

Quaest.  Musonianae  S.  16;  Norden,  Jahrb.  Suppl.  XIX  S.  392  ff.  »^  Beispiele 

bei  Diels,  Doxographi  S.  82.  83.  *)  Die  Chrys.  R.  XXVH  §  9.  -^)  Ueber 

Cornutus  s.  Persius  Sat.  V,  wo  er  63  als  cultor  imenum  bezeichnet  wird.  Er  hatte 
also  einen  ähnlichen  Kreis  um  sich  wie  einst  Teles  (Wilamowitz  S.  301.  306).  Ueber 
Musonius  s.  Henses  Ausgabe  S.  XIV  41,  13  ff.,  über  Epiktet  Bruns,  De  schola  Epic- 
teti,  Kiel  1897. 


46  V  Die  philosophische  Propaganda:  2  Ihre  Bedeutung 


raetrius  in  Rom  bezeugt  der  Philosoph  Seneca.  Ungeheuer  muss  nach  der 
häufigen  Erwähnung  in  der  Literatur  die  Zahl  derer  gewesen  sein,  die  als 
\'olksprediger  und  Missionare  der  Sittlichkeit  ihr  Leben  der  ganzen  Mensch- 
heit widmen  wollten.  Auf  dem  Markt  und  auf  den  Strassen,  im  Alltags- 
getriebe und  bei^  den  Festversammlungen  treten  sie  wie  in  England  die 
Apostel  der  Heilsarmee  auf,  wo  sie  nur  andächtige  oder  neugierige  Hörer 
linden,  und  suchen,  wenn  sie  ihren  Samen  ausgestreut  haben,  eine  neue 
Stätte  der  Wirksamkeit. 

Diese  Moralisten  äussern  sich  oft  über  den  Zweck  ihrer  Mission.  Sie 
wollen  nicht  neue  Gedanken  finden  und  stellen  nicht  den  Anspruch,  die 
Pliiloso})hie  zu  bereichern.  Es  gilt  deren  längst  gefundene  Grundwahrheiten 
aus  der  grossen  Masse  des  toten  Wissens,  der  unfruchtbaren  dialektischen 
Subtilitäten,  der  überflüssigen  Probleme  herauszustellen,  richtig  anzuw^enden 
imd  wirkungsvoll  als  die  Heilmittel  gegen  die  sittliche  Verderbtheit  der 
Menschen  zu  verkünden  ^.  Es  gilt  die  Menschen  aus  ihrem  vielgeschäftigen, 
nichtige  Ziele  verfolgenden  Treiben  zurückzuführen  auf  die  eine  allein  mch- 
tige  Sorge  um  ilire  Seele  und  um  ihr  wahres  Heil.  So  treten  denn  in  den 
Vordergrund  dieser  erzieherischen  Einwirkung  die  eindringlichen  Fragen,  die 
den  Menschen  zur  Selbstbesinnung,  zur  Erkenntnis  seines  wahren  Wesens 
und  seiner  Bestimmung  führen,  ihm  den  Anstoss  zu  einer  neuen  sittlichen 
Entwickelung  geben  sollen.  Wer  bist  du,  wozu  bist  du  bestimmt  und  be- 
rufen -  ?  Worin  suchst  du  dein  Glück,  und  was  ist  dein  wahres  Gut  ?  Die 
Betonung  des  Wertes  der  Seele  und  eines  ihr  tiefstes  Sehnen  befriedigenden 
Innenlebens  gegenüber  der  sinnlich  fleischlichen  Natur  und  den  zerstreuen- 
den Einflüssen  der  W^elt,  die  Schätzung  der  das  Glück  im  Lmern  suchenden 
geistigen  Unabhängigkeit  gegenüber  allen  es  dem  Schwanken  der  äusseren 
Lebensbedingungen  und  der  Unsicherheit  der  äusseren  Güter  unterwerfenden 
Lebensauifassungen,  die  energische  Antithese  der  wahren  Werte  und  der 
Scheinwerte  setzt  sich  zum  Ziel,  eine  innere  Wiedergeburt'',  die  Herrschaft 
des  besseren  Ich,  eine  Entscheidung  herbeizuführen,  die  oft  als  W^ahl  zwischen 
zwei  Wegen  ^  dargestellt  wird.  Aber  diese  Bekehrung  ist  nur  der  Beginn 
eines  fortgesetzten  Prozesses  der  Erziehung  und  Selbsterziehung,  der  oft  in 
durchgeführtem  Vergleiche  mit  der  Genesung  des  Kranken  °,  mit  einem  zu 
immer  entscheidenderen  Siegen  führenden  Kampfe  "^  verglichen  wird.  Für 
die  Methode  dieser  Seelenerziehung  und  für  die  Vertiefung  des  Innenlebens, 
die  sie  fordert,  charakteristisch  ist  die  oft  eingeschärfte  Forderung,  am 
Abend  jeden  Tages  dessen  sittlichen  Gewinn  durch  genaue  Prüfung  festzu- 
stellen '. 

Die  Popularpliüüsophie  beschränkt  sich  nicht  darauf,  in  einem  uner- 
schöpflichen Reichtum  vdrkungsvoUer  Formen    die  Grundsätze  der   sittlichen 


1)  Seneca  Ep.  64,  8,  Die  Chrys.  R.  XVII  Anfang.  ^)  Epiktet  U  10  be- 

liandelt  das  Thema  axä-^ai  t-s  zl,  vgl.  I  6,  25.  III  1,  22.  23.  M.  Aurel  VIII  52,  Seneca 
Ep.  41,  7  ff.  82,  6,  Persius  III  67.  Ich  zitiere  hier  und  im  folgenden  von  vielen  Be- 
legen nur  einige  besonders  charakteristische.  *)  Seneca  Ep.  6,  der  davon  den 
Ausdruck  transfigurari  gebraucht,  53,  8.  94,  48.  *)  O.  Jahn  zu  Pers.  III  56,  Nor- 
den, Kunstprosa  S.  467.  477.  Diogenes'  Brief  30  und  12,  Heinrici,  Beiträge  HI,  Leipzig 
1905,  S.  89.  •')  Wendland,  Quaest.  Musonianae  S.  12,  Zeller  III  1  S.  740.  «)  Vgl. 
Literaturformen  II  4,  Seneca  Ep.  59,  7 ;  E.  Weber,  Leipziger  Studien  X  S.  136  ff.  178. 
")  Goldenes  Gedicht  40  ff.,  Seneca,  De  ira  HI  36,  1  (vgl.  De  vita  beata  2,  2.  .3),  Epik- 
tet III  10,  3.  Marc  Aureis  Selbstgespräche  stellen  solche  fortgesetzte  Selbst- 
prüfung dar.  Zurückziehung  auf  sich  selbst,  Beschäftigung  mit  seinem  Innern 
empfiehlt  Seneca  oft.    Dio  Chrys.  behandelt  R.  XX  das  Thema. 


Sittliche  Erziclmii;;-  und  Selbsterzielmnji^-.    Gemeinplätze  47 

Erneuerung'  zu  predigen;  sie  wendet  sie  auch  auf  alle  einzelnen  Gebiete  des 
Lebens  regelnd  und  vorschreibend  an  und  schafft  in  ihrer  späteren  Ent- 
wickelung  in  eingehender  Kasuistik  eine  Art  Pflichtenkodex.  Der  Reihe 
nach  behandelt  Hierokles  in  den  Exzerpten  des  Stobäus  die  Pflichten  gegen 
Vaterland,  Eltern,  Blutsverwandte,  die  Ehe,  in  einem  verlorenen  Teile  auch  den 
Haushalt;  und  wir  haben  nur  einen  Ausschnitt  dieses  Werkes  ^  Die  Grund- 
sätze des'naturgemässen  Lebens  führt  Musonius  (und  ähnlich  Philo)  auf  den 
Gebieten  der  Kleidung,  Wohnung,  Ernährung  bis  ins  einzelne,  ja  ins  Klein- 
liche durch  mit  einer  Lehrhaftigkeit,  die  das  Gebiet  der  Adiaphora  aufs 
äusserste  einschränkt.  Ebenso  behandelt  er  eingehend  das  Verhältnis  der 
Geschlechter  zueinander  und  bekämpft  mit  reinen  und  strengen  Grundsätzen 
die  schlimmsten  Laster  der  antiken  Welt  und  die  Lässigkeit  ihres  mora- 
lischen Bewusstseins  -. 

Dazu  kommt  einfe  ungeheure  Fülle  in  Predigt-  und  Traktatform  be- 
handelter Gemeinplätze,  von  denen  ich  nur  einige  Lieblingsthemata  hervor- 
hebe :  Ermunterungsschriften  zur  Beschäftigung  mit  der  Philosophie  (jzpoxpe.- 
Tixtxo:)  und  Trostschriften -^  beide  bis  in  die  Sophistik  zurückreichend  und 
in  der  christlichen  Literatur  sich  fortsetzend.  Oft  wird  das  zeitgemässe 
Thema  behandelt,  dass  die  Verbannung  kein  Uebel  sei^.  Kynisch  -  stoisch 
sind  die  Themata,  dass  der  Weise  allein  frei%  allein  adlig  sei''.  Alter  und 
Freundschaft '  geben  ergiebigen  Stoff.  Wie  lebhaft  und  ernsthaft  die  Fragen 
der  Erziehung  behandelt  werden,  ist  schon  S.  38  erwähnt  worden.  Der 
sittlichen  Erziehung  dienten  auch  die  Florilegien,  die,  seit  hellenistischer  Zeit 
beliebt,  immer  mehr  nach  einseitig  moralischen  Gesichtspunkten  redigiert 
einen  Schatz  von  Kernsprüchen  und  erbaulichen  Gedanken  vermittelten.  Das 
wertvollste  der  uns  erhaltenen,  die  Anthologie  des  Johannes  von  Stobi,  die 
aber  nur  den  späten  Niederschlag  einer  reichen  ihr  voraufliegenden  Litera- 
tur darstellt,  hat  viel  von  den  Traktaten  der  Popiüarpliilosophie  vor  dem 
Untergange  gerettet. 

Auch  das  religiöse  Element,  in  den  Anfängen  der  kynischen  Diatribe 
wesentlich  durch  die  Negation  der  herrschenden  Religionsformen  und  durch 
Polemik  gegen  Aberglauben  vertreten,  ge^^innt  im  Zusammenhang  mit  der 
später  zu  zeichnenden  religiösen  Strömung  eine  grössere  positive  Bedeutung. 
Den  anthropomorphen  Göttervorstellungen  und  dem  naiven  Bilderdienst  Avird 
ein  geistiger  Gottesbegriff,  den  äusseren  Zeremonien  und  den  törichten  Ge- 
beten und  Gelübden  wird  die  Reinheit  des  Herzens  als  das  beste  Opfer,  die 
Ergebung  in  den  göttlichen  Wülen  als  das  wahre  Gebet  gegenübergestellt*^. 

Dass  \dele  unlautere  Elemente  in  den  Formen  der  philosophischen  Pro- 
paganda  sich  breit   machten    und    den    Namen    des    Philosophen    in   Verruf 


')  Eine  ähnliche  Aufzählung  der  Pflichtenki-eise  bei  Plut.  De  liberis  educ. 
10,  Persius  HI  67  flf.  und  Epiktet  H  10  (Diog.  Laert.  VII  108.  109.  119.  120). 
2)  Reiches  Material  aus  der  antiken  Literatur  über  diese  Fragen  hat  Frachter 
a.  a.  0.  gesammelt.  ^)  Das  Material   aufgearbeitet  von  Hartlich  und  Bu- 

resch,  Leipziger  Studien  XI.  IX:  *)  Giesecke,  De  philosophorum  veterum 

quae  ad  exilium   spectant  sententiis,    Leipzig  1891.  ^)  Archiv  f.  Gesch. 

der  Philosophie  I  S.  .509  ff.  «)  Wendland,  Beiträge  S.  49  ff.,  Schütze 

S.  64  ff.  ')  Bohnenblust,  Beiträge  zum  Topos  IIspl  zOdot.^,  Benier  Diss.,  Berlin  1905. 

^)  Speziell  den  Gebeten  der  Menschen  ist  Persius  2.  Satire  (s.  O.  Jahns  Kom- 
mentar und  Houck,  De  ratione  stoica  in  Persii  satiris  conspicua,  Daventriae  1894 
S.  24  ff.)  und  Juvenals  10.  gewidmet.  Reiches  Material  für  die  Gedanken  der  reli- 
giösen Aufklärung  geben  Schütze  und  die  moderne  Literatur  über  Seneca,  Helm 
a.  a.  O.  S.  91  ff.  121  ff.  350. 


48  ^'  Dl'-  PHILOSOPHISCHE  Propaganda:  2  Ihre  Bedeutung 

brachten,  ist  schon  S,  37  erwähnt  worden'.  Aber  es  fehlt  auch  nicht  an 
Zeugnissen  tiefen  sittlichen  Ernstes  und  aufopfernder  Gesinnung,  mit  denen 
die  besten  Vertreter  der  philosojihischen  Mission  und  ethischen  Reformation 
ihren  Beruf  auffassten  und  erfüllten.  Musonius  führte  nach  dem  Berichte 
des  Gellius-  aus,  wenn  dem  Vortrage  des  Philosophen  wie  dem  des  Rhetors 
in  der  üblichen  überschwänglichen  Weise  Beifall  gespendet  werde,  sei  dies 
das  sicherste  Zeichen,  dass  Redner  und  Hörer  keinen  Gewinn  hätten.  Dann 
rede  gar  kein  Philosoph,  sondern  ein  Musikant  blase.  „Der  Geist  dessen, 
der  einen  Philoso])hen  hört,  findet,  wenn  die  Worte  nützlich  und  förderlich 
sind  \ind  Heilmittel  gegen  Irrtümer  und  Laster  beibringen,  gar  keine  freie 
Zeit  zu  überströmenden  Lobsprüchen.  Jeder  Hörer  des  Philosophen  muss, 
wenn  er  nicht  ganz  verdorben  ist,  während  seiner  Rede  Schauer  und  heim- 
liche Scham  und  Reue,  muss  Freude  und  Bewunderung  empfinden,  Aussehen 
und  Empfindung  wechseln,  je  nachdem  die  Behandlung  des  Philosophen 
durch  Berührung  der  gesunden  oder  der  kranken  Seiten  seines  Innern  auf 
sein  Gewissen  wirkt."  Schweigen  sei  das  Zeichen  innerer  Ergriffenheit  und 
Bewunderung.  —  Höchst  wirkungsvoll  zeichnet  Epiktet  III  22  ^  das  Bild  des 
kynisclien  Philosophen  einem  Schüler,  der  die  Philosophie  zu  seinem  Berufe 
machen  wollte :  Wer  ohne  Gott  eine  so  grosse  Aufgabe  übernimmt,  ist  gott- 
verhasst  und  unternimmt  nichts  anderes,  als  sich  öffentlich  lächerlich  zu 
machen.  Meinst  du,  Mantel  und  langes  Haar,  Ranzen  und  Stock  und  die 
polternden  Scheltreden  tun  es,  so  irrst  du.  Stellst  du  dir  die  Sache  so  vor, 
so  bleib'  fern  davon.  Geh'  nicht  heran,  es  ist  nichts  für  dich,  —  Der 
Philosoph  darf  den  gewöhnlichen  Menschen  nicht  gleichen.  Er  muss  frei 
sein  von  Begierden  und  Leidenschaften,  nichts  kennen,  das  er  zu  verstecken 
oder  dessen  er  sich  zu  schämen  hätte.  Seine  Seele  muss  rein  sein,  und  er 
muss  auf  dem  Standpunkt  stehen :  Jetzt  ist  meine  Seele  der  Stoff,  den  ich 
zu  gestalten  habe,  wie  der  Zimmermann  das  Holz,  der  Schuster  das  Leder. 
Meine  Aufgabe  ist  rechter  Gebrauch  der  Vorstellungen.  Der  elende  Leib 
geht  mich  nichts  an,  seine  Teile  gehen  mich  nichts  an.  Tod?  Komme  er, 
wann  er  will,  über's  Ganze  oder  einen  Teil.  Verbannung?  Kann  mich  denn 
jemand  aus  der  Welt  vertreiben?  Er  kann  es  nicht.  Wohin  ich  auch  gehe, 
da  ist  die  Sonne,  da  ist  der  Mond,  da  sind  die  Sterne,  Träume,  Götter- 
zeichen, Verkehr  mit  den  Göttern.  —  Aber  damit  nicht  genug,  der  wahre 
Kyniker  muss  sich  bewusst  sein,  dass  er  von  Zeus  her  zu  den  Menschen 
geschickt  ist  als  Bote  (äyYsXo:),  sie  über  Güter  und  Uebel  zu  lehren,  ihnen 
zu  zeigen,  dass  sie  in  die  Irre  gehen  und  das  Wesen  des  Gutes  und  des 
Uebels  da  suchen,  wo  es  nicht  ist,  und  nicht  bemerken,  wo  es  wirklich  ist, 
imd  als  Kundschafter  ("/.axaaxoTcos),  zu  erkunden,  was  den  Menschen  freund 
und  was  ihnen  feind  ist.  —  Er  muss  wie  auf  eine  tragische  Bühne  treten 
und  mit  Sokrates  *  rufen  können:  W^eh,  ihr  Menschen,  wohin  treibt  ihr,  was 
tut  ihr,  ihr  Unseligen!  Wie  Blinde  werdet  ihr  auf  und  ab  getrieben.  Den 
rechten  AVeg  habt  ihr  verlassen  und  geht  einen  andern,  sucht  Zufriedenheit 
und  Glück,  wo  es  nicht  ist.  Es  folgt  der  eindringende  Nachweis,  dass  das 
Glück  in  den  äusseren  Gütern  nicht  zu  finden  sei,  dann  §  38  der  Uebergang 
zum  positiven  Teile:  Wo  ihr  es  nicht  glaubt  und  wo  ihr  es  nicht  suchen 
wollt,  da  ist  das  Gut.    Denn  wolltet  ihr,  so  würdet  ihr  es  in  euerm  Innern 


')  Zeller  III  1  S.  765,  Schütze  S.  6,  Dio  Chrys.  R.  XXXII  §  9^11.  ^)  Noc- 
tes  atticae  V  1  (bei  Hense  S.  130),  ähnlich  Seneca,  Ep.  52,  11  ff.,  Epiktet  I  23,  87. 
=>)  Lehrreich  ist  der  Vergleich  mit  Dio  Chrys.  R.  LXXVHI  §  35—45.  *)  Ge- 

meint ist  der  pseudoplatonische  Kleitophon  p.  407  A.     Solcher  Eingang   der  Dia- 
tribe  ist  sehr  behebt;  s.  Weber,  Leipziger  Studien  S.  203. 


Idealbild  des  philosophischen  Erziehers.  49 

finden  und  nicht  draussen  umherscli weifen  und  nicht  das  Fremde  suchen,  als 
geliöre  es  eucla.  Kehrt  in  euer  Inneres  ein,  macht  eucli  klar,  welche  Vor- 
stellungen ihr  von  dem  Gut  habt.  Ihr  werdet  linden,  dass  es  seinen  Sitz 
nicht  haben  kann  im  Leibe,  dem  so  vielen  Leiden  unterworfenen  Teile  eures 
Wesens,  sondern  in  der  freien  Seele.  Die  bildet  aus,  für  die  sorget,  da 
suchet  das  Gut.  Doch  wie  kann  man  ohne  Besitz  und  Kleidung,  ohne  Be- 
dienung, obdach-  und  heimatlos,  zufrieden  leben?  Seht  mich  an,  ich  bin 
ohne  Obdach  und  Heimat,  ohne  Besitz  und  Bedienung.  Ich  schlafe  auf 
blossem  Boden.  Ich  habe  nicht  Weib,  Kind,  Palast,  ich  habe  nur  Erde, 
Himmel  und  einen  schäbigen  Mantel.  Und  was  fehlt  mir?  Bin  ich  nicht 
heiter,  bin  ich  nicht  sorglos,  bin  ich  nicht  frei?  Wann  habe  ich  Gott  oder 
Menschen  getadelt?  Wann  einem  Vorwürfe  gemacht?  Hat  mich  einer  von 
euch  verdriesslich  gesehen?  Wie  begegne  ich  denen,  die  ihr  fürchtet  und 
die  ihr  bewundert?  Nicht  wie  Sklaven?  Wer  meint  nicht,  wenn  er  mich 
sieht,  seinen  König  und  Herrn  zu  sehen?  —  Das  sind  Worte,  Charakter, 
Haltung  des  echten  Kynikers.  Das  äussere  Gebahren  tuts  nicht.  Darum 
prüfe  dich,  ob  du  die  Kraft  zu  dem  Berufe  besitzest  und  ob  Gott  dir  dazu 
rät.  Der  Beruf  führt  auf  eine  grosse  Höhe,  aber  auch  durch  harte  Schläge. 
Denn  auch  die  gehören  merkwürdiger  Weise  zum  Berufe  des  Kynikers.  Er 
muss  Schläge  empfangen  wie  ein  Esel  und  dabei  noch  die  ihn  sclilagen 
lieben,  als  wäre  er  aller  Vater  oder  Bruder.  Du  aber,  w^enn  dich  einer 
schlägt,  schreie  vor  allen  Menschen :  „0  Cäsar,  was  tut  man  mir  in  deinem 
Frieden  an!  Geh'n  wir  vor  den  Prokonsul!"  Aber  wer  ist  dem  Kyniker 
sonst  Cäsar  oder  Prokonsul  als  Zeus,  der  ihn  vom  Himmel  gesandt  hat  und 
dem  er  dient?  Ist  er  nicht  überzeugt,  dass  er  ihn  prüft,  was  er  auch  alles 
zu  leiden  hat?  Es  wird  dann  ausgeführt,  dass  es  für  diesen  Standpunkt 
Krankheit  und  Tod,  Armut  und  Leiden  nicht  gibt,  dass  auch  die  gewöhn- 
lichen Bande  der  Freundschaft  und  Ehe  ein  Hindernis  für  den  höchsten  Be- 
ruf sind,  ausser  in  dem  seltenen  Falle,  dass  Freund  oder  Gattin  gleichfalls 
das  kynische  Ideal  darzustellen  vermögen.  —  Wie  kann  er  dann  aber,  sagst 
du  (§  77),  die  Pflichten  gegen  die  Gemeinschaft  erfüllen?  Bei  Gott,  sind 
die  grössere  Wohltäter  der  Menschheit,  die  zwei  oder  drei  rotzige  Kinder 
in  die  Welt  setzen,  oder  die  aUe  Menschen  nach  Vermögen  beaufsichtigen  ^, 
was  sie  treiben,  wie  sie  leben,  wofür  sie  sorgen,  was  sie  pflichtwddrig  ver- 
nachlässigen? Haben  den  Thebanern  die,  welche  Kinder  hinterliessen,  mehr 
genützt  als  Epaminondas,  der  kinderlos  starb  ?  Oder  hat  Priamos,  der  fünf- 
zig Taugenichtse  erzeugte,  oder  Danaos  oder  Aeolus  mehr  für  die  Gesamt- 
heit geleistet,  als  Homer?  Das  Königtum  des  Kynikers  ist  es  wert,  um 
seinetwillen  auf  Weib  und  Kinder  zu  verzichten.  Mensch,  alle  Menschen 
sieht  er  als  Kinder  an,  die  Männer  als  Sölme,  die  Weiber  als  Töchter.  — 
Gewiss  fragst  du  mich  auch,  ob  er  sich  am  politischen  Leben  beteiligen  wird  ^. 
Du  Narr,  kann's  eine  grössere  politische  Aufgabe  geben,  als  die  er  erfüllt? 
SoU  einer  etwa  vor  den  Athenern  über  Steuern  und  Einkünfte  Reden  halten, 
wenn  er  verpflichtet  ist,  sich  mit  allen  Menschen  zu  unterreden,  gleichviel, 
ob's  Athener,  Korinther  oder  Römer  sind,  und  zwar  nicht  über  Steuern  und 
Einkünfte,  nicht  über  Krieg  und  Frieden,  sondern  über  Seligkeit  und  Un- 
seligkeit.  Glück  und  Unglück,  Knechtschaft  und  Freiheit?  Während  er  diese 
grosse  politische  Aufgabe  erfüllt,  fragst  du  mich,  ob  er  sich  am  politischen 
Leben  beteiligen  ^vird?  So  frag'  mich  auch,  ob  er  ein  Amt  bekleiden  wird. 
Und  ich  antworte  dir:  du  Tor,  gibt's  ein  höheres  Amt,  als  das  er  ausübt? 
—  Auch    der  Körper   muss    für    den  Beruf  geeignet  sein  und  die  Wahrheit 


1)  §  77  Ol  äK:oy.o7zo~rntc,  s.  o.  S.  44  A.  1.  ■')  S.  o.  S.  18,  Seneca,  De  otio  3  ff. 

Lietzmann,  Handbuch  z.  Xeuen  Test.  I,  2.  4 


50  \   -Uiii  riiiLos.  Piioi'AGANDA :  4  Verhältnis  zum  Christentum 

beweisen,  ilass  das  schlichte,  einfache,  obdachlose  Leben  dem  Körper  nicht 
schadet.  „Siehe,  auch  dessen  bin  ich  und  mein  Leib  dir  Zeuge."  —  Nach- 
dem dann  Witz  und  Sarkasmus  vom  Kyniker  gefordert  ist,  wird  nochmals 
eingeschärft,  dass  seine  Seele  reiner  sein  muss  als  die  Sonne.  Nur  das  reine 
Gewissen  und  das  Bewusstsein  der  Gottesgemeinschaft  gibt  ihm  die  Kraft, 
zu  seinen  Brüdern,  Kindern,  Verwandten  frei  herauszureden.  Und  damit 
mischt  er  sich  nicht  in  müssiger  Vielgeschäftigkeit  in  fremde  Angelegen- 
heiten ',  sondern  erfüllt  seine  eigenste  Aufgabe.  —  Geduld  muss  der  Kyniker 
so  reichlich  besitzen,  dass  er  den  meisten  gefühllos  und  wie  ein  Stein  er- 
scheint. Niemand  lästei't,  niemand  schlägt,  niemand  beschimpft  ihn.  Denn 
all  das  trifft  nur  die  Seiten  seines  Wesens,  die  er  gar  nicht  als  ihm  zuge- 
hörig betrachtet.  —  Solches  Unternehmen  setzest  du  dir  vor.  Darum,  bei 
Gott,  verschieb'  es  und  denke  erst  an  deine  Ausrüstung.  Denke,  was  Hektor 
zu  Andromache  sagt :  Geh'  lieber  ins  Haus  und  webe.  „Der  Krieg  ist  Sache 
der  Männer,  aller,  doch  meine  besonders."  So  kannte  er  seine  eigene  Be- 
stimmung und  die  Schwäche  seines  Weibes. 

Der  tiefe  Ernst  der  Berufsauffassung  zeigt  sich  auch  in  den  bewegten 
Klagen,  die  diese  Erzieher  über  die  sittliche  Trägheit  der  Jugend,  über  den 
Abstand  der  Wirldichkeit  vom  Ideal  einer  durchschlagenden  erzieherischen 
Wirksamkeit  laut  werden  lassen  -. 


4  Das  Verhältnis  der  philosophisch-ethischen  Propaganda  zum  Christentum 

Die  sittliche  Reformation,  welche  die  pliilosojjhische  Predigt  zu  wirken 
suchte,  hat  die  von  ihr  berührten  Seelen  für  das  Christentum  prädisponiert, 
den  Boden  für  die  Aufnahme  der  neuen  Predigt  bereitet,  in  der  Bekämpfung 
des  Polytheismus  und  in  der  Verkündigung  einer  geläuterten  Religion  und 
einer  die  individuelle  Verantwortung  scharf  betonenden  reinen  Sittenlehre 
Gedanken  und  Formen  gefunden,  die  das  Christentum  vielfach  sich  zu  eigen 
gemacht  oder  sich  angepasst  hat.  Die  Verwandtschaft  der  Stimmungen  wird 
schon  dem  Leser  des  soeben  rekapitulierten  Vortrages  Epiktets  auffallen. 
In  Kap.  IX  ward  zu  zeigen  sein,  wie  weit,  trotzdem  starke  prinzipielle 
Gegensätze  nicht  zu  verkennen  sind,  die  Stimmungen  dieser  reaktionären 
Richtung  des  Heidentums  dem  Christentum  entgegenkommen.  Es  empfiehlt 
sich,  schon  hier  die  in  der  Literatur  noch  nachweisbaren  direkten  Beziehungen 
und  Einflüsse  hervorzuheben  und  damit  das  Bild  der  Geschichte  jener  Propa- 
ganda zu  vervollständigen. 

Es  ist  natürlich,  dass  das  Christentum,  als  es  in  die  hellenistische 
Kulturwelt  einging,  von  dieser  heidnischen  Predigt,  die  ihm  am  Mai'kte  des 
Lebens  entgegentrat,  und  von  der  für  weite  Kreise  bestimmten  ethisch-reli- 
giösen Literatur  berührt  wurde.  Ueberhaupt  hat  ja  das  Christentum,  ehe 
die  Höhen  der  antiken  Literatur  in  seinen  Gesichtskreis  traten,  von  den 
volkstümlichen  Strömungen  und  von  der  unserer  Kenntnis  sich  nur  zu  sehr 
entziehenden  populären  und  ephemeren  Literatur  der  Zeit  mannigfache  Ein- 
wirkungen erfahren,  und  der  von  den  niederen  Regionen  des  Geisteslebens 
ausgehende  Einfluss  kommt  für  den  Duichschnitt  auch  später  stärker  in  Be- 
tracht als  die  Koryphäen  der  Bildung.  In  Teil  III  wird  gezeigt  werden, 
dass  die  Motive  und  Formen  der  Diatribe  auf  die  neutestamentliche  Brief- 
literatur gewirkt  haben;    es  ist  Heinricis  Verdienst,  in  seinen  Kommentaren 


')  §  97,  s.  S.  44  Anni.  1.  ^)  Epiktet  I  9,  Persius  III,  auch  Philo,  De 

congressu   erud.  gratia  §  64  ff.,  p.  528  M. 


i 


Jiiinvirkuiii;-  der  Diatriho  auf  christliche  Lit.     Heidnische  u.  cliristl.  i*rediger       51 

ZU  Coi'  diese  Beziehungen  zuerst  genauer  verfolgt  zu  haben.  Die  Haltung 
der  ältesten  christlichen  Predigt  ist  teils  durch  das  jüdische  Vorbild  des 
Synagügenvortrages,  teils  durch  die  entluisiastischen  Formen  einer  neuen 
Prophetie  bestimmt.  Der  später  in  ruhigere  Bahnen  lenkende,  aus  Lehre 
und  Ennalininig  gemischte  Vortrag  luit  dann  dauei'ud  den  Einfhiss  der  heid- 
nischen Predigt  erfahren  und  ist  den  Stadien  ihrer  Entwicklung  gefolgt. 
Es  wai''ja  natürlich,  dass  die  IMissionspredigt  in  dem  bekannten  Gedanken- 
schatze der  Diatribe  einen  gemeinsamen  Boden  der  Verständigung  und  An- 
knü])fung  suchte,  wie  es  schon  Lukas  Paulus  in  der  Areopagrede  tun  lässt. 
In  II  Clera,  in  der  Predigt  des  Alexandriners  Clemens  ',  in  denen  des  Ori- 
genes  -  sehen  wir  besonders  in  paränetischen  Partien  Gedanken  und  Formen 
der  heidnischen  Diatribe  benutzt.  Im  IV  Jahrhundert  ist  dann  die  christliche 
Predigt  ganz  von  den  Kunstformen  der  Khetorik  beherrscht;  Basilius,  Gregor 
von  Nazianz,  Johannes  Chrysostomos  haben  bei  heidnischen  Professoren  der 
Rhetorik  studiert.  Der  Einfluss  der  Philosophie  hat  sich  verstärkt.  Zum 
Teil  hängt  das  damit  zusammen,  dass  als  Gegengewicht  gegen  die  Welt- 
förmigkeit  der  Kirche  die  asketische  Lebensweise  als  Ideal  anerkannt  ist. 
Für  das  ,,philosophische''  Leben  der  Mönclie  sucht  man  eine  theoretische 
Begründung,  und  man  entnimmt  sie  der  asketischen  Moral  der  Stoa  und  des 
Piatonismus.  Weite  Partien  bei  jenen  Schriftstellern  und  noch  bei  Isidor 
und  Nilus  erscheinen  als  letzte  Ausläufer  der  Diatribe. 

Die  Act  schon  schildern  (K.  17)  Paulus'  Auftreten  in  Athen  nach  Art 
der  "Wirksamkeit  jener  Volksprediger.  Auf  dem  Markte  redet  er  täglich  zu 
denen,  die  sich  gerade  einfinden;  die  epikureischen  und  stoischen  Philosophen 
sind  bald  auf  den  Schwätzer,  der  ihnen  mit  einer  neuen  Lehre  Konkurrenz 
macht,  erbost.  Wirksamkeit,  Lebensart,  Auftreten  der  freien  christlichen 
Prediger  der  alten  Kirche,  die  von  Gemeinde  zvi  Gemeinde  wanderten,  glich 
äusserlich  dem  Treiben  der  heidnischen  Volksprediger,  und  es  war  natürlich, 
dass  die  Formen  und  Gewohnheiten  der  heidnischen  Propaganda  in  den  Dienst 
der  christlichen  Mission  gestellt  wurden  und  ihr  zugute  kamen  ■'.  In  den 
clementinischen  Homilien  z.  B.  wird  der  christliche  Prediger  oft  wie  der 
kynische  als  Gottes  Herold  bezeichnet  und  beginnt  wie  dieser  auf  offener 
Strasse  seine  Rede  mit  vernehmlicher  Stimme  (ßoäv)  ■^.  Der  Bischof  wird 
dort  als  Seelenarzt  bezeichnet''.  Auf  den  Vorwurf  des  Celsus,  dass  die 
Christen  sich  an  die  untersten  Schichten  des  Volkes  gleich  Marktschreiern 
wenden,  erwidert  Origenes  (III  50)  mit  einem  Vergleich  der  christlichen 
Prediger  mit  den  kynischen,  die  sich  ja  auch  öffentlich,  wie  es  heisst  aus 
Menschenliebe,  mit  ihrer  Rede  an  die  ihnen  gerade  Entgegenkommenden''' 
und  an  die  Ungebildeten  wenden.  Und  auch  von  heidnischer  Seite  scheint 
die  Parallele   gezogen  worden   zu  sein.     Galen "  vergleicht  die  Christen  mit 


1)  S.  E.  Schwartz,  Hermes  XXXVm  S.  90  ff.  Die  in  der  Diatribe  beliebte  Pa- 
rataxe z.  B.  quis  dives  salvetur  S.  11,  14.  18,  31  ff.  Barnard.  -)  S.  z.  B.  die  Jere- 
miashomilieen  S.  94,  16.  81,  25  ff.  149,  15.  16  Klost.  Dass  auch  in  anderen  Gattungen, 
z.  B.  in  den  Apologien,  Einflüsse  der  Diatribe  nachweisbar  sind,  sei  nebenbei  bemerkt. 
•■*)  Vgl.  auch  Act  19  9  Paulus'  Auftreten  in  der  Schule  des  Tyrannos.  ■*)  K.  7 

Sr^iJLoaiqc  cTöcg  k}i%  Xsycüv.  Aehnliche  AVendungen  und  besonders  das  Schreien  (Juve- 
nal  n  37)  oft  vom  kynischen  Prediger  gebraucht.  '•')  K.  2.  64  ('05  laxpög  iizi- 

o-/.S7LTd[i£voc;  (o.  S.  44).  ")  grjjioaiqi:    r.pög    zobc,    napax'JYXävovxag  5iaXe-,'d|i£voi,  vgl. 

Act  17:7,  oben  S.  40.  48.  Man  vergleiche,  um  sich  die  Analogieen  klar  zu  machen, 
Harnacks  Behandlung  der  christlichen  Lehrer,  Mission- 1,  besonders  S.  291.  ')  Nor- 
den, Antike  Kunstprosa  S.  518,  Kalbfleisch  in  der  Festschrift  für  Gomperz,  Wien 
1902  S.  96  ff. 

4* 


52  V  Die  philos.  Propaganda:  4  Verhältnis  zum  Christentum 

den  Philosophen,  besonders  wegen  ihrer  mutigen  Todesverachtung  und  wegen 
ihrer  Askese.  Dagegen  ist  es  zweifelhaft,  ob  Aristides ',  wenn  er  seine  kyni- 
schen  Gegner  mit  den  „Gottlosen  in  Palästina"  vergleicht,  die  auch  an  die 
höheren  Mächte  nicht  glauben,  dabei  neben  den  Juden  auch  an  die  Christen 
denkt. 

Peregrinus  Proteus  tritt  nach  Lucians  Darstellung  (K.  15 ff.)  zuerst  als 
kynischer  Philosoph  auf,  schliesst  sich  dann  der  Christengemeinde  an  und 
geht  nach  einem  Konflikt  mit  dieser  wieder  zum  Beruf  des  kynischen  Volks- 
predigers über.  Und  später  schleicht  sich  Maximus  dadurch,  dass  er  im 
Kostüm  des  kynischen  Philosophen  das  Christentum  verkündigt,  in  das  Ver- 
trauen des  Gregor  von  Nazianz  ein,  der  ihn  dann  als  einen  Heuchler  be- 
kämpft hat-. 

Das  Wort  Augustins  (De  civ,  dei  XIX  19),  dass  die  Kirche  die  zu  ihr 
übertretenden  Philosophen  nicht  nötige,  Tracht  und  Lebensweise  zu  ändern, 
gilt  auch  für  die  früheren  Zeiten.  Athenagoras  wird  im  Titel  seiner  Apologie 
als  athenischer  Philosoph  bezeichnet  und  soll  im  Tribon  das  Christentum 
verkündet  haben.  Der  Uebergang  des  Justin  von  der  Philosophie  zum 
Christentum  hat  die  Bedeutung  eines  typischen  Falles ;  und  so  sehr  er  seine 
Bekehrungsgeschichte  stilisiert  haben  mag,  dürfen  wir  mindestens  sein  frühe- 
res Verhältnis  zum  Piatonismus  als  Tatsache  hinnehmen,  weil  es  die  Genesis 
seiner  Theologie  erklärt.  Ein  ähnlicher  Uebergang  wird  für  Pantänus  be- 
zeugt (Eus.  K.  G.  V  10,  1),  und  Heraklas  wie  Tertullian  tragen  den  Philo- 
sophenmanteP.  Origenes  erscheint  den  Heiden  als  Philosoph,  und  seine 
Lebensschicksale  und  die  Formen  seiner  Wirksamkeit  erinnern  vielfach  an 
Plotin.  Philosophen,  die  zum  Christentum  übertraten,  bot  das  freie  Lehr- 
amt der  älteren  Kirche  die  Möglichkeit  einer  den  Formen  ihres  früheren 
Berufes  verwandten  Tätigkeit,  und  auch  einen  Teil  ihres  geistigen  Besitzes 
konnten  sie  hinübernehmen.  Die  Anpassung  des  Christentums  an  die  ver- 
wandten Gedanken  heidnischer  Aufklärung  und  Philosophie,  seine  Darstellung 
als  die  Religion  der  Vernunft  vmd  als  eine  Philosophie  musste  sich  im  Be- 
wusstsein  solcher  Männer  unMällkürlicli  vollziehen. 

Das  Christentum  selbst  hat  seine  Verwandtschaft  mit  Lehren  und  Grund- 
sätzen der  heidnischen  Moralisten  empfunden,  ja  der  Uebereinstimmung  der 
christlichen  Offenbarung  und  der  Philosophie  oft  einen  übertriebenen  Ausdruck 
gegeben^,  der,  so  leicht  er  sich  aus  der  notwendigen  Mischung  des  antiken 
Erbes  mit  dem  neuen  christlichen  Besitze  erklärt,  unbefangener  Prüfung  nicht 
standhält.  Die  Rezeption  von  Schriften  und  Gedanken  heidnischer  Moralisten 
wie  die  Reklamation  der  Personen  für  das  Christentum  ist  für  das  Verhält- 
nis zur  heidnisch  philosophischen  Aufklärung  besonders  charaktei'istisch.  Ter- 
tullian sagt,  Seneca  sei  oft  christbch;  die  lateinischen  Apologeten  haben  viel 
von  seiner  Moral  und  Religiosität  übernommen.  Das  Gefühl  für  Senecas 
Verwandtschaft  mit  der  christlichen  Lehre  hat  zu  der  Fälschung  seines  Brief- 
wechsels mit  Paulus  ■"    den  Anlass    gegeben  und  Hieronymus  bestimmt,    ihm 


»)  S.  Norden,  Jahrb.  Suppl.  XIX  S.  404  if.,  nach  dem  Harnack,  Mission  P  S.  41» 
zu  berichtigen  sein  wird.  Das  fortdauernde  Schwanken  in  der  Frage,  ob  Aristides 
in  seinen  Gegnern  Kyniker  oder  Christen  schildere,  zeigt,  wie  Norden  bemerkt, 
wie  nah  sich  beide  Richtungen  berührten.  —  Dass  auch  die  christliche  Askese 
neben  der  Steigerung  des  Schamgefühls  Ausartungen  kynischer  Scliainlosigkeit  her- 
vorgebracht hat,  hat  Reitzenstein,  Hellenistische  Wundererzählungen  S.  65  ff.  ge- 
zeigt. ^)  Norden  a.  a.  O.  S.  403.  404.  ^)  Eus.  VI  19,  14,  Tert.  De 
paUio.  *)  Beispiele  bei  Hatch,  Griechentum  und  Christentum  S.  91;  Har- 
nack, Mission  2  I  S.  246.  307.                     «)  Zuletzt  hat  über  ihn  Bickel,  Rh.  M.  LX 


Christianisieriiny  lieidui.scher  Schriften  53 

einen  Platz  unter  den  christliehen  Schriftstellern  einzuräumen.  Auch  für 
Musonius  und  Ki)iktet  haben  wir  fi,leich  ^iinsti^e  cliristliche  Urteile  ^  und 
können  es  daher  begreifen,  dass  Clemens  die  Grundzüge  seines  bis  ins  ein- 
zelne ausgeführten  Idealbildes  christlicher  Lebensweise  zum  Teil  wörtlich  den 
Vorträgen  des  Musonius  entlehnte,  dass  die  beiden  christlichen  Ueberarbei- 
tungen  _des  Handbuches  Epihtets  ein  wirkliches  Bedürfnis  befriedigten.  Die 
heidnischen  Florilegien  bilden  eine  Fun(lgrul)e  ethischer  und  religiöser  Weis- 
heit und  werden  zu  grösserer  Beweiskräftigkeit  auch  christlich  interpoliert'-. 
Immer  wieder  und  wieder  treten  Versuche  auf,  die  Bekanntschaft  des 
Seneca,  Epiktet-',  Marc  Aurel  mit  der  christlichen  Lehre  zu  beweisen  und  die 
Richtung  ihrer  Weltanschauung  und  Lebensauffassung  aus  christlichem  Ein- 
flüsse zu  erklären.  Die  Uebereinstimmung  betrifft  aber  fast  durchweg  Ge- 
danken, die  im  Zusammenhange  des  stoischen  Systemes  wui'zeln  und  zum 
Teil  im  älteren  Stoizismus  nachweisbar  sind.  Auch  die  vorchristliche  Diatribe 
zeigt  schon  ähnliche  Berührungen  mit  christlichen  Gedanken,  und  der  Bestand 
unserer  trümmerhaften  UeberKeferung  nötigt  zu  der  Annahme,  dass  vieles, 
was  man  als  christlich  in  Anspruch  nehmen  möchte,  nur  zufällig  in  der  älte- 
ren Literatur  nicht  vertreten  ist.  Genaueres  Zusehen  lehrt,  dass  die  Ueber- 
einstimmung in  einzelnen  Lehren  grösser  ist  als  in  den  Grundsätzen  und  dass 
öfter  verwandte  Sätze  aus  recht  verschiedenen  Prinzipien  abgeleitet  sind. 
Aber  das  Material,  das  jene  im  Resultat  verfehlten  Untersuchungen  zusammen- 
gebracht haben,  ist  zum  Teil  geeignet,  die  Tatsache  zu  bestätigen,  dass  die 
popularphilosophische  Propaganda  in  weiten  Kreisen  eine  geistige  Atmo- 
sphäre geschaffen  hat,  die  zur  Erklärung  der  raschen  Fortschritte  des  Christen- 
tums und  seines  Verhältnisses  zur  Philosophie  berücksichtigt  sein  will.  Ich 
komme  darauf  bei  der  Frage  nach  dem  Einfluss  der  jüdischen  Diaspora 
zurück. 


S.505  ff.  gehandelt.  i)  S.  Henses  Musonius  S.  XXIX,  Schenkls  Epiktet 

S.  XVni  ff.  -)  S.  Elter,   De  gnomologiorum  historia   (Bonner  Univ.-Pro- 

gramme  seit  1892)  und  meinen  Bericht  Byzant.  Zeitschr.  VII  445  ff.  (Usener,  Rhein. 
Museum  LV  S.  337).  Die  Sprüche  des  Sextus  scheinen  die  christliche  Ueberar- 
beitung  einer  heidnischen  Grundlage  zu  sein,  s.  Theol.  Lit.  Zeit.  1893  Sp.  492  ff. 
^)  Vgl.  meine  Rezension  von  Zahns  Schrift,  Der  Stoiker  Epiktet  und  sein  Ver- 
hältnis zum  Christentum,  Leipzig  1895,  Theol.  Lit.Zeit.  1895  Sp.  493  ff.  Ich  hebe 
noch  einige  interessante  Berührungen  hervor:  Epiktet  I  9,  7  uöö-sv  cpdycü,  cpyjai, 
19  oxav  /opTaa9-yj-s  ar^fj-spov,  xä9-rp9-s  y.Xäovxsj  iispi  xf,g  aöpiov,  TiöS-sv  cpäyYjxs,  vgl.  Mat  6  os  ff. 
Epiktet  I  29,  31  Vergleich  mit  den  Kindern  (Mat  11  le),  II  18,  15  und  M.  Aurel  HI  2 
(Seneca  Dial.  11  7,  4)  Verwerfung  des  lüsternen  Blickes  (Mat  5  .s).  Anderes  bespricht 
Bonhöffer,  Die  Ethik  des  Stoikers  Epiktet,  Stuttgart  1894  S.  18.  72.  113.  114.  101.  105. 
140.  —  Seneca,  De  remediis  fortuitorum  (die  ganze  Schrift  ist  charakteristisch  für  die 
Bevorzugung  der  Parataxe  und  kleiner  Kola)  10 :  „pauper  stau",  nihil  deest  avibits,  pe- 
cora  in  diein  vivunt.  Minucius  Felix  36,  5  aves  sine  patrimonio  vivunt  et  in  die/n  pas- 
cuntiir  benutzt  Seneca,  nicht,  wie  man  früher  glaubte,  Mat  6  26.  Parallelen  zu  Mat 
7  !■.>  7;äv  o'jv  6aa  eäv  S-sXy^ts  l'va  rcoiwaiv  ö|j.Iv  oi  ävO'poJTcot, ,  o'jxcog  y.al  üiicic;  tiOlsixs  aOxois 
hat  zuletzt  Heinrici,  Beiträge  in  S.  86  gesammelt.  Lc  6  S9  (und  Parallelen),  vgl. 
Sextus  Emp.  S.  605,  23  Becker  wg  oOSI  o  xu-.f/.6;  xöv  xucpXov  odr^ysiv  (d'jvaxa-,). 


54  VI  Hellenistische  Religionsgeschichte 

VI 

HELLENISTISCHE  RELIGIONSGESCHICHTE 

O.  Gruppe,  Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte,  München  1906 
(Handbuch  der  klassischen  Altertumswissenschaft  V  2),  1023  S.  J)iese  neueste  Dar- 
stellung ist  als  erster  Versuch  und  überaus  reiche  Materialsanimlung  für  den  For- 
scher ebenso  unentbehrlich,  wie  für  den  Zweck  und  Leserkreis,  dem  sie  bestimmt 
ist,  ungeeignet.  Die  Unübersichtlichkeit  der  Anordnung  zeigt,  dass  der  Verfasser 
zur  rechten  Herrschaft  über  den  Stoff  nicht  gelangt  ist.  Die  prinzipiellen  An- 
schauungen sind,  obgleich  gegen  früher  gemildert,  durchaus  anfechtbar.  Die  theo- 
gonischen  Spekulationen  des  Orients  denkt  sicli  Gruppe  recht  äusserlich  von  den 
Griechen  übernommen  (z.  B.  S.  423.  1016),  ebenso  die  Mystik  von  Anfang  an  stark 
orientalisch  beeinflusst  (1036).  In  hellenistischer  Zeit  soll  dann  die  orientalische 
Grundlage  der  griechischen  Kultur  durch  die  Berührung  mit  den  orientalischen 
Völkern  wieder  hervorbrechen  und  so  das  Griechentum  auf  eine  niedrigere  Stufe 
sinken  il458  ff.  1479).  Aber  dieser  Prozess  der  Barbarisierung  vollzieht  sich  erst 
in  nachchristlicher  Zeit.  Was  die  Griechen  in  ältester  Zeit  von  dem  Orient  über- 
nahmen, haben  sie  sich  so  völlig  assimiliert,  dass  der  hellenistische  Kontakt  mit 
dem  Osten  sich  unmöglich  jener  ältesten  Entlehnungen  als  eines  Vehikels  bedienen 
konnte.  Denn  sogar  die  damalige  Wissenschaft  war  weit  entfernt,  jene  orientali- 
schen Elemente  altgriechischer  Kultur  zu  erkennen.  Merkwürdig,  dass  der  Ratio- 
nalist, dem  Uebertragung  der  Religion  wahrscheinlicher  dünkt  als  spontane  Zeu- 
gung und  organisches  Wachstum,  hier  eine  Geschichtskonstruktion  einführt,  die 
mystisch  anmutet.  —  Zur  Orientierung  ist  zu  emijfehlen  Wilamowitz,  Geschichte 
der  griechischen  Religion,  Jahrbuch  des  freien  deutschen  Hochstifts  zu  Frankfurt 
a.  M.  1904,  30  S.  und  ERohde  ,  Die  Religion  der  Griechen ,  Kleine  Schriften 
n  314—339.  —  Röscher,  Lexikon  der  griechischen  und  römischen  Mythologie, 
Leipzig  1884  ff.  —  Die  Geschichte  der  griechischen  Vorstellungen  von  dem  Le- 
ben der  Seele  nach  dem  Tode  stellt  Rohdes  Meisterwerk  Psyche  (3.  A.  Tü- 
bingen imd  Leipzig  1903)  dar,  das  weite  Gebiete  der  griechischen  Religionsge- 
geschichte  aufhellt.  —  Usener,  Götternamen,  Bonn  1896,  gibt  besonders  wertvolle 
Gesichtspunkte  für  die  Geschichte  des  religiösen  Synkretismus  und  die  Wirksam- 
keit monotheistischer  Tendenzen.  Vgl.  die  ausführliche  Inhaltsangabe  in  Christi. 
Welt  1899  Nr.  32.  .33.  —  Welcker,  Griech.  Götterlehre,  3  Bde,  Göttingen  1857—1863. 
—  Lobeck,  Aglaophamiis  sive  de  theologiae  mysticae  Graecorum  causis,  Königs- 
berg 1829.  —  WissowA,  Religion  und  Kultus  der  Römer,  IMünchen  1902  (Handbuch 
der  klass.  Altertumswiss.  V  4)  gibt,  unter  Verziclit  auf  vergleichende  Religi(jnsbe- 
trachtung,  eine  sehr  klare  und  sorgfältige  Gescliichtsdarsteilung  und  eine  sichere 
Rekonstruktion  des  Gebäudes  der  römischen  Religion.  Leider  fehlt  es  für  die 
griecliische  Religion  an  einer  gleich  lesbaren,  vorsichtigen  und  zuverlässigen  Ge- 
samtdarstellung. Die  Aufgabe  der  Religionsgeschichte  ist  liier  auch  sehr  versclüe- 
denartig  und  viel  komplizierter,  weil  die  Schichten  mehr  in  einander  gewachsen 
als  lose  auf  einander  gelagert  sind.  —  Es  können  liier  nur  die  vorherrschenden 
Strömungen  gezeichnet  werden,  wie  sie  in  den  Mittelpunkten  der  Kultur  hervor- 
treten. Die  entlegenen  Landschaften  werden  natürlich  oft  erst  spät  oder  gar  nicht 
von  diesen  Strömungen  berühi-t,  und  die  Inschriften  geben  ein  sehr  viel  mannig- 
faltigeres Bild  und  bezeugen  vor  allem  neben  einer  Fülle  von  Singularitäten  das 
unveränderliche  Fortleben   der   alten  Religionsformen  im  volkstümlichen  Glauben. 


Aelteste  Religion  55 


1   ÄLTERK   ENTWICKELUNG 

Die  bei  den  Griechen  selbst  herrschende  Vorstellung,  als  wenn  Homer 
der  Zeuge  der  ältesten  griechischen  Religion  sei,  ist  nur  geeignet,  das  wahre 
Verständnis  und  die  Geschichte  der  griechischen  Religion  zu  verdunkeln. 
Eine  lange  religiöse  Entwickelung  liegt  vor  Homer,  aber  ihre  Geschichte 
lässt  sich  nicht  schreiben.  Denn  spärlich  zerstreut  liegen  die  Reste  zum 
Aufbau  solcher  Geschichte.  Rückschlüsse  aus  den  später  fortwirkenden 
Kräften  auf  die  ursprünglichen  Wurzeln  der  Religion,  psychologische  Kon- 
struktion, Benutzung  der  Analogien  anderer  primitiver  Religionen  müssen 
schliesslich  das  meiste  tun,  um  einen  Prozess  vorstellbar  zu  machen,  der 
sich  nicht  im  Lichte  der  Geschichte  vollzogen  hat.  Sicher  hat  der  Einfluss 
älterer  Kulturen  und  fremder  Religionen  eine  Rolle  gespielt;  aber  bei  der 
griechischen  Fähigkeit,  das  Fremde  sich  zu  assimilieren  und  innerlich  anzu- 
eignen, ist  er  nur  in  seltenen  Fällen  sicher  zu  fassen.  Als  gewisse  Erkennt- 
nis darf  man  heute  bezeichnen,  dass  am  Beginne  der  Entwickelung  auch  bei 
den  Griechen  nicht  etwa,  wie  man  früher  annahm,  ein  ursprünglicher  Mono- 
theismus stand.  Monotheistische  Tendenzen  können  sich  erst  auf  Grund  einer 
langen  religiösen  Entwickelung  herausbilden  und  durchsetzen,  und  sogar  der 
griechische  Polytheismus  der  homerischen  Dichtungen  hat  sich  erst  auf  der 
breiten  Grundlage  niederer  Glaubensformen,  roherer  Vorstellungen  von  Gei- 
stern und  Dämonen  erhoben,  die  auch  als  Unterschicht  des  Glaubens  sich 
vielfach  lebendig  erhalten  haben.  Wo  der  primitive  Mensch  W^irkungen 
beobachtet  und  erlebt,  die  er  nicht  erklären  kann,  in  der  Gewalt  des  Feuers, 
im  Blitz  und  Donnei-,  Regen  und  Sturm,  im  fiiessenden  Wasser  und  im 
wogenden  Meer,  empfindet  er  eine  rätselhafte  Macht,  die  stärker  sein  muss 
als  der  Mensch,  weil  sie  sich  nicht  fassen  und  greifen  lässt.  Er  stellt  sich 
als  Träger  der  Kraft  ein  Wesen  vor,  das  er  nach  Analogie  des  eigenen 
W^esens  mit  Bewusstsein  und  Wille  begabt  denken  rauss.  Eine  Fülle  von 
Seelenwesen,  die  hinter  den  Phänomenen  stehen,  projiziert  er  in  die  Natur. 
Die  gestaltende  Phantasie  fasst  die  Götterpersonen  in  immer  schärfere  Um- 
risse. Je  nach  den  Wirkungen  und  natürlichen  Bedingungen  ihrer  Erschei- 
nung gibt  sie  ihnen  menschliche,  tierische  oder  abenteuerliche  Mischgestalt, 
gibt  ihnen  den  Eigennamen  und  sichert  sich  durch  eine  ihr  bequeme  Wohn- 
stätte ihre  Gegenwart  und  Hilfe,  ersinnt  eine  Fülle  von  Mitteln,  sich  die 
Gottheit  willfährig  zu  machen.  Erfahrungen,  die  vom  Seelenleben  ausgehen, 
bereichern  die  religiöse  VorsteUungswelt.  Die  Rätsel  des  Entstehens  und 
Vergehens  des  einzelnen  Menschenlebens,  das  Gefühl  dauernder  Nähe  auch 
des  Verstorbenen  führte  zu  dem  Glauben,  dass  hinter  dem  sichtbaren  Wesen 
des  Menschen  ein  den  Tod  überdauerndes  höheres  Doppelwesen  stehe  — 
Traumleben  und  Erfahrungen  des  Heraustretens  dieses  Wesens  in  den  ek- 
statischen Zuständen  bekräftigen  ihn  — ,  zur  Annahme  des  Göttlichen  im 
Menschen  und  zum  Kult  der  Verstorbenen.  Es  ist  ein  langer  und  keines- 
wegs geradliniger  Prozess  iortschreitender  Differenzierung  und  Ausgestaltung, 
festerer  Bestimmung  und  Erweiterung  der  Wirkungssphären,  lokaler  Ausbrei- 
tung und  Ausgleichung,  Zurückdrängung  der  physischen  Potenzen  durch 
geistige  und  sittliche,  der  die  Religion  der  historischen  Zeit  geschaffen  hat. 
Die  Beobachtung  des  regelmässigen  Wechsels  von  Tag  und  Nacht,  der 
Wiederkehr  der  Jahreszeiten,  der  gleichartigen  Bewegung  der  Himmelshchter 
hat  der  Entwickelung  der  religiösen  Vorstellungen  die  Richtung  vom  Ein- 
zelnen und  Zufälligen  auf  das  Gleichartige  und  Allgemeine,  von  den  be- 
schränkten zu  universaleren  Göttern  gegeben.    Wie  jener  Prozess  unbewusst 


56      VI  Hellenistische  Religionsgeschichte:  1  Aeltere  Entwickelung 

den  Fortschritt  der  gesellschaftliehen  Formen,  des  Gemeinbewusstseins,  der 
Sittlichkeit  in  sich  aufnimmt,  so  verhüllt  er  dem  späteren  Glauben  wie  der 
modernen  Forschung  den  ursprünglichen  Gehalt  und  Wert  der  Götter.  Die 
Religion  der  klassischen  Zeit,  die  für  uns  allein  in  betracht  kommt,  ist  we- 
sentlich durch  zwei  Momente  bestimmt.  Einmal  finden  in  der  staatlich  an- 
erkannten Religion  die  Formen  des  Staates  und  der  Gesellschaft  ihre  Sank- 
tion und  ihren  höchsten  Ausdruck.  Ferner  hat  die  Schätzung  der  homeri- 
schen Dichtungen  als  des  höchsten  geistigen  Besitzes  ^  der  Nation  zu  einer 
Ausgleichung  der  religiösen  Vorstellungen,  zum  Aufgehen  lokaler  Gottheiten 
in  die  gleichartigen  panhellenischen  geführt  und  der  Entwickelung  die  Rich- 
tung auf  eine  wesentlich  durch  Homer  repräsentierte  Einheit  gegeben. 

Dennoch  ist  die  homerische  Götterwelt  ursprünglich  nichts  weniger  als 
das  treue  Abbild  wirklich  geltenden  Glaubens.  Sie  ist  das  Erzeugnis  einer 
mit  den  Traditionen  frei  schaltenden  und  sie  künstlerisch  gestaltenden  Dich- 
tung, die  im  Spiele  der  Phantasie  auch  auf  religiösem  Gebiete  eine  Gesell- 
schaft voraussetzt,  die  selbst  nicht  mehr  sich  religiös  gebunden  fülilt.  So 
haben  die  Rhapsoden  die  Götter  mit  allem  Zauber  der  Poesie  und  Glanz 
der  Schönheit  umldeidet,  aber  sie  haben  sie  in  die  mensclüiche  Sphäre  herab- 
gezogen und  entheibgt.  Diese  Götterwelt  befriedigte  weder  das  überall  in 
den  Tiefen  des  Volksbewusstseins  lebendige  religiöse  Bedürfnis,  noch  konnte 
sie  vor  der  erwachenden  Reflexion  bestehen.  Die  Mystik  wie  die  rationa- 
listische Kritik  treten  in  Gegensatz  zu  ihr.  In  der  enthusiastischen  Dio- 
nysosreligion findet  der  Mensch  ein  tieferes  persönliches  Verhältnis  zu  dem 
Gott,  der  den  Herzen  der  Armen  und  Elenden  näher  steht  als  die  aristo- 
kratischen Olympier,  der  in  den  Wonnen  der  Ekstase  ihn  zu  sich  erhebt  und 
ihn  in  den  Momenten  des  gesteigerten  Daseins,  der  Einigung  mit  der  Gott- 
heit die  Nöte  des  Lebens  vergessen  lässt.  Das  Erlösungsbedürfnis  des 
Menschen  und  eine  ungeheure  Steigerung  des  Innenlebens  hebt  damit  an. 
Die  mystische  Theologie  der  Orphiker  fasst  seit  dem  VI  Jahrh.  das  religiöse 
Erlebnis  in  feste  Formen  und  verkündet  die  Lehre  von  den  Scliicksalen 
der  Seele,  die,  durch  eigene  Scludd  in  den  Kerker  des  Leibes  gebannt,  zu 
leidvollem  Dasein  verurteilt  ist,  aber,  durch  Reinigungen  von  den  irdischen 
Schlacken  befreit,  im  Tode  die  Erlösung  und  Erhebung  zu  einem  seligen 
Dasein  erreichen  kann.  Die  jenseitige  Vergeltung,  die  nach  gerechtem  Ge- 
richt geübt  mrd,  ist  der  Ausgleich  der  auf  Erden  herrschenden  Ungerech- 
tigkeit. Diese  innerliche  Frömmigkeit,  die  aus  den  rohen  und  elementaren 
Formen  der  ekstatischen  Religion  hervorgegangen  ist,  aber  von  den  unreinen 
Schlacken  sich  befreit  hat,  ist  seitdem  eine  mächtige  Strömung,  wie  ihr 
verschiedenartiger  Einfluss  auf  Pythagoras,  Pindar,  Empedokles  zeigt.  Ihre 
höchste  Vollendung  und  abgeklärteste  Gestalt  erlangt  sie  in  Piatos  gran- 
dioser Dichtung  von  den  Schicksalen  der  Menschenseele.  Die  Fortsetzung 
dieser  Strömung  und  ihr  Anschwellen  in  der  nachchristlichen  Zeit  werden 
wir  später  zu  verfolgen  haben. 

Während  die  mystische  Frömmigkeit  auf  ganz  neuen  Wegen  die  Be- 
friedigung tieferer  religiöser  Bedürfnisse  sucht,  tritt  die  Spekulation  der 
ionischen  Denker  in  bewussten  Gegensatz  zum  herrschenden  Polytheismus 
und  zur  homerischen  Dichtung.  Freilich  geben  im  Grunde  dieselben  Rätsel 
des  menschlichen  Daseins  und  des  Kosmos,  die  in  den  primitiven  Formen 
des  mythischen  Denkens  und  in  den  systematisierenden  Versuchen  theologi- 
scher Dichter  zuerst  ihre  Eiklärung  fanden,  auch  den  Anstoss  zum  Erwachen 
der  wissenschaftlichen  Si)ekulation.  Der  Uebergang  der  religiösen  in  die 
wissenschaftliche  Welterklärung  ist  ein  fliessender  und  allmälilicher.  Beide 
Strömungen  durchkreuzen  sich  vielfach   und   laufen    einander   parallel.     Und 


Mystik.    Kritik  der  ionischen  Denker.    Athenische  Aufklärung  57 

wenn  die  S[)t.'kulation  in  Jonien,  wo  die  persische  Invasion  den  i^rozess  der 
Befreiung  des  Individuums  aus  den  Schranken  der  traditionellen  Gebunden- 
heit vollendet  hatte,  die  Lösung  der  Probleme  auf  ganz  neuen  Wegen  und 
vielfach  in  ausgesprochenem  Gegensatz  zur  religiösen  Tradition  sucht,  so  ist 
sie  docli  in  der  Fassung  der  Fragen,  der  Formulierung  der  Sätze,  dem  Ziele 
einheitlicher  Welterldärung  und  dem  kühnen  Fluge  der  das  Weltall  um- 
spannenden Phantasie  trotz  alles  Gegensatzes  von  der  mythischen  Richtung 
des  Denkens  beeinflusst,  auch  wo  sie  sich  dessen  nicht  bewusst  ist.  Es  ist 
kein  Zufall,  dass  auf  die  freie,  öfter  an  Frivolität  streifende  Behandlung 
der  Göttermythen  durch  die  ionischen  Rhapsoden  die  energische  Kritik  der 
ionischen  Wissenschaft  folgt.  Beide  Erscheinungen  sind  aus  derselben  Geistes- 
richtung liervorgewachsen  und  Sym])tome  der  fortschreitenden  Emanzipation 
des  Geistes  von  der  religiösen  Gebundenheit.  Xenophanes '  stellt  dem  Poly- 
theismus seine  eine  vollkommene  Gottheit  gegenüber,  den  Sterblichen  an 
Gestalt  imd  Gedanken  nicht  vergleichbar.  Er  erweist  drastisch  den  Wider- 
sinn anthropomorpher  Götter.  Er  bekämpft  den  verhängnisvollen  Einfluss, 
den  die  Autorität  Homers  und  Hesiods  ausübt,  die  den  Göttern  alles  ange- 
hängt haben,  was  bei  den  Menschen  für  Schimpf  und  Schande  gilt,  stehlen 
und  ehebrechen  und  sich  gegenseitig  betrügen.  Und  dieselbe  Richtung  ver- 
folgt Heraklit-,  wenn  er  Homer  aus  den  Preis  wettkämpfen  ausgeschlossen 
wissen  wdll  und  die  Autorität  der  Sänger  bekämpft.  Im  V  Jahrh.  suchen 
dann  ei*finderisclie  Köpfe  den  Widerspruch  homerischer  Religion  zur  fortge- 
schrittenen Sittlichkeit  und  Frömmigkeit  durch  allegorische  Umdeutung  zu 
lösen.  Wir  sehen  deutlich:  Homer  Avird  zum  Problem,  weil  seine  Verteidiger 
wie  seine  Gegner  die  Poesie  nicht  mehr  naiv  zu  gemessen  wissen,  weil 
die  Schätzung  der  Poesie  den  Dichter  auch  mit  dem  Nimbus  religiöser  Au- 
torität umgeben  hat.  Wir  beobachten  hier  die  ersten,  freilich  noch  schwachen, 
Ansätze  zu  einer  Art  Buchreligion,  und  sofort  tauchen  auch  die  Schwierig- 
keiten auf,  mit  denen  eine  solche  stets  zu  kämpfen  hat.  Das  Buch  findet 
nur  den  Ausdruck  der  Sittlichkeit  und  Frömmigkeit  seiner  Zeit  und  seiner 
Umgebung  und  widerspricht  leicht  dem  Bewusstsein  späterer  Zeiten.  Der 
Widerspruch  führt  auf  der  einen  Seite  zur  Bekämpfung  und  Verwerfung  der 
Autorität,  auf  der  andern  zur  Verteidigung  mit  den  Mitteln  der  Anpassung 
und  Umdeutung. 

Die  athenische  Aufklärung  des  V  Jahrh.  (vgl.  S.  14)  setzt  die  Ge- 
dankenarbeit der  ionischen  Wissenschaft  fort  und  trägt  sie  in  weitere  Kreise. 
Die  Kritik  der  überlieferten  Traditionen  schreitet  fort  zu  einer  allgemeinen 
Fassung  des  Problems  der  Religion,  und  die  Antworten  auf  die  Frage  nach 
dem  Recht  und  der  Wahrheit  der  ReUgion  drücken  die  verscliiedensteu 
zwischen  zurückhaltender  Skepsis  und  offen  ausgesprochenem  Unglauben 
liegenden  Auffassungen  aus.  An  Stelle  der  absoluten  Normen  treten  die 
relativen  Schätzungen.  Man  erkennt,  wie  viel  von  den  väterlichen  Traditionen 
und  Institutionen  historisch  geworden,  durch  mensclilichen  Willen  geschaffen 
ist.  Kann  das  alles  also  noch  als  absolut  giltig,  naturnotwendig,  als  gött- 
liches Gebot  erscheinen?  Spricht  nicht  der  Widerstreit  der  Sitten  und  Ein- 
richtungen verschiedener  Völker  imd  Stämme  dafür,  dass  es  auf  dem  Gebiete 
des  Konventionellen  überhaupt  keine  W^ahrheit  gibt?  Auch  auf  religiösem 
Gebiete  ist  diese  Betrachtung  mit  dem  dieser  Zeit  eigenen,  keine  Konse- 
quenzen scheuenden  Radikalismus  durchgeführt  worden.  Zu  allen  Zeiten  ist 
Menschen,  denen  einseitig  verstandesmässige  Bildung  und  Kritik  die  Fällig- 
keit religiösen  Fülüens  und  Nachfülüens    erstickt   hat,    die   Rehgion    als    ein 

1)  Diels,  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker  I^  Berlin  1906.  Fr.  23.  10—16. 
-')  Ebenda  Fr.  42.  104  (40.  57). 


58      ^'i  Hellenistische  Religionsgeschichte:  1  Aeltere  Entwickelung 

so  seltsames  und  überflüssiges  Erzeugnis  erschienen,  dass  sie  den  eigenen 
Defekt  als  den  ursprünglichen  und  normalen  Zustand  voraussetzen  und  eine 
einmalige  Genesis  der  Religion  als  menschliche  Erfindung,  ihre  Ausgestaltung 
inid  Verbreitung  als  mechanischen  Prozess  der  Entwickelung  und  Ueber- 
traguug  vorstellen  zu  müssen  glaubten.  Die  rationalistischen  Theorien  der 
Entstehung  von  Staat  und  Religion  sind  im  Grunde  alle  schon  zur  Zeit  der 
Sophistik  aufgestellt  worden.  Während  die  Ausbildung  des  politischen  Den- 
kens und  des  liistorischen  Sinnes  auf  poKtischem  Gebiet  sie  überwunden  hat, 
wirken  sie  auf  religiösem  Gebiet  selbst  in  der  Wissenschaft  immer  noch 
nach.  Demokrit '  sieht  in  der  Furcht,  welche  die  Wettererscheinungen,  Blitz 
und  Donner,  Kometen,  Sonnen-  und  Mondfinsternis,  im  primitiven  Menschen 
erregen,  ein  Motiv  des  Götterglaubens.  Nach  Prodikos  hätten  die  Menschen 
alles,  was  ihnen  den  grössten  Nutzen  brachte,  Sonne,  Mond,  Flüsse,  Brod, 
Wein,  Feuer  vergöttlicht -.  Besonders  verbreitet  aber  war  eine  von  Plato 
öfter  bekämpfte  Theorie,  die  in  der  Religion  ein  von  den  Mächtigen  zur 
Beherrschung  der  Massen  erfundenes  Mittel  sieht.  Kritias  lässt  Sisyphos  in 
einem  uns  erhaltenen  Bruchstücke  des  gleichnamigen  Satyrdramas  eine 
solche  Theorie  entwickeln-':  Den  rechtlosen  Naturzustand,  in  dem  die  Ge- 
walt herrschte,  haben  einst  die  Menschen  durch  Gesetze  mit  ihren  Strafbe- 
stimmungen beseitigt.  Als  sich  dann  aber  herausstellte,  dass  auch  die  Ge- 
setze geheime  Vergehungen  nicht  verhüten  konnten,  kam  ein  besonders  kluger 
Mann  auf  den  Gedanken,  die  Götterfurcht  zu  erfinden,  um  die  Menschen 
vom  geheimen  Bösen  in  Werken,  Worten,  Gedanken  abzuschrecken.  So  ver- 
breitet er  den  Glauben  an  die  alles  sehende  und  hörende  Gottheit.  Und  sehr 
glaubhaft  weist  er  den  Göttern  den  Himmel  zum  Wohnsitz  an;  denn  von 
dort  kommen  ja  dem  Menschen  die  Schrecken  des  Donners  und  Blitzes,  von 
dort  erscheinen  ihm  die  Wunder  des  Sternenliimmels  und  die  Sonne  mit 
ihrem  Glanz,  von  dort  strömt  der  Regen  herab.  —  Die  Stimmungen  der 
neuen  Zeit,  die  Zerrissenheit  des  innersten  Lebens,  die  Fülle  der  Zweifel  und 
Probleme  bringt  auch  hier  Euripides  wirkungsvoll  zum  Ausdruck,  und  der 
Spott  der  Komödie  wie  die  Massregeln  der  reaktionären  Demokratie  be- 
weisen, dass  weitere  Kreise  von  dem  Kampfe  des  AJten  und  Neuen  erregt 
wurden. 

Aber  es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  gerade  die  mit  Sokrates  anhebende 
philosophische  Entwickelung  ihren  Standpunkt  über  diesem  Streit  der  Tages- 
meinungen nimmt.  Sie  gewinnt,  während  die  athenische  Aufklärung  mit 
ihrer  oberflächlich  radikalen  Erledigung  dieser  Probleme  als  Fortsetzung 
ionischer  Kulturentwickelung  erscheint,  eine  sehr  viel  tiefere  und  ernstere 
Stellung  zur  Religion.  Die  Gründe  dafür  sind  mannigfaltig.  Vor  allem  steht 
die  echt  athenische  Philosophie  einer  lebenskräftigen,  von  einem  mächtigen 
Staatswesen  und  einer  hohen  geistigen  Kultur  getragenen  und  künstlerisch 
verklärten  Religion  gegenüber.  Die  Pietät  für  die  väterlichen  Traditionen, 
das  Verständnis  für  den  Wert  des  Symbolischen  in  der  Religion,  der  künst- 
lerische Sinn  für  die  Schönheit  der  Form,  die  Schätzung  der  liistorischen 
Kontinuität,  auch  die  Berührung  mit  jenem  mächtigen  Strome  individuell 
mystischer  Frömmigkeit  wirken  je  nach  der  Verschiedenheit  der  Individuali- 
täten in  Sokrates,  Plato,  Aristoteles  zusammen,  um  trotz  mancher  kritischer 
Aeusserungen  gegen  die  religiösen  Traditionen  die  ursprüngliche  Verbindung 


')  Diels  8.  365,  die  ähnliche  Ausführung  bei  Lucrez  V  1218—1240  wird  durch 
Vennittelung  Ejukurs  mit  Demokrit  zusammenhängen;  vgl.  Kleanthes  (S.  67)  und 
Seneca,  Naturales  Quaest.  II  42,  3.  -)  Diels,  Vorsokratiker  (1.  Auflage)  S.  540, 

vgl.  Persaios  (S.  67).  ^)  Diels  S.  571,  vgl.  Cicero  De  nat.  deor.  I  77.  118. 


Athenische  Philosophie.     Verfall  der  Religion.    Tyche  59 


von  Philosophie  und  Religion  wieder  enger  zu  knüpfen  und  die  Ethik  durch 
Aufnahme  geläuterter  religiöser  Motive  zu  bereicheiu.  Freilich  gipfelt  die 
Weltanschauung  des  Plato  und  Aristoteles  \  für  die  eine  Trennung  des  Wis- 
sens und  Glaubens  noch  undenkbar  ist,  in  einer  individuellen,  bei  jenem 
mystisch,  bei  diesem  mehr  ästhetisch  gerichteten  Frömmigkeit,  die  ihren  Be- 
kennen! einen  vollen  Ersatz  für  die  Volksreligion  geben  wollte  und  musste. 
Und  insofern  untergräbt  auch  diese  positiv  gerichtete  Philosophie  den  Volks- 
s^flauben,  indem  sie  sich  selbst  an  dessen  Stelle  setzt. 


2  Uebersicht  über  die  hellenistische  Zeit 

Den  Prozess  der  religiösen  Zersetzung,  den  die  fortschreitende  Wissen- 
schaft und  Kritik  eingeleitet  hat,  besclüeunigt  und  vollendet  die  grosse  Um- 
wandlung der  politischen  Verhältnisse  durch  Alexander.  So  weit  die  Reli- 
gion im  politischen  Leben  begründet  und  der  ideale  Ausdruck  der  höchsten 
sittlichen  Güter  des  Gemeinwesens  war,  wurde  sie  im  innersten  erschüttert. 
Wenn  die  Wurzel  des  stadt-staatlichen  Lebens  verdorrte,  musste  auch  die 
Blüte  der  in  alle  öffentlichen  Institutionen  verflochtenen  Religion  verwelken. 
In  dem  Masse,  wie  die  Städte  zur  Bedeutungslosigkeit  herabsanken,  sank 
auch  das  Ansehen  und  der  Kult  der  Götter,  die  ihnen  vorstanden.  Die  Zeit 
des  Glanzes  des  attischen  Reiches  ist  auch  die  Zeit,  wo  die  nationale  Kraft 
und  Bürgertugend  im  Bilde  der  Athena  ihren  idealen  Ausdruck  und  in  ihrem 
Kult  die  glänzendste  Darstellung  findet.  National  beschränkte  Götter  teilen 
die  Geschicke  ihrer  Völker,  erleben  mit  ihnen  die  Zeiten  der  Blüte  und  des 
Niederganges.  So  erscheinen  die  lokalen  Stadtgötter  in  hellenistischer  Zeit 
durch  den  grossen  Verlauf  der  Geschichte  in  ihrer  Wirkungssphäre  beschränkt, 
der  alten  bodenständigen  Kraft  beraubt,  verflüchtigt  und  bedeutungslos,  wenn 
auch  die  berühmtesten  hellenischen  Heiligtümer  durch  den  Philhellenismus 
der  Könige  mit  neuem  Glänze  umkleidet  werden.  Der  Hellenismus  ist  zu- 
nächst eine  Zeit  des  Verfalles  der  griechischen  Volksreligion.  Das  zeigt 
sich  besonders  in  dem  Geschick  der  alten  frommen  Sitte  des  W^eihgeschenkes  ^. 
Sie  dient  jetzt  der  Befriedigung  der  Eitelkeit  und  des  persönlichen  Ehrgeizes, 
wird  des  religiösen  Gehaltes  beraubt,  veräusserlicht  und  verweltlicht.  Und 
die  tiefere  Seele  echten  religiösen  Lebens  vermisst  man  ebenso  bei  den  neuen 
Kulten  und  Pesten  der  Höfe  wie  bei  den  mit  viel  Reklame  in  Szene  gesetzten 
festlichen  Veranstaltungen  der  Städte.  Das  Sakrale  wird  auch  hier  immer 
mehr  zur  äusseren  Etikette  und  leeren  Form ,  zum  Deckmantel  politischer 
Berechnung  und  kommunalen  Ehrgeizes. 

Die  rasch  auf  einander  folgenden  Staatsumwälzungen  und  grossen  Kata- 
strophen der  hellenistischen  Zeit  rufen  bei  der  Menschheit  ein  Gefühl  voll- 
ständiger  Unsicherheit   und   Unbeständigkeit   aller  Verhältnisse    hervor,    er- 


')  Aristoteles  bezeichnet  den  Eindruck  der  meteorologischen  Erscheinungen 
und  der  Pracht  des  Sternenhimmels,  der  Gesetzmässigkeit  der  siderischen  Bewe- 
gungen einerseits,  die  in  Ahnungen  der  Träume  und  im  Enthusiasmus  sich  offen- 
barende göttliche  Kraft  der  Seele  andrerseits  als  die  beiden  Quellen  des  Götter- 
glaubens; s.  Fr.  10 — 12  Rose,  Zeller  11  2  S.  793  fif.  —  Im  Grunde  sind  der  Sternen- 
himmel über  uns  und  das  Göttliche  in  uns  (vgl.  die  Apotheose  Piatos  in  der  Elegie 
an  Eudemos  und  die  Theorie  des  gottgleichen  Herrschers)  auch  die  wesentlichen 
Faktoren  seiner  Religiosität.  Herakles  fasst  er  als  süspy^"^''!?  ßpoi:wv,  s.  Wilamowitz, 
Euripides'  Herakles  I'  S.  331  Anm.  121  (334).  '")  Reisch,  Griech.  Weihge- 

schenk 1890  S.  3. 


GO         VI  Hellenistische  Religionsgeschtciite:  2  Hellenistische  Zeit 

sclüittern  das  Vertrauen  auf  die  Zuläng-lichkeit  der  eigenen  Kraft  und  auf 
das  Reg-iment  der  alten  Götter.  Dieser  Weltenlauf  scheint  von  der  Tuxt)^ 
beherrscht,  die  nach  Laune  und  Willkür  Reiche  zerstört  und  neue  schafft, 
das  Hohe  erniedrigt  und  das  Niedrige  erhöht,  die  ihre  Macht  in  ruhe-  und 
regellosem  Wechsel,  am  liebsten  in  ganz  unerwarteten  Schickungen  offenbart. 
Die  Menschheit  ist  ein  Spielball  ihrer  Launen.  Die  Tempel,  Statuen,  Weih- 
geschenke, die  ihr  gestiftet  werden,  mehren  sich  seit  der  hellenistischen  Zeit, 
inid  kaum  eine  der  göttlichen  Mächte  spielt  in  der  Literatur,  besonders  der 
historischen  und  rhetorischen,  eine  grössere  Rolle.  Die  mannigfach  diffe- 
renzierten und  persönlich  ausgestalteten  Glücksgöttinnen  gehen  in  die  abstrakt 
gefasste  allgemeine  Tyclie  über.  Was  Plinius  Nat.  hist.  II  22  von  ihrem  An- 
sehen sagt,  trifft  auf  die  ganze  hellenistisch-römische  Zeit  zu:  tolo  quippe 
mundo  et  omnilms  locis  omnibusquc  horls  oinnium  vocibiis  Fortuna  sola 
uirocaiur  ac  noniinatur,  una  accusaiur,  nna  agilur  rea,  una  co(filahu\ 
solo  laudatur,  sola  atu/uilur.  et  cum  conriciis  colitur,  rolubilis,  a  plerisque 
rero  et  cacca  exlslunatü,  ratja^,  inconstans,  incerta,  raria  ind'Kjnoruntque 
f'dutrix.  Iiuic  omnia  expensa.  huic  onuiia  fcruntur  (ivvi'pta,  et  in  tota  ratione 
morlaliuni  sola  ulramque  paginam  f'acit,  adeoque  obnoxü  sunius  sortis, 
iit  sors  ipsa  pro  deo  sit.  Und  mit  Recht  hebt  Phnius  hervor,  dass  sich  in 
der  Stärke  dieses  Glaubens  die  ganze  Unsicherheit  der  Vorstellungen  von 
den  Göttern  verrate.  In  allem  Ernste  wird  ausführlich  die  Frage  hin  und 
her  erörtert,  ob  Alexander,  ob  die  Römer  ihre  Erfolge  der  Tyche  oder  der 
eigenen  Tüchtigkeit  verdanken. 

Neben  der  Tyche  wird  die  Eqxapjasvr;  (oder  'Avayy.r^)  als  alles  beherr- 
schende Macht  gefeiert;  denn  unter  dem  Einfluss  der  stoischen  Lehre  und 
des  immer  weitere  Kreise  erfassenden  Sternenglaubens  gewinnt  der  Deter- 
minismus an  Boden.  Aber  auch  von  den  religiösen  Bezeichnungen  der 
höheren  Mächte  w^erden  jetzt  die  unpersönlichen  luid  unbestimmten  bevor- 
zugt-, und  der  bunte  Wechsel,  in  dem  sich  die  Benennungen  ablösen,  be- 
weist, dass  nur  die  Erfahrung  des  störenden  Eingreifens  unberechenbarer 
Faktoren  in  das  Bereich  menschlicher  Handlungen  zugrunde  Hegt,  dass  man 
auf  klare  Vorstellung  des  Wesens  dieser  Mächte  verzichtet.  In  diesen  vagen 
Fassungen  verrät  sich  die  ganze  Unsicherheit  und  Inhaltlosigkeit  des  reli- 
giösen Gefühles,  eine  Ratlosigkeit,  die  sich  in  der  Welt  nicht  zurechtzufinden 
weiss.  Mit  der  Verflüchtigung  der  persönlichen  Götter  und  ihrer  Zurück- 
drängung durch  die  allgemeinen  Gattungsnamen  muss  die  persönliche  Fröm- 
migkeit an  Gehalt  und  Innigkeit  Einbusse  leiden.  Wolil  äussert  sich  in 
diesen  abstrakten  Fassungen  der  monotheistische  Trieb  oder  richtiger  die 
Entudcklung  zum  persönlichen  Göttlichen.  Aber  eine  Vertiefung  des  reli- 
giösen Gefühles  (Beloch  III  1  S.  444)  kann  darin  nur  erkennen,  wer  den 
monotheistischen  Formen  an  und  für  sich,  abgesehen  von  dem  Inhalt,  den 
sie    fassen,    den  Vorzug    vor    dem    Polytheismus   gibt.     Die   monotheistische 


1)  E.  Rohde,  Griech.  Roman-  S.  296—304,  Lorenz'  Pseudolus- Ausgabe  S.  21— 
23,  Deubner,  Roschers  Lexikon  IH  Sp.  2142  ff.,  von  Scala,  Studien  des  Polj-bios  I 
159  ff.,  Rainfurt,  Zur  Quellenkritik  von  Galens  Protreptikos.  Freiburg  i.  B.  1905 
S.  10  ff.  Demetrios  von  Phaleron  leitet  in  dem  Bruchstück  bei  Pol.  29,  21  den 
Glauben  an  die  Tyche  von  dem  Eindruck  der  Katastrophen  des  letzten  halben 
Jahrhunderts   her.  —  Vgl.  Juvenal  10,  305.  3(36  =  14,  315.  316.  ^)  S.  Krüger, 

Theologumena  Pausaniae,  Leipzig  1860  S.  25  ff.  Der  Gebrauch  der  unbestimmten 
Ausdrücke  wie  O-öös,  tö  9-eiov,  lö  Saiiioviov  ist  älter  (Nägelsbach,  Naclihomerische 
Theol.  S.  138  ff.),  ihre  Bevorzugung  und  Bereicherung  für  die  hellenistische  Zeit 
charakteristisch. 


Unbestimmte  Götterbegrifte.    Epikureische  Religion  61 


Richtung  des  Hellenismus  ist  schliesslich  doch  nur  das  Produkt  einer  Auf- 
lösung und  Entleerung  der  Religionen.  Ihre  geschichtliche  Bedeutung  liegt 
darin,  duss  sie  die  Formen  geschaffen  hat,  in  die  das  Christentum  Eingang 
finden  und  einen  neuen  religiösen  Gehalt  giessen  konnte.  Sie  verbindet  sich 
vielfach  mit  universalen  und  monotheistischen  Tendenzen,  die  sich  schon 
ähnlich  in  der  selbständigen  Entwicklung  der  fremden  Religionen,  besonders 
der  ägyptischen,  geltend  gemacht  hatten. 

Dennoch  darf  man  dies  Zeitalter  nicht  irreligiös  nennen.  Die  Signatur 
der  beiden  ersten  Jahrhunderte  des  Hellenismus  ist  freilich  der  Rationalis- 
mus. Aber  an  religiösen  Unterströmungen  hat  es  nie  gefehlt.  Nur  sucht 
sich  das  religiöse  Bedürfnis  neue  Mittel  zu  seiner  Befriedigung  und  neue 
Götter.  Die  orientalischen  und  ägyptischen  Kulte  machen  stetige  Fortschritte. 
Das  Zuströmen  neuer  und  die  Entwertung  alter  Götter  geht  parallel.  Die 
religiöse  Richtung  der  Philosophie,  die  von  Poseidonios  ausgeht,  Augustus 
Versuch  einer  religiösen  Reformation  sind  dann  Vorläufer  einer  religiösen 
Reaktion,  die,  im  H  Jahrhundert  mächtig  anschwellend,  der  folgenden  Ent- 
^vicklung  ihre  Grundrichtung  gibt. 


3  Die  Philosophie 

Die  Philosophie  des  hellenistischen  Zeitalters  will  dem  Gebildeten  zu- 
gleich Religion  sein,  mag  sie  nun  in  der  Ethik  überhaupt  einen  vollgiltigen 
Ersatz  für  die  Religion  finden  und  diese  verflüchtigen  oder  tolerieren  (Skep- 
sis und  Epikur)  oder  die  philosophische  Religion  an  Stelle  der  volkstümlichen 
setzen.  Auflösend  und  zersetzend  wirkt  sie  in  jedem  Falle  auf  die  Volks- 
religionen, auch  wenn  sie,  wie  die  Stoa,  Fühlung  und  Anschluss  an  die- 
selben sucht. 

In  eA\dger  ungetrübter  Freude  und  Selbstgenuss,  unbekümmert  um  diese 
Welt  und  in  ihren  Lauf  nicht  eingreifend  leben  Epikurs  anthropomorphe 
Götter  in  den  Z\^ischenw^elten  als  reinste  Repräsentanten  des  hedonistischen 
Lebensideales  ^.  Aber  wie  an  der  Aufrichtigkeit  dieses  Götterglaubens  schon 
wegen  seiner  erkenntnistheoretischen  Begründung  nicht  gezweifelt  werden 
darf,  so  ist  auch  der  Begriff  der  epikureischen  Frömmigkeit  durchaus  ernst 
zu  nehmen.  Im  Gegensatz  zu  der  auf  Egoismus  und  Furcht  gegründeten 
volkstümlichen  Frömmigkeit  geht  diese  Frömmigkeit  aus  der  interesselosen 
Be\\ainderung  der  die  Menschen  überragenden  Wesen  hervor.  Sie  hat  von 
den  Göttern  gar  nichts  zu  erwarten,  weder  zu  hofften  noch  zu  fürchten.  Sie 
ist  eine  w^esenthche  Grundlage  der  atapac''a,  indem  sie  den  Menschen  von 
allen  den  Beängstigungen  und  Befürchtungen  befreit,  in  denen  der  vulgäre 
Götterglaube  ihn  gefangen  hält.  Sie  ruht  wesentlich  auf  ästhetischer  Stim- 
mung, schhesst  zwar  die  Beteiligung  an  der  väterlichen  Religion  nicht  aus  -, 
tritt  aber  doch  durch  den  ganz  verschiedenen  Inhalt  ihres  religiösen  Fühlens 
in  schärfsten  Gegensatz  zur  Volksrehgion.  „Gottlos  ist  nicht,  wer  die  Götter 
der  Menge  vernichtet,  sondern  w^er  den  Göttern  die  Vorstellungen  der  Menge 
anhängt"  (S.  60,  7  Us.).  „Erfüllte  Gott  die  Gebete  der  Menschen,  so  würden 
sie  bald  alle  zugrunde  gehen,  da  sie  beständig  einander  alles  Schhmme  wün- 
schen"   (S.  259,   1).     Und    auch   die    sonst   gebräuchlichen   Religionsübungen 


')  Usener,  Epicurea  S.  71.  232  ff.  '-)  Usener  S.  258,  14  xa-ä  ~.b  -dcxp'.ov 

20  y.a-ä  -obc.  \ö^ov>c..  Cicero  De  nat.  deor.  I  85  7iori  ego  Epiaireos  omnia  sigilla  ve- 
nerantes  und  Oxyrynchos  Papyri  II  Nr.  CCXV  (Wilamowitz,  Gott.  Gel.  Auz.  1900, 
S.  35). 


(32  VI  Hellenistische  Religionsgeschichte:  3  Die  Philosophik 

erscheinen  auf  diesem  Standpunkt  absurd  ^  ebenso  Orakel wesen  und  jede 
Art  von  Divination  (S.  2G1,  262).  Die  Polemik  richtet  sich  weiter  gegen 
die  Mythen  der  Dichter,  die  den  Göttern  Affekte  zuschreiben  und  von  ihren 
Kiinipt'en,  Verwinulmigen,  Zerwürfnissen,  Ehebruch  und"  Fesselung,  Geburt 
und  Tod  zu  erzählen  wissen-.  Werden  die  theologischen  Ansichten  aller 
Denker  bekämpft,  so  tritt  doch  in  den  Mittelpunkt  der  Polemik  die  stoische 
Theologie  und  Vorsehungslehre.  Weder  in  der  Organisation  des  Menschen 
noch  in  der  des  Kosmos  noch  in  dem  Weltlauf  mit  aUen  seinen  schreienden 
Ungerechtigkeiten  vermag  Epikur  irgendwie  das  Walten  einer  göttlichen 
Vorsehung  Avahrzunehmen  ^. 

Noch  ausschliesslicher  beschränkt  sich  die  Skepsis  der  Akademie  in 
den  religiösen  Fragen  auf  negative  Polemik.  Selbst  die  uns  erhaltenen  zer- 
streuten Reste  ^  lassen  noch  deutlich  erkennen,  dass  Karneades'  (vgl.  S.  28) 
Bestreitimg  des  Götterglaubens,  die  Dichter,  Philosophen  und  den  Volks- 
glauben berücksichtigte  und  keine  Möglichkeit  unerörtert  Hess,  die  umfas- 
sendste, gedankenreichste,  scharfsinnigste  ist,  die  das  Altertum  hervorgebracht 
hat.  Die  Begründung  des  Götterglaubens  aus  der  Allgemeinheit  seiner  Ver- 
breitung, die  Stoiker  und  Epikureer  als  Beweis  anriefen,  bestreitet  Karneades 
durch  den  Hinweis  auf  die  Atheisten ;  und  der  Stoa  hielt  er  noch  besonders 
den  Widerspruch  der  Berufung  auf  diese  Instanz  mit  ihrem  Dogma,  dass 
die  Menge  der  Menschen  Toren  seien,  vor^.  Die  anthropomorphen  Vor- 
stellungen werden  bekämpft  durch  den  Hinweis  auf  ihre  Entstehung,  auf  den 
Widersinn  der  aus  der  Uebertragung  menschlicher  GKedmassen,  Tugenden, 
Affekte  auf  die  Götter  sich  ergebenden  Konsequenzen ".  AVenn  sich  Epikur 
auch  für  die  Annahme  menschenähnlicher  Götter  auf  die  Allgemeinheit  dieser 
Vorstellung  berief,  so  wird  dem  die  Tatsache  entgegengehalten,  dass  die 
Aegypter  ebenso  fest  von  ihrem  Glauben  an  die  Tiergestalt  der  Götter 
überzeugt  sind,  wie  überhaupt  mit  Erfolg  auf  den  Widerstreit  der  mannig- 
fachen Vorstellungen  über  die  Götter  hingewiesen  wird  '.  Der  stoische  Ver- 
such, den  Pantheismus  mit  der  Volksreligion  in  Ausgleich  zu  bringen,  wird 
abgewiesen  durch  den  Widerspruch  gegen  die  allegorische  Ausdeutung,  die 
den  Götternamen  einen  ganz  andern  Sinn  als  den  gewöhnlichen  unterschiebe 
und  vergeblich  die  Absurdität  der  Mythen  aufzuheben  suche-.  Und  der 
stoischen  Gleichsetzung  der  vielfachen  göttlichen  Potenzen  mit  den  Göttern 


0  Lucr.  V  1198 

tiec  pietas  ullast  velalum  saepc  videri 
vertier  ad  lapidem  atque  omnis  accedere  ad  aras 
nee  procumberc  humi  prostratum  et  pandere  palmas 
ante  deiim  delubra  nee  aras  sangnine  muUo 
sparyere  quadnipedum  nee  votis  ncetere  vota. 
Plutarch  Mor.  p.  398  A  sagt  der  Epikureer  Boethos :  Äiileo  Tiav-ci  y.ai  yaJ.y.m  auiJf^'jpäao[isv 
aötöv.  2)  Cicero  De  nat.   deor.  I  42,  Philodem  Ilspl  euasßsia;  her.  von  Gom- 

perz,  Leipzig  1866  und  die  von  mir  („Philos  Schrift  über  die  Vorsehung",  Berlin 
1892  S.  58  ff.)  nachgewiesene  epikureische  Quelle  Philos.  »)  S.  248  ff..  Die 

epikureische  Quelle  Philos,  s.  Wendland  a.  a.  O.  8.  68.  72.  73  ff.  12  ff.  *)  Cicero 

De  nat.  deor.  III  und  I  57  ff.,  Sextus  p]mp.  IX  137  ff.,  vgl.  Schmekel,  Die  Philoso- 
phie der  mittleren  Stoa,  Berlin  1892.  Vick,  Hermes  XXXVII  S.  230  ff.  «)  Ci- 
cero De  nat.  deor.  1  62  ff.  III  11.  —  I  63.  86  hebt  Cicero  hervor,  dass  die  grossen 
Verbrecher  sich  durch  keine  religiösen  Skrupel  stören  lassen ,  vgl.  Plinius  Nat. 
Hist.  n  21.  8)  Cicero  I  77  ff.,  HI  38  Sext.  152  ff.  ■>)  Cicero  I  81. 
82.  m  47.  «)  Cicero  HI  11  62.  63.  Ebenso  äussert  sich  der  Epikureer  136. 
40.  41. 


Kritik  dos  Karneades.     Stoischer  Pantheismus  63 

des  Volksglaubens  tritt  Karneades  durch  Kettenschlüsse  entg:egen,  die  den 
Widersinn  der  Annahme  aus  der  Ki)nse(|uenz  einer  unabsehbaren  Götterreihe 
deduzieren.  Ist  Zeus  Gott,  so  muss  es  auch  sein  Bruder  Poseidon  sein.  Ist 
es  Poseidon,  so  auch  Acheloos.  der  Nil,  jeder  Fluss,  dann  aljer  auch  jeder 
Bach'.  Die  Ablehnung  auch  nur  des  letzten  Gliedes  der  Reihe  führt  zur 
Ablehnun"-  der  ganzen  Reihe  und  auch  des  ersten  Gliedes.  Andere  Reihen 
sind  z.  B. :  Aphrodite,  ihr  Sohn  Eros,  "EXeoc;,  U^6[io5,  überhaupt  die  -äö-r^ ; 
Demeter,  Erde,  Teile  der  Erde;  Sonne  und  Mond,  Lucifer,  Planeten,  Fix- 
sterne, Iris,  Wolken,  alle  möglichen  meteorologischen  Erscheinungen  -.  Kar- 
neades bestreitet  die  gesamte  stoische  Kosmologie  imd  Teleolog-ie,  die  Auf- 
fassung der  Welt  als  Z,CiiOv  und  göttliches  Wesen  •',  besonders  die  Lehre  von 
der  Vorsehung.  Der  Behauptung,  dass  die  Fürsoi'ge  der  Götter  in  der  dem 
Menschen  verKehenen  Gabe  der  Vernunft  sich  offenbare,  widerspricht  all  das 
Unheil,  das  aus  dem  gerade  nach  stoischer  Lehre  überwiegenden  Missbrauch 
dieser  Gottesgabe  folgt.  Der  Einwand,  dass  für  den  Missbrauch  die  Men- 
schen aUein  verantwortlich  zu  machen  seien,  wird  abgewiesen,  da  die  Mög- 
lichkeit des  Missbrauches  in  der  von  den  Göttern  geschaffenen  Natur  des 
Menschen  begründet  wäre.  Und  wenn  die  Götter  nicht  alle  Menschen  gut 
schaffen  konnten,  so  sollten  sie  wenigstens  für  das  Wohlergehen  der  Guten 
sorgen^.  Statt  dessen  sieht  man,  dass  Glück  und  Unglück  oft  gerade  im  um- 
gekehrten Verhältnis  von  Tugend  und  Laster  verteilt  sind.  Das  Glück  der 
Ungerechten  vmd  Gottlosen  widerlegt  die  Annahme  einer  göttlichen  Vor- 
sehung. Wendet  man  ein,  dass  die  Strafe  sie,  wenn  auch  oft  spät,  endlich 
doch  trifft,  so  wäre  es  doch  richtiger,  sie  von  vornherein  an  ihren  Untaten 
zu  hindern.  Und  sagt  man,  dass  die  Frevler  oft  in  Kindern  und  Kindes- 
Idndern  bestraft  würden,  so  wäre  das  eine  schreiende  Ungerechtigkeit^.  — 
In  ausführlicher  Argumentation  verwirft  Karneades  im  Gegensatz  zur  Stoa 
Astrologie  und  alle  Formen  der  Divination  "^ ;  und  der  beliebten  stoischen 
Methode,  den  Unglauben  in  einer  Flut  frommer  und  erbaulicher  Geschichten 
zu  ersäufen,  setzt  er  den  absoluten  Zweifel  an  der  Wahrheit  solcher  Erzäh- 
lungen entgegen. 

Dennoch  gestattet,  so  schwer  es  uns  begreiflich  ist,  selbst  dieser  Stand- 
punkt eine  Teilnahme  am  Kultus ;  denn  die  Norm  des  Wahrscheinlichen,  der 
auch  der  zur  skeptischen  Zurückhaltung  sich  Bekennende  in  der  Praxis  des 
Lebens  folgen  soll,  gestattet  ja,  in  der  Lebensführung  das  anzuerkennen,  was 
man  theoretisch  für  nicht  erwiesen  ansieht.  So  heisst  es  denn  Cicero  III  44, 
Karneades  habe  nur  die  Beweise  der  Philosophen  widerlegen  wollen ;  es  habe 
ihm  die  Absicht  ganz  fern  gelegen,  den  Götterglauben  aufzuheben.  Und  mit 
einer  den  Zwiespalt  geflissentlich  hervorhebenden  erstaunlichen  Schroffheit 
bekennt  sich  der  Vertreter  der  akademischen  Lehre  bei  Cicero,  der  Pontifex 
Cotta  zu  der  doppelten  Buchführung  auf  den  Gebieten  des  Wissens  imd  des 
Glaubens,  die  ihm  trotz  aller  Skepsis  die  Aufrechterhaltung  des  väterlichen 


')  Sext.  IX  182,  vgl.  Cicero  in  43.  -)  Sext.  186.  187—189  vgl.  Cic. 

III  52.  —  Cicero  III  51.  —  Auä  anderer  Quelle  stammen  die  Indices  deorum  III  42. 
53—60,  in  denen  alte  theologische  Pseudo-Gelehrsamkeit  alle  Traditionen  durch 
Unterscheidung  synonymer  Götter  zu  konservieren  suchte ;  s.  Michaelis,  De  origine 
Indicis  deorum,  Berlin  1898,  der  auch  die  von  den  christlichen  Apologeten  benutz- 
ten Kataloge  z.  B.  über  geschlechtliche  Ausschweifungen  der  Götter,  Göttergräber 
u.  a.  zusammenstellt.  ^)  Die  Gründe  s.  Schmekel  S.  305.  306,  Vick  S.  234  &. 

*)  Cicero  IH  65—79.  ^)  Cicero  III  80  ff.,  Wendland  a.  a.  O.  S.  47  ff.        «)  Wend- 

land S.  24  ff.  36  ff.,  Boll  Fleckeiseus  Jahrb.  Suppl.  XXI  S.  181  ff.  —  Hartfelder,  Die 
Quellen  von  Ciceros  zwei  Büchern  De  div.,  Freiburg  i.  B.  1878  S.  13  ff. 


G4  VI  Hellenistische  Religionsgeschichte:  3  Die  Philosophie 

Glaubens  ermöglicht  ^  In  dieser  Anerkennung  des  Wertes  der  väterlichen 
Tradition    scheint    sich    die  Skepsis  von  E})ikur  nicht  viel  zu  unterscheiden. 

I\lerk\vürdi<>-erweise  hat  diejenige  Schule,  die  mit  ihrem  Pantheismus 
und  dem  Begrifte  der  immanenten  Gottheit  von  den  gewöhnlichen  religiösen 
Vorstellungen  sich  am  weitesten  zu  entfernen  schien,  den  engsten  AnscUuss 
an  die  Volksreligion  gesucht.  Im  Zusammenhange  der  stoischen  Philosophie 
mit  dem  Kynismus  ist  diese  Haltung  der  stoischen  Theologie  nicht  begrün- 
det; vom  Kynismus  hat  sie  nur  das  Mittel  allegorischer  Umdeutung  der 
Mythen  übernommen.  Die  Kyniker  haben  von  der  Sophistik  den  Wider- 
spruch gegen  die  Macht  des  Konventionellen  geerbt,  und  sie  haben  auch  im 
Gebiete  des  religiösen  Herkommens  die  extremen  Konsequenzen  gezogen  und 
mit  plebejischer  Roheit  alles,  was  dem  antiken  Menschen  heilig  w^ar,  mit 
derbem  Spott  überschüttet.  Durch  ihre  pietätlose  Verwerfung  aller  väter- 
lichen Tradition  und  jedes  religiösen  Brauches  stechen  sie  von  allen  andern 
Philosophenschulen  ab  und  sind  trotz  ihres  Monotheismus  die  Radikalen  und 
im  antiken  Sinne  Atheisten,  d.  h.  solche,  die  die  väterlichen  Religionsübungen 
verwerfen'"^.  Nur  deren  Ausübung  erschien  als  berechtigte  Forderung  des 
Staates,  welcher  der  theologischen  Spekiüation  die  grösste  Freiheit  Hess,  so- 
lange sie  nicht  an  die  Praxis  der  Religionsübvmgen  rührte.  Von  jener  kyni- 
schen  Negation,  deren  Einfluss  noch  Zenons  UoXiTdoc  verrät  (S.  16),  hat  sich 
die  herrschende  Theologie  der  stoischen  Schule  losgesagt. 

Die  Philosophie  der  Stoa  zeigt  ein  merkwürdiges  Doppelantlitz,  reine, 
nur  wissenschaftlich  interessierte  Spekidationen  auf  der  einen  Seite,  auf  der 
andern  ein  feinfüliliges  Eingehen  auf  die  Bedürfnisse  der  Zeit  und  eine  An- 
passimgsfähigkeit  an  die  Wirldichkeit,  durch  die  diese  Philosophie  wie  keine 
andere  berufen  war,  in  der  Periode  des  älteren  Hellenismus,  unter  der  Herr- 
schaft der  römischen  Republik,  in  der  Kaiserzeit  den  Stimmungen  der  Zeit 
einen  zusammenfassenden  Ausdruck  zu  geben.  Betrachten  wir  zunächst  auf 
religiösem  Gebiete  die  spekiüative  Richtung.  In  stetem  Wechsel  der  grossen 
Weltperioden  lässt  die  Gottheit  Elemente,  alle  Wesen,  den  vielgestaltigen 
Kosmos  aus  sich  hervorgehen  und  nimmt  alles  wieder  in  die  ursprüngliche 
Einheit  auf.  In  ewigen  Rhythmen  bewegt  sich  der  Weltprozess  in  den  immer 
wiederkehrenden  Grenzen  der  O'.ax6a[xr^ao?  und  exTiupwat?.  Die  eine  göttliche 
Urkraft,  physisch  als  Pneuma  und  Aether,  geistig  als  Weltseele,  Xojoc,  el\i<xp- 
\iivri,  r.pövoioi  gefasst,  durchdringt  den  Kosmos  und  hält  jedes  einzelne  W>sen 
zusammen.  In  grösserer  oder  geringerer  Stärke,  in  feinerer  oder  gröberer 
QuaUtät  offenbart  sie  sich  in  bald  unmittelbaren,  bald  mannigfach  vermittel- 
ten Wirkungen  und  Teilkräften,  die  von  ihr  ausgehen.  Sie  entfaltet  sich  in 
den  Elementen  und  offenbart  sich  in  der  feurigen  Natur,  der  regelmässigen 
Bewegung  der  Gestirne  und  dem  dadurch  bewirkten  gleichmässigen  Wechsel 
von  Tag  und  Nacht,  Sommer  und  Winter ;  sie  durchdringt  in  der  Stufenfolge 
von  voöc,  '\>'^yJi,  '-pua'.c,  sctc  die  Einzelwesen.  Dieser  erhabene  pantheistische 
Monotheismus,  der  die  Einheit  und  Gesetzmässigkeit  des  Kosmos  aufs  ^vir- 
kungsvollste  verkündet,  der  Physik  und  Ethik  unter  dasselbe  götthche  Gesetz 
stellt  und  ihnen  die  tiefste  Begründung  gibt,  hat  auf  die  Läuterung  der 
religiösen  Vorstellungen  und  auf  die  Verbreitung  eines  universalen  Gottes- 
begriffes einen  mächtigen  Einlluss  ausgeübt. 

Dennoch   hat    diese  Theologie,    die   im  Grunde   nur   ein   göttliches  Ur- 


')  Cicero  III  2  opiniones ,  quas  a  maioribus  accepimus  9  mihi  enim  unitm  sat 
erat,  ita  nobis  inniores  nostros  tradidisse  43.  Andere  Belege  in  Rohdes  Griech.  Ro- 
man- 229'.  •')  Zeller  II  1^  S.  328  flf.,  Bemays,  Lukian  und  die  Kyniker,  Ber- 
lin 1879  S.  30  ff. 


Verhältnis  zum  Volksglauben.    Theologische  Literatur  65 


wesen,  und  zwar  ein  unpersönliches  kennt,  den  Ansehluss  an  die  volkstüm- 
liche Religion  j>etiissentlicli  gesucht.  Diese  Anknüpt'mig  ist  sichei'  nicht  nur 
bestimmt  durch  die  politisclie  Berechnung-  und  das  praktische  Intei'csse,  den 
volkstümlichen  Götterglauben  als  eine  für  die  Menge  unentbehrliciie  Stütze 
der  sittlichen  Ordnung-  aufrecht  zu  erhalten,  sondern  auch  durch  die  Tiefe 
eines  religiösen  Gefühles,  das  sich  bewusst  ist,  menschlich  beschränkte  Bilder 
und  anthri)i)omorphe  Vorstellungen  nicht  entbehren  zu  können,  um  die  Macht 
des  Göttlichen  und  das  persönliche  Verhältnis  des  einzelnen  zu  demselben 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  und  durch  die  pädagogische  Absicht,  den  Volks- 
glauben mit  reineren  religiösen  Vorstellungen  zu  durchsetzen  und  so  zum 
Vehikel  einer  höheren  pliilosophischen  Religion  zu  machen.  So  entsteht  eine 
freilich  nicht  erfreuliche  Vermittelungstheologie.  Die  Stoa  findet  die  An- 
knüpfung ihrer  Theologie  an  den  Volksglauben,  indem  sie  als  das  beiden 
gemeinsame  Moment  die  Vorstellung  stark  betont,  dass  die  Welt  in  allen 
ihren  Teilen  von  göttlichen  Kräften  und  Wirkungen  erfüllt  ist,  die  wesent- 
liche Differenz  aber  hinwegdeutet,  dass  der  Volksglaube  für  jede  Art  dieser 
Wirkungen  einen  besonderen  persönlichen  Urheber  sucht,  während  die  stoische 
Philosophie  sie  als  Aeusserungen  der  einen  göttlichen  Urkraft,  als  deren  Teil- 
kräfte und  Vermittelungen  fasst,  die  ebenso  unpersönlich  sind  wie  jene.  Und 
nachdem  sie  einmal  sich  gewöhnt  hat,  den  volkstümlichen,  in  Sagen,  Sprich- 
wörtern, Dichtungen  niedergelegten  Vorstellungen  eine  besondere  Bedeutung 
beizulegen  und  in  ihnen  den  symbolischen  Ausdruck  tieferer  Weisheit  zu 
suchen,  ergreift  der  Prozess  der  Harmonisierung-  philosophischer  und  histo- 
rischer Religion  auch  die  ihm  scheinbar  völlig-  widerstrebenden  Gebiete  des 
abstrusesten  Aberglaubens  und  bereichert  das  System  mit  Lehren,  die  nur 
dem  Wunsche,  jene  Ausgleichung  konsequent  durchzuführen,  ihren  Ursprung 
zu  verdanken  scheinen.  So  rechtfertigt  die  Stoa  Orakelwesen  und  Traum- 
deutung- mit  der  Lehre  vom  göttlichen,  im  Enthusiasmus  sich  offenbarenden 
Ursprünge  der  Seele;  sie  weiss  Astrologie  und  alle  Arten  „künstlicher"  Divi- 
nation  mit  ihrer  Lehre  vom  Schicksal  und  vom  inneren  Zusammenhange  und 
der  Sympathie  aller  Teile  der  Welt  in  Einklang  zu  setzen;  sie  etabliert  in 
ihrer  Dämonenlehre  den  niederen  Volksglauben;  sie  bringt  mit  einem  von 
aller  Kritik  verlassenen  Sammeleifer  eine  Unzahl  frommer  Geschichten  zu- 
sammen, um  damit  den  wissenschaftlichen  ScheinbeAveis  zu  ergänzen  und  zu 
stützen. 

Das  Hauptmittel,  die  erwünschte  Konkordanz  herzustellen,  ist  die  alle- 
gorische Deutung.  Wir  wissen,  dass  schon  die  älteren  Stoiker  sich  mit 
allegorischer  Umdeutung  homerischer  und  hesiodischer  Dichtungen,  einzelner 
Göttergestalten  und  Mythen  beschäftigt  haben.  Aber  für  das  wenige,  was 
uns  von  dieser  Schriftstellerei  erhalten  ist  \  müssen  uns  spätere  Handbücher, 
die  den  Niederschlag  der  sehr  viel  reicheren  alten  Erudition  geben,  ent- 
schädigen. Sie  bew^eisen  durch  ihre  populäre  Fassung,  dass  diese  theologi- 
sche Hannonistik  auf  weitere  Kreise  wirken  wollte  und  sich  auch  weiter 
Verbreitimg  erfreute.  Wir  haben,  schwerlich  in  ursprimgliclier  Gestalt,  von 
dem  berühmten  Stoiker  der  neronischen  Zeit,  Cornutus,  ein  Handbuch,  das 
die  Götter  der  Reihe  nach  allegorischer  Umdeutung  unterwirft  -.  Wir  haben 
eines  unbekannten  Heraklit  homerische  Allegoi'ien  •',    die  wegen    ihrer  engen 


1)  S.  z.B.  Zeno  Fi-.  100.  103.  121.  1(37.  169,  Chrysipp  in  Stoic.  vet.  fragm.  Bd. 
II  Fr.  909.  1061  ff.  v.  Arnim,  Diogenes  Fr.  33.  '')  Ed.  Lang,  Leipzig  1881.     Der 

Mangel  an  Zusammenhang,  den  Laug  öfter  dui'cli  Annahme  von  Interpolationen 
willküi-lich  herstellt,  spricht  für  spätere  Ueberarbeitung.  Vielleicht  gehören  dieser 
die  Am-eden  w  TiaiSiov,  Tiai,  -rexvov  au  (vgl.   den  Schluss  der  Schrift).  ^)  Ed. 

Lietzmann,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  I,  2.  5 


66  VI  Hellenistische  Religionsgeschichte  :  3  Die  Philosophie 

Verlnndung-  mit  der  grammatischen  Gelehrsamkeit  Alexandrias  und  Pergamons 
nicht  nach  dem  I  Jahrh.  n.  Chr.  angesetzt  werden  können.  Probus  zu  Ver- 
gil  zitiert  allegorische  Auslegungen  des  Grammatikers  Heraldeon  (etwa  aus 
augusteischer  Zeit),  die  zum  Teil  bei  Sextus  Empiricus  wörtlich  wiederkehren. 
Dazu  kommen  Exzerpte  bei  Stobäus  unter  Plutarchs  Namen,  die  auf  dieselbe 
Quelle  zurückgehen  wie  verwandte  Stücke  unserer  pseudoplutarchischen  Vita 
Homeri,  endlich  eine  Fülle  ähnlicher  Deutungen  beim  Neuj^latoniker  Por- 
})hyrios  und  gleichartiges  Material  in  mancherlei  Scholiensammlungen.  Alle 
diese  sich  vielfach  berührenden  Schriften  sind  im  wesentlichen  aus  gemein- 
samer älterer  Tradition  abgeleitet,  und  wahrscheinlich  hat  ein  Werk  des 
Krates  (S.  28)  die  gemeinsame  Grundlage  gegeben  ^ 

Durch  meist  willkürliche  Etymologien  werden  die  Götter  des  Volks- 
glaubens zu  physischen  und  geistigen  Potenzen  gemacht,  ihre  Mythen,  Attri- 
bute, Begleiter  der  stoischen  Deutung  angepasst,  der  Zweck,  auf  diesem 
Wege  wahre  Frömmigkeit  und  IMoral  zu  verbreiten,  offen  ausgesprochen 
(s.  z.  B.  Coniutus  S.  76).  Zeus  wird  mit  LJiv,  der  Accusativ  A{a  mit  oca 
zusammengebracht,  Hera  ist  gleich  d7]p,  Hades  (=  'Aiorj?)  die  untere  Luft- 
schicht. Die  Häufung  verschiedener  sich  ausschliessender  Deutungen  macht 
an  der  Methode  nicht  irre ;  denn  die  Fülle  der  Deutungen  erweitert  nur  den 
Machtbereich  des  Gottes  und  erhöht  das  Ansehen  der  tiefen  Urweisheit,  die 
das  Altertum  in  Symbole  und  Rätsel  zu  kleiden  wusste  (Corn.  S.  76  2  ff.). 
]\Iit  Vorliebe  werden  die  Götter  zu  AÖyot,  göttlichen  Teilkräften  im  Sinne 
der  Stoa  erhoben  ^.  Der  Mythos  von  der  Zerreissung  des  Dionysos  ist  bild- 
liche Einkleidung  der  Weinbereitung,  Herakles  und  Odysseus  werden  zu 
sittlichen  Heroen  umgedeutet. 

Homer  Avar  zum  Problem  geworden.  Die  Allegoristen  erkennen  die 
ältere  Kritik  als  berechtigt  an  und  sind  im  Grunde  mit  der  Skepsis  und 
Epikur  einig,  dass  es  unmöglich  sei,  Göttern  menschliche  Leiden  und  Leiden- 
schaften beizulegen,  von  ihren  Kämpfen  und  ihrer  Verwundung  zu  reden. 
Aber  sie  meinen,  in  ihrer  Methode  allegorischer  Deutung  das  unfehlbare 
Mittel  gefunden  zu  haben,  die  Ehre  der  Dichter  zu  retten,  die  radikalen 
Konsequenzen  Piatos  und  Epikurs  abzulehnen  und  aus  dem  Urborne  ältester 
Weisheit  immer  neue  Offenbarungen  zu  schöpfen.  Homer  ist  die  Quelle 
aller  W^eisheit  und  Erkenntnis,  aus  der  alle  Denker  geschöpft  haben,  der 
undankbare  Plato  vor  allen ;  die  moderne  Physik  und  Theologie,  Kosmo- 
graphie  und  Geographie  ist  ihm  schon  in  allem  bekannt  gewesen.  Die 
Stimmen  der  Alexandriner,  die  in  dieser  pseudowissenschaftlichen  Exegese 
mit  Recht  die  Verkennung  des  Avahren  Wesens  der  Poesie  sehen,  werden 
überhört.  Die  Schrift  Heraklits  offenbart,  mit  welcher  Leidenschaft  und 
blindem  Unverstand  von  Rationalisten  und  Allegoristen  eine  gleich  schlechte 
Sache  geführt  wird.  Es  gibt  für  Heraklit  nur  die  Alternative,  Homer  der 
Gottlosigkeit    zu    zeihen    oder    durch    allegorische  Auslegung  zu  beweisen-', 


Mehler,  Leiden  1851.  ')  Das  Quellenverhältnis  ist  klargestellt  durch  Diels, 

Doxographi  S.  88  ff.    Maass,  Aratea  S.  167  ff.  >)  Z.  B.  Corn.  S.  20,  18  Tuy^ä- 

vEt  8=  6  'Ep|jLy,5  ö  Xiyoc,  (ov,  Sv  d-eaxciXav  7ip6?  f^iiä;  s;  oOpavou  oi  O-soi,  4,  13  Poseidon 
Xdyos  xaO-'  ov  I5isi  tj  cüaic;,  8,  13  Okeanos  6  or/.iwg  vsöjisvos  Xöyog,  29,  5.  51,  13. 
^)  Heraklit  ed.  Melder  S.  1  ttäv-ws  fäp  yjaeßrjaev,  sl  jitiSsv  y,XXr,f6prizz^  S.  45  ta'jxyjg 
Toivuv  Tf,g  äaä^siag  sv  eci'tv  dcvTi'^äpp.axov,  säv  §7ii8s';£o)[isv  i,XXriyopri\i.B'/ov  xöv  |Jiö9-ov  S.  54. 
55.  88.  112  iTi'.Yvwceta!, ,  xö  toy.o'y/  aöxqi  doeßTf)|ia  TziqXiv.r,z  [leaxöv  eaxt,  cfiXoaocpiag,  [Lon- 
gin] Ilipl  'jio'jg  9,  7  äXÄä  xaOxa  cfoßöpä  |idv,  TcXr^v  äXXwc:,  sl  |ir)  y.ax'  ä.XXTifopici.w  XoLix'fiä.- 
voixo,  -avxär.aj'.v  ä.H%  xai  oü  ocp^ovxa  x6  Tipdjiov  und  die  dort  von  Vahlen  angeführten 
Parallelen. 


Allegorische  Auslegung-.    Rationalisierende  Mythenbehandlung  67 

dass  man  nur  den  verbornfenen  tiefen  Sinn  anstössififer  Stellen  zu  entdecken 
braiiclie,  um  aus  ihnen  die  Mysterien  tiefster  Weisheit  7ai  schöpfen.  So 
wird  denn  z.  13.  ApoUon  als  Helios  g^efasst  und  die  Pest  vom  Sonnenbrand 
abgeleitet,  um  für  eine  das  sittliche  Gefühl  verletzende  Handlung  des  Gottes 
einen  rein  physischen  Vorgang  einzutauschen.  Die  Fesselung  der  Götter, 
der  Sturz  des  Hephaistos,  das  Aufhängen  der  Hera,  der  Ehebruch  des  Ares 
mit  Aplirodite  u.  a.  m.  wird  im  Sinne  der  stoischen  Elementenlehre  umge- 
deutet, und  das  alles  in  der  Ueberzeugung,  dass  damit  erst  das  rechte  Ver- 
ständnis und  der  vollkommene  Genuss  der  Dichtung  ermöglicht  werde.  Diese 
Auslegung  ist  den  Allegoristen  eine  kostbare  Geheimwissenschaft,  die  erst 
den  wahren  dem  nicht  Eingeweihten  völlig  verschlossenen  Sinn  eröffnet  ^  Als 
uT^ovo'.a,  äXAr^yopia,  cpuatxo?  Aoyo;,  cpua^oXoyca  stellen  die  Stoiker  den  ver- 
borgenen Sinn  dem  auf  der  Oberfläche  liegenden  entgegen. 

Die  stoische  Theologie  beschränkt  sich  nicht  auf  die  Anerkennung  der 
Göttlichkeit  physischer  Potenzen.  Kleanthes  erkennt  vier  Quellen  des  Götter- 
glaubens an,  die  Ahnung  des  Künftigen,  die  dankbare  Anerkennung  der 
nützlichen  Gaben  der  Natur,  die  Wirkung  der  meteorologischen  Erscheinungen 
und  als  wichtigste  den  Eindruck  des  Sternenhimmels  '^.  Und  Persaios,  wie 
Kleanthes  Schüler  Zenons,  hebt  besonders  hervor,  dass  die  Wohltäter  der 
Menschheit  und  die  Dinge,  welche  dem  Menschen  nützen  und  sein  Leben 
erhalten,  göttücher  Verehrung  gewürdigt  seien  ^.  Eine  noch  mehr  Kategorien 
scheidende  Behandlung  des  Poseidonios  haben  wir  in  mehreren  abgeleiteten 
Quellen^.  Es  sei  nur  erwähnt,  dass  hier  als  Beispiele  der  Vergötterung  des 
Nützlichen,  neben  der  auch  Vergötterung  des  Schädlichen  angenommen  wird, 
Dionysos  und  Demeter  d.  h.  Wein  und  Brod,  als  vergottete  Wohltäter  He- 
rakles, Dionysos,  die  Dioskuren  genannt  werden. 


4  Rationalistisch-pragmatische  Mythenbehandlung 

Mythos  und  Historie  sind  für  das  antike  Be^vusstsein  nicht  so  streng 
geschieden,  wie  das  moderne  Gefühl  anzunehmen  geneigt  ist.  Der  Mythos 
ist  den  Griechen  die  älteste  Geschichte.  Das  mythische  Denken  ist  nie 
durch  eine  die  Wahrheit  suchende  Forschung  Avirklich  abgelöst  und  ausge- 
scliieden  worden.  Die  erwachende  Reflexion  und  die  fortschreitende  Auf- 
klärimg  haben  die  Geltung  des  Mythos  nicht  beseitigt;  sie  haben  nur  dazu 
geführt,  dass  er  umgestaltet  und  den  herrschenden  Anschauungen  bewusst 
oder  unbewiisst  angepasst  wurde.  Er  nimmt  ein  neues  Kostüm  an  und 
kleidet  sich  in  neue  Formen,  aber  aktuell  ist  er  in  weiten  Kreisen  stets  ge- 
blieben. Die  frei  gestaltende  Dichtung  der  Rhapsoden,  die  uns  noch  heute 
entzückende  Kunst  des  ionischen  Geschichtenerzählers ,  der  konservative 
Sammeleifer  systematisierender  Dichter  und  Genealogen,  die  auf  die  eigene 
Klugheit  und  Skepsis  stolze  Pragmatisierung  der  ältesten  Rationalisten,  die 
mysteriöse  Weisheit  der  Allegoristen,  sie  sind  alle  Stadien  eines  zusammen- 
hängenden Prozesses,  der  die  Perioden  der  geistigen  Entwickelung  wieder- 
spiegelt und  der  beweist,  dass  trotz  der  skeptischen  und  oft  radikalen 
Unterströmung  das  alte  Erbe  der  Väter  seinen  mit  den  Zeiten  freilich  stark 
wechselnden  Wert  behalten  hat.  Und  nachdem  besonders  die  peripatetische 
.Schule    die   Methode    gelehrt    hatte,    den   Mythos   in    seinem   ursprünglichen 


')  S.  5.  112.  -)  Fr.  528  in  Stoic.  vet.  fragm.   ed.  von  Arnim.     2  fan- 

den  wir  bei  Prodikos,  1   bei  Aristoteles,   3.  4   bei  Demokrit,   Kritias,   Aristoteles 
3)  Fr.  448  von  Arnim.  *)  Ai'chiv  für  Gesch.  der  Philos.  I  S.  201  ff. 

5* 


68        VI  Hellenistische  Religionsgeschichte:  4  Mythenbehandlung 

Sinne  zu  be^rreifen  und  zu  geniessen,  hat  zwar  die  ernste  Forschung'  niclit 
erfolglose  Mühe  aufgewandt,  den  reichen  Bestand  der  Traditionen  mit  mi)g- 
lichster  Treue  zu  bewahren  und  mit  tieferem  Verständnis  zu  durchdringen ; 
aber  auch  in  hellenistischer  Zeit  ist  der  Trieb  nicht  erstorben,  den  Mythos 
für  die  Gegenwart  aktuell  und  lebensfähig  zu  machen,  die  alten  Schätze 
durch  Umgestaltung  und  freie  Erfindung  in  neuen  Formen  auszuprägen. 
Alexanders  Taten  sind  sofort  in  den  Mythos  projiziert  worden.  Das  Unter- 
haltungsbedürfnis forderte  mit  der  fortschreitenden  Bildung  eine  breite,  für 
ims  fast  völlig  verlorene  Literatur.  Novellensammlungen,  Liebesgeschichten, 
utopische  Politien,  Reiseromane,  die  schon  von  den  Zeitgenossen  ins  Phan- 
tastische gezeichnete,  von  der  rhetorisierenden  Historie  immer  wieder  nach 
dem  Zeitgescluuack  und  wechselnder  Tendenz  umgemodelte,  endlich  ganz  in 
den  Roman  auslaufende  Alexandergeschichte  mussten  es  befriedigen.  Solche 
Literatur  ist  an  und  für  sich  ephemer,  sie  wird  immer  neu  aufgelegt,  und 
die  Produktion  der  folgenden  Generationen  verschbngt  die  Erzeugnisse  der 
voraufgehendeu ;  späte  Ableger  der  Gattung  müssen  uns  einen  Ersatz  geben 
für  die  dürftigen  Reste  der  auf  diesem  Gebiet  der  popiüären  Literatur  so 
fruchtbaren  hellenistischen  Zeit.  So  erscheinen  auch  immer  neue,  gar  keine 
wissenschaftlichen  Zwecke  verfolgende,  nur  auf  die  imversiegüche  Freude 
des  Griechen  an  schönen  Geschichten  rechnende  Mythenbearbeitungen,  in 
denen  aktuelle  Tendenzen,  rhetorische  Effekte,  pikante  Züge  die  Naivetät 
und  den  Zauber  der  alten  Poesie  verdrängen.  Denn  die  Geschichten  müssen 
jetzt  leidlich  rationell  sein,  des  Teratologischen  und  Märchenhaften  entkleidet, 
sich  in  den  Grenzen  der  Möglichkeit  bewegend.  Dazu  fordert  der  neu  er- 
schlossene oder  jetzt  leichter  zugängliche  Schatz  orientalischer  und  ägypti- 
scher Traditionen,  Mythen,  Novellen  zu  hellenisierender  Umarbeitung  heraus. 
Das  alles  erzeugt  eine  reiche,  zwischen  Wahrheit  und  phantastischer  Dichtung, 
scheinbarer  Wissenschaft  und  populärer  Unterhaltung  die  Mitte  haltende 
Literatur. 

Die  rationalisierende  Umdichtung  ergreift  die  griechische  wie  die  orien- 
talischen Religionen.  Es  schien  ein  Leichtes,  die  an  jener  erprobten  Me- 
thoden und  Prinzipien  auch  auf  den  gleichartigen  Stoff  dieser  anzuwenden. 
Denn  die  Voraussetzung  ist  dem  Griechen  und  dem  Römer  selbstverständUch, 
dass  der  polytheistische  Glauben  aller  Völker  den  gleichen  göttlichen  Mächten 
gilt,  die  nur  mit  verschiedenen  Namen  genannt  werden  ^  In  diesem  Sinne 
hat  Herodot  die  ägyptischen  und  griechischen  Götter  ausgeglichen,  Tacitus 
den  germanischen  die  römischen  Namen  substituiert.  Und  diese  Voraus- 
setzung hat  die  Vermischung  der  Religionen  erleichtert  und  gefördert. 

Der  unter  Ptolemaios  I  (323 — 285)  in  Aegypten  lebende  Hekataios  hat 
in  seinen  AiyuTixiaxa  die  ägyptische  Geschichte  modernisiert  und  hellenisiert, 
indem  er  die  Ideale  seiner  Zeit,  den  aufgeklärten  Absolutismus,  philosophi- 
sche Moralsätze,  eine  rationelle  Religion  in  die  alte  Zeit  verlegte-.  Uns 
gehen  hier  nur  die  rehgionsgeschichtlichen  Ausführungen  an:  Die  ersten 
Menschen,  die  in  Aegypten  entstanden,  hielten,  als  sie  den  staunenden  Blick 
auf  den  Kosmos  richteten,  Sonne  und  Mond  für  die  beiden  ewigen  Götter; 
sie  nannten  sie  Osiris  und  Isis.  Aber  auch  die  Elemente,  aus  denen  die 
Welt  wie  der  Leib  aus  den  Gliedern  sich  zusammensetzt,  nannten  sie  Götter, 


')  Wer  sich  diese  Yorauüsetzung  klar  gemacht  hat,  darf  z.  B.  für  die  Her- 
leitung des  Demeter-  oder  Dionysoskultes  aus  Aegypten  sich  auf  antike  Zeugnisse 
nicht  berufen.  -)  S.  Schwartz,  Rh.  M.  XL  S.  233—262  und  Wissowas  Real- 

enzykl.  V  Sp.  669  ff.     Die  Reste  in  Müllers  Fragm.  Hist.  Graec.  H  S.  384   (unvoll- 
ständig).   Der  grösste  Teil  von  Diodor  Buch  I  geht  auf  Hekataios  zurück. 


Hekataios  69 

nämlich  das  Pneuma  Zeus,  das  Feuer  Hepluiistos,  die  Erde  Demeter,  das 
Nasse  Okeanos,  die  Luft  Athena.  In  Gestalt  der  heiligen  Tiere  oder  auch 
Menschen  erscheinen  sie  auf  Erden'.  Neben  den  himiiiHschen  G()ttern  gibt 
es  auch  irdische,  Sterbliche,  die  wegen  ihrer  Klugheit  und  ihrer  Verdienste 
um  die  Menschen  Unsterblichkeit  erlangten ;  zum  Teil  sind  es  die  ältesten 
Könige  Aegvptens.  An  der  Spitze  steht  Helios,  der  seinen  Namen  nach 
dem  hiuuulisciieu  Gott  erhielt.  Es  folgen  Kronos  und  Rhea,  dann  Zeus  und 
Hera.  Ihre  Kinder  sind  O.'^iris  (=  Dionysos)  und  Isis  (=  Demeter),  Typhon, 
Apollon  -.  Nach  der  Erlinduug  des  Getreides  und  seiner  Bearbeitung  erziehen 
Osiris  und  Isis  die  Menschen  zu  milderen  Sitten,  indem  sie  zuerst  die 
Menschenfresserei  abschaffen.  Isis  (=  Demeter  H-safxocpopo?)  gibt  ihnen  Ge- 
setze. Osiris  gründet  das  ägyptische  Theben  und  konsekriert  dort  seine 
Eltern  Zeus  und  Hera ;  er  fördert  alle  Erfindungen,  Künste,  den  Ackerbau  •''. 
Isis  A\'eiss  nach  seinem  Tode  ihm  eine  Fülle  von  Kultstätten  in  Aegypten  zu 
schaffen,  und  sie  selbst  findet  nach  dem  Tode  wegen  ihrer  Wohltaten  gött- 
liche Verehrung  vonseiten  der  dankbaren  Untertanen.  —  Mit  Unrecht  erhebt 
das  griechische  Theben  Anspruch  auf  Dionysos;  in  Wahrheit  hat  erst  Or- 
pheus, um  einen  Fehltritt  der  Semele  zu  verdecken,  die  Mysterien  des  Osiris 
dortliin  übertragen.  Ueberhaupt  machen  die  Griechen  mit  Unrecht  die  be- 
rühmtesten Heroen  und  Götter  sich  zu  eigen;  auch  Herakles  ist  Aegypter. 
Von  Aegypten  aus  hat  Belos  eine  Kolonie  nach  Babylon  geführt,  wo  er  die 
Chaldäer  zu  Trägern  der  ägyptischen  Weisheit  machte,  Danaos  eine  andere 
nach  Argos;  auch  Kolcher  und  Juden  sind,  wie  die  Sitte  der  Beschneidung 
beweist,  Abkömmlinge  der  Aegypter,  und  die  Athener  stammen  aus  Sais  *. 
Nur  der  Grundriss  der  Darstellung  konnte  hier  wiedergegeben  werden ; 
Details,  ätiologische  Begründungen,  Varianten  sind  meist  übergangen.  Das 
Gewebe  ist  leicht  aufzulösen,  und  die  mannigfachen  Motive,  die  das  kom- 
plizierte Gebilde  geschaffen  haben,  sind  durchsichtig  genug.  Hekataios  be- 
ruft sich  oft  auf  ägyptische  Priester  und  führt  auf  ihre  Autorität  differierende 
Deutungen  und  Traditionen  zurück.  Wir  sehen,  dass  schon  vor  ihm,  was 
auch  aus  Herodot  sich  bestätigt,  die  theologische  Spekulation  in  verwandter 
Richtung  sich  bewegt  hat  ^.    Es  galt,  eine  gescliichtliche  Erklärung  zu  finden  für 


»)  Diodor  I  11.  12,   vgl.   Diog.   Laert.  I  10.  -)  Diodor  13. 

3)  Diodor  hat  hier  15,  6—8.  17 — 20.  5  aus  einer  andern  Quelle  einen  Bericht  ein- 
gefügt, den  ich  wegen  seines  Alters  und  seiner  verwandten  Tendenz  —  nur  das 
Romanhafte  drängt  sich  mehr  vor  —  hier  wiedergebe:  In  Nysa  im  glücklichen 
Arabien,  wo  Dionysos  geboren  ist,  erfindet  und  lehrt  er  den  Weinbau.  Um  die 
ganze  Menscliheit  der  Gaben  der  Kultur  teilhaft  zu  machen  und  um  durch  seine 
Wohltaten  unsterbliche  Ehren  zu  erlangen,  durchzieht  Dionysos  die  ganze  weite 
Welt,  mit  dem  lustigen  Gefolge  der  Satyre  und  mit  den  ihnen  aufspielenden  Mu- 
sen. Er  durchwandert  Aethiopien,  Arabien,  gründet  in  Indien  ausser  andern  Städten 
Nysa  (mit  Unrecht  machen  die  Inder  den  Gott  zu  ilu'em  Landsmann),  überschreitet 
den  Hellespont,  überwindet  in  Thrakien  Lykurgos  und  lässt  dort  Maron  in  der 
nach  ihm  benannten  Stadt  als  Herrscher  zurück ;  seinem  Sohn  Makedon  übergibt 
er  das  seinen  Namen  tragende  Land,  Triptolemos  schickt  er  als  Kulturträger  nach 
Attika.  Ueberall  findet  er  ohne  Widerstand  (18,  5,  vgl.  Plut.  De  Iside  13  p.  356  B, 
oben  S.  19)  freudige  Anerkennung  als  Gott  und  besonders  nach  dem  Tode  die 
ausgezeichnetsten  Ehren.  —  Alexander  ist  offenbar  das  Vorbild  der  Heereszüge 
und  der  Weltherrschaft  dieses  Dionysos.  •*)  Diod.  I  28,  2.  XL  3,  2. 

^)  Das  beweist  auch  Plutarchs  Schrift  über  Isis  und  Osiris,  die,  mitunter  mit  He- 
kataios sich  berührend,  überwiegend  andern  Darstellungen  und  Deutungen  folgt. 
Dass  z.  T.  alte  Quellen  benutzt  sind,  machen  neuere  im  Resultat  freilich  differie- 


70         VI  Hellenistische  Religionsgeschichte:  4  Mythenbehandlung 

die  anerkannte  Identität  von  Göttern  der  verschiedensten  Völker,  für  die 
Aehnlichkeit  von  Kulten  und  Gebräuchen;  die  Spekulation  schlug  dieselbe 
Richtung  ein  wie  die  durch  die  Völkerraischung  von  selbst  auch  im  Leben 
sich  vollziehende  Ausgleichung.  Das  gewaltige  Alter  der  ägyptischen  Tra- 
dition, das  schon  dem  Milesier  Hekataios,  Herodot,  Plato  so  imponiert  hatte, 
führte  von  selbst  zu  der  von  der  Eitelkeit  ägyptischer  Schriftsteller  ge- 
förderten Annahme,  dass  in  Aegypten  der  Ursitz  der  Kultur  und  der  Ur- 
sprung der  Menschheit  sein  müsse.  Aber  mit  den  historisch  pragmatischen 
Konstruktionen  verbinden  sich  religiös  rationalistische  Tendenzen.  Man  will 
das  wahre  Wesen  der  Religion  aus  dem  Wüste  der  Traditionen  heraus- 
stellen, und  da  hatte  die  Aufldärung,  wie  wir  schon  sahen,  nichts  übrig 
gelassen  als  Gestirne  und  Elemente  einerseits,  göttliche  Menschen  anderer- 
seits. Man  tut  dieser  Spekidation  unrecht,  w^enn  man  sie  destruktiver 
Tendenzen  beschuldigt;  sie  ist  viel  eher  bemüht,  zu  konservieren,  was  die 
Kritik  übrig  gelassen  hat.  Für  uns  stellt  sie  den  Bankerott  der  heidnischen 
Rehgion  bei  den  Gebildeten  ans  Licht,  aber  sie  hat  ihn  nicht  herbeigeführt 
und  herbeiführen  woUen.  Sie  wird  der  getreue  Ausdruck  des  Durchschnitts- 
bewusstseins  der  Gebildeten  sein,  und  gottlos  ist  sie  erst  der  romantisch 
archaisierenden  Frömmigkeit  der  nachchristlichen  Zeit  erschienen. 

Der  Zusammenhang  mit  den  früher  dargelegten  aufklärerischen  Ge- 
danken tritt  auch  darin  hervor,  dass  beständig  die  Wohltaten  und  die  nütz- 
hchen  Gaben  als  Grund  der  Apotheose  hervorgehoben  werden.  Aktuell 
politische  Tendenzen  und  Beziehungen  spielen  mit.  Die  zu  Göttern  ge- 
w^ordenen  Könige  werden  wesentlich  als  Kulturträger  geschildert^;  sie  ver- 
wirklichen das  Ideal,  das  in  den  Fürstenspiegeln  der  Zeit  den  Königen  vor- 
gehalten wurde.  Wie  die  Pharaonen  und  die  hellenistischen  Fürsten  ver- 
zeichnen Osiris  und  Isis  ihre  res  gestae  auf  Inschriften,  die  von  Diodor  I  27 
im  Wortlaut  mitgeteilt  werden.  AUegorisierende  und  etymologische  Er- 
klärungen mögen  irgend  wie  von  der  Stoa  beeinflusst  sein,  wie  auch  der  Pa- 
rallelismus von  Makrokosmos  und  Mikrokosmos  stoisch  ist;  aber  all  die  Ten- 
denzen sind  in  der  geistigen  Richtung  der  Zeit   überhaupt  weit  verbreitet^. 

Eine  ähnliche  Theologie  vertritt  wohl  etwas  später  als  Hekataios  Eulie- 
meros^  in  seiner  Izpoc  avaypacpr^.  In  der  Form  eines  Reiseberichtes  erzählt 
Euhemeros,  dass  er  auf  der  Fahrt  aus  dem  roten  Meer  in  den  indischen 
Ozean  drei  bisher  unbekannte  Inseln  besucht  habe.  Nach  Art  der  politischen 
Utopien  wird  Verfassung  und  Lebensweise  dieser  Instdaner,  der  Panchäer, 
als  Ideal  eines  glückhchen  Lebens  geschildert,  wie  es  Hekataios  in  ähnhcher 
Einkleidung  seiner  Hyperboreerschrift  den  Bewohnern  einer  Insel  im  atlanti- 
schen Ocean  zugeschrieben  hatte.  Die  Existenz  der  Inseln  ist  erdichtet,  und 
der  Verfasser  zeigt  sich  nicht  einmal  mit  indischen  Verhältnissen  vertraut; 
die  Farben  seines  Bildes  nimmt  er  wesentlich  von  Aegypten,  wo  wir  seine 
Heimat  suchen  dürfen.  Auf  einer  der  Inseln  findet  er  auf  einem  hohen 
Hügel  ein  Heiligtum  des  Zeus  und  in  ihm  eine  goldene  Säule,  auf  der  in 
heiliger  Schrift  Uranos,  Kronos,  Zeus  ihre  Taten  (upd^zic)  aufgezeichnet 
haben  (vgl.  Hekataios).  In  der  Wiedergabe  dieser  Schrift  hat  man  also  die 
ganz    authentische    Göttergeschichte:    Der  erste  König  war  Uranos,  ein  ge- 


rende  Untersuchungen    wahrscheinlich.     S.  Welhnann,    Hermes   XXXI  S.   221  ff., 
Heinze,  Xenokrates  S.  30.  81  ff.,  F.  Dümmler,  KI.  Schriften  H  S.  457  ff.  ')  Die 

peripatetischen  Forschungen  über  die  Entwickelung  der  Kultur  (S.  16)  wirken  im 
einzelnen  ein.  -')  Vgl.  auch  Reitzenstein,  Zwei  religionsgeschichsliche  Fragen, 

Strassburg  1901  S.  77.  ^)  Der  vorzügliche  Artikel  Jakobys  in  Wissowas  Real- 

enzykl.  \1  gibt  alle  nötigen  Quellennachweise. 


Eiihemeros  7 1 


rechter  und  wohltätiger  Mann,  der  zuerst  den  Kult  der  himmlischen  Götter 
einführte  (im  Heiligtum  hatte  er  eine  Art  Sternwarte)  und  daher  den  Namen 
Helios  bekam  (vgl.  Hekataios  bei  Diodor  I  13,  1.  2).  Es  folgen  Kronos  und 
Rhea,  dann  Zeus,  der  nach  Babylon  zieht  und  sich  mit  Belos  befreundet,  in 
Pancliaia  den  Kult  seines  Grossvaters  einrichtet,  Syrien  und  viele  andere 
Länder  durchzieht,  die  Wohltaten  der  Zivilisation  mitteilend.  Seinen  eigenen 
Kult  verbreitet  er  auf  diesen  Zügen  und  baut  sich  den  prachtvollen  Tempel 
in  Panchaia.  Nachdem  er  fünfmal  die  Erde  durchwandelt,  seine  Freunde 
und  Verwandte  in  Satrai)ieen  eingesetzt  hat,  endet  er  sein  Leben  in  Kreta, 
wo  er  bestattet  wird,  und  geht  zu  den  Göttern  ein.  Die  mythischen 
Streitigkeiten  der  Götter  werden  als  Palastintriguen  und  Insurrektionen  ge- 
schildert. Im  Detail,  das  hier  nicht  wiedergegeben  werden  kann,  fehlt  es 
nicht  an  pikanten  Zügen;  so  wird  z.  B.  erzählt,  der  Koch  des  Königs  von 
Sidon,  Kadmus,  sei  mit  der  Flötenbläserin  Harmonia  nach  Theben  durchge- 
gangen, und  das  Bild  der  unzüchtigen  Mysterien,  die  Aphrodite  gestiftet 
haben  soU,  scheint  von  orientalischen  HeiUgtümern  abgenommen  zu  sein. 

Die  Schilderung  der  stufenweisen  Ent%\äckelung  der  Kidtur,  der  Heeres- 
züge und  Weltherrschaft  des  Zeus,  die  Konsekrierung  der  Vorfahren  durch 
die  späteren  Könige  verrät  eine  weitgehende  Uebereinstimmung  des  Euhe- 
meros  mit  dem  von  ihm  wohl  benutzten  Hekataios,  die  schon  vorher  in 
Einzelzügen  hervorgehoben  vmd  von  Jakoby  überzeugend  dargelegt  ist.  Auch 
Euhemeros  unterscheidet  die  zwei  Klassen  der  himmlischen  und  der  irdischen 
Götter  imd  nimmt  die  gleichen  Motive  für  die  Vergötterung  der  Könige  an. 
Nur  tritt  bei  ihm  die  Selbstvergötterung  in  den  Vordergrund.  Für  die  frei- 
willige Anerkennung  der  Göttlichkeit  des  Herrschers  durch  seine  dankbaren 
LTntertanen  und  für  seine  Konsekration  nach  dem  Tode  bot  die  Geschichte 
seit  Alexander  die  Beispiele.  Aber  die  Selbstvergötterung  hat  erst  Ptole- 
maios  Philadelphos  nach  271/0  durch  Einführung  des  Kults  der  iS-eot  aosXcpoc 
geschaffen  (s.  §  5),  und  Euhemeros'  Schrift  wird  wegen  der  Polemik  im 
Zeushymnos  des  Kallimachos  V.  8,  9  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  früher 
angesetzt.  Man  mrd  annehmen  dürfen,  dass  der  Gedanke  schon  damals  in 
der  Luft  lag,  imd  dass  höfische  Literaten  seiner  Ausführung  vorgearbeitet 
haben. 

Die  Schrift  des  Euhemeros  ist  eine  der  ersten  Prosaschriften,  die  in 
die  römische  Literatur  übergegangen  sind.  Sie  hat  in  der  Uebersetzung  des 
Ennius  den  Römern  ebenso  sehr  gefallen,  wie  sie  später  den  Beifall  mo- 
demer RationaHsten  gefunden  hat,  und  christliche  Apologeten  haben  ihr 
Waffen  zur  Bekämpfung  des  Polytheismus  entnommen.  So  hat  die  Theo- 
logie, die  politische  Persönlichkeiten  durch  ihre  Verdienste,  W^ohltaten,  Er- 
findungen göttbche  Verehrung  linden  lässt  und  die  alte  Göttergeschichte 
historisierend  auflöst,  den  Namen  Euhemerismus  erhalten.  In  Wahrheit  ist 
Euhemeros  gar  nicht  der  Schöpfer  einer  neuen  Theorie,  sondern  er  hat  nur 
eine  weit  verbreitete  Methode  ^  zu  einer  neuen  Darstellung  der  Urgeschichte 
benutzt  und  dieser  durch  die  überaus  -wirksame  Einkleidung  eine  besondere 
Geltrmg  verschafft. 

Sogar  ein  relativ  so  zuverlässiger  Schriftsteller  wie  Megasthenes,  der 
ebenfalls  älter  als  Hekataios  ist,  zeigt  sich  in  seiner  Darstellung  der  indi- 
schen Rebgion  von  dieser  Strömung  beeinflusst,  wenn  er  Dionysos  als  Stifter 
des  Gottesdienstes,  Städtegründer,  Verbreiter  der  Kultur  schildert  und  ihn 
zum  Dank  für  seine  Wohltaten  göttliche  Ehren  erlangen  lässt,  wenn  er  sich 
ähnlich    über    die    Apotheose    des    Herakles    äussert"-,  wenn  er  indische  und 


')  8.  Lobeck,  Aglaophamus  S.  987—1004.        "-)  Diod.  U  38.  39,  4,  Arrian,  Ind.  7. 


72         VI  Hellenistische  Religionsgeschiciitk  :  4  Mvthenbehandlung 

griechische  Götter  vermischt.  Und  in  diese  Zeit  gehört  auch  Leons  in  die 
Form  eines  Briefes  Alexanders  an  Olympias  gekleidete  Behandlung  der  ägyp- 
tischen Religion  \  Da  werden  Osiris  und  die  mit  Demeter  gleichgesetzte 
Isis  \vie  ihre  Eltern  zu  Herrschern  gemacht,  und  Isis  führt  den  Kult  ihrer 
Eltern  ein;  Dionysos  ist  auch  hier  Weltherrscher. 

]\Iit  freiester  Phantasie  die  Stoffe  gestaltend,  nur  aufs  Ergötzen  und 
Gefallen  bedacht,  scliilderte  Dionysias  Skytobrachion  (II  Jahrh.)  die  von  ihm 
in  Libyen  lokalisierten  Sagenkreise  des  Dionysos,  der  Atlantier,  der  Ama- 
zonen und  die  Argonautensage-.  In  den  Atlantiern  wird  ganz  wie  in  der 
bisher  betrachteten  Literatur  die  Verbreitung  der  Kultur  (auch  Sternkunde) 
durch  die  ältesten  Könige  (Uranos,  Basileia  =  grosse  Mutter,  Atlas  und 
Kronos,  Zeus),  ihre  Weltherrschaft,  ihre  Vergötterung  nach  dem  Tode  wegen 
der  eOspyeatac  gescliildert  ^.  Und  nach  gleicher  Methode  werden  der  Kampf 
des  Ammonssohnes  Dionysos  mit  Kronos,  seine  Verdienste  um  die  Mensch- 
heit und  seine  Apotheose  erzählt"^.  Das  Fabelhafte  beseitigt  er  in  der  alten 
Weise  durch  rationalistische  Umdeutung,  die  Charaktere  zeichnet  er  mit 
grellen  Farben  ins  Tugendhafte  oder  ins  Boshafte.  Als  Quellen  schiebt  er 
alte  erschwindelte  Dichtungen  vor,  wie  das  später  auch  in  den  unter  Diktys' 
und  Dares'  Namen  verbreiteten  mythischen  Romanen  geschehen  ist.  So  hat 
um  100  n.  Chr.  Herennius  Philon  von  Byblos  einen  Sanchuniathon  vorgeschoben, 
um  durch  eine  alte  Autorität  seine  Darstellung  der  phönikischen  Götterge- 
schichte zu  decken,  die  uns  besonders  durch  Eusebius'  Exzerpte  bekannt  ist. 
Der  allegorischen  Geheimniskrämerei  wird  die  pragmatische  Geschichte  der 
Götter  gegenübergestellt.  Sie  sind  Menschen  gewesen.  Die  prinzipielle 
Betrachtimg  wird  in  die  Worte  gefasst:  „Die  ältesten  Barbaren,  besonders 
Phöniker  und  Aegyptier,  von  denen  die  andern  abhängig  sind,  hielten  die  Ei-fin- 
der  der  für  das  Leben  nötigen  Bedürfnisse  und  die,  welche  den  Völkern  Gutes 
taten,  für  die  grössten  Götter.  Diese  beteten  sie  als  Wohltäter  und  Urheber 
vieles  Guten  an  und  errichteten  ihnen  nach  ihrem  Tode  Tempel."  Die  anderen 
Ehren  werden  genannt,  aber  ausdrücklich  bemerkt,  dass  auch  die  Gestirne 
und  Elemente  für  Götter  galten,  es  also  zwei  Klassen  von  Göttern  gab, 
sterbliche  und  unsterbliche.  Die  Namen  jener  soUen  öfter  auf  diese  über- 
tragen sein\  Beispiele  solcher  Gleichnamigkeit  sind  uns  schon  begegnet. 
Die  Kulturgeschichte  Avird  auch  hier  in  eine  Folge  von  £üpyj|JLaxa  aufgelöst, 
nur  dass  sie  an  phönikische  Namen  geknüpft  sind. 

Diese  historisierende  Mythenbehandlung  lehrt  durch  ihre  weite  Ver- 
breitung und  ihre  Anpassung  an  den  Zeitgeschmack  das  religiöse  Durch- 
schnittsbewusstsein  der  Gebildeten  am  besten  kennen :  Gestirne  vuid  Elemente, 
Fälligkeit  der  Menschennatur,  durch  den  rechten  Gebrauch  ihrer  geistigen 
Gaben  sich  zum  GöttUchen  zu  erheben.  Die  Gleichsetzung  des  Göttlichen 
mit  den  Naturkräften,  die  zugleich  im  Zeitalter  der  Naturwissenschaften,  die 
den  Menschen  zu  deren  Herrn  machen,  eine  Gefährdung  der  Religion  be- 
deutet, ist  als  das  natürliche  Ergebnis  des  früher  geschilderten  Aufklärungs- 
prozesses begreiflich.     Die  Prinzipien  und  Urstoife  der  Philosophie  wollten  ja 


')  Müller,  Fragm.  Hist.  Graec.  II  S.  231.  232.  -)  Auszüge  bei  Diod.  m 

66,  4—73.  56.  57.  60.  61,  .52,  3—55,  IV  40—55,  s.  Schwartz  in  Wissowas  Realen- 
zykl.  V  Sp.  929  ff.  =•)  S.  besonders  Diod.  III  56.  57,  2.  60,  .3.  5.  *)  Diod. 

70,  3.  7.  8.  71,  5.  72,  1.  4.  73,  1.  3.  5  treten  euhemeristische  Tendenzen  besonders  her- 
vor. °)  Euseb.  Präp.  I  9,  29.  —  Noch  sei  auf  die  dieser  Literatur  zugehörigen, 
aber  mit  Unrecht  von  manchen  Euhemeros  zugeschriebenen  Berichte  bei  Firmicus 
Maternus  6.  7.  10  hingewiesen.  Auch  sonst  beweisen  die  Kirchenscliriftsteller  die 
Verbreitung  der  von  diesen  Tendenzen  beherrschten  Literatur. 


Dioiiysios  Skytobrachion.     Elemente  und  vergötterte  Menschen  73 


in  der  Tat  für  die  Erklärung  der  Welt  und  ihres  Zusammenhanges  dasselbe 
leisten  und  besser  leisten  wie  die  mythischen  Götter.  Es  ist  begreiliich, 
dass  sie  an  deren  Stelle  traten.  Die  Göttlichkeit  der  Gestirne  hatten  J;*ytha- 
goras,  Plato,  Aristoteles,  die  Stoa  gelehrt.  Und  die  Stoa  hatte  ja  Gestirne 
und  Elemente  mit  den  persönlichen  Göttern  des  Volksglaubens  gleichgesetzt 
und  konnte  für  die  Planeten  an  die  volkstümlichen  Benennungen  mit  Götter- 
namen anknüpfen.  Aber  die  gelegentliche  Erwähnung  und  knai)pe  Behand- 
lung dieser  Götter  in  jenen  religionsgeschichtlichen  Schriften  beweist,  dass 
sie  für  die  Religiosität  wenig  zu  bedeuten  hatten.  Eine  neue  Bedeutung 
hat  diese  Theologie  erst  gewonnen,  als  die  seit  dem  II  Jahrh.  vom  Osten 
vordringende  Astrologie  ihr  einen  reichen  Inhalt  und  eine  das  Menschenleben 
beherrschende  Bedeutung  gab.  Indem  man  nun  die  Welt  und  Menschenleben 
gestaltenden  Kräfte  im  Sternenhimmel  suchte,  werden  die  azoiytloi.  der  um- 
fassende Name  für  die  Sternenmächte  wie  die  elementaren  Kräfte.  Der 
Glaube  an  Astral-  und  Elementargeister  verbündet  sich  mit  der  niederen 
Religion  und  dem  Dämonenglauben,  und  <^zoiyzi(x  bezeichnet  jede  Art  Dä- 
monen ^. 

Wenn  die  euhemeristische  Theologie  in  der  Bedeutung,  die  sie  den 
Sternen  und  Elementen  zuspricht,  verblasste  und  für  den  Glauben  der  Zeit 
wenig  wirksame  Gedanken  der  voraufgehenden  religiösen  Aufklärung  über- 
nimmt, ist  sie  dagegen  völKg  beherrscht  von  der  Anerkennung  der  in  den 
überragenden  Persönlichkeiten  sich  offenbarenden  göttlichen  Kraft,  und  auch 
darin  ist  diese  Theologie  ein  treues  Spiegelbild  der  religiösen  Strömungen 
der  hellenistischen  Zeit.  Denn  in  dem  Glauben,  dass  grosse  Leistungen, 
segensreiche  Taten  den  einzelnen  über  die  Durchschnittssphäre  des  Menschen 
erheben  und  die  gewissesten  Offenbarungen  einer  im  Menschen  wirkenden 
göttlichen  Kraft  sind,  ist  der  sicherste  und  am  wenigsten  bestrittene  Kern 
einer  wirklich  aufrichtigen  Religiosität  in  dieser  Zeit  der  grossen  Persönlich- 
keiten zu  fassen;  er  muss  einen  Ersatz  geben  für  den  stark  erschütterten 
Glauben  an  besondere  göttUche  Mächte.  Er  soll  der  tiefste  Sinn  und  die 
Wurzel  aller  polytheistischen  Religionen  sein.  Er  lässt  sich  kaum  treffender 
formulieren  als  es  Plinius  Nat.  hist.  11  7,  18.  19  tut:  deus  est  mortali  iu- 
vare  morlalem  et  haec  ad  aelcrnam  gloriam  via  ....  hie  est  vetustissi- 
mus  referendi  bene  merenlibus  gratiam  nios^  ut  tales  muninibus  ascribant'-. 
Aber  es  bedarf  einer  besonderen  eingehenden  Betrachtung,  um  dem  moder- 
nen Gefühl  die  Bedingungen  verständlich  zu  machen,  aus  denen  dieser  Glaube 
erwachsen  und  zu  einer  das  Bewusstsein  der  hellenistisch-römischen  Welt 
beherrschenden,  die  anderen  göttlichen  Gestalten  in  Schatten  stellenden 
Macht  geworden  ist. 


5  Mexschenveegötteruxg  und  Herrscheekult 

Beloch  in  1  S.  48  ff.  368  ff.  —  Kornemaxn,  Zur  Gesclüchte  der  antiken 
Herrscherkulte,  Beiträge  zur  alten  Geschichte  I  51  ff.  —  Otto,  Priester  und  Tem- 
pel im  alten  Aegyjjten,  Leipzig  1905  I  S.  137  ff.  —  Wexdlaxd,  üonr.p,  Zeitschr.  f. 
neutest.  Wiss.  V  S.  335  ff. 

Göttliches    im   Menschen    anzuerkennen,    sein    besseres   Ich   6a''[jLwv    zu 


^)  Diels,  Elementum  S.  44  ff.  Stoische  und  persische  Elementenlehre  verbin- 
det Dio  Chrys.  R.  XXXVI  zu  einem  Ganzen.  '-)  Der  Stoiker  Antipater 
(Stoic.  vet.  fragm.  III  Fr.  33.  34  v.  A.)  nimmt  das  £i»/üoi.7]xixöv  in  die  Definition  der 
Gottheit  auf. 


74      VI  Hkllp:nistische  Religioksgeschiche:  5  Menschenvergötterung 

nennen  war  dem  Griechen  natüriich :  '\)\>yji  oixr^xr'jptov  oai|i,ovog  sagt  Demokrit 
(Fr.  171  Diels),  r^d-o;,  ävxl'pwTK»)  Saqxwv  Heraklit  (Fr.  119),  und  sie  schliessen 
sich  damit  volkstümlichen  Vorstelhmgen  an.  Feierliche  Heroisierung  her- 
vorragender Toter,  besonders  der  Städtegründer,  kennen  die  Griechen  schon 
vor  Alexander,  und  auch  im  kleinen  Kreise  konnte  die  Pietät  der  Hinter- 
bliebenen teuere  Tote  in  die  Sphäre  der  Heroen  erheben.  Die  Mystik  hat 
den  Glauben  an  die  Göttlichkeit  der  Menschenseele  gestärkt.  Aristoteles  hat 
dem  Plato  einen  Altar  errichtet  ^  und  in  seinem  Hymnus  auf  die  Tugend  den 
verstorbenen  Hermeias  in  Formen  gefeiert,  die  an  die  Apotheose  streifen. 
Epikur  bringen  seine  Jünger  religiöse  Verehrung  entgegen,  und  in  Alexandria 
gab  es  einen  Homerkidt-.  Die  politische  Theorie  des  Plato  und  des  Ari- 
stoteles zeichnet  das  Bild  des  idealen  Herrschers,  der  über  den  Gesetzen 
erhaben  sich  selbst  Gesetz  und  durch  natürliche  Ueberlegenheit  über  die 
andern  Menschen  zum  Herrschen  berufen  ist,  der  gottgleich  unter  den  Sterb- 
lichen wandelt.  Er  erscheint  wie  das  geläuterte  und  abgeklärte  Bild  des 
Uebermenschen  der  sophistischen  Aufldärung,  das,  in  der  Ethik  abgelehnt, 
auf  die  Staatslehre  doch  eingewirkt  hat,  Aehuliche  Anschauungen  vom 
Königtum  vertritt  Isokrates.  Und  als  König  Philipp  in  die  griechischen  Ver- 
hältnisse eingriff,  hat  ihm  ein  Teil  der  Griechen  überschwängHche  Verehrung 
entgegengebracht.  In  romantischen  Ideen  ist  Alexander  gross  geworden, 
und  mit  den  höchsten  Vorstellungen  von  seiner  Mission  übernahm  er  den 
durch  den  korinthischen  Bundesvertrag  ihm  vorgezeichneten  Beruf.  Seine 
beispiellosen  Erfolge  und  die  mit  den  Erfolgen  ins  Gigantische  wachsenden 
Pläne  steigerten  sein  Selbstbewusstsein  und  Hessen  seine  Person  in  der  Vor- 
stellung der  Zeit  das  Mass  des  Menschlichen  übersteigen.  Schon  von  gleich- 
zeitigen Historikern  sind  seine  Person  und  seine  Taten  ins  Uebermenschliche 
und  Wunderbare  gezeichnet  worden.  Dazu  kam,  dass  Alexander  in  das  Erbe 
der  Pharaonen  und  der  persischen  Könige  eintrat.  Das  orientalische  Gefühl 
der  tiefen  Kluft,  die  den  König  von  den  Untertanen  trennt,  der  ägyptische 
Glaube  an  die  Inkarnation  der  Gottheit  im  Könige,  der  persische  an  den 
göttlichen  Nimbus  des  Herrschers  wurden  ihm  von  selbst  entgegengebracht. 
Alexander  hat  aber  auch  persönlich  den  Glauben  an  das  Gottkönigtum  be- 
günstigt und  gefördert,  weil  er  seinem  Weltreiche  die  höhere  Sanktion  gab. 
Und  so  verschieden  die  Formen  und  Auffassungen  waren,  die  Griechen  und 
Orientalen  den  Glauben  an  das  Gottkönigtum  ermöglichten,  wird  man  an- 
nehmen dürfen,  dass  Alexander  selbst  griechischen  Heroenglauben  und  grie- 
chische Vorstellungen  von  dem  göttlichen  Adel  der  Menschenseele,  An- 
knüpfungen an  seinen  Ahnen  Heraides  und  an- Dionysos  mit  orientalischen 
Glaubensformen  in  eins  dachte,  wie  das  dem  Sinne  seiner  Griechisches  und 
Orientalisches  verschmelzenden  Politik  entspricht.  Zu  betonen  ist  freilich, 
dass  der  eigentliche  Herrscherkult,  trotzdem  ihn  auch  Aegypten  kannte,  doch 
zuerst  auf  griechischem  Boden  Alexander  zuteil  geworden  ist  und  sich  in 
griechischen  Formen  bewegte.  Gleiche  göttUche  Ehren  brachten  die  Griechen 
vielfach  freiwillig  Alexanders  Marschällen  entgegen.  In  ein  System  ist  der 
offizielle  Herrscherkult  in  allmählich  fortschreitender  Ent^^dcklung  in  Aegypten 
ausgewachsen.  Ptolemaios  I  wird  nach  seinem  Tode  von  seinem  Nachfolger 
konsekriert  und  später  seine  Gattin  Berenike  nach  ihrem  Tode  seinem  Kult 
angeschlossen.    Als  Ptolemaios  Philadelphos  271/0  seine  Gattin  Arsinoe  ver- 


»)  S.  Immisch,  Philol.  XLV  S.  1  ff.  —  S.  21 :  „Piatos  Bild  ist  schon  für  die 
erste  Generation  der  Seinen  ein  Heiligenbild  gewesen,  umrankt  von  frommer  Le- 
gende", vgl.  Usener,  Das  Weihnachtsfest  S.  70.  71.  -)  S.  Watzinger,  Das 
ReUef  des  Archelaos  von  Priene,  Berlin  1903  S.  20.  21  und  Dio  Chrys.  R.  XXXVI  14. 


Vergötterung  der  Herrsclier.     Inschrift  von  Rosette  75 

liert,  verbindet  er  ihre  Konsekration  mit  dem  weiteren  folgenreichen  Schritte 
der  Selbstvergötterung,  indem  er  den  Kult  der  il-eoc  aoeXcpot  einführt  xmd, 
wie  es  scheint,  dem  wohl  274  eingeführten  oflizicllen  Alexanderkult  ange- 
gliedert. Seit  Ptolemaios  IV  (221 — 2U5)  umfasst  dann  der  Reichskultus  eine 
mit  Alexander  beginnende  und  bis  zum  lebenden  Herrscher  oder  Herrscher- 
paare herabführende  Reihe  ^  Andere  Dynastien,  besonders  die  der  Seleu- 
kiden,  folgen  dem  Vorbilde  der  ägyptischen  Entwicklung  und  suchen  sie 
durch  pomphafte  Titel  zu  überbieten.  An  den  älteren  Beispielen  lässt  sich 
noch  nachweisen,  dass  die  Vergötterung  des  Menschen  aus  dem  echtesten 
Gefühl  der  Dankbarkeit  und  dem  aufrichtigen  Glauben  an  die  durch  den 
Menschen  wirkende  göttliche  Kraft  herausgewachsen  ist.  Der  Päan,  mit  dem 
die  Athener  den  siegreichen  Demetrios  Poliorketes  307  empfangen  (Athe- 
naeus  VI  p.  253)  gibt  das  religiöse  Gefühl  der  Zeit  treu  wieder:  Wie  die  Sonne 
und  die  lieben  Sterne  erscheint  er  ihnen  mit  seinen  Genossen,  als  Sohn  Po- 
seidons und  der  Aphrodite.  Die  andern  Götter  sind  ja  doch  weit  fort,  sind 
überhaupt  nicht  oder  hören  uns  nicht.  Dich  aber  sehen  wdr  Auge  ins  Auge, 
nicht  in  Holz  oder  Stein,  sondern  leibhaftig.  Darum  beten  wir  zu  Dir,  gib 
ims  Frieden ;  denn  du  bist  der  Herr.  —  Man  sieht  in  dem  mächtigen  Heer- 
fürsten, der  die  Stadt  aus  den  Kriegsnöten  herausreisst,  Frieden  und  Heil 
bringt,  den  göttlichen  Helfer  und  Heiland  (awxTjp) ;  denn  er  hat  das  geleistet, 
was  nach  menschlicher  Berechnung  unmöglich  schien  oder  mit  menschlichen 
Kräften  nicht  zu  vollbringen  war'-.  Die  Gottheit  ist  leibhaftig  in  ihm  er- 
schienen (evapyTj^  ETCLcpavsca,  praesens  deiis).  Was  ursprünglich  tiefes  und 
wahres  Gefühl  war,  wird  dann  zur  konventionellen  Tradition  und  höfischen 
Etikette,  wenn  es  auch  in  keinen  Zeiten  an  Fällen  fehlt,  wo  das  ursprüng- 
Hche  Gefühl  mit  unmittelbarer  Kraft  zur  Anerkennung  neuer  göttlicher  Offen- 
barung drängt.  Der  griechische  Servüismus  gegen  die  römischen  Grossen 
und  der  auf  die  Munifizenz  der  Wohlhabenden  spekulierende  Lokalpatriotis- 
mus vernutzt  dann  nur  zu  sehr  göttliche  Ehren  und  Attribute;  das  Haupt- 
bedenken gegen  ihre  verschwenderische  Austeilung,  dass  sie  doch  auch  er- 
hebliche Kosten  verursachte,  überwindet  man  durch  sinnreiche  Erfindungen, 
wde  die  beliebte  Umarbeitung  oder  Umnennung  älterer  Statuen.  Die  neue 
Bedeutung,  die  Apotheose  und  Herrscherkult  durch  das  römische  Imperium 
gewinnen,  die  Kraft  und  Verbreitung,  die  der  Glaube  an  göttliche  Menschen 
in  der  Kaiserzeit  wieder  erlangt,  werden  wir  später  zu  betrachten  haben. 


BEILAGE 


Inschrift  von  Rosette  (Rascliid),  dreisprachig  (hieroglyphischer  und  demo- 
tisclier  Text  neben  dem  griecMschen),  vom  27.  März  196  v.  Chr.  (Dittenberger, 
Orientis  graeci  inscr.  90) : 


^)  Ein  Beispiel  in  der  Beilage.  '■')  Wie  echt  griechisch  dies  Gefühl  ist, 

beweisen  Aeschylus'  Schutzflehende  947  ff". 

ü)  7:aI5ss  'ApysiGiaiv  eü/saä-a;,  y^pstöv 
9-üs!.v  -£  Xsißsiv  9-'  wg  S-solg  'OX'JiiTitO'.g 
o-ovSä;,  k~^l  GWTYjpsj  ob  oi/oppoTicos. 


76  Hellenistische  Religionsgeschichte:  Beilage 

BaaiXsuovTo;  toO  veou  ^  xa:  T^apaXaj^ovxoc;  xrjv  ßaaiAstav  7:apa  xoü  uaxpoc; 

-/■•jpi'ou  j3aatA£'.(Ji)v  -  jxsyaXooo^ou  ■'  xoO  tTjV  AryuTixov  xaxaaxrjaaiisvou  xat  xa  7:p6? 

xou;  I  li-iO'jc;  sOas^oOc,  avxi7:aXcov  Orccpxspou,  xoü  xov  [litov  xwv  avö-pwrrwv  STiavop- 

il-coaavxo;,  xupiou  xp'.axovxacxy^p-'owv^,  xaO-aT^cp  6  "H^aoaxog  ö  (xsya^  ^,  jjaa'.Xew^ 

xail-arsp  ö  "Haioc;,  |  |i.eyac  ßaaiXeu?;  xwv  xs  avw  xa:  X(I)V  xaxw  X^pöv",  exyovou 

^^£(I)v  tI):Xo7:ax6pü)v,  ov  ö  "Hcpataxos  £00xc[xaa£v  ',  co  6  "HX105  £Oü)X£V  xtjv  vcxtjv  **, 

E'Ixövo^'*  t^cbar^s  xoO  A'.o;,  ucoO  xcü'HXtou^",  nxoX£|xaiou  |  a!!wvO|3oou  ^^,  rjya7ir/{i£vou 

O-ö  xoO  «iJö-ä'-.  £xou?  ivaxo'j  £:p'c£p£(o;  'Aexou  xoO  'Aexo'j  'AXE^avopo'j  xa:  {)'£G)v 

-wxv'ipwv   xal    •ö'Ewv  'Ao£Xcpcbv    xa:    \)-£cov    EÜ£py£X(I)v    xa:    d-zGiv    tI>:Xo7;:ax6p(i)v 

5  xa:      ■8'EoO    'E7::cpavoö;    EuXap:axoo  .  .  ,    Die  Priester,    die    gekommen    sind 

7  £:;  M£(xcp:v    zG)    jJaa:X£:    T.pb^   xr^v    7iavrjyi)p:v    x^?    7xapaX7/];£0):    x-^?  |  |'iaa:X£:ag 

XTjs    IlxoX£(Jia''o'j    aiwvojjiou ,     y^yaTir^iiEvou    utzo    xoö    OxJ-a,     d-eoü  'ETc:cpavoOi;, 

E'jxap:axo'j,    y;v    7iap£Xa,3£v   Tiapä    xoO    Tcaxpo;    auxoO,    auvaXi)£vx£5    £v    xw    £V 

M£[Jicp£:   :£pw   xfj  V)|ji£pa  xaüxYj    £:::av  |  'E7:£:orj    ßaa:X£us  IIxoX£|xa:os  a:ü)v6ß:o?, 

7V;a-r^[ji£vos  \j~b  xoO  Öft-a,    ö-£Ö;  'E7::cpavYjC;  EOx^P'-'^to?,  6  iy  [Jaa:X£ü);  IIxoXe- 

[xyJ.o'j   xa:   ßaa:A:aayj;  'Apa:v6r^c,    8-£(Ji)v   (l>:Ao~axdpa)V,  xaxa  r.o'/Xy.  £Ü£py£xrjX£V 

10  xa  i)-'  :£pa  xa:     zobz,  £V  a-Jxo:;  övxa;  xa:  "zohc,  0^6  xy]v  Ea-jxoO  |3aa:X£:av  xaa- 

ao[Ji£VO'j^    (ZTzavxas,    UTzapxwv    ^£Ö<;   £X   ^£oö  xa:    x^eä^   xa^ö-aTiEp   'ßpO(;   6   xf]? 

"1^:0;  xa:  'Oa:p:o5  u:6g,    6  ETiap-uva^  x(o  Tiaxp:  auxoö  'Oa:p£:,  xa  T:po;  ■9'£0u; 

£0£py£x:xü)i;  o:ax£:|jL£vo5  avax£^£:x£V  £:$  xa  :£pa  dpyup:xa?  X£  xa:  a:x:xac;  upoa- 

65o'j;  xa:  oaTzava;  T^oXXa;   0;:o{x£|Ji£vr]X£v  £V£xa  xoO  xtjV  Ai'yuTcxov  £:;  £uo:av^^ 

äyaysTv  xa:  xä  :£pä  xaxaaxr,aaat)-a:  |  xa:c  x£  iauxoO  2'jva[Xc7:v  7:£-^:Xavv)-p(i)7:r^x£  i'* 

-aaa:;.    Aus  der  Aufzählung  der  Aveiteren  Verdienste  hebe  ich  hervor  6[xo:(i)5 

19  0£  xa:  xö  o:xa:ov  TCaa:v  a7:£V£:[JL£V  xaO-aTCEp  'Epii"^?  6  |Ji£yas  xa:  jJiEya;  ^^,  Z.  26  £V 

26  öX:y(p  XP°'*'^P  "^"'V^  '^^  t:6X:v  xaxa  xpaxo;  £:X£v  xa:  zobq  £V  aüxf,  äa£,j£:(;  ^"^  Tcav- 

^)  Ptoleraaios  Epiphanes  (205-181)  war  196  erst  12  Jahre  alt.  -)  Diadem. 

Nach  Z.  43  sollen  12  solche  goldene  Diademe  mit  Schlange  die  Königstempel  krö- 
nen. ^)  Dasselbe  Attribut  III  Macc  6  is.  39,  vgl.  meinen  Index  zu  Aristeas  unter 
Söga.  Von  hier  aus  fällt  auf  den  jüdischen  Gebrauch  von  iisydcÄr]  S6;a,  iisyaXöSogos 
für  die  göttliche  Majestät  (Bousset  S.  308  f.  =  2.  A.  362)  neues  Licht.  Tit 2  \>  l7i;iq;ävetav 
Tfjs  Sögyjg  -coü  lisyctXou  *£0'j.  *)  Wir  kennen  diese  Periodenrechnung  nicht.  ^)  Z.  4. 
8.  9.  37  der  ägyptische  Name  «I»9-ä.  Die  ägyptische  Färbung,  die  (besonders  im 
Vergleich  zum  Dekret  von  Canopus  vom  J.  239/8,  Ditt.  56)  darin  und  auch  sonst 
hervortritt,  zeugt  für  die  Zurückdrängung  des  Hellenismus  (vgl.  S.  78).  —  V-^'^'^Z 
(Z.  19  jisyas  v-ai  i^syas)  *ede  ist  eine  für  Götter  und  Könige  beliebte  Bezeichnung; 
s.  Ditt.  Or.  inscr.  176,  4  =  178,  3  2o6xw  ^)-£tp  iisydXco  iisyäXo),  Strack  Dynastie  der  Pto- 
lemäer  S.  276.  279  ff.  Tit  2 12.  ")  ..Der  grosse  König  der  oberen  und  unteren 
Gegenden  (der  Welt)"  ist  Attribut  des  "HX105.  "')  In  der  von  Ammianus  Marc. 
XVII  4,  18.  23  angefühi'ten  Inschrift  ov  "HXiog  rLpoe-xp'.vsv,  vgl.  Rom  8  29.  ®)  Bei 
Ammian.  XVII  4,  22  "llXiog  Q-sög  SsairöxY);  oOpavo-j  TaiisaxYj  ßaatXsI  dsStüpvjfiai  tö  v.^ä.zo(;, 
■/.%'.  TY,v  y.aTä  -dcvxcov  ägo-joiav.  *')  II  Cor  4  4  Col  1  13  65  eaxiv  slxeov  toO  O-so-j  von 
Jesus.  '**)  Ammian.  18  ßao-.Xs-jg  Taiisoxir;^  'HXiou  -aig  alwvößiog.  Dass  der  Sonnen- 
sohn dicht  vorher  Sohn  der  Philopatores  hiess,  wird  gar  nicht  als  Widerspruch 
empfunden.  ")  Vgl.  Z.  8.  9  und  Note  10.  Belege  für  die  Ewigkeit  als  Attribut 
der  Herrscher  s.  Zeitschr.  f.  neut.  Wiss.  V  Scoxy^p  S.  344.  345,  neutest.  Parallelen 
S.  349.  '-')  Wie  Z.  9.  37.  Aehnliche  Wendungen  bei  Ammian.,  z.  B.  20  ov  'Aiincov 
äya-ä,  vgl.  I  Clem  59-11.:  Jesus  riyaTLr^iiävos  Tiaig  Gottes.  ")  Heiterer  Himmel, 
übertragen  vom  glücklichen  Zustande  des  Staates.  Aehnlich  wird  auch  später  die 
augustische  Friedenszeit  gerühmt.  ")  Kaum  eine  andere  Tugend  wird  so  oft 
am  hellenistischen  Herrscher  gerühmt  wie  die  -jtXavO-pw-ta,  vgl.  Tit  3  \.  '*)  Ueber 
die  Bedeutung  des  Hermes  s.  Reitzenstein  Poimandres.  '")  So  werden  auch 
Z.  22    die  Aufständischen    von  Lykopolis  genannt.    Der  genaue  Parallelismus  der 


Verbreitung  fremder  Götter  77 

Tas  oiecpT^-eipsv,  xa^auep  'Ep{i7]c;  xac  'i2po^  6  tf;;  "laio^  xal  '(Jaipio;  uioq  exet- 
pwaavxo  toü$  £v  toi?  aÜTOi?  tc-tiöc?  aTzoatavta;  Ttpoxepov  Z.  34  xa:  C£pa  xal  :^ 
vaoü?  xal  ^w[i.o'j?  tGp'jaaxc  xa  xe  7ipoaS£c.|jL£va  £T:'.ax£'jf^c;  7Tpoi6c(opi)-(öaaxo  '  s/j'^'^ 
■i)"£oO  £0£pY£xixoO  -  £v  zoic.  avY^xo'ja'.v  £ic  xo  •O'EccrV  o:avo'.av  •  T:poa-'jVi)'av6|x£v6;  35 
X£  xa  xtbv  t£ptbv  xt|itü)xaxa  ävavEOöxo  iizi  xtJs  £auxoü  [3aa:X£ta?  w?  xaö-y,x£:  ■ 
avO-'wv  osocoxaatv  auxw  oi  d-eol  uyiEcav,  VLxr^v,  xpaxo?"'  xai  xaXÄ'  äyaö'a  7:av- 
xa,  I  xfj?  ffaaLX£''a;  5'.a|JL£Vo6ar^;  aux(T)  xat  xoi;  XEXvot?  Et?  xöv  ccTiavxa  y^^o^o^)  • 
aYa{)-fj  xuxvj,  EOogEv  xoi;  tEpEüat.  xwv  xaxa  xyjV  x^^pav  tEpwv  Tzavxwv,  xä  O^ap- 
Xovxa  x[t[j.La  Tiavxa]  |  xo)  aiwvojiuo  [3aa:X£C  JIxo}v£|xa''o),  TjYaKyjJLEvo)  Otto  xoO 
Ü>y-ä,  {)•£(])  "E7::q;av£r  EOxap^'ax(;),  oiaoito;  0£  xa!  xa  xwv  yovEwv  aöxcO  9-£(I)v  <I>:Ä':.- 
Tiaxoptov  xa:  xa  xwv  Tzpoyövcov  xJ-ewv  Eücpycxcbv  xa:  xa  |  xwv  D-ecöv  'A&£//f  wv  xa: 
xa  X(i)V  O-Ewv  ^(üXYjpwv  £7:a6^£:v  jXEyaXü)?  •  axYjaa:  Se  xoO  a:ü)Voß:ou  ßaa:X£a); 
IIxoXE|j,a''o'j  {J'EoO  "E7t:*^avo05  EOxap:axo'j  sixova  ev  Exaaxo)  lEpcö  £v  xw  £7::'^a- 
vsaxaxw  xotzo),  |  r)  7i:poaovo[Jiaa9-y|aExa:  IIxGX£{jia:'&u  xoö  £x;a[x6vavxoc;  xfj  AiyuTzxq)  ^, 
■^  TiapEaxr^^Exa:    ö  x'jp:(i)xaxos    {ko?  xoO  :EpoO  o:S&u5  aOxw  ötiaov  7:xr^x:x6v  .  .  . 


6  Fremde  Götter.    Synkretismus.    Astrologie  uxd  Magie 

FoucART,  Des  associations  religieuses  chez  les  Grecs,  Paris  1873.  —  Lafaye, 
Histoire  du  culte  des  divinites  d'Alexandrie,  Paris  1884  (Bibl.  des  ecoles  francaises 
d' Athene  et  de  Rome  Bd.  33).  —  EZiebarth,  Das  griecli.  Vereinswesen,  Leipzig 
1896  (Preisscliriften  der  Jablonowsldschen  Gesellschaft  Bd.  34). 

Vor  Alexanders  Zeit  hatten  nur  wenige  fremde  Kidte  in  Griechenland 
Eingang  gefunden.  Dionysos  hatte  andere  thrakische  und  phrygische  Götter 
nach  sich  gezogen:  Kj^bele,  die  schon  im  V  Jahrhiuadert  der  athenischen 
Göttermutter  angeglichen  wurde,  Bendis,  Kotys,  Sabazios.  Adonis  und  die 
semitische  Aphrodite,  Ammon  und  Isis  wurden  in  Athen  und  an  anderen 
Stätten  verehrt.  Meist  waren  es  zunächst  private  Genossenscliaften  ({h:a- 
(3ry.^  zpocvoi)  von  Ausländern,  denen  der  Kult  ihrer  Götter  gestattet  wurde, 
die  aber  auch  griechische  MitgKeder  anzogen  ^.  Die  Beteiligung  an  solchen 
Kulten  schien  unbedenldich,  wenn  nur  darüber  die  Ausübung  der  heimischen 
Religion  nicht  vernachlässigt  und,  was  öfter  geschah,  die  öffentliche  Moral 
nicht  gefährdet  wurde. 

Der  Polytheismus  ist  tolerant  gegen  fremde  Kulte,  nicht  exklusiv.  Der 
Grieche  und  Römer  bezw^eifelt  die  Existenz  der  fremden  Götter  nicht;  es 
sind  nur  nicht  seine  Götter.  Die  fliessende  Fülle  der  Göttergestalten,  die 
Möglichkeit,  täglich  neue  Offenbarimgen  zu  erleben,  bisher  verborgene  Götter 
in  ihrer  Kraft  zu  erkennen,  gibt  dem  Frommen  ein  Gefühl  der  Unsicherheit, 
ob  er  auch  jeder  Gottheit  das  Ihre  gegeben  und  nicht  durch  eine  Unter- 
lassung die  religiösen  Akte  unwirksam  gemacht  habe.  Dies  dem  Polytheis- 
mus anhaftende  Gefülil  der  Unsicherheit,  der  Wunsch,  mit  peinlichster  Ge- 
nauigkeit allen  Pflichten  genug  zu  tun,  spricht  sich  in  den  Weihungen  und 
Anrufungen,  die  „allen  Göttern"  dargebracht  w^erden",  in  der  oft  endlosen 
Häufung   der  Beinamen    eines-  Gottes,    der  gern  noch  der  Zusatz   „oder  wie 


Taten  des  Gottes  und  des  Herrschers  scheint  hier  wie  öfter  durch  Fiktion  von  Mythen 
hergestellt  zu  sein.  \)  Auch  dies  eine  stereotype  in  den  römischen  Kaiser- 

inschriften wiederkehrende  Wendung,  s.  iScnr^p  S.  344.  2)  Vgl.  S.  67.  69  ff.  ")  Vgl. 
Tyrtaios  4,  9  viy.yj  xal  xäpxog,  Inschriften  von  Pergamon  246,  30  f.  *)  Die  Inschrift 
der  Statue  wird  damit  angegeben.  ^)  Frauen  sowohl  wie  Sklaven  schei- 

nen in  diesen  Vereinen  durchweg  gleichberechtigt  gewesen  zu  sein.  •'j  Usener, 

Göttemamen  S.  344,  vgl.  Wissowa  S.  33.  38. 


78  VI  Hellenistische  Religionsgeschicjitk:  (J  Frkmde  Götter 


du  sonst  genannt  zu  werden  wünschest"  beigefügt  wird\  endlich  in  den 
AVeihungen  an  ayvwaxoc  •ö-soi  aus-.  Diese  Fähigkeit  der  polytheistischen 
Religion  zur  Aufnahme  und  Angliederung  neuer  Gottheiten  erhält  in  helle- 
nistischer Zeit  durch  die  Beriilirung  mit  fremden  Völkern  einen  neuen  Antrieb. 

Die  Kircheni)olitik  der  Ptolemäer  setzt  sich  nicht  das  Ziel  der  Helleni- 
sierung  der  ägyptischen  Religion.  Was  in  dieser  Richtung  geschehen  ist, 
beschränkt  sich  auf  Alexandria  und  hat  sich  weniger  durch  Regierungs- 
niassregeln  als  durch  die  mit  der  Völkermischung  von  selbst  erfolgende  Aus- 
gleichung der  Religionen  und  durch  die  Neigung  der  Spekulation  zum  Syn- 
kretismus vollzogen.  Der  Scharfblick  der  Ptolemäer  erkannte  im  Bunde  mit 
dem  ägyptischen  Priestertum  die  sicherste  Stütze  des  Thrones,  in  der  Kon- 
servierung und  eifriger  Förderung  der  Landesreligion  das  sicherste  Mittel, 
das  Wohlwollen  des  Volkes  zu  gewinnen,  zumal  die  Politik  des  Kambyses 
und  des  Artaxerxes  Ochos  die  Toleranz  verletzt  hatte.  Zum  Dank  dafür 
erbten  sie  die  sakrale  Sanktion  der  Pharaonen  und  erlangten  allmählich  die 
Aufnahme  des  zuerst  durch  besondere  eponynie  Priester  versehenen  Herrscher- 
kultes auch  in  altägyptische  Kulte.  Freilich  hat  diese  weise  zurückhaltende 
Politik  seit  Ptolemaios  Euergetes  (247 — 221)  ein  zunehmendes  Vordrängen 
des  ägyptischen  Wesens  ermöglicht. 

Eine  wirkliche  auf  Verschmelzung  der  Religionen  zielende  religions- 
politische Aktion  vermag  man  nur  in  der  Einführung  des  Serapiskultus  wahr- 
zunehmen, so  widerspruchsvoll  auch  die  modernen  Deutungen  des  Gottes 
sind.  Es  scheint  nach  den  neuesten  Untersuchungen  ^  wahrscheinlich,  dass 
Serapis  nichts  anderes  als  Osiris-Apis  ist;  diese  Verbindung  des  Gottes  mit 
dem  heiligen  Stiere,  der  seine  Inkarnation  ist,  entspricht  altägyptischer  An- 
schauung. Wenn  aber  Ptolemaios  I  das  Bild  des  Gottes,  dessen  Kult  sich 
erstaunlich  rasch  verbreitete,  von  ausserhalb  herholte,  so  lag  offenbar  der 
Verbindung  griechischer  Form  mit  ägyptischem  Inhalte  eine  synkretistische 
Absicht  zugrunde.  Und  es  ist  bezeichnend,  dass  bei  der  Ueberführung  des 
Gottes  aus  Sinope  und  der  Begründung  des  neuen  Kultes  Manethos  (S.  15) 
und  Timotheos  tätig  gewesen  sein  soUen.  Dieser  Timotheos,  der  vielleicht 
den  tspo^  Xoyo;  des  Serapis  verfasst  hat,  war  Eumolpide  und  hat  als  solcher 
die  eleusinischen  Mysterien  in  Alexandria  eingeführt.  Und  wenn  wir  noch 
von  demselben  eine  ausführliche  Darstellung  der  pessinun tischen  Attissage 
lesen  ^,  so  liegt  es  nahe,  auch  diese  Behandlung  des  phrygischen  Kultes  in 
einen  umfassenden  Plan  der  Religionsmischung  einzubeziehen.  Dass  alexan- 
drinische  Literaten  in  dieser  Richtung  tätig  waren,  ist  schon  S.  68  ff.  aus- 
geführt worden. 

Die  ägyptischen  Kiüte  haben  in  dieser  Zeit  die  grössten  Eroberungen 
gemacht;  Isis  und  Osiris  oder  Serapis,  Horos  oder  Harpokrates  und  Anubis 
sind  am  reichlichsten  vertreten  in  den  zahlreichen  Inschriften,  die  uns  Kult- 
genossenschaften fremder  Götter  auf  griechischem  Sprachgebiete  bezeugen. 
Auf  den  Inseln  des  ägäischen  Meeres,  der  Vorherrschaft  der  Ptolemäer,  auf 


*)  Usener  S.  336.  334.  Der  Gebrauch  der  rechten  Namen  bedingt  ja  die  Wirkung 
des  Gebetes  wie  des  Zaubers.  Vgl.  z.  B.  Horaz  Cann.  saec.  14  ff.  -')  Ich  füge  den 
Zeugnissen  Pausanias  1 1,  4  V  14,  6  für  Altäre  äyveoa-cov  ^bS}v  in  Munychia  und  Olympia 
und  Diog.  Laert.  I  HO  (dvo'jvjiio'.  in  Athen)  hinzu  Tertull.  Ad  nat.  11  9,  Adv.  Marc. 
I  9,  Philostrat,  Leben  des  Apollonios  S.  2Ü7,  29  K  atü:;poviaT£pov  yäp  t6  Tispl  -dcvTcov 
i>£ti5v  £'j  Xsys'.v  v.a.i  -aOta  'AOti^vy^oiv,  oG  y.ai  dYvwoTwv  5a'.|i6vü)v  ß(i)|iol  Icp-jv-at.  Der  echt 
polytheistische  Zug  ist  in  Act  17  «s  äYvwa-o)  O-ew  der  Tendenz  zuliebe  in  sein  ge- 
rades Gegenteil  gewandelt  worden.  »)  S.  Otto  S.  11  ff.  *)  Hepding, 
Attis,  Giessen  1903  S.  103  ff. 


Gleichsetzungen  79 


dem  griechischen  Festlande,  wohin  die  Ptoleraäer  fort  und  fort  die  Fäden 
ihrer  Politik  erstreckt  haben,  aber  auch  an  Asiens  Küsten  und  weiter  hin- 
aus haben  sie  zahlreiche  Verehrer  gefunden.  Die  reiche  Ausgestaltung  des 
Kultkreises  und  seiner  Symbole,  die  die  Neugier  reizte  und  die  Sjjekulation 
anlockte,  die  Verbindung  asketischer  Uebungen  und  weltlicher  Lust  in  diesem 
Kulte,  die  schon  zu  Herodots  Zeiten  geläufige  Angleichung  an  griechische 
Götter,  die  die  phantasiereiche  Ausbildung  der  Mythenkreise  förderte,  die 
einzigartige  Fähigkeit  der  Isis  und  des  Serapis  zur  monotheistischen  Aus- 
weitung und  Absorption  anderer  Götter,  die  oft  bewährten  Heilkräfte  des 
Serapis  in  leiblichen  Nöten  und  die  an  den  Kult  geknüpften  Jenseitshoff- 
nimgen,  das  Ansehen,  das  ihm  als  der  vermeintlichen  Mutterstätte  der  eleusi- 
nischen  Mysterien  und  der  ebenso  populären  Dionysosreligion  zuwuchs  — 
alles  das  hat  beigetragen,  dem  Kult  eine  wunderbare  Verbreitung  und  Be- 
liebtheit zu  verschaffen. 

Daneben  dringen  orientalische  Kiüte  vor.  Die  Mysterien  der  phrygi- 
schen  Götter  mit  ihrem  die  Sinnlichkeit  in  nächtlicher  Feier  durch  wilde 
Flötenweisen  und  Tänze  aufs  äusserste  erregenden  Orgiasmus,  der  packend 
dramatischen  Vorfülirung  der  Göttergescliichte ,  dem  Wechsel  leidenschaft- 
licher Trauer  und  ausgelassener  Festfreude  dringen  in  weitere  Kreise,  und 
auch  die  fremdartigsten  Elemente,  wie  die  semitische  Selbstverstümmelung 
finden  in  dieser  nach  neuen  Reizen  suchenden  Zeit  Verbreitung  (Hepding 
a.  a.  0.).  Von  Syrien  dringt  in  mannigfachen  Gestalten  die  weibliche  Göttin 
und  neben  ihr  Adonis  vor ;  und  auch  dieser  dem  phrygischen  verwandte  Kult 
hat  eine  berückende  Wirkung  geübt,  wie  uns  sein  Zauber  noch  heute  in  der 
Darstellung  der  hellenistischen  Poesie  eigenartig  ergreift.  Ich  übergehe 
andere  orientalische  Göttergestalten,  deren  Gehalt  uns  weniger  fasslich  ist. 
Erwähnung  verdient,  dass  in  dieser  Periode  die  Mithrasreligion  die  Form 
angenommen  hat,  in  der  sie  iliren  späteren  Siegeszug  durch  das  römische 
Reich  antrat  ^  Wir  kennen  die  frülieren  Stadien  ihrer  Entwickelung  und 
Ausbreitung  nicht  so  genau  wie  ihre  späteren  Schicksale.  Aber  die  kom- 
plizierte Gestalt,  in  der  sie  uns  später  entgegentritt,  trägt  deutlich  genug 
die  Spuren  ihrer  älteren  Geschichte  an  sich.  Ueber  die  persische  Grund- 
lage, die  Religion  des  Mithra,  als  Botschafters  des  höchsten  Lichtgottes  und 
Führers  im  Kampfe  gegen  das  Reich  der  Finsternis,  haben  sich  mancherlei 
Schichten  von  Vorstellungen  und  Gestalten  gelagert,  die  diese  Religion  im 
fortschreitenden  Zuge  ihrer  Propaganda  von  fremden  Religionen  übernommen 
und  sich  assimiliert  hat.  Das  deutlichste  Zeugnis  für  den  Beitrag,  den  der 
Hellenismus  beigesteuert  hat,  legt  die  die  Kennzeichen  hellenistischer  Kunst 
tragende  Darstellimg  des  den  Stier  tötenden  Gottes  ab. 

Wie  die  religiöse  Praxis  von  selbst  zur  Identifizierung  und  Ausgleichung 
der  Götter  verschiedener  Nationen  führt,  wie  die  theologische  Spekulation 
diesen  Prozess  befördert,  wurde  schon  gezeigt.  Die  Gleichungen  von  Isis 
mit  Demeter,  Artemis,  Aphrodite,  Athena,  Nemesis,  von  Osiris  mit  Diony- 
sos, Attis,  Adonis,  von  Serapis  mit  Asklepios,  Zeus,  Pluton,  Dionysos,  von 
Bendis  mit  Artemis,  Hekate,  Persephone  sind  ganz  gewöhnlich.  Ahura-Mazda, 
Verathragna,  Anahita  haben  sich  mit  dem  Vordringen  der  Mithrasreligion 
nach  dem  Osten  zunächst  in  Zeus,  Heraides,  Artemis  gewandelt.  Eine  be- 
sondere Sch\\ierigkeit  für  die  religionsgeschichtliche  Forschung  ist,  dass  wir, 
wie  bei  manchen  keltischen  und  germanischen  Göttergestalten,  nur  die  Sub- 
stitute kennen,  die  uns  die  Originalgestalten  verkleiden.  —  In  Fällen,  wo 
es  nicht  möglich  schien,  den  gesamten  Wesensinhalt  eines  fremden  Gottes 
durch  einen  griechischen  oder  römischen  Namen  zu  vergegenwärtigen,  wird 

•)  Cumont,   Die  Mysterien  des  Mithras,   deutsch  von  Gehrich,   Leipzig  1903. 


so  VI  Hkllenistischk  Religionsgeschichte:  6  Fremde  Götter 

die  Ausgleichung  vollzogen,  indem  mehrere  Götternamen  zusammengefasst 
Averden,  um  die  volle  Summe  jenes  göttlichen  Machtbereiches  zu  ergeben: 
Dittenberger  Or.  inscr.  383,  Z.  55  (Inschrift  des  Antiochos  von  Kommagene 
vom  iS'emrud-Dagh) :  WnöXXiovoc,  MiDpou  IDdou  'Ep[Jioö  xac  'Apxayvou  'Hpa- 
-/Jicu;  "Apstü^,  386,  7.  404,  21.  G19,  3  Inscr.  gr.  III  Nr.  136:  MrjxpJ  d-e(bv  euavTrj 
iaxp'vrj  'Acppoaxyj,  C.  I.  Gr.  4262  (4042.  4683.  4713.  4713,  e  f)  Ad  'HXUo 
— epa;T;:oi  (andere  Beispiele  bei  Usener  S.  341),  Aber  diese  wachsende  Fähig- 
keit hervorragender  Götter,  andere  Götterformen  in  sich  aufzunehmen^  und 
zu  verschlingen,  die  Gewohnheit,  persönliche  Götterbegriffe  bei-  und  unter- 
zuorden  hat  dazu  beigetragen,  die  Person  zu  verflüchtigen  und  an  ihre  Stelle 
abstrakte  Begriffe  zu  setzen;  sie  hat  dem  Monotheismus  erheblich  vorge- 
arbeitet. Die  Entleerung  des  persönlichen  Gehaltes  erklärt  auch  die  Gleich- 
setzung von  Herrschern  mit  Göttern,  denen  sie  in  ihrem  Wesen  und  Wir- 
kungen verwandt  schienen :  Seleukos  wird  nach  seinem  Tode  als  Zebc,  vixaxwp, 
sein  Sohn  als  'Avxtoxos  'AtioXXwv  aioxr^p  konsekriert;  Isis-Arsinoe,  Arsinoe- 
Aphrodite,  Apollo-Augustus,  Zeus-Nero  sind  andere  Beispiele  unter  vielen  -. 
Beigabe  göttlicher  Sj-mbole  und  Angleichung  der  Herrscherbildnisse  an  Götter- 
typen gestatten  viele  weitere  Schlüsse.  Nachdem  man  Herrschern  göttliche 
Attribute  wie  atoxYjp  und  eTiti^avfjc;  beigelegt  hatte,  war  ihre  Gleichsetzung 
mit  Göttern  ein  natürlicher  Schritt  in  der  weiteren  Entwickelung,  der  durch 
die  Erweichiuig  und  den  auch  sonst  üblichen  appellativen  Gebrauch  der  gött- 
lichen Personennamen  erleichtert  wurde. 

Mit  den  orientalischen  Göttern  überflutet  orientalischer  Aberglaube  die 
hellenistische  Welt.  Der  Glaube,  dass  das  Schicksal  des  Menschen  durch 
die  Konstellation  der  Geburtsstunde  bestimmt  werde,  besonders  durch  die 
Stellung  der  Planeten  zu  den  Zeichen  des  Tierkreises,  ist  den  alten  Griechen 
völlig  fremd  -K  Der  Platoniker  Eudoxos  und  Theophrast  zeigen  zuerst  Kunde 
von  dem  babylonischen  Sternglauben  und  äussern  darüber  ihre  Verwunderung. 
Dann  hat  Berossos  (S.  15)  den  Griechen  astrologische  Lehren  der  Babylonier 
vermittelt.  Die  Verbreitung  und  Bedeutung,  die  diese  Lehren  und  die  astro- 
logische Praxis  fanden,  offenbart  sich  in  der  Aufnahme  der  Astrologie  in  die 
stoische  Theologie  und  in  dem  lebhaften  Streite,  der  seit  Karneades  um  ihre 
Geltung  geführt  wurde.  Und  mit  der  hellenistischen  Zeit  setzt  eine  reiche 
astrologische  Literatur  ein,  welche  die  Lehren  in  ein  System  bringt  und  sich 
in  beständiger  Kontinuität  bis  ins  s])äte  Mittelalter  fortgesetzt  hat.  Das  Lehr- 
gedicht des  Manilius  aus  Augustus'  oder  Tiberius'  Zeit,  die  Tetrabiblos  des 
Ptolemaios  (S.  36)  und  die  Anthologie  seines  Zeitgenossen  Vettius  Valens, 
endlich  aus  dem  IV  Jahrh.  die  Lehrbücher  des  Hephaistion  und  des  JuMus 
Firmicus  Maternus,  der  später  als  christlicher  Apologet  aufgetreten  ist,  sind 
die  bekanntesten  Vertreter  der  Gattung,  deren  unerschöpfliche  Produktionen 
wir  erst  neuerdings  einigermassen  zu  übersehen  begonnen  haben*. 

Aber  der  Grundstock  der  Tradition  ist  hellenistisch,  und  die  ganze 
spätere  Tradition  ist  wesentlich  abhängig  von  dem  nach  Kroll  im  11   Jahrh. 


')  An  älteren  Beispielen  wie  Athena  Nike  oder  Hygieia  fehlt  es  nicht.  Vgl.  auch 
Dittenberger,  Or.  inscr.  II  S.  598  ff.,  Index  IH.  -)  Literatur  bei  Dittenberger, 

Orientis  inscr.  457,  Beloch  S.  373.  374.  443,  Strack  a.  a.  O.  S.  140—143.  Ueber  Gleich- 
setzung des  Toten  mit  einem  Gott  s.  Rohdes  Psyclie  II  S.  359  ■';  Maaß,  Orpheus 
S.  241 ;  Vollmer  zu  Statins  S.  381.  =*)  Ich  folge  der  Uebersicht  von  Kroll, 

Neue  Jahrb.  VH  559  ff.  und  Cumont,  Revue  d'hist.  et  de  litt.  rel.  XI  S.  24  ff"; 
Hübler,  Astrologie  im  Altertum  1879;  Bouchö-Leclerq,  L'Astrologie  grecque,  Paris 
1899 ;  Reitzenstein,  Primandres  S.  69  ff.  *)  Catalogus  codicum  astrologorum 

graecoruni,  Brüssel,  seit  1898  sind  sieben  Hefte  erschienen. 


Astrologie.    Magie  81 


V.  Chr.  abp;efiissten  Werk  des  Nechepso  und  Petosiris.  Die  ii))()kryphen 
Namen  des  alten  ä<>ypti.sehen  Königs  und  seines  Priesters,  die  den  Lehren 
eine  höhere  Autorität  geben  sollten,  sind  für  diese  Art  Literatur  bezeichnend. 
Und  die  liktiven  Autoren  führten  ihre  Weisheit  weiter  auf  Asklepios  und 
Hermes  zurück.  Das  Werk  ist  in  Aegypten  entstanden,  wo  die,  wie  es 
scheint,  frühzeitig  aus  Babylon  übernommene  Astrologie  eifrige  Pflege  fand. 
In  hellenistischer  Zeit  und  vollends  in  der  römischen  Kaiserzeit  waren  die 
,,Chaldäer",  die  überall  ihre  Weisheit  feilboten,  eine  Landjjlage,  und  die 
Massregeln  der  römischen  Gesetzgebung  (schon  139  v.  Chr.  wurden  die 
Astrologen  aus  Rom  ausgewiesen)  zeugen  gerade  dadurch,  dass  sie  ihnen 
ein  höheres  Wissen  zutrauen,  von  der  allgemeinen  Geltung  des  Sternenglau- 
bens, dem  nicht  wenige  der  römischen  Kaiser  ergeben  waren. 

Der  Fatalismus,  der  in  der  Konsequenz  des  Sternenglaubens  lag  und 
nur  wenig  dadurch  gemildert  wurde,  dass  diese  gewaltigen  Mächte  doch  auch 
zugleich  als  persönliche  Götter  gedacht  und  nach  solchen  benannt  wurden, 
hat  schwer  auf  der  Menschheit  gelastet  und  hat  in  weiten  Kreisen  eine  hoff- 
nungslose Stimmung  und  dumpfe  Resignation  verbreitet.  Willen-  und  wider- 
standslos fühlt  sich  der  Mensch  in  das  grosse  Räderwerk  des  kosmischen 
Mechanismus  eingefügt,  von  seinen  Schwingungen  umgetrieben,  unter  die 
Knechtschaft  der  erbarmungslosen  Mächte  gebeugt.  Aus  dem  tiefsten  Gefühl 
heraus,  von  der  Hilflosigkeit  und  niedergedrückten  Stimmung,  wie  dieser 
Glaube  sie  erzeugt  hatte,  eine  Rettung  gefunden  zu  haben,  schreibt  ein  Christ 
des  n  Jahrh.  (Clemens  Alex.,  Theodoti  Exe.  71.  72)  die  Worte:  „Verscliieden- 
artig  sind  die  Gestirne  und  ihre  Kräfte,  heilsame,  schädliche,  rechte,  linke  .... 
Von  diesem  Widerstreit  und  Kampf  der  Kräfte  rettet  uns  der  Herr  und 
gibt  uns  den  Frieden  vor  dem  Kampfe  der  Kräfte  und  der  Engel,  den  die 
einen  für,  die  andern  wider  uns  führen".  Aber  längst  schon  bot  sich  denen, 
die  von  des  Schicksals  Hand  sich  gebeugt  fühlten  und  an  der  eigenen  Kraft 
verzweifelten,  lockend  und  tröstend  eine  andere  dunkle  Macht  als  Helferin 
an,  die  gleichfalls  vom  Osten  kommende  Magie.  Persische  Magier  hatten 
auf  der  Grundlage  ihres  religiösen  Dualismus  eine  mit  assyrischen  und  baby- 
lonischen Superstitionen  und  Zauberformeln  versetzte  Theorie  ^  geschaffen  — 
ein  System,  das  in  den  Kampf  der  guten  imd  bösen  Mächte  zu  Gunsten  des 
Menschen  eingriff.  An  Zaubermitteln  hat  es  den  Griechen  und  Römern  nicht 
gefehlt;  aber  die  orientalische  Magie  schien  durch  Alter  ihrer  Traditionen, 
Vollendung  der  Technik,  systematische  Durchbildung  die  besten  Garantien 
zu  bieten,  und  so  hat  auch  der  Glaube  an  die  unheimliche  Macht  der  Magier, 
welche  die  oberen  Mächte  unter  den  mensclilichen  Willen  zu  zwingen  Avissen, 
die  hellenistische  und  spätrömische  Welt  beherrscht,  und  gerade  die  kaiser- 
liche Gesetzgebung  zeugt  auch  für  die  Macht  dieses  Glaubens ;  denn  sie  setzt 
voraus,  dass  die  Magier  sich  wirklich  im  Besitze  übernatürlicher  Kräfte  be- 
finden. Die  Zauberbücher  der  ägyptischen  Papyri-  gestatten  jetzt  einen 
Einblick  in  die  Fülle  der  Vorstellungen,  die,  von  den  Rudimenten  rohester 
Superstition  bis  zu  plülosophischen  Spekulationen  reichend,  aus  allen  Völkern 
in  bunter  Mischung  zusammengetragen  sind. 

1)  Aegyptische  Elemente  sind  hinzugekommen.  Die  Magie  hat  in  Aegj'pten 
eifrige  Pflege  gefunden,  und  ihre  Propaganda  ist  zum  grossen  Teil  von  dort  aus- 
gegangen. 2)  Dieterich,  Papyrus  magica,  Jahrb.  Suppl.  XVI.  Ders.,  Abraxas, 
Leipzig  1891.  Pap.  Lond.  ed.  Kenyon  Bd.  IL  Wessely  in  Wiener  Denkschr.  phil. 
hist.  Bd.  42.  Wünsch,  Antike  Fluchtafeln,  Kleine  Texte  für  theol.  Vorlesungen 
und  Uebungen,  hr.  von  Lietzmann,  20.  21. 


Lietzmann,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  I,  2. 


82        VII  Die  religiöse  Entwicklung:    1  Hkllenisiehing  der  röm.  Religion 


VII 

DIE  RELIGIÖSE  ENTWICKELUNG  UNTER  DER  RÖMER- 
HERRSCHAFT 

1  Hellenisieruxg  der  römischen  Religion 

Die   Gescliichte  der  römischen  Keligion  ist  der  fürtschreitende  Prozess 
der  Zersetzung  der  nationalen  Religion  durch  Uebernahnie  griechischer  Göt- 
ter, Riten,  Vorstellungen.    Wissowa  hat  kürzlich  die  Entwickelung  mit  muster- 
hafter Klarheit  dargestellt  (s.   S.  54).     Hier    können    nur  die  wesentlichsten 
Momente  hervorgehoben  werden.     Nüchtern    und    beschränkt    auf   den  Kreis 
eines  eng  umgrenzten  Lebens,    dessen  alltäglichen  Funktionen  sie  vorstehen, 
erscheint  die  älteste  römische  Götterreihe.     Wir  spüren  keinen  Hauch  grie- 
chischer Phantasie,  die  Personen,  Bilder,  Wirkungssphären,  Geschichten  der 
Götter  so  wunderbar  ausgestaltet  hat.     Die  etruskische  Kultur,   die  von  der 
o-riechischen  stark  beeinfiusst  war,    scheint  dann  Rom  seine  Göttertrias  .Jup- 
piter,  Juno,  Minerva  gegeben  zu  haben,    wie    sie    auch    sonst    die    römische 
Religion    stark    beeinfiusst    hat.     Die    Einführung    der    sibyllinischen  Bücher 
zeuo-t  für  den  von  den  unteritalischen  Griechenstädten,  besonders  Cumä,  un- 
mittelbar  vordringenden    griechischen    Einfluss.     In    den    ersten  Jahrzehnten 
der  Republik  ist  dann  die  Rezeption  des  Apollo,  des  Hermes,  der  Trias  De- 
meter, Dionysos,  Köre  erfolgt.    Eine  gewisse  Zurückhaltung  spricht  sich  noch 
darin  aus,   dass  Hermes  als  Handelsgott  einen  römischen  Namen  erhält,  jene 
Trias  mit  den  echt  römischen  Göttern  Ceres,  Liber,  Libera  gleichgesetzt  wird. 
293  wdrd  der  in  hellenistischer  Zeit  trotz  der   grossen  Fortschritte  des  Me- 
dizin zu  besonderer  Blüte  gelangte  Asklepiosdienst  mit  seinen  Wunderkuren 
von  Epidauros    nach  Rom    übertragen.     Die  Not  des  J.  217  führte    zu  reli- 
giösen Begehungen  nach  griechischem  Ritus  und  dem  ZusammenscMuss  eines 
dem  griechischen  analogen  Vereins    von    zwölf  Göttern.     Die  Hellenisierung 
des  Kultes  bietet  jetzt  die  Möglichkeit,  römischen  Kult  und  römische  Götter 
nach  griechischem  Muster  umzugestalten,  auch  wenn  man  auf  Rezeption  neuer 
griechischer  Götter  verzichtete.     Hatte  der  alte  Glaube  die  Götter  in  engster 
Verbindung  mit  den  Objekten  und  Bezirken  ihrer  Wirksamkeit  gedacht  und 
darum  menschenähnlicher  Bilder  nicht  bedurft,  so  führte  die  Berührung  mit 
den  Schöpfungen    der    griechischen  Kirnst   zur  Aneignung    der    griechischen 
Bilder  für  die  schon  ausgeglichenen  Götter,  für  solche,   die  griechischer  Ana- 
logien   ermangelten,    zu    oft   willkürlicher  Umgestaltung    griechischer  Typen. 
Bald  folgt  auch    die  Aufnahme  derjenigen  orientalischen  Götter,    die  bereits 
in  der  hellenistischen  Welt  sich  ausgebreitet  und  hellenisiert  hatten.    Gegen 
den  204  auf  Geheiss  der  sibyllinischen  Bücher   eingeführten  Kult  der  pessi- 
nuntischen  Kybele    musste    der   Senat   bald  Massregeln    ergreifen,    und    der 
Bacchanalienskandal  vom  J.    1-86    offenbarte    die  Gefährlichkeit   der  orgiasti- 
schen   Kulte    mit    ihrer    schwül    sinnlichen  Atmosphäre.     Die    Kriege    gegen 
Mithradates  und   die  folgenden  Kämi)fe  im  Orient  brachten  die  Bekanntschaft 
mit  der  Ma  oder  Bellona,  einer  der  Kybele  verwandten  koppadokischen  Göt- 
tin, und  mit  Mithras.     Und  der  Isiskult   machte   trotz  aller  seit  58  wieder- 
holten Versuche,  ihn  zurückzudrängen,  rapide  Fortschritte. 

Die  Ueberflutung  durch  den  Hellenismus  machte  den  Römeni  ihre  Ge- 
schichte, Kultur,  Religion    fremd    und  iniverständlich.     Die  Uebemahme  der 


Einfluss  griechischer  Religion  und  Spekuhition.     Panaitios  83 

irriechisclien  Literaturg'attunjü:en  und  ihre  Entwickelung  unter  dem  fortwir- 
kendt-n  EinHusse  der  griechischen  Muster  hal)en  diese  Verdränj^ung  des  Na- 
tionalen besclik'unif^t.  Auch  liir  die  Forscher,  die  sich  später  redJich  be- 
mühten, das  Vei'ständnis  des  römischen  Wesens  zu  gewinnen,  war  es  nicht 
mehr  zu  linden,  weil  den  hellenisierten  Römern  die  Abstraktion  von  den 
hellenischen  Ideen,  die  Ausscheidung^  des  Fremdartigen  eine  Unmöglichkeit 
war.  Port  und  fort  hatten  die  Dichter  ihre  Phantasie  an  der  griechischen 
Mythenwelt  genährt,  liatten  naive  Gleichungen  griechischer  und  römischer 
Götter  übernommen  und  selbst  vollzogen,  die  eigene  Religion  und  Gescliichte 
aus  dem  griechischen  Mythenscluitze  bewusst  und  unbewusst  bereichert,  ätio- 
logische und  etymologische  Methoden  und  Spielereien  der  hellenistischen 
Dichtung  und  Forschung  sich  angeeignet.  Je  mehr  Rom  in  den  Mittelpunkt 
der  Geschichte  und  der  Geschichtschreibung  trat,  um  so  mehr  waren  Anti- 
quare und  Annalisten  beeifert,  die  Fäden,  mit  denen  besonders  Timaios  den 
Westen  an  die  ältere  griechische  Kultur  geknüpft  hatte,  fortzuführen,  durch 
Geschichten  von  griechischen  Emigranten  und  Gründungen  bedeutsame  Be- 
ziehungen herzustellen,  welche  die  spätere  Entwickelung  vorwegnahmen  oder 
vorbereiteten.  Es  erschien  als  eine  grosse  Aufgabe,  besonders  durch  Ver- 
bindung mit  Troja  und  Karthago  und  die  Ausgestaltung  dieser  Beziehungen, 
Rom  eine  verlieissungsvolle  Vorgeschichte  zu  geben,  die  seiner  späteren 
Grösse  würdig  war.  Die  von  Griechen  angeregte,  durch  patriotisches  und 
Familieninteresse  in  panegyrische  Bahnen  geleitete  Phantasie  hat  durch  Ver- 
knüpfung der  Schicksale  Italiens  mit  den  älteren  Kulturvölkern,  nach  der 
Schablone  griechischer  die  Folge  der  Erfindungen  darstellender  Kulturge- 
schichte, durch  Uebernahme  griechischer  Methoden,  Sagen-  und  Legenden- 
motive, bald  auch  durch  die  verlogenen  Künste  griechischer  Rhetorik  eine 
Pseudohistorie  geschaffen,  die  den  ungeheuren  Abstand  der  Zeiten  und  Na- 
tionalitäten verdunkelt  hat.  —  Und  mit  dem  Einflüsse  der  griecliischen  Phi- 
losopliie  begann  auch  die  theologische  Spekulation  der  Griechen  den  Zer- 
setzungsprozess  der  römischen  Religion  zu  befördern.  Der  nüchternen  Sin- 
nesweise des  Römers  gingen  rationalistische  Theorien  der  Griechen  besonders 
leicht  ein.  Schon  Ennius  hat  durch  seine  Uebersetzungen  die  Römer  mit 
jenem  Buche  des  Euhemeros  und  mit  dem  vmter  Epicharms  Namen  gehen- 
den Lehrgedicht  bekannt  gemacht,  das  die  Götter  auf  Elemente  zurück- 
führte. Den  Versuch,  philosophischer  Spekulation  durch  die  gefälschten 
Bücher  Numas  Eingang  und  Einfluss  auf  die  Religion  zu  verschaffen,  machte 
181  der  Senat  durch  Verbrennung  der  Bücher  zunichte.  Seit  der  Zeit  des 
jüngeren  Scipio  hat  dann  die  Stoa  einen  wachsenden  Einfluss  ausgeübt  und 
die  tieferen  Naturen  gewonnen ;  die  epikurische  Lehre,  die  im  letzten  Jahr- 
hundert der  Republik  fast  die  Modephilosophie  der  Gebildeten  war,  wird 
zurückgedrängt  und  sinkt  seit  Augustus  zur  Bedeutungslosigkeit  herab.  Zu- 
nächst trat  fi-eilich  durch  Panaitios  (S.  30)  den  Römern  die  stoische  Lehre 
in  einer  stark  rationalistischen  Gestalt  entgegen,  die  sie  besonders  durch  den 
Einfluss  der  karneadeischen  Kritik  gewonnen  hatte.  Durch  die  Annahme 
der  peripatetischen  Lehre  von  der  Weltewigkeit,  der  Vernichtung  der  Seele 
im  Tode,  durch  die  Verwerfung  der  Astrologie  und  Mantik,  durch  den  Ver- 
zicht auf  allegorische  Mythendeutung  hatte  Panaitios  die  rehgiösen  Momente 
der  Schullehre  stark  zurückgedrängt.  Von  Panaitios  hat  der  Pontifex  Q. 
Mucius  Scävola  (f  82)  die  Unterscheidung  einer  dreifachen  Theologie  (S.  86) 
und  die  Auffassung  der  Staatsrehgion  als  eines  Zuchtmittels  der  Menge  über- 
nommen ;    auch  Polybios  ^  weiss  nur  diese  politische  Bedeutung  der  für  den 


1)  von  Scala,  Die  Studien  des  Polybios,  Stuttgart  1890  S.  206—210. 

6* 


84  ^'11  Dll^  RELIGIÖSE  EKTWICKLÜNG:     1  HeLLENISIERUNG   DER  ROM.  RELIGION 

Weisen  überflüssigen  Religion  zu  schätzen.  Der  Akademiker  Cotta  (S.  G3) 
ist  ein  typisches  Beispiel  der  Vereinigung  religiöser  Skepsis  mit  politischer 
Wertschätzung  der  Religion  und  ])einlicher  Erfüllung  der  hergebrachten  Riten, 
die  auch  dem  Irreligiösen  bei  der  Bedeutung  der  Religion  im  öffentlichen 
Leben  als  selbstverständliche  Pflicht  des  Bürgers  erschien.  Dieser  Wider- 
streit des  religiösen  Bewusstseins  der  Gebildeten  und  ihrer  Teilnahme  am 
Kult  hat  die  Zersetzung  der  Religion  und  die  Entleerung  ihrer  Formen  stark 
befördert.  In  den  Zeiten  der  niedergehenden  Republik  geht  Missbrauch  der 
Religion  als  eines  politischen  Machtmittels  neben  Gleichgültigkeit  und  Ver- 
nachlässigung der  Kulte  her. 

Aber  in  dem  Zeitalter  der  Revolutionen  beobachten  wir  doch  auch  eine 
stark  anwachsende  religiöse  Reaktion.  Diese  Bewegung,  deren  Wirkungen 
sich  über  Jahrhunderte  erstreckt  haben,  scheint  wesentlich  auszugehen  von 
Poseidonios,  dem  Schüler  des  Panaitios;  aber  sie  findet  in  ihrer  Zeit  einen 
starken  Widerhall.  Schuldbewusstsein  und  Erlösungsbedürfnis,  mystische 
Grübeleien  und  Offenbarungen,  die  an  altehrwürdige  Namen  geknüpft  sind, 
spiritistische  und  okkultistische  Neigungen  sind  charakteristische  Symptome 
dieser  Zeit,  deren  grosse  Katastrophen  das  Gefülilsleben  gewaltig  erregt 
haben.  Poseidonios  ^  hat  die  religiösen  Motive  der  Stoa  neu  belebt  und  ver- 
tieft. Der  idealistische  Zug  der  platonischen  und  aristotelischen  Philosophie, 
der  durch  die  Jahrhunderte  sich  fortsetzende  Strom  griechischer  Mystik,  die 
Ehrfurcht  vor  den  religiösen  Ueberlieferungen  und  Symbolen  der  Völker, 
ein  tiefes  Verständnis  für  die  religiösen  Instinkte  verbinden  sich,  um  ein 
gross  gedachtes  philosophisches  System  in  einer  religiösen  Mystik  gipfeln 
zu  lassen,  auf  die  alle  Teile  desselben  angelegt  sind.  Auch  die  exakten 
Wissenschaften  dienen  schliesslich  zum  Preise  der  den  Organismus  der  Welt 
durchdringenden  Gottheit,  der  in  rauschenden  Perioden  hymnenartig  erklingt. 
Aber  auch  die  niederen  Gebilde  des  Glaubens,  Astrologie,  Mantik,  Dämono- 
logie werden,  zum  Teil  poetisch  verklärt  und  vergeistigt,  für  die  religiöse 
Stimmung  verwertet.  Die  scharfe  Polemik  gegen  die  epikurische  Lehre,  die 
bei  den  Römern  erfolgreich  Propaganda  machte,  bestätigt,  dass  Poseidonios 
es  auf  eine  Erneuerung  der  Religion  und  Erweckung  des  Glaubens  abgesehen 
hatte.  Die  Parallelisierung  des  Mikrokosmos  von  Leib  und  Seele,  des  Ma- 
krokosmos von  Welt  und  Gott  wird  durchgeführt,  und  die  mystische  Theo- 
logie wurzelt  in  einer  platonisierenden  Lehre  von  den  Schicksalen  der  Seele  - : 
Ein  Teil  des  feurigen  Gotteshaiiches ,  geht  die  Seele  aus  der  himmlischen 
Region  ein  in  die  niedere  Welt  und  wird  in  den  Kerker  des  Leibes  gebannt, 
durch  seine  Gemeinschaft  in  Begierden  verstrickt  und  befleckt.  Aber  den 
göttlichen  Ursprung  bezeugt  sie  im  Streben  nach  Welt-  und  Gotteserkennt- 
nis, in  der  unstillbaren  Sehnsucht  nach  der  Rückkehr  in  ihre  wahre  Heimat 
und  zur  göttlichen  Gemeinschaft.  Wie  die  Sonne  nur  vom  sonnenhaften 
Auge  erblickt,  so  kann  das  Wesen  des  Alls  nur  von  der  gottentsprossenen 
Seele  erkannt  werden"'.  Aber  die  volle  Erkenntnis  erlangt  sie  erst,  wenn 
sie  vom  Leibe  befreit  in  rein  ätherischer  Gestalt  zu  ihrem  Ursprünge  zurück- 
kehrt. Der  volkstümliche  Unterweltsglaube  wird  verworfen,  aber  die  Jen- 
seitsvorstellungen werden  gewissermassen  ])rojiziert  in  die  kosmischen  Sphä- 


')  In  Nordens  Kommentar  zur  Aeneis  VI,  Leipzig  1903  und  bei  Binder,  Dio 
Chrys.  und  Pos.,  Tübinger  Diss.,  Borna-Leipzig  1905  findet  man  die  reiche  Litera- 
tur verzeichnet.  '')  Vgl.  besonders  Corssen,  De  Posidonio  Rhodio,  Bonn 
1878,  der  die  Benützung  des  Pos.  in  Ciceros  Tusc.  und  im  Somn.  Scipionis  nach- 
weist. 3)  Citat  des  Poseidonios  bei  Sext.  Emp.,  Math.  VII  93  (Vorbild  Pia- 
tos Staat  p.  508  A).     S.  Dieterich,  Mithrasliturgie  S.  55.  56. 


Poseidonios  86 


ren.  Durch  die  Sphären  des  Wassers,  der  Luft  und  des  Feuers  sich  erhebend 
wird  die  Seele  mannigfachen  Läuterungen  und  Reinigungen  unterworfen,  bis 
sie  einzugehen  vermag  in  die  dem  Aetlier  nahe  Region '.  Nicht  jede  Seele  ist 
fähig  7Ai  diesem  Aufstiege  und  dieser  Himmelfahrt.  Nur  ein  gerechtes  und 
tugendhaftes  Leben  öffnet  dem  Menschen  den  Weg  zum  Himmel  liinauf.  Vor 
allem  die  grossen  Wohltäter  der  Menschheit  und  die  Staatsmänner,  deren 
Leben  ganz  dem  Heil  ihres  Volkes  gewidmet  ist,  sind  sicher,  in  die  seligen 
Regionen  einzugehen-.  Wem  das  Leben  eine  Vorbereitung  auf  den  Tod 
gewesen  ist,  wer  schon  im  irdischen  Leben  den  göttlichen  Teil  von  der  Be- 
fleckung des  Leibes  rein  zu  bewahren  bemüht  gewesen  ist,  für  den  hat  der 
Tod  seine  Schrecken  verloren;  er  ist  für  ihn  der  Eingang  in  ein  besseres, 
reineres  Dasein,  in  das  wahre  Leben. 

Die  religiöse  Grundstimmung  der  Weltanschauung  des  Poseidonios  hat 
nicht  nur  die  spätere  Entwickelung  der  Philosophie  aufs  stärkste  beeinflusst 
(S.  29).  Sie  hat  direkt  und  indirekt  auf  die  Religiosität  weiter  Kreise  ein- 
gewirkt. Vergil  wiederholt  das  stark  monotheistische  Glaubensbekenntnis 
von  dem  die  Welt  durchdringenden  göttlichen  Geist  und  dem  ihm  verwand- 
ten Seelengeist -^  und  die  poseidonische  Mystik  hat  den  Stoff  der  Jenseits- 
dichtungen, der  dem  VI  Buche  der  Aeneis  zugrunde  liegt,  geläutert  und 
sittlich  vertieft;  Poseidonios'  Kidturentwickelung,  pythagoreische  Mystik  und 
Seelenlehre  haben  auf  Ovids  Darstellung  des  goldenen  Zeitalters  und  seine 
Kosmologie  eingewirkt.  Varros  grosses  synkretistisches  Religionssystem  ist 
völlig  beherrscht  von  den  Gedanken  des  Poseidonios,  und  da  er  seine  Anti- 
quitates  rerum  divinarum  dem  Cäsar  i.  J.  47  gewidmet  hat,  liegt  der  Ge- 
danke nahe,  dass  Cäsars  politische  Berechnung  in  dem  Religionssysteme  des 
Poseidonios    mit   seiner  Verbindung   philosophischer  Spekulation    und    volks- 


1)  Norden  S.  29  ff.    Dieterich,   Mithrasliturgie  S.  78  ff.  '-)  Die 

Stellen  sind  für  das  dem  Herrscherkult  zugrunde  liegende  religiöse  Gefühl  so 
wichtig,  dass  ich  sie  anführe:  Cicero  Tusc.  I  27 — 32.  32  heisst  es,  das  Wesen 
der  Götter  solle  mau  sich  nach  dem  Bilde  der  Menschen  vorstellen,  gui  se  natos 
ad  homines  mvandos,  tutandos,  conservandos  arbUrantur.  abiit  ad  deos  Hercules: 
numquam  abisset,  nisi,  cum  inter  homines  esset,  eam  sibi  viam  munivisset.  De  leg. 
n  19.  27  De  off.  III  25  De  nat.  deor.  II  60.  62.  De  rep.  I  12  neque  enim  est  Ulla 
res,  in  qua  propius  ad  deorum  numen  rirtus  accedat  humana,  quam  civitatis  aut 
condere   novas    aut  cunservare   iam   conditas.    H  4   concedamus   enim   famae   liomi- 

7ium bene  meriti  de  rebus  communibus  nt  gener e  etiam  putarentur,  non  solum  in- 

genio  esse  divino.  17.  40.  VI  13  omfiibus,  qui  patriam  cotiservaverint,  adiuverint,  auxe- 
rint,  certum  esse  in  caelo  definitum  locum,  ubi  beati  aevo  sempiterno  fruantur.  16.  26 
bene  meritis  de  patria  quasi  linies  ad  caeli  aditum  patet.  29.  Dass  Cicero  in  den 
cäsarischen  Reden  sich  in  demselben  Vorstellungskreise  bewegt,  habe  ich  Zeitschr. 
f.  neutest.  Wiss.  V  8.  344  ff.  gezeigt.  Vergil,  Aeneis  VI  660  ff.  (vgl.  Norden  S.  34.  35) 
versetzt  in  die  Gefilde  der  Seligen  ausser  den  alten  Heroen  die  fürs  Vaterland 
Gefallenen,  die  frommen  Priester  und  Propheten,  weiter 

i?wentas  aut  qui  vitam  excoluere  per  artis 

quique  sui  memores  alias  fecere  merendo. 
Vgl.  VI  130  I  286  ff.    0\id  Metam.  XV  843  ff.    IX  250  ff.     Horaz  C.  IH  3,  10  ff.  33. 
IV  2,  22.    Epist.  n  1,  4  ff.    Hör.  C.  III  2,  21  virtus  recludens  immeritis  fnori  caelum 
3,  9  ff.     Properz  IV  11,  101 

moribus  et  caelum  patuit:  sim  digna  merendo, 

cuius  honoratis  ossa  veltantur  avis. 
Die  hellenistischen  Wurzeln  solchen  Glaubens  sind  S.  68  ff.  aufgedeckt.        ^)  Aen. 
VI  724  ff.     Georg-.  IV  218  ff. 


86       VII  Die  reliCxIöse  Entwicklung:    1  Hellenisierung  der  röm.  Religion 

tümlichen  Glaubens,  seinem  weitherzigen  Synkretismus  und  seinen  vermitteln- 
den und  die  Religionen  ausgleichenden  Tendenzen  die  Grundlinien  einer  für 
sein  Weltreich  geeigneten  Religion  vorgezeichnet  fand ;  war  doch  dies  Reich 
im  Sinne  eines  röuiisch-griechischen  Königtumes  gedacht. 

Auch  Varro  •  will  die  Religion  und  den  alten  Glauben,  die  ihm  der 
Vemaclilässigung  und  Vergessenheit  zu  verfallen  scheinen,  zu  neuem  Leben 
erwecken,  die  ihrem  eigenen  Wesen  entfremdeten  Römer  damit  wieder  ver- 
traut machen.  Die  Wirkungssphären  der  Götter  will  er  wieder  aufzeigen, 
damit  man  mit  jedem  Anliegen  sich  an  die  rechte  Instanz  wende.  Unter 
Berufimg  auf  Scävola  (S.  83)  unterscheidet  er  drei  Auffassungen  der  Götter, 
die  mythische  der  Dichter,  die  physische  der  Philosoi)hen,  die  staatliche. 
Die  Götterwelt  der  Dichter  wird  verworfen  wegen  der  unwürdigen  Vor- 
stellungen von  Erzeugung,  Gestalt,  Eigenschaften  der  Götter  (vgl.  S.  62.  66). 
Auch  die  staatliche  Religion,  die,  jünger  als  der  Staat,  dessen  Interessen 
dient,  hat  gar  nicht  die  Wahrheit  zum  Zweck;  denn  es  gibt  Wahrheiten, 
welche  die  Menge  besser  nicht  kennt,  und  Lügen,  die  sie  besser  für  wahr 
nimmt.  Die  Chilis  religio  ist  als  staatliche  Institution  aufrecht  zu  erhalten ; 
hat  ja  doch  die  römische  den  Staat  gross  gemacht.  Die  wissenschaftliche 
Prüfung  besteht  allein  die  philosophische  Religion,  und  zwar  stellt  sich  im 
Widerstreite  der  verschiedensten  philosophischen  Meinungen  die  stoische 
Lehre  als  die  einzig  wahre  heraus :  Der  götthche  Feuerhauch  beherrscht, 
wie  die  Seele  den  Leib  durchdringt,  die  ganze  Welt,  die  ewig  und  unver- 
gänglich ist.  Er  ist  gleich  Zeus "-,  alle  andern  Götter  sind  nur  Teilki  äfte 
(I  15  b  partes  sire  rirlntes)  der  göttlichen  Urkraft,  verschiedene  Namen, 
die  im  Grunde  der  einen  Gottheit  gelten.  Sie  offenbart  sich  in  den  Ele- 
menten, durch  die  das  Leben  entsteht  und  erhalten  wird,  und  in  den  Ge- 
stirnen, denen  wir  segensvolle  Wirkungen  verdanken.  Auf  die  Elemente 
■wird  das  Wesen  der  Hauptgötter  zurückgeführt.  Aber  neben  den  „ewigen" 
Göttern  statuiert  er  solche,  die  aus  Menschen  Unsterbliche  geworden  sind, 
wie  Kastor,  PoUux,  Liber,  Hercules  ^.  Den  Gründen,  die  gegen  diese  An- 
nahme sprechen,  verschliesst  er  sich  zwar  nicht;  aber  der  praktische  Nutzen, 
den  der  Glaube  an  den  göttlichen  Ursprung  und  die  Fähigkeit  des  Menschen, 
einst  in  die  göttliche  Sphäre  einzugehen,  stiftet,  schlägt  die  Bedenken 
nieder  •*. 

Varro  sucht  in  den  religiösen  Vorstellungen,  Legenden,  Gebräuchen 
seines  Volkes,  besonders  den  ältesten,  geheimnisvollen  Sinn  und  tiefe  Weis- 
heit, und  er  hält  sie  für  fähig,  das  Vehikel  höherer,  philosophischer  Anschau- 
ungen zu  werden.  Uebersteigt  auch  die  philosophische  Religion  die  Fassungs- 
kraft der  Menge,  so  wünscht  Varro  doch  eine  Läuterung  der  staatlichen 
Rehgion    durch  die  philosophische    und  hält  eine  aus  beiden  gemischte ''  für 


')  Ich  folge  der  vorzüglichen  Sammlung  der  Reste  von  Buch  I  XIV  XV  XVI, 
die  für  die  Theologie  wesentlich  in  betracht  kommen,  von  Agahd,  Jahrb.  f.  klass. 
Philol.  Suppl.  XXIV  1898.  Den  Einfluss  des  Pos.  auf  Varro  weist  Agahd  S.  84  ff. 
nach.  ■-)  Der  Judengott  hat  denselben  Sinn:  I  58b.  *)  I  22c  ff.  7 

XVI  43,  vgl.  S.  67.  69  ff.  ■*)  I  24.     Auch  Cicero  De  rep.  VI  26  ff.  und  Vergil 

VI  806  betonen  die  moralische  Kraft  dieses  Glaubens.  ^)  54a.     Solche  Mi- 

schung beobachten  wir  auch  in  Ciceros  Darstellung  der  Religionsverfassung  De 
leg.  U  19  tf.,  deren  Vergleichung  mit  Varro  lehrreich  ist.  Manche  Züge  sind  Kon- 
zessionen an  die  fortgeschrittene  Sittlichkeit  und  Aufklärung  (dass  diese  auch  in 
Kultgebräuche  eindrang,  dafür  geben  Inschriften  lehrreiche  Zeugnisse:  Dittenberger 
SyUoge  566  Anm.  3,  567  Anm.  3 ;  633,  12).  Aber  auch  Cicero  zeigt  dieselbe  Ehr- 
furcht vor  dem  mos  maioriim   und  seiner  Weisheit. 


Varro.    Stimmung  des  augustischen  Zeitalters  87 


die  bestmögliche.  Handelte  es  sieh  um  die  CrUndung  eines  neuen  Staates, 
so  würde  er  die  wahre  Religion  einführen  '.  Für  seine  Person  vertritt  Varro 
die  reinen  religiösen  Anschauungen,  die  der  von  ihm  beeinflusste  Seneca  und 
die  Moralisten  der  Diatribe  verkünden.  Er  will  die  Götter  gütig  vorgestellt 
wissen;  der  Fronnue  soll  sie  wie  die  Eltern  verehren,  wäluend  dei'  Aber- 
gläubige sie  wie  Feinde  fürchtet'-.  Der  Opfer  bedarf  es  nicht'';  denn  die 
wahren  -Götter  fordern  sie  nicht,  luid  die  aus  Erz,  Gyps,  Marmor  gebildeten 
können  sich  auch  nicht  daran  erfreuen,  weil  sie  gefülillos  sind  (29  a — 30). 
Die  Einführung  der  Bilder  hat  die  Furcht  vor  den  Göttern  vernichtet  und 
hat  unreine  und  irrtümliche  Vorstellungen  von  ihnen  verbreitet  (59)^. 

Romantischer  Sinn,  ein  ])hantastischer  Zug  zu  den  abenteuerlichsten 
und  überlebten  Gebilden  des  Glaubens,  antiquarischer  Sammeleifer  und 
nüchterner  Rationalismus  haben  zusammengewirkt,  um  ein  höchst  kompli- 
ziertes Ganzes  zu  schaffen,  das  doch  nur  durch  äusseren  Schematismus  zu- 
sammengehalten -«drd,  dessen  sich  kreuzende  Tendenzen  auseinanderstreben. 
Varro  ist  nichts  weniger  als  ein  schöpferischer  Geist,  nicht  einmal  ein  kon- 
sequenter und  systematischer  Kopf;  aber  weil  er  eine  rezei)tive  Natur  ist, 
die  feinhörig  und  empfänglich  allen  Eindrücken  nachgibt,  alle  Strömungen 
der  Zeit  in  sich  aufnimmt  und  alle  Stimmen  in  sich  nachklingen  lässt,  darum 
gerade  ist  dies  religionsgeschichtliche  Werk  mit  allen  seineu  Widersprüchen 
als  ein  treuer  Spiegel  der  religiösen  Richtungen  seiner  Zeit  von  unschätz- 
barem Werte,  einzig  in  seiner  Art  auch  als  Zeuge  dafür,  wie  die  griechische 
Theologie  das  Werk  der  Zersetzung  der  römischen  Religion  vollendet,  an 
dem  die  griechischen  Kulte  seit  Jahrhunderten  gearbeitet  hatten. 


2  Die  Stimmung  der  augustischen  Zeit 

Norden,  Vergils  Aeneis  im  Lichte  ihrer  Zeit,  N.  Jahrb.  VII  249—282.  313— 
334.  —  Gardthausen,  Augustus  und  seine  Zeit  in  zwei  Teilen,  Leipzig  1891—1904. 
—  Boissier,  La  religion  romaine  d' Auguste  aux  Antonius,  2  Bde,  Paris  1874. 

Varros  Streben  einer  Wiederbelebung  der  nationalen  Religion  hat  auf 
das  augustische  Zeitalter  mehr  gewirkt  als  seine  starken  Ansätze  zu  einem 
auf  rationaler  Grundlage  zu  vollziehenden  Synkretismus  der  Religionen. 
Denn  der  Prinzipat  des  Augustus,  der  im  Gegensatz  zu  Antonius'  phantasti- 
schem Plane  eines  hellenistisch  orientalischen  Reiches  ersteht,  lenkt  die 
Politik  in  nationale  Bahnen  und  belebt  das  nationale  Gefülü, 

In  scharfen  Kontrasten  zeichnen  uns  die  Zeugen  des  grossen  Um- 
schwunges den  Gegensatz  der  Stimmungen  des  alten  und  des  neuen  Zeit- 
alters °.  Die  seit  Sulla  sich  unaufhörlich  erneuemden  Schrecken  der  Revo- 
lution, die  Ausrottung  der  Besten  durch  die  Proskriptionen,  der  beständige 
Wechsel  der  Besitzverhältnisse,  die  Verwilderung  der  Gesellschaft  und  Ent- 
fesselung der  unbändigsten  Leidenschaften  lasten  schwer  auf  der  Menschheit. 
Man  steht  unter  dem  Gefühle,  als  wenn  ein  unsühnbarer  Fluch  durch  die 
Geschlechter    fortwirke    und    zum  Bürgerkrieg,    Brudermord,    erneuten   und 


')  Aehnlich  Maximus  Tyrius  Vin  9.    Polybios  VI  56,  10.  '-)  Die 

Götterangst  ist  drastisch  gezeichnet  in  Senecas  und  Plutarchs  Schriften  über  den 
Aberglauben  (s.  Wilamowitz  Lesebuch  VII  7).  ^)  Vgl.  Apollonios   von 

Tyana  bei  Eus.   Praep.   ev.  IV  13   Dem.   ev.   IH  3  (Zeller  m  2^  S.  144.    HB  HI: 
Exe.  zu  Rom  12  i).  ^1  Aehnliche  Aeusserungen  hat  Geflfcken.  N.  Jahrb. 

XV  S.  630  gesammelt.  '")  Sehr  lehrreich  ist  das  Gesamtbild  des  Velleius 

H  89  (86,  1)  und  des  Pliüo,  Leg.  ad  Gai.  21. 


88      VII  DiK  RELIGIÖSE  Entwicklung:  2  Die  Stimmung  der  augustischen  Zeit 

wachsenden  Freveln  treibe',  als  hätten  alle  Götter  die  Welt  verlassen  und 
dem  Verderben  preisgegeben^.  Die  Schuld  hat  sich  so  gehäuft,  dass  sie 
das  Gei-icht  herausfordert  und  dass  man  den  Weltuntergang  wie  zur  Zeit 
der  Sintflut  erwartet^.  Oder  soll  man  die  Stätten  des  Fluches  verlassen  und 
in  einer  besseren  Welt  ein  neues  Leben  beginnen  * '?  Sehnsüchtig  verlangt 
die  müde  und  erschöpfte  Menschheit  nach  Frieden. 

Da  ersteht  in  Augustus  der  Retter  und  Heiland.  Seit  seinem  Siege 
über  Antonius  bei  Actium  i.  J.  31  ergreift  die  neue  Stimmung,  die  seit  dem 
Frieden  von  Brundisium  (40)  sich  vorbereitet,  die  ganze  Menschheit.  Dass 
auch  er  den  Weg  durch  rücksichtslose  Gewalt  und  ungerechte  Bluttaten  sich 
gebahnt  hat,  vergisst  man,  und  man  übersieht  den  revolutionären  Ursprung 
seiner  Macht,  seit  das  gesicherte  Regiment  wieder  geordnete  Verhältnisse 
geschaffen  hat.  Die  wilden  Kräfte  der  Revolution  hat  er  niedergezwungen 
wie  einst  Juppiter  die  Giganten  ^  Vom  Himmel  scheint  er  als  Helfer '^  ge- 
sandt, in  den  er  einst  wieder  eingehen  wird,  hoffentlich  erst  nach  langem 
segensreichen  Walten '.  Der  Ring  der  Zeiten  hat  sich  geschlossen.  Die 
alte  Blutschuld  hat  Augustus  gesühnt**  und  eine  neue  Zeit  des  Heils  eröffnet. 
Das  letzte,  von  der  Sibylle  geweissagte,  goldene  Zeitalter  ist  angebrochen  als 
Abschluss  der  früheren  saecula''\  Recht  und  Gerechtigkeit  und  die  Tugen- 
den,   die   in   den   grausigen  Zeiten  die  Welt  verlassen  haben,  halten  meder 


')  Horaz  C.  I  35,  33  in  6  Anfang  und  Schluss  IH  24,  25,  Epod.  7,  wo  der 
Fluch  von  Romulus'  Brudermord  hergeleitet  wird,  16;  Vergil  Georg.  I  505  ff. 
-)  Catull  64  Schluss,  Horaz  C.  I  2,  35.  =>)  Hör.  C.  H  2.     Ovid  hat  Met.  I  144  ff. 

200  ff.  die  Farben  aus  der  Gegenwart  genommen.  Mehr  Material  bei  Dieterich, 
Rhein.  Mus.  LY  S.  211.  212.  *)  Horaz  Epod.  16.    Kiessling  erinnert  zu  V.  S9 

an  die  Erzählung,  dass  Sertorius  mit  seinen  Genossen  die  seligen  Inseln  habe 
suchen  wollen.  —  Derselbe  bespricht  zu  C.  IH  3,  37  Cäsars  und  Antonius'  Pläne 
einer  Verlegung  der  Hauptstadt   nach  dem  Osten.  ^)  Horaz  C.  III  4,  41  ff. 

—  Die  Parallele  Juppiter- Augustus  auch  C.  I  12,  50  IH  5,  1  Properz  Hl  11,  66  Ovid 
Met.  XY  858  Trist.  11  40  Fast.  I  608  II  131.  Sagt  Hör.  C.  I  12,  17  von  Juppiter 
Wide  nil  mahis  generatur  ipso  nee  tiget  qiiicqiiam  simile  aut  seciinduin  (vgl.  Ovid  Trist. 
n  38  Met.  XI  224),  so  heisst  es  C.  IV  2,  38  von  Augustus  quo  nihil  maius  meliiisve 
terris  fata  donatere,  ähnlich  Epist.  H  1,  17.  Dass  ein  griechisches  Muster  zugrunde 
liegt,  beweist  z.  B.  Aristides'  Rede  auf  Zeus  §  8.  9  (S.  .340  Keil).  —  Seit  Seneca 
wird  das  Wirken  des  HeiTschers  oft  unter  dem  Bilde  der  stoischen  Weltseele  ge- 
zeichnet, wie  früher  das  des  Juppiter.  Zahlreiche  Belege  bei  Frachter,  Hierokles 
S.  46.  «)  Yergil  Georg.  I  500.  ')  Horaz  C.  I  2,  45  IH  3,  11  Vergil 

Georg.  I  .503  Aeneis  I  289  Ovid  Met.  XV  868.  838  Trist.  H  57,  Carm.  lat.  epigr. 
Nr.  18  Bücheier.  s)  Horaz  C.  I  2,  29  IV  15,  11.  »)  Horaz  C.  saeculare 

25  ff.  57  (s.  Kiessling)  C.  IV  2,  39  Yergil,  Aeneis  VI  792  (Nordens  Komm.  S.  317  ff.). 
Ueber  die  Deutung  von  Yergils  Ekloge  4  gehen  die  A.nsicliten  auch  der  Neueren 
(Lit.  bei  Gruppe  S.  1491,  vgl.  S.  Reinach,  Cultes  mythes  et  religions  II  S.  66  ff.) 
immer  noch  auseinander.  Mir  scheint  mit  Skutsch  (Aus  Yergils  Frühzeit,  Leipzig 
1901  S.  148  ff.)  das  Wahrscheinlichste,  dass  ein  i.  J.  40  erwarteter  Sohn  des  Augu- 
stus gemeint  sei.  Die  einzelnen  Yorstellungen,  Beginn  des  neuen  saeculum  und 
des  goldenen  Zeitalters,  das  Regiment  Apollos,  Sühnung  der  alten  Schuld,  Ursprung 
von  den  Göttern  und  Rückkehr  zu  ihnen  i49  maynuni  lovis  incrementum  könnte  nach 
Anm.  5  amphibolisch  gesagt  sein),  der  pacatus  orbis.  kehren,  wie  meine  leicht  zu 
vermehrenden  Zeugnisse  zeigen,  .später  in  der  Charakteristik  des  .\ugustus  bestän- 
dig wieder.  Die  Beziehung  dieses  Vorstellungskreises  auf  das  Haus  des  Augustus 
scheint  nach  der  politischen  Lage  und  nach  der  Stimmung  der  1.  Ekloge  im  J.  40 
durchaus  mögflich,  die  auf  Pollios  Haus  höchst  auffallend. 


Institutionen  des  Aug'ustus  89 


ihren  Einzug  ^  Die  erschöpfte  Menschheit  atmet  auf  und  erfreut  sich  des 
lang  entbehrten  Friedens  -. 

In  einer  Reihe  religiöser  Akte  hat  Augustus  mit  seinem  feinen  Ver- 
ständnis für  die  Bedeutung  der  Imponderabilien  diesen  Stimmungen  einen 
tieferen  symbolischen  Ausdruck  gegeben  und  durch  höhere  Weihe  sie  für 
die  Befestigung  seiner  Herrschaft  zu  nutzen  verstanden.  Tiefen  Eindruck 
machte  die  Schliessung  des  lanusbogens,  die  er  alten  vergessenen  Brauch 
erneuernd  zum  Zeichen  des  Friedens  29  vollzogt,  dann  zweimal  noch  wieder- 
holte. Um  das  Bewusstsein  der  Segnungen  des  neuen  Regimentes  und  des 
epochemachenden  Einschnittes,  den  es  bedeutete,  lebendig  zu  erhalten,  Hess 
Augustus  i.  .T.  17  die  .Jahrhundertfeier  begehen  '.  Der  Sinn  des  alten  Brauches 
war,  dass  durch  den  mit  Sühnungen  verbundenen  Akt  ein  neues  Zeitalter 
des  Heils  inauguriert  wurde  und  dass  Unheil  und  Sünde  des  alten  begrabenen 
saeculum  die  nach  göttlichem  Willen  gesteckte  Grenze  nicht  überschreiten 
konnten;  die  alten  bösen  Geister  sollten  für  immer  gebannt  sein.  Der  Ge- 
danke einer  Säcidarfeier  war  schon  lange  bei  der  Sehnsucht  nach  besseren 
Zeiten  volkstümlich,  schon  Cäsar  hat  ihn  erwogen  und  Gelehrte  wie  Varro 
hatten  sich  mit  der  Theorie  lebhaft  beschäftigt.  Augustus  hat  auch  ihn  in 
den  Dienst  seiner  Politik  gestellt;  den  Theologen  lag  es  ob  zu  beweisen, 
dass  der  ihm  passende  Termin  Avirklich  die  letzte  von  fünf  Weltijerioden  zu 
je  110  Jahren,  die  zugleich  eine  Zeit  der  Wiedergeburt  und  Erneuerung  des 
Menschengeschlechtes  sein  sollte,  eröffne,  mid  das  authentische  Orakel  zu 
schaffen.  —  Im  J.  13  endlich  nach  Augustus'  Rückkehr  aus  Gallien  und 
Spanien  wurde  die  Ära  pacis  Augustae  gestiftet^  und  i.  J.  9  geweiht. 

Durch  scheinbare  Wiederherstellung  und  Belebung  der  alten  Formen 
und  Ordnungen  eine  neue  Grundlage  des  Reiches  zu  schaffen  ist  das  Ziel, 
das  die  augustische  Politik  auf  allen  Gebieten,  auch  dem  religiösen,  verfolgt 
hat.  Die  verfallenen  Tempel  werden  wieder  aufgerichtet,  den  alten  Göttern 
neue  Heiligtümer  erbaut,  die  Priesterstellen  besetzt  und  zum  Teil  vermehrt, 
alte  Feste  und  ehrwürdige  Zeremonien  zu  neuem  Leben  erweckt.  In  der 
Vergangenheit  sucht  man  seine  Ideale,  und  man  meint,  mit  der  Restauration 
der  alten  Institutionen  auch  die  altväterlichen  Tugenden  wieder  lebendig 
machen  zu  können.  Einen  tieferen  Erfolg  haben  die  reaktionären  Versuche 
einer  Glaubens-  und  Sittenreform  nicht  gehabt.  Aber  die  geistige  Stimmung, 
aus  der  die  verunglückten  Experimente  hervorgegangen  sind,  hat  ihre  heil- 
same Wirkung  geübt  und  ist  eine  politische  Macht  gewesen.  Die  romanti- 
schen Neigungen,  wie  die  Literatur  sie  in  der  Idylle  oder  in  utopischen 
Bildern  einer  besseren  Welt  oder  in  sehnsüchtigem  Rückblick  auf  das  alte 
Römertum  darstellt,  waren  mm  einmal  volkstümlich ;  denn  sie  waren  geboren 
aus  den  erschütternden  Eindrücken  der  Schreckensära.     Ein  politisches  Pro- 


1)  Horaz  C.  saec.  57,  Vergil  Aeneis  I  291.  ^)  Horaz  a.  a.  O.  C.  IV  5,  17.  15,  9 

Epist.  n  1,  251  VergU  Aeneis  VI  8.52  (Norden  S.  328  und  Neue  Jahrb.  S.  320),  Ovid  Ex 
ponto  I  1,  32  Met.  XV  882  Trist.  11 2.85,  Gardthausen  Augustus  I  S.  480.  853.  pacare  ge- 
braucht Augustus  von  sich  Avdederholt  im  Monumentum  Ancyranum,  ebenso  von  ihm 
Ovid  Fast,  n  18,  Velleius  11  89,  6  pacatusque  tictoriis  terrarum  orbis.  Von  Hercules  (s. 
Vergil  Aen.  VI  808  im  Vergleich  mit  Augustus  und  Rotlistein  zu  Properz  HI  11,  19) 
und  Bacchus,  mit  denen  Augustus  öfter  verglichen  wird,  wird  das  Wort  gern  ge- 
braucht. —  Preis  seiner  Milde :  Horaz  C.  saec.  52  Prop.  II  IG,  42  Ovid  Amores  I  2, 
52  Trist.  H  147.  512  Met.  VHI  57  Seneca  De  dem.  I  10,  Mommsen,  Res  gestae  S.  6, 
Z.  f.  n.  W.  V  S.  345.  ^)  Gardthausen  I  S.  478  ff.  *)  Gardthausen 

I  S.  1004  ff.,  Diels  Sibyllinische  Blätter  S.  14.  15.  91.  127  ff.,  über  den  Sinn  der  Feier 
Wissowa  S.  864.  ^)  Gardthausen  I  S.  481.  852  ff. 


90       ^  11  H"':  RKLiGiösE  Entwickluni!  :  2  Die  Stimmung  der  augustischen  Zeit 

graram,  das  diese  Stimmungen  aufnahm,  sie  in  einem  Mittelpunkte  sammelte, 
ihnen  Erfüllung  verhiess,  gab  Avirklich  der  Zeit  neue  Ideale  und  einen 
geistigen  Aufschwung.  Gewiss  erreicht  die  Literatur  zum  Teil  durch  be- 
doutende  Talente  eine  hohe  Vollendung  in  einer  literarischen  Entwickelung, 
die  aus  sich  heraus  zu  begreifen  ist ;  und  die  Anmut  erotischer  Tändeleien, 
die  neue  lebensvolle  Gestaltung  alter  Stoffe,  die  Fähigkeit  der  Darstellung 
des  innersten  Gefühlslebens  werden  stets  in  der  Poesie  der  augustischen  Zeit 
einen  Höhepunkt  der  römischen  Literatur  sehen  lassen.  Aber  die  höchsten 
Wirkungen  erreichen  in  der  Zeit  doch  die  Schöpfungen,  die  von  dem  Geiste 
der  neuen  grossen  Zeit  erfüllt  und  getragen  sind.  Die  Entwickelung  Vergils 
von  epikureischen  Velleitäten  und  den  gekünstelten  Bucolica  zu  den  an- 
mutenden Schilderungen  des  Landlebens,  endlich  zum  grossen  Nationalepos, 
das  Mythos  und  Geschichte,  Diesseits  und  Jenseits,  Ideale  der  Vergangenheit 
und  aktuelle  Tendenzen  der  Gegenwart,  nationales  und  monarchisches  Em- 
pfinden verschmelzend  alles  zu  dem  Gesamtbilde  einer  dem  vorbestimmten 
Ziele  zustrebenden  grossen  Entwickelung  zu  verbinden  versteht,  beweist,  dass 
er  die  Höhe  erreichte,  indem  er  den  Gedanken  und  Idealen  der  Zeit,  deren 
Entwickelung  er  mit  tiefstem  Verständnis  gefolgt  war,  die  dichterische  Ver- 
klärung gab.  Und  so  wenig  Livius  als  Forscher  gelten  kann,  so  beruht  doch 
der  eigenartige  Reiz  und  die  starke  Wirkung  seines  Werkes  darauf,  dass 
der  Schimmer  jener  romantischen  und  sentimentalen  Stimmungen,  wie  sie 
schon  in  der  Vorrede  zum  Ausdruck  kommen,  darüber  gebreitet  ist.  Aber 
überhaupt  verleugnen  die  Schriftsteller  der  Zeit  den  Einfluss  der  herrschen- 
den Strömungen  nicht.  Der  politische  Umschwung  gibt  der  Literatur  ein 
neues  Gepräge.  Auch  Dichter,  die  wie  Horaz  ihre  besonderen  Gaben  oder 
ihre  der  Politik  abgewandten  Neigungen  nach  anderen  Richtungen  weisen, 
sehen  wir  den  romantischen  Stimmungen  der  Zeit  sich  gefangen  geben  oder 
doch  anempfindend  sich  in  die  ihnen  neue  Gedankenwelt  einleben..  All  das 
beweist,  dass  sehr  wesentlich  diese  Romantik,  welche  die  idealen  Kräfte  in 
den  Dienst  der  augustischen  Politik  stellte,  den  Uebergang  der  Republik  in 
das  Kaiserreich  erleichtert,  den  grossen  Wechsel,  den  sie  als  eine  Rückkehr 
zum  Alten  darstellt,  verschleiert  und  so  ein  festes  Vertrauen  in  die  scheinbar 
altrömischen  Grundsätze  der  Regierung  geschaffen  hat. 

Denn  den  neuen  Geist  Aveiss  Augustus  auch  in  den  archaisierenden 
Formen  zum  Siege  zu  bringen.  Sein  Schutzgott  Apollo,  auch  Mars  und 
Venus  als  die  göttlichen  Urheber  seines  Hauses  rücken  in  den  Vordergrund 
des  Kultus.  Die  sibyllinischen  Orakel  werden  in  den  mit  Augustus'  Hause 
verbundenen  palatinischen  Tempel  des  Apollo  übertragen.  Der  uralte  Kult 
der  Vesta  wird  an  das  Haus  des  Kaisers  angeschlossen,  und  die  Penaten 
der  gens  lulia  werden  mit  denen  des  Staates  verbunden;  Schicksal  und 
Zukunft  des  römischen  Volkes  sind  jetzt  auf  das  Haus  des  Augustus  gestellt. 
Tritt  in  dem  allen  das  deutliche  Bestreben  hervor,  den  Staatskult  zum  Träger 
monarcliisclier  Gefühle  zu  machen,  so  sucht  Augustus  auch  für  seine  persön- 
liche Herrscherstellung  eine  sakrale  Weihet  Seit  42  nennt  er  sich  dipi 
fi/iifs,  der  ihm  27  verliehene  Titel  Augustus  (aeßaatoc)  erhebt  ihn  über  die 
gewöhnliche  Sphäre  der  Sterblichen  imd  zieht  eine  Grenze  zwischen  Herr- 
schern und  Beherrschten.  Den  Lares  compilalcH  wird  bei  Erneuerung  ihres 
Kultes  i.  .1.  7  V.  Chr.  der  Genius  des  Kaisers  beigesellt.  Mit  weiser  Zurückhaltung 
vermeidet  Augustus,  in  Rom  volle  göttliche  Ehren  in  Anspruch  zu  nehmen; 
war  doch  Cäsar  daran  zugrunde  gegangen,  dass  er  ein  hellenistisches  König- 


0  Zum    folgenden    vgl.  O.  Hirschfeld,   Sitzungsber.    d.  Akad.    z.  Berlin  1888 
S.  833  ff. 


Poesie.     Herrschcrkult.     Sinn  der  Apotheose  [)i 

tum  erstrebte  und  göttliche  Verehrung  beanspruchte.  Dies  Ziel,  das  Cäsar 
mit  rücksichtsloser  Energie  verfolgte,  ist  erst  in  dreihundertjähriger  Ent- 
wickelung  wesentlich  durch  das  Vordringen  des  orientalischen  Geistes  er- 
reicht worden.  Aber  die  ersten  Schritte  in  dieser  Kiehtung  hat  die  Ueligions- 
politik  des  Augustus  getan.  Dass  ihm  im  Osten  die  göttlichen  Ehren,  mit 
denen  man  dort  die  Herrscher  und  die  römischen  Grossen  zu  überhäufen 
gewohnt  war,  von  selbst  zufielen,  war  natürlich.  In  den  westlichen  Pro- 
vinzen hat  er  zur  Stärkung  des  Regimentes  selbst  die  Einführung  des  Kultes 
des  lebenden  Herrschers  gefördert,  von  italischen  Städten  ihn  sich  in  den 
späteren  Zeiten  seiner  Regierung  gefallen  lassen.  Wie  Private  natürlich  die 
Freiheit  hatten,  nach  ilireni  persönlichen  Gefühl  oder  auch  nach  berechnen- 
der Liebedienerei  die  ihnen  passend  scheinenden  Ehrenbezeigungen  zu  wählen, 
so  geht  selbstverständlich  auch  in  Rom  die  hohe  Sprache  der  Rhetorik  und 
der  Poesie  über  die  Beschränkung  hinaus,  die  wir  in  den  offiziellen  Formen 
des  Kultus  beobachten.  Die  Parallelisierung  mit  Juppiter,  die  Gleichstellung 
mit  Halbgöttern,  die  Anwendung  der  echt  antiken  Anschauung,  dass  Tugend 
und  Wohltun  den  grossen  Menschen  zu  den  Göttern  erhebt^,  auf  Augustus 
haben  wir  schon  kennen  gelernt.  In  der  Angieichung  an  Apollo  -,  der  Par- 
allelisierung mit  der  Sonne  ^,  der  allgemeinen  Bezeichnung  als  Gott  *  bildet 
die  Kühnheit  dichterischer  Rede  Anschauungen  vor,  mit  denen  man  in  der 
nachaugustischen  Zeit  Ernst  machte.  —  Die  auf  Augustus'  Tod  folgende 
Konsekration  war  im  Grunde  nur  die  Bestätigung  der  Schätzung,  die  der 
Lebende  schon  bei  den  Zeitgenossen  gefunden  hatte. 

Die  Apotheose  liegt  dem  modernen  Empfinden,  welches  die  in  Staat 
und  Kirche  noch  fortlebenden  Formen  des  antiken  Herrscherkidts  in  ihrem 
ursprünglichen  Sinne  gar  nicht  mehr  zu  verstehen  vermag,  so  fern,  dass  man 
immer  noch  oft  geneigt  ist,  in  allen  derartigen  Aeusserungen  verächtliche 
Schmeichelei  und  Byzantinismvis  zu  sehen.  Lässt  sich  diese  Auffassung,  die 
einen  scheinbaren  Anhalt  daran  findet,  dass  die  Persönlichkeiten  dieser  Zeit 
kompbziert  und  von  Widersprüchen  nicht  frei  sind,  schon  für  Horaz  und 
Properz  nicht  im  geringsten  wahrscheinlich  machen ,  so  ist  sie  vollends  für 
Vergil,  dessen  ganzes  Wesen  von  dem  stolzen  Bewusstsein  der  durch  Au- 
gustus wiedergeborenen  Römergrösse  durchdrungen  ist,  vm durchführbar.  Wie 
aus  dem  grossen  Umschwung  aller  Verhältnisse  die  hohe  Schätzung  des  Au- 
gustus, der  nach  den  Zeiten  des  Schreckens  der  W^elt  Ruhe,  Woldstand  und 
alle  Segnungen  des  Friedens  wiedergegeben  hatte,  mit  Notw'endigkeit  her- 
vorging, ist  schon  gezeigt  w^orden.  Und  jeder  Zw'eifel  an  der  Aufrichtigkeit 
jener  Stimmen  muss  verstummen,  wenn  uns  die  gleichen  Töne,  ja  noch  vol- 
lere, aus  allen  Enden  des  Reiches  erklingen  und  die  Literarischen  Urteile 
bekräftigen  (s.  Beilagen  4 — 7).  Dass  die  Aegypter  das  verbrauchte  Pathos 
und  den  Wortschwall  der  alten  Königstitulatur  auch  auf  Augustus  anwenden, 
ist  selbstverständlich.  Sehr  viel  individueller  sind  die  asiatischen  Inschriften, 
die  im  w^esentHchen  dieselbe  Stimmung,  die  wir  schon  aus  der  hauptstädti- 
schen Literatur  kennen,  zum  Ausdruck  bringen'' :  Auf  die  Zeiten  des  Schreckens, 


*)  Vgl.  Nikolaos  von  Damaskos,  Fragm.  Hist.  Graec.  III  S.  427,   Dio  Cassius 
LH  35,  5  mi  9,  5,  Ovid  Met.  XV  850,  Tacitus  Ann.  IV  38.  -)  Horaz  C. 

I  2,  30.  Auffallend  und  noch  nicht  genügend  erklärt  (Eindruck  der  äusseren  Er- 
scheinung ?)  ist  die  sehr  ausführliche  Angieichung  an  Hermes  41  ff.  ^)  Horaz 
C.  IV  5,  5.  2,  46  (vgl.  I  12,  46).  *)  Dens:  Verg.  Ekl.  I  6  Prop.  lU  4,  1  IV  11, 
60,  vgl.  Horaz  Epist.  H  1,  15  C.  IV  5,  31  ff.  mit  Kiesslings  Anmerkungen.  Das  Stärk- 
ste bei  Ovid  Ex  ponto  H  8  Ars  I  204.  183.  Einen  Tempel  will  ihm  Vergil,  Georg. 
lU  16  errichten.     Gebet  zu  ihm  Georg.  1  42  Ovid  Ex  ponto  IV  9,  111.  »)  Ueber 


9:2      ^11  r)i''  RELIGIÖSE  Entwicklung  :  3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit 

der  Hoffniings-  und  Mutlosigkeit,  des  drohenden  Unterganges  ist  durch  Au- 
gustus  ein  neues  Zeitalter  des  Heils  und  Friedens,  der  Neugeburt  der  ganzen 
Menschheit  gefolgt.  Der  durch  göttliche  Vorsehung  der  Menschheit  als 
höchste  Gabe  gesandte  awir^p  und  S'jepysxr^;  hat  der  Welt  ein  neues  Aus- 
sehen gegeben,  Erfülhmg  aller  sehnenden  Hoffnungen,  gegenwärtiges  Glück, 
frohen  Blick  in  die  Zukunft  gebracht.  Es  ist  A\deder  eine  Lust  zu  leben. 
Die  konventionellen  Formen  des  Herrscherkultes  und  der  Apotheose  haben 
in  der  durch  hellenistische  Muster  so  stark  beeinflussten  römischen  Poesie 
wie  in  jenen  Inschriften  wieder  neues  Leben  und  einen  tieferen  Gehalt  ge- 
wonnen. Die  Einstimmigkeit  der  Zeitgenossen  beweist,  dass  echtes  und 
wahres  Gefühl  dieser  hohen  Schätzung  zugrunde  liegt.  Und  im  Gegensatz 
zu  den  sich  widerstreitenden  und  schwankenden  Auffassungen  anderer  Herr- 
scher hat  das  Idealbild  der  Regierung  des  Augustus,  me  es  unter  dem  un- 
mittelbaren Eindruck  seiner  Taten  die  dankbare  Mitwelt  gestaltet  hat,  den 
Wechsel  der  Jahrhunderte  überdauert  und  sich  so  konstant  behauptet,  dass 
selbst  christliche  Schriftsteller  wesentlich  in  den  Farben,  die  Rhetorik,  Poe- 
sie, Historiographie  zu  seinen  Lebzeiten  geschaffen  haben,  das  Bild  seiner 
Regierung  zeichnen,  nur  dass  sie  dem  Beginn  einer  neuen  Epoche  vmd  den 
Segnungen  des  neuen  Regimentes  eine  providentielle  Beziehung  auf  Christus 
geben  ^ 


3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit 

BoissiER  Bd.  U  (S.  87).  —  Reville,  Die  Religion  zu  Rom  unter  den  Seve- 
rern,  übersetzt  von  G.  Krüger,  Leipzig  1888. 

Der  Herrscherkult  entwickelt  sich  weiter  in  der  ihm  von  Augustus 
gewiesenen  Richtung.  Die  persönliche  Haltung  der  einzelnen  Herrscher  dem 
Kaiserkult  gegenüber  ist  verschieden.  Nach  der  weisen  Zurückhaltung  des 
Tiberius  erheben  Caligula,  Nero,  Domitian  Ansprüche  auf  volle  Würden  des 
Gottes  schon  zu  Lebzeiten,  und  die  servile  Schmeichelei  tritt  unter  ihnen  in 
besonders  grotesken  Formen  auf  ^.  Aber  die  Grundlinien  des  Kultes  bleiben 
zunächst  die  alten :  Der  verstorbene  Herrscher  wird  durch  die  Konsekration 
unter  die  diri  erhoben  und  geniesst  göttliche  Verehrung.  Der  Genius  des 
lebenden  Kaisers  wird  heilig  gehalten.  Um  die  wachsende  Macht  der  neuen 
Institution  zu  begreifen,  muss  man  sich  klar  machen,  wie  sie  von  Anfang 
an  im  allgemeinen  Glauben  der  Zeit  ihre  Anknüpfungen  suchte.  Die  Erhe- 
bung Verstorbener  in  den  Himmel  war  schon  vor  der  Konsekration  der 
Herrscher  eine  der  Pietät  der  Hinterbliebenen  geläufige  VorsteDung.  Und 
auch  über  den  flagranten  Widerspruch  der  sittlichen  Qualität  mancher  Herr- 
scher und  ihrer  Ehren  als  diri  kam  man  hinweg;  denn  die  Anknüpfung  der 
späteren  diii  an  den  im  Vordergrunde  stehenden  Kult  des  Augustus  bewies, 
dass  die  Verehnmg  mehr  dem  Amte  als  dessen  zufälligen  Trägern  galt,  und 
die  Zalil  der  diri  wurde  später  mehrfach  durch  eine  Ausscheidung  der  Un- 
würdigen  beschränkt.     Die  Verehrung    des    kaiserlichen    Genius   knüpfte    an 


die  offiziellen  Bezeichnungen  geht  hinaus  die  im  Osten  häufige  Benennung  des 
Augustus  als  Gott  und  die  von  den  römischen  Dichtern  gemiedene  (s.  Beilagen) 
volle  Gleichsetzung  mit  Göttern    wie  Zeus    und  Apollo.  *)  Beispiele  in 

Zeitschr.  f.  neutest.  Wiss.  V  S.  352;  Harnack,  Mission-^  I  S.  222  ff.  -)  Bei- 

lagen 8—10.  Was  Domitian  gegenüber  Martial,  Silius  Italicus  imd  Statius  an  Adu- 
lation  leisten,  geht  über  das  zu  augustischer  Zeit  übliche  Mass  hinaus  (nur  Ovid 
kommt  dem  nahe). 


Herrscherkult  als  Mittelpunkt  der  Religion  93 

den  altitalisclien  Genienglauben  an,  dessen  volkstümliche  Vorstellungen  durch 
Vermischung  mit  dem  hellenistischen  Glauben  an  den  jjersönliclien  oa'!|JL(i)v 
als  das  Göttliche  im  Menschen  einen  vertieften  Inlialt  erhalten  hatten'. 

In  diesen  Formen  gewinnt  der  Kaiserkult  eine  immer  weitere  Verbrei- 
tung, die  durch  Militär  und  Beamtentum  besonders  gefördert  wurde.  In 
den  Eiden  der  Beamten  und  Soldaten  werden  der  Genius  des  lebenden  Kai- 
sers -  und  auch  die  diri  neben  die  Götter  gestellt.  Im  Heere  knüioft  die 
Verehrung  des  Kaiserbildes  an  den  Kult  des  Genius  an.  Durch  das  Attribut 
Augustus  werden  viele  Götter  näher  mit  dem  kaiserlichen  Hause  verknüpft. 
Die  andern  Kulte  werden  mit  Elementen  des  Herrscherkultes  durchsetzt  oder 
durch  dessen  Glanz  in  Schatten  gestellt.  Ueber  der  verwirrenden  Fülle  der 
im  Reiche  vertretenen  Kulte  und  Religionsformen  erhebt  sich  immer  mehr 
als  der  sie  überragende  Mittel})unkt  die  Kaiserreligion.  In  diesem  Kult  mit 
seiner  eigenartigen  Verschmelzung  patriotischen  und  religiösen  Gefühles  fand 
die  Reichsangehörigkeit  der  national  und  religiös  so  verschiedenartigen  Glie- 
der des  Reiches  einen  als  Bindeglied  wertvollen  gemeinsamen  Ausdruck ;  er 
war  ein  Wahrzeichen  der  Reichs einheit.  Auch  dem  Skeptiker  und  Indiffe- 
renten gebot  die  Loyalität  die  genaue  Beobachtung  seiner  immer  mehr  die 
Akte  des  öffentlichen  Lebens  durchdringenden  Formen.  Fromme  und  Gott- 
lose konnten  in  verschiedenem  Sinne  den  Satz  des  Valerius  Maximus  ^  unter- 
schreiben, dass  den  Cäsaren  als  den  sichtbaren  Göttern  der  Vorzug  vor  den 
Olympiern  gebühre,  von  denen  man  doch  nur  Unsicheres  wisse,  mid  ohne 
Zweifel  haben  viele  so  empfunden. 

Es  war  ein  ganz  natürlicher  Fortschritt  in  der  Degradierung  der  alten 
und  der  Erhebung  der  neuen  Götter,  dass  jene  diesen  untergeordnet  werden. 
Der  Hellenismus  kannte  ja  längst  die  Gleichsetzung  der  Herrscher  mit  den 
alten  Göttern  (S.  80),  und  im  Osten  wurde  Augustus  z.  B.  mit  Zeus  und 
Apollo  identifiziert^.  Hatte  im  Westen  ähnliches  nur  die  Poesie  in  bild- 
lichem Ausdruck  gewagt,  so  trat  es  später  in  Rom  selbst  als  realer  Anspruch 
auf.  Commodus  hat  sich  als  Hercules  verehren  lassen,  und  die  Zersetzung 
des  altrömischen  Geistes  führt  zu  anderen  Versuchen  der  Art.  Aurelian  hat 
sich  als  dominus  et  deus  proklamiert  und  damit  die  Entwickelung  zu  dem 
natürlichen  Abschlüsse  geführt,  den  sie  in  den  hellenistischen  Reichen  rascher 
gefunden  hatte. 

So  hat  denn  die  augustische  Religionsreform  eine  wirkliche  Erweckung 
des  alten  Glaubens  und  tieferen  religiösen  Lebens  nicht  wirken  können.  Als 
lebenskräftig  hat  sich  nur  der  neue  Herrscherkult  erwiesen,  aber  seine  Er- 
hebung bedeutet  zugleich  den  zunehmenden  Vei'fall  des  alten  Glaubens.  Auf 
dessen  Kosten  ist  er  gross  geworden,  bis  er  schliesslich  selbst  immer  mehr 
veräusserlicht  wurde  und  durch  groteske  Formen  vergebens  die  eigene  In- 
haltlosigkeit  zu  verdecken  suchte.  Die  innere  Zersetzung  imd  Auflösung 
der  römischen  Religion  hat  die  künstliche  Wiederbelebung  ihrer  äusseren 
Formen  durch  Augustus  nicht  aufhalten  können.  Gewiss  hat  sich  seine 
Zeit  die  restaurierte  Orthodoxie  gefallen  lassen ;  noch  mehr,  sie  hat  sie  wirk- 
lich als  ein  schönes  Ideal  angesehen,  hat  dies  Ideal  wie  alles  altrömische 
Wesen  mit  ästhetischem  Wohlgefallen    betrachtet   und   mit    dem  Zauber  ro- 


")  Usener  S.  295  ff.;  Rohde,  Psyche  U  S.  316.  317.  Auf  die  bedeutendsten 
Persönlichkeiten  der  verschiedensten  Völker  wendet  Dio  von  Prusa  R.  XXV  den 
Begriff  an.  -)  Im  Osten  tritt  an  dessen  Stelle  auch  die  Person  selbst,  s. 

Dittenberger,  Orientis  inscr.  .532.  ^)  Von-ede.     Vgl.    die  S.  75  gezeichnete 

athenische  Stimmung  und  Ovid  Ex  ponto  I  1,  63  ut  mihi  äi  fateant,  quibus  est  ma- 
nifestior  ipse  (Augustus).  *)  Dittenberger,  Orientis  inscr.  457.  659. 


94      Vll  DiK  RELIGIÖSE  Entwicklung  :  3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit 

mantischer  Stimmungfen  umkleidet.  Aber  die  mit  religiösen  Gefühlen  spie- 
lende, sie  zum  ornamentalen  Schmuck  des  neuen  Reiches  verwertende  An- 
emi)iindung-  war  keine  Avirkliche  religiöse  Erweckung,  obgleich  sie  selbst  sich 
dieser  Illusion  hingegeben  hat. 

Die  römische  Religion  ist,  vrie  keine  andere  in  dem  Masse,  Ausdruck 
des  Staatsgedankens,  gebunden  an  die  Formen  des  staatlichen  Lebens  und 
durch  dessen  Kräfte  getragen.  Der  enge  Bund  mit  dem  Staate  ist  ihr  teuer 
zu  stehen  gekommen.  Es  ist,  als  wenn  der  Staat  frühzeitig  ihre  ganzen 
Kräfte  aufgesaugt,  sie  veräusserlicht  und  des  Bewusstseins  der  eigenen  Macht 
und  ihres  innersten  Lebens  beraubt  hätte.  Die  wunderbare  sich  stets  ver- 
jüngende Gestaltungskraft  der  griechischen  Religion  und  ihre  Fähigkeit,  in 
alten  Formen  Bewusstsein  und  geistigen  Gehalt  einer  neuen  Zeit  auszudrücken, 
hat  sie  nie  besessen,  und  die  Aufnahme  griechischer  Formen  konnte  den 
]\Iangel  nicht  ersetzen.  Lange  ehe  sie  in  die  nach  den  Antoninen  beginnende 
Dekomposition  des  römischen  Staates  gezogen  wurde,  war  sie  schon  inner- 
lich verwelkt  und  abgelebt.  Völlig  untergeordnet  unter  die  Interessen  des 
Staates,  in  den  Kämpfen  um  Standesinteressen  und  politische  Macht  seit  lange 
raissbraucht  und  damit  herabgewürdigt,  belastet  mit  unverstandenen,  aber 
mit  echt  römischer  Formenstrenge  festgehaltenen  Zeremonien  aus  den  Zeiten 
der  Urväter,  stand  sie  nicht  nur  in  scharfem  Gegensatz  zu  der  durch  die 
griechische  Propaganda  in  der  Gesellschaft  zur  Herrschaft  gebrachten  Auf- 
klärung, sie  konnte  auch  die  tieferen  religiösen  Bedürfnisse  der  Zeit  nicht 
befriedigen.  Seit  Poseidonios  haben  wir  eine  Steigerung  und  Vertiefung  des 
religiösen  Lebens  und  des  Gefühlslebens  überhaupt  beobachtet,  die  auch  die 
römische  Welt  ergreift  und  von  Augustus  zu  Marc  Aurel  fortschreitend  den 
letzten  Zeiten  der  untergehenden  alten  Welt  das  Gepräge  mystischer  Fröm- 
migkeit gibt  K  Volkstümliche  und  philosophische  Stimmungen  der  Art  kreu- 
zen sich.  Die  Philoso])hie  hat  das  Innenleben  vertieft ;  sie  hat  die  Religionen 
zu  reduzieren  versucht  auf  eine  reine  philosophische  Religion,  in  der  das 
individuelle  religiöse  Leben,  die  Erhebung  der  Seele  durch  das  persönliche 
Verhältnis  zu  Gott,  die  sittlichen  Wirkungen  eines  reinen  Gottesglaubens 
mehr  bedeuten,  als  Zeremonien  und  Opfer,  Gelübde  und  Weihungen,  durch 
die  rückständige,  dem  sittlichen  Gefühl  ^\idersprechende  Formen  der  Fröm- 
migkeit offen  bekämpft  werden.  Die  philoso])hisc]ie  Propaganda  hat  solche 
Anschauungen  in  die  Massen  getragen.  Gerade  dieser  individuell  gerichteten 
Frömmigkeit  gab  die  staatliche  Religion  mit  ihren  streng  gebundenen  For- 
men, mit  ihrer  nationalen  Beschränkung,  zumal  unter  der  Monarclüe  die 
Massen  dem  politischen  Leben  und  den  öffentlichen  Interessen  entfremdet 
waren,  keinen  Raum  und  keine  Befriedigung. 

Gibt  jetzt  den  einen  die  Philosophie  den  Inhalt  ihres  religiösen  Lebens, 
so  finden  ihn  andere  bei  fremden  Göttern,  die  ihnen  mehr  zu  geben  und  zu 
sagen  haben  als  die  altheimischen,  und  endlich  wird  eine  völlige  Verquickung 
pliilosopliischer  Ideen  und  einer  alle  möglichen  Kulte  deutenden  religiösen 
Symbolik  herrschende  Mode.  Es  ist  für  die  Kaiserzeit  symptomatisch,  dass 
das  gesteigerte  religiöse  Leben  mit  leidenschaftlicher  Gewaltsamkeit  sich  auf 
die  orientalischen  Kulte  wirft.  Aeussere  Momente  haben  diese  Entwickelung 
begünstigt.  Die  Ausdelmung  der  Reichsorganisation,  die  Völkermischung  der 
Hauptstadt  und  ihie  Ueberflutung  mit  orientabschen  Elementen,    der  gestei- 

*)  An  Die  Chrysostomos  und  Plutarch,  Aristides  und  Maximus,  Apulejus,  Phi- 
lostrat und  Aelian  kann  man  die  Entwickelung  in  ihren  mannigfachen  Nuancen 
beobachten.  Auch  im  Roman  drängt  sich  die  erbauliche  Tendenz  vor:  K.  Bürger, 
Studien  zur  Geschichte  des  griechischen  Romanes  IT,  Blankenburg  a.  H.  1903  S.  12  flf. 


Entleerung  der  .staatlichen  Helij^ion.     PYoinde  Götter  95 

gerte  Verkehr,  der  lani>jiilirige  Aufenthalt  der  Lepfionen  in  den  Provinzen 
und  ihre  Durchsetzuni;-  mit  Peregrim-n,  endlich  seit  dem  III  Jahrli.  das  Auf- 
kommen V(,)n  Kaisern,  die  fremden  Blutes  sind  und  die  national-römisches 
Emptinden  nicht  kennen,  fördern  den  Synkretismus  der  Relij^ionen.  Die 
römischen  Götter  gleichen  sich  immer  mehr  fremden  an,  jetzt  auch  keltischen 
und  germanischen,  i;nd  sind  oft  Decknamen  für  einen  fremden,  nicht  immer 
leicht  festzustellenden  Inhalt.  Das  Sinken  der  Bildung  und  der  Verfall  der 
Wissenschaften  befördert  jede  Art  des  Aberglaubens.  Es  war  ferner  natür- 
lich, dass  der  Archaismus  (S.  31.  35),  gewohnt,  in  Althellas  und  Altrom  seine 
Ideale  zu  suchen,  bald  auch  bei  den  nichtgriechischen  alten  Kulturvölkern 
in  die  Lehre  ging  und  auch  hier  Ideale  und  Quellen  uralter  Weisheit  fand. 
Und  mit  ihm  arbeitet  Hand  in  Hand  eine  Theologie,  die  wie  so  oft  in  Zeiten 
des  rehgiösen  Verfalles  besonders  geschäftig,  die  abstraktesten  und  entlegen- 
sten Reiigionsgebräuche  und  Vorstellungen  besonders  hochschätzt,  weil  sie 
an  ihnen  die  feinsten  Künste  ihrer  tiefsinnigen  Exegese  entfalten  kann. 

Die  fremden  Götter,  neben  den  ägyptischen  und  phrygischen,  die  schon 
durch  die  hellenistische  Propaganda  verbreitet  waren,  besonders  syrische 
Baale  und  weibliche  Göttinnen,  machen  gewaltige  Eroberungen.  Die  Mithras- 
religion  wird  die  beliebteste  Soldatenreligion  und  gewinnt  im  Reiche  eine 
Ausbreitung,  die  sie  zum  gefährlichsten  Gegner  des  Christentums  macht. 
Rom  wird  ein  Pantheon  aller  Götter.  Die  steigende  Bedeutung  der  orien- 
talischen Götter  zeigt  sich  seit  dem  III  Jahrh.  besonders  in  ihrem  Vordringen 
bis  in  den  Staatskidt.  Wie  Caracalla  das  Bürgerrecht  auf  den  grössten  Teil 
der  Reichsangehörigen  ausdehnt,  so  nimmt  er  die  Isis  unter  die  Staatsgott- 
heiten auf.  Die  nationale  Widerstandskraft  gegen  die  Invasion  fremder 
Götter  ist  völlig  erloschen.  Das  Uebergewicht  der  fremden  über  die  einhei- 
mischen Götter  tritt  deutlich  darin  hervor,  dass  die  christliche  Polemik  die 
ganze  Gewalt  ihrer  Leidenschaft  im  Kampfe  gegen  Kybele,  Isis,  Serapis, 
Mithras  entfaltet,  die  als  die  stärksten  und  gefährlichsten  Gegner  erscheinen. 

Auf  die  unent^^'irrbare  FüUe  der  bald  rivalisierenden,  bald  sich  ver- 
schmelzenden Göttergestalten  fremder  Länder,  ihrer  Kult-  und  Mysterien- 
vereine kann  liier  nicht  eingegangen  w^erden.  Denn  ihre  Geschichte  liegt 
meist  jenseits  der  Grenzen,  in  denen  meine  Darstellung  sich  zu  halten  hat; 
sie  interessiert  uns  hier  nvir  wesentlich  als  Abschluss  der  früheren  Entwik- 
kelung,  in  der  die  sie  beherrschenden  Motive  sich  vorgebildet  haben.  Auch 
muss  gegenüber  einer  starken  Ueberschätzung  dieser  synkretistischen  Reli- 
gionsgebilde offen  ausgesprochen  werden,  dass  diese  Motive  und  die  der 
ganzen  Bewegung  zugrunde  liegenden  Stimmungen  höher  zu  schätzen  sind 
als  die  im  besten  FaU  naiven,  oft  abstrusen  und  auch  rohen  Foi'men,  in 
denen  der  Trieb  nach  gesteigertem  religiösem  Leben  seine  Befriedigung 
sucht.  Dass  der  Neuplatonismus  die  Kräfte  dieser  Bewegung  in  sich  auf- 
nimmt, zeugt  genügend  für  ihre  Bedeutung.  Aber  reine  und  niedrige  Mo- 
tive, verstiegene  Spekulation  und  krudester  Aberglaube,  zarte  Mystik  und 
rohe  Sinnlichkeit  sind  in  ihr  so  verschiedenartig  gemischt,  dass  sich  die  Fülle 
der  Erscheinungen  nicht  unter"  ein  allgemein  gültiges  Werturteil  fassen  lässt. 
In  der  dramatischen  Ausgestaltung  dieser  Kulte,  in  ihrem  Reichtum  an  Li- 
turgien, Sakramenten  und  Symbolen  findet  die  Phantasie  eine  FüUe  von  An- 
regungen und  sinnlichen  Erregungen,  die  besonders  das  weibliche  Geschlecht 
angelockt  haben.  Dieser  Stoff  vermag  die  Superstition  der  naiv  Gläubigen 
und  den  Verstand  der  Verständigen,  der  alles  Mögliche  in  ihn  hineindenken 
konnte,  zu  befriedigen.  Die  Reinigungen  und  Kasteiungen,  von  den  einen  als 
magisch  wirksame  Mittel,  von  den  andern  als  Antrieb  sittlicher  Erneuerung 
gefasst,  stülten  die  Sehnsucht  nach  Erlösung  und  Erhebung  der  Seele.    Offen- 


90       VLl  DiK  RELIGIÖSE  Entwickluncx  :  3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit 

barungen  geben  sichere  Garantien  der  Heilsgewisslieit  und  des  seligen  Lebens 
im  Jenseits.  Die  Pliantasie  dieser  Zeit  beschäftigt  sich  lebhaft  mit  den  Jen- 
seitsvorstellungen. Jenseitsdichtungen  malen  liebevoll  mannigfache  Bilder 
vom  Fortleben  der  Seligen  und  von  den  Strafen  der  Sünder  aus.  Durch 
volkstümliche  Spukgeschichten,  Geisterzv^^ang,  Seelenbeschwörungen  beginnt 
die  Philoso])hie  ihre  Vorstellungen  vom  Jenseits  und  von  der  oberen  Welt 
zu  bereichern.  Zahlreiche  Kultvereine  geben  Verheissungen  seliger  Unsterb- 
lichkeit und  stellen  ihre  Angehörigen  unter  den  Schutz  eines  Gottes,  der  sie 
einst  zu  den  Seligen  geleitet,  mag  es  Hermes  oder  Persephone,  Osiris,  Mi- 
thras  oder  EuaYyeAo;  sein  '. 

Die  dem  Dienste  fremder  Götter  geweihten  Vereine  boten  dem  indi- 
viduellen Ausleben  der  Religion  mehr  Spielraum  als  die  staatlichen  Kulte. 
Seelsorgerische  Disziplinierung,  stufenweiser  Fortschritt  der  Weihungen  und 
Unterscheidung  verschiedener  Klassen  der  Gläubigen  gaben  immer  neue  An- 
stösse  zur  Vertiefung  und  Steigerung  des  religiösen  Lebens.  Die  sehr  viel 
höheren  Ansprüche,  die  diese  Götter  stellten,  schienen  ihre  grössere  Macht 
zu  verbürgen.  Und  sie  haben  gegenüber  den  national  beschränkten  und 
gebundenen  eine  allgemein  menscliliche  Bedeutung,  einen  kosmopolitischen 
und  universalistischen  Zug.  In  der  Ausweitung  ihrer  Sphäre  haben  sie  die 
Fälligkeit  gewonnen,  eine  Fülle  anderer  Göttergestalten  in  sich  aufzunehmen, 
sich  zu  assimilieren  oder  unterzuordnen  - ;  und  diese  Kraft,  die  andern  Gott- 
heiten anzuziehen,  ist  ein  wirksameres  Mittel  der  Propaganda  gewesen,  als 
es  die  Bekämpfung  der  andern  Götter  je  hätte  sein  können.  Und  hinter 
diesen  Göttern  steht  eine  Priesterschaft,  deren  ganzes  Leben  ihrem  Dienste 
und  der  Propaganda  geweiht  ist,  die  ein  Interesse  daran  hat,  die  überragende 
Bedeutung  ihrer  Götter  zur  Geltung  zu  bringen. 

In  dem  späteren  Synkretismus  spielt  Gestirn-  und  Sonnenverehrung  eine 
besonders  wichtige  Rolle.  Wie  wir  sahen,  hat  die  Philosophie  dem  Glauben 
an  die  Göttlichkeit  der  Gestirne  eine  besondere  Weihe  und  Anerkennung 
unter  den  Gebildeten  gegeben.  Die  Verbreitung  der  Astrologie  verlieh  die- 
sem Glauben  neues  Leben  und  Geltung  in  breiten  Schichten  des  Volkes, 
Seit  dem  I  Jahrh.  v.  Chr.  drang,  nach  des  Dio  Cassius  Zeugnis  von  Aegyp- 
ten  aus,  die  Planetenwoche  vor,  die  ihre  Entstehung  dem  Glauben  verdankt, 
dass  die  Planeten  in  siebentägiger  Periode  sich  als  Regenten  je  eines  Tages 
ablösen.  Der  Ursprung  dieses  Glaubens  ist  höchst  wahrscheinlich  in  Baby- 
lonien  zu  suchen.  Diese  Planetenwoche  verdrängt  völlig  die  achttägige  rö- 
mische Woche  (nundinae),  über  die  sie  schon  im  III  Jahrh.  den  Sieg  erlangt 
hat^.  Und  mit  dieser  orientalischen  Woche  verbreitet  sich  die  Verehrung 
der  Planeten  als  Tages-  und  Schicksalsgötter,  als  der  grossen  Weltherrscher  *. 


')  Rohde,  Psyclie  II  S.  362  ff.  Dieterich,  Nekyia,  Leipzig  1893.  Maaß,  Or- 
pheus S.  209  ff.  '-')  So  nimmt  z.  B.  bei  Apuleius  Met.  XI  5  Isis  aUe  weibliche 
Göttinnen  in  sich  auf,  die  in  langer  Reihe  aufgezählt  werden.  —  Eine  Zusammen- 
fassung der  männlichen  Hauptgötter  gibt  z.  B.  Celsus  bei  Orig.  C.  Cels.  I  24.  V 
41.  45:  Es  ist  gleichgültig,  ob  man  den  höchsten  Gott  Hypsistos,  Zeus,  Adonai, 
Sabaoth,  Amnion,  Papaios  nennt.  =')  Schürer,  Zeitschrift  für  neutest.  Wiss. 
VI  1  ff.  In  Konkurrenz  mit  der  astrologischen  Woche  fand  die  jüdische  durch  die 
Diaspora  weite  Verbreitung.  Sie  zählt  nur  die  Tage,  hat  aber  keine  Beziehung 
zu  den  Planeten.  Auch  ihr  Ursprung  wird  babylonisch  sein,  aber  sie  hat  ihre  von 
der  Planetenwoche  gesonderte  Geschichte.  Die  ältesten  heidenchristlichen  Ge- 
meinden liaben  die  jüdische  Woche  übernommen.  *)  E.  Maaß,  Die  Tages- 
götter, Berlin  19U2. 


Gestirn-  iiiul  Sonnenverehrung^  97 

Die  Rolle,  welche  die  Sterngötter  in  christlich  y:nostischen  Systemen 
(vergl.  X)  und  auch  im  allgemein  christliclien  Dämoncnghiuhen  spielen ,  die 
christliche  Polemik  gegen  die  Planeten  Verehrung  und  die  Tatsache,  dass  den- 
noch in  der  siegreichen  Kirche  die  heidnische  Bezeichnung'  der  Wochentage 
üblich  wird,  [)eweist  die  wachsende  Macht  dieses  aus  dem  Osten  stammenden 
Glaubens. 

Die 'Aufnahme  des  syrischen  Baal  und  dann  des  palmyrenischen  Bei 
als  des  höchsten  den  Jupiter  ablösenden  Sonnengottes  durch  Elagabal  und 
Aurelian  war  nur  ein  letzter  Schritt  im  siegreichen  Vordringen  syrischer 
Götter  und  die  öftentliclie  Anerkennung  der  Geltung,  die  der  Sonnengott 
sich  im  Glauben  der  Zeit  bereits  erobert  hatte  K  Seit  der  Mitte  des  I  Jahr- 
hunderts lässt  sich  seine  zunehmende  Verbreitung,  die  durch  den  Siegeszug 
der  Mithrasreligion  gefördert  wurde ,  verfolgen  - ;  aber  die  Wurzeln  dieser 
Entwickelung-  reichen  in  hellenistische  Zeit  zurück  •'.  Das  Attribut  Jnriclus 
bezeichnete  die  Allgewalt,  die  erst  dem  Christentum  allmählich  erlegen  ist; 
das  Geburtsfest  Jesu  als  der  neuen  Sonne  ist  mit  bewusster  Antithese  unter 
Kaiser  Constantius  auf  den  Tag  der  Geburtsfeier  des  Sol  Inrlclus  gelegt 
worden.  Die  Bedeutung  des  Sonnendienstes  offenbart  sich  auch  in  seiner 
engen  Verknüpfung  mit  dem  Kult  des  Herrschers,  der  als  irdisches  Abbild 
und  Epiphanie  des  Sonnengottes  erscheint.  Diese  Verehrung  des  Sol  gab 
dem  Zuge  der  Zeit  zu  monotheistischer  Ausweitung  und  zusammenfassender 
Unterordnung  der  göttlichen  Teilkräfte  und  Emanationen  unter  eine  Haupt- 
gottheit einen  besonders  festen  Halt.  Wir  haben  noch,  in  doppelter  Brechung 
bei  Macrobius  Saturnalien  I  17 — 23  und  in  Julians  IV  Rede,  ein  theologisches 
System,  das  eine  Fülle  von  Göttergestalten,  Sarapis,  Apollo,  Dionysos,  Ares, 
Hermes,  Asklepios,  Herakles,  Attis,  Osiris,  Horos,  den  aramäischen  Gott  Adad 
und  andere,  in  den  allumfassenden  und  welterhaltenden  Helios  aufgehen 
lässt ^.  Der  Neuplatoniker  Jamblich  hat,  vielfach  ältere  Gelehrsamkeit,  z.B. 
eine  konsequent  durchgeführte  hellenistische  Umdeutung  Apollos  in  Helios 
benutzend,  diese  Sonnentheologie  zu  der  Zeit  geschaffen,  wo  der  Sonnenkult 
in  höchster  Blüte  stand.  Aber  die  uns  erhaltenen  Reste  eines  verwandten 
theologischen  Systems  des  Cornelius  Labeo  (HI  Jahrh.)  ^  beweisen,  dass  die 
Versuche,  die  Vielheit  der  Götter  in  einer  monotheistischen  Sonnenverehrung 
zusammenzufassen,   älter  sind  als  Jamblich. 

Die  Pliilosophie  tritt  immer  mehr  unter  den  Einfluss  der  religiösen  Zeit- 
strömung; sie  sieht  vielfach  in  der  nachchristlichen  Zeit  ihre  Hauptaufgabe 
darin,  sich  den  Tendenzen  der  Theokrasie  dienstbar  zu  machen.  Sie  wird 
zur  Theologie,  indem  sie  ihre  Erkenntnisse  nicht  mit  den  Mitteln  wissen- 
schaftlicher Forschung  gewinnen  will,  sondern  sie  auf  positive  Autoritäten 
und  höhere  Offenbarungen  gründet  und  durch  sie  allein  ihre  Sicherheit  ver- 
bürgt sieht.  In  den  alten  Mythen  und  Kultgebräuchen  findet  Plutarch  die 
tiefste  Weisheit,  niedergelegt  in  Symbolen  und  Rätseln,  die  sich  nur  dem 
frommen  und  durch  religiöse  Uebungen  geläuterten  Sinn  erschliessen  ''.    Philo- 


1)  S.  über  die  ganze  Entwickelung  jetzt  Cumont,    Les   religions   orientales 
dans  le  paganisme  romain,  Paris  1907  S.  125 — 162.  '-)  Das  Material  hat  Usener, 

Rhein.  Mus.  LX  S.  465  ff.  gesammelt.  ■')  S.  Gruppe  8.  1466.  ^)  S.  Wissowa,  De 
Macrobii  Saturnaliorum  fontibus,  Breslau  1880  S.  35  ff.,  und  über  die  hellenistisclie 
Umdeutung  von  Apollo  in  Helios  Muenzel,  De  Apollodori  Ilspl  WzOvi  libris  Bonn, 
1883.  ^)  Kalü,  Philologus  Suppl.  V  S.  756  ff.  748;   vgl.  auch  Reizenstein,   Poi- 

mandres  8.  197  ff.  und  Buresch,  Klaros,  Leipzig  1889  8.  53.  54.  ^)  De  Iside  et 

Osiride  9.  2.  De  E  apud  Delphos  2.  De  defectu  oraculorum  2:  Die  Philosophie 
hat  die  Theologie  zum  Ziele.  —  Pausanias  VIII  8,  3. 

Lietzinann,  iiandbuch  z.  Neuen   Test.  I,  2.  7 


98      Vll  Die  religiöse  Entwicklung  :  3  Religionsgeschichte  der  Kaiserzeit 

so])hie  und  Poesie  sind  nach  Maximus  Tyrius  (X.  vgl.  XXXII  Dion  I  §  57 
XXXVI  i:;  3*2  if.)  im  Grunde  identiscli ;  nur  die  Mittel,  mit  denen  sie  die  eine 
Walirlieit  verkünden,  sind  verschieden.  Ja  die  Sprache  der  Poesie,  die  Mythen 
und  rätselhafte  Wendungen  bevorzugt,  ist  mit  ihrem  geheimnisvollen  Dunkel 
des  unergründlichen  Wesens  der  Gottheit  vielleicht  noch  würdiger,  jedenfalls 
an  Wahrheitsgehalt  der  Philosophie  durchaus  ebenbürtig.  Die  menschliche 
Schwäche,  so  führt  derselbe  in  R.  VIII  aus,  bedarf  nun  einmal  zur  Anschauung 
des  Göttlichen  der  Bilder  und  Symbole.  Und  indem  er  die  verschiedenartigen 
Auffassungen  und  Darstellungen  der  Götter  bei  den  verschiedensten  Völkern 
durchgeht,  hndet  er  bei  allen  die  wenn  auch  einseitig  ausgeprägte  Vorstellung 
derselben  Gottheit  (vergl.  XVII  4.  .5).  Diese  philosophische  Richtung  reduziert 
alle  Pliilosophie  (nur  Epikur  kommt  für  sie  nicht  in  Betracht)  auf  ein  theolo- 
gisches Dogma,  in  dem  sie  die  Summe  der  bisherigen  i)hiloso])hischen  Ent- 
Avickelung  erkennt,  und  sie  setzt  zugleich  diese  Theologie  als  eine  Urolfen- 
barung  in  die  Anfänge  der  Menschheit.  Man  braucht  die  Religionen  aller 
Völker  nur  richtig  zu  deuten,  um  in  allen  als  Kern  den  einen  gemeinsamen 
Gottesglauben  zu  finden  ^  Indem  diese  im  letzten  Ziele  ganz  in  Abstrak- 
tionen aufgehende  Spekulation  in  der  Poesie  ebenso  das  individuelle  Schaffen 
dichterischer  Phantasie  wie  in  der  nationalen  Rehgion  tlie  Offenbarung  des 
Volkscharakters  verkennt,  weiss  sie  den  alten  Gegensatz  von  drei  Religionen 
(S.  86)  in  vollste  Harmonie  aufzulösen.  In  Wahrheit  wird  freilich  die  philo- 
sophische Religion  zur  Norm  erhoben,  nach  der  Poesie  und  Kult  umgedeutet 
werden;  denn  ein  transzendental  platonischer  Gottesbegriff,  der  Gegensatz 
der  schaffenden  Kraft  und  des  Stoffes,  der  Ideen-  und  der  Sinnenwelt  bilden 
den  wesentlichen  Gedankengehalt  der  höchst  komplizierten  Systeme  -.  Aber 
doch  leben  diese  Theologen  der  ehrlichen  Ueberzeugmig.  dass  dieser  Wahrheits- 
gehalt bereits  in  früher  Vorzeit  in  den  polytheistischen  Religionen  offenbart 
und  erst  später  von  den  Philosoi)hen  übernommen  sei  '■'.  und  dass  sie  den 
alten  Glauben  lebendig  machen.  Ueber  die  Quellen  ihrer  Theologie  geben 
sie  sich  ähnlichen  Illusionen  wie  Philo  und  Origenes  hin.  Die  Abhängigkeit 
der  Philosopliie  von  der  religiösen  Entwickelung  der  Zeit  zeigt  sich  nicht 
nur  in  dieser  Ableitung  der  Erkenntnisse  aus  höherer  Offenbarung,  sondern 
auch  in  der  mit  den  Grundgedanken  schwer  vereinbaren  Uebernahme  eines 
reichen  konkreten  Stoffes.  Denn  unter  der  scheinbar  reinen  Höhenluft  einer 
philosophischen  Religion  breitet  sich  in  dichten  Massen  die  dumpfe  Atmo- 
sphäre der  Superstition.  Diese  Theologie  lässt  alle,  auch  die  niedrigsten 
und  rohesten  Fonnen  des  Glaubens  gelten  und  ordnet  sie  zu  einem  Systeme, 
zu  einer  Art  himmlischer  Hierarchie.  Die  Götter  des  Polytheismus  fasst  sie 
alle  als  Teilkräfte,  Offenbarungen,  Ausstrahlungen  des  höchsten  Gottes  oder 
Exponenten  seiner  Wirkungen ;  und  so  kann  sich  der  Pliilosoph,  der  sie  im 
Grunde  auflöst  und  als  symbolische  Darstellung  einzelner  Seiten  der  Gott- 
heit fasst,  doch  einig  fühlen  mit  dem  naiv  Gläubigen,  der  das  Bild  für  die 
Sache,  die  mythische  Form  für  Wahrheit  nimmt.  Das  Ueberge^^^cht  des 
monotheistischen  Gefühles  tritt  darin  hervor,  dass  alle  Mythen  und  religiösen 
Traditionen,  die  dem  reinen  Gottesglauben  widersprechen,  auf  die  niedere 
Sphäre    der   Dämonen    bezogen    und    zu    dieser    vielfach    auch    die  Olympier 

')  S.  z.  B.  Flut.  De  Iside  (>7  Maximus  XVII  .5.  Ueber  seinen  Vorläufer  Dion 
s.  v.  Arnim,  Leben  und  Werke  des  Dion  von  Prusa,  Berlin  1898,  S.  476  ff.  -)  Vgl. 
Hobein,  De  Maximo  Tyrio,  Jena  189.5,  S.  40  ff.  •'')  S.  besonders  Max.  XXXH  3. 

Das  Verhältnis  der  Philosophen  zur  Poesie,  der  von  ihnen  ohne  Dank  benutzten 
Quelle  ihrer  Weisheit,  wird  ebenso  gefasst,  wie  später  von  den  Christen  ihr  Ver- 
hältnis  zu  der  heiligen  Schrift. 


Poesie  luid  Philosoplüe.    Oifeubarungsurkunden  99 


herabgedrückt  werden  ^ 

Das  Bild  des  AjioUonios  von  Tyana,  wie  es  mit  wechselnden  Tendenzen 
immer  von  neuem  gezeichnet  wurde  '-'.  spiegelt  die  mannigfachen  religiösen 
Stimmungen  der  nachchristlichen  Zeit  wieder;  magischer  Zauber,  Dämonen- 
austreibungen, Wundergeschichten  aller  Art,  asketische  Lebensweise  und  eine 
die  roheren  Religionsformen  ablehnende,  in  der  Sonnenverehrung  gipfelnde 
Frömmigkeit,  daneben  doch  Ehrfurcht  vor  den  volkstümlichen  Religionen, 
Em])fehlung-  des  väterlichen  Brauches  und  Neigung,  bei  allen  Völkern  die 
Spuren  ursprünglicher  Weisheit  und  Frömmigkeit  zu  entdecken,  sind  in  diesem 
Bilde  vereinigt.  Das  alles  verbindet  der  Mann,  der  als  das  Ideal  des  gött^ 
liehen  Menschen  und  Träger  neuer  Offenbarungen  hingestellt  wird.  Alexander 
Severns  vereinigt  in  seinem  Betgemach  mit  einigen  seiner  göttlichen  Vor- 
gänger Apollonios,  Christus,  Abraham,  Orpheus,  Alexander  den  Grossen. 

Es  ist  ganz  natürlich,  dass  eine  Zeit,  deren  Autoritätsglauben  aus  allen 
Völkern  Offenbarungen  zusammensucht,  auch  nach  neuen  Enthüllungen  ver- 
langte ,  und  die  Avurden  ihr  in  immer  neuer  Gestalt  geboten.  Wir  sahen 
schon,  wie  die  hellenistische  Pseudohistorie  die  Autorität  alter  fingierter 
Urkunden  vorscliiebt.  Der  Neupythagoreismus  A\ärkt  durch  ganze  Massen 
gefälschter,  auf  berühmte  Namen  gesetzter  Schriften.  Die  Orakelstätten  und 
der  Orakelgiaube  gewinnen  in  nachchristlicher  Zeit  neues  Leben  ^.  Hatten 
auch  die  alten  Weissagungsstätteu  ihren  politischen  Einfluss  verloren,  so 
spielten  sie  eine  um  so  grössere  Rolle  im  Alltagsleben  der  Menschen,  die 
oft  auch  über  die  religiösen  Probleme  der  Zeit  Aufklärung  durch  Orakel 
suchen.  Das  von  Lukian  gezeichnete  paphlagonische  Orakel  mit  seinem  ge- 
meinen Schwindel  ist  ein  Zeichen  der  Zeit  *.  Seit  dem  III  Jahrhundert  v.  Chr. 
behandeln  sibyllinische  Dichtungen,  Prophezeiungen  ea:  eventu  mit  phantasti- 
schen Zukunftsbildern  verbindend,  die  grossen  Völkerschicksale  und  finden 
auch  Raum  für  eschatologische  Visionen,  philosophische  Lehren,  moralische 
Diatriben.  Altes  und  Junges,  jüdische  und  christliche  Umbildungen  und  Neu- 
dichtungen sind  in  unserer  in  ihren  Rezensionen  stark  fluktuierenden  Sammlung 
vereinigte  Ganz  in  theologischer  Sphäre  bewegen  sich  die  um  200  n.  Chr. 
entstandenen  chaldäischen  Orakel,  die  einen  platonisierenden  Gottesbegriff, 
eine  mit  Elementen  der  volkstümlichen  Religionen  versetzte  Emanationslehre, 
eine  mystische  Seelenlehre  zu  einem  Ganzen  verbinden,  das  den  Neuplatoni- 
kern  seit  Porphyrios  als  Offenbarungsurkuude  neben  Homer  und  Orpheus 
steht  •*.  Etwa  zur  selben  Zeit  veröffentlichen  die  beiden  Juliane  Samm- 
lungen religiöser  Offenbarungen  ',  und  etwas  später  gründet  Porphyrios  auf 
alle  mögliche  Orakelweisheit  ein  theologisches  System  ^.  EnthüHimgen  unter 
Orpheus'  Namen  gehen  durch  alle  Jahrhiinderte.    Die  unter  dem  Namen  des 


>)  S.  z.  B.  Maximus  TjtIus  XIV  5  ff..  Hobein  S.  54  ff.  Heinze.  Xenokrates, 
Leipzig  1892  verfolgt  S.  79  ff.  die  Dämonenlelu-e  von  Xenokrates  über  Poseidonios 
zu  Plutarch  und  Maximus.  äyYsÄo'.  und  genii  ftiessen  später  vielfach  mit  den  Dämo- 
nen zusammen.  '-)  Vgl.  Reitzenstein,  Hellemstisclie  Wundererzählungen  S.  40  ff. 
^)  Rohde,  Roman  S.  305 ;  Buresch,  Klaros  S.  39  ff.  48.  .55.  —  Schon  Augustus  soll 
2000  anonyme  oder  Pseudonyme  Orakelbücher  vernichtet  haben  (Suet.  31).  ■*)  Im 
Alexander  sive  Pseudomantis  11  ff.,  vgl.  Friedländer  III  S.  563  ff.  '")  Vgl. 
Geffcken  in  Texte  u.  Unters.  NF.  VHI  1.  Schürer,  Gesch.  d.  jüd.  Volkes  III  ^  448  ff. 
Bequeme  Uebersicht  in  Kautzsch,  Apokr.  und  Pseudepigr.  n  177  ff.  Hennecke, 
Neutest.  Apokr.  I  318  ff.  «)  Kroll,  Bresl.  philol.  Abhandlungen  VH  1  und 
desselben  Uebersicht  im  Rhein.  Mus.  L  S.  636  ff.,  unten  K.  X.  ">)  Ueber 
ihre  und  verwandte  Schriften  s.  Lobeck,  Aglaophamus  S.  98  ff.  *)  G.  Wolf, 
Poiphyrü  de  pliilosophia  ex  oraculis  haurienda  reliquiae,  Berlin  1856. 


100  Beilagen 

Gottes  Hermes  gehende  Literatur,  die  in  hellenistische  Zeit  zurückreicht, 
setzt  im  11  und  III  Jahrh.  n.  Chr.  wieder  mit  breiteren  Massen  ein  und  wird 
das  Organ  der  verschiedenartigsten  Ideen ;  daneben  ist  Asklepios  beliebter 
Autorname  '.  Fingierte  Decknamen  und  vorgeschobene  Autoritäten  sind  be- 
sonders in  der  astrologischen  und  magischen  Literatur  fast  die  Regel.  Ich  füge 
zu  den  schon  S.  81  angeführten  Namen  noch  Demokrit,  Zoroaster,  Ostanes, 
Hystaspes,  Amenhotep,  Moses,  Salomon  als  einige  der  gebräuchlichsten  -.  Als 
Offenbarung  des  Mithras  führt  sich  ein  etwa  aus  dem  II  Jahrhundert  stam- 
mendes Zauberbuch  ein,  das  die  Mittel  angibt,  sich  zum  Himmel  und  zum 
höchsten  Gott  zu  erheben  (vgl.  X).  In  diesem  Zusammenhange  wären  auch 
zu  nennen  Sammlungen  von  Wundergeschichten  und  erbaulichen  Erzählungen, 
die  zur  Stärkung  des  Glaubens  und  zur  Unterhaltung  zugleich  verbreitet 
WTirden  ^ ;  die  Sitte  mancher  Heihgtümer ,  die  Wunder  des  Gottes  in  Stein 
zu  verewigen  —  aus  Epidauros  haben  wir  eine  reiche  von  Priestertrug  und 
krudestem  Aberglauben  zeugende  Sammlung  ^  —  hat  zur  Entfaltung  dieser 
beliebten  Literaturgattung  geführt.  AU  solche  religiöse  Literatur  ist  der 
Natur  der  Sache  nach  ephemer  und  nicht  auf  die  Dauer  berechnet;  sie  ver- 
geht so  schnell,  wie  sie  sich  erneuert.  Nach  dem  Einbhck,  den  uns  besonders 
die  Papyri  gewährt  haben,  können  wir  uns  die  Produktion  auf  diesem  Gebiet 
nicht  mannigfach  und  fruchtbar  genug  vorstellen.  Nur  so  wird  uns  der 
Reichtum  der  sogenannten  gnostischen  und  der  christlichen  Unterhaltungs- 
literatur verständlich,  auf  die  von  ihren  profanen  Vorgängern  aus  das  heUste 
Licht  fällt.  Der  für  diese  Zeit  charakteristische  unerschöpfliche  Trieb  zu 
religiösen  Neubildungen  wdrd  uns  noch  Kap.  X  beschäftigen. 


BEILAGEN 

1.  Athenische  Inschrift  auf  einer  Marmorbasis  (Ditt.  Syll.  346): 

'0  ofjjxos  Td'.ov  'louXiov  Kataapa  apx^epsa  y.od  otxTaxopa  xöv  eauxoü  ao)T;^pa 
xac  £U£py£xrjv, 

2.  Steininschrift  aus  Ephesos  vom  J.  48  (Ditt.  347): 

['E'^icatcüv  Vj  ßouXYj  y.cd  6  ofj[xo;  '/.od  ai  aXXat  'EXXyjvtxa:]  toAsc;  ac  iv  x^^ 
'Aai'a  y.axocxoüaat  xac  xcc  ed-vr^  Ydiov  'IouX:ov  Yatox)  u:öv  Kaiaapa  xöv  dp/cepsa 
xa:  auxoxpaxopa  xac  xö  osuxepov  ÜTiaxov,  xöv  a.Tzb  "Apew^  xat  'AcppooecxTjs  ■8'eöv 
£7i:cpav^  xac  xoivöv  xoü  dv^pWTitvou  ßwu  awxfjpa. 

Die  Zurückführung  des  julischen  Geschlechtes  auf  Venus  ist  bekannt,  auf- 
fallend die  auf  Mars,  den  römischen  Nationalgott.  Sie  ist  charakteristisch  für  die 
S.  90  gezeichnete  Mischung  altrömischer  Traditionen  mit  denen  des  julischen  Hauses. 

3.  Alexandrinische  Inschrift,  am  Schluss  auf  das  Jahr  33  v.  Chr.  datiert 
(Dittenb  erger,  Orientis  inscr.   195): 

')  Reitzenstein,  Poimandres  ;  über  Asklepios  daselbst  S.  120  tf.  Ders.,  Helle- 
nistische Theologie  in  Aegj^pten,  Neue  Jahrb.  XHI  S.  177  if.  und  Otto  in  dem  S.  73 
genannten  Werke  H  S.  218  if.  -)  Belege  s.  Jahrb.  Suppl.  XVI  S.  756.  757 ; 

Dieterich,  Abraxas  S.  160.  161,  Reitzenstein  S.  120  fl'.  163,  Gruppe  S.  1489.  Der 
Namen  Hystaspes  hat  auch  bei  Juden  und  Christen  gegolten  (Schürer  HI  S.  450) 
wie  Orpheus  und  Sibylle.  •')  Reitzenstein,  Hellenistische  Wundererzählungen, 

Leipzig  1906.  *)  Dittenberger,  Sylloge  H  802-804. 


Kaiseriusclmften  101 


'AvTwvcGv  [xeyav  xa|xi(i.rjxov  'A'^poScatoc  Tzapdaixoc  xov  eauxoO  \heov  xac 
eOepyexTjv  .  .  . 

Der  Triumvir  Antonius   hatte  in  Alexandrien  einen  Ver^nügungsverein  ä|ii- 
|iT(TolJi(ov  gegründet  (Plut.  Ant.  28.  72). 

4.  Aus  einem  mytilenäischen  Volksbeschluss  über  Ehrungen  des  Augustus 
(Ditt.  Or.  inscr.  456  Z.  35),  aus  dem  Jahr  27   oder  bald  nachher: 

e7nXoyoaaai)-ai  oe  xf^^  oixsta;  {jteyaÄocppoauvr^s  cxi  xoü^  oupaviou  zexeuyoii 
OG^rj?  xa:  ^ewv  uTispoyjjV  y.aJ  xpaxo«;  e/ouaiv  ouoetioxs  ouvaxac  auvs^iawQ'fjvai 
xa  xat  xfj  X'JXI/  xai^stvoTspa  xai  xfj  :fi)0£c.  sü  5s  xi  xouxwv  STCtxuoioxepov  xois 
|ji£X£7i£:xa  XP<ivo:c  £Op£t)-rja£xa'. ,  7:pö;  |jLr^O£v  xwv  0-eo7coc£tv  aOxov  stic  tiXsov  Su- 
vr;ao(i£VWv  £XX£L'J;£:v  xtjv  xtj;  tioAecoc:  Tcpoö'UiJiiav  xa:  £ua£i^£iav. 

Man  lernt   die   servile  Bereitwilligkeit    des  Orients    zur  Zuerkennung  jeder 
Art  göttlicher  Ehren  aus  dieser  Inschrift  kennen. 

5.  Dekret  des  xo:v6v  der  asiatischen  Griechenstädte  über  Verlegung  des 
Jahresanfanges  auf  den  Geburtstag  des  Augustus  und  Einführung  eines  julia- 
nischen Kalenderjahres,  um  9  v.  Chr.  Wir  haben  Reste,  auch  der  lateini- 
schen Fassung,  von  Exemplaren  aus  Priene,  Apameia,  Eumeneia,  Dorylaion 
(Ditt.  Or.  II  458).  Z.  1—30  enthält  den  Brief  des  Prokonsuls  Paulus  Fabius 
Maximus,   30 — 77   den  seinen  Wunsch  erfüllenden  Besclduss: 

I  TioxEpov   YjOziiJiv    y)   o)cp£Xt|Jiü)X£pa    saxcv    TJ    xoö   'b'ECoxaxoü    Kacaapos  ys-  4 
yid-Xioc.  T^jXEpa,  rjv  xfj  xwv   Tiavxwv   ap/jj  i'aryv  '    O'.xaiw^    av  elvat    07ioXd|Jo:|Ji£V, 
xa:  £C  (XYj  xfj  cpuasi,  xto  ys  XP^^-V^P?  ^"-'  T^  ouoev  oux'  ooaTisrTixov  xa:  £:?  axux^s 
(X£xaߣ^r^xÖ5  oyfj\i.o(.  dv(i)pö-toa£V  -  ixipxv  xt  sowxsv  uavx:  xw  xGa[xw  Ö4^:v,  T^5:axa 
av  0£ca[X£vw  cp^opav  ■\  d  jjit]  xo  xo:vöv  Tzavxwv  £ux6x'!^/[J.a  £7^£y£VVT|^^rJ,  Kacaap  • 
O'.o  av  x:;  6:xa:ü)g   uTioAa^o:   xobxo  6aG)^    \\    äpXTjV  xoö  ß:ou   xa:  x'^s    ^^w^S  y£-  lO 
yovi^ai,    6  £ax:v    repag   xa:  öpo^  xoO    [i£xa|X£X£a^a: ,    öx:  ye^iv^niXO!.'..   xa:  £7i£: 
oOSEfiiag  av  oltzo  r^{X£pa^  £:$  X£  xö  xo:vöv  xa:  £tg  xö  :o:ov  Exaaxog  b'^eXoc,  £uxu- 
XsaxEpa^  Xa,äo:  a:fop[iac;  i^  X'^s  7täa:v  y£VO[Ji£vr^;  £uxuxoO?,   aX£o6v  X£  au[xßa:v£: 
xöv  auxöv  xa:^  sv  'Aa:a  7i6X£a:v  xa:pöv  slva:  xi]c,  dq  xyjV  apxrjv  £:a6ooi),    ||  oy}-  15 
Aovox:  xaxa  x:va  •i)'£:av  ^ouXr^a:v  ouxws  "^"^is  "caSEW^  Tcpox£Xu-(ü(Ji,£vr^(;  •^,  :va  ix(fop\xr] 
y£Vo:xo  xf^g  £:g  xov  I^sßaaxöv  x:}!-^?,  xa:  £-£:orj  ouaxoXov  [jiev  £ax:v  xo:;  xoacjxo:; 
aOxoü   £0£py£xr||jiaa:v  xax'  loo"^    £[uxap:a]x£:v ,    £:  [xyj  Tiap'  £xaaxa   £7^:vorjaa:|i,£V 
xpoTcov    x:va   xf^z,    a{x£:4^£[ws   xa:v6v,]    rfieiov  0  av  av^J-pcoTto:   xtjV   xo:vrjv   7iäa:v 
f^{X£pav    y£V£{)-Ä:ov    äya[yo:£v.    ||  £]av   Trpoayivr^xa:    auxo:;    xa:    :§:a   xt;  S:a   xyjv  20 
äpXTjV  fioo'd^,  ooy.zl  [xo:  Tzaawv  xwv  7ioA£:xrjä)v  "  £:va:  [x:av  xa:  xtjV  aOxY^v  V£av 
vou^r|V:av  xyjv  xgö  TJ-rpxaxou  Ka:aapo;  y£V£8'X:GV,  £X£:vrj  xs  Tiavxac  de,  xr^v  äpXYjV 
£vßa:'v£:v,  t^x:;  koxlv  -pö  svvsa  xaXavowv  'Oxxwßp:ü)v  .   .   . 

n  "Eoo^Ev  xg:;  £71:  xf^c,  'Aa:a;  "EXÄrja:v,  yvcoptr;  xoO  äpx:£p£w;  "A7toXXojv:ou  m 
XGÖ  MrjVocp:Xou  'A^av:xGu- 

£7:£[:6'r]  rj  rcavxa]  6:axa^aaa  xgO  ß:ou  t^i^wv  TCpGVG:a  aTiGuorjv  £:a£V£Vxa(X£vyj 
xa:   cp:Xox:{x:av  xö  X£Xr;GxaxGv  '    xw  ß:co  o:£x6a|JL7]a£v  £V£vxa|j,£vrj  xöv   ^£^aax6v, 
ov  eic,  £u£py£a:av   ävO-pwTzwv    s-Xv'JI  pwacv    äpsxf^?,    üoTzzp  t^jxeCv  xa:  xg:c;  [ie^-' :i5 
il[[i&c,  awxfjpa  TO[x'jiaaa]  xöv  TraucjGvxa  [xsv  TroXsfxGv  xoafXYjaGvxa  [ge  izdvxv.,  cpav£:? 
Ss]  6  Kataap  xag  eX^oa?  xwv  TzpoXa^ovxwv Eij-r^xEV  ^.  gu  (xövgv  xobc,  Tzpb 


*)  Die  Vorstellung  findet  in  der  Säkularfeier  (S.  89)  ihren  typischen  Ausdruck. 
-)  Vgl.  Cic.  pro  Marcello  23,  Res  gestae  divi  Augusti  c.  8  (Zeitschr.  f.  neutest. 
Wiss.  V  lonr,^  S.  344).  ^)  Vgl.  S.  88.  *)  Damals  gebräuclüiche 

Nebenform    von   a'jTc-),    Parallelen   zum    Gedanken    ::;wty;c.  S.  344.  ^)  Ein 

Walten  der  Vorsehung  hat  es  gefügt,  dass  der  in  Asien  übliche  Jahresanfang  dem 
Geburtstage  des  Augustus  nahe  lag  (der  stoische  Begriff  der  -pdvo-.a  auch  Z.  31). 
Der  lateinische  Text  redet  nur  von  einem  Zufall.  «)  Wie  nachher  a-v)o- 

xä-ou  TE/.rjÖTaTC/v.  ')  Vgl.  S.  88  Anm.  5  und   Nr.  6  Anfang.  ")  Die  Worte 


102  Beilagen 

auxoO  y£YGv6[Ta;  sOspyixa.;  OTrep[3a]X6[i£voc,  aXX'  o05'  ev  xoic.  iooiikvoic.  sXTrtofa 
ä;coX'.7:o)v  07:£p|ioXfj;] ,  r^p^sv  oe  xo)  y.6an(p  xwv  5'/  auxov  £Üavy£Xi[cov  y)  y£V£- 
^Xtog]  xoü  x)'£oO,  wird  die  Ausführung-  des  Vorschlages  des  Prokonsuls  nebst 
der  Auszeichnung  des  Kranzes  für  diesen,  AufsteUung  des  Briefes  und  des 
Beschlusses  im  Tempel  der  Roma  und  des  Augustus  zu  Pergaraon  und  in 
den  Konvents-Haujitstädten  beschlossen. 

6.  Nr.   894  der  lnscrii)tions  in  the  British  Museum,  aus  Halikarnass: 
'E7i£:  y'i  aiwviGc;  xa*   ai)-avaxo;  xoö  Tiavxo?  cpuatg  xö  [xsycaxov  äya^iv  T^pos 

ÖTtEpßaXXouaa;  £Ü£pY£a''a?  dv^-pünoiq  EXap^'aaxo  Kacaapa  xov  ]i]£[jaaxc/V  £V£vy.a- 
ö  jjLEvrj  xto  xa^'  ^iixä^  £uoa{[iovL  ßuo ,  TiaxEpa  [j,£v  xfj^  iocuxoö  Tza-xpioo^  •9'£ä; 
Pci)[Ji>3(;,  Ata  6£  7T;axp(Tjov  y.a:  awxfjpa  xoO  xocvoQ  xwv  av\)-pa)7iwv  y£vou?,  ou  r; 
upovoia  xac;  Tiavxwv  £uxa;  oux  £7rXTjpü)a£  [aovov,  dXXa  xac  ü7i£pf]p£V  £tprjV£6ouai 
[ji£V  yap  yfj  xal  rhaXaxxa,  7:6X£i5  0£  avi)-&öaov  £uvo|Jiia  6{xovoia  x£  xa:  £u£xrjpca, 
äy.[xr';  x£  xac  cpopa  Ttavxö^  £axcv  ayaihoi),  eXtcoowv  |X£v  XP^J'^'^wv  Tzpbc.  x6  |j,£XXov, 
£i)^u|i,''a;  &£  ziq  xö  Tcapöv  xwv  av^pwutov  £V£U£7T;Xyja|JL£Vtov .  äywa'.v  xaE  ayaX- 
[laaiv  •ö'uaia:^  X£  xa:  uiavot?  .  .  . 

Den  Titel  pater   patriae  erhielt  Augustus  2  v.  Chr.    P>  wird  den  Griechen 
verständlich  gemacht  als  Zs^j;  -a-:p(oo;. 

7.  Augustus  offiziellen  ägyptischen  Titel  (sich  berührend  mit  S.  76) 
gibt  nach  Lepsius  Mommsen  R.  G.  V  S.  565  (Gardthausen  II  S.  241):  „Der 
schöne  Knabe,  lieblich  durch  Liebenswürdigkeit,  der  Fürst  der  Fürsten,  aus- 
erwälüt  von  Ptali  und  Nun,  dem  Vater  der  Götter,  König  von  Oberägypten 
und  König  von  Unterägypten,  Herr  der  beiden  Länder,  Autokrator,  Sohn 
der  Sonne,  Herr  der  Diademe,  Kaisar,  ewig-  lebend,  geUebt  von  Ptah  und 
Isis."  W.  Otto  bemerkt  mir,  dass  Augustus  auch  noch  den  Titel  Horus  und 
Stier  führt. 

8.  Beschluss  aus  Assos  vom  J.  B7  auf  einer  Erztafel  (Ditt.  Syll.  364). 
Ich  drucke  nur  einen  Teil  ab  : 

5  'Euec  "f}  xax'  suxV   Tzotaiv  dv^pwTzo:;    eXma\i'Zlaoc  Tatou  Kai'aapo;    r£p[Jia- 

vcxoö  Z£JiaaxoO  i,Ye[io'r.cc  y.axYjVy£Xxa'..  oOo£v  de  [X£xpov  XO(.pöL:;  £Üpr^x£v  ö  xoa- 
|ji05,  Tcaaa  de  TtdXo;  xa:  rcav  cil-vo;  cti:  xrjv  xoö  {)-£oO  ö^'-'''  £<^7ü£ux£v,  w?  av  xoü 
T^ocaxo'j  dvil-pwTzoi;  aücbvoc;  vOv  everszGiXo;,,  haben  wir  beschlossen,  eine  Gesandt- 
schaft an  den  neuen  Kaiser  zu  senden,  um  ihm  zu  gratulieren  und  um  sein 
Wolilwollen  zu  bitten.     Es  folgt  der  Huldigungseid  der  Assier. 

9.  Aus  einem  Beschlüsse  der  Kyzikener,  bald  nach  dem  Regierungsantritt 
des  Cabgaila  (Ditt.  SyU.  365): 

'Eti£'    ö    v£o;  "HXt&;^    Vd'ioz  Kaiaap    ^£[jaaxö;    r£p[xav:xö;    a'jvavaXd[x4'a'. 

Tai;   idi'X'.c.  oc^yocIz  xa:  xdc  oopu'^opou;  xfj;  y^y£[XGv{a:  Y^ii-£Xr^a£v  [jaatXy'ja«; -',    tva 

ö  auxoü  xö  (X£yaX£tov  xfj;  äD-avaata;   xat  £v    xoüxo)    a£[xvc-x£pov  r,,  ,3aacX£wv   xav 

7:dvu  £7i'.voü)a'.v  £1^   £Oxapcaxcav   xtjXcxouxo'j  ■9-£oö  £'jp£iv  l'aa;  o!.\xo'.'^dz  o:;  £ijrjp- 


Xdpixo;    £Üi;   auvap/Jav    xy;X'.xo6xo)v    ^£ü)v   y£y6vaai  [5aa:X£t;,    {I-ewv    0£    X^-P'"^'^ 

10  xouxo)  oiacpipooacv  ävx)'po)7:ivojv  o'.aooxwv,  o)  v^  vuxxö;  TjXtoc;  xa:  (st.  rj)  xö  dcp- 

■Ö-apxöv   •ö-vr^TT];  cpuaEW?,    wollen    wir  die  Söhne    des  Kotys    feierlich    empfan- 


der Lücke  müssen  den  Sinn  gegeben  haben,  dass  Augustus  die  ahnungsvollen  Hoff- 
nungen, die  man  längst  auf  ihn  setzte  (S.  88)  erfüllt  oder  übertroff"en  habe,  vgl.  Nr.  6. 
■)  Vgl.  Ditt.  Nr.  376,  den  Beschluss  der  Akräphienser  von  J.  67,  dem  Nero  einen 
Altar  mit  der  Aufschrift  A-.i  'EÄE'jihEpiw  Nspwvi,  sl;  alö)va  zu  weihen.  Z.  33  wird  dort 
von  iluu  gesagt  vio;  H/.io;  £-i/.ä|r|ac;  -et;  "VJ.Xrflv/  r.pcsLpyjiiivo;  (=  r.poripy/iisvos)  sOsp- 
:y,v  'K/.Xä5a.     Anthologia  Palatina  IX  178.  -')  S.  Nr.  5  Anm.  6. 


■lüdiscli-hellenistische  Geschichte  103 


gen  und  dabei  su^aai^a:   uTisp   xf;^   l'atou    Kat'aafo;  auov:ou  O'.ajxovfj;   xai  tyj; 
TouTtüv  OMxrßicx.-  .... 

Wie  die  Söhne  des  Kotys,  hatte  ('alij;uhi  aiich  andere  Fürsten,  z.  B.  Autiochos 
von  Konnnagene  und  den  Judenkünig  Ayiippa,  in  ilue  Herrschaft  wieder  eing-esetzt. 

10.  Inschriften  von  Priene,  her.  von  Hiller  von  Gärtringen,  Berlin  1906, 
Nr.  229:_ 

AÜToxpatopa  Ao(xcTcavöv  Ka:aapa   ^sjJaatGv  [rep(xavtx6v],    ^bov  dvtxrjxov, 
xTcaxr^v  xfjc;  toXcw;  6  ofnioc,  6  llp'.rjvsojv. 


VIII 

hellp:nismus  und  Judentum 

JWellhausen,  Israelitische  und  jüdische  Cxeschichte  *,  Berlin  1901.  —  ESCHÜ- 
RER,  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  im  Zeitalter  Jesu  Christi^,  3  Bde.  Leipzig 
1901.  1898,  Registerbaud  1902.  —  WBousset,  Die  Religion  des  Judentums  im  neu- 
testamentHchen  Zeitalter-,  Berlin  1906.  —  ABertholet,  Die  Stellung  der  Israe- 
liten und  der  Juden  zu  den  Fremden,  Freiburg  und  Leipzig  1896.  —  Eine  populäre 
Zusammenfassung  gibt  WStaerk  ,  Neutestamentliche  Zeitgeschichte ,  2  Bdchen, 
Leipzig  1907  (Sammlung  Göschen). 

1  Palästinensisches  Judentum 

Der  Syrerkönig  Antiochos  Epiphanes  (175 — 164)  hat  versucht,  dem  Juden- 
tum seine  nationale  und  religiöse  Sonderart  gewaltsam  zu  rauben  und  es  zum 
Eingehen  in  den  hellenistischen  Kulturkreis  zu  zwingen.  Der  Plan  des  helle- 
nistischen Fürsten  ist  begreifHch.  Die  Eigenart  der  jüdischen  Religion,  deren 
Exklusivität  ihr  die  den  polytheistischen  Religionen  leichte  und  natürliche  Ver- 
schmelzung mit  der  griecliischeu  Religion  unmöglich  machte,  hat  er  nicht 
verstanden  und  in  dem  prinzipiellen  Standpunkt  jüdischer  Frömmigkeit  nichts 
als  eigensinnige  Widersetzlichkeit  gesehen.  Die  Sympathien  einer  längst  an 
hellenistische  Lebensformen  und  Einrichtungen  gewöhnten  aristokratischen 
Partei  unter  den  Juden  schienen  ihm  Aussicht  auf  Erfolg  zu  bieten^.  In 
Wahrheit  hat  dann  der  gewaltsame  Versuch  dem  Judentum  die  Augen  ge- 
öffnet für  die  vom  Hellenismus  ihm  drohende  Gefahr  und  es  (seit  168)  in 
den  Kampf  für  seine  nationale  Religion  getrieben.  Der  Lauf  der  geschicht- 
lichen Entmckelung  hat  aber  bald  den  religiösen  Gedanken,  welcher  der 
kräftigste  Hebel  der  Erhebung  gewesen  war,  zurückgedrängt.  Die  gesetzes- 
strenge Partei  der  Pharisäer,  der  spezifisch  Frommen,  hat  sich  der  Pflege  und 
Sicherung  des  rehgiösen  Erbes  und  Ge^\innes  der  Befreiungskämpfe  gewidmet 
und  damit  eine  Aufgabe  erfüllt,   zu  der  die  ins  politische  Weltgetriebe   ver- 


^)  Die  neueren  Forschungen  über  Jesus  Sirach  haben  neues  Licht  über  die 
damaligen  Richtungen  des  Judentums  verbreitet,  s.  R.  Smend,  Gott.  Gel.  Anzeigen 
1906,  S.  756  ff.  Danach  schrieb  Sirach  vor  der  syrischen  Religionsverfolgung  mit 
starker  antüiellenischer  Tendenz.  Er  stellt  die  jüdische  Religion  dar  als  Weis- 
heitslehre, die  aller  heidnischen  Weisheit  überlegen  ist. 


104     Vin  Hellenismus  und  Judentum:  1  Palästinensisches  Judentum 

strickte,  die  Religion  als  Mittel  zu  politischen  Zwecken  benutzende  Dynastie 
der  3Iakkabäer  mit  ihrem  usurpierten  Hochj)riestertura  ebenso  unfähig  wie 
unwürdig  erschien.  Das  Regiment  der  idumiiischen  Bastarde  (seit  41)  und 
dann  die  sich  vollendende  römische  Fremdherrscliaft  konnte  die  reUg^ö- 
sen  Erzieher  nur  darin  bestärken ,  die  Frömmigkeit  wieder  auf  die  der 
Welt  und  der  Politik  abgewandte  Richtung  zurüclizuführen,  die  sie  seit 
dem  Exil  eingeschlagen  hatte.  Die  Lösung  der  politischen  Frage  wurde 
vertagt,  man  fand  sich  in  das  gottgewollte  Provisorium,  und  man  suchte 
die  Verwirklichung  der  Frömmigkeit  nicht  mehr  im  Staate,  sondern  in  der 
neben  ihm  hergehenden,  der  christlichen  Kirche  ähnlichen  Organisation  der 
Gemeinde;  erst  der  Druck  der  Römerherrschaft  hat  die  Pharisäer  zum  Ein- 
gehen auf  die  wachsende  nationale  Strömimg  genötigt.  Ihre  religiöse  Er- 
ziehungsarbeit hat  ihnen  wirldich  die  geistige  Herrschaft  im  Volk  gesichert 
und  dem  Judentum  seinen  besondern  Charakter,  die  religiöse  Richtung  und 
Gestaltung  des  Lebens,  die  schroffe  Abschliessimg  gegen  alle  Elemente  fremder 
Kultur,  soweit  sie  nicht  schon  völlig  assimiliert  waren  und  als  fremdartig  gar 
nicht  mehr  empfunden  werden  konnten,  das  starke  Bewusstsein  der  auf  dem 
Gesetz  beruhenden  Einheit  und  der  besonderen  Ueberlegenheit  des  Volks- 
tumes  aufgeprägt.  Diese  Strömung  hat  sich  durchgesetzt  und  das  Volk  er- 
obert im  Gegensatz  zu  der  die  oberen  Schichten  beherrschenden  Stimmung 
unter  stets  latenten ,  oft  in  offenem  Kampf  sich  entladenden  Spannungen. 
Dieser  Widerstand  machte  die  Position  der  D3mastie  des  Herodes,  die  das 
Judentum  mit  dem  Hellenismus  in  Einklang  bringen  wollte,  zu  einer  ver- 
lorenen. So  verschiedenartig  die  idumäischen  Herrscher  w^aren,  die  an  die 
hellenistischen  Despoten  erinnernde  Kraftnatur  des  grossen  Herodes  (37 — 4 
v.  Chr.),  der  mit  gleichem  Pompe,  aber  geringerer  Energie  auftretende  Hero- 
des Antipas  (4  v. — 39  n.  Chr.),  der  liederliche  und  bigotte  Herodes  Agrippa  I 
(37,  40,  41 — 44  n.  Chr.),  darin  sind  sie  sich  doch  gleich,  dass  sie  den 
Glanz  weltlicher  Kultur  und  Bildung  suchen,  in  Gründungen  und  Bauten  dem 
Beispiel  hellenistischer  Herrscher  folgen,  fremde  Institutionen  übernehmen,  auf 
dem  üblichen  Fusse  und  in  den  weltlichen  Verkehrsformen  ihre  Beziehungen 
mit  auswärtigen  Staaten  unterhalten,  Komplimente  und  Ehren  geben  und 
empfangen,  vor  dem  Kaiser  und  seinen  Grossen  kriechen  ^,  keine  Schranken 
der  Begierde  und  des  Genusses  kennen.  Dass  sie  eine  Art  Gottesstaat  zu  re- 
gieren hatten  und  ])ei  offiziellen  Gelegenheiten  eine  besondere  Frömmigkeit  zur 
Schau  trugen,  w'erden  draussen  Stehende  ihnen  nicht  angemerkt  haben.  Sie 
verfolgten  im  Grunde  nur  die  Richtung  weiter,  die  schon  die  makkabäischen 
Könige  eingeschlagen  hatten,  und  sie  hatten  den  priesterlichen  Adel  der 
Nation  hinter  sich,  der  sich  von  den  hellenisierenden  Tendenzen  der  vor- 
makkabäischen  Periode  die  Neigung  zu  Weltförmigkeit  und  Aufklärung  be- 
wahrt hatte  und  durch  die  rigorosen  Heiligkeitsforderungen  der  exklusiven 
Frömmigkeit  sich  in  seiner  Bewegungsfreiheit  nicht  hindern  lassen  wollte. 
Was  von  griechisch-römischer  Kidtur  durch  den  Hof  und  durch  das  rö- 
mische Regiment,  durch  die  lebhaften  Beziehungen  zum  Westen  und  durch  die 
wachsenden  Bedürfnisse  der  Lebenshaltung,  durch  jüdischen  Wandertrieb  und 
Austausch  mit  der  Diaspora  eingeführt  wurde,  hat  sich  meist  an  der  Ober- 
fläche der  verfeinerten  äusseren  Zivilisation  bewegt  und  auf  die  höheren 
Schichten  und  die  Städte  beschränkt'-.    An  Literaten  und  Diplomaten,  welche 

')  Herodes  der  Grosse  baut  mehrere  Cäsareen  und  andere  Tempel  ausserhalb 
des  jüdischen  Landes,  in  Jerusalem  Theater  und  Amphitheater :  Scliürer  I  S.  387  ff. 
(11  4.5  ff.);  Bertholet  S.  247.  248.  -')  Schürer  11  42  ff.,  der  unter  anderem  das 

Eindringen  griechischer    und   lateinischer  Lehnwörter    aus  der  Mischna  erläutert. 


Pbarisäismus.    Hellenistische  uikI  orientalische  Einflüsse  105 

die  griechische  Sprache  beherrschten,  hat  es  aucli  in  Jerusalem  nicht  gefehlt; 
sie  waren  leicht  aus  dem  Palästina  umgebenden  Kranz  hellenistischer  Städte 
und  der  dortigen  Dias])ora  zu  beziehen;  die  meisten  tragen  keine  jüdischen 
Namen.  Von  geistigem  Besitz  der  Griechen  ist  gewiss  nichts  in  die  Tiefen 
des  Jüdischen  Volkes  gedrungen,  das  unter  der  geistigen  Herrschaft  des 
Pharisäismus  von  den  Grundsätzen  strenger  Ausschliessung  alles  Fremd- 
ländischen 'und  von  besonderem  Misstrauen  gegen  den  Hellenismus'  beseelt 
war.  Vereinzelte  griechische  Elemente  sind  der  Theologie  durch  die  Schrift- 
gelehrten der  Diaspora  vermittelt  worden. 

Sehr  viel  stärker  sind  unzweifelhaft  die  Einwirkungen  des  Ostens  ge- 
wesen, auf  die  hier  nur  kurz  hingewiesen  werden  kann'.  Was  sagt  allein 
die  eine  Tatsache,  dass  das  Judentum  seine  eigene  Sprache  aufgegeben  hat! 
Die  israelitische  Kultur,  die  schon  vor  dem  Exil  kein  autochthones  Gewächs 
gewesen,  sondern  von  fremden  Elementen  durchsetzt  war,  tritt  uns  in  der 
Periode  des  Judentums  besonders  in  den  niederen  Schichten  der  Religion,  in 
Angelologie,  Dämonologie,  Kosmologie  und  Eschatologie  mit  einer  solchen  Fülle 
neuen  Materials  bereichert,  in  solcher  fluktuierenden  Bewegung  des  religiösen  Vor- 
stellungslebeus  begriffen  entgegen,  dass  wir  der  Berührung  mit  fremden  Völkern 
den  entscheidenden  Anstoss  zu  dieser  starken  Umgestaltung  und  Mehrung  des 
früheren  Besitzes  zuschreiben  müssen.  Der  Einfluss  der  innerasiatischen  Kultur, 
den  das  Judentum  im  Exil  erfahren  hatte,  setzte  sich  durch  die  lebhaften  Bezie- 
hungen zu  den  babylonischen  Gemeinden  fort.  Der  in  dieser  Periode  sich  vollzie- 
hende Prozess  der  Konsolidierung  zuerst  der  neuen  Gemeinde  und  dann  des  Staates 
in  der  Makkabäerzeit  ist  ähnlich  vne  bei  der  ersten  Eroberung  Kanaans  neben 
der  Abstossung  eine  stetige  Absorption  fremder  oder  gemischter  Bevölkerung 
durch  den  jüdischen  Kern,  eine  fortschreitende  Judaisierung,  die,  oft  durch 
Blut  und  Eisen,  eine  Nation  zusammenbringt  imd  durch  das  stai'ke  Band  der 
ritualen  Religion  zusammenschmiedet  ^.  Kein  Wimder,  dass  trotz  aller  Strenge 
der  religiösen  Disziplinierung  in  diesem  Volke  die  Rudimente  der  verschie- 
densten Glaubensformen  fortleben,  dass  das  Netz  hellenistischer  Städte  mit 
ihrer  oberflächlichen  westlichen  Kultur  und  ihrer  starken  semitischen  Unter- 
schichten (S.  12),  das  Palästina  umscliliesst,  dass  ähnliche  ins  Herz  des  Landes 
eingesprengte  Enldaven,  dass  Samarien,  das  vor  und  nach  dem  Magier  Simon 
stets  ein  fruchtbarer  Boden  für  mancherlei  Mischbüdungen  gewesen  ist,  den 
so  leicht  bestimmbaren  niederen  Schichten  des  Glaubens  eine  Fülle  neuer 
oder  verwandter  Vorstellungen  zuführen  konnte.  Dass  endlich  die  seit  dem 
n  Jahrh.  v.  Chr.  mächtig  -vordringende  Propaganda  der  innerasiatischen  Re- 
ligionen, die  in  Syrien  gerade  einen  starken  religiösen  Gärungsprozess  schuf 
und  sich  mit  griechischen  Spekiüationen  durchsetzte,  auch  an  dem  Judentum 
nicht  spurlos  vorübergegangen  ist,  wird  S.  122  if.  gezeigt  werden.  Die  Richtung 
auf  das  innere  Leben,  die  der  Pharisäismus  der  Frömmigkeit  gab,  musste 
zur  Individualisierung  der  Anschauungen  und  freieren  Entfaltung  der  reli- 
giösen Vorstellungsw'elt  führen.  Wie  schlicht  und  natürlich  scheint  die  Fröm- 
migkeit der  Stillen  im  Lande  gewesen  zu  sein,  in  der  Jesus  gross  geworden 


Vgl.  auch  seinen  Registerband,  S.  13  ff.  Zahn,  Einleitung  ^  1  S.  24  ff.,  der  im  ein- 
zelnen den  griechischen  Einfluss  sich  zu  ausgedehnt  vorstellt.  ')  Schürer 
n  67  ff.  zeigt,  wie  eingehende  Kautelen  die  Kasuistik  der  Schriftgelehrten  für  die 
Berührung  mit  dem  Heidentum  aufstellte.  '-)  Einiges  \^^rd  IX  1  und  X  aus- 
geführt werden.  Zum  folgenden  vgl.  auch  Gunkel,  Forschungen  zur  Religion  und 
Lit.  des  Alten  und  Neuen  Testaments  I  S.  21  ff.  '•')  Vgl.  auch  Höschel, 
Palästina  in  der  persischen  und  hellenistischen  Zeit,  Sieglins  Quellen  und  For- 
schungen, Heft  ö.  Berlin  1903. 


106        MI'  Hellenismus  und  Judentum:  2  Hellenistisches  Judentum 

ist.  Daneben  Kreise,  die  begierig-  auf  geheimnisvolle  Zukunftsoffenbarungen 
lauschen  und  sich  an  einem  grotesken  mythologischen  Api)arate  erbauen.  Dann 
wieder  die  rigorose  Askese  des  Täufers  luid  jenes  sonderbaren  Heiligen,  den 
Josej)hus'  Selbstbiographie  (§11  Niese)  uns  schildert,  das  besondere  Heiligimgs- 
streben  der  essäischen  Gemeinschaft,  überhaupt  eine  starke  Neigung,  die  Fröm- 
migkeit in  engeren  Kreisen  zu  pflegen.  „Das  Judentum  war  wie  der  Islam  eine 
komplexe  Erscheinung,  voller  Antinomieen,  aufnahmefähig  wie  alles  Leben- 
dige, nicht  systematisch,  sondern  nur  historisch  zu  begreifen.  Die  Pedan- 
terie und  die  strenge  Diszi])lin  beherrschte  nur  die  Praxis ,  liess  aber  auf 
dem  Gebiete  des  Glaubens  luid  der  religiösen  Vorstellungen  eine  merkwür- 
dige Freiheit  bestehen,  wenngleich  ge^Adsse  Grundsätze  nicht  angetastet  werden 
durften.  Es  muss  eine  grosse,  bunte  und  anarchische  Literatur  dieser  Art 
gegeben  haben"  '. 

So  steht  das  jüdische  Volk  freilich  mitten  in  der  kidturgeschichtlichen 
und  religionsgeschichtlichen  Ent^A-ickelung,  deren  Bedingungen  wesentlich  der 
Hellenismus  geschaften  hat.  Aber  so  sehr  die  Fortbildung  des  Judentums 
und  die  Ausgestaltung  seines  geistigen  Lebens  durch  seine  Verflechtung  in 
die  Völkergescliichte  und  durch  mancherlei  fremde  Einflüsse  bestimmt  ist, 
lässt  sich  doch  an  keinem  Punkte  mit  Sicherheit  nachweisen,  dass  der  griecliische 
Geist  auf  die  sich  reicher  eiitfaltende  innere  Entwicklung  des  palästinensischen 
Judentums  einen  tieferen  Einfluss  ausgeübt  hat.  Die  aus  innerjüdischer  Ent- 
wäckelung  nicht  verständlichen  fremdartigen  Züge  der  essäischen  Gemein- 
schaft lassen  mit  Wahrscheinlichkeit  von  aussen  gekommene  Einflüsse  vermuten. 
Dass  wir  ihren  Ursprungsort  nicht  nachweisen  können,  ist  eine  Erfahrung, 
die  sich  in  der  religionsgeschichtlichen  Erforschung  dieser  Periode  oft  wieder- 
holt; dass  sie  von  den  Orphikem  ausgegangen  seien,  scheint  mir  eine  un- 
wahrscheinliche und  nicht  genügend  bewiesene  Hypothese  zu  sein'-.  Wie 
das  Christentum  erst  mit  seinem  Uebergange  vom  palästinensischen  Boden 
in  die  westliche  Welt  der  Weltkultur  sich  zu  erschliessen  beginnt,  so  müssen 
wir  das  jüdische  Mutterland  verlassen  und  uns  der  jüdischen  Diaspora  zu- 
wenden, um  einen  tieferen  Einfluss  des  Hellenismus  auf  die  Entwickelung  des 
.Judentums  wahrzunehmen. 


2  Hellenistisches  Judentum 

Ein  Ueberblick  über  die  Verbreitung  des  Judentums  in  der  griechisch- 
römischen  Welt,  die  jüdische  Hellenisten  stolz  als  Aussendung  von  Kolo- 
nien bezeichnen  ■',  kann  hier  so  wenig  gegeben  wie  die  vielumstiittene  Frage 
nach  der  Zeit  der  Gemeindegründungen  in  den  hellenistischen  Städten  und 
dem  Anteil,  der  den  ersten  hellenischen  Herrschern  daran  zugeschrieben  ward  "*, 
erörtert  werden.     Für  uns  kommt  hier  vor  allem  Alexandria  als  die  Kultur- 


')  Wellhausen  S.  :-303.  .304.  ')  Zeller  hat  diese  auch  von  Schürer  H  S.  385  ff. 
angenommene  Hypothese  zuletzt  in  der  Zeitschrift  für  wiss.  Theo).  1899  S.  195  ff.  ver- 
treten ;  s.  dagegen  Bousset  S.  .524  ff.  Durch  die  von  Josephus  aufgetragenen  helle- 
nistischen Farben  darf  man  sich  hier  wie  in  der  philonischen  Schilderung  der  Thei'a- 
peuten  (Jahrb.  f.  klass.  Philo!.  Suppl.  XXH  S.  748  If.)  niclit  täuschen  lassen.  Für  Jose- 
phus sind  ja  auch  die  Zeloten  eine  philosophische  Sekte.  ■'')  S.  Agrippa  in  Philos 
Leg.  ad  Gaium  36  p.  587  M.  und  ähnlich  Philo  In  Flaccum  7  p.  524  M.,  De  vita  con- 
templativa  3  p.  474  M.  ')  Der  konservativen  Darstellung  Schürers  HI  S.  10  if. 

steht  z.  B.  die  starke  Skepsis  Boussets  S.  71  ff.  gegenüber.    Die  von  Bousset  S.  75 


Die  Diaspora  im  Verhältnis  zum  Hellenismus.    Mischbildungen  107 


Stätte  in  Betracht,  wo  der  griechische  Geist  zwar  keineswegs  den  einzigen, 
aber  den  stärksten  Einfluss  auf  das  jüdische  Denken  ausgeübt  hat.  Um  die 
Mitte  lies  111  .lahrh.  ist  eine  jüdische  Diaspora  in  Aegypten,  t'reilicli  ausser- 
halb Alexandrias,  urkundlich  bezeugt'.  Dei-  Schluss,  dass  wir  sie  zu  derselben 
Zeit  also  auch  in  Alexandria  vorauszusetzen  haben,  scheint  mir  wahrschein- 
lich, ihr  Beginn  in  der  ersten  hellenistischen  Zeit,  in  welche  die  jüdische 
Tradition  ihn  setzt,  sehr  möglich.  Frühzeitig  haben  die  Juden  dort  einen 
besonderen  Koramunalverbaud  mit  eigener  Verfassung  gebildet  und  sich  bür- 
gerlicher CTrleichberechtigung  ei-freut. 

Sehr  viel  grösser  war  für  das  Judentum  der  Diasjjora  die  Gefahr,  sich 
selbst  zu  verlieren  und  vom  Hellenismus  verschlungen  zu  werden.  Hier  trat 
ihm  eine  gar  nicht  verwandte  und  zum  Teil  hoch  überlegene  Kultur  entgegen. 
Gewaltsamen  und  den  Widerstand  herausfordernden  Hellenisierungsversuchen 
war  es  nicht  ausgesetzt.  In  den  Städten  vielfach  mit  besonderen  Vorrechten 
ausgestattet  und  als  geeignetes  Werkzeug  der  Kolonisation  benutzt,  sah  sich 
die  Judenschaft  der  Diasporagemeinden  den  leise  aber  stetig  wirkenden  Be- 
rührungen des  griechischen  Geistes  ausgesetzt,  durch  den  Gebrauch  der 
griechischen  Sprache  schon  in  die  fremde  Anschauungsweise  hineingezogen, 
durch  den  beständigen  unvermeidlichen  Verkehr  mit  Nichtjuden  zur  Nicht- 
achtung vieler  die  Abschliessung  fordernder  Gebote,  zur  Müderung  der  natio- 
nalen Vorurteile  genötigt.  Dass  trotzdem  das  Judentum  auch  in  der  Diaspora 
seine  Eigenart  bewahrt  und  selbst,  wo  es  von  griechischen  Ideen  stark  infiziert 
war,  das  nationale  Bewusstsein  kräftig  betont  hat,  ist  der  straffen  Gemeinde- 
organisation und  dem  engen  Zusammenhange  mit  der  Muttergemeinde,  wie 
er  auch  in  der  planmässigen  und  einheitlichen  Opposition  gegen  die  christ- 
liche Mission  hervortritt,  zuzuschreiben-.  Das  Judentum  war  schon  in  sich 
zu  sehr  gefestigt,  um  in  der  Mischung  der  Völker  sich  zu  verlieren.  Eine 
religiöse  Mischbüdung,  die  den  Charakter  jüdischer  Religion  verleugnet,  lässt 
sich  in  Kleinasien  in  Konventikeln  nachweisen,  die  den  ü>\)'.otzq  oder  auch 
x6p:os  verehrten,  in  dem  Sabazios  und  YMpioc,  ^apccüd-  zusammengeflossen 
waren.  Aehnliche  jüdisch  beeinflusste  Vereine  finden  sich  im  bosporanischen 
Reiche  ^.  In  Athribis  (im  Süden  des  Delta)  weihen  Juden  und  der  Komman- 
dant der  Gendarmerie  zu  Ehren  des  ägyptischen  Königspaares  eine  -poasu/j; 

bezweifelte  Ansiedelung  von  Juden  in  Lydien  und  Phrygien  durch  Antiochos  III 
scheint  mii'  durch  neue  Funde  durchaus  bestätigt  zu  sein ;  s.  die  Anm.  3  angeführte 
Literatur.  Selbst  wenn  man  die  Anfänge  der  LXX  erst  um  200  ansetzt,  muss  man 
ein  längeres  Bestehen  der  jüdischen  Gemeinde  voraussetzen.  Die  aramäischen  Pa- 
pyri aus  Assuan  werfen  jetzt  neues  Licht  auf  die  jüdische  Diaspora  Aegyptens,  s. 
Archiv  für  Papyrusforschung  IV  S.  228  tf.  ')  Besonders  Avichtig  ist  die  aus  der 

Zeit  des  Ptolemaios  Euergetes  I  (247—222)  stammende  Inschrift  aus  Schedia  (Dit- 
tenberger,  Orientis  inscr.  726) :  Ousp  ßaat^vscog  nxoXsixai&u  y.ai  ^aaiXiaar,;  Bspsvixyjs  ddsX- 
'^r,z  xai  yuvaiy.ös  xai  twv  xsy.vwv  xtjv  TipoasuxrjV  oc  'louSatou  „Die  Juden  scheuten  sich  also 
nicht,  ihr  Bethaus  zu  Gunsten  des  Königs  der  Völker  zu  weihen".  (Wilamowitz,  Sit- 
zuugsber.  der  Akad.  zu  Berlin  1902,  S.  1094.)  Bei  Dittenberger  742  wird  eine  spätere 
Inschrift  mitgeteilt,  die  eine  Synagoge  iisf;)  liEyccÄw  weiht,  lieber  dies  Attribut  s.  auch 
S.  76''.  -)  Der  lebhafte  Austausch  der  Schriften  wird  z.B.  durch  den  Eingang 

von  Sirach  und  11  Makk  und  die  Subskription  von  Esther  bezeugt.  *)  Cumont, 

Les  religions  orientales  dans  le  paganisme  romain,  Paris  1907  S.  77  ff.,  Schü- 
rer, Sitzungsber.  der  Akad.  zu  Berlin  1897  S.  200  ff.  und  Cumont,  Supplement  ä 
la  reAiie  de  l'instruction  publique  en  Belgique  1897  und  Comptes  rendus  de  l'Acad. 
des  inscriptions  et  helles  lettres  1906  S.  63  ff.,  wo  die  Malereien  des  Grabes  des 
Vincentius   (Maaß,    Orpheus  S.  209  ff.)   aus    dieser   Mischbildung   erklärt    werden. 


108        VIII  Hellenismus  und  Judentum  :  2  Hellenistisches  Judentum 

dem  'J'\)iaxoc.  d-eöz.  Die  Benennung  des  Gottes  legt  auch  hier  den  Gedanken 
einer  Mischbildung  nahe,  und  der  Hauptmann  scheint  doch  nicht  Jude 
gewesen  zu  sein '.  Der  jüdische  Verein  der  Therai)euten  in  Aegypten  ist 
wahrscheinlich  unter  Mitwirkung  fremdartiger  Einflüsse  entstanden''.  Aber 
Entstellung  oder  Preisgabe  des  echt  jüdischen  Gottesglaubens  war  jedenfalls  eine 
seltene  Ausnahme  und  nur  bei  versprengten  Splittern  des  jüdischen  Volkes,  die 
alle  Fühlung  mit  dem  Kern  verloren  hatten,  möglich.  Der  jüdische  Tempeldienst 
im  ägyptischen  Leontopolis  trug  schismatischen,  nicht  häretischen  Charakter 
und  ist  zu  immer  grösserer  Bedeutungslosigkeit  herabgesunken. 

Aber  auch  die  strenge  Bewahrung  der  nationalen  Religion  gab  die 
Freiheit  einer  weitgehenden  Anpassung  an  die  umgebende  Welt,  wenn  nur 
der  prinzipielle  Unterschied  aufrecht  erhalten  wurde.  Die  jüdischen  Gemein- 
den sind,  vrie  die  christlichen  später,  teils  nach  dem  Muster  antiker  Kommu- 
nalverfassung teils  nach  dem  Vorbilde  antiker  Genossenschaften  und  Religions- 
vereine organisiert  worden.  Gebräuche  der  Bestattung  und  Wendungen  der 
Grabschriften  sind  Avie  von  den  Christen  vielfach  heidnischer  Sitte  entlehnt 
worden.  Die  antike  Fonn  der  Freilassung  durch  einen  Scheinverkauf  an  den 
Gott  finden  wir  bei  den  Juden  in  Pantikapäum  (Kertsch)  wieder  ^.  Und  vor 
allem  in  den  niederen  Regionen  des  Glaubens  finden  wir  eine  ganz  naive 
Aufnahme  heidnischer  Elemente,  einen  lebhaften  Austausch  des  Aberglaubens, 
wie  er  sich  unter  ähnlichen  Bedingungen  der  Völkermischung  stets  vollzieht 
und  auch  im  palästinensischen  Judentum  nur  unter  der  Einwirkung  anderer 
Faktoren  festgestellt  ist  (S.  105).  Nicht  nur  sind  jütüsche  Gottes-  und  Engel- 
namen in  die  profane  Zauberliteratur  eingedrungen,  haben  auch  dort  Salomon 
und  Moses ,  Jannes  und  Jambres  etwas  gegolten  ^.  Wir  haben  aus  der 
Zeit  um  100  v.  Chr.  Steine  aus  Rheneia,  dem  Begräbnisplatz  der  Bew'ohner 
von  Delos,  die  zov  -O-cGV  xov  ü'\)ia~oy,  tgv  7>up:ov  twv  -v£'j|Jiaxwv  xai  Tzaar^c 
aapxöc  zur  Rache  einer  an  zwei  Mädchen,  Heraklea  und  Marthine,  begangenen 
Mordtat  anrufen  am  heutigen  Tage,  an  dem  sich  jegliche  Seele  unter  Flehen 
demütigt,  d.  h.  am  grossen  Versöhnungstage.  Diese  Rachegebete  sind  aus 
Wendungen  der  LXX  zusammengesetzt,  zeigen  aber  daneben  manche  An- 
passungen an  griechische  Art  •^.  Aus  dem  III  Jahrh.  n.  Chr.  besitzen  wir 
eine  jener  vielen  zu  Beschwörungen  vergrabenen  Bleitafeln,  aus  Hadrumetum 
in  Afrika;  sie  enthält  die  Beschwörung  eines  abgeschiedenen  Geistes,  den 
Urbanus  der  in  ihn  verliebten  Domitiana  zuführen.  Der  erste  Verfasser  der 
Devotion  muss  Jude  gewesen  sein;  denn  der  Gott,  dessen  Macht  aufgeboten 
wird,  enthält  lauter  jüdische,  der  LXX  entnommene  Attribute''. 


*)  Dies  nimmt  Schürer  III  H.  88  an,  doch  s.  VVilaniowitz  a.  a.  O.  und  Ditten- 
berger,  Orientis  inscr.  96.  '-)  S.  Wendland,   Jahrb.  f.  klass.  Philol. 

Suppl.  XXII.  ^1  S.  zu  dem  allen  Schürer  III  S.  38  ff.,  18  ff.  53.    Sehr 

lehrreich  ist  die  Insclirift  der  cilicischen  lci'p'fi%-i'jz'xi  bei  Dittenberger  Or.  II  573. 
')  O.  S.  100,  Schürer  HI  S.  297  ff.  •^)  Deissmann,  Philol.  LXI  S.  252  ff. 

*)  Derselbe,  Bibelstudien,  Marburg  1895  S.  23  ff.  Ein  ähnliches  jüdisches  Stück 
auch  im  grossen  Pariser  Zauberbuch:  Dieterich,  Abraxas  S.  138  ff.  Vgl.  auch 
Wünsch,  Antike  Fluchtafeln  Co.  S.  81-)  Nr.  4.  —  Die  Verwendung  der  Bibel  zu 
Zauberzwecken  auch  bei  den  Christen  wird  jetzt  erläutert  durcli  die  in  Rhodos 
gefundene  Bleirolle  mit  dem  80.  Psalm,  die  im  Weinberge  vergraben  war,  um 
dessen  Gedeihen  zu  sichern.  Julius  Afrikanus  rät,  auf  die  Weinfässer  das  Psalm- 
wort zu  schreiben :  ^Schmecket  und  sehet,  wie  freundlich  der  Herr  ist'.  S.  Hiller 
von  Gärtringen,  Sitzungsber.  der  Akad.  zu  Berlin  1898  S.  .582  ff.  (Dieterich,  Mithras- 
liturgie  S.  28).  —  Wie  schwer  oft  die  Scheidung  der  Elemente  ist,  zeigt  der  Streit  um 
den  heidnischen,  christlichen  oder  jüdischen  Ursprung  der  Angelossteine  von  Thera: 


Heidnische  Urteile  über  das  Judentum.    Apokryphen  109 


Die  Beachtung,  die  das  mit  so  wunderbarer  Kraft  vorwärts  drängende 
und  doch  so  zäh  in  seiner  Eigenart  sich  behau])tende  Judentum  der 
Diaspora  und  seine  Propaganda  fand,  prägt  sicli  in  der  Fülle  antiker  Zeug- 
nisse und  Urteile  deutlich  aus  '.  Gebildete  Heiden  haben  sich  vielfach  günstig 
über  den  jüdischen  Gottesdienst  ausgesprochen  und  ihm  einen  philosophischen 
oder  gar  pantheistischen  Charakter  zugeschrieben-.  Offenbar  rückte  der 
Monotheismus  und  die  bildlose  Gottesverehrung  für  ihr  Gefühl  den  jüdischen 
Glauben  der  Religion  der  ])hilosophischen  Aufklärung  nahe,  und  auch  die 
Art,  wie  gebildete  Juden  ihre  Religion  darstellten,  mochte  diese  Auffassung 
bekräftigen.  Noch  Varro  und  Strabo  ^  beide  wohl  von  Poseidonios  beein- 
flusst,  äussern  sich  ähnlich.  Aber  solche  Sympathiebezeugungen  treten  zurück 
hinter  dem  Antisemitismus,  der  mindestens  seit  dem  Anfang  des  I  .Jalirh. 
V.  Chr.  die  Literatur  und  das  volkstümliche  Empfinden  beherrscht.  Er  ist 
die  Antwort  auf  die  Erfolge  der  jüdischen  Propaganda  und  zum  Teil  nur 
eine  Aeusserung  der  allgemeineren  gegen  die  orientalische  Invasion  sich  er- 
hebenden Reaktion  (S.  10).  Josephus  hat  uns  bedeutende  Reste  der  beson- 
ders in  Alexandria  gepflegten  antisemitischen  Literatur  erhalten"*.  Die  bild- 
lose Gottesverehrung  und  die  in  der  Verachtung  fremder  Religionen  sich 
offenbarende  Gottlosigkeit,  die  durch  sonderbare  Gebräuche  geförderte  soziale 
Absperrung,  der  darin  zutage  tretende  Mensclienhass  und  Hochmut,  der  um 
so  imberechtigter  ist,  als  die  Juden  für  die  Kultur  nichts  geleistet  haben  — 
das  etwa  sind  die  wesentlichen  Vor^äirfe,  die  der  Hass  der  Antisemiten  ihnen 
vorhält,  von  den  boshaften  Fabeln  zu  schweigen,  die  erst  dieser  Hass  erzeugt 
hat.  Die  apologetische  Tendenz  der  Juden  hat  der  Versuchung  nicht  wdder- 
stehen  können,  dem  Zerrbilde  gegenüber  ein  Ideal  des  Judentums  zu  zeichnen, 
das  nur  durch  Anpassung  an  hellenistische  Anschauungen  und  noch  mehr 
durch  Verschweigen  von  charakteristischen  Sonderzügen  die  Haltlosigkeit  und 
Nichtigkeit  jener  Vorwürfe  erweisen  konnte. 

Wohl  schon  unter  Ptolemaios  Philadelphos  wurde  die  Thora  ins  Grie- 
chische übersetzt,  mid  seitdem  haben  jüdische  Gelehrte  an  der  Uebersetzung 
der  anderen  heiligen  Schriften  gearbeitet.  In  zwei  Generationen  seit  der 
Ansiedelung  der  Juden  in  Alexandria  ist  also  die  sprachliche  HeUenisierung 
schon  so  weit  fortgeschritten,  dass  man  sich  in  der  Synagoge  zum  Gebrauch 
des  Surrogates  an  SteUe  des  heiligen  Textes  bequemen  muss.  Denn  dass 
die  Uebersetzung  aus  gottesdienstbcheu  Bedürfnissen,  nicht  zunächst  aus  der 
Absicht  der  Propaganda  hervorgegangen  ist,  scheint  sicher.  Und  was  die 
Tatsache  für  die  Umwandlung  der  jüdischen  Ideenwelt  zu  bedeuten  hat,  ist 
erst  kürzlich  eindrückHch  geschildert  worden  ^.  An  die  Arbeit  der  Ueber- 
setzung knüpft  dann  bald  die  der  Bereicherung  und  Ergänzung  der  heiligen 
Schriften.  Die  wertvollen  Stücke,  die  uns  imter  dem  Schutze  der  griechischen 
Bibel  erhalten  sind ,  sind  bterarliistorisch  noch  gar  nicht  in  dem  rechten 
Zusammenhange  behandelt  worden*^.     Da  haben  wir  Gebete  und  Erbauvmgs- 

S.  Hiller  von  Gärtringen,  Jahresbericht  für  Altertumswiss.  CXVm  1903  S.  163. 
1)  S.  die  nützliche  Sammlung  von  S.  Reinach,  Textes  d'auteurs  grecs  et  romains 
relatifs  an  judaisme,  Paris  1895,  -)  So  schon  Theophrast  und  Klearch,    die 

Schüler  des  Aristoteles:  Schürer  III  S.  108;  Reinach  S.  8.  11,  ebenda  Megasthenes 
S.  13,  Hekataios  S.  16,  Hernüppos  S.  39,  Autor  üspl  öcLous  S.  114.  »)  Ueber 

Varro  vgl.  o.  S.  86-,  Strabo  p.  760.  761  (S.  99.  242  Reinach).  Ich  zweifle,  ob 
man  wegen  des  Stückes  S.  56  Reinach  Poseidonios  mit  Recht  zum  Antisemiten 
macht  (doch  s.  Josephus  C.  Apion.  II  §  79).  Pos.  gibt  dort  nur  Relation,  nicht  eigenes 
Urteil.  ')  Schürer  III  S.  397  ff.,  Bousset  S.  87  ff.,  P.  Krüger,  Philo  und  Josephus 

als  Apologeten  des  Judentuins,  Lpz.  1906  S.  1  ff.  ^)  Deissmann,  Neue  Jahrb.  XI 

S.  161  ff.  ^)  Schürer  III  S.  325  ff.  gibt  eine  Uebersicht  über  diese  in  Kautzsch' 


110        VII l  Hellenismus  und  Judentum:  2  Hellenistisches  Judentum 

bücher,  vor  allem  volkstümliche  Geschichten,  darunter  solche  Prachtstücke, 
wie  der  Redestreit  der  Pagen  im  griechischen  Esra  3 — 5o,  die  Audienz  der 
Esther,  Susanna.  Griechisch  von  Anfang  an  koncipiert,  zeigen  sie,  wie 
orientalische  Geschichten  ins  Hellenistische  übertragen  werden  und  verraten 
doch  orientalische  Erfindung  in  dem  Pomp,  zu  dem  sich  der  Ton  oft  erhebt; 
ich  wüsste  mit  diesem  Tone  sonst  aus  hellenistischer  Literatur  nur  einzelne 
Stücke  der  Thomasakten  und  Apiileius  zu  vergleichen  (vgl.  X) '.  Auch  die 
verscliiedenen  Rezensionen  dieser  Stücke  zeugen  noch  zum  Teil  von  der 
Verwilderung,  der  solche  volkstümliche  Literatur  unterworfen  zu  sein  pflegt. 
Diese  Geschichten  haben,  wenn  man  einige  jüdische  Farben  abnimmt,  die 
Marken  einer  bestimmten  Zeit  und  eines  bestimmten  Volkes  abgestreift,  wie 
ja  auch  ihr  Ursprungsort  zum  Teil  zweifelhaft  ist.  Die  Zusätze  zu  Esther 
fügen  Urkimden  ein,  wie  sie  jetzt  unter  dem  Einfluss  der  hellenistischen 
Historie  bei  den  Juden  Mode  werden;  und  da  tritt  ein  starker  Einschlag 
des  hellenistischen  Hof-  und  Kanzleistiles  deutlich  hervor. 

Jene  hübschen  noch  von  einheitlichem  Stilgefühl  getragenen  Erzählungen 
mit  ihrem  volkstümlichen  Tone  sind  erfreulich,  und  wir  wünschten  nur  \nel 
von  den  Geschichten,  die  damals  aus  dem  Orient  in  den  Westen  gewandert 
sind,  in  relativ  so  originaler  Form  zu  besitzen.  Dagegen  fäUt  stark  ab, 
was  griecliische  Juden  in  bewusster  Konkurrenz  mit  den  hellenistischen  Lite- 
raturformen geschaffen  haben.  Das  Aergste  war  die  Reproduktion  der  heiligen 
Geschichte  in  epischer  und  dramatischer  Form.  Aber  auch  die  Nachahmung 
der  hellenistischen  Historie  und  die  Umgestaltung  der  eigenen  Geschichte 
nach  ihren  Massstäben  war  wenig  glücklich.  Ich  hebe  einige  Beispiele  heraus. 
Gegen  das  Ende  des  Hl  Jahrhunderts  stellt  Demetrios  das  chronologische 
und  genealogische  Gerüst  der  israelitischen  Geschichte  fest.  Mit  peinlicher 
Genauigkeit  verwertet  er  alle  biblischen  Angaben  vmd  kennzeichnet  die  eige- 
nen zu  der  Ergänzung  der  Lücken  der  Tradition  aufgestellten  Kombinationen 
als  solche.  Griechische  Forschungsmethode  ist  hier  auf  einen  ihr  zum  Teil 
sehr  "widerstrebenden  Stoff  angewendet,  Problemstellungen  und  Lösungen 
sind  in  griechischer  Art  angeknüpft^. 

Sehr  -vdel  freier  und  mit  bewusster  Tendenz  bewegt  sich  die  Phantasie 
des  Eupolemos  (um  150)  in  den  uns  erhaltenen  Resten  seiner  Schrift  über 
die  Könige  in  Judäa.  Ausschmückungen  der  biblischen  Erzählung,  starke 
Uebertreibungen,  eigene  Erfindungen  kennzeichnen,   wie  Freudenthal    im  ein- 


Apokryphen  übersetzten  und  erläuterten  Stücke.  Charakteristisch  für  die  jetzt  noch 
herrschende  Art  der  Behandlung  ist  Schürers  Urteil  über  die  Zusätze  zu  Esther 
S.  3:-3ü,   dass  sie  nichts  Bemerkenswertes  darbieten.  ')  Judith   und  Tobit 

gehören  natürlich  auch  hierhin,  nur  dass  in  ihnen  orientalischer  Geist  und  jüdi- 
sches Empfinden  stärker  hervortritt.  Für  Judith  nimmt  man  ein  aramäisches 
Original  an.  Aber  auch  die  griechisch  koncipierten  Geschichten  können  einst 
aramäisch  erzählt  sein.  Anderes  Wertvolle  ist  in  der  Haggada  zerstreut  (lesens- 
wert z.  B.  Josephus,  Alt.  H  10  §  238  ff.  Niese).  Vergleicht  man  all  diese  Ge- 
schichten mit  Ruth,  wohl  dem  einzigen  Buche  der  Gattung,  das,  durch  Gunkel, 
eine  rechte  Würdigung  der  Form  gefunden  liat ,  so  beobachtet  man ,  dass  die 
alte  köstliche  Naivetät  der  Erzählung  doch  schon  oft  der  Berechnung  und  dem 
Raffinement  gewichen  ist.  —  Für  das  Wandern  der  Gesclüchten  gibt  ein  lehrreiches 
Beispiel,  das  zuletzt  von  Gressmann  behandelte  salomonische  Urteil  (Deutsche 
Rundschau  XXXUI  Febr.  1907  S.  175  ff.),  vgl.  Bousset  S.  564  ff.  -)  221,  13  Stano- 

pslciha'.  o£  223,  7  ära^r^iclv  Si  --.va,  ich  zitiere  nach  Freudenthals  Alexander  Polyhistor, 
Breslau  1875.  Neuere  (Bousset  S.  9.  22)  setzen  Demetrios  wie  Eupolemos  später  an. 
B\ir  meine  Betrachtung  ist  die  chronologische  Streitfrage  von  geringer  Bedeutung. 


Hellenisierende  Bearbeitung  der  Geschichte  111 

zelnen  gezeig't  hat,  die  panegj'rische  und  a|)()h)^etisc'lie  Tendenz.  Uns  geht 
hier  nur  die  Benutzung  hellenistischer  Farben  und  ^Motive  an.  Wenn  die 
dann  von  Phöniziern  und  Griechen  übernommene  Buchstabenschrift  auf  Moses 
zurückgeführt  wird,  so  zeigt  sich  hier  das  von  den  Juden  reich  entwickelte ' 
griechische  Verfahren,  die  Kidturgeschichte  in  der  äusseren  Folge  von  eOpv',- 
|xata  darzustellen  und  diese  an  bestimmte  Namen  zu  heften.  Wenn  die 
griechische  Reihe  von  Erfindern  nun  durch  eine  jüdische  ersetzt  wird,  so  ist 
das  die  Antwort  der  jüdischen  Apologetik  auf  jenen  Vorwairf,  dass  die  Juden 
nichts  für  die  Kultur  geleistet  hätten.  Den  in  der  Chronik  berichteten  Brief- 
wechsel zwischen  Salomo  und  Suron  (=  Hiram)  bearbeitet  Eupolemos  mit  gröss- 
ter  Freiheit  und  gibt  ihm  sein  eigenes  stilistisches  Gepräge,  wie  es  die  profanen 
Historiker  tun,  fügt  auch  zwei  nach  demselben  Schema  geformte  Briefe  des 
Salomon  und  Uaphres  hinzu.  Beide  Briefpaare  sind  in  den  konventionellen 
Formen  des  hellenistischen  Brief  Stiles  abgefassf-.  Auch  die  fremden  Könige 
bezeugen  dem  Gott,  den  Salomo  unbestimmt  den  grössten  benennt,  ihre 
Achtung.  Und  wenn  Uaphres  David  rühmt  als  0£&&"/,i(xaa|Ji£V0s  dnb  xrp.Lxouxou 
9-eoö,  Suron  von  der  Erwählung  Salomos  durch  Gott  (suXoyr^TÖc:  6  ■O-so?,  o? 
il'XsTo)  redet,  so  ist  die  Sprache  der  ägj^ptischen  Königsinschriften  benutzt;  s. 
S.  76.  102  Nr.  7.  Wenn  endlich  Salomon  dem  Hiram  eine  goldene  Säule  schickt, 
die  dieser  dem  tyrischen  Zeus  weiht,  so  scheint  dem  Autor  eine  Angleichung 
seines  Gottes  an  Zeus  vorzuschweben,  wie  sie  uns  noch  bei  jüdischen  Helle- 
nisten begegnen  wird.  Die  etymologische  Spielerei,  die  Jerusalem  als  :£p6v 
^oXo[iü)V05  erklärt,  hat  ihre  Analogie  in  der  dem  Griechen  unbedenklichen 
Herleitung  fremder  Namen  aus  der  eigenen  Sprache  ■'. 

Mit  einer  Skrui)ellosigkeit,  die  vor  völlig  schwindelhaften  Erfindungen 
nicht  zurückschreckt,  ägyptische  und  biblische  Gescliichtstraditionen  vermengt, 
behandelt  Artapanos  die  Geschichte  seines  Volkes  ganz  nach  dem  Schema 
und  den  Gesichtspunkten  der  hellenistischen  Urgeschichte.  Wie  dort  die 
Götterkönige  (S.  71.  72),  so  lehrt  liier  Abraham  die  Astrologie^.  Der  Iduge^ 
Joseph  und  Moses  werden  nach  Art  der  w^ohltätigen  und  erfinderischen 
Könige  der  euhemeristischen  Historie  gezeichnet.  Moses,  d.  h.  Musaios,  der 
Lehrer  des  Orpheus,  macht  die  nützlichsten  technischen  Erfindungen  und 
entdeckt  die  Philosophie,  teilt  Aegypten  in  Distrikte,  zeigt  sich  auch  als 
gewaltigen  Kriegshelden ''.  Und  auch  der  übliche  Schluss  der  hellenistischen 
Königsgeschichte,  die  Apotheose,  fehlt  nicht.  Die  dankbaren  Untertanen 
lieben  ihn  und  die  Priester  erheben  ihn  unter  die  Götter',  nennen  ihn  Hermes^. 

>)  Freudenthal  S.  117  Anm.  —  Die  lebhafte  Beschäftigung  der  Griechen  mit  den 
Traditionen  über  sOpY^iiaxa  ergibt  sich  aus  dem  Niederschlage  in  der  Fülle  der  uns 
noch  erhaltenen  Kataloge ;  s.  Kremmer,  De  catalogis  heurematum,  Leipzig  1890.  Die 
Christen  benutzen  später  diese  Literatur,  um  die  Barbaren  über  die  Griechen  zu 
erheben.  -')   S.   Mendelssohns  Probe   der  Aristeasausgabe .   Dorpat   1897. 

Aus  Benutzung  derselben  konventionellen  Formen  erklären  sich  die  von  Freuden- 
thal S.  110  hervorgehobenen  Berührungen  mit  Aristeas.  ^)  Griechische 
Etymologien  ägj^tischer  Götternamen  z.  B.  bei  Plut.  De  Iside  2.  14.  29.  60.  61. 
Analoges  aus  Philo  und  Josephus  bei  Freudenthal  S.  120  Anm.  *)  Dass 
die  Astrologie  unter  den  Erfindungen  der  Juden  oft  betont  wird,  hängt  mit  ihrer 
damals  allgemeinen  Schätzung  und  dem  starken  Einfluss,  den  sie  wirklich  aufs 
Judentum  ausgeübt  hat,  zusammen.  Und  die  besondere  Rücksicht  auf  Aegypten 
erklärt  sich  auch  aus  der  allgemeinen  Hochschätzung  seiner  Kiütur  (S.  70). 
•^)  232,  2  a-jvsas'.  -/.al  vT-'^v/jSsi  disvsYxövTa,  wie  es  oft  auch  in  euhemeristischer  Hi- 
storie lautet.  '■')  Selbst  die  Liebe  der  Feinde  gewinnt  er  sich :  233,  27, 
vgl.  S.  19.  69  3.  ')  238,  12  laod-ion  x:\ir,!;  xaTagtco^ivia,  ein  üblicher  helle- 
nistischer Ausdruck.             ")  Nach  Hermes-Tot   wird  das  Bild  des  Moses  gezeich- 


112        VIII  Hellenismus  und  Judentum:  2  Hellenistisches  Judentum 

Und  \\'ie  in  der  hellenistischen  Urgescliichte  die  späteren  Herrscher  ihre 
Vorfahren  verj>:öttern,  so  führt  hier  Moses  den  Kult  seiner  Mutter  Merris 
ein'.  Ja  der  relijifiöse  Synkretismus  i>reift  so  weit,  dass  der  jüdische  Autor, 
vielleicht  beflissen  jenen  Vorwurf  der  Verachtung  fremder  Relig'ionen  abzu- 
wehren, selbst  die  Begründung-  der  religiösen  Institutionen  Aegy])tens  seinem 
Volke  meint  als  Ruhmestitel  zuschreiben  zu  sollen.  Die  Erzväter  stiften 
ägyptische  Heiligtümer,  Moses  führt  die  verschiedenen  Kulte  der  36  ägypti- 
schen Distrikte  und  auch  Tierdienst-  ein;  der  ätiologische  Anlass  der  Insti- 
tutionen wird  zum  Teil  noch  angegeben.  Der  Verfasser  gibt  ein  für  uns 
singuläres  Beispiel  •'  jüdischen  Eingehens  auf  den  religiösen  Synkretismus, 
das  die  Richtung,  in  der  sich  diese  Denkweise  bewegt,  weiter  verfolgt,  als 
es  sonst  geschieht. 

In  dem  uns  durch  Alexander  Polyhistor  erhaltenen  Stück  eines  sama- 
ritanischen  Historikers  werden  die  Traditionen  der  verschiedensten  Völker 
in  A\-illkürlicher  Harmonistik  verflochten^.  Der  Turmbau  zu  Babel  Avird  auf 
die  Giganten  zurückgeführt.  Henoch- Atlas  hat  die  Astrologie  erfunden, 
Abraham  bringt  die  Astrologie  und  andere  Weisheit  aus  Babylonien  zu  den 
Phöniziern  und  Aegyptem,  deren  Ansprüche  auf  Erfindung  der  Astrologie 
zurückgemesen  werden. 

Die  Mehrzahl  der  von  uns  betrachteten  jüdischen  Schriften  sind  nahe 
verwandt  jener  hellenistischen  Literatur,  die  Kiütur  und  Geschichte  fremder 
Völker  den  Griechen  verständlich  machen  will.  Freilich  sind  es  dort  meist 
geborene  Griechen,  welche  die  natürliche  Neigung  nicht  überwinden  können, 
das  Fremde  unwillkürlich  der  eigenen  Vorstellvmgswelt  anzupassen  und  so 
ein  durch  griechisches  Kolorit  entstelltes  Bild  zu  zeichnen.  Hier  sind  es 
Juden,  die,  ergriffen  von  dem  Eindruck  griecliischer  Kultur  und  Wissenschaft, 
ihre  eigenen  Traditionen  der  hellenistischen  Völkergeschichte  in  ähnlicher 
Weise  einzuordnen  bemüht  sind,  wie  die  Römer  ihre  Vorgescliichte  nach 
dem  Vorbilde  griechischer  Mythenkreise  umgestaltet  und  in  Beziehung  mit  den 
älteren  Kulturvölkern  gesetzt  haben  (S.  83).  Die  ersten  jüdischen  Versuche 
einer  heUenisierenden  Umarbeitung  der  alten  Geschichte  sind  allen  Gefahren 
erlegen,  denen  die  ersten  kindlichen,  dazu  nicht  einmal  spontan  erzeugten, 
sondern  von  aussen  angeregten  Ansätze  historischer  Forschung  ausgesetzt 
sein  mussten.  Sie  leiden,  jeder  in  seiner  Art,  an  mannigfachen  Fehlern,  die 
ungenaue  Kenntnis  der  Quellen  und  ihre  Ueberschätzung,  äusserlich  angelernte 
Methode,  vorschnelle  Kombination,  apologetische  Tendenz  und  leicht  erreg- 
bare  Phantasie  mit  sich  bringen.  Und  hätten  sie  sich  selbst  von  allen  diesen 
Fehlern  freihalten  können,    so  wären    sie  schon    daran   gescheitert,    dass  sie 


net,  s.  Freudenthal  S.  153  ff.  und  Willricii,  Judaica  S.  111  ff.  Die  übliche  Ety- 
mologie von  'EpiiY,;  findet  sich  233,  13.  S.  235,  16  ff.  begegnet  die  Vorstellung  von 
der  Zauberkraft  des  rechten  Gottesnamens.  Die  Personalbeschreibung  des  Moses 
236,  29  ist  in  der  Manier  der  bekannten  Papyrussignalements  gehalten  (o.  S.  23).  Die 
Herleitung  der  Beschneidung  von  den  Juden  ist  die  Umkehrung  der  griechischen 
Annalmie  ihres  ägyptischen  Ursprunges  (Archiv  für  Papyrusforschung  U  S.  29). 
')  Freudenthal  S.  154.  -)  Ueber  den  Abscheu,  den  sonst  die  jüdischen  Hel- 

lenisten gegen  ihn  äussern,  s.  Freudenthal  S.  147  Aniu.,  Jahrb.  Suppl.  XXII  S.  707. 
*)  Kleodemos-Malchos  bescliränkt  sich  in  dem  kurzen  Bruchstück  S.  230  darauf. 
Israel  in  die  grossen  Völkerschicksale  einzubeziehen  und  ihm  womöglich  eine  füh- 
rende Rolle  zuzuweisen.  Ein  starker  religiöser  Synkretismus  würde  sich  mit  seiner 
Pseudohistorie  wohl  vertragen.  Freudenthal  hält  ihn  freilich  für  einen  Samaritaner. 
*)  Ueber  das  einzelne  vgl.  Freudenthal  S.  82  ff.  Bousset  S.  22  hält  Eusebius  An- 
gabe, dass  Eupolemos  Autor  des  Hauptstückes  sei,  für  glaubwürdig. 


Haggada.    Grenzen  der  Hellenisierimg  113 

sich  romanhafte  Darstenung:en  der  Urgeschichte  der  Völker  zum  Muster 
nahmen,  die  Staatenoi'ganisation,  Kultur,  Vorstellun^swelt  der  hellenistischen 
Zeit  in  die  Vergangenheit  hineintrugen  und  willkürliche  Konstruktionen  einer 
phantastischen  Pseudohistorie  waren  '. 

Im  Grunde  bewegte  sich  diese  Umarbeitung  der  biblischen  Geschichte 
in  denselben  Bahnen,  die  der  haggadische  Midrasch  schon  lange  verfolgt 
hatte;  der  Inhalt  der  heiligen  Schriften  wird  nach  den  Bedürfnissen  und  dem 
Geschmack  der  späteren  Zeit  umgestaltet,  breiter  ausgeführt  und  phantastisch 
ausgeschmückt,  wie  es  die  ältesten  Zeugen  der  palästinensischen  Haggada, 
das  Buch  der  Jubiläen  und  die  Testamente  der  Patriarchen,  auch  die  pseudo- 
philonischen  Libri  antiquitatum  -  zeigen.  Das  Neue  ist  nur,  dass  in  den 
Prozess  der  beständigen  Erweiterung  und  Bereicherung  des  Stoffes  jetzt 
hellenistische  Motive  hineingezogen  werden.  Babylonisch-palästinensische  und 
heUenisierende  Exegese  muss  lange  Zeit  in  lebhaftem  Kontakte  und  Austausch 
gestanden  haben.  Nur  so  erklärt  es  sich,  dass  in  der  genannten  Literatur, 
bei  Philo  und  Josephus,  in  vereinzelten  Beziehungen  des  Neuen  Testamentes, 
im  Talmud  und  Midrasch  ein  gewisser  Grund  gemeinsamen  haggadischen 
Besitzes  sich  nachweisen  lässt,  dass  es  auch  in  den  vom  Hellenismus  gar 
nicht  direkt  berührten  Quellen  an  Vorstellungen  und  Traditionen,  die  ursprüng- 
lich nur  auf  hellenistischem  Boden  gewachsen  sein  können,  nicht  fehlt '^  Die 
mehrfach  beobachtete  Abhängigkeit  des  Philo  und  Josephus  von  den  durch 
Alexander  Polyhistor  geretteten  jüdisch-hellenistischen  Stücken  nötigt  zu  der 
Annahme,  dass  diese  Abhängigkeit  sehr  viel  weiter  geht,  als  das  wenige, 
was  uns  von  älterer  Literatur  zufällig  erhalten  ist,  erkennen  lässt.  Und 
zwischen  dem  Jahre  40  v.  Chr.,  wo  der  Polyhistor  sein  Werk  veröffentlichte, 
und  Pliilo  hat  gewiss  auch  die  jüdisch-hellenistische  Produktion  auf  diesem 
Gebiete  nicht  geruht;  denn  der  Synagogenvortrag  erhielt  diese  Geschichts- 
behandlung stets  lebendig  und  führte  beständig  zu  literarischen  Nieder- 
schlägen. 

Die  spätere  hellenistische  Literatur  lehrt,  dass  die  bedenklichsten  Aus- 
wüchse der  hellenisierenden  Richtung,  die  willkürliche  Kontamination  der 
heiligen  mit  der  profanen  Geschichte  und  vor  allem  das  Paktieren  mit  dem 
Polytheismus,  keine  rechte  Resonanz  gefimden  haben  und  auch  in  der  Ent- 
wickelung  des  Judentums  der  Diaspora  ausgeschieden  sind  ^  Die  jüdische 
SibyUe  (III  2 18  ff.)  betont,  wie  das  Buch  der  Jubiläen  12,  15  ff.  und  Philo, 
Abrahams  entschiedene  Abkehr  von  der  Astrologie  (s.  dagegen  S.  111.  112). 
Zwar  erklärt  Aristeas  in  einem  fingierten  Gespräch  dem  Könige  Ptolemaios 
(§  16),  dass  die  Juden  denselben  Gott  verehren,  wie  alle  Menschen  und  auch  die 
Griechen,  die  ihn  nur  mit  anderem  Namen  Zeus  nennen,  und  Ptolemaios  be- 
kennt, diesem  grössten  Gott  seine  Herrschaft  zu  verdanken  (§  37,  19,  vgl. 
S.  111.  109).     Aber  trotz  dieser  Anpassung  macht  Aristeas  dem  Polytheismus 


^)  Ueber  den  Einfluss,  den  besonders  Hekataios  (S.  68)  ausgeübt  hat,  s.  jetzt 
Geffcken,  zwei  griechische  Apologeten,  Leipzig  1907  S.  X  ff.  Erst  benutzte  man 
ihn,  dann  fälschte  man  unter  seinem  Namen.  ^)  Eine  Uebersicht  über 

die  ganze  in  Betracht  kommende  Literatur  bei  Bousset  S.  14.  49  ff.  ^)  Freu- 

denthal S.  66  ff..  Schürer  II  S.  338  ff.  Ein  dringendes  Bedürfnis  ist  die  Aufarbei- 
tung des  gesamten  haggadischen  Materials,  mit  Einschluss  der  hellenistischen  Quel- 
len, nach  Art  der  für  die  Halacha  grundlegenden  Schrift  von  Ritter,  Philo  und 
die  Halacha,  Leipzig  1879.  Wer,  wie  ich,  auf  diesem  Gebiete  völlig  Laie  ist,  findet 
für  Josephus  wertvolle  Nachweise  in  der  von  Th.  Reinach  veranstalteten  franzö- 
sischen Uebersetzung,  Paris  1900  ff.  *)  Lehrreich  ist  Josephus'  Verhältnis 
zu  Artapanos,  s.  Freudenthal  S.  169  ff. 

L  i  e  t  z  m  a  n  n,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  I,  2.  8 


114  Vill  lliaLEXISMUS   UND   JuDKNTUM:   2  HRLLli:NlSTISCHES  JUDENTUM 

keine  Konzessionen,  und  Eleazar  l)ekämi)ft  bei  ihm  aufs  Schärfste  die  euhemeri- 
stische  Vergötterung-  von  ]\Ienschen,  die  nützliche  Erlindungfen  gemacht  haben, 
als  die  hellenische  Religionsform,  und  den  ägy])tischen  Tierdienst  (§  135  — 138) ', 

Eine  ausgeführte  Polemik  gegen  die  heidnischen  Religionsformen  enthält 
tlie  Weisheit  Salomos  (K.  13.  14).  Sie  wendet  sich  gegen  die,  welche,  über 
dem  Geschöpf  den  Schöpfer  vergessend,  Elemente  und  Gestirne  yergöttern. 
Sie  bekämpft  mit  wachsender  Leidenschaft  die  Verehrung  der  Bilder,  die 
doch  menschlicher  Hände  Werk  und  aus  totem  Stoff,  Gold,  Silber,  Stein, 
gefertigt  sind,  und  die  Vergötterung  verstorbener  Menschen.  Auch  der 
ägyptische  Tierdienst  wird  11 10,  12  24,  15  is  berührt.  Wie  Jes.  44] 2  if.,  Jer. 
IO3  -:>  lässt  der  Autor  vor  unseren  Augen  in  der  Werkstatt  die  Götzenbilder 
allmählich  entstehen,  hat  aber  daneben  von  der  Polemik  griechischer  Philo- 
sophen gegen  den  Polytheismus  manche  Anregungen  empfangen  -.  Aber 
auch  das  Fremde  weiss  er  in  den  abstrakte  Deduktionen  verschmähenden 
Stil  der  jüdischen  Spruch  Weisheit  umzusetzen,  wenn  er  z.B.  14 10  zur  Be- 
streitung der  Menschenvergötterung  den  konkreten  Fall  einführt,  dass  der 
durch  den  Tod  des  Sohnes  gebeugte  Vater  in  der  Einführung  des  Kultes 
des  Verstorbenen  seinen  Trost  sucht  ^. 

Die  festen  Formen  der  jüdischen  Apologetik  in  der  weiteren  Entwicke- 
lung  ihres  Kampfes  gegen  den  Polytheismus,  ihre  Abhängigkeit  von  der 
])hilosopliischen  Tradition  und  ihr  Einfluss  auf  die  christliche  Polemik  werden 
K.  IX  5  geschildert  werden.  Neben  dem  Angriff  geht  die  Verteidigung 
in  mancherlei  Formen  einher.  Die  Geschichte  und  Legende  der  Vergangenheit 
wird  vielfach  mit  aktuellen  apologetischen  Tendenzen  behandelt  (II  III  Makk). 
Zusammenfassungen  jüdischer  Gesetze  werden  gegeben,  die  in  Auswahl,  An- 
näherung an  verwandte  griechische  Sittenregeln  und  Anschauungen,  Aus- 
scheidung der  nationalen,  den  Heiden  unverständlichen  oder  anstössigen  Be- 
sonderheiten die  panegyrische  Tendenz  deutlich  verraten  ''.  Josephus  gibt  in 
der  Schrift  gegen  Apion  den  Beweis  für  das  Alter  des  jüdischen  Volkes,  auf 
das  er  nach  griechischen  Anschauungen  besonderes  Gewicht  legt.  Für  die 
jüdische  Religion  das  gleiche  Recht  wie  für  andere  zu  fordern,  fehlte  es 
nicht  an  äusseren  Anlässen,  und  die  jüdische  Publizistik  greift  bei  aktuellen 
Konflikten  ein:  ein  Beispiel  sind  Philos  politische  Broschüren.  Wie  man 
längst  erbauliche  Schriften  unter  der  Autorität  ehrwürdiger  Kamen  der  jüdi- 
schen Urgescliichte  verbreitet  hatte,  so  machte  man  jetzt  für  den  jüdischen 
Monotheismus  unter  der  Maske  griecliischer  Dichter  und  Denker  Propaganda  ^. 

Den  Einfluss,  den  die  griechische  Philosophie  auf  das  Judentum  der 
Diaspora  ausgeübt  hat,  dürfen  wir  uns,  auch  in  Alexandria,  nicht  sehr  tief- 
gehend vorstellen.  Das  früher  angenommene  Bild  einer  in  fortlaufender  Kon- 
tinuität mindestens  vom  Beginn  des  II  Jahrh.  v.  Chr.  bis  auf  Philo  sich  ent- 
wickelnden jüdisch  alexandrinischen  Philoso})]iie  ist  als  Phantom  erkannt 
worden.  Die  LXX  zeigt  keinerlei  Bekanntschaft  mit  griecliischer  Philosophie 
und  ihrer  besonderen  Terminologie  ",  so  sehr  man  sich  dies  nachzuweisen 
bemüht  hat.     Was  Aristeas  von  philosophischen  Vorstellungen  aufgenommen 


')  Ueber  Aristeas'  Abliängigkeit  von  hellenischen  Vorbildern  s.  Geffcken 
S.  XXIV.  -)  8.  Geffcken  S.  XXHI.  ^)  Vgl.  z.  B.  die  239/8  erfolgte  Vergötterung 
der  als  Kind  verstorbenen  Tochter  Ptolemaios  des  III :  Dittenberger  Orientis  inscr. 
56,  46—75.  Reitzenstein,  Zwei  religionsgesch.  Fragen  S.  110  vergleicht  passend 
Fulgentius  Mitol.  I  1  p.  15,  21  ff.  Helm  und  Minucius  Felix  20,  5.  ")  Wend- 

land,  Jahrb.  für  klass.  Philol.  Siippl.  XXII  S.  709  ff.  ^)  Bei  manchen  die- 

ser Fälschungen  ist  es  strittig,    ob  sie  jüdischen  oder  christlichen  Ursprungs  sind. 
")  S.  Freudenthal,   Jevvish   quarterly  review   II  S.  205  ff. 


Apologetik.    Alexandrinische  Philosophie  115 

hat,  ist  triviale  Weisheit,  wie  sie  damals  auf  der  Gasse  zu  finden  war  ', 
Was  z.  B.  der  Verfasser  der  Weisheit  -'  oder  der  des  IV  Makkabäerbuches 
sich  angeeignet  haben,  sind  sehr  verschiedenartige  Vorstellungen,  die  sie 
noch  ganz  mit  jüdischem  Empfinden  durchdrungen  haben.  Die  Grundlinien 
eines  Systemes,  geschweige  denn  des  philonischen,  lassen  sicli  hier  nicht 
erkennen  und  Hessen  sich  auch  weder  im  Ralnuen  des  jüdischen  vSpruchbuches 
noch  dej'  von  der  Diatribe  beeinllussten  jüdischen  Predigt  ■'  entwickeln.  Die 
allegorische  Gesetzesauslegung  Aristobuls  würde  uns  in  der  Tat  einen  Vor- 
gänger Philos  kennen  lehren,  wenn  nur  nicht  der  sjiätere  christliche  Ursprung 
und  die  Abhängigkeit  von  Philo  erwiesen  wäre.  Philo  steht  für  uns  isoliert 
da  und  hat  wohl  auch  nur  einen  kleinen  Kreis  von  Gesinnungsgenossen  um 
sich  gehabt.  Die  Vorläufer  seiner  Exegese,  die  er  selbst  erwähnt,  dürfen 
wir  uns  nicht  als  Systematiker  vorstellen.  Sie  werden  in  Synagogenvorträgen, 
aus  denen  auch  Philos  Schriftstellerei  zum  Teil  herausgewachsen  ist,  die 
allegorische  Auslegung  dazu  benutzt  haben,  vor  einem  von  griechischer  Bil- 
dung beeinflussten  Publikum  Gedanken  und  Lehren  der  griechischen  Philo- 
sophie zur  Erläuterung  heranzuziehen  *.  Dieser  Einfluss  griechischer  Philo- 
sopliie  auf  die  Schrifterklärung  erreicht  in  Philo  die  Höhe.  Man  kann  das 
lose  gefügte  Ganze  seiner  Philosophie  in  grossen  Zügen  darstellen,  ohne 
jüdischer  Anschaiunigen  zu  gedenken,  durch  deren  Ausscheidung  sich  fast 
die  Grundlinien  leichter  übersehbar  darzustellen  scheinen:  Der  Skeptizismus 
als  Grundlage  der  Forderung  einer  höheren  mystischen  Form  der  Erkenntnis, 
scharf  gespannter  Dualismus  zmschen  Gott  und  Welt,  Seele  und  Leib,  die 
stoische  Tlieodicee,  durch  die  Lehre  von  den  Ideen  oder  Kräften  mit  dem 
transcendentalen  Gottesbegriff  vermittelt,  aber  von  ihrer  pantheistischen  Grund- 
lage nicht  ganz  befreit,  endlich  eine  die  asketischen  Tendenzen  des  Piatonismus 
und  den  stoischen  Grundsatz  des  naturgemässen  Lebens  vereinigende  Etliik. 
Andere  Momente  scheinen  den  Eindruck  der  griechischen  Bildung  zu  verstärken: 
Philo  redet  von  „unserer  Sprache"  und  meint  die  griechische ;  er  rechnet  sich 
wiederholt  zu  den  Griechen,  im  Gegensatz  zu  den  Barbaren.  Während  seine 
Kenntnisse  im  Hebräischen  mangelhaft  sind,  ist  er  durch  seine  Beherrschung  der 
griechischen  Sprache  allen  andern  jüdischen  Hellenisten  überlegen.  Nach  eige- 
nem Zeugnis  hat  er  den  in  Rhetorik  und  Philosophie  gipfelnden  Bildungsgang 
der  geborenen  Griechen  durchgemacht.  Dazu  die  Literaturformen  ^ :  Traktate, 
die  philosophische  Thesen  mit  dem  von  den  Griechen  erarbeiteten  Gedanken- 
material behandeln,  in  den  Streit  der  Philosophenschulen  einführen,  den 
jüdischen  Standpunkt  des  Verfassers  nur  gelegentlich  verraten.  Breite  dia- 
tribenartige  Einschläge  in  verschiedenen  Schriften.  Die  Abhandlung  über  die 
Vorsehung  setzt  den  alten  Streit  des  Frommen  mit  dem  Gottlosen  in  einen 
Dialog  um,  in  welchem  die  fromme  Theologie  der  Stoa  die  skeptischen  und 
epikureischen  Zweifel  überwändet.  Die  für  griechische  Leser  bestimmte  Bio- 
graphie des  Moses  ist  sichtHch  ihrem  Geschmacke  angepasst ''.    Die  Formen 


>)  Die  hellenistischen  Formen  seiner  Komposition  sind  zu  beachten :  Fiktion 
von  Urkunden  und  Briefen,  Problemstellungen,  unglückliche  Nachahmung  griechi- 
scher Deipnosophistik.  -)  Stoische  Logos-  und  Pneumalehre  ist  hier  ein  Ein- 
schlag in  die  jüdische  Lehre  der  längst  hypostasierten  Weisheit.  Ihre  Bezeich- 
nung als  a-dppo'.a  7  25  und  die  Einführung  der  Lehre  als  Mysterien  und  Gnosis  6  22. 
10 10,  der  Dualismus  9 13  zeigt  Verwandtschaft  mit  dem  Gnostizisnuis  (s.  X). 
3)  Freudenthal,  Die  Flavius  Josephus  beigelegte  Schrift  über  die  Herrschaft  der 
Vernunft,  Breslau  1869  S.  38  ff.  109,  Bousset  S.  504.  *)  Freudenthal  a.  a.  O. 
S.  7.  137  ff.  5)  Vgl.  die  Uebersicht  der  Schriften  von  L.  Cohn,  Philol.  Suppl.  VII 
S.  387  ff.        »)  Einfluss  der  antiken  Biographie,  rhetorische  und  poetische  Floskeln, 

8* 


IIG       VUI  Hellenismus  und  Judentum:  2  Hellenistisches  Judentum 

der  profanen  Exegese  haben,  wie  schon  der  Titel  zeigt,  auf  die  ^r;XTj|jiaTa 
xat  Äuastg,  und  auch  auf  den  grossen  allegorischen  Kommentar  eingewirkt 
(S.  26). 

üennocli  wird  der  komplizierten  Individualität  und  dem  eigenen  Bewusst- 
sein  Philos  nicht  gerecht,  wer  einseitig  die  griechische  Richtung  seiner  Bil- 
dimg betont.  Philo  ist  sich  nicht  bewusst,  mit  seiner  Spekulation  die  Grenzen 
des  Judentums  zu  überschreiten,  ihm  irgendwie  entfremdet  zu  sein.  Er  hält 
treu  zum  Judentum  und  will  mit  aller  seiner  Forschung  dessen  Interessen 
dienen  '.  Das  eigentlich  (Charakteristische  ist  doch,  dass  ihm  die  heilige 
Schrift  die  Quelle  aller  Weisheit  ist,  dass  er  in  ihr  das  ideale  Königtum  und 
die  philosophische  Askese  des  Moses ,  das  kosmopolitische  und  von  den 
Gedanken  der  Humanität  getragene  Gesetz,  den  philosophischen  und  priester- 
lichen Charakter  seines  Volkes,  alle  Weisheit  der  Griechen  und  alle  seine 
Ideale  beschlossen  findet,  dass  er  Philosopliie  mit  einem  stark  ausgeprägten 
religiösen  Charakter  auf  Grund  einer  Offenbarung  vorträgt,  sie  in  Theologie 
umsetzt;  äusserüch  tritt  das  in  der  Anknüpfung  der  phüosopliischen  Lehren 
an  Schriftexegese  und  ihrer  beständigen  Durchkreuzung  mit  biblischen  Aus- 
sagen entgegen.  Damit  steht  er  mitten  in  einer  allgemeinen  Entwdckelung, 
welche  die  Spätantike  beherrscht  (S.  99),  die  er  aber  nicht  erst  begonnen 
hat.  Im  Grunde  vollzieht  er,  nur  an  einem  andern  Objekte  und  mit  be- 
sonderer Energie,  denselben  Prozess  der  Umdeutung  und  Uebersetzung  volks- 
tümlicher Religion  in  die  philosophische  Sphäre ,  \\ae  die  Stoa  und  Posei- 
donios  an  der  griechischen,  Varro  an  der  römischen  Religion,  einen  Prozess, 
dem  er  zu  seiner  Zeit  in  der  theologischen  Literatur  und  in  Mysterien- 
vereinen andere  orientalische  Religionen  unterworfen  sehen  konnte.  Das  auch 
hier  nicht  versagende  Mittel  ist  die  allegorische  Auslegungsmethode,  deren 
S.  65  iF.  behandelte  Grundsätze  wir  bei  ihm  wörtHch  wiederholt  finden  ^. 
Den  geistigen  Sinn  stellt  er  höher  als  den  Wortlaut,  aber  auch  ihn  will  er 
bewahrt  wissen,  mindestens  den  des  Gesetzes.  Seine  Bestimmungen  soUen 
imverändert  bleiben,  so  lange  Sonne  und  Mond  und  der  ganze  Himmel  und 
tue  Welt  besteht  ^.     Er  bekämpft  nicht  nur  den  Buchstabenglauben,  sondern 


iy.qjpäasig,  auch  eine  pikante,  der  Haggada  (auf  die  er  sich  zu  Anfang  beruft)  entnom- 
mene Geschichte  (I  §  294  if.  Cohn  p.  127  M.),  eingestreute  Reden  und  Reflexionen  zeigen 
die  hellenistische  Farbe.  Einiges  greife  ich  heraus.  Moses  lernt  griechische,  as- 
syrische, chaldäische  Weisheit  von  Lehrern,  die  von  den  Völkern  hergeholt  sind 
(1  §  21  ff.  p.  84  M.),  sein  Tod  ist  eine  Auflösung  elg  voöv  YjÄLosiSioTaiov  (H  §  288 
p.  179  M.),  Sintflut  und  Untergang  Sodoms  werden  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
periodischen  Wechsels  von  -/.aTaxÄ-jaiiöc;  und  iy.rJypin::'.:  betrachtet  (H  §  53  ff.  p.  142  M., 
Bousset  S.  .^24).  —  Ganz  andere  Tendenzen  verfolgen  die  für  jüdische  Leser  be- 
stimmten Schriften  über  die  Patriarchen,  von  denen  nur  die  über  Abraham  imd 
die  über  Joseph  erhalten  sind.  Da  sind  Abraham,  Isaak,  Jakob  als  Typen  der 
durch  [läO-Tjaig,  cf'ja-.?,  äay.r^oig  zu  erlangenden  Tugend  behandelt,  das  Historische  wird 
umgedeutet.  Dass  die  leitenden  Ideen  von  Poseidonios  stammen,  macht  Mathilde 
Apelt,  De  rationibus  quibusdam  quae  Philoni  Alexandrino  cum  Posidonio  inter- 
cedunt,  Comm.  lenenses  VHI  1907  S.  123  ff.  wahrscheinlich.  —  Auch  Philos  Zahlen- 
symbolik stammt  von  Poseidonios,  s.  Borghorst,  De  Anatolii  fontibus,  Berliner 
Diss.  190.Ö.  ')  Mommsens  Urteil,  R.  G.  V  S.  496  ist  ganz  zutreffend.  -)  Reiches 
Material  bei  Siegfried,  Philo  von  Alexandria  S.  165  ff.  Der  Zusammenhang  mit 
der  Stoa  tritt  darin  besonders  deutlich  hervor,  dass  Philo  selbst  wiederholt  „phy- 
siologische" Deutungen  heidnischer  Götter  stoischen  Quellen  entnimmt:  Wendland, 
Philos  Schrift  über  die  Vorsehung  S.  60.  61.  ^}  De  vita  Mosis  II  §  14  p.  136  M. 

Die  dort  von  Cohn  angemerkten  Parallelen  zeigen,  dass  Mat5t8  Lc  16  i;  ein  alter, 


Philo  117 

auch  die  offenbar  kleine  Partei,  die  aus  seinen  Prämissen  die  uns  so  natür- 
lich scheinende  Konsequenz  der  Verwerfunj2;-  der  Ritualreligion   zog. 

So  gross  für  uns  Philos  Wert  als  Quelle  für  die  ihm  vorliegende  i)hilo- 
sophische  Literatur  -war,  so  gering  ist  seine  Originalität.  Mit  Philos  lialb- 
schlächtiger  Pliilos()})hie  köiuien  weder  die  Neukantianer,  die  ihm  jetzt  die 
unverdiente  Ehre  antun,  ihn  zu  ihrem  Vorläufer  zu  erheben,  noch  die  .Juden 
viel  Staat  machen.  Von  den  Höhen  seiner  Religiosität,  seinem  innersten 
Bekenntnis,  der  Hingabe  einer  Gott  im  Glauben  ergreifenden,  zur  mystischen 
Einigung  mit  ihm  sich  emporringenden,  den  Intellektualismus  hinter  sich 
lassenden  Frömmigkeit  hat  Bousset  S.  513  ff.  einen  starken  Eindruck  em- 
pfangen. So  richtig  dieser  Eindruck  ist,  so  ist  doch  auch  hier  die  Originalität 
noch  geringer  einzuschätzen,  als  es  Bousset  tut.  Poseidonios  hat  die  Rich- 
tung des  religiösen  Erlebnisses  Philos  stark  bestimmt.  Die  ]\Iystik  tritt  hier 
mit  einer  besonderen  Kosmologie  in  ganz  der  gleichen  Verbindung  auf,  die 
wir  schon  bei  Poseidonios  nachweisen  können:  Bis  zum  Monde  sind  die  Ele- 
mente über  einander  gelagert,  über  dem  Monde  beginnt  die  Aetherregion  mit 
den  Gestirnen,  die  beseelte  Wesen  und  sichtbare  Götter  sind,  auf  der  höchsten 
Himmelssphäre  thront  die  oberste  Gottheit.  Die  ganze  Aether-  und  Luft- 
region sind  von  Geistern  erfüllt,  Heroen  und  Dämonen  oder  Engeln,  \byoi 
und  O'jvafiSLi; ' ,  sie  alle  unkörperliche  Seelen.  Einige  von  ihnen  lassen  sich 
für  immer  in  die  Leiblichkeit  und  in  die  irdische  Welt  verstricken.  Den 
Geistern  der  unteren  Luftregion  ist  die  Möglichkeit  des  Abstieges  zur  Erde 
und  des  Aufstieges  zum  Aether  gegeben.  Im  Aether  endlich  wohnen  die 
reinsten  Geister,  Helfer,  Mittler  und  Boten  Gottes,  die  aber  auch  zeitweilig 
aus  Erbarmen  herabsteigen,  um  im  Traum  oder  Orakel  den  irdischen  Seelen 
Offenbarung,  Tröstung  und  Hoffnung  auf  Erlösung  zu  bringen  -.  Damit  ist 
die  Richtung  der  Frömmigkeit  gegeben:  Stufen%veise  Erhebung  zur  Gottheit 
bis  zur  letzten  Einigung,  die  zugleich  Erlösung  von  der  Leiblichkeit  und 
Eingang  in  die  siderische  Region  bedeutet,  der  antike  auf  platonischen  Aus- 
sagen, ekstatischer  Religion  und  Mautik  beruhende  Begriff"  der  Inspiration, 
aus  der  nicht  nur  Urtext  und  Uebersetzung  der  heiligen  Schrift  hervor- 
gegangen ist,  sondern  die  auch  die  Quelle  jedes  wahren  religiösen  Erlebnisses 
ist.  Der  ganze  Komplex  dieser  Vorstellungen  gehört  Poseidonios  ^,  der  wolü 
auch  orientalische  Vorstellungen  in  den  Piatonismus  verwoben  hat.  Dass  Philo 
ihn  benutzt  hat ,  steht  fest ;  aber  er  kann-  auch  daneben  von  der  Theologie 
der  Mysterienreligionen  beeinflusst  sein  ' ;  denn  dieselben  Ideen  werden  wir 
in  den  Rehgionsgebilden  und  in  der  Offenbarungstheologie  des  niedergehenden 
Altertums  überhaupt  herrschend  finden  (vgl.  X). 

Das  Judentum  hat  seinen  beiden  grössten  Hellenisten,  dem  Philo  und 
dem  Josephus,  der  es  in  rhetorisierender  Zustutzung  der  jüdischen  Geschichte 
nach  dem  Zeitgeschmack  und  in  tendenziöser  Apologetik  für  einen  Palästi- 
nenser zu  einer  erstaunlichen  Gewandtheit  gebracht,  aber  auch  in  mancherlei 
Spekidationen    sich    ergangen   hat  %    kein    treues    Gedächtnis    bewahrt.     Der 


fest  geprägter  Satz   vorliegt.  *)  Dazu   kommt  noch  platonische 

Lehre  von  Ideen  und  Zahlen.  —  Die  Annahme  böser  Dämonen  verwirft  Philo. 
-]  HauptsteUen:  De  gigant.  §  6  ff .  p.  263  M.  De  plantat.  13  ff.  p.  331  M.  De 
somniis  I  134  ff.  p.  641.  Das  ganze  Material  und  der  Nachweis  der  Abhängigkeit 
von  Poseidonios  bei   M.  Apelt  S.  96  ff.     Vgl.  auch  K.  X.  ^)  O.  S.  84  ff., 

M.  Apelt  8.  114  ff.  122  ff.  *)  Wertvolle  Hinweise  in  Reitzensteins  Schriften, 

niu"  dass  ich  den  besonderen  ägj'ptischen  Einfluss  nicht  als  ganz  sicher  anerkennen 
kann.  '')  Lewinsky,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  religionsphilosophischeu  Anschau- 
ungen des  Flarius  Josephus,  Breslau  1887.    P.  Krüger  a.  a.  0.,  s.  o.  S.  109  *. 


118       Vni  Hellenismus  und  Judentum:  2  Hellenistisches  Judentum 


grosse  Krieg  gegen  Rom  (64 — 73)  und  der  in  den  Aufständen  unter  Trajan 
luid  Hadrian  wieder  aufflammende  Fanatismus  liaben  das  Judentum  in  seiner 
Exklusivität  bestärkt.  Das  palästinensische  Judentum  hat  gesiegt  und  die 
Diaspora  sich  unter  die  Herrschaft  seines  Rabbinates  gebeugt.  Aber  das 
Christentum  hat  das  Erbe  des  jüdischen  Hellenismus  angetreten,  die  griechi- 
sche Bibel  und ,  durch  die  alexandrinische  Gelehrtenschule ,  die  ])hilonische 
Spekulation  übernommen.  Welchen  gewaltigen  Einfluss  z.  13.  allein  die  philo- 
nischen  Theorieen  der  Abhängigkeit  griechischer  Weisheit  von  Moses,  der 
Inspiration,  des  dop])elten  Schriftsinnes,  die  Methode  der  allegorischen  Aus- 
legung, die  Umsetzung  der  heiligen  Bücher  in  Philosophie  auf  die  christ- 
liche Lehrentwickelung  ausgeübt  haben,  das  genauer  auszuführen,  zu  zeigen, 
wie  vielfältig  diese  jüdische  Saat  auf  christlichem  Boden  aufgegangen  ist,  die 
Bilanz  zu  ziehen,  ob  der  Weizen  odei-  das  Unkraut  überwog,  ist  hier  nicht 
der  Ort. 

Die  Frage  nur  bedarf  einer  Erörterung,  in  A\elchem  Verhältnis  das  Juden- 
tum der  Diasi)ora  zur  christlichen  Propaganda  gestanden  hat.  Mit  der  sich 
vorbereitenden  Loslösung  des  Judentums  aus  seiner  partikularistischen  Be- 
schränkung und  mit  seiner  Tendenz  auf  eine  universale  Gottesidee  und  Welt- 
religion, mit  der  Ausbreitung  in  der  Kulturwelt  war  der  natürliche  Trieb  zur 
Propaganda  gegeben. '  Das  Judentum  der  Diaspora  hat  ein  starkes  Bewusst- 
sein  seines  weltgeschichtlichen  Berufes;  es  hat  die  Pforten  der  Synagoge 
weit  aufgetan,  den  draussen  Stehenden  in  strengeren  oder  freieren  Formen 
die  Beteiligung  an  seinen  gottesdienstlichen  Uebungen  ermöglicht  und  wirk- 
lich einen  starken  Anhang  von  Proselyten  und  „Gottesfürchtigen'-  gewonnen. 
Trotz  der  vulgären  abschätzigen  Beurteilung  des  Judentums  hat  doch  seine 
Religion,  die  mit  ihrem  Monotheismus  und  ihrer  strengen  Moral  sich  als  eine 
Religion  der  Auf  klärimg  darstellte,  eine  bedeutende  werbende  Kraft  besessen 
und  am  erfolgreichen  Vordringen  der  orientalischen  l^ulte  sich  stark  beteiligt. 
Der  Rückschlag  erfolgt  mit  der  strafferen  Zusammenfassung  des  Judentums 
imter  der  Herrschaft  der  Schriftgelehrten ,  seiner  strengeren  Zurückziehung 
und  Absonderung  seit  der  Wende  vom  I  zum  11  Jahrhundert.  Die  Exjjansions- 
kraft,    der  Trieb  zur  Propaganda,    der  Missionseifer  sind  seitdem  erloschen. 

Auch  hier  tritt  das  Christentum,  das  den  religiösen  Universalismus  von 
den  Schranken ,  an  die  er  im  Judentum  gebunden  blieb ,  endgültig  befreit 
(LK  3),  in  das  Erbe  und  vollendet  die  vom  Judentum  begonnene  Aufgabe. 
Die  Uebernahme  der  LXX  und  einer  reichen  religiösen  Literatur  durch  das 
Christentum,  der  Gebrauch  von  Gebeten,  liturgischen  Formen,  Katechismen 
jüdischen  Ursprungs,  der  Anschluss  der  christlichen  Apologetik  an  die  jüdische 
(IX  5)  beweist,  wie  viele  seiner  vvdi'ksarasten  Mittel  und  Kräfte  der  Propa- 
ganda es  dem  Judentum  verdankt.  Man  hat  nun  auch  ansprechend  die  grossen 
Erfolge  der  christlichen  Propaganda  zu  erklären  gesucht  durch  die  natürliche 
Anziehungskraft,  die  sie  auf  die  jüdischen  Gemeinden  der  Dias])ora  ausgeübt 
habe  '.  Diese  für  die  neue  Religion  prädisponierten  Gemeinden  mit  ihren 
Proselyten  und  ihrem  propagandistischen  Eifer  schienen  die  Brücke  zu  sein, 
auf  der  flie  christliche  Predigt  den  ersten  Zugang  zur  Welt  fand,  die  Ope- 
rationsbasis für  ein  sich  immer  weiter  verzweigendes  Wirken.  „Das  Netz- 
werk der  Synagogen  stellt  die  Mittelpunkte  und  Linien  der  christlichen  Pro- 
paganda im  voraus  dar."  .,Die  christliche  Religion  ist  eine  Fortsetzung  der 
jüdischen  Propaganda."  Gewiss  werden  wir  den  Einfluss  der  dem  Christen- 
tum den  Boden  bereitenden  jüdischen  Diaspora  nicht  gering  anschlagen  dürfen. 


M  Harnack  Mission  I  S.  1  ff.    Bousset  S.  92  ff. ,    vgl.  über  die  jüdische  Dia- 
spora Schürer  IE  S.  102  ff.  Bertholet  8.  303  ff. 


Bedeutung  der  jüdischen  Diaspora  für  das  Christentum  119 

Die  äusseren  Zeugnisse  für  diese  inneren  Beziehungen  und  Strömungen  sind 
freilich  spärlich,  und  die  Wahrscheinlichkeitsgründe,  mit  denen  man  sie  zu 
bestätigen  gesucht  hat,  sind  nicht  alle  gleich  beweiskräftig.  Das  pjrbe, 
welches  das  Christentum  vom  ])alästinensischen  Judentum  Ul)ernommen  hat 
und  die  besonderen  Einwirkungen  der  jüdischen  Diaspora  sind  im  einzelnen 
nicht  leicht  zu  scheiden.  Die  Schlüsse,  mit  denen  man  das  Verhältnis  des 
heidenchristlichen  und  judenchristlichen  Teiles  einzelner  Gemeinden  festzu- 
stellen gesucht  hat,  sind  unsicher  und  schwankend.  Die  schematische  Dar- 
stellung der  Acta,  nach  der  Paulus  sich  stets  zuerst  an  die  Synagoge  gewandt 
hätte,  ist  mit  guten  Gründen  bestritten  worden.  Der  Zusammenhang  der 
jüdischen  Diaspora  mit  dem  Mutterlande,  die  starke  Einheit  des  jüdischen 
Bewusstseins  darf  nicht  unterschätzt,  der  Einfluss  der  Philosophie  auf  das 
hellenistische  Judentum  nicht  überschätzt  werden ;  der  sehr  verschiedenartige 
Stand  der  Bildung  und  Einfluss  griecliischer  Denkweise,  die  Tatsache,  dass 
die  jüdisch-hellenistische  Literatur  uns  wesentlich  die  Höhenlagen  der  Bildung 
zeigt,  will  berücksichtigt  sein.  Die  geistige  Umdeutung  der  Religionen  ist 
damals  ein  allgemeiner,  nicht  auf  Judentum  und  Christentum  beschränkter 
Prozess.  So  ist  die  Warnung,  zu  verallgemeinern  und  zu  viele  Erscheinungen 
unter  den  Einfluss  des  jüdischen  Hellenismus  zu  stellen,  berechtigt.  Der 
gemeinsame  Besitz  an  Stimmungen,  religiösen  und  sittlichen  Ideen  ist  in 
dieser  Zeit  auffallend  gross.  Die  philosophische  Propaganda  begegnet  sich 
in  ihrer  monotheistischen  Tendenz,  in  der  Zurückführung  der  Frömmigkeit 
von  äusseren  Formen  und  Uebungen ,  in  der  strengeren  Sittbchkeit  vielfach 
mit  dem  Judentum,  das  ja  in  der  Diaspora  gerade  unter  dem  starken  Ein- 
fluss der  pliilosopliischen  Aufklärung  diese  Richtung  weiter  entwdckelt  hat. 
Ob  die  Gedanken  durch  jüdischen  oder  profanen  Hellenismus  vermittelt  sind, 
ist  für  einzelne  christliche  Schriften  schw'er  zu  entscheiden.  Es  liegt  zum 
Teil  an  der  Dürftigkeit  der  uns  erhaltenen  profanen  Literatur,  dass  wir  oft 
für  die  ältere  christliche  Literatur  parallele  Gedanken  gerade  im  jüdischen 
Hellenismus  nachweisen  können,  die  aber  darum  nicht  speziell  jüdisch  zu 
sein  brauchen.  Die  Frage  nach  dem  Einflüsse  Philos  z.  B.  scheint  mir  sehr 
der  Revision  bedürftig.  Mit  voller  Stärke  setzt  er  erst  bei  den  Alexandrinern 
ein.  Sicher  bewdesen  ist  er  für  die  frühere  Zeit  m.  E.  nur  für  Hebr.,  kaum  für 
irgend  einen  der  älteren  Apologeten'.  Der  in  der  ersten  Hälfte  des  I  Jahrb. 
V.  Chr.  neubelebte  Piatonismus  hat  sich  durch  alle  Jahrhunderte  fortgesetzt, 
aber  erst  aus  dem  H  Jahrh.  n.  Chr.  sind  uns  einige  kleine  Schriften  voll- 
ständig erhalten;  der  ISeuplatonismus  hat  seine  Vorläufer  in  Schatten  ge- 
stellt. Dieser  zufällige  Bestand  unserer  Ueberlieferung  darf  nicht  dazu  ver- 
führen, die  platonischen  Elemente  der  christlichen  Literatur  des  H  Jahrh. 
nur  aus  Pliilo  herzuleiten  und  den  })rofanen  Piatonismus  aus  der  Rechnung 
auszuschalten.  Ferner  ist  es  auch  unw^ahrscheinlich  und  nicht  erwiesen,  dass 
Philo  auf  den  Neuplatonismus  einen  stärkeren  Einfluss  ausgeübt  hat.  Die 
schärfere  Spannung  des  Dualismus,  die  Verstärkung  der  asketischen  Moral 
imd  der  religiösen  Mystik,  in  der  Philo  über  Plato  hinausgeht,  aber  mit  der 


')  Die  Unsicherheit  der  Anklänge  an  Philo  in  der  älteren  christlichen  Lite- 
ratur, aus  der  Siegfried  a.  a.  O.  reiches  Material  gesammelt  hat.  sticht  sehr  ab 
gegen  die  Gewissheit,  mit  der  sich  die  Benutzung  einzelner  Stellen  bei  Klemens 
und  auch  bei  Origenes  nachweisen  lässt.  Und  Geffcken,  der  die  philonischen  Pa- 
rallelen zu  den  Apologeten  (zwei  griechische  Apologeten,  s.  Register  S.  331)  zu- 
erst sorgfältig  im  einzelnen  geprüft  hat,  hebt  wiederholt  die  Differenzen  im  ein- 
zelnen hervor  und  spricht  meist  vorsichtig  von  hellenistischer  Tradition  und  hel- 
lenistischem Charakter  der  Gedanken. 


120    IX  Hellenismus  und  Christentum  :  1  Urchristentum  u.  Synkretismus 

Haltunsc  des  Neuplatonismus  sich  berührt,  sind  nicht  aus  der  jüdisch  helle- 
nistischen Philosophie  hervorgegangen,  sondern  von  der  })rofanen  übernommen. 
Und  die  eigentliche  Aufgabe  der  Forschung  ist  nicht,  die  Anklänge  und  Be- 
rührungen der  späteren  })latonischen  Literatur  mit  Philo  unter  der  falschen 
Voraussetzung  seiner  Benutzung  zu  betrachten,  sondern  aus  ihnen  ein  Bild 
des  dem  Philo  vorliegenden,  offenbar  von  Poseidonios  stark  beeinflussten 
Piatonismus  zu  gewinnen. 

Judentum  und  Christentum  haben  seit  ihrem  Uebertritt  vom  palästinen- 
sischen Boden  einen  gleichartigen  Prozess  der  Helle^iisierung  erfahren.  Der 
jüdische  Vorgang  ist  vielfach  von  vorbildlicher  Bedeutung  für  die  christliche 
Nachfolge  gewesen,  aber  berechtigt  nicht  zu  einer  Uebertreibung,  wie  sie  in 
E.  Havets  ^  Satze  zum  Ausdruck  kommt,  zu  Paulus'  Lebzeiten  sei  kein  wirk- 
licher Heide,  d.h.  niemand,  der  nicht  schon  Judaismus  und  Bibel  kannte, 
Christ  geworden.  Dass  die  Kirche  die  Erfolge  der  jüdischen  Propaganda 
völlig  in  Schatten  gestellt  hat,  beruht  \vesentlich  auf  der  Vollendung  des  im 
Judentum  angelegten  Universalismus  der  Religion. 


IX 

HELLENISMUS  UND  CHRISTENTUM 

Die  Schriften,  aus  denen  man  hier  Belehrung  schöpfen  kann,  sind  zahllos. 
Manche  werden  gelegentlich  zitiert  werden.  Ich  bemerke  ausdrücklich,  dass  ich, 
um  nicht  zu  verwirren,  manche  Werke,  denen  ich  Anregungen  verdanke,  nicht 
erwähnt  habe.  Zweck  meiner  Auswahl  aus  der  Literatur  ist  einmal,  die  Anfänger 
auf  die  Schriften  hinzuweisen,  die  sie  am  besten  in  die  Probleme  einführen  und 
den  tiefer  Dringenden  auch  mit  der  reichen  Spezialliteratur  bekannt  machen,  ferner 
die  theologischen  Forscher  mit  der  sie  angehenden  philologischen  Literatur,  die, 
dem  Zwecke  dieses  Werkes  entsprechend,  sehr  viel  vollständiger  berücksichtigt 
ist,  vertraut  zu  machen.  Ausser  den  in  den  früheren  literarischen  Vorbemerkungen 
erwähnten  Schriften,  die  fast  alle  das  Thema  gelegentlich  berühren,  kommen  be- 
sonders in  Betracht:  AHarnack,  Die  Mission  und  Ausbreitung  des  Christentums 
in  den  ersten  drei  Jahrhunderten-,  2  Bde,  Leipzig  1906  (auch  Dogmengeschichte 
und  Wesen  des  Christentums).  —  FLooFS,  Leitfaden  zum  Studium  der  Dogmenge- 
schichte',  Halle  1906.  —  OPfleiderer,  Das  Urchristentum,  2  Bde,  Berlin  1902.— 
PWernle,  Die  Anfänge  unserer  Religion '-,  Tüb.  und  Leipzig  1904.  —  JGeffcken, 
Aus  der  Werdezeit  des  Christentums,  Leipzig  1904.  (Aus  Natur-  und  Geisterwelt 
54.  Bändchen).  —  EHatch,  Griechentum  und  Christentum,  deutsch  von  Preuschen, 
Freiburg  1892.  —  GAnrich,  Das  antike  Mysterienwesen  in  seinem  Einfiuss  auf  das 
Christentum,  Göttingen  1894.  —  ELucius,  Die  Anfänge  der  Heiligenkults  in  der 
christlichen  Kirche,  Tübingen  1904.  —  JBurckhardt,  Die  Zeit  Konstantins  des 
Grossen*,  Leipzig  1898.  —  PWendland,  Hellenismus  und  Christentum,  Leipzig 
1902.  —  Natürlich  bieten  auch  HHoltzmanns  Neutest.  Theologie,  Weizsäckers  apo- 
stolisches, Knopfs  nachapostolisches  Zeitalter  und  die  Kirchengeschichten  reiches 
Material.  —  WSoltau,  Das  Fortleben  des  Heidentums  in  der  altchristlichen  Kirche, 


')  Le  christianisme  et  ses  origines  IV  Paris  1881,  S.  102. 


Negatives  Verhältnis  des  Urchristentums  zum  Hellenismus  121 

Berlin  liHX;,  <;ibt  weniger  eine  wissenschaftliche  Behandlung  als  einen  kräftigen,  von 
aktuellen  Tendenzen  beherrschten  Appell  an  die  Laien.  Das  Werk  trägt  ein  stark 
subjektives  Gepräge.  In  der  Konstruktion  des  ursprünglichen  Christentums  wirken 
apriorische  Voraussetzungen  mit.  Oft  entscheidet  das  Gefühl  diktatorisch,  „was  ur- 
sprünglich und  wertvoll,  was  fremdartige  und  fehlerhafte  Ergänzung  ist".  Durchaus 
irreleitend  sind  Sätze  wie  S.  20.  21,  „dass  alle  Grundlehren  des  Christentums  in  einem 
nahen  Zusammenhange  stehen  mit  dem,  was  wir  als  die  edelsten  Errungenschaften 
antiker  Kultur  zu  betrachten  gewohnt  sind".  „Diese  Kultur  spiegelt  sich,  wenn  man 
genau  zusieht,  irgendwie  fast  in  jedem  Wort  und  Gleichnis  Jesu'-.  „Der  christ- 
liche Gottes-  und  Offenbarungsbegriff"  ist  nur  die  Foi-tführung  und  edelste  Ent- 
faltung der  Ideen,  welche  antike  Religion  und  antike  Philosophie  hervorgebracht 
haben".  —  Die  besten  Dienste  hat  mir  für  diesen  zweiten  Teil  geleistet  FrCumont, 
Les  religions  orientales  dans  le  paganisme  romain,  Paris  1907,  obgleich  er  sich  auf 
die  innere  Entwickelung  des  Heidentums  beschränkt  und  die  Beziehungen  zum 
Clmstentum  nur  streift.  Das  Vordringen  des  orientalischen  Geistes  und  das  An- 
wachsen der  mystischen  Religiosität  ist  hier  von  einem  Meister,  der  auch  das 
orientalische  Quellenmaterial  beherrscht,  gezeichnet.  Da  Cumont  reichliche  Lite- 
raturnachweise gibt,  konnte  ich  in  Anführung  der  neueren  Literatur  sparsam  sein. 


1  Urchristentum  und  religiöser  Synkretismus 

Brimo  Bauer  ^  hat  einst  den  kühneu  Versuch  gemacht,  die  Entstehung 
des  Christentums  aus  der  Entwickelung  der  profanen  Philosophie  und  Moral 
herzideiten.  Seine  radikale  Hyperkritik,  welche  die  ältesten  christlichen 
Quellen  eliminiert  und  das  Christentum  als  eine  mit  Vespasians  Zeit  beginnende 
jüdische  Metamorphose  des  griecliisch-römischen  Stoizismus  ansieht,  ist  über- 
wunden, wenn  auch  die  Parallelen,  unter  andern  Gesichtspunkten  betrachtet, 
zum  Teü  der  Beachtung  wert  sind.  An  Nachfolgern  hat  es  Bauer  freilich 
nicht  gefehlt,  aber  man  kann  sie  sich  selbst  überlassen.  Wer  in  den  Haupt- 
briefen des  Paulus  und  in  der  synoptischen  Grundlage  nicht  ganz  indi\dduelles 
religiöses  Leben  zu  spüren  vermag,  der  ist  für  historische  Forschung  auf 
diesem  Gebiete  verdorben. 

Christi  Predigt  hat  kein  Verhältnis  zum  Hellenismus.  Wohl  hatten  die 
Wogen  der  hellenistischen  Staatengeschichte  schon  längst  auch  das  jüdische 
Volk  ergriffen  und  seine  Geschicke  bestimmt,  bis  es  die  starke  Hand  des 
Römers  zu  fühlen  bekam  und  seiner  Herrschaft  sich  fügen  musste.  Der 
Gegensatz  dieser  Fremdherrschaft  zu  den  Idealen  der  Vergangenheit  und  den 
Zukunftshoffnungen  erklärt  die  schwüle  Stimmung,  die  Spannungen  und  Er- 
regungen, die  wir  im  politischen  und  religiösen  Leben  des  Judentums  dieser 
Zeit  beobachten.  Aber  die  grossen  geistigen  Bewegungen  und  Strömungen, 
die,  mit  erstaunlicher  Geschwindigkeit  sich  verbreitend,  der  griechisch-römischen 
Kultur  der  Zeit  ein  gleichartiges  Gepräge  geben,  berühren,  von  der  Diaspora 
abgesehen,  nur  die  Peripherie  des  jüdischen  Volkes.  Gemss  ist  auch  Jesu 
Verkündigung  mannigfach  bedingt  durch  jüdische  Voraussetzungen  und  Be- 
griffe, durch  das  jüdische  Weltbild,  durch  den  Gegensatz  der  pharisäischen 
Frömmigkeit,  wenn  auch  die  Originalität  der  neuen  Offenbarung  und  die 
Macht  des  aus  eigenster  Erfahrung  quellenden  Lebens  die  zeitgeschichtlichen 
Hüllen  und  Schalen  durchbricht,  die  alten  Formen  mit  neuem  Gehalt  erfüllt. 
Gewiss  ist  auch  Jesus  ein  Kind  seiner  Zeit  und  ein  Sohn  seines  Volkes. 
Aber  in  den  geistigen  Horizont,  der  ihn  umgibt,  sind  die  Probleme  und  Ge- 

1)  Cliristus  und  die  Cäsaren,  Berlin  1879. 


122    IX  Hellenismus  und  Christentum:  1  Urchristentum  u.  Synkretismus 

danken  der  die  griechisch-römische  Welt  beherrschenden  geistigen  Kultur 
gar  nicht  eingedrungen '.  Von  dem  hellen  Lichte  der  Kulturwelt  ist  er  nicht 
beleuchtet,  aber  er  strahlt  in  eigenem  Glänze.  Ueber  die  Möglichkeit  re- 
flektieren, üb  etwa  ein  Gedanke  des  Sokrates  oder  der  stoischen  Predigt 
durch  irgend  eine  Vermittelung  an  sein  Ohr  geklungen  ist,  heisst  mit  einem 
Zufall  rechnen,  der,  selbst  die  Möglichkeit  als  wirklich  genommen,  das  Ver- 
ständnis seines  tiefsten  Wesens  nicht  fördern  könnte.  Gewiss  hat  die  Ver- 
flechtung des  jüdischen  Volkes  in  die  grosse  Völkergeschichte  und  die  Völker- 
und  Kulturmischung  der  hellenistischen  Zeit  auch  dem  Judentum  fremde  Ge- 
danken imd  Vorstellungen  vermittelt.  Aber  sicher  nachgewiesen  sind  nur 
babylonische  und  persische  Elemente  als  lebenskräftige  Bestandteile  des  jü- 
dischen Volksglaubens.  Es  sind  zum  Teil  ganz  dieselben  Gebilde,  die,  im 
Gefolge  der  Astrologie,  Magie,  orientalischer  Kulte  in  das  griechische  Sprach- 
gebiet vordringend,  auch  ein  Ferment  der  westlichen  Religionsgeschichte  ge- 
worden sind,  Dualismus,  Angelologie,  Dämonologie.  Aber  während  diese 
Einflüsse  seit  dem  Exil  in  echt  orientalischen,  wenn  auch  schon  synkretistisch 
erweichten  Formen  das  Judentum  ergreifen  -,  gehen  sie  bei  ihren  weiteren 
Vorstössen  nach  dem  Westen  eine  Verbindung  mit  verwandten  griechischen 
und  römischen  Vorstelhuigsformen  ein. 

Die  konvergierende  Entwickelung  der  polytheistischen  Religionen  im 
Osten  und  im  Westen  hatte  einen  breiten  Boden  analoger  Vorstellungen  und 
verwandter  Glaubensformen  geschaffen.  Der  Kontakt  der  Völker  und  die 
Wechselwirkung  des  Weltverkehrs  erhob  in  hellenistischer  Zeit  diese  paral- 
lelen Erscheinungen  und  zufälligen  Berührungen  zum  Bewusstseiu  eines  ge- 
meinsamen Besitzes,  dessen  Bestand  durch  den  Prozess  fortschreitender  An- 
näherungen und  Ausgleichungen  gemehrt  und  gesichert  wurde.  Von  diesem 
Standpunkt  betrachtet,  hat  auch  das  Judentum  an  diesem  gemeinsamen  Be- 
sitze der  Völker  in  den  unteren  Schichten  des  Volksglaubens  einen  starken 
Anteil;  es  zeigt  die  auffallendsten  Berülirungen  mit  dem  griechischen  und 
römischen  Glauben  und  hat  dem  Christentum  auf  den  Weg  seiner  Welt- 
mission ein  Erbe  religiöser  Vorstellungen  und  Dispositionen  mitgegeben,  die, 
in  den  heidnischen  Religionen  Aviederkehrend,  eine  Fülle  von  Anknüpfungen 
und  Wechselwirkungen  erzeugten.  Das  wiclitigste  dieser  Gebiete  ist  die 
Dämonologie  und  der  Geisterglaube  überhaupt. 

Die  bekannten  Heilungsgeschichten  der  EvangeUen  setzen  den  allge- 
meinen Glauben  voraus,  dass  böse  Geister  in  den  Leib  des  Menschen  eingehen 
und  sich  seinen  Willen  unterwerfen  können,  dass  Krankheiten  und  ausserge- 
wöhnliche  Seelenerregungen  auf  ihr  Wirken  zurückzuführen  sind^.  Paulus 
kennt  ein  in  Rangordnungen  gegliedertes  Engelreich,  Elementar-  und  Stern- 


*)  Vgl.  auch  Wellhausen  zu  Mc  15  - :  „Dass  nirgends  ein  Dolmetsch  er- 
wähnt wird,  beweist  nicht,  dass  Jesus  griechisch  konnte,  denn  die  Erzählung 
beschränkt  sich  auf  einige  Hauptsachen.  An  sich  ist  es  freilich  grade  bei  einem 
Galiläer   aus    dem  Volk    nicht   unmöglich".     Scliürer  U  S.  63  ff.  -)  Bous- 

set  S.  542  ff.  Cumont  S.  XVIH:  „Bien  des  croyances  de  l'ancient  Orient  sont 
parvenues  en  Europe  par  une  double  voie,  d'abord  par  le  judaisme  plus  ou 
moint  orthodoxe  des  communautes  de  la  Diaspora,  puis  par  les  mysteres  paiens, 
Importes   de  Syrie   ou  d'Asie-Mineure".  ^)  Conybeare,   Christian 

demonology  in  Jewish  Quarterly  Review  VIII  IX.  Bousset  S.  381  ff.  J.  Weiss' 
Artikel  „Dämonen"'  und  „Dämonische"  in  Herzogs  Realenc.  ^  IV  S.  408  ff.  Harnack 
Mission  I  S.  108  ff.  Lucius  S.  7.  10  ff.  120  ff.  298.  Ueber  Josephus  vgl.  Lewinsky 
(o.  S.  117  5)  S.  4G  ff.  —  Röscher,  Ephialtes,  eine  Abhandlung  über  Alpdrücken  und 
Alpdämonen,  Abh.  der  sächs.  Ges.,  phüol.  hist.  Klasse  Bd.  XX. 


Orientalische  Elemente  123 


geister,  teuflische  Scharen'.  Er  führt  höliere  Ofrenbarunfifen  auf  die  Engel 
zurück,  und  er  redet  von  der  Austlehnung-  des  Wirkungskreises  des  Satans 
und  deutet  auf  die  gesclüechtLiche  Vereinigung  böser  Geister  mit  den  Weibern 
hin.  Die  heidnischen  Götter  sind  nicht  leere  Gebilde  menschlicher  Phantasie, 
sondern  wirkliche  Wesen,  und  im  Götzendienst  tritt  der  Mensch  in  die  Ge- 
meinschaft der  Dämonen.  Die  Fülle  der  Andeutungen  beweist  die  aUge- 
raeine  Verl5reitung  dieses  Glaubens,  den  die  gesamte  kirchliche  Literatur  in 
mannigfachen  Variationen  bezeugt.  Die  Art,  wie  diese  Andeutungen  und 
Anspielungen  ganz  gelegentlich  eingestreut  werden,  bereitet  unserem  Ver- 
ständnis die  grössten  Sehwierigkeiten,  weil  uns  auch  sonst  nur  gelegentliche 
Mitteilungen  einen  Einblick  in  diese  untere  Schicht  des  Glaubens  gestatten ; 
aber  gerade  diese  Art  beweist,  dass  Paulus  bei  seinen  Lesern  diesen  ganzen 
Vorstellungskreis  als  bekannt  voraussetzt  und  auf  ihr  volles  Verständnis 
rechnen  darf.  Wir  beobachten  ein  gewaltiges  Ringen  mit  der  Welt  jener 
dunklen  Mächte,  aber  der  Sieg  wird  nicht  gewonnen  kraft  der  Erkenntnis 
von  der  Nichtigkeit  der  Existenz  und  der  Wirkungen  der  Dämonen,  sondern 
kraft  des  Glaubens,  dass  Christus  den  Satan  und  sein  Reich  überwunden  hat 
und  in  der  Parusie  völlig  vernichten  wird.  Es  ist  nicht  sowolü  ein  Sieg  in- 
tellektueller Erkenntnis  über  den  Wahnglauben  als  ein  in  jedem  wahren 
Christenleben  sich  immer  wiederholender  Sieg  moralisch-religiöser  Kraft  über 
die  real  und  persönlich  gedachten  Mächte  der  Finsternis.  Vv^eniger  wegen  seiner 
heilenden  Tätigkeit  als  wegen  der  Errettimg  und  Befreiung  von  der  Herr- 
schaft und  Tyrannei  der  bösen  Geister  wird  Jesus  der  awxvjp  genannt;  Er- 
lösung von  der  Sünde,  vom  Tode,  vom  Gericht  ist  nur  der  weniger  sinnfällige 
Ausdruck  für  dieselbe  Sache. 

Auch  in  der  griecliisch-römischen  W^elt  ist  der  Glaube  an  die  den  Luft- 
kreis und  die  Welt  erfüllenden  guten  und  helfenden,  bösen  und  schädlichen 
Geister  eine  Macht.  Er  wurzelt  in  alten  und  tiefen  Scliichten  des  Volks- 
glaubens und  hat  sich  durch  die  Jahrhunderte  lebendig  erhalten  -.  Seine  Auf- 
nahme in  die  philosophische  Religion  (S.  93.  117)  und  die  fortgesetzten 
Bemühungen  der  heidnischen  Theologie  um  eine  Theorie  der  liimmlischen 
Hierarchie  und  des  Geistesreiches  bezeugen  die  wachsende  Macht  dieses  Vor- 
steUungskreises.  Auch  die  monotheistische  Spekulation  hat,  indem  sie,  die 
christliche  Betrachtung  vorbereitend,  die  Götter  zu  Dämonen  degradiert  und 
ihnen  schädliche  Wirkungen  zuschreibt  (S.  98),  den  Dämonenglauben  verstärkt. 
Die  Religionen  der  Naturvölker  bieten  noch  heute  auffallende  Parallelen  zum 
antiken  Polydämonismus.  Seinen  Ursprung  verdankt  dieser  keineswegs  erst 
orientalischen  Einflüssen,  wohl  aber  Verstärkung,  Bereicherung,  erhöhtes  An- 
sehen. Wir  wissen  jetzt,  welche  Bedeutung  in  der  babylonisch-assyrischen 
Religion  der  Glaube  an  die  den  Menschen  von  allen  Seiten  umlauernden  und 
gefährdenden  bösen  Geister  hatte  ^.  Die  nach  dem  Westen  vordringende 
Magie  hat  diesen  Glauben  verbreitet  und  mit  griechisch-römischen  Vorstel- 
lungen verschmolzen.  Der  Parsismus  hat  dann,  babylonische  Vorstellungen 
sich  einverleibend  und  weiter  tragend,  den  Glauben  an  den  Kampf  der  Reiche 
der  guten  und  der  bösen  Geister  und  den  Dualismus  nach  dem  Westen  ver- 
breitet^.    Auf  dem  Gebiete  der  Dämonologie  hat  der  Orient  durch  sehr  ver- 


1)  Siehe  Everling-,   die  paulinische  Angelologie  und  Dämonologie,  Göttingen 
1888.  •-)  Geffcken  S.  216  ff.,  über  den  Roman  s.  Rohde  S.  46  t.  465.  494.  525. 

*)  S.  ausser  der  bei  Weiss  verzeichneten  Literatur  HeitmüUer,  Forschungen  zur 
Religion  und  Lit.  des  Alten  und  Neuen  Testaments  I  2  S.  185  ff.  und  die  vortreff- 
liche Uebersicht  von  Fossey,  La  magie  assyrienne,  Bibl.  de  l'ecode  des  hautes  etu- 
cles.    Sciences  religienses,   vol.  XV  Paris  1902,  und  K.  X.  *)  Cumout 


124    IX  Hellenismus  und  Christentum:  1  Urchristentum  u.  Synkretismus 

schiedene  Vermittelungen  und  Vorstösse  auf  das  Judentum  wie  auf  die 
griechisch-römische  Welt  gewirkt  und  die  Ausgleichung  der  Religionen  in 
einer  Weise  gefördert,  dass  die  Scheidung  der  im  Volksglauben  verbundenen 
Elemente  und  die  Nachweisung  ihres  Ursprunges  der  wissenschaftlichen  Ana- 
lyse oft  gar  nicht  erreichbar  ist.  Es  gab  heidnische  wie  christliche  und 
jüdische  Exorzisten.  Die  Kenntnis  der  heiligen  Namen,  welche  die  unfelü- 
bare  Wirkung  ausüben ',  und  der  peinlich  genaue  Gebrauch  der  Formeln  sind 
bei  ihnen  allen  wesentliche  Mittel  der  Kunst-. 

Die  profanen  Erzählungen  von  Dämonenbeschwörungen  erinnern  viel- 
fach an  die  christlichen.  Lucian  (Philopseudes  17)  erzählt  von  einem  Syrer, 
„der  alle  Mondsüchtigen  (xa-a-iTzx&vxa;  rpo;  xtjv  aeXY'jV/iv),  wenn  sie  die 
Augen  verdrehen  und  den  Mimd  voll  Schaum  haben  (Mc  9  is),  gesund  macht 
und  genesen  für  hohen  Lohn  entlässt.  Denn  wenn  er  an  die  Liegenden 
herautiitt  und  sie  fragt,  woher  sie  in  den  Körper  eingedrungen  sind,  so 
schweigt  zwar  der  Kranke,  der  Dämon  aber  antwortet,  griechisch  oder  bar- 
barisch oder  in  der  Sprache  seiner  Heimat  redend,  wie  und  woher  er  über 
den  Menschen  gekommen  ist.  Er  aber  treibt  ihn  dann  durch  Beschwörungen 
und,  wenn  der  Dämon  nicht  gehorcht,  durch  Drohungen  ^  aus.  Ich  wenigstens 
sah  ihn  schwarz  und  russig  ausfahren".  Die  Teilnehmer  des  Gesprächs  bei 
Lukian  bestätigen  diese  Erfahrung  und  erläutern  sie  durch  ähnliche  Ge- 
schichten*. Sie  sind  alle  von  der  Existenz  der  Dämonen,  der  Möglichkeit 
ihres  Eingehens  in  menschliche  Leiber  und  ihrer  Austreibung  überzeugt.  Phi- 
lostrats Leben  des  Apollonios  ^  bietet  ähnliche  Erzählungen ,  die  frülier,  als 
man  fälschlich  der  Schrift  eine  gegen  das  Christentum  gerichtete  Tendenz 
zuschrieb,  als  Nachbildungen  der  evangelischen  Erzählungen  angesehen  wurden, 
in  Wahrheit  die  auffallende  Verbreitung  gleichartiger  Vorstellungen  beweisen. 
Ein  Weib  fleht  den  Apollonios  an,  ihren  sechzehnjährigen  Sohn  zu  heilen, 
der  schon  zwei  Jahre  von  einem  Dämon  besessen  ist.  Der  treibt  ihn  an 
wüste  Stätten  *',  verändert  seine  Sprache  und  den  Ausdruck  seiner  Augen, 
droht  ihn  in  den  Abgrund  zu  stürzen.  Der  Wundermann  gibt  ihr  einen  Brief 
an  den  Geist  öjv  ä.Tzzi'ky^  y.d  sxTiXfjCSt  (III  38).  Wie  hier  ein  erotisches  Motiv 
des  Dämon  angedeutet  wird,  so  erzählt  Philostratos  anderweitig  von  dem 
Liebesverhältnis  der  Empusa  oder  Lamia  mit  Jünglingen  (IV  28,  VIII  7 
S.  315,  11  K.  II  4).  IV  10  entdeckt  Apollonios  in  Ephesos  in  der  Gestalt  eines 
blinden  Bettlers  den  Pestdämon  und  lässt  ihn  von  der  Menge  steinigen.  Er 
sprüht  Feuer  aus  den  Augen  und  nimmt  die  Gestalt  eines  Hundes  an.    IV  20 


S.  183  ff.  229  if.  1)  S.  z.  B.   den   Londoner  Papyrus   bei   Kenyon   S.  67, 

76  ff.  igopy.L^io  02  ■/.a-.ic  xwv  äyicov  övojiä":(ov  .  .  .  y.ai  v.aTX  t(ov  cp-.y.'rwv  övo\xä.~o)\  .  .  . 
7:apä5og  -röv  v.Kir.-^i .  Deissmann,  Bibelstudien  S.  42,  Heitmüller  und  die  S.  81  an- 
geführte liiteratur.  •  '^)  Jesus  zeigt  sich  von  traditionellen  Formen 
auch  lüer  frei,  was  schon  den  späteren  Christen  aufgefallen  ist,  s.  Weiss  S.  414. 
3)  Vgl.  z.  B.  das  äTZ'.x'.iiäv  Mc  1 25.  3  12.  Auf  Mc  1 25  ^i\xw^-q~<.  fällt  ein  besonderes 
Licht  durch  Rohdes  Nachweis  (Psyche  II  S.  424),  dass  das  Wort  besonders 
von  Beschwörungen  gebraucht  wird.  *)  Die  folgende  Geschichte 
von  der  Geisterbeschwörung  mittels  eines  Ringes  hat  eine  Parallele  bei  Ps.  Plu- 
tarch  De  fluviis  16,  2,  aber  auch  bei  Josephus  (Bousset  S.  388).  Eisen  gilt  als 
Schutz  gegen  Dämonen,  s.  Gruppe  S.  895,  Nordens  Kommentar  zur  Aeneis  VI 
S.  163.  201  und  Archiv  für  Religionswiss.  X  S.  41  ff.  —  Vgl.  Radermacher,  Rhein. 
Mus.  LX  vS.  315.  Reitzenstein,  Hellenistische  Wundererzählungen  S.  3  ff.  ^)  Sein 
Heroikos  erzählt  von  Epiphanien  der  alten  Heroen  in  der  troischen  Landschaft 
auf  Grund  volkstümlicher  Ueberlieferungen  (Rohde,  Psyche  II  S.  350.  .351).  *"')  Mc 
6  2.  a.  Mat  12  43,  Bousset  S.  389.  390. 


Verschmelzung-  mit  hellenistischem  Volksglauben  125 


sagt  Apolloniüs  einem  Jüngling,  der  seine  Lehre  verachtet,  aui  den  Kupf, 
dass  er  einen  Dämon  habe.  Der  Dämon  lässt  ihn  abwechselnd  lachen  und 
weinen.  Auf  die  Drohungen  des  Apollonios  verspricht  er,  flehend  wie  ein 
Gemarterter',  den  .lüngling  zu  hissen  und  keinen  Menschen  mehr  zu  über- 
fallen,  fährt  dann  in   eine  Bildsäule. 

Die  Hypostasierung  der  Krankheiten  und  ihre  Herleitung  von  Geistern 
teilt  das  UJiristentum  mit  seiner  Zeit"--  Wie  die  Krankheiten  überhaupt,  so 
wurden  von  den  Griechen  schon  seit  ältesten  Zeiten  besonders  epileptische 
Zufälle,  Aeusserungeu  von  Geistesstörung  und  Tobsucht  aus  der  Besessenheit 
durch  eine  Gottheit  oder  durch  einen  Dämon  erklärt-'.  Schon  eine  hip- 
pokratische  Schrift  bekämjjft  die  Auffassung  der  Epilepsie  als  heiliger 
Krankheit  und  ihre  Behandlung  durch  Entsühnungen  und  Reinigungen,  wie 
Zauberer  und  Sühnpriester  sie  anwandten'.  Man  darf  nicht  annehmen,  wie 
es  geschehen  ist,  dass  die  Praxis  des  Exorzismus  überhaupt  aus  dem  Orient 
stamme,  sondern  nur,  dass  die  orientalische  Magie  sich  mit  den  verwandten 
bei  den  Griechen  üblichen  IMitteln  verbunden  und  sie  sich  unterworfen  habe. 
—  Mit  der  däraonologischen  Erklärung  der  Epilepsie  hängt  die  Sitte  des  Aus- 
speiens  vor  dem  Epileptiker,  das  apotropäische  Kraft  hat,  zusammen-"'.  Die 
Auffassung  der  Krankheit  des  Paulus  als  Epilepsie  scheint  mir  immer  noch  die 
wahrscheinlichste.  Gestattet  die  Anerkennung,  dass  die  Galater  beim  Anblick 
seiner  Krankheit  nicht  ausgespieen  hätten  (Gal  4  14),  auch  die  Beziehung  auf 
andere  Leiden,  so  scheint  das  Wort  vom  Engel,  der  ihn  schlägt",  auf  die 
Epilepsie  am  besten  zuzutreffen '. 


')  Vgl.  auch  S.  145,  47,  Kaj^ser  öaxpüovxL  swy.si  -zö  zä.a\xa.  "/.al  idalzo  iir,  ,'3aaavi^siv 
(Mc  5  7)  aüxö  ixYjSs  dvayxä^eiv  ö\ioXoyeXv  5xi  zi-q.  lieber  die  genaue  Parallele  jener  ganzen 
Geschichte  in  den  Petrusakten  s.  Reitzenstein  S.  54.  ^)  Lc  13  n  7Lvs5[jia  äa^-svsia;, 
erläutert  von  Reitzenstein,  Poimandres  S.  19.  ^)  Usener,  Götternamen  S.  294. 

Ebenso  realistiscli  wird  ja  mit  gleicher  Psychologie  die  Mantik  aufgefasst,  s.  Nor- 
dens Kommentar  zur  Aeneis  VI  S.  143  ff.  *)  Wilamowitz'  Lesebuch  VI  1. 
s)  S.  die  Leipz:  Ausgabe  von  Theophrasts  Charakteren  1897  S.  133,  Helm  (0.  S.  39)  S.  2GK 
*)  II  Kor  12?.  Aehnliche  Ausdrücke  werden  von  den  Alpdämonen  gebraucht,  und 
Alpdrücken  und  Epilepsie  erscheinen  der  antiken  Anschauung  verwandt  (s.  Röscher 
a.  a.  0.  S.  37  ff.  und  Eusebius,  Kirchengesch.  V  28,  12:  Peitschen  durch  die  Engel). 
')  So  Krenkel,  Beiträge,  Braunschweig  1890  S.  47  ff.,  ablehnend  Heinrici  zu  IL  Kor. 
S.  398.  405  ff.  Kotelmanns  Annahme  ägj^jtischer  Augenkrankheit,  Verhandlungen 
der  48.  Philologenversamnilung  1906,  S.  170—172,  benutzt  mit  Unrecht  auch  Act  9 
und  gibt  eine  rationalistisch  abschwächende  Deutung  des  Wunders.  Der  Anblick 
der  Götter  macht  blind,  das  ist  die  Regel :  Beispiele  gibt  Radermacher,  Festschrift 
für  Gomperz  S.  201.  Bei  den  Fabeln  des  Aristeas  §  314 — 316  wird  ein  Sageumotiv 
zugrunde  liegen,  in  dessen  ursprünglicher  Fassung  die  Epiphanie  erfolgte.  Und 
der  Ekstasenbericht  II  Kor  12  1 — 10  wäre  ebenfalls  aus  dem  Spiele  zu  lassen,  wenn 
nur  der  Arzt  mit  Recht  versicherte,  dass  des  Epileptikers  „Bewusstsein  erlischt 
und  daher  jede  Rückerinnei-ung  an  das  während  des  Anfalls  Erlebte  fehlt".  Es 
liegt  ja  an  und  für  sich  keine  Notwendigkeit  vor,  den  visionären  Zustand  mit  dem 
epileptischen  Anfall  zu  identifizieren.  Freilich  kann  ich,  einem  dankenswerten 
Hinweise  J.  Ilbergs,  der  auch  Epilepsie  für  wahrscheinlich,  ay.iXo-\>  für  einen  bild- 
lichen Ausdruck  liält,  Kotelmann  eine  ärztliche  Autorität  entgegenstellen.  Ober- 
arzt Dr.  G.  Ilbei-g,  Sachverständiger  für  Geistes-  und  Nervenkrankheiten  beim 
Landgericht  Dresden,  stellt  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechts\\iss.  XXI 
1901  S.  453  die  Annahme,  an  einen  wirldichen  epileptischen  Zustand  habe  ein 
Kranker  niemals  Erinnerung,  als  veraltet  hin.  „Nach  und  nach  ist  festgestellt,  dass 
die  Eiinnerung   an  die  während  leichterer  Dämmerzustände   stattgehabten   Ereisf- 


126    IX  Hellenismus  und  Christentum:  1  Urchristentum  u.  Synkretismus 

Ferner  teilt  das  Christentum  mit  seiner  Zeit  den  schrankenlosen  Wunder- 
glauben. Die  Heilberichte  des  epidaurischen  Asklepiostempels  ',  eine  seltsame 
^^lischuni«- von  durchsichtiq'em  Priestertrug-  und  Naivität,  die  Wundergeschichten 
im  Leben  des  Apollonios  und  in  den  Romanen  erinnern  vielfach  an  den 
Wuiidera})parat  der  apokiyphen  A])ostelgeschichten.  An  Ves})asian  tritt  in 
Alexandria  ein  Blinder  und  bittet  ihn  auf  Grund  einer  Offenbarung  des 
Serapis ,  seine  Augen  mit  Speichel  zu  bestreichen ;  ein  anderer  bittet  ihn, 
auch  unter  Berufung  auf  den  Gott,  seine  gelähmte  Hand  mit  der  Fusssohle 
zu  berühren.  Das  Heilverfahren  glückt,  trotz  der  starken  Beilenken  des 
künftigen  Kaisers-.  Die  Art,  wie  die  Dämonenaustreibungen  und  die  Wunder- 
erzählungen der  Evangelien  von  der  jüdischen  und  heidnischen  Polemik  be- 
handelt werden,  wie  die  Absicht  nicht  so  sehr  auf  Bestreitung  der  Tatsächlich- 
keit wie  auf  Abschwächung  durch  Analogieen  gerichtet  ist,  zeigt,  wie  weit 
die  Gemeinsamkeit  dieser  Vorstellungen  reicht. 

Die  Dämonologie  und  Angelologie  ist  das  Gebiet,  auf  dem  das  Christentum 
von  Anbeginn  tiefere  Beziehungen  zu  den  polytheistischen  Religionen  auf- 
weist •'.  Aber  dies  Verhältnis  gründet  sich  auf  Anschauungen,  die  längst  ein 
integrierender  Bestandteil  des  jüdischen  Glaubens  geworden  waren  und,  zu- 
nächst vom  Judentum  übernommen,  erst  in  der  weiteren  Auseinandersetzung 
mit  dem  Heidentum  den  verwandten  profanen  Vorstellungen  angepasst  und 
angenähert  sind.  Schon  in  der  urchristlichen  Literatur  mehren  sich  dann  mit 
der  tortschreitenden  Entwickelung  die  Entlehnungen  heidnischer  Anschauungen 
und  ^Motive,  Anklänge  und  Beziehungen  auf  die  hellenistische  Vorstellungs- 
welt. Der  Eintritt  des  Christentums  in  die  griechisch  redende  Welt,  die 
Beteiligung  von  Heidenchristen,  die  ihren  früheren  geistigen  Besitz  nicht  wie 
ein  Gewand  ablegen  konnten,  sondern  einen  Teil  desselben  in  die  Kirche 
hinübemahmen,  bringt  notwendig  das  Einströmen  hellenistischer  Kulturelemente 


nisse  nicht  aufgehoben  zu  sein  braucht".  In  solchen  Dämmerzuständen  kommen 
nach  S.  449.  466.  442  unter  anderm  religiös  -  ekstatische  Sinnestäuschungen  und 
Verzückungen,  Vernehmen  göttlicher  Befehle,  Erblicken  leuchtender  und  greller 
Farben,  Sehen  schreckhafter  Gestalten  vor.  Die  Deutung,  der  Krankheit  des  Paulus 
auf  Epilepsie  ist  danach  jedenfalls  nicht  widerlegt,  auch  ein  Zusammenhang  der 
visionären  Erscheinungen  mit  der  Epilepsie  zu  erwägen.  Preuschen,  Zeitschrift 
für  neutest.  Wiss.  II  S.  193. 194  hält  Aussatz  für  Paulus'  Krankheit.  Aber  die  minutiöse 
Körperbeschreibung  in  der  Eliasapokalypse  ist  sicher  nach  Massgabe  des  von  Fürst, 
Philol.  LXI  behandelten  Materiales  als  willkürliche  literarische  Mache  zu  beurteilen 
(vgl.  o.  S.  23).  1)  S.  Dittenberger  Sylloge  802  ff.  807,  o.  S.  100.  •=)  Tac.  Hist. 

IV  81,  Suetons  Vespasian  7,  Dio  Cassius  LXVI 8.  Ueber  den  Speichel  vgl.  Mc  7  ss  8  23 
Job  9  6,  Gnippe  S.  890.  Die  Bedenken  und  die  starke  Rationalisierung  der  Erzählungen 
werden  wir  auf  Rechnung  der  gebildeten  Schriftsteller  setzen,  die  es  nicht  über 
sich  bringen,  die  volkstümlichen  Legenden  unverändert  weiter  zu  geben.  Viele 
beachtenswerte  Parallelen  zieht  Reitzenstein,  Wundererzählungen,  z.  B.  S.  120  ff. 
für  die  wunderbare  Befreiung  aus  dem  Gefängnisse,  S.  125  für  das  Wandeln  auf 
dem  Wasser.  ^)  Unsicheres  berühre  ich  hier    und   im   folgenden  nur  in 

den  Anmerkungen.  Gruppe  S.  1G09  ff.  sieht  in  orientalischer  Mystik  ein  Christen- 
tum und  Hellenismus  verknüpfendes  Band.  Seine  Begründung  ist  nicht  glücklich, 
aber  von  andern  Gesichtspunkten  aus  komme  ich  K.  X  zu  einer  ähnlichen  Vermu- 
tung. Doch  muss  ich  seiner  Vorstellung,  dass  schon  Jesus  Ideen  solcher  Mystik 
aufgenommen  habe,  widersprechen.  Ich  kann  bei  ihm  von  spezifischer  Mystilv  nichts 
spüren;  und  wie  soll  sie  uns  greifbar  sein,  wenn  auf  der  andern  Seite  wieder  die 
Ausscheidung  der  mystischen  Abstrusitäten  sein  besonderer  Vorzug  sein  soll 
(S.  1626.  1610)? 


Wunderglauben.  Einströmen  hellenistischer  Vorstellungen  127 


mit  sich.  Das  Mass  dieses  Einflusses  ist  durch  die  Nationalität,  durch  die 
höhere  oder  niedrigere  Bildung  des  einzelnen  bedingt.  Aber  im  allgemeinen 
beobachten  wir  ein  stetiges  Wachstum,  je  mehr  wir  von  den  ältesten  Schriften 
und  Schichten  der  urchristlichen  Literatur  zu  den  jüngeren  vordringen.  Das 
wird  in  Teil  III  bei  Betrachtung  der  einzelnen  Schritten  gezeigt  werden.  Den 
mythischen  Realismus,  z.  B.  den  Engelglaubcn,  sehen  wii-  mehr  in  den  Vorder- 
grund treten  (Apoc  und  Lucas),  und  neben  religiösen  Vorstellungen,  die  wir 
zum  gemeinsamen  Besitz  der  Völker  zählen  dürfen,  begegnen  bald  auch  solche, 
die  dem  Griechentum  entlehnt  sind.  Für  die  göttliche  Geburt  geben  gi-iechische 
Mythen  und  Legenden  wohl  die  treffendsten  Parallelen  ^  Die  Bezeichnung 
der  Christen  als  ~cpixat)-ap[xaTa  tgö  "/.oajjiou  und  Travxwv  mpi'\)ri\x7,  1  Cor  4  is 
ist  erst  recht  verständlich  geworden  durch  den  Nachweis,  dass  diese  Schimpf- 
wörter den  Verkommenen  beigelegt  zu  werden  pflegten,  die  sich  für  mehr- 
tägige gute  Verpflegung  dazu  hergaben,  bei  den  Thargelien  als  Sühneopfer 
zu  faUen-.  Taufe  und  Abendmahl  sind  frühzeitig  aufgefasst  und  ausgestal- 
tet worden  nach  dem  Vorbilde  der  in  den  Kultvereinen  üblichen  Sakra- 
mente. Aus  diesen  Kreisen  sind  die  Vorstellungen  von  der  Einigung  mit 
der  Gottheit  durch  Genuss  der  geweihten  Speise  und  von  der  magischen 
Wirkung  des  Wortes  übertragen  oder  doch  bereichert  ^  Es  fragt  sich  nur, 
wann  dieser  Einfluss  beginnt;  er  ist  wohl  schon  für  Paulus  in  Betracht  zu 
ziehen,  der  die  Atmosphäre  der  synkretistischen  Erlösungsreligionen  gekannt 
hat  (K.  X).  Dass  Apoc  12  auf  mj-thischer  Tradition  beruht,  vielleicht  der 
Sage  von  Letos  Flucht,  Apollos  Geburt  und  Drachenkampf  nachgebildet  ist, 
ist  anerkannt  K  Die  jüdisch-christliche  Apokalyptik  verbindet  sich  in  ihrer 
späteren  Entwickelung  mit  den  griechisch-römischen  Jenseitsdichtungen,  imd 
die  apokryphen  Apostelgeschichten  bereichern  sich  mit  Motiven  der  heid- 
nischen Erbauungs-  und  L^nterhaltungsliteratur  (s.  Teil  III). 


2  Urchristliche  Motive  im  Gegensatz  ukd  in  der  Annäherung  an  den 

Hellenismus 

Und  dennoch  darf  man  sagen :  Das  Urchristentum  steht  der  griechisch- 
römischen Kultur  fremd  gegenüber.  Christentum  und  Weltkultur  sind  Grössen, 
die  zunächst  kein  inneres  Verhältnis  zu  einander  haben.  Bis  gegen  die 
IMitte  des  11  Jahrhunderts  herrscht  diese  kulturfremde  Richtung  vor.  Die 
Elemente  der  höheren  hellenistischen  Kultur  dringen  wohl  aufs  Christentum 
ein,  aber  sie  halten  sich  mehr  an  der  Peripherie,  und  sie  tragen  den  Charakter 
des    Zufälligen    und  Sporadischen,    des    Unbewussten    und    Unbeabsichtigten. 


1)  Usener,  Religiousgescu.  Untersuchungen  S.  70  ff.,  der  auch  sonst  Geburts- 
und Kindheitsgeschichte  Jesu  von  griechischen  Motiven  beeinflusst  sein  lässt 
(vgl.  Z.  für  neutest.  Wiss.  IV  S.  1  ff.).  Pfleiderer  I  695  ff.;  doch  s.  Gunkel,  For- 
schungen zur  Religion  und  Lit.  des  Alten  und  Neuen  Testaments  I  S.  67  ff.,  der 
die  Anschauung  aus  orientalischer  Mythologie  ableiten  will.  Die  weite  Verbrei- 
breitung  des  Motives,  dass  beim  Tode  der  Lieblinge  der  Götter  die  Sonne  sich 
verfinstert,  bespricht   Usener,   Rhein.   Mus.   LV  S.  286.  -)  Usener,  Sit- 

zungsbericht der  Wiener  Akad.  CXXXVII  3  S.  59  ff".,  Gruppe  S.  923.  ^)  Die- 

terich, Eine  Mithrasliturgie  S.  92  ff.,  H.  Holtzmann,  Archiv  für  Religionswiss.  VII 
S.  58  ff.,  Wellhausen  zu  Mc  641.  Ms»  ff.,  Gruppe  S.  1615  ff.  —  Heitmüller  a.  a.  O. 
—  Ders.,  Taufe  und  Abendmahl  bei  Paulus  1903.  Rendtorff,  Die  Taufe  im  Urchri- 
stentum, Leipzig  1905.  Lietzmann  Exe.  zu  I  Cor  10  it.  ■*)  Dieterich,  Abraxas 
S.  117  ff.,  Gunkel  S.  54  ff. 


12S  I^  Hellenismus  und  Christentum:  2  Ubchristliche  Motivk 

Die  xo:v^,  die  durch  Paulus  das  Organ  christlicher  Propaganda  wird,  ver- 
mittelt hellenistische  Vorstellungen  und  hellenisiert  christliche  Begriffe;  aber 
es  sind  zunächst  volkstümliche  Vorstellungen  und  Ausdrucksraittel,  die  dies 
Stadium  des  Hellenisierungsprozesses  dem  ('hristentum  nahe  bringt.  Es  ist 
bezeichnend,  dass  die  älteste  christliche  Literatur  weniger  die  literarische 
xocvT;  als  die  Unterströmung  des  gesprochenen  Vulgärgriechisch  verwendet, 
der  Einfluss  der  attizistischen  Richtung  ^  und  die  Rücksicht  auf  die  höheren 
Forderungen  der  Literatursprache  erst  bei  Lukas  wahrnehmbar  zu  werden 
beginnt. 

Dem  papiernen  Zeitalter  ist  die  Tatsache  nicht  ohne  weiteres  verständ- 
lich, dass  Jesus  nicht  geschrieben  hat.  Kluge  Leute  haben  darin  ein  Manko 
gefimden,  und  Theologen  haben  öfter  recht  seltsam  die  Gründe  erörtert,  die 
Jesus  zu  dem  Verzicht  bestimmt  hätten,  als  ob  er  überhaupt  die  Möglichkeit 
erwogen  haben  müsse,  und  sie  haben  die  besondere  Absichten  zu  enthüllen 
gesucht,  aus  denen  heraus  die  göttuche  Versehung  diesen  Weg  der  Offen- 
barung nicht  gewählt  habe  -.  Solche  Problemstellungen  beweisen  die  Un- 
fäliigkeit,  sich  in  Zeiten  und  Kreise  zu  versetzen,  in  denen  das  lebendige 
Wort  mehr  gilt  als  das  Buch.  Sokrates  und  Epiktet  haben  auch  nicht  ge- 
schrieben, weil  sie  Grösseres  zu  tun  hatten,  und  selbst  der  grösste  Meister 
des  Stiles,  Plato,  sieht  im  Phädros  die  Schrift  als  einen  kümmerlichen  Not- 
behelf für  das  lebendige  Wort  an.  Es  ist  ebenso  bezeichnend,  dass  Petrus 
und  Johannes  und  Jakobus  nicht  geschriftstellert  haben,  wie  dass  die  Kirche 
bald  darin  einen  Mangel  sah,  der  beseitigt  werden  musste.  Wie  das  älteste 
Christentum  kulturfremd  ist,  so  ist  es  auch  ursprünglich  unliterarisch.  Die 
ältesten  Briefe  sind  wirkliche  Briefe,  keine  Literatur.  Die  Xoyia  und  die 
Evangelien  dienen  dem  Zwecke  der  Erbauung  und  Unterweisung.  Auch  ihnen 
fehlt  das  entscheidende  Merkmal  der  Literatur  ^  die  technisch-buchhändlerische 
Edition  und  Verbreitung ;  daher  der  fluktuierende  und  unsichere  Zustand  der 
ältesten  Texte,   den  erst  die  Kanonisierung  zu  beseitigen  begonnen  hat. 

Christi  Verkündigung  hat  kein  Verhältnis  zur  höheren  Weltkultur,  weil 
diese  in  den  Horizont  seiner  Umgebung  nicht  hineinreicht.  Wesentlich  da- 
rauf beruht  der  Eindruck  der  Unmittelbarkeit  und  unvergänglichen  Frische, 
der  natürlichen  Kraft  und  der  durch  keine  Nebenrücksichten  beirrten  ge- 
sclilossenen  Einheit  des  Evangeliums.  Und  doch  war  es  ein  Glück,  dass  das 
negative  Verhältnis  kein   prinzipiell  ausschliessendes  war  und  Anknüpfungen 


^)  Sie  setzte  sich  nur  allmählich  durch  (S.  32),  und  auch  abgesehen  von 
der  volkstümlichen  Literatur  kennen  wir  Literaten,  die  der  vorherrschenden 
attizistischen  Strömung  gegenüber  auffallend  zurückgeblieben  erscheinen.  Kroll 
hat  im  Catalogus  codicum  astrologorum  graecorum  V  2  Brüssel  1906  grosse 
Proben  von  Vettius  Valens  (IL  Jahrh.  n.  Chr.)  mitgeteilt  und  seiner  Sprache  eine 
Betrachtung  gewidmet,  in  der  auch  die  Berüliningen  mit  dem  Neuen  Testament 
hervorgehoben  werden.  Ich  wüsste  in  der  Tat  keinen  Autor,  der  den  Gegensatz 
des  reichen  Wortvorrates  und  der  Bildsamkeit  der  hellenistischen  Sprache  gegen 
die  Verarmung  durch  den  Attizismus  so  lehrreich  veranschaulichte  und  die  Sprach- 
fülle des  Paulus  zu  erklären  mehr  geeignet  wäre.  -)  Haussleiter,  Die  vier 
Evangelisten,  München  190G  S.  2  ff.  ^)  Es  ist  für  die  Schätzung  der  alt- 
christlichen Schriften  wichtig,  sieb  die  verschiedenen  Stufen  der  Publizität  zur 
Zeit,  wo  es  keine  mechanische  Vervielfältigung  der  Schriften  gab,  gegenwärtig  zu 
halten.  Der  Philologe  macht  sie  sich  z.  B.  am  Schicksal  der  Lehrschrifteu  des 
Aristoteles,  des  Auctor  ad  Herennium,  der  ohne  Zutun  oder  gegen  Willen  der  Au- 
toren oft  erfolgten  Verbreitung  stenographisch  aufgenommener  Vorträge,  einiger 
zum  Umlauf  in  kleineren  Kreisen  bestimmter  Briefe  Ciceros  klar. 


Exklusivität  gegen  die  Kulturwelt  129 

für  die  Zukunft  nicht  ausschloss.  Aber  die  beiden  nächsten  Generationen 
haben  zunächst  und  weit  überwiegend  die  Konsequenz  der  Exklusivität  ge- 
zogen. Die  Mission  als  der  Kampf  gegen  die  finsteren  Gewalten  des  Heiden- 
tums zog  mit  Notwendigkeit  die  aggressive  und  feindliche  Haltung  gegen 
die  Kultur  nach  sich.  Die  Christen  empfinden  den  schärfsten  Gegensatz  gegen 
die  Welt,  die  dem  baldigen  Untergange  geweiht  ist.  Sie  fühlen  sich  als 
Bürger  Giner  höheren  Welt  und  bezeichnen  sich  als  neue  Menschenrace. 
Auch  Philoso})hie  und  Literatur  ist  ein  Stück  der  Welt,  die  sie  bekämpfen 
und  überwinden.  Nicht  als  Meister  der  Rede  oder  der  Weisheit  will  Paulus 
zu  den  Korinthiern  gekommen  sein.  Er  nennt  sich  einen  Laien,  was  das 
Reden  betrifft,  und  weiss,  dass  seine  Gegner  seine  Rede  verachten.  Ihm  hat 
Gott  die  Weisheit  der  Welt,  welcher  die  Korinthier  eine  gefährliche  Vorliebe 
entgegenbringen,  zur  Torheit  gemacht,  und  durch  die  Torheit  des  Evangeliums 
will  er  die  Glaubenden  retten.  Der  Kolosserbrief  warnt  vor  der  Gefährdung 
durch  die  Philosopliie  und  vor  dem  Truge  mensclüicher  W^eisheit.  Und  auf 
der  andern  Seite  wird  der  Kontrast  ebenso  scharf  emj^funden  und  gezeichnet: 
Die  literarischen  Gegner  des  Christentums  sehen  in  ihm  eine  barbarische  und 
kulturfeindliche  Lehre.  Nebenströmungen  fehlen  auch  bei  Paulus  nicht  ganz 
—  ich  erinnere  schon  hier  an  seine  Schätzung  der  Obrigkeit  und  an  seine 
Annahme  des  ursprünglich  auch  den  Heiden  ins  Herz  geschriebenen  Gottes- 
gesetzes — ;  und  diese  Strömungen  gewinnen  immer  weitere  Verbreitung. 
Aber  das  Fortleben  jener  Motive  bis  in  die  Zeiten,  wo  die  Kirche  schon  auf 
dem  Wege  war,  selbst  eine  Kulturmacht  zu  werden,  beweist,  wie  tief  die 
weltfremden  und  weltfeindlichen  Stimmungen  im  Urchristentum  wurzelten 
und  wie  die  orientalische  Strömung  immer  wieder  mächtig  hervorbricht.  Auf 
der  einen  Seite  erkennt  man  in  der  Philosophie  einen  Bundesgenossen,  be- 
kämpft mit  ihren  W^aifen  den  Polytheismus,  entfaltet  nach  ihren  Problem- 
stellungen und  Gesichtspunkten  den  christlichen  Glauben  zum  System  einer 
Weltanschauung;  auf  der  andern  Seite  werden  Stimmen  laut,  die  von  fana- 
tischem Hass  gegen  die  Philosophie  zeugen  und  durch  ein  Zerrbild  des  Lebens 
und  der  Lehren  der  Philosophen  sie  zu  diskreditieren  suchen  ^  Auf  der 
einen  Seite  bemüht  man  sich  eifrig,  die  Herrschaft  über  die  profanen  Lite- 
raturformen zu  gewinnen  und  jagt  allen  Künsten  der  griechischen  Rhetorik 
nach;  auf  der  andern  Seite  zeigt  man  eine  affektierte  Gleichgültigkeit  gegen 
den  Stil  und  wiederholt  das  traditionelle  Urteil,  dass  der  Christ  die  Schön- 
rednerei verachte-.  Und  noch  um  200,  wo  sich  schon  imter  hellenistischem 
Einflüsse  alle  christlichen  Literaturgattungen  hoffnimgsvoll  zu  entfalten  be- 
gonnen haben  und  die  kleinasiatische  Theologie  eine  hohe  Blüte  erreicht  hat, 
wird  ernsthaft  und  leidenschaftlich  die  Frage  erörtert,  ob  ein  Christ  über- 
haupt literarisch  tätig  sein  dürfe  und  ob  der  sichere  Besitz  der  heiligen 
Schriften  nicht  alle  weitere  Schriftstellerei  imberechtigt  und  überflüssig  er- 
scheinen lasse  ^. 

Damit  ist  bereits  der  prinzpielle  Standpimkt  gegeben,  auf  den  A^-ir  uns 
zu  stellen  haben,  wenn  wir  zunächst  Jesu  Verkündigung  und  die  Entwicke- 
lung  der  von  ihr  ausgehenden  Triebkräfte  mit  der  Vorstellungswelt  griechisch- 
römischer  Religion  und  Philosopliie  vergleichen.  Nicht  nur  in  einzelnen 
Sätzen  (S.  53),  sondern  auch  in  Stimmungen  und  Empfindungsweisen  be- 
obachten wir  eine  auffallende  Verwandschaft  und  Uebereinstimmung.  Wer 
den  Blick  auf  das  einzelne  richtet,  sieht  sich  leicht   verführt,    einen   histori- 


•)  Geffcken,   Neue  Jahrb.   XV  S.  625  ff. :   Die  altchristliche  Apologetik,  und 
Zeitschrift  füi'  das  Gymnasialwesen  LX  S.  1  ff.  -)  Norden,  Antike  Kunst- 

prosa S.  529  ff.  3)  Wendland  S.  9  ff. 

liietzmann,  Handbuch  z.  Xeuen  Test.  I,  2.  9 


130  IX  Hellenismus  und  Christentum:  2  Urchristliche  Motive 

sehen  Zusammenliang  zu  suchen.  Aber  wer  das  Ganze  überblickt  und  nach 
Erwägung'  aller  Einzelheiten  zu  der  Ueberzeugung  gelangt  ist,  dass  Jesu 
Denkweise  nicht  griechisch  und  von  den  die  Kulturwelt  beherrschenden  An- 
schauungen gar  nicht  berührt  ist,  der  muss  es  ablehnen,  jene  Beziehungen 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Entlehnung  und  Abhängigkeit  zu  betrachten. 
A\'ir  haben  den  gemeinsamen  Besitz  der  Völker  in  seinem  Umfange  schätzen 
und  die  Tatsache  der  Kongruenz  auch  da  anzuerkennen  gelernt,  wo  unsere 
Psychologie  sie  zu  erklären  nicht  ausreichen  will.  Wir  haben  auf  dem  Ge- 
biete der  Religion  und  Spekulation  bei  den  antiken  Völkern  auffallend  pa- 
rallele und  konvergierende  Entwickelungslinien  beobachten  gelernt  und  sind 
skeptischer  geworden  gegen  die  Annahme  einer  geschichtlichen  Abhängigkeit, 
wo  Wege  und  Medien  der  Vermittelung  gar  nicht  nachzuweisen  sind.  Wir 
lehnen  eine  Methode  ab,  welche  die  Uebertragung  der  Ideen  sich  nach  Ana- 
logie des  Austausches  der  Waren  und  des  Gerätes  vorstellt  und  in  ihrer 
einseitigsten  Anwendung  uns  schon  jetzt  zu  der  Konsequenz  führt,  dass  der 
Quell  originaler  Gedankenschöpfiuig  möglichst  in  der  äussersten  historischen 
oder  prähistorischen  Ferne  gesucht  \^'ird.  Wir  rechnen  mit  der  Tatsache, 
dass  unter  ähnlichen  Voraussetzungen  und  Bedingungen  dieselben  oder  ähn- 
liche Gedanken  wiederholt  gedacht  und  nicht  nur  einmal  spontan  erzeugt  sind. 
In  unserem  Falle  scheitert  jene  vorschnelle  historische  Konstruktion  oft  an 
der  Erfahrung,  dass,  auch  wo  einzelne  Sätze  und  Lehren  sich  ähnlich  sehen, 
doch  die  letzten  Motive  imd  Grundsätze,  die  sie  hervorgetrieben  haben,  sich 
imterscheiden.  Die  Aehulichkeit  verringert  sich,  sobald  man  von  der  äusseren 
Erscheinung  zur  Wurzel,  von  der  Oberfläche  zum  Kern  vordringt.  Dennoch 
wird  mit  dieser  Ei'kenntnis  die  Aufgabe,  die  beiden  von  einander  unabhängigen 
Grössen  zu  vergleichen,  nicht  überflüssig  und  zwecklos.  Die  Analogien  und 
die  Gegensätze  der  Anschauungen,  die  dieser  Vergleich  aufdeckt,  sind  gleich 
lehrreich.  Wie  jene  die  Tatsache  der  raschen  Verbreitung  des  Christentums 
und  seiner  Umbildung  in  hellenistische  Vorstellungs-  und  Ausdrucksformen, 
so  lehren  diese  die  instinktive  Abneigung,  der  das  Christentum  begegnete, 
und  die  Widerstände,  die  es  zu  überwinden  hatte,  begreifen. 

Die  Frömmigkeit,  die  Jesus  gelehrt  und  den  Menschen  vorgelebt  hat, 
bedeutet  die  grösste  Vereinfachung  und  tiefste  Verinnerlichung  der  Religion. 
Das  echte  Wesen  der  Religion  ist  aus  dem  immittelbaren  Erleben  inniger 
Gottesgemeinschaft  geschöpft  und  am  Gegensatze  der  pharisäischen  Frömmig- 
keit zu  der  leuchtenden  Klarheit  jener  einfachen  Sätze  entwickelt,  die  wie 
selbstverständlich  und  natürlich  von  der  harmonischen  Einheit  der  Persönlich- 
keit auszustrahlen  scheinen.  Die  Frömmigkeit  ist  das  natürliche  Verhältnis 
der  ihrem  Gott  in  kindlichem  Vertrauen  sich  hingebenden  Seele,  keine  pro- 
fessionelle W^issenschaft,  die  nur  durch  ihre  zünftigen  Vertreter  gelehrt  werden 
könnte.  Mit  der  GottesHebe  ist  die  Nächstenliebe  aufs  Engste  verbunden; 
in  beiden  ist  die  Summe  des  Gesetzes  gegeben.  Die  Religion  ist  nicht  mehr 
ein  Sondergebiet,  das  neben  den  anderen  Gebieten  des  Lebens  liegt,  sie  ist 
die  Seele,  die  alles  Leben  und  Tun  des  Menschen  erneuernd  mit  ihren  Kräften 
durchdringen  und  erfüllen  will:  ., Jesus  hat  die  Versittlichung  der  Religion 
bis  zum  Ende  geführt  und  der  Sittlichkeit  im  ganzen  Umfange  die  religiösen 
Triebkräfte  gesichert" '.  Die  spezifisch-religiösen  Leistungen  und  die  be- 
sonderen Werke  der  Frömmigkeit  als  ein  über  dem  niederen  sich  erhebender 
höherer  Pflichtenkreis,  den  man  als  autoritativ  gegeben  hinnimmt  und  nur 
mit  übernatürlicher  Kraftanstrengung  erfüllen  kann,  verlieren  ihren  Wert. 
Die  Frömmigkeit  ist  befreit  von  der  erstickenden  Last  jüdischer  Traditionen 


*)  Jülicher,  Kultur  der  Gegenwart  14  8.  61. 


Wesen  des  Christentums.    Universalismus  131 

und  nationaler  Vorurteile,  auf  ihre  echtesten  und  innersten  Motive  zurück- 
geführt, in  ihrer  einfachsten,  reinsten  Gestalt  dargestellt.  Die  jüdischen 
Traditionen  werden  nicht  radikal  verworfen;  aber  sie  bekommen  eine  peri- 
pherische Stelluno-  oder  werden  als  Adiai)hora  toleriert.  Jüdische  Begriife 
wei'den  selbstverständlich  übernommen;  aber  sie  erfahren  eine  Vertiefung 
und  Vergeistigung,  dass  sie  oft  zu  blossen  Ausdrucksformen  für  einen  neuen 
Inhalt  herabsinken.  Der  Begriff  des  Reiches  Gottes  wird  von  den  nationalen 
Schranken  befreit  und  zu  einer  geistigen  und  schon  gegenwärtigen  Geraein- 
schaft umgebildet.  Die  jüdisch-nationalen  und  politischen  Zukunftserwartungen 
werden  durch  die  Betonung  der  individuellen  Bedingungen  und  der  persön- 
lichen Verantwortung  über  das  partikularistische  Niveau  erhoben  und  unter 
der  Herrschaft  sittlicher  Gesichts])unkte  verklärt.  Auch  diese  Entwickelung 
ist  vorbereitet  im  späteren  Judentum ;  aber  durch  diese  Tatsache  verliert  die 
Botschaft  Jesu,  die  erst  diese  Entwickelung  zum  Ziele  und  zum  Siege  ge- 
führt hat,  nicht  an  Bedeutung,  Das  eben  ist  das  Neue,  dass  die  eine  Frage 
nach  dem  Heil  der  Seele  als  die  alles  beherrschende  in  den  Mittelpunkt  ge- 
rückt \^drd,  dass  alle  anderen  Interessen  und  Sorgen  ihr  gegenüber  eine 
untergeordnete  Bedeutung  haben. 

Die  Emanzipation  von  den  nationalen  Schranken  gibt  dem  Christentum 
eine  Richtung  auf  das  allgemein  Menschliche,  eine  universale  Haltung,  in  der 
die  Zukunft  seiner  Weltmission  begründet  ist.  Die  Art,  wie  es  den  Schwer- 
punkt in  die  innere  Gesinnung,  auf  die  innere  Welt  des  persönlichen  Geistes- 
lebens legt,  kommt  der  individualistischen'  Strömung  entgegen,  die  im  Ge- 
gensatz zur  antiken  Gebundenheit  die  hellenistisch-römische  Menschheit 
beherrscht.  Auch  die  ungeheure  Vereinfachung  der  Religion,  ihre  Auffassung 
als  des  persönlichen  Verhältnisses  der  Seele  zu  ihrem  Gott,  ihre  Befreiung 
von  allem  ihren  Kern  verhüllenden  Aussenwerk  bietet  Beziehungen  zu  der 
religiösen  Aufklärung  des  Heidentums  mit  ihren  monotheistischen  Tendenzen, 
ihrer  Reaktion  gegen  das  Formenwesen,  ihrer  Forderung  einer  reinen  Sitt- 
lichkeit und  eines  vernünftigen  und  geistigen  Gottesdienstes.  Freilich  ist 
der  heidnische  Monotheismus  nicht  aus  religiösem  Erlebnis,  sondern  aus 
Reflexion  und  Kritik  geboren,  und  er  verleugnet  diesen  Ursprung  nicht.  Er 
gibt  eine  Form,  die  auch  indi^'iduelles  religiöses  Leben  fassen  kann,  aber  er 
wurzelt  nicht  notwendig  darin.  Und  die  exemplarische  und  weltgeschicht- 
liche Bedeutung  des  aus  den  nationalen  und  konventionellen  Banden  sich 
lösenden  christlichen  Universalismus  offenbart  sich  darin,  dass  nur  hier  der 
universale  Gedanke  die  seine  Verwirklichung  fordernde  Kraft  in  sich  trägt. 
Der  heidnische  Vertreter  des  geläuterten  Monotheismus  und  der  aufgeklärten 
Frömmigkeit  erkennt  die  Verpflichtung  zur  Teilnahme  am  staatlichen  Kult 
an.  Täte  er  es  nicht,  so  müsste  er  aus  der  politischen  Gemeinschaft,  die 
zugleich  eine  religiöse  ist,  ausscheiden.  Nur  in  einem  Wunschstaate  könnte 
er  seine  philosophische  Religion  verwirklichen  (S.  87).  —  Der  Polytheismus 
ist  weitherzig  und  tolerant,  weil  er  andere  Götter  neben  seinen  gelten  lässt. 
Mit  der  Einverleibung  fremder  Stämme  und  Völker  ist  für  Rom  die  Konse- 
quenz der  Aufnahme  der  G<)tter  verbunden.  Rom  bewahrt  seine  Toleranz, 
so  lange  es  mit  polytheistischen  und  national  beschränkten  Rebgionen  zu 
tim  hat^  Die  Toleranz  versagt  gegenüber  dem  Universalismus  und  der 
Exklusivität  des  Christentums.  Den  abstrakten  Begriff  der  Religionsfreiheit 
hat  Rom  wie  Athen  nicht  gekannt  oder  doch  nicht  rechtlich  anerkannt.    Die 


')  Die  orientalischen  passten  sich  leicht  der  staatlichen  Religion  an,  ja  sie 
rechtfertigten  den  Glauben  an  die  Göttlichkeit  des  Herrschers  und  stärkten  den 
Despotismus:  Cumont,  Monuments  myst.  de  Mithra  I  S.  279  ff. 

9* 


132  IX  Hellenismus  und  Christentum:  2  Urchristliche  Motive 

mutige  Konsequenz  des  Universalisraus  ist  die  Stärke  der  christlichen  Idee, 
erklärt  aber  auch  die  ganze  Wucht  des  Widerstandes,  den  sie  in  der  antiken 
W^elt  zu  überwinden  hatte.  Diese  Konsequenz  scheidet  das  Christentum  von 
den  i)liilosophischen  Religionen,  die  alle  in  der  Praxis  mit  den  herrschenden 
Religionsformen  ])aktierten  und  dadurch  zu  theoretischen  Konzessionen  (Stoa!), 
ja  in  der  Folge  zu  immer  grösserer  Belastung  mit  historischem  Stoff  verführt 
wurden,  und  gibt  ihm  die  Ueberlegenheit  der  die  Welt  in  die  Schranken 
fordernden  Siegesgewissheit. 

Der  christliche  Gedanke  des  einen  allumfassenden  Gottes  hat  zum  Korrelat 
die  Idee  der  wesentlichen  Einheit  des  Menschengeschlechtes,  der  Gleichheit 
aller  Menschen  vor  Gott.  Die  Idee  ist  vorbereitet  und  angelegt  schon  in  der 
Botschaft  Jesu,  indem  sie  die  Religion  von  ihren  nationalen  Voraussetzungen 
xuid  Beschränkungen  loslöst  und  auf  eine  allgemein  menschliche  Grundlage 
stellt '.  Das  hängt  damit  zusammen,  dass  die  Menschen,  mit  denen  Jesus 
lebte,  noch  den  einfachen  Naturformen  der  Menschheit  in  ihrer  ewigen  Be- 
ständigkeit nahe  standen.  In  ihrer  prinzipiellen  Bedeutung  kommt  die 
Menschheitsidee  freilich  erst  zum  Durchbruch  und  zum  klaren  Bewusstsein 
durch  die  Heidenmission.  Für  Paulus  gibt  es  in  der  christlichen  Gemeinschaft 
nicht  Jude  noch  Grieche,  nicht  Knecht  noch  Freier,  nicht  Mann  noch  Weib 
(Gal  3-28,  I  Kor  12  i3,  vgl.  Eph  44  Kol  3  ii).  Dem  höchsten  religiösen  Mass- 
stabe gegenüber  sind  die  Unterschiede  der  Nation,  des  Standes,  des  Geschlechtes 
indifferent.  Dieser  Standpunkt  berührt  sich  mit  den  hellenistischen,  beson- 
ders stoischen  Gedanken  der  Humanität,  der  allgemeinen  Menschenwürde 
und  der  gemeinsamen  IMenschenrechte.  Auch  darin  erinnert  das  Christentum 
an  die  Stoa,  dass  der  Gedanke  der  Gleichheit  die  politische  Sphäre  und  die 
äusseren  Rechtsverhältnisse  gar  nicht  berührt.  Die  Jünger  Christi  werden 
in  eine  ideale  Lebensordnung  und  zu  einer  Höhe  der  Weltbetrachtung  er- 
hoben, von  der  aus  alle  Unterschiede  und  Gegensätze  der  irdischen  Zustände 
völlig  gleichgültig  erscheinen.  Ein  soziales  Programm  liegt  gar  nicht  im 
Gesichtskreise  der  religiösen  Lehre  .Jesu,  und  von  einer  Tendenz  der  Kirche 
auf  Befreiung  der  Sklaven  kann  nicht  die  Rede  sein  —  Sklaven  hat  es  auch 
im  christlichen  Hause  und  in  kirchlichem  Besitz  gegeben  — ;  nur  die  Frage 
darf  gestellt  werden,  wie  weit  die  christliche  Lehre  der  Menschenliebe  und 
allgemeinen  Brüderlichkeit  die  Spannungen  der  sozialen  Verhältnisse  ausge- 
glichen, die  Beziehungen  von  Herr  und  Knecht  gemildert  und  versittlicht, 
durch  ihre  erziehende  Kraft  die  Bedingungen  für  die  Aufhebung  der  Sklaverei 
herbeiführen  geholfen  hat  (vgl.  S.   17). 

So  nahe  sich  christlicher  und  stoischer  Humanitätsgedanken  und  Kosmo- 
poHtismus  stehen,  sind  sie  dennoch  in  den  treibenden  Motiven  und  in  den 
Wirkungen  unterschieden  •'.  Der  antike  Kosmopolitismus  beruht  auf  der 
Voraussetzung  der  Fähigkeit  auch  der  barbarischen  Völker  zur  Teilnahme  an 
den  Güteni  der  geistigen  Kultur,  zur  intellektuellen  Erziehung.  Der  Stoa 
ist  der  Mensch  als  Intellekt  ein  Glied  des  vernünftigen  Kosmos,  und  die 
Gemeinsamkeit  des  Logos  schlingt  das  Band  der  idealen  Gemeinschaft.  Die 
Stoa  bleibt  damit  trotz  aller  Versuche  der  Massenwirkung  und  der  Volks- 
erziehung doch  im  Grunde  der  aristokratischen  Haltung  der  griecliischen 
Philosophie    treu.      Das    Christentimi     durchbricht    den    intellektualistischen 


M  Harnack,  Mission  I  S.  .31  ff.  '-)  Overbeck,  Ueber  das  Verhältnis 

der  alten  Kirche  zur  Sklaverei  im  römischen  Reich,    Studien  zur  Geschichte   der 
alten  Kirche  I,  Schloss-Chemnitz  1875  S.  158  ff.  »)  S.  jetzt  Reitzeii- 

steins  Rede,  Werden  und  Wesen   der  Humanität  im  Altertum,   Strassburg  1907. 


Christlicher  und  heidnischer  Kosmopolit isimis  133 


Standpunkt  ^  oder  vielmehr  es  kennt  seine  Massstäbe  gar  nicht.  Es  legt  einen 
andern  Massstab  an,  einen  neuen  und  die  Menschheit  wirklich  umfassenden. 
Es  dringt  auf  den  tieferen  Naturgrund  und  innersten  Kern  des  Menschen 
und  wertet  seine  Willensrichtuug  als  Ganzes  und  als  P]inheit.  Darum  er- 
scheint jede  ^lenschenseele,  auch  die  geistig  ärmste  und  unbedeutendste,  als 
ein  unendlich  Wertvolles;  ihre  Schätzung  ist  ganz  unabhängig  von  allen 
Wertunterschieden  und  Abständen  der  Geburt,  des  Standes,  der  Bildung, 
die  für  das  vulgäre  Urteil  gültig  sind.  Was  diese  vertiefte  in  die  Bruder- 
bebe umgesetzte  Humanität  für  die  Bewährung  der  Sittbchkeit  und  Nächsten- 
liebe bedeutet,  welcher  Abstand  sie  besonders  trennt  von  der  Selbstgenüg- 
samkeit stoischen  Tugendstolzes,  der  die  Leiden  gar  nicht  als  Leiden  anerkennt, 
über  sie  frohlockt  als  die  erwünschte  Fobe  zur  Offenbarung  der  sittlichen 
Grösse,  der  das  Mitleid  nicht  zulassen  wäll  und  im  schbmmsten  Falle  die 
Uebergewalt  des  Unglücks  als  einen  göttlichen  Wink  betrachtet,  freiwillig 
die  Bühne  des  Lebens  zu  verlassen,  soll  hier  nicht  ausgeführt  werden.  Das 
ist  klar,  dass  die  kosmopolitische  Tendenz  des  Christentums  eine  werbende 
Kraft  besass,  mit  der  die  philosophischen  und  die  in  einer  Gnosis  gipfelnden 
synkretistischen  Religionssysteme  nicht  konkurrieren  konnten.  Die  Vorrechte, 
die  hier  der  Gedankenarbeit  zugestanden  werden,  beschränken  in  der  Praxis 
das  Prinzip  des  UniversaHsmus.  Wie  die  christUche  Sprache  die  Töne  findet, 
die  in  jeder  Menschenbrust  wiederklingen,  so  vermag  den  christbchen  Begriff 
der  Menschenseele  und  Menschenw^irde  wirkbch  jedermann  zu  verstehen, 
weil  er  sich  selbst  darin  wiederfinden  kann,  jedermann  die  Bedingungen  zu 
erfüllen,  an  die  der  christliche  Heilsbesitz  geknüpft  ist.  Die  ungeheuren 
Unterschiede  und  Spannungen,  die  eine  mit  dem  reichen  Erbe  der  Vergangen- 
heit belastete  Kiütur  in  der  Menschheit  geschaffen  hat,  konnten  überbrückt 
scheinen  durch  diese  geistige  Neuschöpfung,  die,  weil  sie  nicht  auf  altem 
Kulturboden  gewachsen  w-ar,  die  natürliche  Grundlage  des  menschlichen 
Wesens  mit  einer  Frische  und  Unbefangenheit  zu  offenbaren  scliien,  die  alle 
Abstraktion  nicht  erreichen  konnte.  „Während  der  stoische  Kosmopobtismus 
nur  gleichgültig  machte  gegen  die  natürbchen  Bande  und  Schranken  der 
Gesellschaft,    hat  dagegen   die    christHche  Liebe   neue  Bande  gesclüungen"  ^. 

Mehr  innere  Beziehungen  hatte  im  Grunde  der  christbche  Universabs- 
mus zu  den  orientabschen  Kulten  mit  ihrer  Lösung  vom  nationalen  Boden, 
ihren  universalen  Tendenzen,  ihrem  Trieb  zur  Propaganda,  ihrer  NiveUierung 
der  sozialen  Gegensätze.  Trotzdem  das  Christentum  diese  Rebgionen  als 
seine  gefährlichsten  Konkurrenten  bekämpft  hat,  konnte  es  gerade  in  den 
Kreisen,  die  sie  um  sich  gesammelt  hatten,  verwandte  Stimmungen,  Ver- 
ständnis, Empfängbchkeit  finden. 

Das  Christentum  gibt  den  Menschen  die  entscheidende  Richtung  nicht 
auf  die  Welt,  sondern  auf  Gott.  Es  will  den  Menschen  auf  eine  höhere 
geistige  Daseinsstufe  erheben.  Der  Gegensatz  des  natürlichen  und  des  neuen 
geistbchen  Lebens  wird  in  ganzer  Schärfe  empfunden;  denn  der  Widerstreit 
in  der  einzelnen  Seele  ist  im  Grunde  nur  der  Einzelfall  des  Kampfes  zwischen 
den  göttbchen  Kräften  und  den  Gewalten  der  Finsternis,  der  die  Welt  er- 
füllt. Das  religiös  sittliche  Leben  entwickelt  sich  nicht  in  gerader  Linie, 
sondern  unter  starken  Spannungen:  Sündenerkenntnis  und  Verzweifeln  an 
der  eigenen  Kraft,  Busse  und  Wiedergeburt.  Diese  Gegensätze  sind  schon 
in  Jesu  Lehre  im  Keim  enthalten;  schon  die  Annahme    seiner  Botschaft  be- 


*)  Poseidonios'   Psychologie  bot  mit  ilu-er  Betonung  des  Willens   und   des 
Trieblebens  später  der  christlichen  Spekulation  Anknüpfungen.  -)  Pfleiderer  I 

S.  292. 


134  IX  Hellenismus  und  Christentum:  2  Urchristliche  Motive 

deutet  einen  Bruch  mit  der  Verg^angenheit  und  den  Beginn  eines  neuen 
Lebens.  Aber  der  Grundton  der  Predigt  und  ihre  Wirkung  ruht  auf  der 
jenem  Bruche  folgenden  Zugehörigkeit  zum  Reiche  Gottes  und  der  beseli- 
genden Heilsgewissheit;  und  der  überragende  Eindruck  des  Wesens  und  der 
Worte  Jesu  ist  der  eines  wunderbaren  Gleichmasses,  einer  sicheren  Einheit 
und  Harmonie,  welche  die  Welt  überwunden  und  alle  Kämpfe  und  Gegen- 
sätze hinter  sich  gelassen  hat,  mag  diese  ruhige  und  sichere  Geschlossenheit 
der  Persönlichkeit  mehr  ursprünglicher  Besitz  oder  der  Gewinn  voraufgehen- 
der Kämpfe  und  Erschütterungen  gewesen  sein.  Es  ist  begreiflich,  dass  in 
dem  Masse,  wie  die  folgende  Entwickelung  hinter  diesem  Ideale  zurückblieb, 
die  Stimmung  der  Kontraste  hervortreten  und  die  dualistische  Richtung  sich 
verstärken  und  in  der  metaphysischen  Begründung  auf  transzendentalem 
Untergrunde  einen  immer  stärkeren  Rückhalt  gewinnen  musste.  Die  Messias- 
theologie der  urchristlichen  Gemeinde,  die  gespannte  Erwartung  der  Parusie 
Christi  und  des  Erscheinens  des  unsichtbaren  Gottesreiches,  das  damit  ver- 
bundene starke  Einströmen  des  mythischen  Realismus  der  jüdischen  Apoka- 
lyptik  mit  ihrer  scharfen  Antithese  von  Diesseits  und  Jenseits  haben  die 
Spannungen  und  Gegensätze  der  Welt-  und  Lebensauffassung  stark  akzen- 
tuiert ^  Paulus'  Theologie,  die  das  Bild  des  geschichtlichen  Jesus  durch  den 
himmlischen  Christus  verdrängt,  die  entscheidenden  Akte  in  der  oberen  Welt 
sich  vollziehen  lässt  und  alles  in  eine  höhere  Lage  transponiert,  die  starke 
Abhängigkeit  seiner  Ethik  von  der  Eschatologie,  der  sie  kräftige  Triebfedern 
verdankt,  das  sehnsüchtige  Verlangen  der  Befreiung  von  der  Endlichkeit  und 
Vergänglichkeit,  in  der  die  weltmüde  Stimmung  der  jüdischen  Apokalyptik 
die  ergreifendsten  Töne  findet,  haben  in  derselben  Richtung  gewirkt.  Der 
ganze  Mensch  denkt  in  Kontrasten  und  Gegensätzen,  die  den  Weltlauf  und 
das  Menschenleben  beherrschen. 

Der  christliche  Dualismus  mit  seinen  starken  Antithesen  widerspricht 
der  echt  antiken  Sinnesweise,  oder  sagen  wir  besser  dem  antiken  Ideale.  Im 
christlichen  Bewusstsein  Entzweiung  und  Zwdespalt,  Geist  und  Fleisch,  gegen- 
wärtige und  zukünftige  Welt,  Gott  und  Belial,  Weltgeschichte  und  Menschen- 
schicksal ein  beständiger  Kampf,  der  erst  mit  der  Vernichtung  der  Welt  und 
des  Fleisches  endet;  im  antiken  das  menschliche  Wesen,  Geist  und  Sinne, 
als  Ganzes  und  Einheit  gefasst,  Harmonie  mit  der  umgebenden  W^elt,  Ein- 
klang des  Menschlichen  und  Göttlichen,  Neigung,  die  Grenzen  zwischen  beiden 
nicht  scharf  abzustecken;  darauf  beruhend  das  antike  Schönheitsgefühl.  Die 
Empfindung  für  das  Gleichmass  der  Kräfte,  für  die  Einheit  und  Ganzheit 
der  Persönlichkeit  lässt  eine  Gebrochenheit  und  Zerrissenheit  der  inneren 
Seelenstimmung  nicht  aufkommen,  schliesst  Stimmungen  wie  die  der  eigenen 
Ohnmacht,  der  Schuld  und  Sündenangst  und  des  getrösteten  Sündenschmerzes 
aus.  Noch  in  der  stoischen  Philosophie  kommt  das  Selbstbewusstsein  und 
Kraftgefühl  des  antiken  Menschen  zum  starken  Ausdruck.  Aus  eigener  Kraft 
wird  das  Vertrauen  auf  die  Verwirklichung  des  sittlichen  Ideales  geschöpft; 
es  gilt  nur,  dem  Gesetze  der  eigenen  Natur  zu  folgen;  in  dieser  Welt  liegen 
die  Kräfte  und  die  Aufgaben  des  sittlichen  Lebens  beschlossen  -.    Selbst  in 


')  Ich  glaube,  dass  z.  B.  Loofs  (I  S.  53)  den  jüdischen  (und  auch  den  alt- 
christlichen) Dualismus  unterschätzt.  Mit  dem  Satze  „Der  Satan  ist  ein  geschaf- 
fenes Wesen"  ist  Bousset  nicht  widerlegt.  Es  fragt  sich,  ob  dieser  theoretische 
Satz  wirklich  eine  Bedeutung  hatte,  dass  er  dem  in  der  Etliik  vorherrschenden 
Dualismus  die  Wage  hielt.  Für  das  Durchschnittsbewusstsein  möchte  ich  die  Frage 
entschieden  verneinen.  -)  Seneca  Ep.  31,3  mmm  bonum  est,  quod  beatae 

Titae  causa  et  fnmamentum  est,  sif/i  fidere  5  turpe  est  etiam  nunc  dcos  fatigare.  quid 


Christlicher  und  heidnischer  Dualismus  135 


der  Kirche  hat  die  antike  Ethik  und  ihr  moralistischer  Intellektualismus  als 
Unterströraung  sich  behau])tet.  Audi  in  der  Kirche  geht  von  Alters  her 
neben  der  spezifisch  kirchlichen  Moral,  welche  die  übernatürlichen  Faktoren 
und  ihre  Bedeutung  für  die  Gestaltung  des  sittlich  religiösen  Lebens  betont, 
eine  an  die  eigene  Leistungsfähigkeit  des  Menschen  appellierende  Moral  ein- 
her. Der  Pelagianismus  mit  seinem  Zurückgreifen  auf  die  natürliche  Sittlich- 
keit bringt  den  oft  gar  nicht  emj)tundenen  Gegensatz  zum  klaren  Ausdruck. 
—  Aber  iii  der  antiken  Entwickelung  selbst  wdrd  der  Rationalismus  ver- 
drängt durch  Stimmungen,  die  jenen  christlichen  verwandt  sind.  Die  Steige- 
rung des  religiösen  Lebens  setzt  über  die  irdische  Welt  die  durch  einen 
weiten  Abstand  von  ihr  getrennte  obere  Geisteswelt,  gibt  dem  inneren  Leben 
einen  ausserweltlichen  Schwerpunkt  und  führt  alle  jene  S])annungen  ein,  die 
mit  der  dualistischen  Auffassung  des  menschlichen  Wesens  gegeben  sind. 
Vor  der  höheren  Wirklichkeit  der  Geisteswelt  verblasst  der  Wert  der  sicht- 
baren Welt.  Das  Vertrauen  auf  die  eigene  Kraft  und  auf  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Vernunft  ist  erschüttert.  Das  Streben  ist  nicht  mehr  darauf 
gerichtet,  die  natürlichen  Kräfte  des  Menschen  zu  freier  sittlicher  Selbst- 
bestimmung zu  entwickeln,  sondern  sein  ganzes  Wesen  in  eine  höhere  Daseins- 
form- zu  erheben  und  übernatürlicher  Kräfte  teilhaft  zu  machen.  Das  Gefühl 
der  Schuld  imd  Schwäche,  Sehnsucht  nach  Erlösung  und  göttlichem  Beistand, 
Verlangen  nach  Offenbarungen,  willige  Hingabe  an  Autoritäten  haben  wir  als 
vorherrschende  Stimmungen  des  matergehenden  Altertums  kennen  gelernt. 
Judentum,  orientalische  Erlösungsreligionen,  Philosophie  begegnen  sich  darin. 
Der  Gedanke  an  einen  Erlöser  oder  Mittler,  der  helfend  eintritt,  wo  die 
menschliche  Kraft  versagt,  ist  dieser  mystischen  Richtung,  in  der  das  Gefühl 
des  Alterns  der  Welt,  der  Gebrochenheit  der  Persönlichkeit,  der  Resignation 
hervortritt ,  ganz  geläufig  ^.  Die  orientalischen  Religionen  verbreiten  die 
Gefühle  für  die  menschliche  Ohnmacht,  Sündhaftigkeit  und  die  ganze  Tiefe 
des  Leidens  -.  Diese  Stimmimgen  haben  auch  die  christliche  Entwickelung 
stark  beeinflusst,  haben  in  dem  Zusammenwirken  innerweltlicher  und  über- 
weltlicher, natürlicher  und  supranaturaler  Motive  und  Kräfte,  in  dem  Neben- 
einander lebensfreudiger  und  weltflüchtiger  Tendenzen  die  Richtung  des  Chri- 
stentums verstärkt,  die  einseitig  die  geistige  Wirklichkeit  über  die  sichtbare, 
Gebundenheit  über  Freiheit,  Offenbarung  über  Vernunft,  Autorität  über  Per- 
sönlichkeit stellt.  Eine  spezifisch  religiöse  Schätzung,  die  einen  jenseitigen 
Massstab  an  alle  Gebiete  des  Lebens  und  an  alle  Aufgaben  der  Kultur  anlegt, 
ihrer  selbständigen  Bedeutung  nicht  gerecht  wird  und  sie  im  letzten  Sinne  ver- 
neint, bildet  mit  ihrer  Disziplinierung  des  religiösen  Lebens  in  der  Welt  imd  in 
der  Kirche  ein  starkes  Gegengewicht  gegen  die  individualistische  Strömung. 
Das  negative  Verhältnis  der  Botschaft  Jesu  zu  der  Kulturarbeit  der  Welt 
Hess  eine  Fülle  von  Fragen  imd  Problemen  offen,  vor  die  sich  das  Christen- 
tum bei  seinem  Eintritt  in  die  griechisch-römische  Welt  gestellt  sah.  Die 
dringende  Forderung  der  entscheidenden  Wendung  zum  Reiche  Gottes,  der 
gewaltige  Ernst,  mit  dem  das  Heil  der  Seele  über  alle  Güter  der  Welt  ge- 
setzt wurde,  bew^egte  sich  in  der  Richtung  einer  Abwendung  von  der  Wirk- 
lichkeit und  Lossagung  von  der  Welt.  Jene  immer  mehr  das  Bewiisstsein 
beschäftigende  und  beherrschende  Bedeutung  der  jenseitigen  Welt  und  ihr 
Gegensatz  gegen  die  diesseitige,    die  Orientiening  der  Lebensauffassung  am 


TOtis  opus  est?  fac  te  ipse  felicem.  41.  53,  11.  12.  ')  M.  Aurel  I  17.  IX  40.  In 

Senecas  52.  Brief  sehen  ^^•il•  die  verschiedenen  Stimmungen  sich  kreuzen.  Mehr 
Material  bei  H.  Schmidt,  Religionsgesch.  Versuche  und  Vorarbeiten,  her.  von  Die- 
terich und  Wünsch,  IV  1  S.  33  ff.  ^)  Cumont  S.  38  ff.,  und  K.  X. 


136  IX  Hellenismus  und  Christentum:  2  Urchristliche  Motive 


Jenseits  und  an  der  Zulcunft  musste  die  gegenwärtige  Weltordnung,  deren 
Ende  so  nahe  bevorstand,  in  ihrem  Werte  herabdrücken,  den  Sinn  von  der 
Gegenwart  und  den  sittlichen  Aufgaben  des  irdischen  Lebens  ablenken  '. 
Jüdische  Ausdrucksformen,  an  die  Jesu  Predigt  sich  gebunden  hatte,  konnten 
wieder  mit  ihrem  ursprünglichen  Inhalte  gefüllt  und  damit  dem  tiefsten  Sinn 
der  Predigt  Jesu  entfremdet  werden.  Das  Evangelium  wurde  nach  den  alten 
Formen  und  Kategorien  des  religiösen  Lebens  zum  neuen  Gesetz  umgestaltet, 
die  Selbstverleugnung  im  Sinne  prinzipieller  Askese,  einer  an  sich  Gott  wohl- 
gefälligen Leistung  gefasst.  An  Worten  Jesu,  die  weltflüchtig  sind  und,  ab- 
getrennt von  der  besonderen  Situation  und  Stimmung,  nicht  gemüdert  durch 
Rücksicht  auf  Gedanken,  die  in  eine  andere  Richtung  deuten,  asketische 
Lebensführung,  Weltverachtung  und  Weltverneinung  zu  rechtfertigen  scheinen, 
fehlt  es  nicht.  Das  Leben  Jesu  und  der  Apostel  selbst  schien  das  weit- 
abgewandte Ideal  der  Sittlichkeit  zu  bestätigen.  Schon  im  II  Jahrhundert 
linden  wir  überall  in  den  christlichen  Gemeinden  einen  besonders  geschätzten 
Stand  der  Jimgfrauen  und  Enthaltsamen,  die  durch  Verzicht  auf  die  Ehe, 
strenge  Lebensweise,  besonders  Enthaltung  von  Fleisch  und  W^ein  das  höhere 
Ideal  christlicher  Heiligkeit  darstellen  -.  In  den  diesem  Jahrhundert  schon 
angehörigen  apokryphen  Apostelgeschichten  reissen  die  Apostel  die  Frauen 
von  üiren  Männern  los  und  lehren  sie,  den  Ehestand  als  unrein  zu  betrachten. 
Paulus  bezeugt  (Lietzmann  zu  Rom  14),  dass  es  in  der  römischen  Gemeinde 
Christen  gab,  die  sich  eine  asketische  Lebensweise  auferlegten.  Vielfach  ist 
dann  solche  Lebensführung  mit  mancherlei  Spekidationen  verbunden  und 
theoretisch  begründet,  in  zalilreichen  Sekten  zum  allgemeinen  Gesetze  er- 
hoben worden.  Die  Polemik  des  Kolosserbriefes  imd  der  Pastoralbriefe  schon 
richtet  sich  gegen  solche  prinzipielle  Auffassungen  des  Christentums.  Die 
Richtung  geht  in  die  Urzeit  des  Christentums  zurück  und  mündet  dann, 
gesteigert  durch  die  Spannung  des  religiösen  Gefühles  in  den  Zeiten  der 
Martyrien  und  durch  die  Reaktion  gegen  die  zunehmende  Weltförmigkeit  der 
Kirche  im  Mönchtume  und  in  der  kirchlichen  Anerkennung  eines  doppelten 
christlichen  Lebensideales  aus.  So  falsch  es  meines  Erachtens  ist,  den  Zu- 
sammenhang dieser  asketischen  Richtung  mit  urchristüchen  Motiven  und  ihre 
stetige  im  wesentlichen  innerchristliche  Entwickelung  zu  verkennen  und,  statt 
im  Mönchtum  den  Gipfel  dieser  allmählich  anschwellenden  Strömung  zu  sehen, 
es  aus  Uebertragung  heidnischer  Formen  der  Askese  zu  erklären,  so  be- 
achtenswert ist  doch  die  Tatsache,  dass  der  weitabgewandten  und  asketischen 
Strömung  innerhalb  des  Christentums  eine  heidnische  i)arallel  läuft,  die  sie 
vielfach  beeinflusst  und  sich  mit  ihr  verbunden  hat.  Das  christliche  Ent- 
haltsamkeitsstreben mit  seinen  tiefen  Motiven  stiess  auf  eine  dafür  empfäng- 
liche und  darauf  vorbereitete  Welt. 

Im  ganzen  betrachtet  widerspricht  christliche  Weltverneinung,  Verzicht 
auf  den  Genuss  des  Lebens  der  echt  antiken  Gefühlsweise  und  Lebensauf- 
fassung, für  die  Weltfreudigkeit,  unbefangene  Sinnenlust,  das  naive  Aufgehen 
des  Menschen  in  der  ihn  umgebenden  Welt  charakteristisch  sind.  Aber  an 
der  neuen  Lehre,  dass  Pessimismus  die  allgemeine  griechische  Grundstimmung 
und  volkstümliche  Auffassung  des  Lebens  gewesen  sei,  ist  doch  so  viel  wahr, 
dass  die  Bedeutung  einer  solchen  starken  Nebenströmung  für  das  griechische 


')  Lucius  S.  35  ff.  Das  heilsame  Gegengewiclit,  das  der  auf  den  Sieg  des 
Christentums  und  die  Welteroberung  vertrauende  Optimismus  und  die  kräftige 
Entfaltung  des  neuen  Gemeinschaftslebens  bot,  ist  nicht  zu  übersehen.  -)  Knopf 
S.  410.  439  ff.  Lucius  S.  37  ff.  Keim,  Aus  dem  Urchristentum  I  S.  204  ff.  von 
Dobschütz,  Die  urchristlichen  Gemeinden  S.  181  ff. 


Christliche  und  heidnische  Askese  137 

Geistesleben  nicht  zu  unterschätzen  ist  (S.  56.  84  if.).  Und  man  darf  sagen, 
dass  sie  in  der  Spätantike  fast  die  vDrherrschende  Strömung  Avird.  Schon 
dem  Kynismus  und  der  Stoa  sind  Leiden  und  Uebel  das  Wesentliche  am 
Menschenleben,  und  in  den  Meditationen  des  kaiserlichen  Philosophen  Marc 
Aurel  ergreift  uns  aufs  tiefste  die  düstere  Resignation  ^  Schon  die  Tendenz 
der  hellenistischen  Philosophien,  den  Menschen  zu  isolieren,  ihn  aus  der 
Welt  in  sein  Inneres  zurückzuführen,  bereitet  die  scharfe  Antithese  und  den 
Konkurrenzkampf  einer  höheren  Geisteswelt  und  der  sichtbaren  Welt  vor. 
Poseidonios'  Ethik  ist  schon  beherrscht  von  dem  weltflüchtigen  Zuge  einer 
auf  das  Jenseits  gerichteten  Mystik,  die  sich  zusehends  aus  dem  Orient  be- 
reichert. Und  als  dann  der  Neuplatonismus  die  Kräfte  des  Altertums  in 
einer  der  Zeitstimmung  entsprechenden  Synthese  vereinigt,  spannt  er  den 
Gegensatz  von  Seele  und  Leib,  Geist  und  Sinnlichkeit,  Ideal  und  Leben  aufs 
äusserste.  Die  Theodicee  und  der  Preis  der  Vollkommenheit  der  Welt  darf 
über  die  der  sichtbaren  Welt  gegenüber  vorherrschende  Verneinung  nicht 
hinwegtäuschen.  Der  Optimismus  gilt  nicht  der  Welt  als  solcher,  sondern 
nur  der  Tatsache,  dass  in  sie  die  göttlichen  Kräfte  hineinragen  und  in  ihr 
die  grösstmögUche  Entfaltung  finden.  Das  niedergehende  Altertum  ist  an 
seinen  früheren  Idealen  irre  geworden.  Und  auch  in  seiner  Lebensauffassung 
kommt  der  Geist  der  Weltverneinung  zum  Ausdruck.  Das  asketische  Lebens- 
ideal ist  auf  sittlichem  Gebiet  das  Komplement  der  transzendentalen  Welt- 
betrachtung. Neupythagoreische  Askese  sahen  wir  im  I  Jahrh.  v.  Chr.  wieder 
lebendig  werden,  in  der  stoischen  Schule  kommt  der  asketische  Rigorismus 
des  Kynismus  als  das  höhere  Ideal  der  Sittlichkeit  zur  Anerkennung.  Be- 
sondere Sekten  machen  für  Enthaltung  von  Fleisch  und  Wein  Propaganda. 
Seneca  hat  sich  als  Jüngling  ein  Jahr  lang  der  Fleischnahrung  enthalten  und 
sich  nur  durch  die  Bitten  des  Vaters  von  dieser  Lebensweise  abbringen  lassen 
(ep.  108,  22).  Selbst  in  die  Lebensweise  weiterer  Kreise  dringt  manches 
von  dieser  asketischen  Richtung  ein,  auch  wo  die  strenge  Durchführung  des 
Prinzipes  unmöglich  ist.  Seneca  erzählt  uns,  dass  es  in  manchen  Palästen 
der  Grossen  Armenzimmerchen  gab,  in  die  man  sich  zeitweise  zum  einfachsten 
Leben  zurückzog  (ep.  18,  7.  100,  6).  Und  diese  besonders  ins  Auge  fallenden 
Erscheinungen  sind  nur  Symptome  einer  in  der  philosophischen  Literatur 
aUer  Schulen  weit  verbreiteten  Forderung  grösster  Massigkeit  und  einfachster 
Lebensweise.  Dazu  kommt,  dass  in  den  orientalischen  Kulten  auf  Enthal- 
tungen imd  asketische  Uebungen  das  grösste  GcAAdcht  gelegt  wurde;  schon 
die  augusteischen  Dichter  bezeugen  uns  -,  dass  mit  diesen  Kulten  auch  die 
strenge  Beobachtung  der  von  ilmen  für  bestimmte  Zeiten  vorgeschriebenen 
Enthaltungen  besonders  in  der  Frauenwelt  Mode  war.  Die  religiösen  und 
rationellen  Motive  werden  vom  Neuplatonismus  zu  einer  Theorie  der  Askese 
zusammengeschlossen,  und  Porphyrios'  Schrift  über  Fleischenthaltung  gibt 
einen  EinbHck  in  die  Lebhaftigkeit  der  Debatten  über  die  Frage  der  Askese 
und  die  reiche  sie  betreffende  Literatur  ^.  Und  wenn  das  Christentum  vom 
Heidentum  auf  sittlichem  Gebiet  sich  besonders  schied  durch  die  strenge 
Beurteilung  der  Fleischessünden  und  der  Laxheit  heidnischer  Moral  das  scharfe 
Heilmittel  geschlechtlicher  Askese  gegenüberzustellen  geneigt  war,  so  sehen 
wir  doch  auch  gleichzeitig  die  sittbch  ernste  Richtung  des  Heidentums  von 
reinen  Grundsätzen   über   das  Verhältnis    der  Geschlechter   bis  zum  völHgen 


')  Vgl.  auch  Die  Chrys.  R.  XXX  §  10  ff.  '-)  8.  die  Erklärer  zu  Properz 

LI  33  Tibull  1  3,  23,  um  nur  wenige  Stellen  zu  nennen.    Ueber  das  Reinheitsstreben 
in  der  Mithrasreligion  s.  Cuinont  S.  189.  190.  »)  S.  die  S.  16  zitierte  Schrift 

von  Bernavs  und  Lietzmann  zu  Rom  14.     Keim  a.  a.  0.  S.  215  ff. 


138  I^  Hellenismus  und  Christentum:  3  Paulus 


Misstraiien  gegen  die  Sinnlichkeit,  zur  abschätzigen  Beurteilung  der  Ehe  und 
zur  Anerkennung  des  Keuschheitsideales  fortschreiten  '.  Die  antike  Lebens- 
freudigkeit  ist  im  Erlöschen.  Stimmungen  wie  die  des  Paulus,  der  sich  ab- 
zuscheiden sehnt  und  Sterben  für  Gewinn  hält,  haben  ihren  Widerhall  auch 
in  der  antiken  Welt. 

Es  ist  natürlich,  dass  in  der  Atmosphäre  der  antiken  Welt  die  spiri- 
tualistischen  und  transzendentalen  Tendenzen  des  Christentums  ein  bedenk- 
liches Uebergewicht  gewinnen  mussten.  Schon  im  II  Jahrh.  wird  der  christ- 
liche Gott  in  die  abstrakten  Formen  des  platonischen  gekleidet  und  dadurch 
in  eine  solche  Ferne  versetzt,  dass  das  Schwergewicht  des  religiösen  Lebens 
aus  der  W^elt  herausgerückt  wird  und  jetzt  auch  Motive  und  Tendenzen,  die 
aus  der  heidnischen  Religiosität  stammen,  das  einfache  Wesen  der  christ- 
lichen Frömmigkeit  trüben.  Die  künstliche  Steigerung  und  Erregung  des 
menschlichen  Wesens,  asketische  Uebungen  und  geistliche  Exerzitien  als  ein 
Mittel,  die  Einigung  mit  der  Gottheit  in  einer  übermenschlichen  Sphäre 
herbeizuführen,  kommen  in  Geltung.  Das  Bedürfnis,  die  weite  Kluft,  welche 
die  Gottheit  von  der  Welt  trennt,  zu  überbrücken,  ruft  die  alten  polytheisti- 
schen Triebe  wach  und  erhält  sie  lebendig.  Die  verklärten  Märtyrer  und 
die  Asketen  werden  als  die  Muster  der  Welt-  und  Lebensverachtimg  zum 
Range  christlicher  Heroen  imd  Mittler  erhoben,  die  fürbittend  für  die  Frommen 
bei  Gott  eintreten  und  sie  an  der  Gunst,  die  sie  bei  Gott  gemessen,  teil- 
nehmen lassen.  Was  dem  unmittelbaren  Verhältnis  zu  Gott  an  Innigkeit  des 
Gefühles  und  Lebendigkeit  des  Vertrauens  verloren  geht,  wächst  dem  Ver- 
kehr mit  diesen  Schützern  und  Helfern  zu.  Der  der  eigenen  sitthchen  Voll- 
kommenheit sich  rühmende  Tugendstolz  äussert  sich  wieder  mit  antiker  Naivetät 
und  antikem  Pathos  -.  Der  christliche  Gedanke  der  Gleichheit  aUer  Menschen 
vor  Gott  leidet  starke  Einbusse.  Denn  über  dem  Durchschnittsniveau  der 
gewöhnlichen  Christen   erhebt  sich   eine  überragende  geistliche  Aristokratie. 


3  Paulus 

Die  innersten  Motive  und  vorherrschenden  Stimmungen  des  Urchristen- 
tums, der  universale  Monotheismus  und  der  Gedanke  der  Einheit  des  Menschen- 
geschlechtes, die  konsequent  religiöse  Orientierung  der  Weltanschauung  und 
Lebensaufl'assung,  die  sich  immer  mehr  auf  entschiedene  Betonung  der  jen- 
seitigen Welt  und  der  supranaturalen  Faktoren,   Entwertung  der  sichtbaren 


')  Heinrici,  Beiträge  III  S.  38.  39.  Der  christliche  Kampf  für  das  Ideal 
der  Jungfräulichkeit  wird  zum  grossen  Teil  mit  Argumenten  geführt,  die  der 
antiken  Geistesweit,  besonders  der  Mystik  des  Neuplatonismus  entlehnt  sind. 
Aber  auch  die  zum  Teil  höchst  trivialen  Gedanken  rationalistischer  Art,  wel- 
che die  antike  Literatur  zur  Herabsetzung  der  Ehe  geltend  gemacht  hat,  Aver- 
den  seit  Clemens  nicht  verschmäht.  Dem  Kampfe  des  Hieronymus  gegen  lovinian 
verdanken  wir  die  Erhaltung  der  köstlich  humorvollen  Ehebeti'aclitungen  des  Theo- 
phrast.  Dass  der  Christ  sie  aus  Seneca  abschreibt  und  mit  dieser  Waffe  kämpft, 
ist  traurig;  s.  Bock,  Leipziger  Studien  XIX.  -)  Oft  kehrt  jetzt  der  stoische 

Gedanke  (s.  Literaturformen  I  2,  4)  wieder,  dass  die  Leistungen  des  Märtyrers  oder 
Asketen  das  erhabenste  Schauspiel  für  Gott  seien  (Lucius  8.  57  Anm.  11).  Die 
christlichen  Heiligen  werden  mit  den  Philosophen  verglichen  (Lucius  S,  58.  508  ff.). 
Lucius  hat  die  geschichtliche  Entwickelung  mit  musterhafter  Sorgfalt  gezeichnet 
und  gezeigt,  wie  viele  Faktoren  und  Motive,  Bräuche  und  Missbräuche  heidnischer 
I'rönaimigkeit  in  ilir  zu  neuem  Leben  erweckt  werden. 


Loslösiui"'  des  Christentums  vom  .Iiulciidim  139 


Welt  und  der  irdischen  Lebensaufgaben,  asketische  Lebensaulfassung-  richtet, 
erscheinen,  im  ganzen  betrachtet  und  an  dem  Geist  der  besten  und  kräftig- 
sten Zeiten  des  Griechentunis  und  Römertums  gemessen,  als  der  vollendete 
Gegensatz  des  antiken  Geisteslebens.  Solange  man  wesentlich  aus  jenen 
Zeiten  das  einheitUche  Bild  antiker  Gcisteskultur  meinte  gewinnen  zu  können, 
konnte  es  scheinen,  als  Avenn  ilas  Christentum  als  eine  ganz  fremde  und 
anders  geartete  Macht  in  die  griechisch-römische  Welt  eingetreten  und  seine 
Geschichte  nur  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Kampfes  und  der  Ueberwindung 
der  Gegensätze  aufzufassen  und  zu  begreifen  sei.  Die  Erforschung  der 
geistigen  Strömungen  und  Stimmungen,  die  das  niedergehende  Altertum  be- 
lierrschen,  hat  gelehrt,  dass  diese  Zeit,  in  ihrer  konkreten  Eigenart  erfasst, 
dem  Christentum  eine  Fülle  von  Anknüpfungen  und  Vermittelungen  bot,  ihm 
verwandte  Stimmungen  und  Gedanken  entgegentrug,  dass  die  Geschichte  des 
Christentums  sich  vielmehr  unter  dem.  Bilde  des  Zusammenlaufens  konver- 
gierender Entwickelungslinien   begreifen   lässt. 

Freilich  ist  diese  Entwickelung  nicht  so  notwendig  und  selbstverständ- 
lich, wie  es  dem  rückwärts  blickenden  Betrachter,  der  aus  ihrem  Ende 
auch  ihre  innere  Logik  begreifen  zu  können  meint,  scheinen  mag.  Jesu 
Predigt  trägt  mit  ihrer  Gebundenheit  an  jüdische  Vorstellungen  und  ihrer 
Anerkennung  der  praktischen  Geltung  des  Gesetzes  einerseits,  ihrem  prin- 
zipiellen Emporstreben  aus  den  nationalen  Schranken  andererseits  ein  Doppel- 
antlitz. Sie  schloss  die  Möglichkeit  der  Rückbildung  ins  Judentum  wie 
die  des  Sieges  der  vorwärts  strebenden  universalen  Tendenzen  in  sich.  Auf 
der  rückwärts  gew^andten  Seite  steht  die  jerusalemische  Gemeinde,  die 
Richtung  der  Zukunft  bestimmt  Paiüus.  Die  entscheidende  Wendung  zur 
Loslösung  des  Christentums  aus  den  Banden  des  Judentums  ist  erst  durch 
äussere  Nötigungen  herbeigeführt  und  erst  allmählich  zur  klaren  Erkenntnis 
des  christlichen  Bewusstseins  erhoben  worden.  Der  Scharfblick  des  Hasses 
der  Feinde  hat  die  Grenze  früher  und  sicherer  gezogen  als  die  durch 
Geburt  und  Traditionen  im  Judentum  wurzelnde  jerusalemische  Christen- 
heit. Die  pharisäische  Verfolgung  hat  den  Gedanken  der  Unabhängigkeit 
christlicher  Heilsgewissheit  und  der  notwendigen  Abtrennung  der  christlichen 
Gemeinschaft  vom  Judentume  vorbereitet  ^ ,  die  Heidenmission  hat  den  Ge- 
danken in  seiner  ganzen  Bedeutung  zur  Reife  gebracht,  noch  ehe  der  grosse 
jüdische  Krieg  imd  die  Zerstörung  Jerusalems  auch  die  Urgemeinde  vom 
Judentum  schied.  Und  doch  ist  derselbe  Mann,  der  das  Christentum  vom 
jüdischen  Boden  in  die  heidnische  Welt  verpflanzt  und  ihm  den  Charakter 
der  Weltreligion  gesichert  hat,  nicht  nur  geborener  Jude,  sondern  auch  als 
Christ  mit  der  einen  Seite  seines  Wesens  nur  vom  Judentum  aus  zu  be- 
greifen. Einerseits  hat  er  die  innere  Notwendigkeit  der  Freiheit  des  Christen- 
tums von  den  Schranken  des  Gesetzes  klar  erkannt  und  hat  die  Scheidung 
mit  mutiger  Konsequenz  durchgeführt,  hat  den  neuen  christlichen  Geistes- 
besitz wie  kein  anderer  sich  innerlich  angeeignet,  mit  ergreifender  Gewalt 
verkündet,  aus  der  einheitlichen  Geschlossenheit  des  christlichen  Bewusst- 
seins die  Richtlinien  und  Massstäbe  für  die  Lösung  aller  sich  drängenden 
Fragen  gefimden,  die  Gemeinden  organisiert,  alle  Gebiete  des  Lebens  mit 
diesem  Geiste  durchdrungen.  Nach  seiner  innersten  Gesinnung  ist  er  trotz 
seiner  Eigenart  der  bedeutendste  Fortsetzer  des  Werkes  Jesu.  Andererseits  ist 
er  trotz  der  prinzipiellen  Scheidung  vom  Gesetze  in  höherem  Masse,  als  er  sich 
bewusst  ist,  in  jüdischen  Anschauungen  und  Voraussetzungen  befangen,  ja  er 
hat  ganz  neue  Verbindungen  zwischen  Christentum  und  Judentum  geknüpft. 


1)  Weizsäcker,  Das  apostolische  Zeitalter-  S.  GO  ff. 


140  i^  Hellenismus  ukd  Christentum:  3  Paulus 

Je  weniger  ihm  das  Bild  des  geschichtlichen  Jesus  lebendig  war,  um  so 
mehr  tritt  in  den  Vordergrund  die  Messiastheologie ,  deren  Ansätze  er  von 
der  Urgemeinde  übernahm ,  die  er  aber  bereichert  durch  Fragestellungen, 
Kategorien,  Denkformen,  in  denen  sich  das  geistige  Leben  des  jüdischen 
Schriftgelehrten  bewegte.  Wesentlich  von  dort  her  bringt  er  die  Richtung 
auf  die  metaplwsischen  Spekulationen,  den  Gegensatz  der  gegenwärtigen  und 
der  künftigen  Welt,  apokalyptische  Stimmungen,  den  künstlichen  Schrift- 
beweis, der  überall  Typen  imd  Symbole  findet,  jene  bedenkliche  Methode, 
welche  die  Scliriftautorität  über  das  Gewicht  innerer  Gründe  setzt  und  sich 
gar  nicht  bewusst  wird,  dass  in  Wahrheit  das  subjektive  Belieben  die  eigene 
Erkenntnis  als  geoffenbarte  Wahrheit  ausgibt,  die  Konstruktion  der  Geschichts- 
entwickelung  nach  theologischen  Schemata.  Dass  er  trotzdem  an  dem  ent- 
scheidenden Punkte  die  Trennung  vom  Judentum  mit  klarem  Bewusstsein 
für  die  prinzipielle  Bedeutung  vollziehen  und  damit  dem  Christentum  seine 
weltgeschichtliche  Bestimmung  sichern  konnte,  hängt  mit  seinen  innersten 
Erfahrungen  zusammen.  Die  grosse  religiöse  Wandlung  bedeutete  für  den 
pharisäischen  Christenverfolger  einen  völKgen  Bruch  mit  seiner  jüdischen 
Vergangenheit,  und  die  ihm  mit  dem  neuen  Glauben  aufgehende  Gewissheit 
seiner  Berufung  als  Heidenapostel  und  die  dann  anhebende  Ausübung  dieses 
Berufes  musste  ihn  in  der  Erkenntnis  des  neuen  Glaubens  als  der  universalen 
und  darum  über  alle  nationalen  und  partikularen  Schranken  erhabenen  Mensch- 
heitsreligion bestärken.  Freilich  den  ganzen  Menschen  kann  nicht  begreifen, 
wer  die  beiden  Seiten  seines  Wesens  getrennt  betrachtet  und  mit  Ausschei- 
dung des  uns  Fremdartigen  und  Abstossenden  dem  geschichtlichen  Paulus 
nach  eigenem  Geschmack  ein  Bild  entgegenstellt,  wie  er  hätte  sein  sollen. 
Denn  ohne  seine  jüdische  Vergangenheit,  die  ein  Atmen  in  der  Religion  und 
eine  Erfüllung  des  ganzen  Lebens  mit  dem  Ernste  der  höchsten  Fragen  und 
mit  dem  Eifer  um  Gott  bedeutete,  ist  auch  der  religiöse  Genius  gar  nicht 
zu  verstehen. 

Wie  es  für  die  Religiosität  des  Apostels  von  Bedeutung  ist,  dass  er  aus 
ganz  andern  Schichten  des  Judentums  als  Jesus  und  sein  Kreis  hervorge- 
gangen ist,  so  sind  doch  auch  in  seinen  persönlichen  Lebensverhältnissen 
schon  äussere  Bedingungen  gegeben,  die  ihn  zum  Werke  der  Heidenmission 
geschickt  machten.  Seine  Bildung  ist  freilich  wesentlich  die  jüdisch-theo- 
logische, aber  die  hellenistisch-römische  Welt  ragt  doch  von  Anfang  an  in 
seinen  Gesichtskreis  hinein^.  Es  wiU  etwas  sagen,  dass  er  schon  in  der 
Jugend  in  Tarsos  Griechisch  gelernt  und  die  Bibel  in  griechischer  Sprache  ge- 
lesen hat  —  denn  die  Sprache  schon  vermittelt  Ideen  — ,  dass  er  griecliisches 
Leben  gesehen  hat.  Vom  Vater  hat  er  die  Civität  überkommen  und  wohl 
von  Anbeginn  nach  weit  verbreiteter  Sitte  einen  Doppelnamen  geführt.  Er 
fühlt  sich  als  römischer  Bürger  und  weiss  seine  Rechte  als  solcher  geltend 
zu  machen'-.  Die  zufriedene  Stimmung,  mit  der  gerade  die  kleinasiatischen 
Griechen  das  Kaiserregiment  betrachteten ^,  hat  erkennen  gelernt,  jedenfalls 
dem  Weltreiche  anders  gegenübergestanden  als  der  palästinensische  Jude, 
der  die  römische  Oberherrschaft  als  eine  vorübergehende  Episode  unwillig 
zu  ertragen  gewohnt  war,  dem  deren  Vernichtung  der  Anbruch  des  Gottesreiches 
bedeutete.  Das  römische  Reich  ist  ihm  eine  positive  Grösse  und  gottge- 
wollte Ordnung,  die  Achtung,  Gehorsam  und  Unterordnung  fordert  (Rom  13), 
ja  es  ist  ihm  ein  Hemmnis  des  Antichristes  '.     Er  ist  sich  der  Bedeutung  ge- 


*)  Zur  Ergänzung  s.  Literaturformeu  I  2.  -')  S.  über  das  alles  Momm- 

sen,  Die  Rechtsverhältnisse  des  Apostels  Paulus,   Zeitschrift  flu-  neutest.  Wiss.  II 
S.  81  ff.  3)  Speziell  über  Tarsos  vgl.  Giemen,  Paulus  II  S.  64.  *)  II  Thess 


Jüdische  Voraussetzungen  des  Paulus.     Hellenistischer  Einfluss  141 

rade  der  römischen  Christengemeinde  bewusst;  es  zieht  ilin  besonders  nach 
der  Weltstadt,  und  er  weiss  (his  Bedenken,  dass  sein  Auftreten  in  Ilom  seinem 
Grundsatze,  nicht  auf  anderer  Leute  Grund  zu  bauen,  wideisprechen  würde, 
zu  unterdrücken  (Lietzmann  zu  Rom  li:.).  Als  nach  siebzehnjähriger  Arbeit 
das  Abkommen  mit  den  Aposteln  in  Jerusalem  die  Freudigkeit  und  Sicher- 
heit seines  Berufsbewusstseins  gestärkt  und  ihm  freie  Bahn  geschaffen  hat, 
da  nimmt  die  Mission  immer  grössere  Dimensionen  an  und  bewegt  sich  in 
rascherem  Laufe.  Das  Gefühl  der  höheren  Verpflichtung  treibt  ihn  von  Land 
zu  Land,  die  Zukunftspläne  gehen  immer  mehr  ins  Weite.  Er  rechnet  mit 
ganzen  Ländern  und  Provinzen.  Die  antike  Vorstellung  der  or/wOUiJi,£vr^,  jetzt 
in  der  einheitlichen  römischen  Weltmonarchie  repräsentiert,  verschlingt  sich 
mit  den  eschatologischen  Erwartungen  des  Apostels:  Der  Beruf  des  Welt- 
apostels treibt  ihn  in  fieberhafter  Hast,  in  der  kurzen  Spanne  der  noch  üb- 
rigen Zeit  das  Evangelium  durch  die  ganze  Erde  zu  tragen  und  so  die  Pa- 
rusie  Christi  vorzubereiten'.  Auch  der  Gedanke  der  wesentlichen  Einheit  des 
Menschengeschlechtes  (S.  132)  wird  in  der  Einheit  des  Weltreiches  eine  Stütze 
haben.  Was  er  der  Organisation  des  Reiches  an  Bedingungen  für  sein  Wirken 
verdankte,  ist  dem  Apostel  gewiss  zum  Bewusstsein  gekommen.  Die  äusseren 
Rechtsordnungen,  der  gesicherte  und  lebhafte  Weltverkehr,  das  Strassensystem, 
die  relative  Einheitlichkeit  der  Sprache  und  der  Zivilisation  sind  äussere  Momente, 
ohne  welche  die  raschen  Fortschritte  der  Mission,  das  Wandern  der  Prediger, 
der  lebhafte  Austausch  der  Gemeinden,  das  rasch  sich  ausbildende  Bewusst- 
sein der  Einheit  der  Kirche  undenkbar  sind. 

Doch  vor  allem  müssen  wir  uns  die  Frage  vorlegen,  wie  Paidus  die 
heidnische  Welt  und  ihre  Kultur  beurteilt  hat.  Dass  er  der  griechischen 
Weisheit  fremd  und  misstrauisch  gegenübersteht  und  dass  er  von  ihr  nur  zu- 
fällig und  oberfläcliKch  berührt  ist,  haben  wir  schon  bemerkt.  Der  heid- 
nischen Religion  und  Sittlichkeit  hat  er  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt, 
und  wenn  er  auch  ihre  Entwickelung  in  ein  willkürlich  konstruiertes  theo- 
logisches Schema  f asst,  so  weiss  er  ihr  doch  eine  positive  Seite  abzugewinnen  -. 
Er  übernimmt  den  stoischen  ihm  wohl  durch  das  Judentum  vermittelten  Ge- 
danken einer  natürlichen  Gotteserkenntnis,  die  aus  den  Werken  der  Schöpfung 
gewonnen  wird.  Ebenso  schreibt  er  den  Heiden,  auch  hier  von  stoischer 
Theorie  berührt,  ein  natürliches  sittliches  Gefühl  zu,  das  auf  dem  göttlichen 
ins  Herz  geschriebenen  Gesetze  beruht.  Auf  dieser  religiös-sittlichen  Aus- 
stattung beruht  die  Verantwortlichkeit  des  Heiden,  wie  die  des  Juden  auf 
der  Kenntnis  der  gottgegebenen  Thorah,  beruht  für  beide  die  Gerechtigkeit 
des  göttlichen  Strafgerichtes.  Von  der  Erkenntnis  des  wahren  Gottes  haben 
sich  die  Heiden  abgewandt,  und  die  Verleugnung  der  ursprünglichen  Gottes- 
vorstellung hat  zum  Dienst  der  menschen-  und  tierähnlichen  Götterge- 
stalten und  zugleich  zur  Verdrängung  der  natürHchen  Sittlichkeit,  ja  ihrer 
Entstellung  in  den  Hang  zu  unnatürlichen  Lastern  geführt.  Es  ist  eine  stark 
schematische  Zeichnung,  die  sich  im  einzelnen  in  den  Formen  der  jüdischen 
Apologetik  bewegt.  Die  Schätzungen  sind  relativ  und  Schwankungen  unter- 
worfen. Bald  erscheint  die  natürUche  Gotteserkenntms  und  Sittlichkeit  als  ein 
ursprünglicher,  dann  durch  Abfall  verlorener  Besitz,  bald  wird  sie  als  Be- 
dingung der  Verantwortung  noch  als  gegenwärtig  und  jedermann  zugänglich 
vorausgesetzt  ^.  Im  Römerbrief  ist  die  natürliche  Gotteserkenntnis  das  Korrelat 


2  6  (Neumann,  Hippolytus  von  Rom,  Leipzig  1902  S.  4  ff.).  —  Jedoch  missbüligt  er 
I  Cor  6  das  Rechtsuchen  der  Christen  vor  heidnischem  Gericht.  ')  Lietzmann 

zu  Rom  15  19,  Harnack,  Mission  I  S.  63  K,  Weizsäcker  S.  193  ff.  -)  Lietzmann  zu 

Rom  1  u  ff.  Exe.  zu  2  u  ff.  (I  Cor  1 21),  Weizsäcker  S.  95  ff.  ^)  Weizsäcker 


142  IX  Hellenismus  und  Christentum:  3  Paulus 


des  Gesetzesbesitzes  der  Juden,  aber  Gal  4  8 — lo  reisst  der  Eifer  der  Pole- 
mik den  Apostel  fort,  den  Götzendienst,  der  doch  erst  aus  der  Verkelirung 
jener  Erkenntnis  gefolgt  ist,  der  mosaischen  Gesetzesreligion  parallel  zu 
stellen  und  mit  ihr  unter  den  gemeinsamen  Begriff  des  Elementendienstes  zu 
fassen.  So  bewegen  sich  auch  die  Vorstellungen  vom  Wesen  der  Götzen 
zwischen  der  Voraussetzung  ihrer  Realität,  wo  es  den  Kampf  gilt,  und  ihrer 
Nichtigkeit,  wo  der  Massstab  der  überragenden  Grösse  Gottes  und  des  Zieles 
seiner  vollendeten  Herrschaft  angelegt  wird  (vgl.  S.  12B).  Die  Teilnahme  am 
Opfermahle  bringt  in  die  Gemeinschaft  der  Dämonen  und  in  ihre  Gewalt 
(I  Cor  10  2o),  und  doch  sind  es  die  stummen  Götzen  (I  Cor  12  2,  vgl.  I  Thess  lo 
Act  14 15.  19  2g),  indem  die  Identität  des  Gottes  und  des  Bildes  vorausgesetzt 
wird,  übrigens  nicht,  wie  man  gemeint  hat,  durchaus  mit  Unrecht,  da  dies 
nicht  die  Erfindung  bequemer  Apologetik  und  nicht  nur  grob  materialistische 
Auffassung  des  Judentums,  sondern  wirklich  die  herrschende  Volksvorstel- 
lung ist*.  Macht  man  sich  klar,  wie  es  zuletzt  von  Lietzmann  nachgewiesen 
ist,  wie  viel  traditionelle  Stücke  Paiüus  in  der  Beweisführung  des  Römer- 
briefs übernommen  hat,  wie  er  sie  gepresst  hat  in  ein  künstliches  Schema, 
das  seiner  Konstruktion  der  jüdischen  Entwickelung  parallel  läuft  und  sich 
in  den  doch  recht  willkürlich  geschiedenen  Stufen:  Ursprüngliche  Anlage  zum 
Monotheismus,  Verleugnung  desselben  und  Verkelirung  in  Idoldienst,  analoge 
Entstellung  der  natürlichen  Moral  in  alle  Unnatur  des  Lasters,  so  wird  man 
in  das  überschwängliche  Lob,  das  man  oft  dem  tiefen  Einblick  des  Paulus 
in  die  Genesis  und  das  AVesen  des  Heidentums  gespendet  hat,  nicht  ein- 
stimmen —  das  Lob  gälte  ja  auch  zum  Teil  eigentlich  der  Stoa  —  und  ihm 
mehr  Ehre  erweisen  durch  die  Annahme,  dass  er  in  der  Praxis  der  Mission 
individuellere  und  einfachere  Mittel  angewendet  hat,  als  in  dieser  einem  be- 
stimmten Zweck  dienenden  Konstruktion  der  Menschengeschichte,  deren  Har- 
monie mit  der  modernen  Forschung  man  jedenfalls  nicht  mehr  preisen  darf 
(S.  55). 

Die  Areopagrede  Act  17  (vgl.  14i5ff.)  bezeichnet  Paulus  gegenüber 
einen  schon  fortgeschrittenen  Standpunkt  der  Apologetik  und  einen  beträchtlich 
höheren  Grad  der  Annäherung  an  zeitgenössische  Anschauungen.  Der  Gott, 
der  nicht  in  Tempeln  wohnt,  die  von  Menschenhand  errichtet  sind,  der  be- 
dürfnislose, der  allen  Leben  und  Odem  gibt,  der  uns  so  nahe  ist,  die  Wesens- 
verwandtschaft des  Menschen  mit  der  Gottheit,  in  der  er  lebt  und  webt,  der 


S.  635.  636.  »)  Gruppe  S.  980  IT.,  Friedländer  III  S.  605  ff.,  Radermacher,  Fest- 

schrift für  Gomperz  S.  197  if.,  Geffcken  S.  197.  211.  So  hat  ja  schon  die  heidnische 
Polemik  die  stummen  Götzen  aus  Stein  bekämpft,  s.  S.  87,  Geffcken  S.  XX  ff.  51.  196, 
Bousset  S.  .850.  Schon  Celsus  hebt  die  Uebereinstimmung  hervor;  s.  Keim,  Celsus' 
wahres  Wort,  Zürich  1873  S.  5.  118.  Der  Kürze  wegen  verweise  ich  im  folgenden 
für  Celsus  auf  Keims  Rekonstruktionsversuch.  Die  denselben  Gegenstand  behan- 
delnde neuere  Schrift  von  Mutli  ist  völlig  unzuverlässig  und  tendenziös.  —  Neben 
diesen  antiken  Bekämpfern  der  Bilder  fehlt  es  auch  an  Verteidigern  nicht,  die 
Gottheit  und  Bild  unterscheiden  und  Wei-t  und  Notwendigkeit  symbolischer  und 
anthropomorpher  Götterdarstellung  feinsinnig  zu  schätzen  wissen.  Dions  R.  XII 
§  44  ff.  und  Maximus'  R.  VIII  (Wilamowitz  Lesebuch  VII  8)  vertreten  diesen  Stand- 
punkt besonders  wirkungsvoll,  vgl.  Geffcken  a.  a.  O.  Wie  die  christliche  Apolo- 
getik ihre  einseitige  Auffassung  der  antiken  Polemik  entlehnt,  so  ist  mit  der  Ver- 
breitung der  Bilderverehrung  in  der  Kirche,  besonders  seit  Konstantin,  auch  die 
bilderfreundliche  Auffassung  von  (Christen  adoptiert  und  die  neuplatonische  Theo- 
rie, die  im  Bilde  den  Träger  göttlicher  Kräfte  sieht,  rezipiert  worden.  Der  Gegen- 
satz und  Kampf  der  antiken  Anschauungen  hat  sich  so  in  der  Kirche  fortgesetzt. 


Beurteilung  des  Heidentums.    Areopagrede.    Logoslehi'e  143 

Protest  geoen  die  Bilder  aus  Gold,  vSilber,  Stein,  alles  das  sind  Gedanken, 
die  besonders  von  der  Stoa  vertreten  —  in  diesen  Kreis  weist  ja  auch  das 
Zitat  V.  2«  — ,  durch  die  Predigt  der  Aufklärung  ])()i)ulär  und  in  der  fol- 
genden christlichen  Apologetik  in  engerer  Anknüijfung  an  literarische  Quellen 
weiter  entwickelt  sind^  Die  Einkleidung  der  Vorwürfe  gegen  Paulus  in 
eine  an  Sokratcs'  Anklage  erinnernde  Form  und  der  an  die  athenische  In- 
schrift anknüpfende  Eingang  der  paulinischen  Rede  (S.  78)  verstärken  den 
Eindruck,  dass  diese  Anschauungen  ein  tieferes  Eingehen  auf  hellenistische 
Ideen  bezeichnen  und  auf  der  Linie  liegen,  die  von  Paulus  zur  späteren  Apo- 
logetik führt.  Die  Apostelgeschichte  gehört  einer  Periode  an,  in  der  die 
universale  Geltung  der  neuen  Weltreligion  nicht  mehr  ein  Problem  ist,  um 
das  gerungen  wird,  sondern  eine  anerkannte  Wahrheit,  so  selbstverständlich, 
dass  sie  als  alter  Besitz  der  Kirche  vorausgesetzt  wird,  und  dass  sie  ihr 
Licht  auf  die  Auffassung  der  Menschheitsgeschichte  zurückwirft.  Die  Tatsache, 
dass  die  Bestimmung  des  Evangeliums  für  die  Völker  und  für  die  ganze 
W^elt  schon  in  die  Herrenworte  der  synoptischen  Evangelien  eindringt,  dass  sie 
als  natürliche  Voraussetzung  dem  Johannesevangelium  zugrunde  liegt,  beweist, 
wie  rasch  sie  gemeinchristlicher  Besitz  geworden  ist.  Die  jüdische  Gebun- 
denheit schwindet  ganz  von  selbst,  seit  die  Auseinandersetzung  mit  dem 
Judentum  zurücktritt,  die  von  ihm  drohende  Gefahr  überwunden  ist  und  das 
göttliche  Strafgericht  über  Jerusalem  die  Zukunft  des  Christentums  von  der 
heiligen  Stadt  gelöst  hat.  Damit  verlieren  auch  die  Gedankenreihen  des 
Paulus,  die  in  seiner  jüdischen  Vergangenheit  wurzeln  oder  in  seiner  beson- 
deren KampfessteUung  gegen  das  Judentum  entwickelt  sind,  ihre  Bedeutung 
oder  doch  ihren  ursprünglichen  Sinn.  Dass  die  Logoslehre  das  Uebergewicht 
gewinnt  über  die  Messiastheologie,  ist  nur  ein  besonders  deutliches  Zeichen 
dafür,  dass  das  Christentum  sich  vom  Judentum  abgewandt  und  nach  dem 
Westen  gerichtet,  dass  es  seine  Bestimmung  für  und  seine  Wahlverwandt- 
schaft mit  dem  Hellenismus  erkannt  hat.  Nur  noch  die  heiligen  Schriften 
erhalten  die  Verbindung  des  Christentums  mit  seiner  jüdischen  Vergangen- 
heit aufrecht,  aber  sie  bedeuten  nicht  wie  die  Verbindung  mit  der  Nation 
und  ihren  Traditionen  die  Gefahr  eines  Rückfalls  ins  Judentum  und  eine 
Bedrohung  des  Universalismus;  diese  Gefahr  war  durch  das  Lebenswerk  des 
Paulus  für  immer  abgewehrt.  Die  Unabhängigkeit  des  Christentums  war 
trotz  dieses  ihm  mit  dem  Judentum  gemeinsamen  Besitzes  gesichert.  Denn 
der  verschiedene  Gebrauch  der  heiligen  Schriften  erweiterte  die  das  Christen- 
tum vom  Judentum  trennende  Kluft.  Und  die  Freiheit  der  Auswahl  und 
Exegese  der  Schrift  ermöglichte  die  Anpassung  an  den  christlichen  Besitz- 
stand, der  durch  den  Schriftbeweis  mit  einer  höheren  Autorität  umkleidet 
vnirde. 


4  Staat,  Gesellschaft  und  Klrche 

MoifflSEN,  Der  Religionsfrevel  nach  römischem  Recht,  Mist.  Zeitsclu-ift  LXIV 
1890  S.  389  ff.,  Römisches  Strafrecht,  S.  567  ff.  —  Neumann,  Der  römische  Staat 
und  die  allgemeine  Kirche ,  bis  auf  Diocletiau.  I  Leipzig  1890.  —  Ders.,  Hippo- 
lytus  von  Rom  in  seiner  SteUung  zu  Staat  und  Welt,  I  Leipzig  1902.  —  Bigel- 
MAiR,  Die  Beteiligung  der  Christen  am  öffentlichen  Leben  in  vorkonstantinischer 
Zeit,  Veröffentlichungen  aus  dem  kirchenhistorischen  Seminar  München  Nr.  8, 
München  1902.  —  Harnack,  Kirche  und  Staat  bis  zur  Gründung  der  Staatskirche, 
Kultur  der  Gegenwart  I  4  S.  129—160.  —  Knopf,  Nachapost.  Zeitalter  S.  83—147. 

i)  Geffcken  a.  a.  O.,  S.  XXXH.  XXXHI,  unten  S.  152  ff. 


14-4    IX  Hellenismus  und  Christentum:  4  Staat,  Gesellschaft  und  Kirche 

Das  antike  Bewusstsein  kennt  wesentlich  die  Religion  in  der  an  die 
Nation  g-ebundenen  Form  und  als  Ausdruck  des  nationalen  und  patriotischen 
Empfindens.  Der  Kaiserkult  hatte  zunächst  dies  Band  verstärkt  und  der  natio- 
nalen Religion  eine  Stütze  und  einen  neuen  Mittelpunkt  zu  geben  gesucht. 
Und  der  Staat  hatte  Mittel,  die  Anerkennung  seiner  Religion  zur  Geltung 
zu  bringen.  Der  römische  Bürger  konnte  durch  die  magistratische  Religions- 
})olizei  zur  Erfüllung  seiner  religiösen  Pflichten  angehalten,  die  Teilnahme  an 
fremden  nicht  repizierten  Kulten  ihm  verwehrt  werden.  Verboten  war  an 
und  für  sich  keine  Religion,  aber  die  Ausübung  einer  jeden  war  nur  ge- 
stattet den  Angehörigen  der  Nation,  auf  deren  Boden  sie  gewachsen  war.  Die 
strenge  Durchführung  dieses  Nationalitätsprinzip  es  widerstrebte  aber  der  Ent- 
Avickelung  des  Reiches  (S.  9.  92  ff.)  und  war  ein  Ding  der  Unmöglichkeit. 
In  der  Praxis  war  zur  Kaiserzeit  jeder  mit  dem  nationalen  verträgKche  und 
ihn  nicht  negierende  fremde  Kult  freigegeben.  Die  Ausübung  der  väter- 
lichen Sitte  war  das  Minimum,  das  man  auf  religiösem  Gebiete  zu  fordern 
sich  beschränkte.  Wie  man  darüber  dachte,  welchen  Glauben  man  hatte, 
oder  ob  man  überhaupt  die  Götter  leugnete,  war  im  Grunde  ebenso  gleich- 
gültig wie  das  Verhältnis  zu  andern  Göttern  und  zu  andern  Kulten.  Oinomaos 
(II  Jahrh.  n.  Chr.)  konnte  seinen  ganzen  Hohn  über  die  Orakel  des  Apollon 
ergiessen,  und  Lucian  seine  Göttersatiren  publizieren,  ohne  darum  ange- 
fochten zu  werden.  Die  religiöse  Handlung,  nicht  die  Gesinnung,  war  das 
Entscheidende.  Sehr  charakteristisch  ist,  dass  auch  Epikureer  und  Skeptiker 
die  Beteiligung  an  der  väterlichen  Religion  als  selbstverständlich  voraussetzen  '. 
Dem  Judentum  und  dem  Christentum  erwuchsen  die  Schwierigkeiten  daraus, 
dass  für  ihren  Monotheismus  die  Verständigung  mit  andern  Religionen  und 
ihre  äusserliche  Anerkennung,  die  den  orientalischen  Religionen  sonst  so  leicht 
wurde,  ausgeschlossen  war. 

Aber  die  Frage,  warum  das  Judentum  rechtlich  im  allgemeinen  eine 
bessere  Behandlung  und  grössere  Schonung  erfahren  hat,  seine  Gebräuche 
geachtet  sind  und  ihm  gegenüber  sogar  auf  die  Forderung  des  Kaiserkultes 
verzichtet  ist,  warum  die  Bekämpfung  der  jüdischen  Religion  als  solcher 
zu  den  Ausnahmen  gehört,  ist  noch  zu  beantworten.  Zum  Teil  werden  die 
Vorrechte,  welche  die  Juden  schon  in  den  hellenistischen  Reichen  erlangt 
hatten,  nachgeAvdrkt  haben;  aber  vor  allem  konnte  der  Gegensatz  gegen 
das  Judentum  nicht  in  so  prinzipieller  Schärfe  wie  gegen  das  Christentum 
fühlbar  werden,  weil  die  jüdische  Religion,  obgleich  mit  ihrem  Monotheis- 
mus darüber  liinausstrebend,  doch  auf  nationaler  Grundlage  gewachsen 
war  und  diese  Grundlage  festhielt.  Diese  Gebundenheit,  die  besonderen 
Riten,  namentlich  die  Beschneidung,  bildeten  ein  starkes  Hemmnis  der  Pro- 
selytenmacherei  und  Hessen  die  jüdische  Propaganda  nicht  als  bedrohliche 
Gefahr  erscheinen.  Wie  der  Grundsatz  des  Festhaltens  an  den  von  den 
Vätern  ererbten  Gebräuchen  bald  das  Judentum  vom  Christentum  schied,  so 
war  er  ihm  mit  der  allgemein  antiken  Anschauung  gemeinsam,  und  nicht 
ohne  Grund  betonen  Celsus  und  Julian  die  Solidarität  der  Heiden  und  Juden 
in  der  Bekämpfung  des  Christentums.  Diese  Bewahrung  des  väterlichen 
Erbes  ist  dem  ])alästinensischen  Judentum  mit  dem  hellenistischen  gemeinsam 
und  gilt  trotz  aller  Vergeistigung  und  Verflüchtigung  der  Religion  auch  den 
hellenistischen  Juden  als  Ruhmestitel  des  Volkes  und  als  W^ahrheitsbeweis  der 
Offenbarung-.     Es  ist  charakteristisch,  dass  die  römischen  Toleranzedikte   zu 


')  S.  61  -.  63,  andere  Zeugnisse  bei  Keim,  Rom  und  das  Christentum  S.  272. 
273.  Die  Christen  empfinden  die  Beteiligung  der  Philosophen  am  Kult  als  Inkon- 
sequenz, Geffcken  S.  32.  *)  Bousset  S.  138. 


Verhalten  des  Staates  zu  Judentum  und  Christentum  145 


Gunsten  der  jüdischem  Religion  sich  stets  auf  dies  Prinzip  berufen  und  dass 
bei  Josephus  Nikohios  das  Recht  der  Völker,  ihre  religiösen  Gebräuche  zu 
bewahren,  als  besonderen  Vorzug  der  römischen  Herrschaft  ansieht  *.  Jüdische 
und  heidnische  Polemik  macht  den  Christen  die  Verleugnung  dieses  Grund- 
satzes zum  Vorwurf-.  Die  Haltung  der  christlichen  Ai)ologeten  diesem  Vor- 
wurf gegenüber  ist  inkonsequent  und  widerspruchsvoll  ■'.  Teils  ist  ihnen  das 
Christentum,  wie  bei  Paulus,  die  höhere  Stufe  der  Einheit,  zu  der  alle  Völker 
erhoben  werden  sollen;  teils  übernehmen  sie  die  antike  Voraussetzung,  dass 
zu  der  Religion  das  Substrat  eines  besonderen  Volkes  gehöre,  nennen  sich 
das  wahre  Israel  und  nehmen  die  israelitische  Vorgeschichte  für  sich  in  An- 
sj)ruch  oder  bezeichnen  sich  als  das  dritte  Volk  oder  dritte  Geschlecht  —  eine 
Benennung,  die  auch  vereinzelt  im  heidnischen  Sprachgebrauch  begegnet;  ja 
sie  meinen  auf  jenen  allgemeinen  Grundsatz  der  Achtung  vor  der  angeborenen 
Religion  die  Forderung  der  Toleranz  gründen  zu  können.  Naive  Befangen- 
heit in  antiken  Voraussetzungen  und  berechnete  Taktik,  welche  die  univer- 
salistische Tendenz  des  Christentums  verschleiert,  haben  in  verschiedener 
Weise  das  Verhalten  der  einzelnen  Zeugen  bestimmt. 

Mancherlei  Gründe  haben  dem  Christentum  die  abschätzige  Beurteilung 
der  heidnischen  Gesellschaft  zugezogen.  Auch  auf  diese  jüdische  Sekte  —  als 
solche  erschien  zmaächst  das  Christentum  —  übertrug  sich  die  Summe  des 
Wiederwillens,  die  sich  gegen  das  Judentum  angesammelt  hatte.  Die  Christen 
erschienen  wie  die  Juden,  weil  ihr  Monotheismus  die  Anerkennung  fremder 
Götter  ausschloss,  als  die  Atheisten  im  antiken  Sinne  des  Wortes^.  Die 
Forderung,  dass  auch  die  Christen  dem  Genius  des  Kaisers  ihre  Ehrfurcht 
bezeugen,  den  höchsten  Gott  auch  unter  dem  Namen  des  Zeus'^,  die  Mittel- 
wesen, die  ja  auch  sie  anerkannten,  auch  unter  den  Götternamen  verehren 
sollten '',  schien  im  Zeitalter  des  religiösen  Synkretismus  so  natürlich  und  so 
harmlos,  dass  nur  starke  Hartnäckigkeit  sie  nicht  erfüllen  konnte.  Als  eine 
Verfolgung  der  Religion  als  solcher  und  der  Zugehörigkeit  zu  ihr  empfand 
man  diese  Fordeitmg  nicht.  Die  Absonderung  der  Christen,  ihre  Abneigung, 
vor  Gericht  zu  erscheinen,  Aemter  zu  bekleiden,  Militärdienst  zu  leisten,  die 
in  der  schwer  zu  vermeidenden  Beteiligung  an  religiösen  Zeremonien  und  in 
den  Gewissensbedenken  gegen  den  Eid  beim  kaiserhchen  Genius  begründet 
war,  ihre  Verachtung  der  heidnischen  Vergnügungen  und  Freuden  der  Ge- 
selligkeit, ihr  Misstrauen  gegen  alle  Erwerbsarten,  die  in  irgend  einer  wenn 
auch  entfernten  Beziehung  zum  Götterdienst  standen,  überhaupt  ihr  weltab- 
gew^andtes  Wesen  zog  ihnen  den  Tadel  des  mangelnden  Patriotismus,  der 
Abneigung  gegen  das  Staatswesen  ■,  ja  des  odiiiin  (leneris  Innnani,  der  all- 
gemeinen Misanthropie,  zu;  sie  waren  schlechte  Bürger,  fürs  Leben  und  die 
Gesellschaft    imbrauchbar.     Ihre   Erwartung  des  nahen  Weltendes  bestätigte 

1)  Josephus  Altertümer  XIV  §  227  ff.  X.YI  163  ff.  XIX  283—285.  290.  304. 
306  Niese.    —   XVI  36.  -)  Keim,    Celsus'    wahres  Wort  S.  18.  34.  66  ff. 

(wo  dieser  Unterschied  ZA\ischen  Juden  und  Christen  hervorgehoben  wird).  Act 
6 14.  16  21.  21 21.  28  17.  Umgekehrt  hat  es  eine  Beurteilung  des  Judentums  durch 
die  Christen  gegeben,  die  es  auf  eine  Linie  mit  dem  Heidentum  stellt  (S.  152.  153), 
»)  Harnack,  Älission  I  S.  206  ff.,  Geffcken  S.  99  ff.  158  ff.  *)  Geffcken  S.  169. 

186.  Bigelmair  S.  148  und  vor  allem  Harnack,  Texte  und  Unt.  N.  F.  XHI  4. 
■'•)  Liberale  Juden  hatten  das  ja  getan  (S.  111.  113),  und  vereinzelte  Christen  fanden 
es  statthaft :  Origenes,  Ermunterungsschrift  zum  Martyrium  46.  —  Celsus  bei  Keim 
8.  10.  70.  124.  «)  Keim  S.  37.  114.  120  ff.  131  ff.    In  einigen  gnostischen 

Kreisen    machte   man   wirklich  Konzessionen.  ')  S.   den   warmherzigen 

Appell  am  Schlüsse  der  Schrift  des  Celsus:  Keim  S.  137  ff. 

LietziTiaiiu,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  I    'J.  10 


146    IX  Hellenismus  und  Chbistentum  :  4  Staat,  Gesellschaft  und  Klrche 

den  Eindruck  und  verletzte  besonders  den  an  die  Ewipfkeit  des  Reiches 
,ylaubtMulen  Könierstolz.  Freilich  hatte  ja  die  philosophische  Proi)aganda  An- 
schauungen verbreitet,  die  der  strengen  Sittlichkeit  der  Christen  nahekamen. 
Aus  den  von  ihr  berührten  Kreisen  vernehmen  wir  den  christlichen  ver- 
wandte Urteile :  Klagen  über  Ungerechtigkeit  der  Gerichte,  Geringschätzung 
von  Aemtern  und  Würden,  die  auch  durch  das  Schwinden  des  alten  Bürger- 
sinnes unter  dem  Druck  des  Despotismus  bedingt  ist,  Abscheu  vor  Schau- 
spielen. Mimen,  Zirkussjjielen  und  vor  den  Ausartungen  der  religiösen  Feste, 
Verwerfung  des  religiösen  Formenwesens,  übeihaupt  scharfe  Kritik  der  For- 
men des  öffentlichen  und  ])rivaten  Lebens'.  In  Kreisen,  wo  solche  An- 
schauungen galten,  war  bei  etwas  genauerer  Bekanntschaft  mit  der  christ- 
lichen Lehre  die  Schroffheit  jener  verbreiteten  Aburteilung  bald  überwunden, 
und  auch  die  zunehmende  Weltförmigkeit  der  Kirche  hat  die  heidnischen  Ur- 
teile etwas  gemildert.  Aber  über  eine  Schranke  kam  man  besonders  schwer 
liinweg.  Die  Berührung  mit  der  philoso})hischen  Sittenpredigt  weckte  auch 
bei  Annen  und  Unwissenden  das  stolze  Gefühl,  Anteil  zu  haben  an  der 
höheren  Bildung,  an  der  geistigen  Aristokratie  (S.  17.  132).  Das  christliche 
Bekenntnis  stiess  herab  in  eine  plebejische  Gemeinschaft-,  in  der  selbst  das 
Bildungsideal  nicht  galt  und  die  dem  barbarischen  Aberglauben  zugänglich 
war.  Denn  die  Gemeinden  der  beiden  ersten  Jahrhunderte  setzten  sich  sehr 
überwiegend  aus  den  niederen  Gesellschaftsschichten  zusammen.  Die  Anbe- 
tung des  Gekreuzigten  schien  für  dies  Niveau  zu  passen,  der  Gegensatz  des 
Auferstehungsglaubens  zum  Unsterblichkeitsglauben  den  Abstand  des  Christen- 
tums von  griechischer  Bildung  zu  offenbaren '^  Leichtgläubigkeit  und  Stolz 
auf  besondere  Offenbarung  ging  liier  mit  Verachtung  von  Vernunft  und  Wissen- 
schaft Hand  in  Hand^;  für  die  Kultur  hiess  es',  haben  Christen  wie  Juden 
nichts  geleistet. 

Dem  Worte  Jesu  .,Entrichtet  dem  Kaiser,  Avas  des  Kaisers  ist  und  Gott 
was  Gottes  ist'-  schreibt  man  eine  zu  weitreichende  Bedeutung  zu,  wenn 
man  darin  den  Grundsatz  reiner  Scheidung  beider  Mächte  ausgesprochen 
findet.  Der  Ton  liegt  auf  der  Ausscheidung  des  Politischen  aus  der  reli- 
giösen Sphäre,  für  die  es  indifferent  ist ;  auf  die  Frage  nach  seiner  positiven 
und  selbständigen  Bedeutung  wdrd  nicht  reflektiert.  Erst  durch  die  Loslösung 
des  Christentums  vom  jüdischen  Boden  und  seinen  Eintritt  in  die  heicbiische 
Welt  wurde  die  Frage  akut  und  forderte  eine  prinzijjielle  Antwort.  Ent- 
scheidend war  die  positive  Schätzung  des  Staates  durch  Paulus  (S.  140),  die 
vorherrschend  geblieben  ist.  Die  freundliche  Beurteilung  der  Staatsgewalt 
tritt  in  den  Schriften  des  Lukas  und  im  vierten  Evangelium  deutlich  hervor. 
I  Petr  wird  die  loyale  Haltung  selbst  in  Zeiten  der  Verfolgung  bis  zur  Pflicht 
der  Fügsamkeit,  auch  wenn  flie  Obrigkeit  Unrecht  tut,  aufrecht  erhalten''. 
Die  Sitte,  für  den  Kaiser  und  für  die  Obrigkeit  im  Gottesdienste  zu  beten, 
ist  für  die  christlichen  Gemeinden  früh  bezeugt''.  Mag  schon  in  den  staats- 
freundlichen Aussagen  schriftstellerische  Berechnung  und  apologetische  Ten- 

')  Wendland,  Beiträge,  besonders  S.  38  ff.  -')  Bigelmair  S.  206.  207, 

Keim  S.  11.  27.  40  ff.  80  ff.  Ebenso  anstössig  ist  dem  Celsus,  dass  die  Botschaft 
gerade   an   die  Sünder   ergeht  (S.  42  ff.)  '')  Keim  S.  20  ff.  29  ff.  65.  89. 

101.  111.  130,  Geffcken  S.  235.  ']  Keim  S.  7.  51.  80.  104;    Lucian,  Leben 

des  Peregrinos  Kap.  13.  ")  Vgl.  Tit  3i  Mart.  Polyk.  lO...  ")  I  Tim 

2i.  o  Polykarp  an  die  Philipper  12  3  I  Clem  60...  61 1  (Knopf  S.  107.  108.  134).  Ueber 
die  entsprechende  jüdische  Sitte  s.  Schürer  I  S.  483.  H  S.  302  ff.  lU  S.  340  ff. ; 
dasselbe  Gebet  im  Isiskult  bei  Apuleius  XI  17 ;  vgl.  Cumonts  grosses  Mithraswerk 
I  S.  281. 


Heidnische  Urteile  über  das  (Christentum.    Kirche  und  Staat  147 


denz  mitspielen,  so  hat  vollends  die  spätere  Ajiolop^etik  mit  geflissentlicher 
Absiclit  die  Loyalität  betont.  Sie  hat  jene  Gnuidsiitze  wiederholt,  ja  sie 
hat  behauptet,  dass  die  Cliristen  die  treuesten  und  besten  Untertanen  seien, 
dass  duich  sie  der  Gesamtzustand  der  Menschheit  gehoben  und  der  Bestand 
des  Reiches  gesichert  sei ;  ja  manche  Apologeten  stellen  Christentum  und 
Römerreich  als  Verbündete  hin  '.  Gewiss  werden  die  Grundsätze  der  Aner- 
kennung des  Staates  und  der  Loyalität,  wie  in  der  literarischen  Vertretung, 
so  auch  in  der  offiziellen  Kirchenleitung  im  Vordergrunde  gestanden  haben. 
Aber  sie  dürfen  uns  nicht  hinwegtäuschen  über  die  Bedeutung  der  entgegen- 
gesetzten, oft  latenten  aber  doch  immer  Avieder  elementar  hervorbrechenden 
Unterströmungen,  die,  vom  Judentum  übernommen,  durch  die  apokalyptischen 
Hoftnungen  lebendig  erhalten  und  durch  die  Konflikte  mit  der  Staatsgewalt 
verschärft  wurden.  Diese  Stimmungen  machen  die  heidnische  Beurteilung 
des  Christentums  verständlicli  und  sind  auch  teilweise  der  Untergrund,  von 
dem  sich  jene  christlichen  Mahnungen  zur  Anerkennung  der  gottgeordneten 
Obrigkeit  abheben.  Wie  sehr  die  sehnsüchtige  Erwartung  der  Ablösung 
des  gegenwärtigen  Aion  durch  den  künftigen  die  irdischen  Güter  und  die 
ganze  Weltordnung  entwerteter,  ist  schon  bemerkt  worden.  Für  den  Gläu- 
bigen hatten  sie  nur  den  Wert  einer  vorübergehenden  Episode.  Betete  man 
für  den  Kaiser,  so  betete  man  doch  auch  um  das  Ende  der  Welt  und  damit 
auch  des  römischen  Weltreiches.  Und  nun  macht  die  junge  Kirche  die  Er- 
fahrung, dass  sie  mit  der  Loslösung  vom  Judentum  auch  den  Schutz  und 
die  Diüdmig  verlor,  die  der  jüdischen  Sekte  zugute  kam,  dass  einer  die 
nationale  Grundlage  verlassenden  Weltreligion  auch  eine  die  Staatsreligion 
negierende  und  jede  Beteiligung  an  ihr  ausschliessende  Propaganda  verwehrt, 
ihr  gegenüber  die  Forderung  der  göttlichen  Verehrung  des  Kaisers  erhoben 
wurde"-.  Die  johanneische  Apokalypse  gibt  die  Antwort  auf  diese  Forderung, 
die  für  das  christliche  Gefühl  dem  Verbot  der  neuen  Religion  gleichkam, 
mid  die  Antwort  ist,  trotz  dem  Verzicht  auf  revolutionären  Widerstand,  die 
Kriegserklärung  gegen  diesen  den  Cäsarenkiüt  fordernden  Staat.  Die  ganze 
Summe  des  leidenschaftlichen  Fanatismus,  den  das  Judentum  in  den  Zeiten 
der  Bedrückung  gesammelt  und  in  den  letzten  Jahrzehnten  vor  der  Zerstö- 
lomg  Jerusalems  zur  höchsten  Glut  gesteigert  hatte,  vei'bindet  sich  bei  dem 
judenchristlichen  Verfasser  mit  den  Eindrücken  der  Gegenwart.  Die  Tempel- 
schändung des  Antiochos  und  des  Kaisers  Gaius  hat  sich  erneuert  und  die 
Schreckensgestalt  Neros  ist  in  Domitian  T\deder  lebendig  geworden.  Das 
römische  Reich  ist  das  Werkzeug  des  Satans,  seine-  Macht  stammt  vom 
Drachen,  und  der  Antichrist  ist  sein  Verbündeter.  Der  Tempel  des  Augustus 
und  der  Roma  in  Pergamon  ist  der  Thron  des  Satans,  der  Kaiserkidt  der 
grösste  Greuel.  Nur  die  Christen  leisten  dem  gotteslästerlichen  Gebote 
der  Anbetung  der  Kaiserbilder  Widerstand,  dem  alle  Völker  der  Erde  sich 
fügen,  mad  in  A\ildem  Jubel  erschallt  der  Triumph  über  Babylons  Fall. 
Zu  so  lodernder  Glut  ist  der  christliche  Fanatismus  gegen  das  Reich  nie 
wieder  entflammt.  Die  apokalyptischen  Visionen  haben  sich  in  der  Kirche 
fortgesetzt,  aber  in  Zeiten  des  Friedens  Avenigstens  tritt  der  Gegensatz 
gegen  das  römische  Reich  zurück.  Aber  es  will  doch  etwas  sagen,  dass 
jene    Apokalypse    unter    die    heiligen    Schriften    der    Christen    aufgenommen 


»)  Geffcken  S.  63.  92.  162.  285.  311.  237  (Gebet),    über   Irenäus   s.   Neumann, 
Hippolyt  S.  54  ff.  -)  Es  ist  eine  feine  Beobachtung  von  Neumann,  Staat 

und  Kirche  S.  13  (vgl.  Knopf  S.  94.  95),  dass  der  Konflikt  des  Christentums  mit 
dem  Kaisertum  nicht  zufällig  zuerst  gerade  in  Asien,  dem  Hauptsitze  des  Cäsaren- 
kults, akut  wird. 

10* 


148    IX  Hkllenismus  und  Christentum:  4  Staat,  Gesellschaft  und  Kirche 

wurde  und  die  Richtlinien  für  die  Zukunftshoflfnun^en  der  Christen  g^ab.  Es 
war  ein  Glück,  dass  daneben  Rom  lo  und  11  Thess  2ti  (S.  140  ')  in  eine  andere 
Richtung  wiesen  und  zu  einer  mildernden  Umtleutung  jener  scharten  Absage 
an  das  Weltreich  nötigten.  Die  Exegese  dieser  Schriftstücke  spiegelt  das 
wechselnde  Verhältnis  der  Kirche  zum  heidnischen  Staate  wieder  ^ 

Die  Forderung  der  Anbetung  des  Kaiserbildes  führte  zum  Konflikte 
des  Christenturas  mit  dem  Staat  und  war  der  Punkt,  in  dem  der  Kampf  mit 
langen  Ruhepausen  sich  immer  wieder  erneuerte.  In  diesem  Streitpunkt 
offenbart  sicli  ein  wesentlicher  Gegensatz  des  Christentums  gegen  die  antiken 
Volksreligionen.  Die  Weigerung  der  Kaiseranbetung  bedeutet  den  Protest 
gegen  die  Gebundenheit  der  antiken  Religion  an  Volk  und  Staat,  die  Tren- 
nung der  Religion  von  der  politischen  Sphäre,  ihre  Zurückführung  in  das 
Heiligtum  der  Seele  und  die  Freiheit  des  Gewissens.  Die  Leidenschaft,  die 
dieser  Kami)f  auf  beiden  Seiten  entfesselt  hat,  kann  nur  ermessen  und  be- 
greifen, wer  sich  klar  macht,  dass  der  von  Jesus  schon  als  natürlich  ange- 
sehenen Selbständigkeit  und  die  anderen  Interessensphären  überragenden 
Bedeutung  des  religiösen  Lebens  auf  heidnischer  Seite  die  ebenso  selbstver- 
ständliche Voraussetzung  der  engsten  Verbindung  des  politischen  und  reli- 
giösen Lebens,  der  Verpflichtung  des  Bürgers  zur  Beteiligung  an  der  staat- 
lichen ReUgion  gegenüberstand.  Die  strenge  Sonderung  von  der  heidnischen 
Religion  und  die  gleichzeitige  Anerkennung  des  heidnischen  Staates,  wie  sie 
im  Christentum  neben  einander  bestanden,  war  für  das  heidnische  beide  Sphären 
verbindende  Gefülü  ein  unvereinbarer  Widerspruch,  die  christliche  LoyaKtät 
erschien  darum  als  Phrase  oder  als  Heuchelei.  Der  Gegensatz  universaler 
und  nationaler  Religion  war  freilich  längst  vorbereitet  und  auch  ausgesprochen"-, 
seit  die  nationalen  Religionen  sich  vielfach  von  dem  ursprünglichen  Boden 
gelöst,  die  Grenzen  des  Volkstumes  überschritten  hatten  und  in  ihrer  Zer- 
setzung in  jenen  Prozess  der  Ausgleichung,  Um-  und  Neubildung  der  Reli- 
gionen eingetreten  waren,  der  dem  religiösen  Individualismus  gegenüber  dem 
Grundsatze  cuiiis  regio ,  eins  religio  sein  Recht  verschaffen  sollte.  Im 
Grunde  hatten  die  aus  dem  Osten  vordringenden  Religionen  aUe  Pionierarbeit 
für  das  Christentum  getan.  Aber  es  ist  das  Verdienst  des  Christentums,  den 
Gegensatz  in  seiner  ganzen  Schärfe  zum  klaren  Ausdruck  gebracht  und  mit 
unerbittlicher  Strenge  und  Aufojjferung  durchgekäm})ft  zu  haben. 

Die  christlichen  Forderungen  der  Duldung  der  neuen  Religion,  ja  ilirer 
Anerkennung  als  staatserhaltender  Macht,  haben  doch  ihr  inneres  Recht,  so 
schwach  namentlich  ihre  juristische  Begründung  ist  und  so  wenig  im  Streite 
der  Parteien  die  eigentlich  entscheidenden  Gründe  zu  voller  Klarheit  ent- 
wdckelt  werden  konnten.  Der  Kampf  zwischen  Staat  und  Kirche  war  kein 
innerlich  notwendiger  und  mit  der  fortschreitenden  Entwickelung  beider 
Mächte  war  er  immer  weniger  geboten.  Der  Bund  zwischen  Staat  und  Kirche, 
den  Konstantin  geschlossen  hat,  beweist  es,  weil  er  kein  aus  willkürlicher 
Laune  hervorgegangener  Akt,  sondern  das  natürliche  Ergebnis  und  die  An- 
erkennung des  voraufgehenden  Geschichtsprozesses  war.  Die  gegen  das 
Christentum  gerichteten  Repressionen  gründeten  sich  auf  die  Voraussetzung, 
dass  die  Religion  an  die  Nation  gebunden,  Ausdruck  der  Staatseinheit  und 
Angelegenheit  des  öffentlichen  Leloens  sei.  Diese  Voraussetzung  war  recht- 
lich begründet,  der  Kampf  gegen  jede  die  Staatsreligion  negierende  Propa- 
ganda war  die  natürliche  Notwehr  des  nationalen  Gefühles.  Aber  diese 
Voraussetzung  war  durch  die  Macht  der  Tatsachen  überholt  und  nichtig  ge- 


')  Neumann,  Hippolytus.  -)  Ed.  Meyer,  Gesch.  des  Altertums  III  1, 

S.  1G7  ff.,  ßousset  S.  60  ff. 


Xoutlikt  mit  dem  Kaisertuui.    Christentum  als  Reichsreligion  149 


worden.  Die  gegen  das  Christentum  angewandten  Massregeln  sind  nur  ein 
Glied  in  der  Kette  der  Akte,  die  das  in  Wahrheit  untergrabene  National- 
get'ühl  zu  künstlichem  Leben  erwecken  wollen,  und  die  Ztifälligkeit  und 
Inkonsequenz  des  Vorgehens,  seine  Abhängigkeit  von  den  gelegentlichen  Aus- 
brüchen der  christenfeindlichen  Volksstimmung,  der  rasche  Wechsel,  in  dem 
seit  Diokletian  von  dem  konsequenten  Kampfe  gegen  die  immer  bedrohlicher 
die  Weit  umspannende  Organisation  der  Kirche  zur  Duldung  übergegangen 
wird,  verrät  das  Gefühl  der  Unsicherheit  und  des  Zweifels  an  dem  Recht 
und  der  Wirksamkeit  des  Verfahrens.  Die  Ausdehnung  des  Reiches  und  die 
JMischung  der  Völker,  die  Hellenisierung  Roms  und  das  stetige  Vordringen 
lies  Orients,  die  Ausbreitung  des  Bürgerrechts  und  sein  Aufgehen  in  die 
Reichsangehörigkeit  hatten  dem  Staate  seinen  nationalen  Charakter  genom- 
men und  eine  Mischkultur  geschaifen,  in  der  das  echt  Römische  gar  nicht 
mehr  überwog.  Die  Reichsorganisation  Dioldetians  brachte  dies  Ergebnis 
einer  dreihundertjährigen  Entwickelung  ])olitisch  zum  klaren  Ausdruck;  aber 
(.lie  Reügionsfrage  wurde  durch  den  vmglückUchen  Versuch  seiner  reaktionären 
die  Kirche  geAvaltsam  imterdrückenden  PoKtik  nur  dringender.  Die  nationale 
Religion,  schon  in  repubbkanischer  Zeit  das  Produkt  vieler  Rezeptionen  des 
Fremden  mid  Kompromisse,  hatte  eine  analoge  Entwickelung  durchgemacht, 
(üe  deren  völUge  Zersetzung  immer  klarer  offenbarte  und  eine  religiöse  Neu- 
ordnung forderte.  „Das  Christentum  hat  den  römischen  Glauben  nicht  zer- 
stört^ sondern  ersetzt'-  (Mommsen,  Hist.  Z.  S.  418).  Der  Staat,  der  selbst 
den  politischen  Partikularismus  vermchtet  hatte,  durfte  seine  Augen  nicht 
vor  der  Tatsache  verschliessen,  dass  die  Invasion  der  orientalischen  Religionen 
dasselbe  Werk  auf  religiösem  Gebiete  vollbracht  hatte.  Der  Kaiserkiüt  hatte 
eine  neue  Grundlage  der  ReHgionseinheit  bilden  sollen ;  aber  er  selbst  war 
schon  ein  fremdes,  orientalisch-hellenistisches  Element.  Rom  war  als  der 
Mittelpmikt  des  Weltreiches  die  kosmopolitische  Metropole  aller  Götter  und 
Kulte  geworden.  Der  Staatskult  war  zu  leeren  Formalitäten  herabgesunken, 
und  die  tiefere  Entwickelung  des  Innenlebens  hatte  die  Reügion  längst  zu 
einer  Sache  freier  Wahl  und  individueller  Selbstbestimmung  gemacht.  Die 
Vermischimg  der  Völker  hatte  zur  Ausgleichung  der  Religionen  geführt.  Die 
Ueberzeugung,  dass  allen  Volksreligionen  in  letzter  Linie  eine  wahre  Reli- 
gion zugrmide  liege,  hatte  sich  seit  Alexander  verbreitet,  zur  Abstraktion 
von  den  Besonderheiten  und  zur  Reduktion  auf  einfachere  Gebilde,  ja  auf 
eine  gemeinsame  Grundlage  geführt.  Die  pliilosophische  Reflexion  und  Theo- 
logie hatte  diesen  Prozess  der  Ausgleichung,  Vereinfachung  und  Vergeistigung 
der  Religionen  gefördert  und  die  monotheistischen  Tendenzen  verstärkt. 
Wie  die  Einheit  des  Weltreiches  dem  Gedanken  des  einheitlichen  Menschen- 
geschlechtes Halt  und  Stütze  gab,  so  schien  sie  als  Korrelat  die  Einheit  der 
Reichsreligion  zu  fordern.  Nicht  nur  praktische  Versuche,  wde  sie  besonders 
mit  dem  Sonnenkiüt  gemacht  wurden,  sondern  auch  kühne  Konstruktionen 
der  Spekulation,  wie  sie  von  Varro  bis  zum  Neuplatonismus  unternommen 
wurden,  bewegten  sich  in  der  Richtung.  ..Wäre  es  möglich,  politisch-zivili- 
satorische Fragen  ohne  Erinnerungen  und  ohne  Leidenschaften  zu  behandeln, 
so  hätte  man  es  sich  eingestehen  müssen,  dass  das  römische  Reich,  ^\ie  es 
war,  mit  dem  Christenglauben  sich  wohl  vertrug  und  dieser  eigentlich  nur 
auf  dem  religiösen  Gebiet  zum  Ausdruck  brachte,  was  politisch  sich  bereits 
vollzogen  hatte"  (Mommsen  S.  419).  In  der  Tat,  welche  Religion  wäre  in 
gleichem  Masse  berufen  gewesen,  die  Tendenzen  der  früheren  Entwickelungs- 
linien  in  sich  zu  verbinden  und  die  religiöse  Einigung  der  Völker  herbeizu- 
führen, wie  die  christliche  ?  Dass  sie  die  monotheistischen  Triebe  der  Zeit 
befriedigen  konnte,  beweist  die  Tatsache,    dass  sie    sich  früh   mit    dem  pro- 


150        I^  Hellenismus  und  Christentum  :  5  Christliche  Ai^ologetik 

fanen  Monotheismus  verbündet  hat  und  noch  in  Konstantins  Relij^ion  die 
seltsamste  Mischung  mit  ihm  eingegangen  ist ;  sie  füllte  aber  die  monotheisti- 
schen Formen  der  Zeit  mit  einem  neuen  lebensvollen  Inhalt  aus  dem  frischen 
Quell  unmittelbarster  religiöser  Erfahrung.  Sie  erschien  auf  der  Höhe  ihrer 
spekulativen  Ausbildung  als  Philosophie,  und  doch  befriedigte  sie  zugleich 
in  ihren  Sakramenten  und  in  den  Niederungen  des  in  ihr  sich  immer  breiter 
etablierenden  antiken  Volksglaubens  alle  Bedürfnisse  dei'  zeitgenössischen 
Mystik  und  Superstition.  Sie  kam  mit  dem  Schatze  ihrer  geoftenbarten 
Schriften  dem  Autoritätsglauben  der  Zeit  entgegen  und  bot  sichere  Garan- 
tieen  der  Gewissheit  ihrer  Verheissungen.  Und  vor  allem,  sie  stellte  in  den 
schlichten  Sätzen  des  Evangeliums  Jesu  die  Frömmigkeit  in  einer  das  natür- 
liche Gefülil  gewinnenden  Einfachheit  und  Reinheit  dar  und  entging  damit  in 
ihrem  Kerne  der  Gefahr,  der  alle  künstlichen  Religionschö})fungen  der  Zeit 
erlegen  sind,  der  erdrückenden  Belastung  mit  historischen  Traditionen  und 
der  alle  universalen  Tendenzen  durchkreuzenden  antiquarischen  Richtung. 
Aller  Trübungen  und  Entstellungen  ungeachtet,  hatte  sie  mutig  die  Konse- 
quenzen ihres  Universalismus  gezogen:  Sie  hatte  die  jüdischen  Fesseln  abge- 
streift, sie  hatte  den  Kampf  mit  allen  Göttern  aufgenommen,  sie  hatte  den 
Gedanken  der  einen  Menschheit  im  christlichen  Gemeinschaftsleben  realisiert, 
sie  hatte  eine  wirklich  universale  den  Weltkreis  umfassende  Organisation  der 
Kirche  geschaffen,  die  den  verfallenden  Staat  nach  den  vergeblichen  Versuchen, 
sie  zu  unterdrücken,  den  Bund  mit  der  stärkeren  Genossin,  der  Kirche,  zu 
suchen  zwang  —  eine  Organisation,  die,  durch  staatliche  Macht  ausgestaltet, 
den  Untergang  des  Staates  überlebt  und  den  Ansturm  der  germanischen 
Völker  ausgehalten  hat,  die  in  diese  Organisation  liineinwuchsen  und  durch 
sie  mit  dem  Christentum  auch  im  Reichsgedanken,  im  geistigen  und  religiösen 
Besitz  eine  Erbschaft  antiker  Kulturentwickelung  übernahmen. 


5  Christliche  Apologetik 

Geffcken,  Zwei  griechische  Apologeten,  Leipzig  IDüT,  zeichnet  die  Grund- 
linien einer  Geschichte  der  apologetischen  Literatur,  behandelt  ihre  heidnischen 
und  jüdisclien  Vorläufer  und  gibt  eine  kritische  Ausgabe  der  Apologieen  des  Ari- 
stides  und  des  Athenagoras  mit  ausführlichem  Kommentar.  Seine  sorgfältigen 
Register,  die  die  Uebersicht  über  die  Traditionsmassen  erleichtern,  gestatten  mir 
in  den  Zitaten  der  Quellen  und  der  neueren  Literatur  sparsam  zu  sein.  —  von 
DoBSCHtJTZ,  Das  Kerjgma  Petri,  Texte  und  Unt.  zur  Gesch.  der  altchristlichen 
Lit.  XI  1.  Leipzig  1894.  Die  Fragmente  des  Kerygma  sind  auch  in  Lietzmanns 
Kleinen  Texten  Nr.  3  und  in  Preuschens  Antilegomena-  S.  88  ff.  ediert.  —  Harnack, 
Dogmengeschichte  L'  S.  4.55  .507,  Loofs  S.  114  ff.,  auf  die  ich  besonders  für  die  dog- 
mengeschichtliche Bedeutung  der  Apologeten  verweise.  —  Ueber  die  jüdische  Apo- 
logetik s.  Wendland,  Jahrb.  Suppl.  XXn  S.  703—715  und  Bousset  a.  a.  O.  347  ff. 

So  paradox  es  klingt,  die  Geschichte  der  christlichen  Apologetik  ist 
älter  als  das  Christentum  selbst.  Denn  ihre  Genealogie  führt  zurück  einer- 
seits auf  die  Bekämpfung  des  Polytheismus  durch  die  Proi)heten,  andererseits 
auf  die  mit  Xenophanes  beginnende,  in  der  athenischen  Aufklärung  und 
Philosophie  schon  einen  Höhepunkt  erreichende  heidnische  Kritik  der  Volks- 
religionen. Diese  Kritik  hatte,  wie  S.  57.  61  ff.  gezeigt  ist,  in  hellenistischer 
Zeit  in  Epikurs  Lehre  und  besonders  in  der  akademischen  Skepsis  eine  syste- 
matische Durchbildung  erfahren,  die  in  wirkungsvollen  Argumentationsreihen 
uUes,  was  gegen  den  Volksglauben  sich  vorbringen  liess,  ins  Feld  führt;  sie 
hatte    auch     die    stoische    Uradeutung    der   Volksreligion    stark     beeinflusst. 


Vorläufer  der  christliclien  Apologetik  151 

Als  (las  Jiuleiituin.  besonders  in  der  Di:is|)orM,  mit  der  griechischen  Kultur 
in  Berührung-  kaui  und  sich  mit  ihr  auseinanderzusetzen  anfing-,  begann  es 
aucli  eine  gewisse  Wahlverwandtschaft  mit  der  Philosophie  auf  manchen 
Gebieten  zu  entdecken.  Die  strenge  Ethik  der  8toa,  der  monotheistische 
Zug  ihrer  Theologie,  die  auf  eine  Läuterung  der  Frömmigkeit  gerichtete 
})hilosophische  Propaganda  haben  auch  bibelgläubige  Juden  angezogen.  Die 
universaien  Gedanken  der  Propheten  und  Psalmen  flössen  jetzt  vielfach  zu- 
sammen mit  der  verwanilten  Richtung  der  philosophischen  Aufklärung.  Die 
beiden  Ströme  der  von  tlen  Pro])heten  '  ausgehenden  jüdischen  und  der  heid- 
nischen Polemik  gegen  den  Polytheismus  iiiessen  jetzt  in  ein  gemeinsames 
Bett  zusammen.  Diese  beiden  Richtungen,  die  in  Motiven  und  einzelnen 
Gedanken  sich  zum  Teil  auffallend  berühren,  verschlingen  und  kreuzen  sich 
in  einer  Weise,  dass  es  oft  schwierig  ist,  die  Grenzen  jüdischer  Tradition 
und  des  Einflusses  heidnischer  Religionskritik  sicher  abzustecken.  Die  jü- 
dische Apologetik  entwickelt  sich  zu  einer  systematischen  Beurteilung  der 
verscliiedenen  Formen  des  Heidentums,  zu  einem  geschlossenen  ])lanmässigen 
Angriff  gegen  den  Polytheismus,  der  gelegentlich  durch  die  packenden 
Aphorismen  alter  Propheten  und  Weisen  und  durch  konkrete  Bilder  aus 
dem  religiösen  Leben  der  Heiden  belebt  wird.  Im  Buche  der  Weisheit, 
dem  in  Buch  der  Sibyllinen,  bei  Philo  und  Josephus  sehen  wür  eine  Kon- 
tinuität der  apologetischen  Tradition  in  immer  festeren  Formen  sich  ausbilden, 
hellenistische  Elemente  aber  auch  in  die  palästinensische  Literatur  eindringen. 
Mit  einer  Mässigung,  die  dem  Paulus  fernliegt,  werden  verschiedene  Stufen 
des  Polytheismus  nach  ihrem  W^erte  unterschieden,  als  die  oberste  der  Dienst 
der  Gestirne  und  der  Elemente,  dem  ja  schon  die  Philosophie  eine  beson- 
dere Weihe  gegeben,  den  aber  Karneades  bestritten  hatte,  dann  der  Dienst 
der  toten  Bilder,  die  von  Menschenhand  gefertigt  sind,  endlich,  auch  dies 
in  wesentlicher  Uebereinstimmung  mit  dem  antiken  Urteil,  der  ägyptische 
Tierdienst  als  die  verwerflichste  und  niedrigste  Form.  Wie  bei  Paidus  schwankt 
die  Auffassung  der  Götter  hin  und  her  zwischen  ihrer  Vorstellung  als  toter 
Bilder  und  ihrer  Auffassung  als  Dämonen,  d.  h.  realer  Mächte.  Das  Recht 
der  allegorischen  Erklärung  w'ird  von  der  jüdischen  Apologetik,  wie  vor- 
her von  den  Epikureern  und  Skeptikern,  der  Stoa  bestritten,  freilich  von 
Philo  für  das  alte  Testament  als  selbstverständlich  in  Anspruch  genommen 
und  zur  Abw-ehr  der  gegen  die  biblischen  Erzählungen  von  heidnischer  Seite 
gerichteten  Angriffe  gebraucht.  Die  jüdische  Kritik  an  den  Mythen  und 
ihren  unwürdigen  Vorstellungen  vom  Wesen  der  Göttei"  wiederholt  Gedanken 
und  Belege,  in  denen  sich  alle  Philosophenschulen  ziemlich  einig  waren. 
Neben  die  Polemik  tritt  der  kräftige  Hinweis  auf  die  Wahrheit  der  eigenen 
Religion  und  die  Propaganda  (S.   114). 

Die  christliche  Apologetik  hat,  trotzdem  sie  ja  mit  doppelter  Front 
gegen  Juden  und  Heiden  zu  kämpfen  hatte,  doch,  soweit  sie  sich  ge- 
gen das  Heidentum  richtet,  zum  grossen  Teil  die  Traditionen  imd  Formen 
der  jüdischen  übernommen,  die  Kontinuität  der  Entwickelung  fortgesetzt. 
Wir  sehen  das  Christentum  sofort  mit  seinem  Eintritt  in  die  Welt  in  diese 
Spuren  treten.  Wie  weit  in  der  Polemik  des  Paulus,  der  das  Buch  der  Weis- 
heit gekannt  hat,  direkter  oder  durch  das  Judentum  vermittelter  hellenisti- 
scher Einfluss  anzunehmen  ist,  lässt  sich  im  einzelnen  nicht  sicher  ausmachen 
(S.  141).  Die  Areopagrede  und  das  Kerygma  des  Petrus  zeigen  dann  schon 
Fortschritte  der  Annäherung  an  den  Hellenismus.  Zur  weiteren  Bereiche- 
rung des  von    den  Juden    übernommenen  Erbes    trug    im  II  .lahrh.  der    leb- 

»  S.  z.  B.  Ps.  115,  Jer.  10,  Jes.  4U  lu  tt.,  4I7,  44i..— l-o. 


152        1^  Hellenismus  und  Chbistentum:  5  Chmstliche  Apologetik 


liafte  Kontakt  mit  der  Philosophie  bei.  In  tortgesetzten  literarischen  und 
mündlichen  Debatten  erhielt  sich,  wie  z.  B.  üinomaos,  Sextus  und  Lucian 
lehren,  die  philosophische  Polemik  gegen  den  Polytheismus  am  Leben,  und 
der  gebildete  Christ  brachte  schon  aus  seiner  heidnischen  Vergangenheit 
WaÖ'en  zur  Bekämpfung  des  Heidentums  mit.  So  wird  denn  das  Erbe  der 
jüdischen  Apologetik  ergänzt  und  vervollständigt  durch  neue  Eintragungen 
aus  philosophischen  Quellen.  Der  Kampf  heidnischer  Aufklärung  oder  ge- 
läuterter Frömmigkeit  gegen  den  Volksglauben  ward  zum  Teil  vom  Chnsten- 
tum  mit  nur  wenig  veränderter  Haltung  fortgeführt,  und  die  Abhängigkeit 
mancher  Apologeten  von  der  religiösen  Aufklärung  des  Heidentums^  ist  oft 
grösser,  als  sie  selbst  sich  bewusst  sind  oder  wahr  haben  wollen.  Quellen- 
untersuchungen, die  auf  einen  bestimmten  Namen  auslaufen,  sind  hier  frei- 
lich aussichtslos,  weil  die  philosophische  Propaganda  durch  das  lebendige 
Wort  wirkt  oder  sich  in  Schichten  der  Literatur  bewegt,  die  uns  nur  durch 
einige  zufällige  erhaltene  Vertreter  bekannt  sind.  Wir  müssen  uns  darauf 
beschränken,  die  Kontinuität  der  Gedanken  und  Formen  der  christlichen  Apo- 
logetik festzustellen  und  den  Anteil  zu  bestimmen,  den  die  einzelnen  Philo- 
sophenschulen dazu  beigesteuert  haben.  Und  selbst  die  Ermittelung  des 
letzten  Ursprimges  einzelner  Gedanken  unterliegt  mitimter  grossen  Schwie- 
rigkeiten, da  die  Kritik  der  verschiedenen  Schulen  schon  aus  der  älteren 
Aufldärung  gemeinsame  Motive  übernommen  und  der  spätere  Eklektizismus 
(iie  Eigenart  der  Schulen  auch  auf  diesem  Gebiete  ver^viscllt  und  vielfach 
ausgeglichen  hatte. 

Wir  richten  zuerst  die  Aufmerksamkeit  auf  den  festen  Traditionsbe- 
stand und  den  Durchschiiittsty]3us  der  Apologie,  wie  sie  sich  in  der  Pole- 
mik gegen  den  Polytheismus  darstellt.  Aristides  beginnt  mit  dem  stoisch- 
platonischen Gottesbegriif,  der  durch  eine  frühzeitig  festgewordene  Reihe 
negativer  Attribute  bestimmt  wird.  Die  Polemik  gegen  den  Polytheismus 
ist  dreiteilig  ^  Sie  richtet  sich  zuerst  in  breiter  und  schematischer  Aus- 
fühnmg  jedes  einzelnen  Gliedes  gegen  die  Verehrung  der  Elemente,  der 
Sonne,  des  Mondes  und  der  Gestirne,  sowie  ihrer  Abbilder,  durch  die  Chal- 
däer.  Im  zweiten  Teil,  der  dem  griecliischen  Glauben  gilt,  werden  Leiden 
und  Laster  der  Götter  erst  im  allgemeinen  aufgezählt,  dann  die  einzelnen  Götter 
behandelt.  Der  dritte  Teil  bekämpft  den  ägyptischen  Tierdienst  und  die  unwürdi- 
gen Züge  des  Osirismythos.  Dass  die  Götter  den  Menschen  ein  schlechtes  sitt- 
liches Vorbild  geben,  wird  wiederholt  betont.  Nach  einer  etwas  konfusen 
Invektive  gegen  Dichter  und  Philosophen  ^\drd  im  zweiten  Haujitteil  das 
Verhältnis  zum  .Judentum  gezeichnet.  Sein  Gottesbegriff  und  seine  Menschen- 
liebe findet  Anerkennung ;  aber  sein  Gottesdienst  gilt  doch  in  Wahrheit  den 
Engeln,  indem  die  Juden  Sabbathe,  Neumonde,  Passah,  grosses  Fasten  (des 
Versöhnungstages),  Fasten,  Beschneidung,  Reinheit  der  Speisen  beobachten. 
Der  Sinn  der  Ausfühnmg  scheint  zu  sein,  dass  der  rituale  Charakter  der 
jüdischen  Religion  sie  dem  Heidentum  annähere  und  auch  in  der  ausgebil- 
deten Engellehre  ihre  Abirrung  vom  reinen  Monotheismus  sich  offenbare. 
Die  Verbindung  beider  Momente  und  die  so  geschaffene  Beziehung  des  jü- 
dischen Kultes  auf  die  Engel  ist  Avillkürlich.  Den  dritten  Hauptteil  bildet 
die  Darstellung  des  neuen  christlichen  Glaubens  und  Geisteslebens. 

'  Es  liegt  dieser  Dreiteilunji  das  richtige  Bewusstseiu  ziigTunde ,  dass  der 
Glaube  der  Chaldäer,  als  der  wichtigsten  Repräsentanten  des  Orients,  und  der 
AegjT)ter  für  die  Zeit  eine  besondere  Bedeutung  hat.  Die  Behandliuig  der  chal- 
däischen  Religion  zeigt  gute,  aber  stark  getrübte  Kunde,  u.  a.  Bekanntschaft  mit 
dem  Mythos  vom  Urmenschen  (Geffcken  S.  59). 


Aristides.    Kerygma.    Brief  an  Diogiiet  153 


Die  Reste  des  Aristides  zeitlich  nahe  stehenden  etwas  älteren  Kerygma 
des  Petrus  zeigen,  dass  der  Apologet  im  wesentlichen  ein  fertiges  Schema 
übernommen  hat.  Beide  Schriften  operieren  mit  demselben  traditionellen 
Gedankenmaterial  —  nur  die  Figuren  werden  etwas  andei'S  gesetzt  —  und 
berühren  sich  oft  wörtlich,  ohne  dass  doch  ein  Verhältnis  der  Abhängig- 
keit, wahrscheinlich  wäre.  Auch  in  der  Predigt  des  Petrus  findet  sich  jene 
fast  stereotype  Formel  der  göttlichen  Attribute  (Fr.  II  von  Dobschütz).  In 
der  Polemik  gegen  den  Götzendienst  (Fr.  III)  wird  dann  die  griechische 
und  ägyptische  Form,  Verehrung  der  aus  totem  Stoff  gefertigten  Götzen- 
bilder imd  Verehrung  der  Tiere,  aufs  engste  verbunden  und  seltsamerweise 
beide  den  Griechen  zugeschrieben.  Wir  sehen,  wie  verworren  und  unklar 
die  Vorstellungen  von  dem  Glauben  sind,  der  bekämpft  wird;  sie  sind  dem 
Autor  angeflogen  aus  Lektüre  von  Traktaten,  die  selbst  schon  eine  stark 
getrübte  Tradition  wiedergaben  oder  von  ihm  nur  hall)  verstanden  sind.  Es 
folgt  die  stark  an  Aristides  anklingende  Kritik  der  Frömmigkeit  der  Juden 
(Fr.  IV),  .,die  den  Engeln  und  den  Erzengeln  dienen,  dem  Monat  und  dem 
Monde;  und  wenn  der  Mond  nicht  erschienen,  feiern  sie  nicht  üiren  ersten 
Sabbath  nach  dem  Neumond  noch  Passah  noch  das  (Laubhütten )-Fest  noch 
den  grossen  Versöhnungstag'-.  Wir  sehen,  wie  sich  der  Verfasser  die  schon 
von  Paulus  (Gal.  4;»  vgl.  3  ivi)  behauptete  Knechtungder  Juden  unter  die  GTOLveCa 
vorstellte  ^  Hier  wird  neben  dem  Engelkult  eine  Art  Gestirn  dienst  den 
Juden  schvddgegeben,  ihr  Irrtum  und  ihre  Schuld  aber  nicht  in  ihrem  Kul- 
tus überhaupt,  sondern  in  der  zeitlichen  Bestimmung  der  Feste  nach  der 
Beobachtung  der  Gestirne  gesucht,  offenbar  im  Anschluss  an  Gal.  4  o  '^. 
Dem  heidnischen  imd  jüdischen  Kultus  wdrd  auch  hier  das  Christentum  als 
die  allein  wahre  Religion  gegenübergestellt. 

Auch  der  Brief  an  Diognet  ^,  der  wohl  erst  dem  III  Jahrhundert  an- 
gehört, zeigt  eine  ähnliche  Anlage.  Auch  hier  eine  lange  Aufzählung  der 
Stoffe,  aus  denen  die  Götter  gefertigt  werden,  mit  manchen  beliebten  Ge- 
meinplätzen z.  B.  über  die  Herstellung  von  Götterbildern  und  gemeinem  Gerät 
aus  gleichem  Stoffe,  über  die  Verwahrung  der  Bilder  gegen  Diebstahl.  Der 
jüdische  Monotheismus  ^ird  gebilligt,  aber  die  Art  des  jüdischen  Kultes  der 
heidnischen  ähnlich  gefunden.  Es  ist  eine  Torheit,  dem  bedürfnislosen  Gott 
Opfer  darzubringen  ^.     Ebenso    wird    die    ganze  jüdische  Ritualreligion,    die 


1)  v.  Dobschütz  S.  35  ff.,  der  die  Gleichstellung  der  Juden  und  Heiden  mit  andern 
Beispielen  belegt,  Diels  Elementum  S.  50  ff.  Die  radikalere  Verurteilung  des  Juden- 
tums (Gal.,  Kerygma,  Arist.,  Diognetbrief)  spielt  bei  den  Gnostikern  noch  eine  grosse 
Rolle,  in  der  Kirche  ist  sie  früh  aufgegeben.  In  Justins  Dialog  wirkt  sie  nirgends  nach ; 
hier  dreht  sich  der  Streit  wesentlich  um  die  rechte  Auslegung  und  Beziehung  der 
Schriftstellen.  Justin  selbst  bezeugt  aber  noch  K.  47  eine  strengere  Beurteilung 
des  Judaismus,  die  von  ähnlichen  Gesichtspunkten  bestimmt  gewesen  sein  mag. 
-')  Dass  es  im  Grunde  ein  Widerspruch  ist,  dass  derselbe  Paidus,  der  in  seinen 
Gemeinden  die  jüdische  Woche  eingeführt  hat,  hier  den  Juden  die  Beobachtung 
der  Zeiten  vorwirft,  hebt  Schürer,  Zeitschr.  für  ueutest.  Wiss.  VI  S.  42  hervor. 
Ebenso  auffallend  ist,  was  Justin  Dial.  K.  29  über  den  Sabbath  sagt.  ^)  Wi- 

lamowitz'  Lesebuch  Vm  3.  *)  Darin  stimmt  der  jüdische  Hellenismus  (Zeug- 

nisse bei  P.  Krüger  (o.  S.  109  *)  S.  28),  die  philosophische  Aufklärung,  das  Clu-istentum 
eigentlich  übereiu;  und  die  Polemik  gegen  die  jüdischen  Opfer  ist  besonders  an- 
tiquiert in  einer  Zeit,  wo  die  Juden  gar  nicht  mehr  in  der  Lage  waren,  ihren 
Opferkult  auszuüben.  —  Die  Akten  des  Apollonios  i;  16  ff.  (Knopf,  Ausgewählte 
Märtyrerakten  S.  39)  geben  das  etwas  abgewandelte  Schema:  Vergötterung  des  toten 
Stoffes,  der  Pflanzen,  der  Tiere,  der  Menschen,  aber  dieselben  Gedanken. 


154        i^  Hellenismus  und  Christentum:  5  Christliche  Apologetik 

Unterscliei(lun<>-  dev  »S])eisen,  die  ängstliclu"  Sabbathbeoitchtung-,  die  Wert- 
sciiätzung  der  Besclmeidung,  die  Beobachtung  der  Zeiten  als  läclierlich  be- 
zeichnet. Auf  dieser  Folie  werden  dann  die  Christen  als  Träger  eines  neuen 
geistigen  Lebens  geschildert,  durch  das  heidnischer  Polytheismus  und  jüdische 
„Deisidämonie"   überwunden  ist. 

Damit  sind  bereits  die  Grundlinien,  auf  denen  sich  diese  Literaturgat- 
tung bewegt,  gezeichnet.  Dieselben  Motive  werden  auch  sonst  wiederholt; 
sie  werden  bald  kurz  angedeutet,  bald  breiter  und  freier  ausgeführt:  Alte 
dialektische  Argumente  gegen  den  Polytheismus,  bei  Athenagoras  z.  B. 
aus  guter  skeptischer  Quelle  geschöpft.  Aufzählung  der  Laster,  Leiden- 
schaften, Schwächen,  Leiden,  aller  eines  Gottes  unwürdigen  Züge  der  heid- 
nischen Mythologie  ^  und  Bestreitung  des  Rechtes  allegorischer  Auslegung. 
Der  Nachweis,  dass  gerade  die  wegen  ihrer  tieferen  Gotteserkenntnis  ge- 
suchten Mysterien  die  sittlich  abstossendsten  Göttergeschichten  erzählen. 
Daneben  die  rationalistische  Theorie  von  den  zur  Göttlichkeit  erhobenen 
Menschen.  Der  Gegensatz  christlicher  Moral  und  heidnischer  Unsittlichkeit 
\%-ird  gezeichnet,  oft  zum  Zwecke  des  Nachweises,  dass  die  den  Christen 
schuldgegebenen  Frevel,  mit  der  christlichen  Lehre  und  dem  christlichen 
Leben  unverträglich,  gerade  auf  heidnischem  Boden  wachsen  und  durch  das 
Vorbild  der  heidnischen  Götter  gerechtfertigt  scheinen.  Zeigt  schon  die 
christliche  Sittenpredigt  formale  und  sacliliche  Berührungen  mit  der  heid- 
nischen Diatribe,  so  wird  geflissentlich  die  Uebereinstimmung  oder  Aelm- 
lichkeit  der  Philosophie  mit  der  christlichen  Lehre  im  Monotheismus,  in  den 
Vorstellungen  von  der  Schöpfung,  vom  Weltbrande,  Weltgericht,  Unsterb- 
lichkeit hervorgehoben.  Freilich  müssen  die  Zeugnisse,  auf  die  man  sich 
beruft,  oft  gepresst  oder  willkürlich  gedeutet  werden,  um  nutzbar  zu  sein; 
absichtlich  oder  unwillkürlich  werden  sie  öfter  dem  Zwecke  konformer  ge- 
staltet. Jüdische  und  christliche  Fälschungen  bekräftigen  die  Harmonie  mit 
den  griechischen  Dichtern  und  Denkern  -.  Und  mit  der  Berufung  auf  die 
Zeugnisse  der  Philosophen  geht  ihre  stillschweigende  Benutzung  Hand  in 
Hand.  Der  christliche  Gottesglaube  nimmt  stoisch-platonische  Farben  ■'  an, 
in  den  alttestamentlichen  Schöpfimgsgedanken  As-ird  die  stoische  Vorsehungs- 
lehre und  Theodicee  '  eingetragen  (der  Anfang  schon  I  Clem.  20.  38).  Und  den- 


')  Sehr  wirkungsvoll  werden  öfter  die  Strafgesetze  aufgezählt,  gegen  die  die 
Götter  sich  vergangen  haben ;  Geflfcken  S.  80.  273.  286.  —  Polemik  gegen  Homer,  dem 
seine  VeriiTungen  vorgerechnet  werden,  z.  B.  bei  Minucius  Felix  K.  23,  Pseudo-Justin 
Oratio  ad  Graecos  K.  1.  Cohort.  K.  2.  Die  älteren  Vorlagen  s.  Geffcken  S.  XVHI 
Helm  (0.  S.  39)  S.  42.  -')  Die  enge  Verbindung  von  Philosophen  und  Dichtern 

entspricht  dem  allgemeinen  Bewusstsein  der  Zeit,  o.  S.  98,  Geffcken  S.  77.  171. 
3)  Stoischer  und  platonischer  Gottesbegriff  Avaren  nicht  mehr  scharf  geschieden 
(Geffcken  S.  35  ff'.  170),  AAie  vielfach  angenommen  Avird.  Innnanenz  oder  Tran- 
szendenz sind  nicht  mehr  an  die  Stoa  oder  an  die  Akademie  gebunden.  Der  Stoiker 
Boethos  (Zeller  III  1  S.  5.54.  .5.55),  die  Schrift  llsol  -/.öaiioy  (Capelle  Neue  Jahrb.  XV 
S.  .529),  die  Betonung  der  ethisch-religiösen  Seite  der  Gottesidee  in  der  Stoa  seit 
Poseidonios,  die  zur  persönlichen  Fassung  drängt  und  den  Pantheismus  zurück- 
treten lässt  (Seneca,  Epiktet),  zeigt  die  Annäherung  und  den  Austausch  der  Schulen 
und  bedeutet  zugleich  eine  Bereicherung  mit  Stimmungen,  die  den  christlichen 
verAvandt  sind.  *)  Eine  gute  Uebersicht  über  die  stoische  Theodicee  gibt 

jetzt  Capelle,  Arch.  für  Gesch.  der  Philos.  XX  S.  176  ff.  Ihr  Einfluss  auf  die  christ- 
Uche  Literatur  (Geffcken  S.  34.  190j  verdient  eine  gründliche  Untersuchung.  Ausser 
den  Apologeten  sind  besonders  ergiebig  die  pseudoklementinischen  Schriften. 
Recogn.  B.  \TII  10—34  und  auch  sonst    ist  noch  der  Zusammenhang  mit  Poseido- 


Grundgedanken  der  ApologetUc  155 


uucli  finden  die  Apologeten  kein  klares  und  widerspi-uchsloses  Verhältnis  zur 
Philosophie.  Die  Vorstellungen  dui'chlaufen  die  verschiedensten  Nuancen  von 
der  Annahme  einer  Üflenbarung-  des  göttlichen  Logos  in  der  heidnischen  Philo- 
sophie bis  zu  der  eines  an  den  heiligen  Schriften  begangenen  Plagiates  oder 
der  Verbreitung-  der  entstellten  Wahrheit  durch  die  Dämonen  ;  und  die  wi- 
dersprechenden Auffassungen  durchkreuzen  sich  öfter  bei  demselben  Autor. 
Neben  freudiger  Anerkennung  der  Denker  hämische  Freude  an  ihren  Irr- 
tümern und  Sch\\  ächen,  und  die  Vorstellung,  dass  ihre  Tugenden  im  Grunde 
doch  nur  glänzende  Laster  sind,  dass  ihre  Lehre  und  ihr  Leben  sich  wider- 
sprechen \  Mit  boshafter  Schadenfreude  wird  der  Anekdotenklatsch,  durch 
den  die  ausgeartete  literarhistorische  Forschung  der  Alexandriner  die  Bio- 
graphie entstellt  hatte,  zur  Herabsetzung  der  Philosophen  hervorgeholt.  Aus 
dem  bequem  bereit  liegenden  IMaterial  der  doxographischen  Handbücher  wird 
der  Widerstreit  der  seltsamen  Leute,  die  auf  die  alten  Rätselfragen  die 
widersprechendsten  Antworten  geben  und  sich  gegenseitig  totschlagen,  wir- 
kungsvoll dargelegt  und  der  Bankerott  der  antiken  Philosophie  konstatiert; 
die  gleichzeitige  Skepsis  z.  B.  Lucians  treibt  es  ebenso.  Und  die  religiöse 
Philosophie  der  Zeit  hatte  es  auch  schon  gelernt,  eine  sichere  Erkenntnis 
nm-  von  höherer  Offenbarung  zu  erwarten,  wie  es  die  Apologeten  tun.  Der 
Beweis  für  das  Alter  der  christlichen  Religion  wird  nach  jüdischem  Vor- 
bilde (S.  114)  gegeben;  er  verbindet  sich  beim  Syrer  Tatian  mit  heftiger 
Invektive  gegen  griecliischen  Kulturstolz  und  mit  der  Behauptung  der  Ueber- 
legenheit  der  Barbaren  -,  von  der  ja  die  Griechen  sich  allmälilich  auch  zu 
überzeugen  anfingen  (S.  16).  Die  Frage  der  Religionsfreiheit  und  die  nach 
dem  Rechte  des  Vorgehens  gegen  die  Christen  wird  erörtert,  ohne  dass  die 
entscheidenden  Punkte  mit  juristischer  Schärfe  erfasst  würden  ■'.  Die  An- 
griffe der  Heiden  erforderten  eine  Widerlegung  und  nötigten  zum  Eingehen 
besonders  auch  auf  die  Stellung  zu  Staat  und  Gesellschaft.  Die  heidnische 
Polemik  hat  frühzeitig  zu  literarischen  Niederschlägen  geführt,  und  die 
Streitschriften  gegen  das  Christentum  zeigen  einen  festen  Traditionsbestand 
und  eine  Kontinuität,  die  der  Geschichte  der  Apologien  vergleichbar  ist  *. 
Die  scharfe  und  oft  treffende  Kritik,  die  Celsus  z.  B.  an  der  Anstössigkeit 
oder  Unglaubwürdigkeit  biblischer  Geschichten  übt,  führt  die  Apologetik  auf 
ein  neues  Gebiet  und  hat  ihr  ernstliche  Schwierigkeiten  bereitet.  Auch 
hier  tritt  die  Gemeinsamkeit  der  Voraussetzungen  beider  streitenden  Parteien 
wenigstens  darin  hervor,  dass  Origenes  den  Wortlaut  mancher  alttestament- 
lichen  Geschichten  preisgeben  muss  imd  sie  nur  durch  allegorische  Deutung 
zu  retten  weiss.  Der  alte  Streit  um  das  Recht  solcher  Deutung  erneuert 
sich  (S.  62.   151). 

So  zeigt  uns  die  apologetische  Literatur  eine  im  Grundbestande  ziem- 
lich feste,  in  allen  Einzelheiten  fluktuierende,  allmählich  sich  mehrende  und 
erweiternde  Masse.  Jüdische  und  heidnische  Polemik  wirken  auf  das  Wachs- 
tum dieser  Literatur  ein.  Aber  auch  die  besondere  Bildung  des  einzelnen 
und  das  im  allgemeinen  sich  hebende  Bildungsniveau  führt  immer  neue  Stoffe 


nies  sicher  zu  beweisen,  ebenso  in  den  Schriften  des  Eusebius.  \)  Auch  in 

der  Beirrteilung-  der  Philosophen  bietet  das  spätere  Altertum,  besonders  Lucian, 
viele  Parallelen:    Hehn  S.  17.  40  ff.  81  ff.  227  ff.  -)  Aehnlich   ist  die  Stim- 

mung in  den  "Opo-.  'Aay.Är,-'.oO,  Reitzenstein  Poimandres  S.  .349.  ^)  Gefälschte 

christenfeindliche  Kaiseredikte  werden  als  Waffe  gebraucht,  s.  Geffcken,  Nach- 
richten der  Ges.  der  Wiss.  zu  Göttingen,  Philologisch-hist.  Klasse  1904  8.  278  ff. 
—  lieber  Interpolationen  des  Josephus  s.  Schwartz,  Zeitschr.  f.  neutest.  Wiss.  L\ 
S.  59.  60.  *)  Geffcken  S.  240.  241.  256  ff.  295  ff. 


X56        iX  Hellenismus  und  Christentum  :  5  Chjristliche  Apologetik 

dem  alten  Bestände  zu,  der,  vde  war  z.  T.  schon  sahen,  aus  mythographischen 
Handbüchern  und  den  Historikern,  aus  dem  doxographischen  ^  und  biogra- 
phischen Zweige  der  philosophischen  Literatur,  aus  den  philosophischen 
Debatten  und  Flugschriften  der  Gegenwart,  aus  der  Kunstgeschichte  und 
den  Schriften  über  Erfindimgen  (o,  S.  IIH)  sich  bereichern  Hess.  Einzelne 
Punkte,  wie  der  Weissagungsbeweis  und  die  Lehren  von  den  Dämonen,  von 
der  Auferstehung,  vom  Gericht  finden  eine  immer  eingehendere  Erörterung 
und  zum  Teil  bald  auch  Behandlung  in  Spezialschriften.  Der  erfreulichste 
Teil  der  apologetischen  Schriften  ist  stets  die  Darstellung  der  neuen  Fröm- 
migkeit und  des  neuen  sittlichen  Lebens;  da  bringt  fast  jeder  einzehie  wert- 
volle Zeugnisse,  ergreifende  Einzelzüge,  originelle  Wendungen.  Aber  die 
Position  des  Kampfes  zwang  diesen  Männern  eine  Aufgabe  auf,  der  die 
meisten  von  ihnen,  besonders  die  älteren,  in  keiner  Weise  gewachsen  waren 
und  die  keine  reine  Lösimg  gestattete.  Es  galt,  das  Evangelium  in  die  ihm 
nicht  adäquate  Form  philosophischer  Lehre  umzusetzen,  seine  die  Welt  negie- 
rende Ethik  mit  einer  reich  entwickelten  Kultur  auszugleichen  '^ ;  dabei 
musste  man  vor  den  kaiserlichen  Adressaten  oder  dem  gebildeten  Publikum, 
an  das  man  sich  wandte,  die  Ansprüche  der  höheren  Litteraturformen  be- 
friedigen, um  den  Beweis  der  Bildungsfreundlichkeit  des  Christentums  zu 
geben ;  denn  darauf  hatte  man  es  abgesehen,  auch  w^enn  man  mit  der  christ- 
lichen Einfalt  kokettierte.  Die  so  entstandene  Literatur  einer  Uebergangs- 
zeit  trägt  in  der  Dürftigkeit  ihrer  Theologie,  deren  philosophische  Orien- 
tiermig  das  Wesen  des  Christentums  nicht  zum  Ausdruck  kommen  lässt  und 
sehr  wesentliche  Anschauungen  eliminiert  oder  neutralisiert,  in  dem  oft  hilf- 
losen Ringen  mit  der  Form,  in  der  Unselbständigkeit  der  Gedankenbew^egung 
und  der  oft  sklavischen  Abhängigkeit  von  der  Tradition,  die  grobe  Missver- 
ständnisse und  Irrtümer,  Widersprüche  und  Inkongruenzen  mit  sich  bringt, 
in  der  Häufung  des  Stoffes  und  der  Argumente,  in  der  tendenziösen  Mache 
den  Charakter  zwitterhafter  Halbheit  an  sich.  Die  christliche  Literatur  wen- 
det sich  hier  zuerst  an  ein  heidnisches  Publikum,  aber  cUe  ersten  Schritte 
auf  dem  fremden  Boden  sind  imsicher  und  schwankend.  Die  ältesten  Apo- 
logieen  tragen  einen  papiemen  Stil  an  sich.  Sie  lehnen  sich  an  fremde 
Formen  und  an  fremde  Gedanken.  Darum  schleppen  sie  so  viel  veraltetes, 
für  die  aktuellen  Kämpfe  der  Gegenwart  wertloses  und  unbrauchbares  Mate- 
rial mit  sich.  Darum  geben  sie  im  Grunde  so  w-enig  aus  für  das  Verständ- 
nis der  Religiosität  ihrer  eigenen  Zeit,  die  wir  aus  ganz  andern  Quellen 
uns  lebendig  machen  müssen  (K.  X).  Und  doch  was  hätten  diese  Apolo- 
geten uns  von  der  religiösen  Bew-egung  ihrer  Zeit  erzählen  können,  wenn 
nicht  das  Bildungsstveben  und  der  Rationalismus  ihnen  das  Prunken  mit  anti- 
quarischem Materiale  und  das  Ignorieren  des  Vordringens  der  orientalischen  Re- 
ligionen, die  in  der  Apologetik  erst  seit  der  Mitte  des  III  Jahrh.  mehr  Beach- 
tung finden,  geboten  hätte !  Die  Polemik  gegen  den  Fatalismus  bildet  ein  festes 
Inventarstück  der  grösseren  Apologieen  -^ ;  aber  er  ist  hier  eine  philosophische 
Lehre,  die  mit  dialektischen  Argumenten  bekämpft  wird,  die  wir  besser  aus 
der  scharfsinnigen  Schrift  des  Peripatetikevs  Alexander  von  Aphrodisias 
(II  Jahrh.  n.  Chr.)  kennen  leimen  K  Welche  Gewalt  der  Schicksalsglaube 
in  der  Religiosität  der  Zeit  besass  (K.  X),  lässt  uns  nur  der  Syrer  Tatian 
eben  ahnen,  wenn  er  von  dem  ungerechten  Regimente  der  £C|j.ap|i£vr;,  von 
der  Befreiung    der  Christen  von    der  tyrannischen    Planetenherrschaft    redet 


')  S.  Diels,  Doxographi  graeci,  Berlin  1879.  -)  Schwartz,  Hermes  XXXVHI 

S.  92.  =)  Geffcken  8.  244.  103.        *)  Supplementum  Aristotelicuni  II  2  S.  164  ff., 

Berlin  1894.     Geffcken  S.  103.  244. 


Quellen.     Vervollkoninimin«;-  der  literarischen  Formen  157 


(K.  8  ff.  29).  Aber  die  Apolof>etik  liat  es  wesentlich  abgesehen  auf  eine 
Auseinandersetzung  mit  der  antiken  Bildung.  Den  wahren  Ertrag  der  grie- 
chischen Denk-  und  Kulturarbeit  will  es  dem  (!hristentum  als  neue  reiche 
Gabe  darbringen,  ihn  annektieren  und  um})rägen  und  sein  besseres  Besitz- 
recht an  der  Philosoi)hie  behaupten,  wie  es  längst  an  den  heiligen  Schriften 
der  Juden  geltend  gemacht  war.  Die  aus  dem  Osten  vordringenden  Reli- 
gionen hab»n  sich  mit  mancherlei  Elementen  der  westlichen  Kultur  ver- 
schmolzen; aber  das  Christentum  ist  weit  über  sie  hinausgegangen,  indem 
es  den  Anspruch,  die  philosophische  Wahrheit  als  seinen  ursprünglichen  Be- 
sitz mit  Beschlag  zu  belegen,  vom  .ludentum  übernommen  und  konsequent 
durchgeführt  hat. 

Wie  im  CTedankengehalte  ein  langsames  Steigen  des  Bildungsniveaus,  so 
zeigt  die  Apologetik  in  den  literarischen  Formen  die  wachsende  Annäherung 
an  die  antiken  Muster,  die  sich  auf  keinem  andern  Gebiete  des  christlichen 
Schrifttums  so  vollständig  verfolgen  lässt.  Die  Eutwickelung  bewegt  sich 
freilich  nicht  durchaus  in  gerader  Linie,  da  die  Fähigkeit  der  Gedankenfidi- 
rung  und  die  formelle  Kunst  durch  die  individuelle  Bildung  stark  bedingt 
ist;  an  oberfläclüichen  und  in  ihrer  Bildung  zurückgebliebenen  Skribenten, 
die  sich  ohne  jede  Selbständigkeit  in  alten  ausgetretenen  Geleisen  bewegen, 
hat  es  keinem  Jalu-hundert  gefehlt.  Aber  im  ganzen  ist  ein  zunehmender 
Fortschritt  von  gedankenarmer  Abhängigkeit  von  der  Tradition  und  unge- 
schickter Entwickelung  der  Ideen  zu  freierer  Bewegung,  individueller  Dar- 
stellung, Beherrschung  der  Form  zu  beobachten.  Aristides  stellt  sich  noch 
ebenso  unselbständig  und  dürftig  in  den  Ideen  wie  ungeschickt  in  der  Form 
dar.  Die  Komposition  im  Grossen  ist  ganz  schematisch,  die  Einführungs- 
und Schlussformeln  der  einzelnen  Glieder  sind  von  ermüdender  Monotonie; 
an  ganz  unnötigen  Wiederholungen  fehlt  es  nicht.  Und  auch  Justin  zeigt, 
obgleich  er  sich  schon  mit  grösserer  Sicherheit  und  Freiheit  auszusprechen 
weiss,  ein  starkes  Unvermögen,  den  Stoff  übersichtlich  zu  disponieren,  einen 
Gedanken  straff  durchzuführen,  eine  bedenkliche  Neigung  zu  Gedankensprün- 
gen, Entgleisungen  und  Abschw^eifungen.  Die  Formgebung  misslingt  so  oft, 
weil  er  den  Stoff  nicht  völlig  beherrscht  und  mit  fremdem  nicht  innerlich 
verarbeitetem  Gedankenmaterial  operiert.  Darum  stechen  die  Partien,  wo 
er  aus  eigener  Erfahrung  und  voller  Kenntnis  von  der  christlichen  Sittlich- 
keit und  dem  christlichen  Gemeinschaftsleben  redet,  so  vorteilhaft  von  ihrer 
Umgebung  ab.  Und  dass  der  Dialog  mit  dem  Juden  Tryplion,  dessen  reiz- 
volle Einleitung  den  Einfluss  antiker  Motive  ^  verrät,  wenn  man  von  der 
durch  die  Sache  gebotenen  Ueberladung  mit  Bibelzitaten  absieht,  eine  sehr 
viel  glücklichere  Komposition  zeigt,  liegt  doch  wesentlich  daran,  dass  er 
hier  sich  in  einer  ihm  vertrauteren  Gedankenwelt  bewegt.  An  ähnlichen 
Schwächen,  der  Unklarheit  der  jedem  Aiigenblickseinfall  nachgebenden  Ge- 
dankenfolge ,  der  völlig  kritiklosen  Benutzung  trüber  Traditionen ,  dem 
Prunken  mit  falsch  oder  halb  verstandener  Gelehrsamkeit  leidet  Tatian,  und 
doch  zeigt  der  Stil,  der  mit  seiner  unruhigen  Bewegung  und  seinen  zerris- 
senen kurzen  Gliedern,  Antithesen  und  pointierten  Wendungen  bald  an  die 
Diatribe,  bald  an  das  Raffinement  der  sophistischen  Rhetorik  erinnert,  starke 
schriftstellerische  Berechnung  und  die  formale  Schulung  der  zeitgenössischen 
Rhetorik;  er  straft  die  affektierte  Verachtung  der  schönen  Form,  die  er  ge- 
flissentlich hervorhebt,  lügen.  Der  Brief  an  Diognet  zeigt  die  ganze  Ele- 
ganz gefälligster,  freilich  auch  an  der  Oberfläche  der  Probleme  sich  bewe- 
gender Rhetorik. 

»)  Helm  S.  42. 


158        IX  Hellenismus  und  Christentum-.  5  Christliche  Apologetik 


Es  hat  einen  eigenen  Reiz  zu  sehen,  wie  auf  diesem  Gebiet  der  kon- 
ventionellen Formen  und  traditionellen  StolFmassen,  die  vielen,  die  besser 
nicht  zur  Feder  gegriffen  hätten,  die  literarische  Produktion  erleichterten, 
doch  allmählich  sich  literarische  Persönlichkeiten  mit  individuellerer  Haltung 
erheben.  Die  übernommenen  Stoffmassen  werden  schärfer  gesichtet  und  in- 
nerlich verarbeitet.  Unbrauchbares  Avird  beiseite  gelegt,  bessere  Quellen  ge- 
sucht, die  lose  aneinandergereihten  Gedanken  werden  zu  strafferer  Einheit 
zusammengefasst.  Schon  Athenagoras  bezeichnet  einen  Fortschritt.  Und 
kann  noch  Clemens  der  Fülle  der  andrängenden  Anschauungen  nicht  Herr 
werden  und  seinen  Stoff  nicht  planmässig  disponieren,  so  zeigt  er  doch  die 
hoffnungsvollsten  Ansätze  zu  einer  freieren  und  reicheren  Ausgestaltung  der 
apologetischen  Gedanken.  Und  so  erstehen  in  Origenes  und  Eusebius  '  In- 
dividualitäten, die  trotz  mancher  Schwächen  ihrer  literarischen  Komposition 
durch  das  Mass  ihres  Wissens,  die  Herrschaft  über  die  Form,  die  Sicherheit 
und  das  starke  Bewusstsein  ihres  religiösen  Besitzes  den  besten  Vertretern 
tler  zeitgenössischen  heidnischen  Kultur  sich  durchaus  gewachsen,  ja  über- 
legen zeigen. 

Die  römische  Apologetik  stellt  sich  von  Anfang  an,  wenigstens  dem 
schriftstellerischen  Vermögen  nach,  sehr  viel  erfreiüicher  dar.  Die  anmutige 
Szenerie,  das  Geschick  der  dialogischen  Einkleidung,  die  Fähigkeit  der  Cha- 
rakterisierung, der  in  der  Apologetik  seltene  und  darum  wohltuende  Ton  der 
Urbanität,  cüe  Eleganz  der  Stilformen  und  rhetorische  Koncinnität  der 
Glieder-  lassen  in  Minucius  Felix  den  in  rhetorischer  Schule  gereiften  und 
an  besten  Mustern  gebildeten  Autor  erkennen.  Die  alten  Motive  erhalten 
hier  individuelle  Farbe  und  originelle  Gestalt.  Es  zeugt  von  Kunstgefühl, 
dass  auch  der  Gegner  seinen  Standpunkt  ^A-irkungsvoll  und  einnehmend  ent- 
faltet. Von  skeptischen  und  epikureischen  Zweifeln,  die  meist  Ciceros  Dialog 
De  natura  deorum  entlehnt  sind,  ausgehend,  erreicht  Cäcilius'  Rede  die  Höhe 
in  der  Entwickelung  des  von  echtem  Patiiotismus  eingegebenen  Gedankens, 
dass  die  grosse  Vergangenheit  Roms  und  seine  glorreiche  Geschichte  für  die 
Macht  der  römischen  Religion  zeuge  und  dem  guten  Bürger  die  Pflicht  auf- 
lege, den  alten  Glauben  treu  festzuhalten,  um  dann  auf  die  den  Christen 
vorgeworfenen  Frevel  und  auf  ihren  Wahnglauben  einzugehen.  Die  W^ider- 
legung  führt  zuerst  Gedanken  der  stoischen  Theologie  im  Anschluss  an  Ci- 
cero gegen  die  philosophische  Skei)sis  ins  Feld,  wirft  sich  dann  mit  ganzer 
Wucht  und  rücksichtsloser  Energie  auf  den  Nachweis,  dass  Rom  nicht  durch 
Frömmigkeit,  sondern  durch  Ungerechtigkeit,  Frevel,  Bluttat  gross  geworden 
sei,  um  endlich  den  Widersinn  der  gegen  die  Christen  gerichteten  Verleum- 
dungen aus  der  Höhe  des  Bewusstseins  christlicher  Sittlichkeit  aufzuzeigen. 
Dann  der  stürmische  Tertulhan  mit  dem  Raffinement  seiner  Dialektik,  der 
bedeutenden  Fähigkeit,  alte  Gedanken  in  prägnante  Formen  umzusetzen  und 
ihnen  eigene  Prägung  zu  geben,  mit  neuen  Wendungen  und  Pointen  immer 
neue  Wirkungen  zu  erzielen,  mit  der  flackernden  Unruhe  des  alten  Diatri- 
benstiles,  ein  sprachschöpferischer  Geist,  der  aus  den  Tiefen  der  Volkssprache 
neue  Kräfte  zu  schöpfen  wusste.  Es  ist,  als  wenn  die  Römer  den  Kampf 
mit  dem    vollen  Bewusstsein    seiner   politischen  Tragweite    und    darum    mit 


1)  Zu  welcher  Hen-schaft  über  die  antiken  literarischen  Formen,  Methoden, 
Kunstmittel  Eusebius  vorgeschritten  ist,  zeigt  für  die  Kirchengeschichte  Schwartz' 
Abhandlung  über  deren  Oekonomie  in  Bd.  11  seiner  Ausgabe.  '^)  Norden, 

De  Minucii  Felicis  aetate  et  genere  dicendi,  Greifswald  1897.  —  Norden  und 
Geffeken  treten  für  die  Priorität  des  Minucius  vor  Tertullian  ein,  anders  Kroll, 
Rhein.  Mus.  LX  S.  307  ff. 


Verflachung  des  Evangeliums.    Abhängigkeit  von  der  iJildung  der  Zeit     159 


einer  packenden  Leidenschaft  führten,  M'elche  die  griecliischen  Apologeten  klein 
und  schwächlich  erscheinen  lässt.  „Drei  Namen,  wie  TertulHan,  Laktanz, 
Augustin  wiegen  alle  hellenischen  Ai)ologeten  auf,  so  bedeutend  Eusebius, 
namentlich  als  Gelehrter  bleibt'-   (GelTcken   S.   277). 

Es  ist  nicht  leicht,  zu  einer  unbefangenen  Beurteilung  der  A})ologeten 
zu  gelangen.  Von  der  Ueberschätzung  ist  man  ja  glücklich  losgekommen 
und  hat  sich  meist  entwöhnt,  ohne  Einschränkung  von  den  tiefen  Studien 
und  der  umfassenden  Gelehrsamkeit,  von  der  originalen  Philosophie  und 
dem  Gedankenreichtum  der  Apologeten  bewundernd  zu  reden.  Eine  treue 
und  unverfälschte  Wiedergabe  des  Christenglaubens  kann  den  Männern  nicht 
zugeschrieben  werden,  die  ihn  in  die  Formen  der  griecliischen  Philosophie 
fassen,  mit  ihren  Ideen  bereichern  und  nach  ihren  Fragstellungen  in  der 
Richtung  der  Metaphysik  zu  erweitern  beginnen;  was  freilich  nicht  im  ge- 
ringsten ausschliesst,  dass  sie  sich  mit  dem  Gemeindeglauben  eins  gewusst 
haben.  Legt  man  an  sie  den  Massstab  des  Urchristentums,  so  bezeichnen 
sie  zweifellos  eine  Verarmung  und  Entleerung  des  spezifisch  christlichen 
Geistes,  eine  Verkümmerung  seiner  stärksten  Motive,  ein  Sinken  des  reli- 
giösen Niveaus,  „eine  Beraubung  durch  die  Philosophie".  Freilich  kann 
diese  Herabstimmung  des  christlichen  Geisteslebens  und  die  Ermattung  seiner 
ursprünglichen  Triebkräfte  nach  den  ersten  Zeiten  seiner  originalen  Entfal- 
tung mit  ihren  tiefen  Erregungen  und  Spannungen  und  mit  der  reichen 
Entwickelung  des  religiösen  Lmenlebeus  fast  wie  eine  Notwendigkeit  er- 
scheinen, und  dies  Nachlassen  der  Kräfte  ist  ja  überhau})t  für  das  nachapo- 
stolische Christentum  charakteristisch.  In  eine  neue  Welt  verpflanzt,  andern 
Lebensverhältnissen  imd  Kulturbedingungen  gegenübergestellt,  in  die  Sprache 
und  die  VorsteUungswelt  der  griecliisch-römischen  Menschheit  eingehend, 
vom  religiösen  Niveau  auf  das  verstandesmässiger  Reflexion  übertragen,  musste 
der  neue  Glaube  viel  von  seinem  ursprünglichen  Charakter  und  von  seinem 
originalen  Gehalt  einbüssen. 

Die  neuen  Aufgaben,  die  mit  der  Propaganda  des  Evangeliums  in  der 
heidnischen  Welt  gegeben  waren,  fassen  die  Apologeten,  äusserUch  betrachtet, 
im  weitesten  Sinne.  Sie  woUen  das  Pacit  der  antiken  Kulturentvdckelung 
ziehen,  das  gesamte  geistige  Erbe  der  Vergangenheit  überschauen  und  ent- 
scheiden, was  das  Christentum  sich  zu  eigen  machen,  was  es  ablehnen  soll. 
Dass  sie  sich  das  Ziel  so  hoch  zu  stecken  wagen,  hängt  damit  zusammen, 
dass  sie  sich  der  Schwierigkeiten  der  Aufgabe  und  des  eigenen  Unvermö- 
gens nicht  bewusst  sind.  Ihre  Sachkenntnis  ist  zu  gering,  als  dass  sie  des 
richterlichen  Amtes  gerecht  walten  könnte.  Und  ihre  Stellung  zur  antiken 
Kultur  ist  widerspruchsvoll :  Auf  der  einen  Seite  treibt  sie  der  Kampfeseifer, 
die  Gegensätze  zu  suchen  und  scharf  zu  accentuieren,  die  Schatten  geflis- 
sentlich hervorzukehren,  eine  dunkle  Folie  für  den  strahlenden  Glanz  des 
Christentums  zu  schaffen  und  auch  schlechte  Mittel  zu  dem  Zwecke  nicht  zu 
verschmähen;  auf  der  andern  Seite  sind  ihnen  oft  die  tiefsten  Gegensätze 
(S.  131  ff.)  verhüllt  und  verschleiert,  weil  sie  das  Evangelium  schon  in  Vor- 
stellungsformen und  Begriffe  der  Zeitbildung  aufgenommen  und  damit  ver- 
schmolzen haben.  Sie  wollen  für  den  neuen  Glauben  gegen  die  alte  Welt 
streiten,  und  in  Wahrheit  setzen  sie  zum  Teil  den  Kampf  geistiger  Strö- 
mungen, die  sich  schon  in  der  antiken  Welt  befehdet  haben,  nur  um  einige 
neue  Streitpunkte  und  Kampfmittel  bereichert,  fort. 

Aber  um  gerecht  zu  sein,  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  die  Unbe- 
fangenheit und  Sachlichkeit  des  Urteils,  die  der  leidenschaftslose  Richter 
aus  grösserem  zeitlichen  Abstände  zu  finden  vermag,  von  dem  in  der  Hitze 
des  Kampfes  und  im  lebendigen  Strome  der  Entwickelung  Begriffenen  nicht 


160         1>^  Hellenismus  und  Christkntum:  5  Chhlstlichb  Apologetik 


zu  evAvarten  ist.  Und  die  Schwächen  und  Einseitigkeiten  der  älteren  Apo- 
logetik werden  begreiflich,  wenn  wir  sie  mit  dem  Malie  der  Kultur  ihrer 
Zeit  messen.  Die  Apologeten  haben  im  besten  l^'alle  die  Durchschnittsbil- 
dung  ihrer  Zeit,  und  diese  Zeit  hat  keine  lebenskräftige  Kultur  und  kein 
tiefes  und  reiches  Geistesleben  mehr  (S.  32  ff'.).  Das  einseitige  Streben  nach 
formaler  Bildung  hat  den  \vissenschaftlichen  Sinn  verkümmern  lassen.  Man 
bezieht  allgemein  sein  Wissen  aus  Kompilationen  und  dürftigen  Kom])endien. 
Man  liest  die  Klassiker  zwar,  aber  man  liest  sie  wesentlich  als  Stilmuster. 
Man  sucht  im  Gefühl  der  eigenen  Schwäche  und  des  Epigonentums  seine 
Ideale  in  der  Vergangenheit,  man  bereichert  sich  aus  ihr  mit  romantischen 
Stimmungen,  aber  man  bringt  es  so  doch  nur  zu  einer  gemachten  und  künst- 
lichen Kultur,  die  sich  an  der  Oberfläche  bewegt  und  des  inneren  Lebens 
entbehrt;  und  es  fehlt  ganz  an  dem  verfeinerten  historischen  und  psycho- 
logischen Sinne,  um  die  Kräfte  des  früheren  geistigen  Lebens  verstehen  und 
tiefer  ergreifen  zu  können.  So  wird  die  nach  rückwärts  gekehi'te,  dem  Le- 
ben abgewandte  Betrachtung  zu  einer  drückenden  Last  für  ein  Geschlecht, 
das  den  stärksten  Glauben  an  die  Autorität  des  Alten  hat  und  überzeugt 
ist,  dass  alle  geistige  Arbeit  längst  getan.  Wissen  die  Summe  früher  ge- 
fundener Wahrheiten,  Bildung  Aneignung  fremder  Gedanken  ist.  Der  Pjin- 
fluss  der  Popularphilosophie  und  auch  der  Rhetorik  ihrer  Zeit  auf  die  Apo- 
logeten ist  schon  in  einzelnen  Punkten  hervorgehoben  worden;  sie  sind  aber 
überhaupt  nur  aus  der  Bildungss})häre  ihres  Zeitalters  zu  begreifen.  Aus 
ihr  erklären  sich  zum  guten  Teil  die  Schwächen  der  älteren  Apologeten,  die 
Dürftigkeit  ihrer  historischen  Kenntnisse,  die  kritiklose  Benutzung  abgeleiteter 
Quellen,  die  archaisierende  und  antiquarische  Richtung,  der  Eklektizismus, 
durch  dessen  trübes  Medium  sie  die  Geschichte  der  Philosophie  sehen,  der 
Gharakter  des  Unfreien  und  Angelernten,  des  Fragmentarischen  und  Unaus- 
geglichenen, der  ihrer  Schriftstellerei  anhaftet,  die  Bücherluft,  welche  die 
meisten  atmen.  Es  sind  Fehler,  die  sie  mit  ihrer  Zeit  teilen,  einer  Zeit,  die 
arm  ist  an  geistiger  Produktion  und  an  literarischen  Individualitäten. 

Man  muss,  um  das  rechte  Augenmass  für  die  Schätzung  der  Apologeten 
zu  gewinnen,  das  Ziel  ins  Auge  fassen,  das  die  von  ihnen  eingeleitete  Ent- 
wickelung  erreicht  hat.  Sie  inaugurieren  den  weltgeschichtlichen  Prozess, 
in  dem  das  Evangelium  unter  dem  Einflüsse  der  griechischen  Philosophie 
sich  umgestaltet  zu  einer  umfassenden  philosophischen  Weltanschauung,  die 
als  festgeschlossenes  Ganzes  den  Kampf  mit  dem  Hellenismus  bestehen  und 
ihn  überwinden  konnte,  indem  es  seine  besten  Kräfte  und  Gedanken  sich 
aneignete.  Mag  man  die  starke  Einbusse  spontanen  religiösen  Lebens,  die 
dieser  Prozess  für  die  Individuen  bedeutet,  bedauern,  man  rauss  ihn  als  eine 
Notwendigkeit  begreifen  und  den  Segen,  den  er  durch  die  Bewahrung  des 
Erbes  antiker  Kultur  und  der  Kontinuität  des  geistigen  Lebens  gebracht 
hat,  anerkennen.  In  den  schwachen  Anfängen  der  Apologetik  schon  wird 
der  nicht  nur  Verkürzung  und  Verkehrung  des  Christentums,  sondern  zugleich 
die  hofi*nungsvollen  Keime  zu  einer  neuen  Entwickelung  erkennen,  der  den 
Massstab  hernimmt  von  den  Höhen,  die  der  Prozess  in  Origenes  und  Au- 
gustin erreicht.  Man  mag  zweifeln,  ob  in  ihren  Systemen  heidnische  Meta- 
physik oder  das  Evangelium  überwiegt,  aber  man  wird  sie  für  die  Kultur- 
geschichte der  Menschheit  so  wenig  missen  mögen,  Mie  ihre  Rivalen,  die 
Neuplatoniker.  Die  Notwendigkeit  und  den  Gewinn  dieser  Entwickelung 
kann  auch  der  anerkennen,  der  unsere  Zeit  dazu  für  reif  hält,  den  von  jeder 
Hellenisierung  oder  Modernisierung  befreiten  urchristlichen  Gedanken  und 
Motiven  Verständnis  und  Empfänglichkeit  entgegenzubringen. 


Bedeutimg  der  Apologetik.     Hypothesen  über  L'r.spriiuy  der  Gnosis.       iGi 

X 

SYNKRETISMUS  UND  GNÜSTIZISMUS 

EdeEaye,  Introduction  ii  l'etude  du  guosticisme,  Bd.  XLV.  XLVl  der  Revue 
de  riiistoire  des  religions  (auch  besonders  erschienen  Paris  1003),  <^il>t  eine  vorzüg- 
liche Einführung  in  die  Probleme.  —  Pflkidkrers  Darstellung  Bd.  II  hat  ein  be- 
sonderes Verdienst  durch  die  Berücksichtigung  der  apokryphen  Apostelgeschichten. 
—  Anz,  Zur  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Gnostizismus,  Te.xte  und  Unt.,  her.  von 
Gebhardt  und  Harnack,  XV  4,  hat  in  der  Lehre  von  der  Himmelfahrt  den  Mittelpunkt 
vieler  Systeme  erkannt  und  ihre  Grundformen  dargelegt.  —  Bousskt,  Die  Hini- 
melsreise  der  Seele,  Archiv  für  Religionswiss.  IV  S.  136—169.  229 — 273.  —  Eine 
bequeme  Uebersicht  über  das  ganze  Material  gibt  Hilgexfeld,  Die  Ketzergeschichte 
des  Urchristentums,  Leipzig  1884. 

So  reich  im  einzelnen  der  Ertrag  der  neueren  Arbeiten  über  den  Gno- 
stizismus  ist,  so  lassen  doch  auf  diesem  Gebiete  die  religionsgeschichtliclien 
Forschungen  in  noch  grösserem  Masse  als  die  das  Quellenverhältnis  der 
antihäretischen  Schriften  behandelnden  Untersuchungen  leicht  das  Gefühl  auf- 
kommen, als  wenn  die  Hypothesen  sich  gegenseitig  widerlegten  und  aufhöben, 
als  wenn  trotz  aller  Bemühungen  ein  sicherer  Ertrag  der  Erkenntnis  in  den 
prinzipiellen  Fragen  überhaupt  nicht  zu  verzeichnen  wäre.  Durch  zwei  Ein- 
seitigkeiten, die  zu  überwinden  erst  der  Anfang  gemacht  ist,  haben  die  neue- 
ren religionsgeschichtlichen  Forschungen  diesen  ungünstigen  Eindruck  selbst 
verschuldet.  Unter  der  Nachwirkung  der  Tatsache,  dass  die  kirchliche  Polemik 
eine  Fülle  religiöser  Gebilde  als  gleichartig  zusammengefasst,  alle  Avillkürlich 
mit  dem  Namen  Gnosis  belegt  und  mit  wachsender  Leidenschaft  als  Entstel- 
lungen christlicher  Lehre,  als  antichristlich  und  antikirchlich  bekämpft  hat, 
war  man  daran  gewöhnt  worden,  alle  diese  mannigfaltigen  Erscheinungen  als  eine 
im  letzten  Grunde  einheitliche  Grösse  anzusehen.  Man  fragte  nach  dem  Ur- 
sprünge der  ganzen  Bewegung,  und  man  meinte  einen  gemeinsamen  Aus- 
gangspunkt finden  zu  können.  Die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Gnosis 
wurde  sehr  verschieden  beantwortet:  Orphismus,  babylonische  Religion,  Par- 
sismus,  Buddhismus,  ägyptische  Religion,  gnostisches  Judentum  oder  Philo- 
nismus  erschienen  in  buntem  Wechsel  als  der  Zauberstab,  mit  dem  man  alle 
Türen  meinte  öffnen  zu  können.  Andere  glaubten  an  der  Hand  der  traditio- 
nellen Successionsreihen,  die  doch  zum  Teil  ebenso  willkürlich  konstruiert 
sind  wie  oft  die  antiken  C'.OLOoyjyl  der  Philosophenschulen,  die  wahren  Grund- 
linien der  geschichtlichen  Entwicklung  begreifen  zu  können.  Dann  haben 
für  Hippolyt  wenigstens  Salmon-Stähelin  versucht,  das  tiefer  liegende 
religionsgeschichtliche  Problem  in  ein  rein  literarhistorisches  zu  verwandeln. 
Sie  meinten,  von  dem  richtigen  Eindruck  der  weitgehenden  Verwandtschaft 
mancher  in  Hippolyts  Elenchos  behandelter  Systeme  in  Grundgedanken, 
Motivierung,  Exemplilizierung  ausgehend,  die  Einheit  auf  die  literarische 
Mache  eines  Fälschers  zurückführen  zu  können,  welcher  der  vielköpfigen 
Hydra  der  Gnosis  noch  einige  neue  Häupter  hinzugefügt,  mit  den  Produkten 
seiner  Phantasie  Hippolyt  düpiert  und  ihm  ein  A\'illkommenes  Mittel  gegeben 
hätte,  die  Häresien  vollends  zu  diskreditieren. 

Das  allen  diesen  Versuchen  zugrunde  liegende  Gefühl  einer  gewissen 
Einheit  und  eines  inneren  Zusammenhanges  der  diese  sehr  komplexen  Bil- 
dungen beherrschenden  Grundmotive  war  nicht  unberechtigt,  so  bedenklich 
die  Art  war,    wie  vielfach   die  Differenzen   übersehen    und    die    verschieden- 

Lietzmann,  Handbuch  z.  Neuen  Test.  I,  2.  11 


162  ^  Synkretismus  und  Gnostizis.mus 

artigen  Ersclieinuiigen  unter  einheitliche  Formehi  gezAvungen  wurden.  Dass 
man  den  geschichtlichen  Grund  der  Gleichartigkeit  nicht  tinden  konnte,  lag  an 
einer  zweiten  Einseitigkeit,  an  der  Isolierung  dieses  Forschungsgebietes  von 
der  allgemeinen  hellenistisch-römischen  Religionsgeschichte.  Den  Einfluss 
des  heidnischen  Synkretismus  auf  die  Gnosis  verkannte  man  nicht;  aber  die 
Vorstellungen,  die  man  von  ihm  mitbrachte,  waren  noch  so  vage,  dass  sie 
die  Forschung  nicht  ernstlich  fördern  konnten. 

Der  ..Gnostizismus''  ist  nach  seinen  heidnischen  Elementen  eine  Teil- 
erscheinung des  mit  Alexander  und  für  die  orientalischen  Religionen  schon 
früher  beginnenden  religionsgeschichtlichen  Prozesses,  dessen  Wesen  man  mit 
den  Schlagwörtern  bezeichnen  kann:  Entwurzelung  und  nationale  Entschrän- 
kung  der  Religionen,  Austausch  und  Annäherung,  Hellenisierung  des  Orien- 
talischen, Vergeistigung  durch  spekulative  Uradeutungen,  Vertiefung  durch 
die  Bedürfnisse  des  besonders  in  den  orientalischen  Kulten  gepflegten  reli- 
giösen Individualismus.  Das  Gemeinsame  der  ,,gnostischen"  ^  Religionsbil- 
dungen ist,  dass  das  Christentum  in  die  vom  Osten  mächtig  vordringenden  Ten- 
denzen der  Ausgleichung  und  Verschmelzung  der  Religionen  hineingezogen 
wird.  Dass  der  Einfluss,  den  das  Christentum  ausübt,  und  der  Anteil,  den 
es  beisteuert,  in  den  einzelnen  Erscheinungen,  die  man  unter  dem  Namen 
Gnosis  umfasst,  ein  sehr  verschiedener  ist,  dass  er  alle  Stufen  von  zentraler 
Beherrschung  bis  zur  peripherischen  Stellung  und  zufälligem  Accidens  durchläuft, 
wird  später  an  Beispielen  gezeigt  werden.  Das  gnostische  Quellenmaterial 
hat  auch  für  den  Religionshistoriker  des  Hellenismus  exemplarische  Bedeu- 
tung, weil  er  hier  für  drei  Jahrhunderte  die  treibenden  Kräfte  der  allgemeinen 
religiösen  Bewegung  in  den  Niederungen  der  volkstümlichen  Propaganda  wie 
auf  den  Höhen  der  Spekulation,  in  der  Unmittelbarkeit  ihrer  Wirkungen 
und  in  dem  Reichtum  ihrer  Produktionen  an  Originalquellen  studieren  und 
in  einer  Art  beobachten  kann,  wie  es  sonst  nur  die  religiösen  Papyri - 
ermöglichen,    nicht   die  überwiegend    die  Höhenlagen   darstellende  Literatur. 

Die  den  Gnostizismus  beherrschenden  Tendenzen  und  Hauptströmungen 
offenbaren  sich  schon  in  der  früheren  hellenistisch-römischen  Entwicklung. 
Für  die  ägyptische  Religion  haben  wir  verhältnismässig  reiches  Jlaterial  •*, 
um  den  Prozess  der  hellenisierenden  Umbildung,  Sublimierung,  spekulativen 
Vergeistigung  übersehen  zu  können,  von  Manetho  und  Hekataios,  Apion  und 
Chairemon  Bruchstücke  oder  reichliche  Exzerpte,  dann  Plutarchs  theologische 
Schriften  und  Horapollos  Werk;  wir  hören  von  manchen  Schriften,  die  be- 
stätigen, wie  lebhaft  das  Interesse  an  der  ägyptischen  Religion,  wie  mannig- 
fach die  Versuche  waren,  eine  Annäherung  an  die  griechische  auf  i)hiloso- 
])hischer  Grundlage  herbeizuführen.  Diese  Literatur  ist  zum  Teil  eine  Be- 
gleiterscheinung der  Propaganda  der  Kulte,  und  wir  beobachten  von  Plutarch 
bis  zu  den  Neuplatonikern,    wie  die  Schätzung  auch  der  für  den  gebildeten 


')  Man  mag  den  engeren  Begriff  Gnosis  aus  praktischen  Rücksichten  fest- 
halten, wenn  man  sich  nur  bewusst  ist,  dass  man  nach  der  Verwandtschaft  der 
Methoden  und  Ziele  mit  gleicliem  Rechte  von  heidnischer  Gnosis  z.  B.  in  chaldäi- 
schen  Orakeln  und  hermetischen,  plutarchisclien  und  neuplatonischen  Schriften 
reden  darf.  -)  Nur  sie  gewähren  sonst,  abgesehen  von  gelegentlichen  Zeug- 

nissen der  Schriftsteller,  einen  Einblick  in  die  reiche  volkstümliche  und  darum 
schnell  vergängliche  Literatur  auf  diesem  Gebiete.  Denn  ausser  den  Massen  der 
zufällig  erJialtenen  ägyptischen  Papyri  hat  uns  die  literarische  Tradition  ja  fast 
nur  Schriften  erhalten,  die  der  Stil  geadelt  zu  haben  schien.  —  lieber  Gnostisches 
in  den  Papyri  s.  Dieterich,  .Jahrb.  Suppl.  XVI  S.  704  ff.  und  Abraxas.  ^)  Vgl. 

Otto  a.  a.  0.  II  S.  215  ff.,  o.  S.  1.5.  68  ff.  und  besonders  Reitzensteins  Poimandres. 


Religionsgeschichtliche  Stellung  der  (inosis  163 

Geschmack  überwundenen  und  absurden  Relif?ionsformen,  Gebräuche,  Sym- 
bole zusehends  wächst.  Wir  wissen,  dass  auch  ä^'yi»tisc-hc  Priester  an  dieser 
hellenisierenden  Umgestaltnnt>'  ihrer  Religion  nicht  unbeteiligt  gewesen  sind, 
die  sie  ja  schon  vor  der  hellenistischen  Zeit  durch  theologische  Spekulatio- 
nen vorbereitet  und  erleichtert  hatten.  Die  sjjekulative  Zersetzung  der  Reli- 
gionen ist  der  Boden  und  die  Voraussetzung  für  die  durch  Steigerung  des 
religiösen 'Lebens  veranlassten  Neubildungen  der  chi-istlichen  Zeit. 

Auch  die  phrygische  Religion  und  die  des  Mithras  ist  in  hellenistischen 
Schriften  behandelt  worden.  Für  die  syrische  Religion  haben  wir  die  Schrift 
eines  zwar  ungläubigen,  aber  doch  scharfen  Beobachters  (Lucian  De  dea 
Syria).  Die  orientalischen  Religionen  treten  uns  bei  ihrer  Propaganda  im 
römischen  Reich  in  stark  umgewandelter  Gestalt  entgegen,  und  zu  dieser 
Umbildung  haben  Anpassung  an  verwandte  Kulte,  Uebernahme  griechischer 
Formen,  theologische  Spekulation  mitgewirkt.  Die  Götter  gewinnen  eine 
weitere  kosmische  Deutung  und  einen  universalen  Zug.  Die  angesehensten 
und  in  ihrer  Propaganda  siegreichsten  Götter  absorbieren  stamm-  oder  wesens- 
verwandte Gestalten  oder  ordnen  sie  sich  als  Begleiter  unter  ^ ;  Mischgestal- 
ten werden  durch  Kombination  gescliailfen,  kosmologische  und  theologische 
Spekulationen  heften  sich  an  die  Kulte  und  bilden  die  Religion  zu  einer 
Art  Weltanschauung  um.  Die  ägyptische  Religion  zeigt  sich  besonders  bild- 
sam und  fähig,  Vehikel  aller  möglichen  philosophischen  Ideen  zu  Averden. 
Die  vom  Osten  vordringende  Astrologie,  von  Anfang  an  schon  Produkt  des 
orientalischen  Synkretismus,  tritt  zugleich  als  Religion  und  als  Weltanschau- 
ung auf  und  passt  sich  die  heterogensten  Elemente  an.  Aber  selbst  die 
syrischen  Baale  treten  uns  bei  ihrem  Vordringen  nach  dem  Westen  in  ganz 
neuer  Geltung  als  Sonnengötter  entgegen;  auch  hier  wird  der  theologischen 
Arbeit  die  Erweitervnig  ihres  einst  sehr  beschränkten  Bereiches  zu  umfassen- 
der kosmischer  Bedeutung  zu  verdanken  sein-. 

Das  Christentum  hat  sich  am  frühesten  und  intensivsten  in  Syrien, 
Kleinasien,  Aegypten  verbreitet,  den  Ländern,  die  durch  ihren  besonderen 
W^ohlstand  und  ihre  hohe  Blüte  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit 
in  hervorragendem  Masse  die  materielle  Kultur  und  den  Bildungsstand  des 
Reiches  bestimmt  haben.  An  fremdartigen  Einflüssen  auf  das  Christentum^ 
und  mannigfachen  Ausprägungen  desselben  hat  es  schon  auf  diesem  Boden 
nicht  gefehlt,  wie  Avir  Einwirkungen  der  Art  S.  107  sogar  auf  versprengten 
Posten  des  Judentums  kennen  gelernt  haben.  Die  bedenkliche  Spaltung  und 
Mannigfaltigkeit  der  Gemeinschaften,  die  sich  christlich  nannten,  ist  durch  die 
straffe  Kirchenorganisation  erst  seit  dem  II  Jahrh.  allmählich  beseitigt  Avorden. 
Im  phrygischen  Montanismus  sehen  Axdr  die  Erscheiniingen  der  ekstatischen 
Rebgion,  die  in  diesem  Lande  epidemisch  Avaren,  in  christlicher  Form  wieder 
lebendig  Averden.  Der  christliche  Charakter  der  Aberkiosinschrift  lässt  m.  E. 
sich  nicht  bestreiten,  aber  das  Christentum  der  Grosskirche  ist  es  nicht,  zu 
dem  die  Gemeinde  des  hierapolitanischen  Bischofs  sich  bekannt  hat. 

Das  Christentum  dringt  auf  denselben  Wegen  und  in  denselben  Jahr- 
hunderten nach  dem  Westen  vor,  in  denen  die  orientalischen  Religionen  ihre 
grossen  Eroberungen  machen.  Auch  diese  bedienen  sich  der  y.ovn^  als  des 
Organes  ihrer  Propaganda'.     Auch  sie  sind  in  einem  Hellenisierungsprozesse 


^)  Beispiele  bei  Cumont  8.  75  ff.  -)  Cumont  8.  14.5  ff.,  vgl.  Lidzbarski, 

Baisamem,  Ephemeris  für  semitische  Epigraphik  1  S.  243  ff.,  und  über  die  Mischung 
der  Kulte  in  Syrien  überhaupt  Schürer  II  S.  21  ff.  ^)  lieber  Kleinasien  s. 

Harnack,    Mission  II  S.  1.55  ff.  ^)  Aber  sie  mischen,   um   sich   den  Nimbus 

des  Heiligen  und  Unverstandenen  zu  geben,  Wörter  der  ursprünglichen  Kultsprache 

II* 


llji  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 


begriffen,  wie  ihn  ähnlich  das  Christentum  durchzumachen  gehabt  hat.  vSie 
sind  beherrscht  von  verwandten  Motiven:  Streben  nach  Reinheit  und  Erlö- 
sung, rigoroser  Askese,  SeHgkcitshoffnung,  Verh\ngen  nach  neuen  Offenba- 
rungen und  Mysterien.  Kein  Wunder,  dass  diese  Kulte  vielfach  geneigt  waren, 
mit  der  neuen  Religion  als  einem  mächtigen  Bundesgenossen  sich  zu  verei- 
nen, wie  sie  sich  mit  einander  vielfach  verschmolzen,  und  sie  in  den  Strudel 
der  allgemeinen  Religionsmischung  zu  ziehen.  Liess  sich  nicht  auch  der 
Stoff  der  christlichen  Religion  durch  ty])ologische  und  symbolistische  Be- 
trachtung den  allgemeinen  Ideen  der  Erlösungsreligionen  dienstbar  machen? 
Liess  sich  nicht  Jesu  Leben  so  gut  wie  das  des  Osiris,  des  Attis,  des  Mithras 
als  eins  der  Bilder  des  leidenden,  sterbenden,  wieder  auflebenden  Gottes 
darstellen,  ein  typisches  Vorbild  des  qualvollen  Leidens  und  Ringens,  das 
sich  Menschenlos  und  Menschenschicksal  nennt,  eine  Versicherung  zugleich 
des  Glaubens  an  die  Seligkeit  der  Erlösung  ?  Wie  lockend  und  rührend 
erklingt  selbst  Celsus'  und  Por])hyrios'  Ruf  an  die  Christen,  in  ihr  Lager 
überzugehen ;  sie  Avussten  nicht,  dass  ihre  sarkastische  Kritik  der  heiligen 
Schriften  jede  Verständigung  ausschloss.  Am  Manichäismus  haben  wir  ein 
sicheres  Beispiel  aus  späterer  Zeit,  wie  eine  orientalische  Religion  bei  ihren 
Verstössen  nach  dem  Westen  nicht  nur  andere  synkretistische  und  gnostische 
Bildungen  absorbierte,  sondern  auch  sich  zum  Zwecke  dei'  Propaganda  zu- 
sehends christianisierte  '''. 

Der  Anstoss  zu  den  gnostischen  Bildungen  ist  ausgegangen  von  der  reli- 
giösen Invasion  des  orientalisch-hellenistischen  Synkretismus.  Wie  die  Sek- 
tiererei  sich  stets  mit  Vorliebe  einen  religiös  fruchtbaren  Boden  zur  Be- 
stellung wählt,  so  hat  jene  Bewegung  sich  mit  besonderer  Macht  auf  die 
christbchen  Gemeinden  gestürzt^.  Schicksale  und  Geschichte  der  orienta- 
lischen und  der  gnostischen  Kulte  laufen  vielfach  parallel  und  bezeugen  den 
engen  Zusammenhang  beider  Erscheinungen :  In  beiden  dieselbe  unendliche 
Verzweigung  des  Konventikelwesens,  dieselbe  Triebkraft  zu  immer  neuen 
Bildungen,  dieselbe  Vorliebe  für  religiös  dramatische  Schaustellungen.  In 
beiden  dieselbe  starke  Spannung  der  Kontraste,  die  wir  auch  im  kirclilichen 
Christentum  sich  verstärken  sahen :  Das  dualistische  Weltbild,  Geist  und  Sinn- 
lichkeit, rigorose  Askese  und  lasziver  Libertinismus  oft  aus  einer  Wurzel 
hervorspriessend.  In  beiden  die  Unterwerfung  des  religiösen  Stoffes  unter 
Ideen,  die  spekulative  Auflösung  des  Historischen.  Die  Abhängigkeit 
von  den  Zeitströmungen  lässt  in  beiden  Kreisen  den  Piatonismus  eine  wach- 
sende Macht  gewinnen,  lässt  aber  zugleich  —  was  nur  ein  scheinbarer 
Widerspruch  ist;  denn  der  Piatonismus  selbst  macht  die  gleiche  Entwicklung 
durch  —  antiquierte    und    absurde    Gebräuche,    rohe  Zeremonien,   grotesken 

ein  (Dieterich,  Mithrasliturgie  S.  39,  Helm  S.  25).  Auch  dafür  fehlt  es  nicht  an 
urchristlichen  Parallelen,  z.  B.  Abba,  Maran  Atha.  ')  In  den  Zauberpapyi-i, 

den  chaldäischen  Orakeln,  bei  Numenius  und  Porphyrius  beobachten  wir  auch  Auf- 
nahme jüdischer  Elemente.  -')  Ueber  die  Möglichkeit,  dass  auch  die  Apostel 
des  Mithras  gelegentlich  Anleilien  beim  Christentum  gemacht  haben,  s.  Harnack. 
Mission  II  S.  273.  Auch  Dieterich,  Mithrasliturgie  S.  G8-  weist  sie  nicht  ab.  Er 
selbst  bemerkt  S.  59  ',  dass  in  dem  von  ihm  behandelten  Text  S.  4,  4  die  Bildung 
des  Menschen  Otiö  ßpaxiovogi  iwzi\xo'j  xal  Segiä;  ans  Alte  Testament  ankHngt,  4,  20 
•}T.b  v.^ä.-rj');,  (jLsya^-'sSuvdcixou  y.al  Ssgtä;  yz'.^öq.  und  8,  18  y.?.sli)-pa  toO  oupavoO  vgl.  die  Pa- 
rallelen in  Hatch-Redpath,  Konkordanz  zur  LXX  S.  784.  767  (anderes  in  Cumonts 
grossem  Mithraswerk  I  S.  41  ").  Die  Kindheitsgeschichte  des  Mithras  ist  vielleicht 
nach  der  Jesu  gestaltet:  Cumont  a.  a.  O.  I  S.  341.  '')  Vgl.  Harnack,  Mission 
n  S.  263. 


Orientalische  Relig'ioneii  und  Gnostizismus  165 


Aberglauben  und  Besclnvörung,  ]\loder  und  Schutt  alter  Vergangenheit  in 
immer  breiteren  Massen  autkommen.  Auf  beiden  Seiten  Religionen,  die  sich 
in  mehreren  Stockwerken  erheben,  wie  sich  auch  schliesslich  das  kirchliche 
Christentum,  nur  in  edleren  Formen,  darstellt;  den  Gebildeten  reicht  man 
die  feinere  Speise  der  Spekulation,  dem  Pöbel  das  tägliche  Brot  des  Aber- 
glaubens. Beide  nach  dem  Westen  und  vor  allem  nach  Rom  stürmisch  vor- 
drängenden Bewegungen  erlangen  im  III  .lahrh.  die  weiteste  Verbreitung 
und  Verzweigung.  Die  Kirche  bezwingt  zuerst  den  in  ihre  Mauern  einge- 
drungenen Feind  und  geAvinnt  dann  den  Sieg  über  ihre  orientalischen  Kon- 
kurrenten. 

Die  Erscheinungsformen  des  Gnostizismus  sind  ebenso  mannigfaltig  wie 
die  des  religiösen  Lebens  der  Zeit  überhaupt.  Ist  die  Bewegung  von  aussen 
in  die  Christenheit  hineingetragen,  so  sind  doch  die  Mischungsverhältnisse, 
in  denen  Christliches  und  Heidnisches  sich  verbunden  haben,  sehr  verschieden. 
Wir  haben  Gebilde,  in  denen  das  Christliche  nur  wie  ein  zufälliger  Einschlag 
erscheint  und  vielleicht  wirklich  eine  spätere  Zutat  ist.  Wir  haben  andere 
Formen,  wo  die  christlichen  Motive,  Stimmungen,  Gedanken  überwiegen,  der 
heidnische  Einfluss  sich  nur  in  der  Formensprache  und  in  Uebernahme  un- 
wesentlicher Elemente  verrät.  Dort  mag  der  Heide  einige  christliche  Reiser 
auf  heidnischen  Stamm  gepfropft  haben ;  liier  mag  ein  kirchlicher  Christ, 
der  sich  durch  die  Reize  einer  orientalischen  Mysterienlehre  hatte  fangen 
lassen,  sein  Christentum  mit  einigen  fremden  Elementen  versetzt  haben. 
Es  über-^degen  in  unseren  kirchlichen  Quellen  begreiflicherweise  die  Systeme, 
in  denen  die  christliche  Lehre  als  der  innere  Kern  erscheint,  um  den  sich 
die  heidnischen  Schalen  angesetzt  haben.  Die  Tatsache,  dass  die  Ketzerbe- 
streiter ihr  Interesse  wesentlich  auf  die  christlichen  oder  christlich  infizier- 
ten Kouventikel  richteten,  verschleiert  uns  wahrscheinlich  die  Erkenntnis, 
wie  viele  rein  oder  überA\degend  heidnische  Konventikel  der  Art  es  gegeben 
hat.  Die  Grenzen  der  „gnostischen"  Gemeinden  nach  der  Richtung  der 
orientalischen  Kultvereine  sind  gCAAiss  ebenso  fliessend  und  unbestimmt  ge- 
wesen Avie  die  nach  der  Grosskirche  liin.  Um  die  ganze  Gefahr,  mit  welcher 
der  Gnostizismus  die  Kirche  bedrohte,  zu  begreifen,  muss  man  sich  nicht 
nur  die  Tatsache  vergegenwärtigen,  dass  die  Kirche  erst  im  Kampfe  mit 
dieser  flutenden  Bewegung  erstarkt  ist  und  ihre  straffe  Organisation,  den 
Kanon,  das  Bekenntnis  geschaffen  und  als  sichere  Grenzmarken  ihres  Be- 
standes festgestellt  hat ;  man  muss  sich  auch  klar  machen,  welchen  starken 
Rückhalt,  welche  Quellen  beständiger  Erneuerung  die  gnostische  Bewegung 
an   der  orientalischen  Propaganda  hatte,    der  sie    ihre  Entstehung   verdankt. 

Die  Forschung  ist  noch  weit  entfernt,  auf  diesem  Gebiete  die  letzten 
Früchte  der  Erkenntnis  pflücken  zu  können.  Zunächst  ist  sogar  Verzicht 
auf  das  letzte  und  höchste  Ziel  geboten  und  vor  allem  die  dringende  Auf- 
gabe der  sorgfältigen  Analyse  der  einzelnen  Gebilde  in  ihre  besonderen 
Elemente  in  Angriff  zu  nehmen.  Berufen  zu  solcher  Arbeit  ist  nur,  wer  die 
religiöse  und  pliilosophische  Entwicklung  der  hellenistischen  Zeit  übersieht 
und  die  älteren  Quellen  der  orientalischen  Religionen  zu  benutzen  weiss. 
Hier  möchte  ich  nur  an  der  Analyse  einzelner  gnostischer  Gebilde  und  der 
Geschichte  einiger  Ideenkomplexe  das  Bild  der  ganzen  EntA\-ickeIung,  wie 
ich  es  in  grossen  Zügen  zu  zeichnen  gewagt  habe,  zu  bestätigen  suchen  und 
vor  allem  den  weitgehenden  Parallebsmus  und  engen  Zusammenhang  rein 
heidnischer  und   .,gnostischer"   Religionsbildungen  erläutern. 

Die  Lehre  vom  Aufstieg  der  Seele  zum  Himmel  ist  besonders  geeignet, 
um  den  Synkretismus,  wie  er  sich  in  den  verschiedensten  Mischungen  der 
Völkervorstellungen,  religiöser  und  philosophischer  Traditionen  darstellt,  an- 


IQQ  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 

sohaulich  zu  machen.  Weit  verbreitet  ist  in  dieser  Zeit  die  Lelire,  dass  die 
Seele  vom  Himmel  niedersteigend  die  Eigenschaften  der  Planetensphäi*en, 
durch  die  sie  hindurchgeht,  annimmt,  um  schliesslich  ins  leibliche  Dasein 
einzugehen.  Nach  dem  Tode  hat  sie  die  Himmelsreise  in  umgekehrter 
Richtung  zurückzulegen,  um  auf  den  einzelnen  Stationen  die  Bedingungen 
des  irdischen  Daseins  abzulegen  und  gereinigt  in  ihre  urs])rüngliche  Heimat, 
in  das  Reich  des  Lichtes  zurückzukehren.  Der  Kreis  dieser  Vorstellungen 
weist  nach  dem  Orient,  besonders  auf  den  Einfluss  babylonischer  Astralreli- 
gion, die  dem  Westen  längst  auf  mancherlei  Wegen  vermittelt  war,  auf 
griechischem  Sprachgebiet  mit  den  verwandten  Vorstellungen  anderer  Völker 
und  philosophischen  Ideen  vielfach  verschmolzen',  in  der  Verbindung  mit 
dem  Parsismus  auch  durch  die  Mithrasreligion  verbreitet  war-.  Das 
orientalische  Bild  der  Seelenreise  ist  so  schon  in  vorchristlicher  Zeit  in 
griechisches  Glauben  und  Denken  übergegangen.  Poseidonios,  der  in  seiner 
Theologie  östliche  Einflüsse,  besonders  von  der  Astrologie  erfahren  hat, 
scheint  diese  orientalischen  Vorstellungen  gekannt  und  mit  den  platonischen 
Lehren  von  den  Schicksalen  der  Seele  verbunden  zu  haben  -K  Für  die  nach- 
chiistKche  Zeit  sind   dann  die  Zeugnisse  sehr  zahlreich.    In  den  chaldäischen 


')  S.  Dieterich,  Mithrasliturgie  S.  180  ff.    Helm  S.  102.  •')  Cumont 

S.  152.  192.  292  ff.  309  (auch  Archiv  für  Religionswiss.  IX  S.  328  ff.).  =*)  Ich 

glaube  mit  Cumont,  dass  Berührungen  der  von  Poseidonios  abhängigen  Autoren 
mit  sicher  vom  Orient  beeinfiussten,  besonders  jüdischen  (s.  Bousset)  Quellen  nötigen, 
dem  Pos.  solche  Mittelstellung  zuzuschreiben.  Von  der  Annahme  orientalischer 
Beeinflussung  des  Pos.  aus  modifiziert  sich  dann  auch  Dieterichs  Auffassung  des 
Weltbildes  der  Mithrasliturgie.  —  Poseidonios  starker  Einfluss  hat  dann  den  Auf- 
bau der  späteren  Systeme  bestimmt.  Gewisse  Grundlinien  des  metaphysischen 
Gebäudes  kehren  seit  Poseidonios  in  den  wichtigsten  Systemen  konstant  wieder: 
Die  Stufenfolge  der  Sphären  und  Elemente  vom  reinsten  Aethei-,  dem  Sitz  des  höch- 
sten Gottes,  herab  bis  zur  Erde;  die  entsprechende  Rangfolge  der  Geister  (Gestirn- 
geister, Heroen.  Dämonen,  Engel) ,  die  in  wachsender  Entfernung  vom  höchsten 
Gott  bis  zur  irdischen  Welt  lierabreichen;  Fall,  Läuterung,  Erhebung  zum  Licht- 
reich als  die  Stadien  der  Seelengeschichte  (mit  der  Betrachtung  des  Abstieges  der 
Seele  als  Materialisierung,  der  Materie  und  des  Fleisches  als  etwas  Unreinem,  der 
Seele  ursprünglich  Fi-emden  ist  die  asketische  Ethik  gegeben);  die  Abhängigkeit 
der  Seele  von  guten  und  bösen  Geistern.  Wir  finden  diesen  Grundriss  wie  bei 
Poseidonios  so  auch  bei  Philo  (S.  117),  bei  Neuplatonikern  wie  bei  Origenes  (Har- 
nack,  Dogmengeschichte  I''  S.  587)  und  Eusebius  (s.  z.  B.  Tricennatsrede  c.  1.  2 
p.  196  ff'.  Heikel,  Theophanie  I  36  p.  54  Gressmann),  bei  Proklos  und  Synesios 
(vgl.  die  Parallelen,  die  Wilamowitz,  Sitzungsber.  der  Akad.  zu  Berlin  1907  S.  272  ff. 
zieht),  aber  auch  ähnlich  in  den  chaldäischen  Orakeln  und  bei  Hermes  (S.  89  Par- 
they). —  Wie  christlich  muss  dem,  der  den  Ursprung  der  christlichen  Vorstellungen 
nicht  kennt,  Senecas  Trostschrift  an  Marcia  c.  25  klingen:  Die  sterblichen  Reste 
ihres  Sohnes,  die  im  Grabe  ruhen,  sind  ihm  im  Grunde  so  fremd  wie  das  Kleid 
dem  Leibe.  Er  selbst  ist  der  Erde  entflohen  und  hat.  in  der  Luft  gereinigt  {ex- 
purf/atur,  über  den  heidnischen  Ursprung  des  Purgatorium  s.  Norden  zur  Aeneis 
S.  25  ff.),  sich  zum  Lichtreich  erhoben.  Dort  weilt  er  unter  den  Seligen,  in  der 
Gemeinschaft  mit  den  ihm  voraufgegangenen  Lieben  und  blickt  von  der  oberen 
Welt  auf  die  Seinen  herab.  Vgl.  Rohdes  Psyche  H  S.  320,  o.  S.  84.  Der  Einfluss 
des  Poseidonios  auf  die  Stelle  des  Seneca  ist  nachgewiesen.  Die  christlichen  Theo- 
logen haben  Mühe  gehabt,  so  vergeistigten  Vorstellungen  gegenül)er  den  Aufer- 
stehungsglauben plausibel  zu  machen,  und  die  sublimeren  griechischen  Foraien 
haben  auch  in  der  Kirche  neben  den  gröberen  jüdischen  sich  behauptet. 


Hiimiielt';ihrt  der  Seele:  Poseidoiiius.     Mitlirasrt'Iinioii  1G7 


Orakeln  (S.  99)  ist  die  Menschenseele  ein  Teil  des  göttlichen  voO;,  beim  Abstiege 
vom  Aetlier  wird  sie  mit  der  Leiblichkeit  umkleidet,  in  die  Knechtschaft  des 
Körpers  verstrickt.  Davon  befreit  erstrebt  sie  die  Rückkehr  zur  Gottheit,  die 
gute  Dämonen  (oder  Engel)  zu  fördern,  l)öse  zu  hindern  suchen'.  Im  späte- 
ren griechischen  Volksglauben  werden  diese  bösen  Geister  teXwvac  (Zöllner) 
oder  TsAwvia  genannt,  wohl  weil  sie  dem  Menschen  den  Weg-  versperren 
und  ihm  «inen  Tribut  abfordern-.  Die  Mischung  orientalischer  und  griechi- 
scher Anschauungen  erschwert  auf  diesem  Gebiete  oft  die  Aufgabe,  sicher 
den  Ursprung  der  einzelnen  Vorstellungen  oder  ihrer  Elemente  zu  bestimmen, 
und  es  war  vorschnell,  wenn  Anz  in  seiner  sehr  verdienstlichen  Arbeit  meinte, 
dass  mit  der  Zurückführung  des  Kernes  dieses  Vorstellungskreises  auf  die 
babylonische  Religion  diese  auch  als  der  eigentliche  Ausgangspunkt  der 
gnostischen  Bewegung  erwiesen  sei. 

Betrachten  wir  nun  die  Ausgestaltung,  welche  die  Himmelswanderung 
der  Seele  in  den  synkretistischen  Religionsgebilden  gefunden  hat.  Celsus 
berichtet  uns  von  INIysterien  des  Mithras,  in  denen  Planetensphären  und 
Fixsternhimmel  als  •/.l'.\X7.q  STiTaTZoXog  ^  mit  einem  Tore  darüber  dargestellt 
seien  und  vom  Durchgang  der  Seele  durch  sie  gehandelt  werde.  Nach  baby- 
lonischer Tradition  waren  hier  den  Planeten  verschiedene  Farben  zugeteilt. 
Der  Durchgang  durch  die  Tore  war  unzweifelhaft  so  ausgemalt,  dass 
die  Seele  an  jedem  die  dem  Planeten  entsprechende  Eigenschaft  beim  Ab- 
stiege annahm  und  beim  Aufstiege  ablegte'. 

Wir  A\issen,  dass  der  Neuplatonismus  auch  die  Mithrasreligion  als  Illu- 
stration seiner  Lehre  benutzt  hat,  und  begreifen  es,  dass  Porphyrios  das 
Bild  der  Himmelsreise  der  Seele  in  mehreren  Anklängen  als  bekannt  vor- 
aussetzt. Er  redet  vom  Durchgang  durch  die  sieben  Sphären  als  Eingang 
ins   Leben    und    lässt    die  Seele    auf   diesem   Wege    die    körperlichen   Eigen- 

M  Kroll,  De  oraculis  Chaldaicis  8.  50  ff.  Ihre  Verwandtschaft  mit  dem  Gno- 
stizismus    hebt   Kroll  S.  68  ff",   und  Rhein.  Mus.  L  S.  639   hervor.  ~)  KrolL 

Rhein.  Mus.  L  S.  637.  638,  andere  Beispiele  in  den  Thomasakten  p.  257,  11.  281,  10 
Bonnet.  Die  Bezeichnung  wird  nicht  aus  dem  Volkshass,  der  die  Zöllner  zu  bösen 
Geistern  macht,  sondern  daraus  zu  erklären  sein,  dass  die  Astralgeister,  den  Zöll- 
nern gleich ,  den  Weg  sperren  und  ihren  Tribut  fordern.  So  ist  auch  in  einem 
babylonischen  Texte  vom  „Vogt  der  leidvollen  Strasse"  die  Rede  (Anz  S.  86). 
Ueber  den  Kampf  guter  und  böser  Geister  um  die  Seele  vgl.  Norden  zur  Aeneis 
S.  7^  =*)  Vgl.  Reitzenstein,  Poimandres  S.  9.  10,  zum  Ganzen  Anz  S.  79  ff. 

*)  Darum  hebt  Celsus  bei  Origenes  Gegen  Geis.  VI  22  (s.  Cumonts  grosses  Mithras- 
werk  II  S.  30.  31  und  die  Erklärung  I  S.  38.  117  ff.)  zum  Teil  die  Charaktereigen- 
schaften der  einzelnen  Planeten  hervor.  Er  berührt  sich  dabei  mit  einem  Scholion 
des  Servius  zu  Vergils  Aeneis  VI  714,  das  mit  andern  aus  platonisierender  Vergil- 
exegese  stammt;  vgl.  besonders  die  Charakterisierung  des  Kronos  dmxh  ßpaSuxy^s 
(wie  z.  B.  Catal.  cod.  astrol.  II  p.  161,  3.  V  2  p.  36,  34),  des  Hermes  als  xp-^\ia.xiozric. 
des  launenhaften  Ares  mit  den  Worten :  aim  descendvM  animae,  trahunt  secum  tor- 
porem  Saturni,  Martis  iracundiam,  Mercurii  lucri  cupuUtatem.  Die  lateinische  Schil- 
derung des  Seelenabstieges  und  die  andern  von  Lobeck  im  Aglaophamus  S.  933  ff. 
und  von  Bousset,  Archiv  für  Religionswiss.  IV  166  ff.  gesauunelten  Parallelen  ge- 
statten, mit  ziemlicher  Sicherlieit  die  Hinnnelsreise  jener  Mithrasmysterien  zu  re- 
konstruieren. Planeteudarstellungen  sind  in  den  Mithräen  häufig.  Cumont  weist 
darauf  hin,  dass  in  Ostia  zu  Füssen  der  Planetenfiguren  sieben  halbkreisförmige 
Tore  in  den  Boden  gezeichnet  sind,  und  vergleicht  die  i-TaTtöpoc;  ßaO-iiic;  der  chal- 
däischen  Orakel.  —  Zu  den  Planetenfarben  ist  jetzt  auch  Vettius  Valens  im  Catal. 
cod.  astrol.  V  2  p.  36.  87  zu  vergleichen. 


1G8  ^  Synkretismus  und  Gxostizismus 

Schäften  ^vie  Gewänder  sich  anlegen,  die  Avieder  abzustreifen  das  letzte  Ziel 
der  luenschlii'hen  Entwicklung  ist.  Er  weiss  von  Theologen,  die  Sonne  und 
Mond  als  Seelentore  bezeichnen,  die  Sonne  tut'  den  Aufstieg,  den  Mond  für 
den  Abstieg'. 

Weiter  berichtet  Celsus  von  einer  christlichen  Lehre,  die  das  Bild  des 
Jenseits,  zum  Teil  durch  Figuren  veranschaulicht,  darstellte  und  den  Auf- 
stieg der  Seele  zum  Himmel  behandelte.  Origenes  hat  darin  die  Lehre  der 
Ophiten  erkannt  und  sich  zum  Zwecke  der  Widerlegung  des  Celsus  eine 
Schrift  der  Sekte  zu  verschaffen  gewusst,  die  sich  aber  nicht  völlig  mit  der 
Vorlage  des  Celsus  deckte.  Nach  Celsus'  Angabe  waren  die  sieben  Archon- 
ten  in  Tiergestalt  als  Löwe,  Stier,  Drache,  Adler,  Bär,  Hund,  Esel-  dar- 
gestellt (Orig.  VI  30).  Da  Celsus  offenbar  mit  gutem  Grunde  jene  Mithras- 
niysterien  und  diese  gnostische  Lehre  vergleicht,  dürfen  wir  wohl  die  tieri- 
schen Darstellungen,  welche  die  astrale  Bedeutung  der  Geister  verdrängt 
haben,  auf  Einwirkimg  der  Mithrasreligion  zurückführen,  die  freilich  nur  den 
ersten  Anstoss  gegeben  haben  wird  zu  Anschauungen,  die  dann  wohl  auch 
vom  ägyptischen  Tierdienst  beeinflusst  sind.  Wissen  wir  doch,  dass  einzelne 
Grade  der  Mysten  des  Mithras  Tiernamen  trugen  und  dass  es  gerade  sieben 
Grade  waren.  Die  Ehrentitel  Löwe  und  Rabe  werden  oft  bezeugt;  und 
wenn  Porphyrios  in  den  Mithrasmysterien  eine  Einteilung  der  Gläubigen  in 
Klassen  von  Löwen,  Hyänen,  Raben.  Adlern,  Geiern  kennt-',  so  werden  wir 
wohl  in  der  Organisation  der  Vereine  auch  für  diesen  Punkt  manche  Varia- 
tionen   annehmen    dürfen.      Die  Vermutung  einer  analogen  Bezeichnung    der 


*)  Porphyrios  bei  Stobäus,  Eklogen  II  p.  171,  1  Waclismuth:  zoü  (ok)  npmzo'j 
picj  ■?,  5'.£fo5(>;  (dasselbe  Wort  bei  Celsus)  5tä  xwv  §7ixa  a-^aipcov  y-Y'^^P'^'''^-  ^^  absti- 
nentia  I  31  p.  109,  14  Nauck'^  wird  das  Ausziehen  der  Scpiiä-Livoi  -/ixwvsj,  d.  h.  die 
neuplatonische  Ertötung  der  Sinnlichkeit,  gefordert.  Der  biblische  Ausdruck  (Gen 
3  •.•>)  wird  von  Gnostikern  und  Neuijlatonikern  in  dieser  symbolischen  Bedeutung 
gebraucht:  Bernays  (o.  S.  16*)  S.  143.  144,  Cumont,  Les  religions  orient.  S.  309  (vgl. 
KroUs  und  Dielüs  Register  zu  Proclus  In  rerap.  und  In  Timaeum,  xitwv  und  TrspißXyjiJLa, 
Hermes  Trismegistos  p.  .55,  5.  10.  78.  79  Parthey,  [Clemens]  Homilieen  VIII  23).  Die 
Herleitung  der  Körperlichkeit  von  den  Gestirnen  findet  sich  auch  in  Porphyrios' 
Sententiae  ed.  Mommert  p.  14.  —  Die  Seelentore:  De  antro  nympliarum  29  p.  76,  23 
(vgl.  6)  Nauck.  —  In  der  „Mithrasliturgie"  (S.  10  Dieterich)  werden  zuerst  die  sie- 
ben unsterblichen  Planetengötter  beschworen,  dann  aber  ein  sehr  viel  grösserer 
Apparat  aufgeboten.  Ich  glaube  mit  Cumont  (Revue  de  l'instruction  publique  en 
Belgique  XLVII  S.  1 — 10),  dass  der  von  Dieterich  behandelte  Text  von  Anfang  an 
gewesen  ist,  wofür  er  sich  gibt,  eine  als  Offenbarung  des  Mithras  eingeführte  An- 
weisung der  Mittel,  durch  die  der  Myste  sich  allinälilich  durch  die  Himmelsregio- 
nen bis  zum  höchsten  Gott  erheben  kann,  niclit  eine  Liturgie.  Auch  hier  haben 
wir  eine  Misclduldung,  in  der  die  mit  ägyptischen  Elementen  durclisetzte  Mithras- 
religion doch  wohl  eine  etwas  grössere  Rolle  spielt,  als  Cumont  annimmt.  Seine 
Einreihung  in  die  hermetische  Literatur  scheint  mir  zu  übersehen,  wie  sehr  die 
Grundlinien  aller  dieser  Religionsbücher  oft  übereinstimmen.  -')  Vgl.  Wünsch, 

Die  sethianischen  Verfluchungstafeln  S.  86  ff.,  ein  Archon  mit  Eselsgesicht  auch  in 
den  Koptisch-gnostischen  Schriften,  her.  von  Schmidt  I  p.  334,  andere  tierköpfige 
ebenda  p.  207  und  in  dem  von  Bonwetsch,  Gott.  Nachr.  1896  edierten  slavisch  er- 
haltenen Baruchbuch.  Aegyptische  Analogieen  bei  Cumont,  Revue  S.  3  ^  Dieterich 
S.  71.  72.  Ezechiel  kennt  vier  Dämonen  mit  Köpfen  ,  die  Apoc  in  Gestalt  von 
Mensch,  Löwe,   Stier,  Adler:   s.  Gunkel  a.  a.  O.  S.  44  ff.  'i  Die  Zeugnisse 

bei  Cumont  I  S.  314  ff.  II  S.  42.  .535,  vgl.  Dieterich,  Bonner  .Jahrbücher,  Heft  108 
S.  37. 


Porpliyiios.    ()i)liiten  169 


Archonten  und  der  Grade  der  Mysten  wird  dadurch  wahrsclieinlicli,  dass 
nach  Celsus'  Bericht  (VI  33)  die  ^nostisdie  Lelire  die  Menschen  7ai  der 
Gestalt  der  Archonten  zurückkehren  liess,  so  dass  sie  Löwen,  Stiere,  Drachen, 
Adler,  Bären  oder  Hunde  werden.  Während  Celsus  nur  den  Doppelnamen 
des  letzten  Archonten,  mit  einer  Abweichung  von  Ürij^enes,  angibt,  weiss 
dieser  alle  sieben  Namen  aus  seiner  Quelle  aufzuführen  —  ein  Mehr,  das 
wohl  schon  diese  Quelle  von  der  des  Celsus  unterscliied :  M'./a-r'iX,  ^oup^'/jA. 
'Pa'^arjA.  Vocpp'J/^.  WauD-apatOiK  Kpaxa(O))'.  Oapil-apatoD'  (Celsus  (-)a'^a[Jaa)H-)  oder 
OvoTjA.  Also  die  vier  in  der  Zauberlitei-atur  öfter  benutzten  jüdischen  Engel- 
namen neben  drei  noch  nicht  sicher  gedeuteten.  Celsus  (VII  40)  weiss, 
dass  die  Christen  Beschwörungen  gegen  jene  tiergestaltigen  Geister  und  gegen 
die  göttlichen  Türhüter  lernen  und  dass  sie  Mühe  haben,  die  Namen  der 
i)"jpwpoi  sich  einzuprägen.  Auf  der  Kenntnis  der  rechten  Namen  beruht  ja 
die  Wirkung  des  Zaubers ;  der  jNLj'ste  der  .,Mithrasliturgie"  i'ühmt  sich  z.  B., 
die  Namen  zu  wissen,  „die  noch  nie  in  deutlicher  Sprache  ausgesprochen 
wurden  von  einer  menschlichen  Zunge  oder  menschlichem  Laut  oder  mensch- 
licher Stimme,  die  ewig  lebenden  und  hochgeehrten  Namen"  (S.  8.  10  Die- 
terich)'. Solche  für  die  Auffahrt  der  Seele  bestimmten  Besclnvörungen  teilt 
Origenes  VI  31  mit.  Sie  richten  sich  an  TaXoaj^atoi)-,  "lato,  iSajjawv)',  Aoto- 
valoi;,  Aatacpaios,  ADmocIoc,  "ßpaioc.  Ob  es  dieselben  Namen  und  Formeln 
sind,  die  Celsus  las,  ist  wieder  zweifelhaft-.  Origenes  setzt  diese  Kräfte 
mit  den  vorher  genannten  tiergestaltigen  Archonten  gleich;  ob  das  eine  dem 
Celsus  noch  unbekannte  spätere  Ausgestaltung  der  Dichtung  ist,  lässt  sich 
nicht  entscheiden.  Sekundäre  Mischbüdungen  sind  beide  Archontenlisten, 
Zahl  und  Zeitfolge  der  Schichten  bestimmen  zu  wollen  müssen  wir  meist 
in  dem  verworrenen  und  verwirrenden  Chaos  dieses  Synkretismus  verzichten. 
Ein  Rudiment  der  ursprünglich  astralen  Bedeutung,  die  sonst  nur  in  der 
Benennung  apxovxes  nachklingt,  hat  sich  sogar  gerade  in  der  zweiten  Liste, 
die  'laoaXpioO-  mit  Oat'vwv,  d.  h.  Saturn,  gleichsetzt^,  erhalten,  obgleich  hier 
der  Wortlaut  der  Beschwörimgsformeln  auf  eine  weit  ausgesponnene  reli- 
giöse Phantastik  deutet.  Dass,  trotzdem  es  sich  um  den  Aufstieg  der  Seele 
handelt,  die  Richtung  von  oben  nach  unten  verfolgt  wird,  stellt  die  Quelle 
des  Origenes  unter  die  abgeleiteten  unverstandene  Elemente  sinnlos  über- 
nehmenden gnostischen  Gebilde*.      Aber    die  Grundlinien  zeigen  noch  deut- 


*)  Aehnlich  Koptiscli-gnostische  Schriften,  her.  von  Schmidt  I  p.  295.  296.  310, 
vgl.  Anz  S.  21  ff.  -)  Wenn  VII  40  in  dem  Zitat  aus  Celsus  -/.ai  töc  5ai|xövt,a 

pr,[iaxa  xä  Tzpöc,  xöv  Xio^nv.  ....  -xai  xobg  äXXou;  [xal  xobg]  ifsoTisaio'j?  i)"jpwpoüc;  richtig 
überliefert  wäre,  hätte  Celsus  Archonten  und  Pförtner  geschieden,  Origenes  Aväre 
also  anders  berichtet,  wenn  er  bald  darauf  und  VI  31  die  Identität  voraussetzt. 
Aber  vielleicht  tue  ich  recht,  -xal  zobg  an  zweiter  Stelle  einzuklammern.  Die  Phan- 
tastik der  Formeln  VI  31  wdrd  etwas  aufgehellt  durch  das,  w'as  Celsus  VI  34  be- 
richtet. 3)  An2  S.  12.  13.  *)  Die  Umkelu-ung  der  Ordnung  möchte 
Anz  daraus  erklären,  dass  hier  ursprünglich  der  Abstieg  des  Erlösers,  nicht  der 
Aufstieg  der  Seelen,  geschildert,  war.  Mir  scheint  der  Gebrauch  derselben  Formeln 
für  den  Abstieg  des  Erlösers  unwahrscheinlicli  und  auch  im  einzelnen  unpassend. 
Aber  woher  stammt  denn  die  in  dem  Texte  der  Formeln  voi'handene  ,  nur  nicht 
ganz  streng  durchgeführte  Zählung  der  Geister  als  7.  (6.)  5.  u.  s.  w .  (nicht  1.  2.  3.)  ? 
Warum  hat  der,  welcher  die  richtige,  dem  Aufstieg  entsprechende  Zählung  einführte, 
nicht  die  Formeln  selbst  in  die  rechte  Ordnung  gebracht?  Folgende  Lösung  des 
Rätsels  scheint  mir  wahrscheinlich:  Da  wir  wissen,  dass  das  Diagramm  wie  unsere 
koptischen  Texte  Figuren  enthielt,  werden  diese  Formeln  in  eine  Zeichnung  der 
Tore  eingetragen  gewesen  sein,  auf  der  das  7.  Tor  oben  auf  der  Seite  stand,  um 


170  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 

Höh  das  ursprünoliclie  Weltbild,  wie  es  den  Vorstellungen  von  der  Himmel- 
fahrt der  Seele  zugrunde  liegt:  Von  einer  Sphäre  zur  andern  erhebt  sie  sich. 
An  jeder  Station  tritt  ihr  den  Weg  sperrend  der  Archon  des  Planeten  gegen- 
über. Die  Kenntnis  des  Wesens  der  Mächte  und  ihrer  wirkungsvollen  Namen, 
die  Aufweisung  bestimmter  Symbole  verscheuchen  den  Archon,  so  dass  die 
Seele  eine  Station  nach  der  andern  „frei  passieren'-  kann;  mit  dem  letzten 
Tore  hat  sie  .,den  Zaun  der  Bosheit'*  überwunden,  hat  Teil  am  Lichte  des 
Sohnes  und  des  Vaters.  Gute  Engel,  die  der  Seele  auf  ihrem  Wege  Bei- 
stand leisten,  und  böse,  die  den  Archonten  zur  Seite  stehen,  scheinen  das 
Drama  weiter  belebt  zu  haben  (Orig.  VI  27,  vgl.  o.  S.   167-). 

Der  Grundriss  dieser  Lehre  ist  heidnisch,  wie  sie  auch  Celsus  in  einem 
Mithraskonventikel  in  rein  heidnischer  Gestalt  vorgefunden,  Porphyrios  und 
andere  Heiden  sie  gekannt  haben.  Durch  Umformungen,  Ei'weiterungen, 
Eintragungen  konnte  diese  Lehre  mit  dem  Stoffe  christlicher  und  anderer 
Religionen  bereichert  werden.  Die  Vergleichung  der  verwandten  Bildungen 
und  die  auf  eine  voraufgehende  Geschichte  und  einen  längeren  Bildungs- 
prozess  weisende  Ablagerung  der  Schichten  in  den  einzelnen  Gebilden  haben 
uns  den  Fluss  der  Entwickelung  und  die  fortschreitende  Verwilderung  der 
Traditit)nen,  die  nur  das  Grundmotiv  unverändert  lassen,  kennen  gelehrt. 
Andere  wilde  Sprösslinge  derselben  Wurzel,  die  hier  nicht  besprochen  wer- 
den sollen  ^  zeigen  wieder  neue  Formationen.  Neben  die  sieben  Archonten 
konnten  andere  Geisterreihen  treten;  die  feindlichen  Mächte,  Nachstellungen 
und  Kämpfe,  "svelche  die  Seele  zu  bestehen  hat,  die  sie  errettenden  Beschwö- 
rungen konnten  immer  länger  gedehnt,  die  Geschichte  der  Seelenreise  immer 
bunter  ausgemalt  werden.  Mithrasliturgie  und  Pistis  Sophia  bieten  nieder, 
um  ein  heidnisches  und  ein  gnostisches  Beispiel  zu  wählen,  Beispiele  der 
Aufbietung  eines  viel  reicheren  Apparates.  Bei  Justin  nehmen  zwölf  Engel 
den  Platz  der  sieben  Archonten  ein,  d.  h.  der  Zodiakalkreis  ist  an  die  Stelle 
der  Planetensphären  getreten  "^  Endlich  konnte  die  Spekulation  die  konkre- 
ten Gestalten  durch  abstrakte  Begriffe  verdrängen  und  so  die  Gebilde  in 
eine  höhere  Lage  transponieren.  Als  Beispiel  führt  Anz  S.  17  die  Barbelo- 
gnostiker  an,  die  neben  den  Proarchon  die  hypostasierten  Begriffe  aO^aoeta, 
y.ay.ca,  ^fjXog,  ',f;i)-6vo;,  spivuc,  ir,'.'&'j\iiy.  stellten.  Sie  haben  offenbar  die  Laster, 
welche  die  Seele  beim  Abstiege  in  den  Planetensphären  annimmt  (S.  166  f.), 
an  Stelle  der  Archonten  gesetzt. 

Für  das  Uebergewicht  der  Ethik  ül^er  den  mythologischen  Apparat  sei 
noch  die  Lehre  des  Poimandres  vom  Aufstieg  der  Seele  erwähnt,  zugleich 
ein  weiteres  vortreffliches  Beispiel  rein  heidnischer  Parallelbildungen  zu  gno- 
stischen  Lehren-':  Nach  der  Auflösung  des  Leibes  steigt  der  Mensch  nach 
oben  und  übergibt  der  ersten  Zone  tYjV  a'j^rjT!.XY|V  svspye'.av  xa:  ty,v  |JL£'.wxr/.y^v, 
verliert  in  den  weiteren  Zonen  einzelne  Laster  und  Leidenschaften.  Befreit 
von  den  Bedingungen  des  körperlichen  Seins  geht  die  Seele  in  ihrer  wahren 
Natur  in  die  Ogdoas  ein',    i)reist   dort   mit    den  Seelen,    die   sich   über    ihr 


die  ävo3o;  anschaulich  zu  machen.  Sie  wurden  dann  in  falscher  Ordnung  abge- 
schrieben. DemOrigenes  den  In-tum  zuzuschreiben,  trage  ich  wegen  seiner  sorg- 
fältigen Uebergangsformen  (zlW  i;f,?)  einiges  Bedenken.  ')  Anz  S.  16  ff.; 
Preuschen,  Die  apokryphen  gnostischen  Adamschriften,  Giessen  1900  S.  60  ff. 
-)  Anz  S.  19,  vgl.  Reitzenstein  S.  231.  -'j  I  i<  24— 2ü  p.  14  Parthey;  Reitzen- 
stein,  Poimandres  S.  .52  ff.  :«().  Zielinski,  Archiv  für  Religionswiss.  VIII  8.  .329  ff. 
')  Auch  die  Ogdoas  l)egegnet,  wie  in  andern  gnostischen  Systemen  und  Zauber- 
papyri, bei  den  Barbelognostikern.  —  Aehnlich  sagt  die  Seele  bei  Orig.  VI  31. 
offenbar  beim  Durchgange  durch  die  Ogdoas   2v9-ev   zl/.-.v.yM,:   -ijjL-oiiai ,   cfwtög  y,5Y, 


Andere  Uiiostiker.    Poiuumdres.    Astrologische  Religion  171 


Erscheinen  freuen,  den  Vater.  Sie  hört  weiter  jenseits  der  Ogdoas  die 
Kräfte  Gott  preisen',  steigt  mit  den  andern  zum  Vater  auf,  in  den  sie  alle, 
selbst  zu  Kräften  geworden,  eingehen.  „Das  ist  das  schöne  Ziel  für  die. 
welche  die  Gnosis  haben,  vergottet  zu  werden.'" 

\'erzweitlung  über  die  niederdrückende  Gewalt  und  den  unerbittlichen 
Zwang  der  Sternenmächte,  wie  sie  durch  orientalisclien  Astralkult  und  Astro- 
logie verbreitet  wurden,  hat  die  Sehnsucht  nach  Erlösung  und  Erhebung  über 
die  Gewalt  der  himmlischen  Kräfte  hervorgerufen  (S.  81).  Die  Stimmungen, 
gegen  welche  die  Reaktion  sich  erhoben  hat,  treten  uns  jetzt  beim  Astro- 
logen Valens  (II  Jahrh.  n.  Chr.)  in  ihrer  ganzen  die  Kräfte  des  Menschen 
lähmenden  Gewalt  gegenüber-:  Menschliche  Freiheit  ist  eitler  Wahn,  des 
Schicksals  Gesetze  schlagen  jeden  in  Ketten.  Eine  Beute  und  ein  Spielball 
in  den  Händen  der  göttlichen  Kräfte,  besonders  der  bösen,  die  das  Ueber- 
gewicht  über  die  guten  haben,  wird  der  Mensch  in  die  Leiblichkeit  und 
Schuld,  in  die  beständigen  Irrungen  des  Lebens  verstrickt  und  zur  Strafe 
von  den  Geistern  gequält  und  gepeinigt.  Religiosität  und  Moral  dieser 
Weltanschauung  erschöpft  sich  in  dem  Rate,  willenlos  sich  den  Launen  des 
Schicksals  zu  fügen,  Trost  und  Hoffnung  aufzugeben,  als  Soldat  und  Sklave 
der  £:jjLap[x£vrj  ihr  Kommando  zu  befolgen  •'.  Gegen  diese  trostlose  Lebens- 
auffassung erheben  sich  die  von  uns  Ijetrachteten  Formen  einer  magischen 
Religiosität.  Die  Grundlagen  jener  astrologischen  Weltanschauung  werden 
dabei  im  Grunde  gar  nicht  angefochten;  der  Ausweg  aus  dem  hoffnungs- 
losen Kreise  der  Notwendigkeit  wird  gefunden,  indem  der  Mensch  in  einen 
Bund  tritt  mit  höheren  Mächten,  mit  deren  Hilfe  er  die  Gewalt  der  niede- 
ren brechen  und  im  irdischen  Dasein  schon  in  der  Ekstase,  nach  dem  Tode 
durch  die  Himmelfahrt  die  Erlösung  von  der  Knechtschaft  der  Archonten 
finden  kann.  Er  geht  ins  Reich  des  höchsten  Gottes  ein  und  erhebt  sich 
über  die  niedere  Welt,  die  dem  drückenden  Zwange  der  Planetengötter 
unterworfen  ist.  Arnobius  (II  62)  redet  spöttisch  von  denen,  die  sich  rüh- 
men, sie  seien  als  Gotteskinder  den  Gesetzen  des  Schicksals  enthoben  und 
der  Rückkehr  zu  ihrer  himmlischen  Heimat  sicher,  und  von  Magiern,  die  im 
Besitze  von  Beschwörungen  sein  wollen,  durch  welche  die  Mächte  gezwungen 
würden,  der  gen  Himmel  fahrenden  Seele  den  Weg  freizugeben  (vgl.  II  13 
und  S.  169).  So  wird  auch  der  Myste  der  „Mithrasliturgie'-  befreit  von 
der  bitteren,  unerbittlichen  Not  und  vom  Schicksalszwange*.  Der  Sinnen- 
lust ergeben  war  der  Held  des  Romanes  des  Apuleius  der  Macht  des  blinden 
Schicksals  verfallen,  das  alle  seine  Launen  an  ihm  ausliess,  bis  die  gnädige 
Göttin  Isis  ihn  erlöst  und  zur  Freiheit  berufen  hat.  „Mag  nun  das  Schick- 
sal gehen  und  seine  Raserei  und  Grausamkeit  gegen  andere  kehren.  Denn 
über  die,  welche  unsere  Göttin  in  ihren  Dienst  genommen  hat,  hat  ein  feind- 
liches Schicksal  keine  Gewalt".  Und  die  Summe  der  erbauUchen  Geschichte 
des  Lucius  verkündet  der  Isispriester  mit  den  Worten:  „In  sich  gehen  mögen 
die  Gottlosen  und  ihren  Irrtum  erkennen.  Hier  steht  Lucius  von  all  seinen 
früheren  Leiden  befreit  und  triumphiert  voll  Freude  über  die  Fürsorge    der 


lispos  'jioü  y.al  Tiaxpö?.    Dasselbe  Ziel  in  der  Mithrasliturgie  S.  4,  7  ff.  14,  ;51.  *>  S. 

Kroll,  De  oraculis  Chaldaicis  S.  54.    Dieterich,  Abraxas  S.  33.  -)  Catal.  co- 

dicum  astrol.  V  2  p.  29,  2.  19.  30,  10.  33,  19.  35,  18.  37,  20.  Ueber  den  Einfluss  der 
Astrologie  auf  die  Gnosis  vgl.  Geffcken,  Sitzungsber.  der  Akad.  zu  Berlin  1899 
8.  704.  705.  3)  Dieselbe  Stimmung  bei  Seneca  Epist.  77.  12  Nat.  quaest.  II 

35.  36,  vgl.  Helm  S.  121,  BoU,  Jahrb.  Suppl.  XXI  S.  146.  150,  [Clemens]  Homilieen 
XIV  3  =  Recogu.  VIU  2.  *)  Vgl.  auch  Hermes  Trismegistos  p.  102  ff.,  die 

chaldäischen  Orakel  S.  59  Kroll  und  Rohdes  Psyche  II  S.  387. 


172  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 

irrossen  Isis  über  sein  Scliicksal"'. 

Auch  die  Kirche  hat  sich  mit  dem  astrolu^ischcii  Fatalismus  auseinan- 
dergesetzt. Eine  reiche  Literatur  bezeugt,  welche  Kraft  ihre  Theologen  an 
seine  Widerlegung  gesetzt  haben-.  Und  doch  hat  nicht  nur  der  astrologische 
Glaube  unter  den  Christen  eine  Avachsende  Macht  gewonnen,  auch  die  Kirche 
iiat  sich  seineuj  Eindringen  nicht  zu  widersetzen  vermocht:  Die  Planeten- 
woche ist  rezipiert,  die  Planetengötter  sind  in  die  sieben  jüdisch-christlichen 
Erzengel  umgesetzt,  das  astrologische  Weltbild  ist  von  den  Theologen  nur 
wenig  ins  Christliche  umgebildet  worden.  Auch  Christus  wird  als  der  Er- 
löser aus  den  Banden  des  Schicksals  gepriesen;  die  Gläubigen  sind  der 
SchicksalsgCAvalt  entrissen  und  unter  seine  Fürsorge  gestellt''.  Der  Schick- 
salsglaube der  astrologischen  Religion  ist  auch  schon  der  Hintergrund,  von 
dem  sich  im  Kontraste  der  Christusglaube  des  Epheserbriefes  abhebt':  Es 
gilt  zu  ringen  mit  den  oberen  Mächten  und  Weltherrschern.  Auch  hier  er- 
scheint der  über  die  ganze  Geisterwelt  erhabene  Christus  als  die  den  nieder 
ren  Geistern  überlegene  Kraft,  und  das  letzte  Ziel  für  den  Gläubigen  ist, 
auch  einst  siegreich  in  die  obere  Welt  einzugehen. 

Die  Geschichte  der  Menschenseele,  ihres  himmlischen  Ursprunges,  ihrer 
irdischen  Leiden,  ihrer  Rückkehr  zur  oberen  Einheit  wird  nicht  nur  in  Bil- 
dern dargestellt,  die  Gestirnreligion  und  Weltbild  des  Orients  zur  Voraus- 
setzung haben.  Der  heterogenste  Stoif  kann  zur  Illustration  dieses  Vor- 
stellungskreises verwertet  Averden.  Die  mancherlei  Schichten,  die  in  dem 
von  Hipjiolyt  benutzten  Naassenei'buch  über  einander  gelagert  sind,  geben 
lehrreiches  Zeugniss  für  die  Fähigkeit  des  religiösen  Synkretismus,  immer 
neuen  Stoö"  an  sich  zu  ziehen  und  seinen  Ideen  dienstbar  zu  machen.  In 
die  eigentlich  wirksamen,  tiefsten  Motive  naassenischer  Frömmigkeit  führt  am 
besten  der  von  Hippolyt  am  Schluss''  mitgeteilte  naassenische  Hymnus:  Die 
Seele  ist  dem  Gesetze  des  mittleren  Reiches,  das  zwischen  Geist  und  Materie 
steht,  unterworfen.  Bald  strebt  sie  empor  zum  Lichte,  bald  jammert  sie 
im  Elende  und  weiss  irrend  keinen  Ausweg  aus  dem  Labyrinthe  der  Leiden, 
dem  bitteren  Chaos  zu  finden.    Da  bittet  Jesus  den  Vater,  mitleidig  auf  die 

')  Metam.  XI 15,  vgl.  über  die  religiösen  Anschauungen  des  Apuleius  Zinzow, 
Psyche  und  Eros,  Halle  1881  S.  113  f.  "-)  Boll  S.  182  ff.;  Schürer,  Zeitschrift 

für  neutest.  Wiss.  VI  S.  44  ff.  ^)  S.  z.  B.  Clemens  und  Tatian,  o.  S.  81.  156. 

Tatian  c.  9  siiiapiisvrjs  ävwxspoi,  Hermes  S.  104,  14  £t]iap!JLsvr,c;  OTcspävto  y-slvai.  Schmidt, 
Texte  und  Unt.  VIII  S.  471,  Reitzenstein  S.  78.  103.  107.  *)  Besonders  in 

Betracht  kommen  ligff.  (zu  V.  21  övoixa  vgl.  S.  169).  3  lo.  612  (xoaixoxpäxopss  ist  ste- 
hende Bezeichnung  der  Planeten).  2  ••  S.^^yjiä^  ty^s  egouaiag  tou  äspos  (Reitzenstein, 
Poimandres  S.  49  2).  2  a  werden  Begierden  des  Fleisches  und  Gedanken  ähnlich 
selbständig  gedacht  wie  in  dem  oben  behandelten  Vorstellungskreise.  3 19  -t  t6 
rJ.dTo;  y.al  [if/z.o;  y.al  ''r^og  y.al  'p<x^oc,  hat  Reitzenstein  S.  25  in  andern  Religionsbil- 
dungen der  Zeit  nachgewiesen.  Vettius  Valens  bietet  andere  auffällige  Parallelen. 
Auch  das  Bild  der  militia  C/nisti  kann  hier  wie  bei  andern  Autoren  von  der  Anti- 
these zu  dem  auch  in  orientalischen  Religionen  üblichen  Bilde  (Cumont  S.  XIII  ff.) 
beeinflusst  sein.  '■')  Philos.  V  10,  zuletzt  behandelt  von  Swoboda,  Wiener 

Studien  XX VH  299  ff.,  der  die  in  ähnlichem  anapästischen  Masse  gefassten  Verse 
vergleicht,  die  Grenfell-Hunt,  Fayum  towns  and  their  papyri  S.  82—87  ediert  haben. 
Aber  dass  Avir  hier  die  Fortsetzung  des  Hynmus  hätten,  ist  eine  unAvahrscheinliche 
Vermutung.  Denn  1 )  ist  es  ganz  unsicher,  dass  der  Papyrus  eine  Höllenfahrt  Christi 
enthält.  Es  kann  z.  B.  eine  Hadesfahrt  der  Seele  und  diese  ein  Teil  der  Auffahrt 
der  Seele  sein,  die  die  von  den  Geistern  vollzogenen  Höllenstrafen  beobachtet 
(o.  S.  85,  griechischer  Baruch  c.  4).  2)  fordert  der  Hymnus,  wie  oben  gezeigt  ist, 
eine  andere  Fortsetzung  als  die  Höllenfahrt. 


Erlösun2:sreli":ionen.    Naassener  173 


Anne,  die  seinem  Hauche  entsprungfen  ist,  zu  blicken.  Mit  den  (den  Durch- 
gang ermöglichenden)  a'-ppayioe; '  will  er  hinabsteigen,  alle  Aeonen  durch- 
wandern, alle  ^Mysterien  und  Gestalten  offenbaren,  die  Geheimnisse  des  hei- 
ligen Weges  als  Gnosis  kundtun.  —  Als  Komplement  fordert  die  Dichtung 
den  Aufstieg  der  Seele,  der  wohl,  etwa  nach  der  ütl'enbarung  der  Gnosis, 
auch  in  der  Fortsetzung  der  Dichtung  geschildert  war.  Die  naassenische 
Phantasie -hat  sich  hier  sicher  in  der  Richtung  der  oben  gescliilderten  Himmel- 
fahrten mit  ihrem  reichen  Geisterapparate  bewegt.  Diesen  Teil  der  Lehre 
oder  der  Dichtung  wegzuschneiden  hat  der  von  Hippolyt  benutzte  Theologe 
allen  Grund  gehabt;  denn  er  bewegt  sich  in  der  Richtung  sjjekulativer 
Mythendeutung,  für  die  er  ein  einfacheres  Weltbild  mit  3 — 4  Stockwei'ken 
zugrunde  legt-.  Die  üppig  wuchernde  Phantasie  dieses  Theologen  ist  von 
einem  etwa  aus  Hadrians  Zeit  stammenden  Liedchen  angeregt ■',  das  u.  a. 
Attis,  Adonis,  Osiris,  Korybas,  Papas  gleichsetzt.  Das  hat  ihm  den  Anlass 
gegeben,  diese  und  andere  IMythen  in  einer  den  Text  des  Gedichtes  erklä- 
renden, mit  Gelehrsamkeit  ])runkenden  Rede  als  Illustration  der  Schicksale 
der  Menschenseele  erbaulich  zu  behandeln^.  Ich  greife  nur  einige  Proben 
heraus,  um  eine  Vorstellung  von  dieser  phantastischen,  barocke  Formen  für 
abstrakte  Ideen  suchenden  Theologie  zu  geben:  Die  Liebe  der  Aphrodite, 
Persephone,  Selene  zu  Adonis ''  und  Endymion  stellt  das  Trachten  aller  Teile 
der  Welt  nach  Beseelung,  die  der  Göttermutter  zu  Attis  die  Erhebung  der 
Seele  in  das  höchste  Himmelsreich  dar.  Osiris  und  Hermes,  mit  dem  auf- 
wärts gerichteten  Phallos  gebildet,  bedeuten  das  Emi)orstreben  der  Seele  zur 
oberen  Welt  und  zur  Vereinigung  mit  dem  idealen  Urmenschen.  Allegorische 
Homererklärung  nach  Art  des  Porphyrios  deutet  Hermes  Psycliopompos,  ety- 
mologische Spielerei  in  der  Weise  der  Stoa  Korybas  und  andere  Gestalten  im 
Sinne  dieser  Theologie.  Vor  allem  aber  verweilt  der  Redner  mit  besondei-er 
Liebe  bei  der  Deutung  der  Darstellungen,  Attribute,  Namen,  mythischen  Ge- 
schichte des  Attis.  Hier  kann  nur  die  Grundrichtung  seiner  Spekulationen 
angedeutet  werden:  Die  Entmannung  des  Geliebten  durch  die  Göttermutter 
bedeutet  die  Zurückführung  der  männlichen  Kraft  der  Seele  in  die  obere 
Welt,  viyjoc,  nennen  Attis  die  Phryger,  wenn  er  im  Kerker  des  Leibes 
begraben  ist,  Gott,  wenn  er  sich  wieder  in  sein  ursprüngliches  Wesen  ge- 
wandelt hat,  axapTTo;  den  ins  Fleisch  und  seine  Begierden  eingegangenen, 
TToXuxapTio?  den  erhöhten,  tAt.'xz  (von  T^auc'.v)  den  alle  ungeordnete  und 
regellose  Bewegung  zur  Ruhe  bringenden,  an  den  aus  allen  W^eltregionen 
der  Ruf  ergeht:  Tzaüs,  Tzaöe  xrjv  aaujxcpwv'av  xoü  XGa|j.ou".  So  stellen  seine 
Schicksale  die  der  Menschenseele  typisch  dar,  Geburt  luid  Grab,  Fall  und 
Erhöhung. 

Wir  sehen  in  diesem  Falle  deutlich,  wie  aus  dem  religiösen  Erlebnis, 
das  der  Hymnus  ergreifend  darstellt  und  das  die  Mysterien  den  Gläubigen 
nahe  brachten,  eine  immer  weitere  Kreise  ziehende  komplizierte  Theologie 
herauswächst,  die,  weit  entfernt  auf  den  guten  Geschmack  abschreckend  zu 
wirken,  den  Religionsübungen  des  Konventikels  in  den  Augen  der  Gebilde- 
ten einen  tieferen  Sinn  und  eine  spekulative  Bedeutung  geben  will.  Ich 
habe  diese  Theologie  dargestellt,  ohne  ihre  christhchen  Elemente  zu  erwäh- 
nen.    Von  den  Grundgedanken   geht    durch    diese  Ausscheidung   nichts    ver- 

')  S.  Koptiscli-gnostische  Schriften,  her.  von  Schmidt  S.  321.  -)  Bousset. 

Arcliiv  S.  23.5.  3)  Behandelt  von  Wilamowitz,  Hermes  XXXVII  S.  329,  Reitzen- 

stein,  Poimandres  S.  98.  *)  Zu   benutzen  ist  jetzt  Ausgabe  und  Erklärung 

Reitzensteins  S.  83  ff'.  '•')  Adonis  begegnet  auch  in  der  Pistis  Sophia  c.  146. 

")  Dieselben  Gedanken  in  christlicher  Theologie  bei  [Clemens]  Homiüen  XVII  9.  lu. 


171  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 

loren,  da  das  christliche  ]\rateTial  nur  eine  Exerapel-  und  Ilhistrationsreihe 
neben  vielen  andern  ist.  Reitzensteins  scharfsinnige  Analyse,  die  es  aus- 
schaltet, hat  so  viel  dargetan,  dass  es  oft  störende  Zutat  und  s))äterer  Ein- 
schlag ist.  Freilich  ist  in  diesem  Falle,  wie  in  der  Ai)okalypse  oder  in  der 
hermetischen  Literatur,  die  Absonderung  der  Schichten  nicht  ein  Problem, 
das  eine  rein  literarhistorische  Lösung  gestattet.  Das  Scheidewasser  scharfer 
Logik  versagt  leicht  in  den  trüben  Massen  religiöser  Phantastik.  Dass  aber 
in  der  Tat  rein  ethnische  Bildungen  zugrunde  liegen,  die  nah  vom  christ- 
lichen Firniss  nicht  überzogen  waren,  beweist  die  Existenz  einer  noch  ver- 
wandten Attistheologie  in  Kaiser  Julians  V  Rede  auf  die  Götterrautter.  Sie 
war  mir  schon  vor  Jahren  der  Ausgangspunkt  einer  Analyse,  die  mich  zu 
ähnlichen  Ergebnissen  geführt  hat,  wie  sie  Reitzenstein  von  anderen  Gesichts- 
])unkten  aus  gewonnen  hat.  Ich  glaube  nachweisen  zu  können,  dass  Julian 
liier  wie  in  der  R.  IV  (S.  97)  Jarablich  benutzt  hat,  Janiblicli  und  der  Naassener- 
text  auf  ältere  stoisch-])latonische  Umsetzung  des  Mythos  zurückgehen.  Es 
genügt  für  meinen  Zweck,  auch  hier  einige  Grundgedanken  hervorzuheben,  die 
zeigen,  -wie  weit  die  heidnische  Predigt  der  gnostischen  parallel  läuft:  Attis 
ist  die  vom  voü?  ausgehende  Kraft,  die  alle  loyoi  und  (xhioci  in  sich  schliesst 
und  in  die  Materie  einführt.  Ueberschreitet  er  gegen  die  Weisung  der 
Göttermutter  die  Milchstrasse  (=  xov  FaXXov  Tioxajxov),  die  Grenze  der  obe- 
ren und  der  unteren  Welt,  so  geht  er  ein  in  die  Höhle  und  gesellt  sich  der 
Nymphe,  d.  h.  er  verbindet  sich  mit  der  üXt]  und  verfällt  der  yevea:^.  Da 
greift  die  Göttermutter  aus  der  oberen  Welt  ein;  durch  die  Entmannung, 
d.  h.  die  Beseitigung  der  (XKeipia.,  erhebt  sie  ihn  in  das  Himmelreich.  Was 
der  Gott  erlebt  hat,  ist  nicht  ein  einmaliges  Ereignis,  sondern  beständig  ist 
Attis  Gefährte  der  Mutter,  beständig  quillt  er  über  von  Schöpferkraft,  wdrd 
er  in  seinem  masslosen  Trachten  beschränkt  und  von  der  Erde  wieder  auf  seinen 
himmlischen  Thron  erhoben.  Und  was  er  gelebt  und  gelitten,  ist  allgemeines  Er- 
lebnis und  Schicksal.  Uns  allen  gilt  die  Mahnung,  vom  Niederen  uns  ab- 
und  dem  Höheren  uns  zuzuwenden.  Und  nach  des  Gottes  Entmannung  ruft 
die  Trompete  nicht  ihn  allein,  sondern  uns  alle  nach  oben,  die  wir  himm- 
lischen Ursprung  und  irdischen  Fall  mit  ihm  teilen.  Auch  uns  heissen  die 
Götter  herausschneiden  die  Masslosigkeit,  aufsteigen  zum  Begrenzten,  Ein- 
heitlichen, Einen,  als  Erlöste  mit  Attis  das  Freudenfest  feiern.  —  Es  wäre 
leicht,  diese  Gedankenreihen,  die  in  mannigfachen  Variationen  wiederholt 
werden,  ins  Christliche  zu  transponieren  oder  christliche  Parallelen  dafür 
zusammenzustellend  ' 

In  dem  in  letzter  Zeit  viel  behandelten-  Hymnus  der  Thomasakten  wird 
die  Lehre  von  der  Erlösung  in  eine  die  ganze  Pracht  orientalischer  Erzäh- 
lungskunst entfaltende  Novelle  gekleidet:  Aus  dem  östlichen  Reiche  wird 
der  Königssohn  als  kleines  Kind  von  den  Eltern  nach  dem  Westen  geschickt. 
Das  Prachtgewand  und  der  Purpurrock  wird    ihm  ausgezogen.    Nach  Aegyp- 


')  Dieterich  S.  176  ff.  Das  Wesentliche  ist,  dass  in  verschiedenen  orientali- 
schen Kulten  Aufleben,  Erhebung,  Errettung  des  Gottes  dem  Mysten  das  gleiche 
Schicksal  verbürgt.  '-)  Preuschen,  Zwei  gnostische  Hymnen,  1904.     Reitzen- 

stein, Hellenistische  Wundererzälilungen  S.  103  ff.  Burkitt,  Urchristentum  im  Orient, 
deutsch  von  Preuschen,  Tübingen  1907  S.  134  ff.  Apuleius  Erzählung  von  Amor 
und  Psyche  mit  ihrer  merkwürdigen  Verbindung  von  Märchenmotiven,  Jenseits- 
bildem,  spekulativ-allegorischen  Elementen  bedarf  jetzt  auch  auf  Grund  der  Ana- 
logieen  der  Thomasakten  einer  neuen  Analyse.  Das  Problem  ist  behandelt  z.  B. 
von  Zinzow  (o.  S.  172'),  Heinrici,  Preuss.  Jahrb.  XC  1897  S.  390  ff.;  vgl.  Friedlän- 
der 1  S.  .5.3.5  ff.  —  Audi  in  IV  Esra  9.  10  hat  Gunkel  allegorisierte  Novelle  vermutet. 


Jiiliiiu.     'riioniasakten  175 


ten  soll  er  ziehen,  die  von  einer  Schlange  bewachte  Perle  im  "Meere  zu  ge- 
winnen. Und  er  zieht  durch  Maisan,  Jiahylonien,  Sardfd^  '  nach  Aegy])ten. 
Trotz  der  Warnung  vor  den  Aegyptern  kostet  er  unvorsiclitig  von  ihrer 
Speise  -,  dient  ihrem  Könige,  vergisst  seine  Herkunft,  vergisst  die  Perle.  Da 
kommt  aus  der  Heimat  ein  Schreiben,  das  ihm  die  seiner  unwürdige  Knecht- 
schaft vorhält,  ihn  erinnert,  dass  er  ein  Königssohn  ist,  erinnert  an  die  Perle, 
an  sein  Pminkkleid  und  seinen  Purpurrock.  Da  kommt  der  Königssohn  zu 
sich,  gedenkt  seiner  Herkunft  und  Freiheit,  schläfert  die  Schlange  ein  und 
gewinnt  die  Perle.  Sein  schmutziges  Gewand  lässt  er  in  Aegypten.  Nach 
langer  Wanderung  empfängt  er  an  der  Grenze  der  Heimat  sein  Prunkgewand-', 
das  er  vergessen  hatte  und  das  ihm  nun  wie  ein  Spiegelbild  seiner  selbst 
erscheint.  Damit  bekleidet  steigt  er  auf  zu  den  Toren  der  Begrüssung  und 
Anbetung  und  betet  an  den  Glanz  des  Vaters. 

Der  allegorische  Charakter  der  Erzählung  ist  nicht  zu  verkennen. 
Nöldeke^  fasstihn  in  folgende  Worte:  ,,W^ir  haben  hier  das  alte  gnostische 
Lied  von  der  Seele,  die,  von  himmlischem  Ursprung,  auf  die  Erde  gesandt 
wird  und  hier  ihren  Ursi)rung  und  ihre  Aufgabe  vergisst,  bis  sie  durch 
höhere  Offenbarung  erweckt  wird,  ihren  Auftrag  vollzieht  und  nun  nach 
oben  zurückkehrt,  wo  sie  das  himmlische  Kleid,  ihr  ideales  Ebenbild,  wieder- 
findet und  in  die  Nähe  der  höchsten  Himmelsmächte  gelangt".  Der  Kreis 
dieser  Vorstellungen  liegt  sicher  zugrunde,  wenn  auch  Preuschen  und  Reitzen- 
stein^  mit  Recht  aus  schärferer  Exegese  den  Schluss  gezogen  haben,  dass 
der  Verfasser  der  Akten  sich  unter  dem  Königssohn  nicht  die  Menschenseele, 
sondern  Christus  vorgestellt  habe,  der  durch  die  Aeonen  hinabgeht,  sich  ent- 
äussert, den  in  die  Materie  gesenkten  Lichtfunken  befreit,  zum  Himmel  auf- 
steigt; denn  das  Motiv  vom  Sterben  und  Wiederaufleben  des  Gottes  dankt 
ja  seine  religiöse  Wirksamkeit  der  vorbildlichen  Bedeutung  für  das  allgemeine 
Menschenschicksal.  An  deutlichen  christlichen  Beziehungen  fehlt  es  in  dem 
Stücke  überhaupt  —  ein  Beweis,  dass,  wenn  ein  Christ,  etwa  Bardesanes, 
es  konzipiert  hat,  schon  dieser  in  den  ihm  vertrauten  allgemeinen  Bildern 
orientalischer  Erlösungsreligion  auch  den  Kern  der  christlichen  Erlösungslehre 
umschlossen  fand,  wie  später  der  Redaktor  der  Thomasakten.  Reitzenstein 
hat  neuerdings  in  Frage  gestellt,  ob  aus  der  uns  erhaltenen  syrischen  Fassung 
mit  Recht  auf  syrischen  Ursprung  der  Dichtung  geschlossen  werden  dürfe, 
und  die  Dichtung  auf  eine  ägyptisch-hellenistische  Sage  zurückführen  wollen  ''. 
Reitzensteins  Vergleich  mit  dem  verwandten  Mythus  eines  demotischen  Papy- 
rus und  die  von  ihm  angeführten  ägyptischen  Parallelen  sind  sehr  beachtens- 
wert. Er  meint  nun  S.  129,  dass  der  Syrer  mit  der  Freude  nachbarlichen 
Hasses  gerade  Aegypten  zum  Land  der  Unreinheit  und  der  Unholde  gemacht 
habe.  Aber  solche  spätere  Umgestaltung  scheint  mir  darum  unwahrscheinlich, 
weil  die  allegorische  Deutung  Aegyptens  als  der  Leiblichkeit,  Sinnlichkeit, 
Sündhaftigkeit  sehr  verbreitet  und  schon  sehr  früh  bezeugt  ist^. 

An  ägyptischen  Glauben  finden  wir  gnostische  Spekiüationen  angeknüpft 


^)  Gemeint  sind  die  drei  .Himmelsregionen:  Preuschen  S.  52.  '-)  Tertul- 

lian  De  anima  23 :  Apelles  sollicitatas  refert  animas  terrenis  escis  de  super caelestibus 
sedibus.  '^)  Aehnlich  Pistis  Sophia  c.  7  flf.  Die  Vorstelhmg  siderischer  Gewänder, 

welche  die  Seele  wechselt,  die  bildliche  Bezeichnung  der  Leiblichkeit  als  Kleid  ist 
uns  schon  begegnet.  Hier  hat  auch  Paulus'  Vorstellung  vom  himmlischen  und  ver- 
klärten Leibe  ihren  Ursprung,  vgl.  Bousset  S.  233.  234.  ^)  Zeitschrift  der  deutsch, 
morgenländ.  Ges.  XXV  S.  677.  ■'\  Vgl.  auch  Usener,  Tlieol.  Abb.  für  Weizsäcker 
S.  211.  ^)  Etwas  anders  begründet  Dieterich,  Bonner  Jalirb.  Heft  108  8.  30  die 
Annahme  ägyptischen  Ursprungs.           ')  Belege  aus  Philo,  Origenes,  den  Gnostikern 


i7Ü  ^    .SVNKHKTISMUS    üKD    GNOSTIZISJUJS 


in  einer  der  spätesten  hennetisclien  Schriften,  die  aber  von  sehr  viel  älteren 
\'orl)il(lern  abhängig'  ist,  der  Köpr^  xda[jLO'j,  von  der  Stol)äus  uns  grosse  Stücke 
orlialten  hat ' :  Der  oberste  Gott  bildet  aus  einer  genau  bescliriebenen  che- 
nüschen  Mischung  viele  ^lyriaden  Seelen,  weist  ihnen  bestimmte  Bezirke  im 
Himmel  an  und  bedroht  sie  mit  Fesselung  und  Züchtigung,  wenn  sie  ihr 
Bereich  überschreiten.  Aus  einer  neuen  Mischung  niederer  Elemente  bildet 
er  dann  Menschen  und  heisst  jene  vollkommeneren  Seelen  an  dem  Reste  der 
[Mischung  ihre  schaffende  Tätigkeit  entfalten.  So  entstehen  die  Tiere.  Stolz 
auf  ihre  Leistungen  werden  die  Seelen  übei'mütig,  überschreiten  ihre  Grenzen 
und  halten  ihre  Beschränkung  auf  eine  Stätte  für  Tod.  Um  seine  Drohung 
wahr  zu  machen,  beschliesst  der  Götterkönig  Menschen  zu  bilden-,  damit 
im  Menschenleibe  die  Seelen  gestraft  werden.  Die  Planetengötter  steuern 
ihre  Gaben  bei.  Hermes  bildet  das  Menschengeschlecht,  die  Seelen  werden 
in  die  [Menschenleiber  gebannt.  Da  erkennen  sie  ihre  Verdammung  und  stöhnen 
vor  Kummer.  Ergreifend  Avird  ihr  mannigfacher  Jammer  über  den  Wandel 
geschildert  •"'.  Inbrünstig  ertönt  ihr  Flehen  nach  Erlösung,  und  der  Gott  ant- 
wortet ihnen,  dass,  wenn  ihre  Verfehlungen  nur  gering  sind,  sie  die  Ver- 
bindung mit  dem  Fleische  verlassen  und  in  den  Himmel  eingehen,  in  anderm 
Falle  der  Wanderung  in  Tierleiber  werden  unterworfen  werden.  Die  Theorie 
der  Seelenwanderung  wird  dann  ausführlich  entwickelt';  dass  dabei  Adler, 
Löwen,  Drachen,  Delphine  erwähnt  werden,  erinnert  an  die  Ophiten  (o.  S.  168). 
Momos  übt  dann  Kritik  an  dem  Werke  des  Hermes:  Ein  kühnes  Unterfangen 
ist  es,  den  Menschen  zu  schaffen  mit  seiner  sinnlichen  Ausstattung  und  mit 
seinem  Drange,  die  Mysterien  der  Natur  zu  enthüllen,  in  ihre  Tiefen  einzu- 


und  anderen  bei  Siegfried,  Philo  von  Alexandria,  s.  Register  S.  405,  Pistis  Sophia 
c.  18  und  den  Xaassenerbericht  (in  Reitzensteins  Poimandres  S.  90 ').  ')  Ich 

zitiere  nach  Wachsnuitlis  Stobäus  I  p.  389  ff.  Reitzenstein,  Poiniandres  (s.  Register 
S.  377),  hat  zuerst  die  Richtung  für  das  Verständnis  der  Schrift  gewiesen.  Vgl.  Zie- 
linski,  Archiv  für  Religionswiss.  VII  S.  359  ff.  '-)  Ueber  die  Doublette  der 

Menschenschöpfung  s.  Zielinski  S.  366.  •"*)  395, 19  aO-Xta  ndayoiisv  ....  ä-nb  [jisYäXwv 

■TS  xai  Äa|i7:ptt)v  slg  äx'.iia  y.al  -aTisivi  o'hoyc,  £y"/.ay-s'.px^7jad|is9-a  OY.r,wih\ia.zoi.  u.  s.  w.  Das 
ist  ganz  die  Stimmung  des  Naassenerhynmus,  z.  B.  V.  ^  tiots  5'  slg  iXssiv'  ixpmxo- 
IisvY;  y.Xais'.  (V.  t),  aber  auch  des  Seufzens  der  Kreatur  bei  Paulus,  der,  wie  wir  sehen, 
auch  den  Ausdruck  ay.YjV(-)|j.a  aus  der  religiösen  Begriffswelt  seiner  Zeit  entlehnt  hat. 
Stob.  396,  18  a-^'  wv  sig  o'.a.  xaTs^rdisv  nach  Empedokles  Fr.  119.  120  Diels,  denn  auch 
der  alte  Strom  griechischer  Mystik  hat  eingewirkt.  Platonische  Floskeln  z.  B. 
397,  12  ff.  398,  10  ff.,  stoische  Theodicee  Avirkt  386,  3  ff.  ein,  400  der  stoische  Preis 
der  menschlichen  \'ernunft,  40G  die  stoisclie  Kulturentwickelung  in  den  Farben  des 
Poseidonios.  —  Mit  dem  Naassenerbericht  finden  sich  mancherlei  Berührungen: 
Hippolyt  136,  17.  21  Duncker  (=  S.  84  Reitzenstein)  Knechtung  und  Züchtigung 
durch  Eingehen  in  den  Leib.  144,  60  D.  (=  88  R.)  Zitat  jenes  Verses  des  Empe- 
dokles. 164,  83  (=  96  R.)  und  Stob.  385,  22  W.  wird  die  Erkenntnis  der  oberen 
Welt  mit  den  grossen,  die  der  niederen  mit  den  kleinen  Mysterien  verglichen. 
146,  87.  148,  3  D.  (=  89  R.)  xpi^s-.v  von  den  Seelen  (Stobäus  395,  12).  170,  81  D.  wie 
Stob.  410,  9  ff.  das  oben  S.  67  ff.  besprochene  Bild  der  in  den  Lnftregionen  von  der 
Seele  angezogenen  Gewänder.  —  Schwerlich  zufälliji  ist  die  Berührung  von  Stob. 
403,  21  ff.  mit  Vergils  Aeneis  VI  620  und  Umgebung.  ')  Sehr  lehrreich  i.st  es, 

die  Stufenfolge  der  Menschenklassen  p.  398  mit  ihrem  \'orbilde,  dem  platoiüschen 
Phädrus  p.  249  d  zu  vergleichen.  Der  König  hat  in  der  Köre  die  erste  Stelle  (S.  97. 
178),  und  das  superstitiöse  und  theurgische  Gesindel  macht  sich  unglaublich  breit. 
Die  Seelenwanderung  findet  sich  z.  B.  auch  bei  Basilides,  vgl.  Sclunidt,  Texte  und 
Unt.  Vni  S.  418. 


Köpyj  y.öa|iO'j.    Tendenzen  der  religiösen  Neubildungen  177 

dringen.  Weoliselndi'  Bt'gii-rdon  und  täuschende  Holfnunj^en,  Furcht  und 
Kummer  sollen  ihn  bedrängen  untl  hemmen,  Fieber  ihn  niederdrücken.  Her- 
mes billigt  den  Vorsclüag-  und  schafft  die  alles  Irdische  unter  ihre  unabänder- 
lichen Gesetze  zwingende  und  knechtende  Adrasteia.  Noch  fehlte  überall 
die  rechte  Gnosis  (402,  27  W.).  Die  erst  eben  eingekerkerten  Seelen  fügen 
sich  nicht  Avillig  in  ihr  Schicksal,  ihi-es  ursprünglichen  Adels  sich  bewusst 
lehnen  sie  sich  auf,  stiften  Krieg,  Gewalttat,  Frevel.  Anklagend  erscheinen 
die  Elemente  vor  dem  höchsten  Gott  und  beschweren  sich  über  die  Ent- 
weihung'. Die  Erde  begehrt  mit  allem,  w-as  sie  trägt,  die  Gottheit  zu 
fassen  oder  doch  wenigstens  eine  heilige  Emanation.  Und  Gott  sendet  Osi- 
ris  und  Isis  den  Menschen  als  Helfer,  die  Sittlichkeit  und  Kultur  verbreiten.  — 
Zur  Anklage  der  Elemente  können  wir  wieder  eine  christianisierte  Fassung 
eines  Abschnittes  der  clementinischen  HomiLieu  (VIII  17)  vergleichen,  der 
auch  sonst  merkwürdige  Parallelen  zur  hermetischen  Schrift  bietet.  In  einem 
zweiten  Stücke  (Stob.  p.  407  ff.)  wird  die  Genesis  der  königlichen  Seelen,  ihre 
Verwandtschaft  mit  den  Göttern,  ihre  Erhabenheit  über  die  andern  Seelen- 
Idassen  geschildert,  sehr  charakteristisch  für  die  Stütze,  die  der  Herrscher- 
kult in  allen  orientalischen  Religionssystemen  fand.  Die  Verschiedenheit  der 
seelischen  Charaktere  und  menschlichen  Eigenschaften  wird  teils  von  den 
sie  hinab  geleitenden  und  in  den  Leib  einschliessenden  Engeln  und  Dämonen, 
teils  von  den  Oertern  ihres  Ursprungs,  teils  von  den  Elementen,  teils  von 
den  Teilen  oder  Gliedern  der  als  mensclilicher  Organismus  dargestellten  Erde  - 
hergeleitet. 

Meine  knappe  Zusammenfassung  konnte  nur  einige  der  auch  den 
Gnostizismus  beherrschenden  Motive  und  Gedanken  hervortreten  lassen: 
Emanationen,  Hypostasierung  von  Begriffen  zu  göttlichen  Gestalten,  das 
ganze  Drama  der  Seelengeschichte,  Materialisierung  der  seelischen  Funktionen 
und  Herleitung  von  oberen  Mächten,  die  niederdrückende  Gew^alt  der  Scliick- 
salsmächte  und  als  ihr  Komplement  das  inbrünstige  Verlangen  nach  Erlösung, 
die  Erlösung  der  Einzel-Seele  nur  ein  Glied  des  kosmischen  Erlösungsprozesses. 
Der  Zweck  meiner  Behandlung  der  Gnosis  war,  jene  die  hellenistische  römi- 
sche Welt  sich  erobernden  Strömungen  einer  neuen  religiösen  Kultur  als  die 
Macht  zu  erweisen,  von  der  auch  die  Propaganda  der  Gnostiker  ihren  Aus- 
gang genommen  und  die  entscheidende  Richtung  empfangen  hat.  Die  ganze 
Fülle  der  Erscheinungen  konnte  und  wollte  ich  nicht  entfernt  erschöpfen. 
Auf  die  Konsequenzen  meiner  Auffassung  dieser  ganzen  Entwicklung  auch 
für  das  Urchristentum  muss  ich  noch  hindeuten.  Lange  ehe  die  Wellen  der 
orientalischen  Propaganda  nach  Rom  schlugen,  hat  der  orientalische  Synkre- 
tismus in  seiner  Verbindung  mit  hellenistischer  Spekulation  auf  den  Osten, 
besonders  auf  Syrien,  Aegypten,  Kleinasien  stetig  eingewirkt.  Von  den  trei- 
benden rehgiösen  Kräften  dieser  Bewegung  können  wir  uns  eine  klare  Vor- 
stellung nur  aus  den  späteren  synkretistischen  Religionsbüchern  bilden,  die  ja 
aber  auch  meist  auf  frühere  Stadien  einer  ihnen  vorausliegenden  Entwicke- 
lung  deuthch  hinweisen.    Die  fi'üheren  Spuren  der  Wirksamkeit  dieser  orienta- 


')  Vgl.  Diels,  Elementum  S.  47.  Höfischer  Stil  und  Zeremoniell  ist  nachge- 
bildet, so  403,  19  -/pTiiiaTi^siv  405,  23  ivTuxia.  Vgl.  auch  399,  17  w  'E^\rr„  ifswv  O-oii- 
vy,|iaTOYpä-^s.     395,4  jisYaXdeogo;  vgl.  S.  763.  ■')  P.  410  wird  die  Fi-age,  ob  der 

Seele  schon  das  Geschlecht  anhaftet,  erörtert,  auf  die,  wie  TertiiUian  De  anima  36 
lehrt,  die  Gnostiker  verschiedene  Antworten  gaben,  o-ks  sl^lv  appsvs;  oOis  d-y,Xz:%:. 
„Und  jene  himmlischen  Gestalten,  sie  fragen  nicht  nach  Mann  und  Weib,  und  keine 
Kleider,  keine  Falten  umgeben  den  verklärten  Leib.'-  Vgl.  Wüamowitz,  Gott.  gel. 
Anzeigen  1904  S.  664,  Preuschens  Antilegomena  ^  S.  2.  12.  84. 

Lietzmann,  Handbuch  z.  Xeueu  Test.  I,  i'.  12 


178  X  Synkretismus  und  Gnostizismus 

lisc-hen  Einflüsse  beginnen  wir  jetzt  sicherer  zu  erkennen.  Poseidonios,  von 
dem  die  religiöse  Literatur  der  folgenden  Zeiten  in  hohem  Masse  abhängig 
ist,  hat  mancherlei  orientalische  Vorstellungen  und  Stimmungen  vermittelt. 
Ohne  die  Einwirkungen,  die  Philo  von  ihm  und  von  der  religiösen  Bewegung 
des  Orients  empfangen  hat,  ist  seine  Weltanschauung  nicht  verständlich.  Dass 
die  hieratisi-he  Sprache  der  Apokaly])se  und  des  Johannesevangeliums  von 
dieser  heidnischen  Mystik  berührt  zu  sein  scheint,  wird  in  Teil  111  ausgeführt 
werden.  Und  ähnlich  steht  es  auch  mit  Paulus,  dessen  Religiosität  einen 
starken  Einschlag  von  diesen  Motiven,  die  ihn  beständig  berühren  mussten, 
empfangen  hat.  Die  starken  Kontraste  seiner  Frömmigkeit,  die  gefährliche 
S})annung  von  Geist  und  Fleisch  imd  die  Tendenz  zur  Askese,  die  Neigung  zur 
Hypostasieruug  oder  Materialisierung  der  geistigen  Funktionen  und  religiösen 
Vorgänge,  Mj^sterien-  und  Offenbarungsbegriff,  das  Bild  der  in  Stockwerken 
über  einander  gelagerten  Welt,  das  Erlebnis  der  eigenen  Auffahrt,  die  reali- 
stische Vorstellung  der  oberen  Geisterklassen,  der  Knechtung  des  Menschen 
unter  ihre  Gewalt,  des  Kampfes  gegen  diese  Gewalten,  die  Sehnsucht  nach 
einer  Erlösung,  die  sich  auch  bei  ihm  zu  kosmischer  Bedeutung  erweitert 
und  steigert  —  alles  das  sind  Bilder,  Gedanken,  Stimmungen,  für  welche 
die  Religiosität  der  rein  heidnischen  Mystik  eine  Fülle  von  Analogien '  bietet, 
ilie  sich  nur  in  einem  Buche  erschöpfen  liessen.  Das  Christentum  als  Erlö- 
sungsreHgion  werden  wir  erst  auf  diesem  Untergründe  recht  verstehen  lernen 
müssen.  Für  diese  Periode  gilt  wirklich  die  Parole  ex  Oriente  lux.  mit  der 
jetzt  so  starker  Missbrauch  getrieben  Avird;  aber  es  ist  schwer  für  uns, 
die  "v\dr  uns  nur  auf  dieser  Erde  heimisch  fühlen,  deren  Auge  ganz 
verdunkelt  und  deren  Seele  mit  undui-chdvinglichen  Hüllen  überkleidet  ist, 
in  die  fremden  Regionen  dieses  Lichtes  uns  zu  erheben.  Und  wir  meinen 
auch,  in  ihnen  Jesus  nicht  zu  finden,  dessen  Bild  sich  von  diesem  Dunstkreise 
so  klar  abzuheben  scheint.  Aber  vor  ihrer  Hellenisierung  hat  Jesu  Lehre 
einen  Prozess  der  Orientabsierung  durchgemacht,  für  den  Paulus  von  ent- 
scheidender Bedeutung  ist.  Mit  jüdischer  Theologie  und  dem  nei;en  christ- 
lichen Geistesleben  verschmilzt  sich  bei  Paulus  die  Mystik  der  orientalischen 
Erlösungsreligionen  und  bereichert  ihn  nicht  nur  mit  einzelnen  Stimmungen 
und  Vorstellungen,  die  accidentiell  sind,  sondern  bestimmt  die  Haltung  seiner 
zentralen  Christusmystik,  um  die  sich  jene  Gedanken  und  Motive  gruppieren. 
Das  ist  nicht  vorzustellen  als  Prozess  mechanischer  Uebertragung  und  Ent- 
lehnung, sondern  nach  der  Analogie  der  Hellenisierung  des  Christentums  als 
eine  unbewusste  und  unwillkürliche  Umbildung  auf  dem  Boden  eines  von 
der  Atmosphäre  jener  orientalischen  Religionen  stark  erfassten  Bewusstseins. 
Dass  eine  direkte  Berülirung  mit  dieser  Atmosphäre  stattgefunden  hat-,  dass 
aber  auch  diese  Vorstellungen  durch  das  Medium  des  Judentums  und  pauli- 
nischer  Gemeinden,  die  imter  ihrem  Einfluss  standen,  auf  Paulus  gewdrkt 
haben,  scheint  mir  gleich  wahrscheinlich.  Was  uns  an  der  paulinischen 
Religiosität  fremdartig  und  paradox  erscheint,  stammt  oft  gerade  aus  dieser 
Atmosjihäre  und  konnte  in  seiner  Zeit  seine  Wirkung  nicht  verfehlen.  Man 
mag  die  Fassung  des  Gunkelschen  Satzes  (S.  88)  „das  Urchristentum  des 
Paulus  und  des  Johannes  ist  eine  synkretistische  Religion"  beanstanden,  weil 


')  Erst  nachträglich  sehe  ich,  dass  Gunkels  bewunderungswürdiges  Feinge- 
fühl a.  a.  O.  S.  86  ff.  diesen  orientalischen  Einschlag  weniger  bewiesen  als  divi- 
natorisch  geahnt  hat,  dass  Bousset  S.  144.  145.  234  schon  ähnliche  Schlüsse  gezogen 
hat.     S.  besonders  Dieterich.  -)  Auf  die  Spuren  der  Mithrasreligion  in  Tar- 

sos (Cumonts  Mithraswerk  1  S.  240.  II  S.  189.  438)  sei   nur  als  auf   eine  Möglich- 
keit der  Venxdttelung  liingewiesen.    Vgl.  Pfleiderer  1  S.  44  ff. 


Paulus  und  die  orientalischen  Erlösungsreligionen  179 

sie  die  starke  Einheitlichkeit  der  religiösen  Grundstinimung  nicht  zum  Aus- 
druck bringt.  Der  Gedanke  selbst,  dass  orientalische  Gnosis  auf  die  beson- 
dere Religiosität  des  Paulus  gewirkt  hat  und  dass  dieser  Faktor  den  unleug- 
baren Abstand  zwischen  dem  Christentum  des  Paulus  und  dem  Evangelium 
Jesu  erklären  hilft,  ist  m.  E.  unanfechtbar,  imd  man  rauss  von  Religion 
seltsame  Vorstellungen  haben,  wenn  man  in  der  Erkenntnis,  dass  das  Evange- 
lium im  Apostel  neues  und  individuell  bestimmtes  religiöses  Leben  entzündet 
hat,  eine  Grefahr  und  nicht  einen  neuen  Beweis  für  die  erstaunliche  Produk- 
tionskraft und  das  intensive  Leben  des  Urchristentums  sieht. 

Diese  Einwirkung  auf  Paulus  allein  könnte  mahnen,  Wirkung  und  Wert 
der  orientalischen  Religiosität  nicht  zu  gering  einzuschätzen.  Die  Stimmungen 
und  Motive  sind  das  eigentlich  Wesentliche  und  dauernd  Wertvolle;  sie  über- 
raschen und  ergreifen  uns  immer  wieder,  wenn  oft  der  trostlose  Ballast  des 
mythischen  und  rituellen  Apparates  imsern  äussersten  Widerwillen  erregt 
hat'.  Poseidonios  und  Philon,  die  Gnosis  und  der  Neuplatonisraus,  Origenes 
und  Augustin  zeigen  alle  mehr  oder  weniger  einen  Einschlag  dieser  orienta- 
lischen Religiosität,  und  schon  die  Namen  erwecken  die  Perspektive  in  weite 
Fernwirkimgen.  Die  Verfeinerung  der  Psyche  und  die  Individualisierung  des 
innersten  Seelenlebens,  die  das  Christentum  der  modernen  Menschheit  als 
dauernden  Besitz  vermittelt  hat,  hat  sich  ztinächst  vollzogen  durch  eine  Ver- 
tiefung imd  Steigerung  des  religiösen  Lebens,  auf  die  neben  dem  Evangelium 
der  orientalische  Synkretismus  direkt  wie  durch  jüdische  tmd  christliche 
Vermittelung  eingemrkt  hat. 

Eine  alte,  reiche  Kulturwelt  im  Sterben  und  in  der  Agonie,  im  Sehnen 
nach  einer  Neuschöpfung  und  Wiedergeburt,  in  einer  nicht  zum  Ziele  kom- 
menden Unruhe  des  Gottsuchens  —  so  stellt  sich  uns  das  niedergehende 
Heidentum  dar.  Dass  das  Christentum  in  diese  gährende  Welt  neue  und 
hohe  Ideale  gestellt  hat,  dass  es  aber  auch  aus  ihr  die  hoffnungsvollen  tmd 
lebensfähigen  Keime,  sittliche  und  religiöse  Kräfte  an  sich  gezogen  hat,  hat 
ihm  den  Sieg  gegeben.  Darum  kann  man  sagen :  Die  Betrachtung  der  helle- 
nistisch-römischen Kultur  unter  dem  Gesichtspunkte  ihres  Verhältnisses  zum 
Christentum  ist  unter  andern  möglichen  diejenige,  die  den  letzten  Ertrag  der 
ganzen  Entwdckelung,  mit  welchen  Empfindttngen  man  sie  auch  begleiten 
mag,  am  besten  zum  Ausdruck  bringt. 


^)  Wer  das  für  Illusion  hält,  lese  z.  B.  Gunkels  Nachdichtungen  im  Aprilheft 
der  Deutschen  Rundschau  1907. 


12  = 


BILDERANHANG 

von  Hans  Lietzmann 


Die  im  folgenden  gegebene  Auswalil  von  Bildern  soll  einem  analogen  Zwecke 
dienen  wie  die  Inscliriftenbeilagen :  ans  dem  reichen  Material,  das  dem  pliilologi- 
schen  Fachmann  zur  Hand  zu  sein  pflegt  oder  jederzeit  bequem  erreichbar  ist, 
sollen  dem  nicht  in  so  glücklicher  Lage  befindlichen  Leser  wenigstens  einige  we- 
nige Proben  geboten  werden,  die  zur  Illustration  der  vorn  im  Text  gegebenen 
Darstellung  dienen  können.  Von  manchem,  das  bisher  nur  kurz  berührt  worden 
ist,  werden  die  Abbildungen  mit  einigen  Worten  der  Erläuterung  versehen,  eine 
klare  Anschauung  schaffen,  die  gerade  in  religionsgeschichtlichen  Dingen  von  be- 
sondero  hohem  Wert  ist.  —  Herr  Geheinu-at  Loeschcke-Bouu  hat  die  grosse  Freund- 
lichkeit gehabt,  alle  bei  der  Erklärung  der  Bilder  in  Betracht  kommenden  Fragen 
mit  mir  durchzusprechen,  ihm  verdanke  ich's  si  quid  boni  inerit. 

TAFEL  I:  Auf  der  Höhe  der  Velia,  welche  die  Niederung-  des  römischen 
Forums  von  dem  Colosseumsplatze  trennt,  erhebt  sich  über  der  Triumphal- 
strasse der  Sacra  ria  noch  heute  der  Bogen  des  Titus  \  das  Denkmal  der  im 
Jahre  70  erfolgten  Zerstörung  des  jüdischen  Nationalstaates  und  seines  Heilig- 
tums, des  Tempels  zu  Jerusalem.  Das  auf  der  Nordseite  im  Innern  des  Bogens 
unterhalb  der  Kassettendecke  der  Wölbung  angebrachte  Relief  zeigt  die 
Krönung  des  auf  der  Quadriga  fahrenden  siegreichen  Titus  durch  die  Victoria, 
die  entsprechende  Stelle  der  Südseite  bildet  die  wichtigste  Szene  aus  dem 
Triumphzug  ab:  wir  erblicken  rechts  den  Titusbogen  selbst,  den  der  Feld- 
herr mit  seinem  glänzenden  Gefolge  bereits  passiert  hat.  Nun  nahen  sich 
die  Haui)tstücke  der  Beute,  auf  den  Schultern  der  lorbeergeschmückten, 
nur  mit  leichter  Tunika  bekleideten  Soldaten  ruhend,  dazwischen  schreiten 
gesenkten  Hauptes  gefangene  Juden.  Vor  jeder  Gruppe  wird  auf  hoher 
Stange  eine  Tafel  getragen,  welche  dem  zuschauenden  Volke  die  Bedeutung 
des  folgenden  Schaustückes  meldet.  Zuerst  kommt  der  Tisch  für  die  Schau- 
brote (Ex  25  23 — yo),  auf  dessen  Platte  ein  Opfergefäss  steht;  über  die  Stege, 
welche  seine  Beine  paarweise  verbinden,  sind  im  Kreuz  die  zwei  silbernen 
Posaunen  gelegt  (Num  10  i — lo),  deren  Schall  das  Opfer  zu  begleiten  pflegte. 
Es  folgt  der  siebenarmige  Leuchter  (Ex  25  3i — lo)  aus  getriebenem  Golde, 
der  gleich  dem  Schaubrottisch   im  Vorraum  des  AUerheiligsten  seinen  Platz 


*)  A.  Philippi,    röm.  Triumphalreliefe  (=  Abh.  d.   sächs.  Ges.   d.  Wiss.  phil. 
bist.  Gl.  VI)  S.  252. 


Tafel  1.  2.  ;}  181 

hatte.     Eine  neue  Tafel  flahinter  kündet  ein  weiteres  Beutestück  an,  das  auf 
dem  Relief  keinen  Platz  mehr  gefunden  hat. 

TAFEL  11  bietet  zwei  Darstellungen,  die  nach  hellenistischen  Vor- 
bildern geschaffen  und  für  zwei  hellenistische  Kulturzentren  besonders  cha- 
rakteristisch sind.  Die  Schutzgöttin  von  Antiochia  (Vatikan)  ist  keine 
andere  als  die  Götternuitter  Kybele  selbst:  das  Diadem  der  Mauerkrone 
macht  sit  kenntlich  (vgl.  Taf.  VI  2).  Ihre  Wohnung  sind  die  Berghöhen 
des  Silpios,  die  sich  hinter  Antioclüa  erheben:  darum  erblicken  wir  sie  hier* 
auf  einem  Felsen  sitzend.  Während  die  Rechte  ein  Aehrenbündel  erhebt, 
schweift  ihr  Auge  liinaus  in  die  weite  Ebene,  die  sie  mit  diesen  Früchten 
des  Feldes  reich  zu  segnen  gedenkt.  Ihren  Fuss  setzt  sie  dem  unwillig 
sich  aufbäumenden  Orontes  auf  die  Schulter,  dessen  wilde  Fluten  Stadt  und 
Land  so  oft  mit  Verwüstung  bedrohen.  In  lässiger  Ruhe  hat  sich  der 
Vater  N  i  1  (Vatikan)  behaglich  gelagert,  ein  Riese  von  mächtigem  aber  nicht 
plumpem  Kör}ierbau,  das  ernste  Anthtz  umrahmt  von  Bart  und  Haupthaar, 
dessen  reiche  Fülle  sich  in  gewellte  Strähnen  gliedert,  leise  vom  Wind  be- 
wegten Wogen  vergleichbar.  Aber  um  den  gewaltigen  Mann  tummelt  sich 
das  fröhliche  Leben  eines  echt  alexandrinischen  Idylls.  Sechzehn  der  kleinen 
,,Putten",  welche  die  hellenistische  Kunst  geschaffen  hat  und  die  seitdem 
bis  zum  heutigen  Tage  zu  den  unentbehrlichen  Requisiten  der  bilden- 
den Kunst  wie  der  Poesie  gehören,  umspielen  den  Vater:  die  heiligen  Tiere, 
Krokodil  imd  Ichneumon,  müssen  mittun,  auf  cüe  Getreide  spendende 
Rechte  klettern  zwei  Bürschchen,  und  eins  greift  dem  Alten  in  die  Locken 
und  wdnkt  dem  Bruder,  ihm  nachzusteigen.  Am  höchsten  ist  das  Kerlchen 
geklettert,  das  sich  stolz  oben  im  Füllhorn  umblickt,  während  seine  Kame- 
raden über  das  Ende  des  Hornes  und  den  Rücken  des  träumenden  Sphinx 
lustig  hinabrutschen.  Selten  ist  eine  so  nüchterne  Tatsache  wie  die,  dass 
der  Nil  alljährlich  sechzehn  Ellen  steigt,  so  anmutig  ausgedrückt  worden. 

TAFEL  in  gibt  zwei  Proben  hellenistischer  Porträtkunst.  Zunächst 
den  schlicht  behandelten  Kopf  des  Poseidonios  nach  einem  Neapeler 
Marmor,  dessen  klare,  ruhige  Züge  um  des  S.  84  ff.  gesagten  willen  für 
uns  von  ganz  besonderem  Interesse  sind.  Das  zAveite  Bild  gibt  einen 
Broncekopf  des  Neapeler  Museums  wieder,  den  man  frülier  für 
Seneca  oder  CaUimachus  hielt.  Es  ist  neben  dem  allbekannten  blinden 
Homer  das  beste  Beispiel  für  die  Meisterschaft,  mit  der  die  hellenistische 
Kunst  nach  Lysipp  ihr  enormes  Können  in  der  Wiedergabe  des  Porträts 
in  den  Dienst  der  Aufgabe  stellte,  non  tradilas  ruihts,  Idealköpfe  der  Ver- 
gangenheit darzustellen.  In  wirren  Strähnen  fällt  das  Haupthaar  in  die 
gefurchte  Stirn.  Die  Augen  blicken  herb,  scharf  zeichnen  sich  die  Backen- 
knochen ab  und  eine  tief  eingerissene  Linie  zieht  sich  von  den  Mundmnkeln 
zu  den  Nasenflügeln;  ein  kurzer  ungepflegter  Bart  umgibt  den  halbgeöff- 
neten Mund,  aus  dem  ein  Wort  des  Spottes  zu  klingen  scheint.  Mit  beson- 
derer Sorgfalt  ist  die  Muskulatur  des  langen  hageren  Halses  gearbeitet.  Der 
Kopf  war  darauf  berechnet,  halb  von  vmten  gesehen  zu  werden  (also  anders 
wie  unsere  und  alle  andern  veröffentlichten  Abbildungen)  und  stellt  vielleicht, 
wie  die  Barttracht  lehrt,  einen  Dichter  der  alten  Zeit,  etwa  einen  Jambo- 
graphen  wie  Archilochos  oder  Hipponax  '  dar. 


*)  So  Loeschcke  und  bei  Gelegenheit  der  Erklärung  einer  Marmorreplik  des 
Kopfes  Furtwängler  Sammlung  Somzee  1897.     S.  36.  Taf.  26. 


182  Bilderanhang 


Kaiserkult 

TAFEL  IV:  S.  93  ist  erwähnt  worden,  dass  Commodus  sich  als 
Herakles  verehren  Hess.  Im  Konservatorenpalast  auf  dem  Capitol  zu 
Rom  ^  befindet  sich  eine  Darstellung  von  ihm  im  Kostüm  dieses  Heros.  Der 
Löwenrachen  dient  ihm  als  Helm,  die  Rechte  führt  die  Keule,  die  Linke  hält 
die  goldenen  Äpfel  der  Hesi)eriden.  Rechts  und  links  von  der  Büste  waren 
wie  Wappenhalter  zwei  Seekentauren  angebracht,  wohl  um  die  Seegewalt 
des  Kaisers  zu  dokumentieren.  Direkt  unter  der  Büste  spielt  ein  halbmond- 
förmiger Amazonenschild  auf  den  Beinamen  des  Commodus  „Amazonius"  an, 
darunter  bildet  ein  Himmelsglobus  (mit  Horoskop  ?)  das  Fundament  des  Auf- 
baus. Zwei  knieende  Frauengestalten,  gekreuzte  Füllhörner  mit  den  Händen 
stützend,  scheinen  Personifikationen  gehorsamer  Pro\änzen  zu  sein. 

Aus  den  zahlreichen  Darstellungen  der  Apotheose  von  Kaisern  heben 
wir  die  des  Antoninusund  der  Faustina  heraus,  die  sich  an  der  Basis  der 
Antoninsäule  befand  und  jetzt  im  Giardino  deUa  Pigna  des  Vatikans  steht'. 
Links  unten  ruht  ein  Jüngling,  dessen  Linke  einen  Obelisken  umfasst:  die  Per- 
sonifikation des  Campus  Mitrlms  (auf  dem  Augustus  einen  Obelisken  hatte 
errichten  lassen),  des  Ortes  an  welchem  der  Scheiterhaufen  des  entsclilafenen 
Kaisers  lohte.  Ein  Genius  mit  mächtigen  Fittichen  schwingt  sich  von  dort 
gen  Himmel  empor  vmd  trägt  auf  seinem  Rücken  das  göttliche  Herrscher- 
paar den  di  superi  entgegen.  Zwei  Adler,  wie  sie  stets  aus  den  Scheiter- 
haufen der  toten  Kaiser  als  Träger  der  königlichen  Seele  emporzusteigen 
pflegten  ^  begleiten  den  Flug.  In  der  linken  Hand  trägt  der  Genius  einen 
von  einer  Schlange  umringelten  Himmelsglobus,  der  das  Horoskop  der 
Konseki'ationsstunde  angibt  und  somit  zum  Zeugnis  für  die  S.  76  f.  170  ff. 
behandelte  Bedeutung  der  Astrologie  dienen  mag.  Die  rechte  untere  Hälfte 
des  Bildes  füUt  die  dea  Roma  aus,  die  ihren  linken  Arm  auf  den  Schild 
mit  dem  Wappen  Roms,  der  säugenden  W'ölfin,  stützt:  zu  ihren  Füssen  sind 
Kriegstrophäen  ausgebreitet. 

TAFEL  V  1)  Das  erste  Bild  gibt  einen  Laribus  Augusti  (S.  90)  geweihten 
Altar  wieder,  den  ein  inafßisler  rici  namens  Roscius  gewidmet  hat  '.  Die 
Reliefdarstellung  zeigt  uns  die  Darbringung  des  altrömischen  Opfers  der 
Suovelaurilia.  Mit  Binden,  die  um  die  Mitte  des  Leibes  gewunden  sind, 
geschmückt  werden  ein  Stier  und  ein  Schwein  zum  Altar  geführt,  das  dritte 
Tier,  das  Schaf,  hat  in  dem  engen  Raum  keinen  Platz  mehr  gefunden.  Im 
Hintergrunde  links  steht  mit  einem  Kranz  auf  dem  Haupte  der  Opferdiener 
mit  den  Geräten,  am  Altar  treffen  beim  Schall  der  Flöte  die  ponlifices  die 
Vorbereitimgen  zur  heiligen  Handlung. 


Kleinasiatische  Gottheiten 

TAFEL  V  2)  Im  .lahre  204  v.  Chr.  wurde  auf  Geheiss  der  sibyl- 
ünischen  Bücher  der  heilige  Meteorstein  der  Idaeischen  Magna  Mater  von 
Pessinus  nach  Rom  überführt  und  erhielt  auf  dem  palatinischen  Hügel  ein 
Heiligtum  angewiesen,  dessen  Grundfesten  heute  noch  stehen.     Als  das  Schiff 


')  Heibig,  Führer  durch  die  Sammlungen  Roms  I '  n.  553.  -)  Vgl.  Pe- 

tersen bei  Amelung,  Skulpturen  des  Vatikanischen  Museums.  Bd.  I  S.  887  ff.  Taf.  116. 
»)  Marquardt,  Rom.  Staatsverwaltung  LH-  S.  275.  467  i.  ^)  Vgl.  Corp.  Inscr. 

Lat.  VI  30957. 


Tafel  4.  5.  ü  183 

Salria  bei  der  Eiutalut  in  den  Tiber  stecken  blieb,  zu^-  (Uiiudia  (Quinta  es 
allein  aus  der  Untiefe  heraus  prccata  propolam,  nt  ila  dcinnm  sc  scquerelur, 
si  sibi  pudicHia  conalarel  und  bewies  durch  dies  j^öttliche  Wunderzeichen 
die  Unrichtigkeit  des  yegen  sie  erliobenen  Klatsches  '.  Das  in  Rom  (Vatikan) 
erhaltene  Relief  -  stellt  die  Szene  mit  der  künstlerisch  wirkungsvollen  Variante 
dar,  dass  statt  des  heiligen  Steines  die  Göttin  selbst  auf  dem  Verdeck  des 
Schilfes  tliront. 

Zugleich  mit  ilem  hl.  Stein  gelangt  auch  das  i)hrygische  Kultpersonal 
der  Göttermutter,  die  verschnittenen  Gallig  nach  Rom  und  geniesst  dort  für  sich 
und  seine  dem  Römer  höchst  fremdartigen  Gebräuche  obrigkeitlichen  Schutz. 
In  der  Kaiserzeit  begegnet  uns  mehrfach  als  das  Haupt  dieses  Kultes  der 
Archigallus,   der  sogar  römischer  Bürger  ist. 

TAFEL  VI  1)  zeigt  das  im  kapitolinischen  Museum  zu  Rom  betind- 
liche  Relief  eines  solchen  Archigallus  in  vollem  Ornat-'.  Er  ist  be- 
kleidet mit  einer  Aermeltunika  und  einem  Mantel.  Um  den  Hals  ringelt 
sich  ein  schlangengestaltiges  Halsband.  Den  Kopf  deckt  ein  Schleier,  auf 
den  ein  mit  drei  Schildern  geschmücktes  Diadem  gedrückt  ist.  Die  Me- 
daillons enthalten  in  der  Mitte  ein  Bild  des  idäischen  Zeus,  zu  beiden  Seiten 
den  mit  der  phrygischen  Mütze  bedeckten  Attis.  In  das  Haar  sind  Woll- 
binden geflochten,  welche  laug  auf  die  Brust  herabfallen.  In  der  linken 
Hand  trägt  der  Priester  eine  Schale  mit  Früchten,  darunter  den  der  Kybele 
heihgen  Pinienzapfen ;  darüber  erblicken  wir  eine  an  beiden  Enden  mit  dem 
Zeuskopf  verzierte  Geissei,  deren  drei  lange  Lederriemen  mit  Knochen-  oder 
Bleistücken  reich  besetzt  sind.  Die  rechte  Hand  hebt  einen  Granatapfel 
und  drei  grüne  Zweige  empor.  Darüber  hängt  ein  Paar  cymbala,  dem  auf 
der  andern  Seite  eine  Handpauke  entspricht:  darunter  sind  eine  gewöhnliche 
gerade  imd  die  gekrümmte  phrygische  Flöte  gekreuzt,  unter  diesen  die 
geheimnisvolle  cistn.  Am  24  März,  dem  dies  sanyuinis,  vereinigten  die 
Flöten  ihren  SchaU  mit  dem  Klang  der  Becken  und  Tambourins  zu  sinn- 
betörender Wirkung,  im  wilden  Tanze  drehten  sich  heulend  die  GalH  und 
unter  den  Schlägen  der  Geissei  troif  vom  Rücken  das  Blut,  bis  in  höchster 
Ekstase  die  Priester  mit  scharfen  Dolchen  ihre  Arme  zerfleischten,  die  von 
der  Gegenwart  ihrer  Gottheit  berauschten  Jünger  das  blutige  Opfer  der 
Selbstentmannung  vollzogen  ^. 

2)  Einen  heute  zerstörten  Kybele  alt  ar  hat  Zoega  BassiriHevi  tav.  13. 
14  veröffentücht.  Er  trägt  die  Inschrift  M(alris)  Dfcum)  M(afinapJ  Ifdaeae) 
el  Attinis  und  L(ucius)  Cornelius  Scipio  Orfihis  i(ir)  c(/arissimusj  augiir 
taurnboliuin  sire  crioboliiim  fecil  die  IUI  kal(endas)  Marl(ias)  Tusco  et 
Anullinn  cos(nlibii)s  (=  CIL  VI  505  Hepding  Attis  S.  88). 

Der  genannte  hohe  Beamte  und  Stifter  des  Altars  ist  also  am  26  Februar 
295  n.  Chr.  durch  Besprengung  mit  dem  Blut  eines  geopferten  Stieres  und 
Widders  eingeweiht,  ..wiedergeboren-  worden  (vgl.  S.  174).  Beide  Opfer- 
tiere sind  denn  auch  mit  den  breiten  Leibgurten  und  den  um  die  Hörner 
geschlungenen  Wollbinden  auf  der  Rückseite  des  Altars  zu  beiden  Seiten 
der    heiligen  Pinie    dargestellt.     Diese    selbst  ist  mit  Glocken,     einer  Hand- 

*)  Sueton  Tiberius  2  u.  ö.  Vgl.  Wissowa,  ReUg.  u.  Kultus  d.  Römer  8.  263. 
2)  Vgl.  CIL  VI  492  Bloch  im  Philologus  LII  581  flf.  Heibig  Führer  1  ^  n.  433.  ^)  Hei- 
big, Führer  I  >  n.  422  ( ^  n.  433)  Wissowa,  Religion  u.  Kultus  d.  Römer  S.  265.  Mar- 
quardt,  Staatsaltertümer  III-  S.  368  f.  *)  Die   lebendige  Schilderung  einer 

solchen  im  Kult  der  'dea  Syria',  die  mit  der  Kybele  vereinigt  erscheint,  sich  ab- 
spielenden Szene  verdanken  wir  Apuleius  Metam.  VIII  27.  Näheres  bei  Hepding, 
Attis  S.  160  ft'.     Cumont,  relig.  orient.  p.  69  f. 


184 


BlLDERANHAN« 


))auke,  einer  Kohrilöte,  einem  Korbe  und  einei'  ci.sla  beliiingt.  Vögel  sitzen 
in  seinen  Zweigen,  unter  ihnen  ein  Hahn.  Im  Attis-Kybelekult  spielt  die 
Pinie  eine  grosse  Rolle:  unter  ihr  hat  sich  einst  Attis  entmannt,  sie  gilt 
aber  auch  als  SNinbol  des  Gottes  selbst  und  wird  am  22  März  in  feierlicher 
Prozession  in  das  Kybeleheiligtum  getragen  '.  Auf  der  Vorderseite  des 
Altars  sehen  wir  Attis  selbst  in  geschlitzten  Hosen,  mit  der  i)hrygischen 
Plätze  bedeckt,  in  der  Linken  ein  Tanibourin  haltend  lauschend  hinter  der 
Pinie  stehen ;  neben  ihm  im  Boden  steckt  sein  Stab,  das  pedtnu.  Von  links 
führt  mit  ihrem  Löwengespann  Kybele  heran,  um  das  Versteck  des  Geliebten 
ausfindig  zu  machen,  welches  ihr  bald  das  Krähen  des  in  den  Pinienzweigen 
sitzenden  Hahnes  kenntlich  machen  wird;  das  Haupt  schmückt  die  Mauer- 
krone, über  der  ein  Schleier  herabwallt,  die  Linke  stützt  sich  auf  ein  Tam- 
bourin.  die  Rechte  hält  einen  Lorbeerzweig. 

Ueber  die  Sabazi  osmy  st  er  i  en  (vgl.  S.  77.  107  ')  belehrt  uns  ein 
Bilderzyklus  der  im  Bereich  der  Prateextatkatakombe  befindlichen  Viucentius- 
gruft  in  Rom,  den  Garrucci  -  veröffentlicht  hat.  An  der  Wand  über  dem 
Arkosolgrabe,  dessen  Wölbung  und  Lünette  die  Bilder  schmücken,  steht  die 
Inschrift  Vi/iiceuti  hoc  o/sliuni?J  (jiieles '^  quol  rides;  phires  nie  anteces- 
.spnniL  0)11  lies  e^rpecfo:  matidnca,  liide  el  beni  at  ^  me:  cum  rlbes,  beue 
l'uc,  hoc  lecum  feres  •'.     Dann  folgen  die  Verse 

yuniinis  iiiitisles  Sitba-zis    Vüicentius  hie  e/sl 

(JJui  Sacra  sanclu  deuiii  "  inente  pia  co[lmJt. 

Sabazios    ist  eine    dem  Dionysos   verw^andte  phrygische  Gottheit ',  die 

auf    ihrem  W^eg    nach  Westen    mit    den    verschiedensten  anderen  göttlichen 

Wesen  Verbindungen    eingegangen    ist.     So    hat    die  Namensähnlichkeit    sie 

auch    zu    einem  Doppelgänger    des   jüdischen     lac-'js   ^aj^awll-    gemacht    und 

einen  jüdisch-sjaikretistischen 
Kult  ähnlich  dem  des  T'j'tatoc; 
hervorgebracht ,  dem  mög- 
licherweise unsre  Vincentius- 
bilder  angehören  ^.  Die  ersten 
drei  Bilder  sind  dem  Gedächt- 
nis der  Gattin  des  Priesters 
Vibia  gewidmet:  wie  einst 
die  Proserpina,  so  hat  auch 
sie  der  Unterweltsgott  ge- 
raubt, Hermes  der  Seelenge- 
leiter führt  das  Viergespann 
dem  wie  ein  Brunnenloch  ge- 
formten P^ingang   der  Unter- 

_   weit  zu.     So  stellt  das  erste 

Ai.biiduriK  1.  '"     Bild    die  abrepUo   Vibies   el 

discpiisio  (=^  discesslo)  dar.  Auf  dem  zweiten  Bild  erblicken  wir  den 
Thron  des  Herrschers  im  Totenreich   Dispaler  und  seiner  Gattin  Ae?'a  cura 


')  Wissowa,  Kel.  n.  Kultus  266.     Cumont,  rel.  orieiitales  6!)  fl'.  -')  Storia 

deir  art.  cristiana  VI  p.  171  ff.  tav.  493.  494,  wonach  unsere  Abbildungen.  Neu 
veröffentlicht  von  Wilpert,  Die  Malereien  der  Katakomben  Roms  Taf.  132.  133. 
Erklärung  hei  E.  Maass,  Orplieus  S.  207  ff.  Zur  Inschrift  vgl.  Buecheler,  Carmina 
epiirraphica  n.  1317.  CIL  VI  142.  •'')  Für  quietis?  ^)  =  ueni  ad  wie 

nachher  ribes  =  vires.  ■•)  Vgl.  Apoc  14 13.  ")  deiim-deoruin.  ')  Näheres 

bei  Gruppe  M\^hologie  II  1.532  ff.  **)  Vgl.  Cumont  in  Comptes   rendues   de 

l'Academie  des  Inscriptions  1906  p.  63  ff.  und  rel.  orient  79  f. 


Vincentiusfirruft 


186 


(=  "Hpa  -/.oüpay).  Von  rechts  erscheint,  geführt  vom  Mercuris  mmlins, 
Vibia,  hinter  ihr  schreitet  als  Fürsprecherin  beim  Totengericht  Alcestis,  die 
typische  Mustergattin,  um  zu  bezeugen,  dass  die  Verstorbene  ihr  gleich  ge- 
Auf  der   andern 


A£XAC\RK'^ 


i^TK'^mMWK' 


wesen    sei 

Seite  des  Thrones  stehen  die 
drei  Schicksalsgöttinnen  '.  die 
Fallt  d'imua.  Das  Gericht 
befindet  die  Vibia  für  würdig 
der  ewigen  Seligkeit:  auf 
dem  Lünettenbilde  (3)  ist 
links  die  Jitdiiclio  Vihles  dar- 
gestellt: der  (liuicliifi  hntuts 
führt  sie  durch  das  himmlische 
Tor  in  die  blumigen  Auen  des 
Paradieses,  auf  denen  wir  be- 
reits zwei  Selige  mit  Knöchel- 
spiel oder  Blumenpflücken 
beschäftigt  erblicken.  Im  Hin- 
tergrunde sitzen  die  durch 
Richterspruch  der  unerbittlich 
strengen  Götter,  die  euphe- 
mistisch .,die  Guten'-  genannt  werden,  für  untadelig  befundenen  bononun 
htdicio  iudicall  beim  himmlischen  Mahle  unter  den  Bäumen  des  Gartens, 
mit  Kränzen    geschmückt    in    festlichen   Kleidern,    Vibia    unter  ihnen.     Ans 


Abbildung  1. 


Abbildung  3. 

Ende  dieses  seiner  verstorbenen  Gattin  gewidmeten  Cyklus  hat  sich  der 
überlebende  Vincentius  selbst  gestellt:  beim  Kultmahle  der  septe(m)  pii 
sacerdotes  des  Sabazius  erblicken  A\-ir  den  Vincentius,  gleich  zwei  anderen 
Kollegen  mit  einer  hohen  phrygischen  Mütze  geschmückt :  die  Zugehörigkeit 


M  Ihren  Bart  verdankt  die  Mittelste  nur   dem  Zeichner  Garruccis.    Die  Ab- 
bildung bei  Wilpert  zeigt  deutlicli  ein  bartloses  Gesicht. 


186 


Bilderanhang 


zu  dem  ^eweiliten  KoUejariuni  verbürgt  auch  ihm  den  Zutritt  zum  Orte  der 
Seligkeit. 

TAFEL  VII  I)  Um  ihrer  Bedeutung   für    das  Neue  Testament  (Act  19 

■j:j  —  u)  willen  sei  hier  auch 
die  Artemis  von  Ephe- 
sus  nach  einem  Neapeler 
Exemplar  abgebildet'.  Kopf, 
Hände  und  Püsse  des  Ori- 
ginals waren  aus  Ebenholz 
geschnitzt,  daher  sind  sie 
in  vielen  der  erhaltenen  Ko- 
pien schwarz  gefärbt.  Die 
Göttin  trägt  die  Mauerkrone 
auf  dem  Haupte,  hinter  dem 
sich  die  volle  Mondscheibe 
rundet.  Zu  beiden  Seiten 
des  Kopfes  wie  auf  dem 
oberen  Teile  des  den  Un- 
Abhiidung  4.  terlcib    eng    umspannenden 

Gewandes  befinden  sich  geflügelte  Stiere  und  Widder,  wie  sie  die  babylonische 
Kunst  geschaffen  hat  und  die  Phantasie  des  Apokalyptikers  (Apoc  4  7)  erblickt. 
Auf  beiden  Armen  kriechen  schmeichelnd  Löwen  zu  ihrer  Herrin  empor,  deren 
unzählige  Brüste  unter  dem  ägisartigen,  mit  Reliefarbeit  verzierten,  Halskra- 
gen hervorquellen.  Die  Biene  am  unteren  Saum  des  Kleides  erinnert  daran, 
dass  die  Priesterinnen  der    ephesinischen  Artemis  ixs/.'.'jaa'.  hiessen. 


Isis 


TAFEL  VII  2)  Im  Laufe  des  I  Jahrhunderts  vor  Christus  hat  sich 
trotz  wiederholter  Abw^ehrmassregeln  des  Staates  der  Isiskult,  der  schon 
weite  Gebiete  des  Ostens  erobert  hatte,  auch  in  Rom  heimisch  zu  machen 
gewusst.  Auf  dieser  Wanderung  durch  die  östlichen  Mittelmeergebiete  ist 
viel  von  der  spezifisch  ägyptischen  Eigenart  der  Form  verloren  gegangen 
und  eine  Assimilation  an  das  griechische  eingetreten.  Die  Abbildung  2  gibt 
die  für  die  hellenistisch-römische  Zeit  typische  Darstellung  der  Isis,  w-ie  sie 
in  zahlreichen  Repliken  sich  findet  ^,  nach  einem  Exemplar  des  Neapeler 
Museums  wieder.  Ueber  die  Tunika  ist  der  mit  Fransen  besetzte  Mantel 
geschlungen  und  seine  Enden  sind  auf  der  Brust  zum  „Isisknoten"  geschürzt. 
Das  gewellte  Haar  deckt  ein  Schleier,  die  Stirn  überragt  das  Symbol  der 
Göttin,  die  Mondscheibe  und  die  Lotosblüte.  Die  rechte  Hand  hält  die 
metallene  Klapper,  das  Sistnim,  empor,  während  die  linke  einen  mit  Nil- 
wasser gefüllten  Henkelkrug  hält. 

Das  folgende  Relief  (3)  aus  dem  vatikanischen  Museum  stellt  eine  Isis- 
prozession dar.  Voran  schreitet  die  an  der  Stirn  mit  dem  Symbol  ihrer 
Göttin  geschmückte  Priesterin,  um  deren  linke  Hand  sich  die  heilige  Uräus- 
schlange  windet:  in  der  rechten  trägt  sie  ein  Gefäss.  Hinter  ihr  folgt  der 
„Hierogrammateus'-   mit  Sperberfedem  an  der  Mütze,  aus  der  heiligen  Rolle 


')  Zahlreiche  Repliken  bei  S.  Reinach,  Repert.  de  la  Stutuaire  I  298  ff'.  II 
321  f.  in  98.  Dazu  vgl.  Röscher,  Lexikon  I  588  ff".  Die  Statuen  stammen  sämt- 
lich aus  römischer  Zeit.  Wichtig  die  Münze  Archäol.  Zeitung  41  S.  284  Fig.  4. 
-)  S.  Reinach,  Repertoire  de  la  Statuaire  I  87.  611  ff.  FI  420  ff.  809  f.  IH  124  f. 


Tafel  7.  8.  9.  10  187 


Gebete  rezitierend.  Dann  kommt  eine  in  Tücher  gehüllte  Gestalt,  die  einen 
grossen  Krug  mit  dem  zur  Reinigungszeremonie  dienenden  Nilwasser  auf 
beiden  Armen  trägt.  Die  den  Beschluss  bildende  Dienerin  schwingt  in  der 
Rechten  das  klirrende  Sistrum  und  trägt  in  der  Linken  eine  mit  eigentüm- 
lichen Ansätzen  am  Stiel  versehene  Schöpfkelle. 

TAPEL  VIII:  1)  Wie  auf  dem  vorigen  Relief  die  fülirende  Priesterin 
als  Kopfschmuck  das  Symbol  der  Göttin  trug,  so  zeigt  uns  der  in  1  wieder- 
gegebene athenische  Grabstein  '  eine  Isispri esterin  im  vollständigen 
Kostüm  ihrer  Herrin.  Soterion,  der  Eigentümer  des  Grabes,  wie  uns  die 
Inschrift  belehrt,  hat  sich  selbst  in  feierlicher  Positur,  die  Testamentsrolle 
in  der  herabhängenden  Linken,  an  der  Seite  seiner  Gattin,  welche  Priesterin 
der  Isis  war,  auf  dem  Grabsteine  darstellen  lassen. 


MiTHRA 

Von  den  zahlreichen  Monumenten  des  Mithraskultes,  die  F.  Cumont  ^ 
gesammelt  hat,  ist  hier  eins  der  grössten,  die  auf  beiden  Seiten  mit  Reliefs 
bedeckte  Platte  eines  Mithraeum  zu  Heddernheim  wiedergegeben 
(TAFEL  IX  imd  X:  Cumont  nr.  251).  Den  Mittelpunkt  der  Vorderseite 
nimmt  die  auf  den  meisten  Platten  wiederkehrende  Stiertötung  in  Anspruch. 
Die  Darstellung  steht  unter  dem  bestimmenden  Einfluss  eines  seit  den 
Perserkriegen  in  der  griechischen  Kunst  verbreiteten  Motivs,  das  zunächst 
in  verschiedeneu  DarsteUnngen  des  Herakles  seinen  Ausdruck  findet,  der  die 
Hirschkuh  von  Keryneia  am  GcAveih  packt  und  das  sich  sträubende  Tier 
mit  dem  Knie  zu  Boden  drückt.  TAFEL  VIII  2  gibt  eine  Bronzegruppe 
dieses  Typs  in  Palermo  wieder,  die  auf  eine  Komposition  des  Lysipp  zu- 
rückgeht. In  der  Schiüe  des  Phidias  war  dies  Motiv  bereits  auf  Nike  über- 
tragen: an  der  Balustrade  des  Tempels  der  Athena  Nike  w^ar  die  Göttin 
in  dieser  Haltung  eine  Kuh  opfernd  dargestellt  ^.  In  hellenistischer  Zeit  wurde 
dies  letzte  Motiv  noch  weiter  durch  Menaechmus  (III  Jh.)  umgestaltet  *  und 
ist  in  dieser  Form  oft  wiederholt  '\  Ein  Beispiel  aus  dem  vatikanischen 
Museum  bietet  das  Relief  TAFEL  IX  2. 

Nach  dem  Vorbild  des  Menaechmus  ist  dann  wohl  im  ersten  Jahrhundert 
der  Kaiserzeit  die  uns  vorliegende  Mithrasgruppe  entworfen  worden  (vgl. 
S.   79). 

Was  nun  den  Inhalt  der  Darstellung  anlangt,  so  ist  es  nur  durch  aus- 
giebige Kombination  von  Nachrichten  und  Darstellungen  möglich  gewesen, 
den  Sinn  dieses  Gewirrs  von  Figuren  zu  enträtseln  "'.  lieber  dem  flattern- 
den Mantel  erblicken  wir  einen  Raben,  der  dem  Mithra  vom  Sonnengott  den 
Auftrag  gebracht  hat,  den  Urstier,  das  erste  Geschöpf  des  Ahura  Mazda 
zum  Heile  der  Welt  zu  töten.  Darauf  hat  Mithra  das  Tier  verfolgt  und  in 
einer  Höhle  zu  Boden  geworfen :  während  die  Linke  in  die  Nüstern  des  von 
dem  Knie  des  Helden  niedergedrückten  Stieres  greift,  bohrt  die  Rechte  ihm 
den  tödlichen  Dolch  in   den  Hals.     Zwei  Gefährten,    Cautes  und  Cautopates, 


1)  Vgl.  V.  Sybel,  Skulpturen  zu  Athen  nr.  530.  -)  Textes  et  Monuments 

relatifs  airx  mysteres   de  Mithra  1895 — 99.    Weitere  Nachweise   bei  Cumonts   rel. 
Orient.  299  fif.  »)  Archäol.  Anzeiger  VI  122  Fig.  17  d.     Vgl.  Kekule,  Die  Balu- 

strade  der  Athena  Nike.  *)  Plinius  nat.  hist.  36,  80  vitidus  genu  premitur. 

'=-)  Vgl.  z.  B.  S.  Reinach,  Repertoii-e  de  la  statuaire  I  113.  190.  350.  «)  Cumont 

Textes  et  Mon.  I  304  ff.  und  bei  Röscher,  Lexikon  d.  griech.  u.  röm.  Mythologie  s. 
V.  „Mithras".     Vgl.  auch  Cumunt,  Die  Mysterien  des  Mithra,  deutsch  von  Gehrich. 


188  Bilderanhang 


stehen  Fackeln  tragend  ilirem  Meister  zur  Seite.  Aber  schon  nahen  die 
feindhchen  Abgesandten  des  Aliriman:  Während  ein  Skorpion  die  Hoden 
des  Stieres  zerfleischt  um  seinen  Samen  zu  vergiften,  schlürft  die  Schlange 
das  in  den  Krater  fliessende  Blut,  auch  der  Löwe  lauert  darauf,  sein  Teil 
zu  erhalten.  Doch  Mithras  treuer  Hund,  der  vorher  schon  die  Beute  auf- 
gespürt hatte,  bewacht  die  aus  dem  todwunden  Tier  entschwebende  Seele 
und  geleitet  sie  zum  Himmel,  aus  dem  Leichnam  entstehen  trotz  Ahrimans 
Bemühungen  die  heilsamen  Pflanzen,  vor  allen  Weinstock  und  Getreide: 
wie  denn  schon  in  der  Darstellung  aus  dem  emporgeworfenen  Schwanzende 
drei  Aehren  herauswachsen ;  aus  seinem  durch  den  Mond  geläuterten  Samen 
die  Tiere,  die  wir  auf  der  Rückseite  der  Platte  (X)  fröhlich  über  die  Grotte 
springen  sehen,  in  der  an  der  Leiche  des  toten  Stieres  Helios  dem  Mithra 
eine  Weintraube  reicht.  Auf  der  oberen  Leiste  der  Vorderseite  erblicken 
wir  links  den  zu  Berg  fahrenden  Helios,  welcher  den  Mithra  an  seiner  Seite 
den  Wagen  besteigen  heisst,  rechts  die  zu  Tal  fahrende  Nacht.  Darunter 
links  eine  Episode  aus  einem  früheren  Stierabenteuer;  Mithra  schleift  das 
erbeutete  Tier  an  den  Hinterfüssen  mit  sich.  Daneben  setzt  er  dem  Helios 
die  Strahlenkrone  auf  und  reicht  dann  einem  Knieenden  (Helios  ?)  die  Hand. 
Die  runde  Wölbung  der  0})fergrotte  schmücken  die  Bilder  des  Tierkreises, 
ein  Zeichen  des  auch  in  die  Mithrareligion  eingedrungenen  Einflusses  der 
babylonischen  Astrologie :  muss  doch  die  Seele  des  Frommen  von  Mithra 
geleitet  sieben  Himmel  durchschreiten,  um  von  allen  uaO-Tj  gereinigt  die 
höchste  Seligkeit  zu  erlangen  (S.  167  0".).  In  dem  Zwickel  rechts  sehen  wir, 
wie  Mithra  zur  Zeit  einer  von  Ahriman  gesendeten  Dürre  durch  einen  Pfeü- 
schuss  Wasser  aus  dem  Felsen  lockt,  das  die  davor  knieenden  Menschen 
gierig  trinken.  In  dem  Viereck  rechts  daneben  (unter  dem  Kopf)  ist  die 
Geburt  des  Mithra  dargestellt;  mit  halbem  Leibe  ragt  er  aus  dem  „mütter- 
lichen Felsen'-  heraus.  Darunter  schreitet  er  nackt,  nur  mit  der  phrygischen 
Müt'ze  bekleidet,  auf  einen  Feigenbaum  zu,  um  sich  vor  dem  Sturmwind  mit 
dem  abgehauenen  Laub  zu  decken.  Die  übrigen  Darstellungen  sind  uns 
nicht  verständlich.  Medaillons  mit  den  vier  Jahreszeiten  schmücken  die 
Ecken. 

Ein  Heiligtum  des  Mithras  (Mithraeum)  zeigt  TAFEL  XI  1,  und 
zwar  das  jetzt  von  Wasser  angefüllte  und  unzugänglich  gewordene  unter 
S.  demente  in  Rom  (natürlich  ist  es  kein  Zufall,  dass  sich  über  dem 
heidnischen  Kultort  eine  christliche  Kirche  erhoben  hat).  Die  Form  dieser 
Heiligtümer  ist  im  ganzen  Gebiet  des  römischen  Reiches  wesentlich  gleich. 
Weil  in  der  Legende  des  Gottes  die  Höhle  eine  so  bedeutsame  Rolle  spielt, 
hat  man  entweder  Felsgrotten  gewählt  oder  dem  Versammlungsort  durch 
Wölbung  der  Decke  den  Charakter  des  aiilrum  ^=  aTir^Xa^ov  gegeben.  Durch 
einen  Vorraum  betritt  man  das  Heiligtum :  die  Eingangswand  ist  frei,  an 
den  drei  andern  Wänden  beünden  sich  die  etwas  abgeschrägten  Podien,  auf 
denen  die  Gläubigen  Platz  nahmen.  Da  der  Raum  zum  Liegen  zu  schmal 
ist,  wird  man  gekniet  haben.  An  der  Hinterwand  befand  sich  das  Relief 
des  Stiertöters  von  den  Altären  des  Sol  und  der  Liinu  flankiert :  man  sieht  deut- 
lich die  Stelle,  aus  der  es  herausgebrochen  ist,  davor  war  zwischen  den  Podien 
der  Opferidatz.  Die  Mithraeen  sind  alle  klein  und  fassen  höchstens  100  Per- 
sonen: so  liegt  der  Schluss  nahe,  dass  nur  die  höheren  Grade  der  „Einge- 
weihten'- Leo,  Perses,  llclioibomus.  Paler  nicht  aber  die  niederen  Rang- 
stufen des  Corax  Crypliius  Miles  zu  den  Mysterien  der  Crypta  Zutritt 
hatten  (vgl.  S.   168). 


Tafel  9.  10.  11.  l'J 


189 


.lUlMTI'.U    DOMCHKNUS 


Jupiter  Dolichenus,  dem  die  TAFEL  XII  reproduzierte  Bronze- 
platte in  Gestalt  einer  Pfeilspitze  geweiht  ist,  gehört  zu  den  aus  dem  Orient 
durch  die  Soldaten  nach  dem  Westen  veri)Hanzten  .syrischen  Baalim.  Seine 
Heimat  _ist  die  Stadt  Doliche  in  der  zwischen  dem  Oberlauf  des  Euphrat 
und  dem  Taurusgebirge  gelegenen  Landschaft  Commagene.  Von  hier  aus 
ist  er  durch  die  syrischen  Truppen  nach  Italien  und  weiter  in  die  Donau- 
und  Rheinlande,  ja  bis  nach  Brittanien  verbreitet  \\orden  und  hat  sich  be- 
sonders um  20()  grosser  Gunst  beim  hohen  und  niederen  Militär  erfreut. 
Vom  Kult  und  Wesen  dieses  Kriegsgottes  wissen  wir  nicht  mehr,  als  das 
Wenige  was  uns  die  bildlichen  Darstellungen  lehren  K  Unsere  Platte  zeigt 
ihn,  wie  üblich,  auf  einem  Stier  stehend,  mit  der  phrygischen  Mütze  auf 
dem  bärtigen  Haupte,  in  der  hoch  erhobenen  Rechten  eine  Doppelaxt,  in 
der  linken  den  Blitz.  An  dem  quer  über  die  Brust  geschnallten  Bandelier 
hängt  das  Schwert,  die  Beine  sind  nach  orientalischer  Weise  mit  Hosen  be- 
kleidet. Sowohl  die  Doppelaxt  wie  die  Rosette  auf  der  Stirn  des  Stieres 
machen  übrigens  einen  Zusammenhang  dieser  jungen  Winkelreligion  mit  der 
1500  Jahre  älteren  kretisch-mykeni- 
schen  Kultur  wahrscheinlich.  Beson- 
ders lehrreich  ist  nun  aber  die  Dar- 
stellung für  den  Synkretismus  der 
mittleren  Kaiserzeit :  auf  den  syrischen 
Gott  schwebt  die  Nike  mit  Kranz  und 
Palme  zu.  Ueber  ihm  erblicken  wir 
die  Büste  des  strahlengekrönten  He- 
lios, unter  ihm  eine  seltsame  Gruppe : 
in  der  Mitte  eine  Gottheit,  welche 
das  Sistrum  der  Isis,  die  IMauerkrone 
der  Kybele,  und  die  Fackel  der  De- 
meter-(Artemis-Hekate?)  tragend  auf 
einem  Esel  steht:  offenbar  das  weib- 
liche Komplement  zum  männlichen 
Baal.  Rechts  und  links  von  ihr  zwei 
Genien  mit  halbem  Leibe  aus  rätsel- 
haften Gewinden  (Felsen?)  heraus- 
wachsend ,  die  auf  ihren  Häuptern 
die  Büsten  der  Luna  und  des  Sol, 
in  ihren  Händen  Fackeln  in  Form  von 
fiilmina  tragen. 


Paxtheos 

Ein  besonders   schöneä  Beispiel 
des    Ineinandergehens     der    verschie-  Ab^iidunn  .-.. 

denen  Einzelgottheiten  zeigt  die  folgende  Darstellung  der  FortunaPanthea- 
nach    einer  Berliner  Bronze.     Als    man   sich  daran  gewöhnt  hatte,  verschie- 


*  Vgl.  Cumont  Art.  „Dolichenus-  in  Pauly-Wissowa  Real-Enzykl.  V  1276  ff. 
-)  Vgl.  C.  Friedrichs  Kleinere  Kunst  u.  Industrie  im  Altertum  (1871)  Nr.  1988.  Rö- 
scher, Lexikon  I  2  S.  1534. 


i90  BlLDEEANHANG 


dene  Götter  mit  einander  zu  identifizieren,  trieb  die  Entwickelung  unauf- 
haltsam dem  weiteren  Ziele  zu,  alle  Götter  als  verschiedene  Offenbarungs- 
t'ormen  eines  einzigen  allumfassenden  „Pantheos"  ^  zu  betrachten.  Jeder 
Kidt  pflegte  natürlich  den  von  ihm  speziell  verehrten  Gott  als  diesen  „All- 
gott" zu  betrachten,  so  dass  wir  Jupiter,  Serapis,  Aphrodite,  Isis,  Silvanus 
u.  a.  m.  mit  diesem  Beinamen  bezeichnet  linden.  Die  zahlreichen  figürlichen 
Darstellungen  liefern  den  Kommentar  dazu.  So  erblicken  wir  hier  die  am 
Füllhorn  kenntliche  Fortuna,  deren  Haupt  ausser  einem  Diadem  das  Symbol 
der  Isis  zugleich  mit  dem  Halbmond  der  Artemis  schmückt.  Am  Rücken 
sind  die  Flügel  der  Nike,  über  die  Brust  ist  das  Hirschfell  (vSjjp'.g)  der 
Artemis  oder  einer  Bakchantin  geschlungen,  während  sie  über  den  Rücken 
den  Köcher  der  Artemis  geworfen  hat.  Die  rechte  führt  das  Steuerruder 
der  Tyche,  um  den  Arm.  schlingt  sich  die  heilige  Schlange  des  Asklepios, 
und  aus  dem  Füllhorn  schaut  das  Knaben  gleich  gebildete  Dioskurenpaar. 

'  Vgl.  Usener,  Götternamen  S.  345  f. 


Berichtigungen: 

S.  29  §  3  Zeile  5  „echt"  zu  streichen. 

S.  44  Anm.  2  gehört  zu  Z.  21. 

S.  50  im  Titel  Hes  3  statt  4. 

S.  67 '  „Heraklit"  zuzufügen. 

Nicht  störende  Versehen  sind  übergangen  worden. 


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Wendland,    Hellenistiscli-rüraisclie    Kultur. 


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Weiidland,    Hellenistisch-römische    Kultur. 


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WenJland,     Htlli'nistiscli-römisclio    Kultur 


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IX 


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Wen  (Hand,    Hellenistisch-römische  Kultur. 


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Wendland,    Ilellenistisch-römische    Kultur. 


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