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Die Idee ^
europflisclieii QleicMlcMs
lg der putllzlstlsclieii llterotur
vom 18. bis zur HItte des 18. Jobriiunderts
E. Kaeber
ai
BERLIN
Verlag von Alexander Duncker
l«07.
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2.1'
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Die Idee
des europfilschen GlelchMhts
ID der DamizIMscIiei Lltentgr
wn le. üb zur Mitte dei U. Jiilirliiiiilerli
Von
Er^aeber
BERLIN
Verlag von Alexander Dancker
1907.
Die vorliegende Schrift hat als Dissertation zur Erlangung der Doktor-
würde bei der philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhemsuniversität
zu Berlin gedient Seite 1-44 sind als Inaugural-Dissertation erschienen.
• • • • "
• • • • •
Druck von Hngo Wilisch in Chemnitz.
Inhalt
Seite
Vorwort 1
Einleitung 4
1. Allgemeine Grundlage der Gleichgewichtsidee . 4
2. Der Universalismus des Mittelalters 5
I. Das europäische Gleichgewicht im Kampf gegen das Haus
Habsburg io
Einleitung: 1. Machiavelli 10
2. Das italienische Oleichgewicht . . 11
1. Kapitel: Ursprung der Idee des europäischen Oleich-
gewichts 14
1. Wiederaufleben der universalistischen Ideen . . 14
2. Beginn des Widerstandes g^en die Universal-
monarchie. Die Venetianer. Deutsche und fran-
zösische Flugschriften IS
2. Kapitel: Das Oleichgewicht in der Publizistik bis zu
den Friedensschlüssen von 1648 und 1659 . 22
1. Der Kampf gegen Philipp II 22
2. Der Dreißigjährige Krieg 29
II. Das europäische Gleichgewicht im Kampf gegen Lud-
wig XIV. 45
1. Kapitel: Österreichische und spanische Flugschriften
aus den Anfängen Ludwigs XIV 45
2. Kapitel: England unter Karl II 52
3. Kapitel: Die Zeit Wilhelms III. und des spanischen
Erbfolgekrieges 62
1. Bis zum Frieden von Ryswick ...... 62
2. Englische Publizistik zu Anfang des spanischen
Erbfolgekrieges 64
3. Englische Publizistik zu Ende des spanischen
Erbfolgekrieges 72
4. Habsbui^sche Publizistik U
— IV -
Seite
III. Vom Frieden zu Utrecht bis zum Frieden von Aachen 77
1. Kapitel: Von 1713-1740 77
1. Das nordische Gleichgewicht 77
2. Die österreichische Literatur im polnischen
Thronfolgekriege 81
3. England unter Walpole. Bolingbrokc .... 82
4 Die Ostendische Handelskompagnie 84
2. Kapitel: Der österreichische Erbfolgekrieg .... SS
1. Österreichische Publizistik 88
2. England und das alte System 91
3. Erster Widerspruch gegen die Gleichgewichtsidee.
Charakter der gesamten Literatur dieser Zeit 96
IV. Der Siebenjährige Krieg 103
Einleitung 103
1. Kapitel: Der kontinentale Kri^ 106
1. Österreichische und andere Flugschriften gegen
die Übermacht Preußens 107
2. Preußisch-englische Broschüren. Justis irChimäre
des Gleichgewichts von Europa'' 113
2. Kapitel: Der französisch-englische Seekrieg .... 124
1. Allgemeiner Charakter der englischen Publizistik 124
2. Die französische Literatur. Das Handels- und
Kolonialgleichgewicht. Mirabeau, Maubert und
Moreau 126
3. Justis »Chimäre des Gleichgewichts der Hand-
lung und der Schiffahrt" 137
Schluß 140
Anhang: Das europäische Gleichgewicht und das natur-
liche Völkerrecht im 18. Jahrhundert . . . . 143
< »
^ Inhalt
Sdte
Vorwort 1
Anleitung 4
1. Allgemeine Grundlage der Oleichgewichtsidee . 4
2. Der UniverBalismus des Mittelalters 5
I. Das europäische Gleichgewicht im Kampf gegen das Haus
Habsburg io
Einleitung: 1. Machiavdli 10
2. Das italienische Gleichgewicht . . 11
1. Kapitel: Ursprung der Idee des europäischen Gleich-
gewichts 14
1. Wiederaufleben der universalistischen Ideen . . 14
2. Beginn des Widerstandes gegen die Universal-
monarchie. Die Venetianer. Deutsche und fran-
zösische Flugschriften IS
2. Kapitel: Das Gleichgewicht in der Publizistik bis zu
den Friedensschlüssen von 1648 und 1659 . 22
1. Der Kampf gegen Philipp II 22
2. Der Dreißigjährige Krieg 29
II. Das europäische Gleichgewicht im Kampf gegen Lud-
wig XIV. 45
1. Kapitel: Österreichische und spanische Flugschriften
aus den Anfängen loidwigs XIV 45
2. Kapitel: EngUnd unter Karl II 52
5. Kapitel: Die Zeit Wilhelms III. und des spanischen
Erbfolgekrieges 62
1. Bis zum Frieden von Ryswick 62
2. Englische Publizistik zu Anlang des spanischen
Erbfolgekrieges 64
3. Englische Publizistik zu Ende des spanisdien
Erbfolgekricges 72
4. Habsburgische Publizistik 75
- IV -
Seite
III. Vom Frieden zu Utrecht bis zum Frieden von Aachen 77
1. Kapitel: Von 1713-1740 77
1. Das nordische Gleichgewicht 77
2. Die österreichische Literatur im polnischen
Thronfolgekriege 81
3. England unter Walpole. Bolingbrokc .... 82
4 Die Ostendische Handelskompagnie 84
2. Kapitel: Der österreichische Erbfolgekrieg .... 88
1. Österreichische Publizistik 88
2. England und das alte System 91
3. Erster Widerspruch gegen die Gleichgevrichtsidee.
Charakter der gesamten Literatur dieser Zeit 96
IV. Der Siebenjährige Krieg 103
Einleitung 103
1. Kapitel: Der kontinentale Krieg 106
1. Österreichische und andere Flugschriften gegen
die Obermacht Preußens 107
2. Preußisch-englische Broschüren. Justis irChimäre
des Gleichgewichts von Europa' 113
2. Kapitel: Der französisch-englische Seekrieg .... 124
1. Allgemeiner Charakter der englischen Publizistik 124
2. Die französische Literatur. Das Handels- und
Kolonialgleichgewicht. Mirabeau, Mauberi und
Moreau 126
3. Justis »Chimäre des Gleichgewichts der Hand-
lung und der Schiffahrt'' 137
Schluß 140
Anhang: Das europäische Gleichgewicht und das natür-
liche Völkerrecht im 18. Jahrhundert . . . . 143
•9»
Vorwort.
Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts begegnet in der
politischen Literatur die Idee des Oleichgewichts der europäischen
Staaten. Als Grundlage des freien Zusammenlebens der Völker
Europas verteidigt, in späterer Zeit hie und da auch als un-
realisierbare Chimäre oder als Deckmantel egoistischer Sonder-
bestrebungen eines oder des anderen Staates bekämpft, findet der
Gedanke auch in unserer Zeit bei Staatsmännern und Historikern
eine Stätte,^) ohne doch wie im 1 7. und 1 8. Jahrhundert ein fast
unentbehrliches Schlagwort in der Publizistik mancher Staaten
zu sein.
Doch darf man nicht annehmen, daß zu allen Zeiten unter
dem politischen Gleichgewicht Europas dasselbe verstanden
worden sei. Wie der Gedanke aus bestimmten realen Ver-
hältnissen erwachsen ist, so hat er sich mit deren Veränderung
selbst gewandelt. Und wie er keine inhaltslose Spekulation
philosophierender Staatsmänner darstellt, sondern der Ausdruck
für konkrete politische Forderungen ist, so hat er mit dem
Wechseln der Konstellationen auch seinen Zweck mehrfach ge-
ändert. Die verschiedenen Gestaltungen des Gleichgewichts-^
gedankens lassen sich am deutlichsten aus der politischen
Literatur erkennen, die uns Antwort auf die Fragen gibt, aus
>) Unter anderen vgl. viele Stellen bei v. Sybel, »Die Gründung des deutschen Reichs,
durch Wilhelm I." 3. A. München 1890, z. B. I, 223; II, 204, 432, 535.
Bismarck, »Gedanken und Erinnerungen" II, 99, 251, 253.
Lenz, »Napoleon«. Leipzig 1905, S. 111.
. Delbrück (»Erinnerungen, Reden und Aufsätze", 3. A. Berlin 1905) spricht auf S. 48r
über die Notwendigkeit eines gewissen Gleichgewichts der großen Nationen in dem
kolonialen Ausdehnungsprozeß. In ähnlichem Sinne gebraucht ein modemer französischer
Autor die Ausdrücke: 6quilibre africain" und »6quilibre asiatique": vgl. Donnadieu: »Essai
sur la thferie de l'^quilibre." Paris 1900. S. 21 Off., 21 5 1.)
Auf die Regierung Wilhelms III. geht es zurück, wenn noch heute in England das-
stehende Heer jährlich »zur Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts" bewilligt wird.
Kaeber, Das europäische Gleichgewicht. i
— 2 —
welchen Zustanden die Idee entsprungen ist, welche Formen sie in
den verschiedenen Zeiten angenommen hat, und welche Wirkungen
sie im einzelnen Fall ausüben, welchen praktischen Zielen sie
dienen sollte. Eine Untersuchung hauptsächlich über diese
Fragen möchte die vorliegende Arbeit sein. Eine Geschichte des
europäischen Gleichgewichts selbst, wie sie etwa der bekannte
Staatsrechtslehrer Schmauß im 1 8. Jahrhundert unternommen hat,
liegt völlig fem.*) Nur die Perioden gibt die politische Geschichte
an, nach denen sich auch die sie begleitende publizistische
Literatur gliedern läßt. Der Abschluß mit dem Ausgang des
Siebenjährigen Krieges ist gewählt worden, weil mit ihm das
System der fünf großen Mächte sich herausgebildet hat, das auch
heute noch trotz des Zutritts Italiens und des sich bildenden
Weltstaatensystems die Grundlage der europäischen Politik bildet.
Auch bietet die Publizistik der napoleonischen Zeit, soweit sie
mir bekannt ist, für die Auffassung des europäischen Gleich-
gewichts nicht viel neue Gesichtspunkte.
Es ist versucht worden, das verstreute Material wenigstens
für die wichtigsten Perioden bis zu einem gewissen Grade voll-
ständig zu sammeln. Reiche Ausbeute an Flugschriften hätte die
Pariser Nationalbibliothek bieten können, die ich leider nicht be-
nutzen konnte. Die wichtigsten, allgemeine politische Fragen
behandelnden »livrets« scheinen allerdings in die schon während
des Dreißigjährigen Krieges erschienenen wRecueils« aufgenommen
worden zu sein. Und da gerade die Gleichgewichtsideen in
ihnen vielfach einen stereotypen Charakter tragen — einzelne
benutzte Schriften haben deshalb in der Darstellung keine Er-
wähnung finden können — darf man vielleicht annehmen, daß
auch die mir unbekannten Schriften keine wesentlich neue Auf-
fassung zeigen würden.
1) Johann Jakob Schmauß, ifEinleitung zu der Staats - Wissenschaft. Erster und
zweiter Teil : Die Historie der Balance von Europa etc. in sich haltend.«* Leipzig 1 741 und 1 747.
Von neueren Darstellungen sei außer Rankes Versuch über die großen Mächte, 0er
in gewissem Sinne hierher gehört, nur das schon zitierte Werk von Donnadieu genannt,
dessen erster, größerer Teil der politischen Oeschichte mit ständiger Rücksicht auf die in
ihr sich manifestierende Oleichgewichtsidee gewidmet ist Während die älteren Zeiten recht
dürftig und in engem Anschluß an die Arbeiten anderer behandelt sind, bietet das Buch
interessantes Material aus gleichzeitigen Aufzeichnungen und Akten seit dem Ende des
18. Jahrhunderts; besonders die Friedensverhandlungen von 1813-15 finden eine aus-
führliche Darstellung.
— 3 —
Einzeluntersuchungen über die Verfasser der meist
anonymen Broschüren verboten sich von selbst bei einer Arbeit,
die so weite Zeiträume durcheilt^) Übrigens würde selbst bei
erfolgreichen Versuchen dieser Art der Nutzen für unsere Zwecke
gering sein. Die uns interessierenden Fragen sind die nach
Ursprung und Zweck der einzelnen Pamphlete, die sich fast
stets zur Genüge aus ihrem Inhalt erkennen lassen.
Die benutzten Flugschriften und Sammelbände befinden
sich, soweit nichts näheres angegeben ist, auf der Königlichen
Bibliothek zu Berlin.
Die völkerrechtliche Literatur über das Gleichgewicht ist
in einem Anhang behandelt worden.
1) Wie problenuitisch solche Untersuchungen dabei sind, zeigt eine zwischen zwei
französischen Gelehrten entstandene Kontroverse. Desdouvres glaubte, in dem P^re Joseph,
dem Vertrauten Richelieus, einen ungemein fruchtbaren Publizisten entdeckt zu haben und
verfocht seine These in einem umfangreichen Buche (»Le p^e Joseph pol^miste." Paris 1895).
Demgegenüber sucht Fagniez^ Autor eines zweibändigen Werkes über den Pater Joseph und
Richelieu, in einem Aufsatz in der Revue des quest. bist., Bd. 60 (N. S. 16. 1896.)
Desdouvres* These als unhaltbar hinzustellen.
^•
Einleitung.
1 . Im 18. Jahrhundert, in der Blütezeit der Gleichgewichts-
idee, bilden Betrachtungen über ihre allgemeine Bedeutung im
Völkerleben und über ihren Einfluß auf die Politik auch der
antiken Staaten ein beliebtes Thema.') So anfechtbar die Einzel-
resultate dieser Untersuchungen sein mögen, sie enthalten doch
einen berechtigten Kern, den in wissenschaftlich vertiefter Auf-
fassung und geistvoller Form neuerdings Ratzel aufgenommen
hat.*) Er macht darauf aufmerksam, daß die meisten mensch-
lichen Verbände, die über ein beschränktes Gebiet verfügen, eine
Tendenz nach räumlicher Ausdehnung namentlich bei steigender
Kultur zeigen, und daß demgegenüber überall da, wo mehrere
Verbände oder Staaten aneinander stoßen, sich eine allgemeine
Richtung auf An- und Abgleichung beobachten läßt, deren Ziel
die Verhinderung des allzu ausgedehnten Wachstums eines
Staates ist. Ratzel möchte darin einen wichtigen Faktor der
Staatenbildung sehen und das europäische Gleichgewicht als eine
besonders scharf ausgebildete Formulierung eines ziemlich all-
gemeinen Strebens auffassen.^)
Von diesem Gesichtspunkte aus könnte man dann das
Resultat der Geschichte des Altertums, das einheitliche römische
Weltreich, als Produkt des in den Römern zur höchsten Energie
entfalteten Strebens nach Ausdehnung bezeichnen, und die immer
fester ausgebildeten Nationalstaaten der modernen Geschichte als
Ergebnis eines stetigen An- und Abgleichungsprozesses, der seine
1) Es seien hier nur die weiter unten zitierten Schriften von David Hume und von
Ludwig Kahle genannt.
«) Friedrich Ratzel, »Politische Geographie." 2. A. München 1903. S. 2l8ff., 247 ff.
s) Einen eigentumlichen spekulativen Ausdruck hat die Idee der Ausdehnung als
Lebensprinzip der Staaten in der modernen Philosophie erhalten: vgl. Spranger, „Alten-
steins Denkschrft von 1807 und ihre Beziehungen zur Philosophie": Forsch, z. br. und
pr. Gesch. 18,2 (1905), S. 149.
— s —
charakteristische Äußerung in der Gleichgewichtsidee findet
Zwischen diesen beiden Polen der Entwicklung liegt das
Mittelalter mit seiner eigenartigen Kultur, die auch das Staats-
leben aufs tiefste beeinflußt hat Aus dem Gegensatz zu
seinem Ideal der einheitiichen Christenheit ist der Gleich-
gewichtsgedanke entsprungen. Es wird nötig sein, zu dessen
tieferem Verständnis das Wesen des mittelalterlichen Universalismus
kurz zu skizzieren.^)
2. War auch das Imperium Romanum in den Stürmen der
Völkerwanderung untergegangen, so blieb doch die Erinnerung
an seinen Glanz und als sichtbares Zeichen seiner welt-
beherrschenden Stellung die christiiche Kirche erhalten. Der
politische Gedanke einer Erneuerung des dahingeschwundenen
Reiches verband sich alsbald mit der christiichen Idee der
Einheit aller Gläubigen und beeinflußte Politik und Welt-
anschauung des ganzen Mittelalters. Wir betrachten zunächst die
Universalpolitik.
Die Wiederherstellung des Imperium Romanum durch
Karl den Großen war zwar nicht von Dauer, das neue Reich
war eine ganz extensive Staatenbildung im Gegensatz zu dem
aus alten Kulturländern zusammengefügten Reich des Augustus,
aber seine weltgeschichtiiche Bedeutung reichte unendlich viel
weiter als seine Existenz. Trotz seines Scheiterns blieb der
Versuch für Jahrhunderte vorbildlich.
Durch Otto I. für das deutsche Volk gewonnen, hat das
Imperium der deutschen Politik die Richtung nach Italien ge-
geben und die Nation durch den nach der Erwerbung Siziliens
unter den Staufern mit erneuter Heftigkeit entbrannten Kampf
mit der römischen Kirche in ihrem staatiichen Leben aufs tiefste
beeinflußt.^) Den Anspruch auf die Weltherrschaft haben deutsche
Gelehrte für ihren König noch im 1 7. Jahrhundert erhoben, ein
^) Außer Rankes Weltgeschichte sind zugrunde gelegt v. Eicken, »Oesdiichte und
System der mittelalterlichen Weltanschauung". Stuttgart 1887. Oierke, »Deutsches
Oenossenschaftsrecht«, Bd. III. Berlin 1881. § 11. Riezier, »Die literarischen Widersacher
der Päpste zur Zeit Ludwigs des Bayern«. Leipzig 1874. Hauck, »Der Oedanke der päpst-
lichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII." Universitätsrede, Leipzig 1904. Norden, »Das
Papsttum und Byzanz". Berlin 1903. Schwemer, »Papsttum und Kaisertum«. Stuttgart 1899.
Einzelne Nachweise aus anderen Autoren unter dem Text.
s) Über die Bedeutung der Erwerbung Siziliens vgL auch Ficker, »Deutsches
Königtum und Kaisertum«. Innsbruck 1862, bes. S. 59.
v^
— 6 —
Beweis, wie tief sich diese Vorstellungen mit dem ganzen Denken
der Nation verflochten hatten.^)
Ganz natürlich war es daneben, daß trotz des römisch-
deutschen Kaisertums die Herrscher Ostroms ihre Ansprüche auf
die einstige westliche Hälfte ihres Reiches nicht aufgaben. Die
Komnenen dachten, durch die Wiedervereinigung mit der
römischen Kirche das christliche Abend- und Morgenland unter
ihrem Szepter aufs neue verschmelzen zu können.*) Dem gegen-
über hat Friedrich Barbarossa mit bewußter Absicht Ostrom als
»Königtum« bezeichnet, sein Sohn Heinrich VI. eine Eroberung
von Byzanz erwogen.') Selbst in der Zeit des Todeskampfes gegen
die Türken hat der damalige Kaiser Johannes VIII. gelegentlich der
Union von Lyon sich als den Herrn des Universums bezeichnet*)
Aber die universalen Bestrebungen blieben nicht auf die
Inhaber des Kaisertitels von West- und Ostrom beschränkt. Der
Erbe der Staufen in Neapel und Sizilien, Karl von Anjou, nahm
Heinrichs VI. weitausgreifende Pläne wieder auf. Eine gleich-
zeitige Quelle sagt, er habe nach der Monarchie des Caesar und
Augustus gestrebt, eine andere schreibt »aspirava alla monarchia
del mondo".*) Im Zusammenhang damit werden die Pläne der
französischen Verwandten Karls gestanden haben. Neben und
trotz ihrer nationalen Abschließungstendenz fühlten Philipp IV. und
seine Söhne ein Verlangen nach der Weltherrschaft in sich,*) das
uns auch in einem Erzeugnis der politischen Literatur ihrer Zeit
deutlich entgegentritt.')
Selbst für einen englischen König, Heinrich IL, ist mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Universalpolitik nach-
gewiesen worden.®)
1) Mor. Ritter, .Hortleben als Lehrer der Herzoge Johann Ernst und Friedrich":
Neues sächsisches Archiv I (1880), S. 194 f.
s) Norden, a. a. O., S. 88 ff.
>) Norden, a. a. O., S. 111, bes. Anm. 2, S. 123 f.
«) Norden, a. a. O., S. 724.
B) Norden, a. a. O., S. 440 ff., 458 f., 474 ff., 490, 604 f. Die angefahrten Stellen S. 604 *.)
•) Schwemer, a. a. O., S. llSff. Norden, a. a. O., S. 652 ff., 659, 670.
7) In einer sehr interessanten kleinen Schrift eines französischen Legisten aus dem
Jahre 1300: vgl. Natalis de Waillis, »Mtooires de l'Instihit*, Bd. 18, 2 (1849). Es wird
dtrin der Plan einer französischen Weltherrschaft entwickelt, die sich auch auf Ostrom aus-
ddinen soll.
•) Hardegen, .Die Impcrialpolitik König Heinrichs II. von England*. (Heidelberger
Abhandlungen zur mittl. und neuen Geschichte, Heft 12.) 1905.
— 7 —
Und daneben geht das gleichgerichtete Streben der Kirche
nach der Herrschaft über die Erde, das das notwendige Korrelat
zu der Verachtung des weltlichen Staats und zu dem Postulat
des Gottesstaates war.^) Die Kämpfe der Kirche mit dem welt-
lichen Staat, die daraus folgten, sind bekannt genug.
Diese mannigfaltigen Versuche, die bekannte Welt unter einem
einzigen Herrscher zu einen, gerade in einer Zeit, wo der Verkehr
und überhaupt die ganze materielle Kultur auf die Bildung
kleiner Staatswesen hinwiesen, wären unverständlich, wenn wir
uns nicht in die staatliche Gedankenwelt des Mittelalters hinein-
fühlen wollten, aus der diese Versuche ihren Ursprung und ihre
immer neue Kraft nahmen. Ihren Ausdruck fanden diese Ideen
in der publizistischen Literatur, in der theologische, philosophische,
juristische, praktisch-politische und historische Elemente vereint sind.
Der Ausgangspunkt war ein theologisch - philosophischer :
Das Prinzip der Einheit erschien als das Prinzip des Weltganzen,
verkörpert in dem einen Gott.*) Daraus folgerte man eine
äußere Verbandseinheit der gesamten Menschheit, des corpus
mysticum, das einer einheitlichen Regierung bedürfe. Nun sah
das Mittelalter aber diese einheitliche Menschheit doch wieder
gespalten in eine weltliche und eine geistliche Organisation. Ganz
von selbst ergab sich daraus das Bedürfnis, beide wieder zu
vereinen, und damit war der Kampf der höchsten weltlichen und
der obersten geistlichen Macht über das »Wie« dieser Ver-
einigung unvermeidlich.
Die Ansprüche der weltlichen Macht auf die höchste
Regierungsgewalt gründeten sich vor allem auf die Vorstellung,
daß das Imperium Romanum nie enden könne, und daß daher
die Kaiser des Mittelalters seine direkten Rechtsnachfolger seien.')
Allerdings hat daraus die Mehrzahl der kaiserlichen Publizisten
doch keine Herrschaft des Kaisers über die Kirche abgeleitet,
sondern die beiden Gewalten als gleichberechtigt nebeneinander
gestellt und die höhere Einheit in Gott gefunden. Nur Marsilius
von Padua macht eine Ausnahme. Ausgehend von der Idee
>) Vgl. vor allem v. Eicken, a. a. O. passim.
«) Oierke, bes. S. 51 4 ff.
s) Oierke, S. 542. Riezler, S. 156.
— 8 —
des Friedens, wie sie Augustin gelehrt und besonders Gr^;or VIL
für die kirchlichen Anspräche verwertet hatte,^) verlangt er
Säkularisation der IQrche eben um der »Pax« willen, die durch
die falsche Auffassung der päpstiichen Gewalt zerstört wird.*)
Dem g^enüber entwickelte sich in folgerichtiger Konsequenz
der Gedanke einer päpstiichen Weltherrschaft Die ursprünglich
auch von den Päpsten anerkannte strenge Scheidung zwischen
Weltiichem und GeisUichem wird mit dem Wachsen der päpst-
lichen Macht auch in der Theorie immer mehr verwischt Für
Gregor VII. ist die päpstiiche Herrschaft ein universale regimen,
alles weltiiche Regiment ist ihr schon wegen ihres höheren
Wertes unterworfen.*) Die berühmte Zweischwerter-Theorie wurde
zu dem Zwecke schon von Bernhard von Clairvaux so gedeutet,
daß beide Schwerter Eigentum der Kirche seien, und das eine
von ihr, das andere für sie geführt werde. Ebenso ist durch
Innocenz III. das alte Bild von den zwei Lichtem, das zuerst
Nikolaus I. allegorisch aufgefaßt hatte,*) durch streng natur-
wissenschaftliche Auslegung — der Mond hat nur von der Sonne
erborgtes Licht — in noch ungünstigerem Sinne gegen die weltiiche
Macht verwertet worden. Und allen Einwendungen von kaiser-
licher Seite, die sich auf die Bedeutung des Imperator Romanüs
beriefen, begegnete Innozenz IV. mit der Behauptung, daß die
heidnische Kaisergewalt nur auf Usurpation gegründet gewesen
sei, Konstantin gar keine Schenkung — deren Zulässigkeit
juristisch angefochten war — , sondern nur einen Verzicht aus-
gesprochen habe, das christiiche Kaisertum somit ausschließlich
auf päpsüicher Übertragung beruhe.
Die ganze Theorie des päpstiichen Universalismus erscheint
in abgeschlossener Form, ohne neue Zutaten, in der Bulle
wUnam sanctam« Bonifaz' VIII.*) Allerdings folgt auf diesen
1) Vgl. Bernheim, .Über einige politische Begriffe des Mittelalters im Lichte der
Anschauungen Augustins"; in »Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft". N. F. I
(1896/97), S. if.
s) Riezler, S. I98ff. ; vgl. auch die Staatsschrift Ludwigs des Bayern gegen
ohann XXII., Riezler, S. 26: Der Papst wird hier als ntyrannus« bekämpft.
«) Hauck, bes. S. 25ff. ; v. Eicken, bes. S. 311 ff., 325 ff., wo der psychologische
und logische Zusammenhang zwischen chrisüicher Askese und kirchlicher Weltherrschaft
eingehend begründet wird.
*) Hauck, S. 22; S. 36 ff.
8) Hauck, S 46.
— 9 —
Höhepunkt alsbald der Niedergang mit dem Exil und der
konziliaren Bewegung. Die große Kirchenspaltung des 16. Jahr-
hunderts hat diese antipäpstliche Strömung zum Durchbruch ge-
bracht und die kirchliche Universalherrschaft endgültig vernichtet
Ebenso wie der Gegensatz gegen die päpstliche Welt-
regierung bereits im Mittelalter beginnt, treten damals auch schon
einige Schriften hervor, die gegen die weltliche Universal-
monarchie gerichtet sind. Namentlich französische Gelehrte haben
die Notwendigkeit der einheitlichen Regierung der Welt be-
stritten;^) aber ihren Ausführungen haftet doch im ganzen noch
so der mittelalterliche Geist an, daß wir sie nicht an die Spitze
der neuen, sondern an den Schluß der alten Zeit setzen müssen.
Ähnlichen Motiven verdankt die Wendung ihren Ursprung, die
bei Baldus und ganz allgemein bei französischen Publizisten be-
gegnet: »Der französische König ist in seinem Lande Kaiser.«
Mit ihr soll nicht gerade die universale Gewalt des römischen
Kaisers bestritten werden, aber die tatsächliche Unabhängigkeit
der französischen Krone ihm gegenüber findet darin einen
charakteristischen Ausdruck.') Auch das vereinzelte Vorkommen
des Kaisertitels bei einigen mittelalterlichen Herrschern, wie den
angelsächsischen Monarchen, bei Knut dem Großen, einigen
spanischen Königen und am Beginn der Neuzeit bei Heinrich Vlll.
von England, dürfte wenigstens zum Teil in denselben Gedanken-
kreis gehören.^ Eine ganz andere Auffassung vom Staat lenkte
die Fürsten, die das moderne europäische Staatensystem ge-
schaffen haben.
J) So zuerst Johann von Paris und andere zur Zeit Philipps IV.; vgl. Riezler
S. 148 ff. und Oierke, S. 544, und auch S. 639 über die seit Bartolus schon ganz modernen
Ansichten der Fach Juristen über die Verbände ohne superior.
Über den allerdings schon ganz schemenhaften Charakter, den auch sonst die
universalistischen Ideen am Ausgang des Mittelalters angenommen hatten, vgl. die Be-
merkungen bei Oierke, »Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staats-
theorien.« 2. A. Breslau 1902. S. 232.
S) Jellinek, »Allgemeine Staatslehre". Beriin 1900. S. 402 f. Die Stelle aus
Baldus S. 402 >)
>) Hardegen, »Imperialpolitik König Heinrichs II. von England," Exkurs. Anderer-
seits schdnt der Kaisertitel die Herrschaft über mehrere, vorher unabhängige Reiche, zu
bezeichnen.
I.
Das europäische Gleichgewicht
im Kampf gegen das Haus Habsburg<
Einleitung.
1. Wenn die politische Literatur des Mittelalters mehr von
einer Idee, nämlich der der Einheit der Welt, ausgegangen war
als von der Betrachtung der Wirklichkeit, so ist Machiavelli, der
große »Restaurator der Staatswissenschaft«,^) gerade ausschließlich
von der Betrachtung der politischen Realitäten aus zum Theoretiker
des Staates geworden.
Daher treten die Unterschiede zwischen dem Mittelalter und
der modernen Zeit, insbesondere die neuen staatlichen Tendenzen,
in seinen Schriften uns zuerst entgegen. Da aus diesen Tendenzen
die Idee des europäischen Gleichgewichts geboren worden ist,
seien Machiavellis Äußerungen über sie kurz angeführt.
Für Machiavelli fallen alle theologischen, juristisch-historischen
oder philosophischen Gründe fort, auf Grund derer noch von
Dante eine weltliche Universal-Monarchie gefordert worden war.')
Im Gegenteil, Machiavelli sieht für seine historischen Beispiele,
aus denen er neben der Beobachtung der politischen Wirklichkeit
seine Lehren gewonnen hat und mit denen er dann wieder diese
Lehren in der Darstellung begründet, von dem Imperium Romanum
des Mittelalters völlig ab. Im «Principe« wird es gar nicht, in
den »Discorsi« wird es nur an einer Stelle erwähnt, und zwar
als eine abgetane Sache.') Wenn Machiavelli sonst von Imperio
1) Fester, «Machiavelli". Stuttgart 1900. S. 139.
^ «De monarchia libri III«, her. von Witte, Wien 1874.
^ Discorsi, 1. II, c. 19. Die Erwähnung von Dantes Monarchia (Disc. 1. 1, c. 53.)
geschieht bezeichnenderweise bei einer psychologischen, nicht einer politischen Frage.
— 11 —
oder Imperatore Romano spricht, denkt er immer an das
antike Reich.
Was stellt Machiavelli nun an die Stelle des Gedankens
von der Einheit der Welt unter einem Monarchen? Eine Herr-
schaft der Kirche gewiß nicht! Die Kirche muß nach seiner
Meinung als weltliche Macht mediatisiert werden; sie nützt nur,
soweit sie dem Staat dienen kann.^) Machiavelli betrachtet den
Staat dafür als das, was er seiner Natur nach ist, als politisch
organisierte Macht Das Vorbild des rechten Staates ist ihm daher
die römische Republik in der Zeit der Dezemvirn und Samniter-
kriege*) Neben dieser Erkenntnis aber, die das Gefühl der
Herrschenden seiner Zeit widerspiegelt, gibt es für Machiavelli
noch eine andere, die allerdings nicht überall offen zutage tritt:
Die Überzeugung davon, daß der beste Staat der Nationalstaat ist.^
Darum haßt er den Kirchenstaat, der die nationale Einheit Italiens
hindert, nach der er mit leidenschaftlichem Patriotismus verlangt.*)
Allerdings fehlt bei Machiavelli noch die Stellung oder gar die
Lösung des Problems der Einordnung des absoluten Fürsten,
dessen Herrschaft ihm neben der republikanischen Verfassung
als die wünschenswerteste Staatsform erscheint, in die Nation;
auch dies ist charakteristisch für seine Zeit, wo die Bestrebungen
nach politischer Macht und nach nationaler Staatenbildung noch
häufig miteinander im Kampfe lagen.
2. Wir sagten oben, daß Machiavelli seine Lehre ebenso
aus dem Studium der Vergangenheit, wie aus der Beobachtung
der Gegenwart gewonnen habe. Bei dieser letzteren Tätigkeit
hat er vor allem die Verhältnisse der italienischen Staaten geprüft.*)
In der Tat boten sie ihm die günstigsten Objekte und lagen ihm
natürlich auch am nächsten. Indessen finden wir bei ihm über
eine merkwürdige Erscheinung des staatlichen Lebens Italiens
keine Auskunft, die zur Zeit der Abfassung des »Principe« und der
»Discorsi« allerdings im realen Leben schon nicht mehr bestand,
») bes. Discorsi 1. I, c. 11-15.
S) Fester: S. 140.
s) Discorsi 1. I, c. 12.
«) Fester: S. 143, 145.
5) Man vgl. die Häufigkeit, mit der Florenz oder Venedig als Beispiele in den
Discorsi" herangezogen werden. Wo außeritalienische Staaten oder Fürsten em^nt werden,
geschieht es doch fast stets im Zusammenhang mit Schicksalen Italiens.
— 12 —
nicht lange vorher aber existiert hatte, zum Bewußtsein mehrerer
Politiker gekommen war, und bei einem von ihnen zuerst liter-
arischen Ausdruck gefunden hat. Es ist die Vorstellung von einem
System und einem Gleichgewicht der italienischen Staaten, die als
Analogie zu dem Qleichgewichtssystem der europäischen Staaten
unser Interesse beansprucht Wir müssen dabei einige Be-
merkungen über die tatsächlichen Zustände vorausschicken, denen
diese Idee ihren Ursprung verdankt.
In der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa hatten sich in Italien
neben kleinen Stadtrepubliken einige größere staatliche Gebilde
konsolidiert, die den einen der charakteristischen Züge des
machiavellischen Staate^ trugen: es waren Staaten, die sich ihres
Charakters als unabhängiger politischer Mächte bewußt waren.
Zugleich fehlte damals jeder fremde Einfluß auf Italien, der
imperiale wie der päpstliche Universalismus hatten keine lebendige
Kraft mehr. So bildete sich in diesem politischen Mikrokosmus, den
man so dem europäischen Makrokosmus gegenüberstellen kann,^) ein
Zustand aus, den der gelehrte Staatsmann Rucellai, der Schwager
Lorenzos von Medici, in seinem Buche über den italienischen Zug
Karls VIII. von Frankreich in der Einleitung geschildert hat*) Es
habe damals, in der zweiten Hälfte des 1 S.Jahrhunderts, vier mächtige
italienische Staaten gegeben. Einer von diesen, Venedig, habe »seit
hundert Jahren« seine Macht ständig erweitert und die übrigen,
Florenz, Mailand und Neapel, dadurch sämtlich bedroht Diese
hätten deshalb mehrere Kriege gegen Venedig »pro communi
übertäte" geführt. Schließlich sei durch das Verdienst zweier
Fürsten, König Ferdinands von Neapel und Lorenzos von Medici ein
endgültiger Friedenszustand erreicht worden. Diese beiden Fürsten,
die klügsten in Italien, haben sich nämlich zum Schutze wiederum
»der gemeinsamen Freiheit" — das heißt also gegen Venedig —
verbündet und »nach ihren eigenen Worten" mit allen Kräften
das Ziel verfolgt, daß die politischen Verhältnisse Italiens in einem
Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts erhalten blieben.') Jede
1) Ähnlich drückt sich Charri^re aus: ■Ndgodations de la France dans le Levant«,
1. I, p. XXXVIIl., zitiert bei Emest Nys: »La theorie de T^quilibre europ4enne« : Revue
de droit international, vol. 25 (1893), S. 37.
S) Bemardus Oricellarius : De hello Italico commentarius.
^ ». . . ea assidue agitare, monere, niti, quibus res Italicae starent, ac (ut illorum
verbis utar) examine aequo penderent Zr« S. 4 der von mir benutzten Ausgabe: London 1733.
— 13 —
Schwächung eines anderen italienischen Staates haben sie auch
als Verringerung ihrer eigenen Macht betrachtet
Ganz ähnlich ist, was Quicciardini einige Jahrzehnte später
über dieselben Dinge ebenfalls in der Einleitung seines großen
Werkes berichtet Er ist dabei zweifellos von seinem älterea
Landsmann abhängig;^) bei der großen literar- historischen Be-
deutung aber, die sein Werk besitzt, möchte ich doch einige Ab-
weichungen seiner Darstellung von der Rucellais erwähnen. Einmal
tritt bei ihm Lorenzo noch mehr in den Mittelpunkt der Gleich-
gewichtspolitik,*) sein und Florenz' Interesse erscheint als deren.
Begründung. Dies Interesse erfordert den Frieden, zu dessea
Bewahrung er im Jahre 1 480 mit König Ferdinand und Lodovico-
Sforza ein Bündnis mit der Spitze gegen Venedig schließt, da
dieses seinen Sonderinteressen statt den allgemeinen Interessen
Italiens folgt und das »Imperio di tutta Italia« gewinnen will.
Bei beiden Schriftstellern begegnet uns also der Gedanke
eines Systems nebeneinander bestehender, unabhängiger Staaten,
deren gemeinsames Interesse eben die Erhaltung dieser Unab-
hängigkeit ist Venedig erscheint als Stärkster und damit als
Feind der Selbständigkeit der übrigen. Aber seine Absichten
auf die Alleinherrschaft in dieser kleinen Staatenwelt gründen sich
auf keine mittelalterlichen universalen Ansprüche, sondern auf das-
natürliche Ausdehnungsbedürfnis des blühenden Staates.*) Gegen
diesen Übermächtigen verbünden sich die Nächstmächtigen und
suchen so einen Zustand des Gleichgewichts, das heißt des^
Friedens herbeizuführen. Die Gruppierung der Mächte ist 1 : 3,.
ohne daß aber nun die 3 an Kräften der 1 gleichgesetzt würden,,
sie sind vielmehr stärker. Rein mechanisch muß der Begriff des.
Gleichgewichts hier also nicht aufgefaßt werden.*)
^) Schon von Ranke gezeigt: »Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber. « 2. Aufl.
S. 15 ff. u. S. 85.
>) Darauf geht es wohl zurück, wenn bei Trajano Boccalini, „Pietra del Paragone
Politico" (zuerst 1616 in Venedig, dann noch öfter gedruckt und fibersetzt), Lorenzo als
der Halter der großen Wage erscheint, auf der alle Fürsten Europas gewogen werden.
>) vgl. o. S. 5.
^ Meinberg, («Das Qleichgewichtssystem Wilhelms III. und die englische Handels-
politik,* Berlin 1869) konstruiert eine Konstellation von je 2 : 2 Staaten, unter denen ein
fünfter (er rechnet den Kirchenstaat zu den vier anderen hinzu) das Oleichgewicht aufrecht,
erhalten soll. Das entspricht weder den Tatsachen noch den Quellen.
— 14 —
Das italienische Staatensystem ist dann bekanntlich bald
durch den Einfall Karls VIII. umgestürzt worden. Es fehlte ihm
das zweite Element der modernen Staaten, das Machiavelli doch
auch schon, wenn auch nicht in seiner ganzen Bedeutung, erkannt
hatte, die nationale Basis seiner einzelnen Glieder. So waren sie
alle zu schwach, den neuen nationalen Qroßstaaten zu wider-
stehen. In seiner politischen Ohnmacht glich Italien einem leeren
Raum, in den sich die angrenzenden Mächte begierig stürzten,
um dort ihre Machtkämpfe auszufechten. Aus diesen aber ging
ein System von Staaten hervor, das sich nach mancherlei Wand-
lungen zu einem allgemein europäischen entwickeln sollte. Diese
Wandlungen fanden ihren Ausdruck in der Idee des europäischen
Gleichgewichts und seinen verschiedenen Formen.
1. Kapitel.
Als Machiavelli das Bild des modernen Staates zeichnete,
gab es drei große europäische Staaten, die sich seit kurzem diesem
Bilde überraschend genähert hatten, Spanien, Frankreich und
England, die Schöpfungen der drei großen »Magier«, wie Bacon
Ferdinand den Katholischen, Ludwig XI. und Heinrich VII. ge-
nannt hat^) Zwei dieser Nationen aber, Frankreich und Spanien,
waren zu einem Jahrhunderte währenden Kampf um die Vor-
herrschaft in Europa bestimmt, während England fürs erste nur
zeitweilig eine ähnlich bedeutende Stellung einnehmen sollte. In
diesem Kampf, der sich durch die Friedensschlüsse von 1648
und 1659 in zwei große Perioden scheiden läßt, taucht zuerst das
Schlagwort vom europäischen Gleichgewicht in der politischen
Literatur auf. Es soll hier nur in größter Kürze auf die historischen
Tatsachen hingewiesen werden, die dazu geführt haben.
1 . Es ist bekannt, daß durch den Gegensatz der spanischen
und französischen Macht der Gedanke der Weltherrschaft neues
Leben gewonnen hat, ja daß in seltsamer Fügung gerade der
französische und dann in noch ganz anderem Maße der spanische
Nationalstaat in den Dienst einer Idee gestellt worden sind, die
1) Franc. Baconis de Verulamio »Historia regni Henrid VII, Angliae Regis." Aus-
gabe Lug. Batavorum 1642, S. 402.
— 15 —
sie schon durch ihre Existenz zu negieren schienen.^) Franz I.
hat lange Zeit, etwa bis zum Jahre 1536, eine offensive Politik
verfolgt, mit sehr weitausgreifenden Plänen.*) Für Karl V. be-
darf es keines näheren Hinweises auf den Umfang seiner Ab-
sichten. Es kamen damals besonders zwei Ereignisse solchen
Tendenzen entgegen, die Türkengefahr und die Reformation.
Gegen beide schien eine Erneuerung der weltlichen Universal-
monarchie im christlichen Abendlande die sicherste Rettung zu
gewähren. Aber darin ist vielleicht ein bedeutsames Moment zu
sehen, daß der Ausgangspunkt des Streites zwischen Franz I. und
Karl V. ein rein politischer Interessengegensatz in Italien und
Burgund gewesen war, und daß die großen allgemeinen Gesichts-
punkte erst während des Kampfes recht lebendig wurden und
nun selbst ins Zentrum der Politik traten.
2. Hat man nun schon zu Karls V. Zeit selbst seine letzten
Ziele deutlich gesehen, hat man schon den Gegensatz zwischen
der Habsburgischen und der französischen Monarchie in seiner
ganzen Bedeutung erkannt? Politische Streitschriften liegen mir
nicht früher als aus den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts
vor, vom politischen Gleichgewicht vollends spricht die Publizistik
erst zur Zeit der Kämpfe der Liga. Die Entwicklung der in ihr
damals auftauchenden Ideen über den großen europäischen Gegen-
satz können wir indessen an der Hand einer anderen Quelle ver-
folgen, an den Finalrelationen der venetianischen Gesandten, die
wir ergänzend neben der Publizistik für das 16. Jahrhundert
heranziehen.
Zum ersten Male spricht der Gesandte Contarini in seinem
Bericht aus dem Jahre 1525 von dem Wiederaufleben des Ge-
dankens einer christlichen Universalmonarchie mit dem Kaiser
als Haupt, eines Gedankens, der lebhaft von der Partei des
kaiserlichen Kanzlers Gattinara vertreten würde, und dem der
Kaiser selbst sich zuzuwenden scheine.*) Aber der Venetianer
1) Vgl. über Karl VIII. Ranke, »Geschichten germanischer und romanischer Völker.*
2. A. 1874, S. 9, 63. - Ober die Macht der mittelalterlichen Universalidee überhaupt vgl.
Baumgarten, »Geschichte Karls V.« Stuttgart 1885, I, 108 f.
«) Vgl. für diese Zeitgrenze Moritz Ritter, »Deutsche Geschichte im Zeitalter der
Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges.« I. Stuttgart 1889, S. 21. Dazu Ranke,
.Französische Geschichte«, 3. A. 1877, I, 98 ff.
») Gedruckt in der Sammlung von Alb^, 1. Ser., IV, 58.
— 16 —
sieht darin keine Gefahr für sein Vaterland, sondern meint, da&
innerhalb eines solchen Weltreiches kleinere Einzelstaaten friedlich
weiterbestehen könnten, ähnlich wie einst in dem Reich des
großen Cyrus. Nicht minder kaiserfreundlich äußert sich Niccolö-
Tiepolo 1532. Trotz der Besorgnisse, die andere Fürsten vor
Karls V. Macht hegen, sieht er in diesem den wahren Schirmer
von Ruhe und Frieden, in Franz I. dagegen einen ehrgeizigen
Friedensstörer.^) Mit diesen Ansichten stimmt im allgemeinen
Marino Qiustiniano überein, der 1535 aus Frankreich zurück-
kehrte und viel von Franz' I. nie ruhenden Plänen gegen Mailand
mitzuteilen wußte. Immerhin spricht er auch häufig von der
großen Macht des Kaisers und dem natürlichen Interesse, das
der französische König an deren Verringerung haben müsse.*)
Auch der Krieg von 1536 — 38 führt keinen anderen Ton
in den Berichten herbei — im Gegenteil: Francesco Giustiniano-
urteilt, daß der französische König eher von jedem anderen
Herrscher zu fürchten sei, als daß er selbst eines anderen Macht
zu befürchten habe. Allerdings sei er sorgfältig darauf bedacht,
daß sein Gegner nicht zu mächtig werde, und strebe danach,^
»sich an Kräften dem Kaiser gleich zu machen:«') ein inter-
essantes Wort, das den Kern der Gedanken der späteren Flug-
schriftenliteratur enthält. Es muß aber betont werden, daß nach
Giustinianos Ansicht Franz I. allein imstande ist, sein Ziel zu
erreichen, und daß von einem Interesse anderer Mächte an seinem
Kampfe gegen den Kaiser keine Rede ist. Doch darf in
diesem Zusammenhang eine Äußerung Franz' I. selbst erwähnt
werden, die allerdings den zuletzt berührten Gedanken enthält.
Sie findet sich in einem Briefe von ihm an die Fürsten des
Schmalkaldener Bundes vom 23. Mai 1537 und lautet: kluge
Männer hätten schon längst erkannt, »nullum aliud propugnaculum
adversus immodestum illud immodicumque totius orbis imperium
quam mutua nostra amicitia opponi posse".*)
Ob dieser Gedanke des königlichen Schreibers schon da-
mals in der politischen Literatur verwertet worden ist, kann ich
1) Alberi I, I, bes. S. 69, 77, 82, 85 f., 88.
«) Alberi I, I, 166 ff, passim.
«) »farsi per forze eguale a esso imperatore«, Albiri I, I, 207.
*) Zitiert bei Baumgarten, a. a. O. IIl, 321 ».)
— 17 —
leider bei dem Mangel an Material nicht sagen. Ob gar schon
die Balanceidee irgendwo zu Lebzeiten Franz' I. aufgetaucht ist,
ist mir. ebenso wenig möglich zu entscheiden; ich bin geneigt,
die Frage zu verneinen, ehe nicht ein positiver Beweis sich er-
bringen läßt^)
Die Stimmung der venetianischen Gesandten gegenüber
dem Kaiser und seinen Anhängern ändert sich seit dem Beginn
des Schmalkaldischen Krieges. Wenn noch 1541 einer von ihnen
die Herrschaft König Ferdinands über Böhmen und Ungarn für
ein Glück auch für Venedig erklärt hatte, da sie allein imstande
sei, der Türkengefahr einen Damm entgegenzusetzen, so legt
gerade der ebenfalls von Ferdinands Hof zurückkehrende Lorenzo
Contarini im Jahre 1547 in vorsichtiger Weise der Signorie die
Vorteile eines Anschlusses an Frankreich dar. Er sieht Karls V.
Ziel darin, in Deutschland ein ihm ergebenes starkes Fürstenbündnis
zu bilden und sich nach Unterwerfung von Frankreich, Venedig,
der Schweiz und des Papstes zum Alleinherrscher (monarca) zu
machen. Sein Bericht ist entschieden antikäiserlich gefärbt und
verrät ein starkes italienisches Nationalgefühl.^)
Derselbe Lorenzo Contarini ist dann 1551 von einer Ge-
sandtschaft aus Frankreich zurückgekommen, ganz erfüllt von
dem französisch-kaiserlichen Gegensatz und der Voraussicht des
kommenden Krieges. Wieder wägt er die Interessen seiner
Vaterstadt bei dem bevorstehenden Kampfe ab, ohne sich recht
selbst zu entscheiden. Unter der Bedingung, daß Venedig durch
eine eigene starke Rüstung sich fähig mache, eine kräftige selb-
ständige Politik zu verfolgen, scheint er ein Bündnis mit Frank-
reich zu billigen.*)
Damit sind -wir bis zu dem Augenblick gelangt, wo auch
in der Literatur, soweit sie uns zur Verfügung stand, der Kampf
gegen die habsburgischen Weltmachtspläne erwacht, um dann mit
>) V. Heyking, »Zur Geschichte dei^Handelsbilanztheorie", Berliner Diss. 1880, be-
hauptet zwar auf S. 31 bestimmt, die Idee des europäischen Oleichgewichts erscheine zuerst
zur Zeit Karls V. und Franz' I. Seine Quellen aber (Kahle, Justi, Hertzberg) beweisen
nichts. Auch Zeller: »La diplomatie fran^aise vers le milieu du XVI. sitele«, Paris 1881,
spricht viel von Franz' I. Verdiensten um das Oleichgewicht, in den Berichten seines Helden
Pellissier aber findet sich weder das Wort balance noch der Gedanke.
«) Albtri, I, I, 371 ff., bes. 438—47.
») Alb^ri, I, IV, bes. S. 100 ff.
Kaeber, Das europäische Gleichgewicht. 2
— 18 —
dem jähen Sturz des kaiserlichen Glückes wieder für längere
Zeit zu verstummen. Mir liegen drei im Jahre 1552 gedruckie
Broschüren vor, von denen zwei schon im Jahre vorher ge-
schrieben sind.
Die erste ist das Manifest Moritz' von Sachsen und seiner
Verbündeten.^) Sein Ton ist scharf und energisch, und schon
der Titel deutet an, daß es im Einverständnis mit dem französischen
Hofe verfaßt worden ist Es ist wohl anzunehmen, daß man
sich bei den Verhandlungen zwischen Sachsen und Frankreich
über das zu erlassende Manifest verständigt hat. Zwei Gedanken
beherrschen es, deren erster in der späteren französischen
Publizistik mit Vorliebe wieder aufgenommen wird, ja der auch bei
einem Venetianer 1546 ausgesprochen wird:*) dem Kaiser wird
der Vorwurf gemacht, daß ihn nicht religiöse Gründe in den
Krieg gegen die Lutheraner getrieben haben, sondern daß es
ihm darum zu tun sei, »daß er under dem schein der ge-
spaltenen Religion seyn eigene Domination, nutz und Gewalt^
durchdringen und erlangen möchte.«') Es ist ganz deutlich, daß
dieser Vorwurf gegen den Kaiser besonders im französischen
Interesse erhoben wird. Denn wenn Karls Kampf wirklich ein
Religionskrieg war, wie hätte da der allerchristlichste König
Heinrich IL, der in seinem eigenen Lande die Ketzer auszurotten
gedachte, den Kaiser bei der gleichen löblichen Betätigung seiner
religiösen Pflichten hindern dürfen! Vor den Augen der Welt
mußte also der Schein gewahrt werden; die Verbündeten mußten
ihre Oberzeugung von dem rein politischen Charakter des kaiser-
lichen Vorgehens gegen die Schmalkaldener beteuern. — In der
Tat zieht sich ja dieser innere Widerspruch durch die französische
Politik von Franz I. bis zu Richelieu: mehr oder minder
energische Bekämpfung der Ketzer im Innern, Unterstützung der
Glaubensverwandten derselben Ketzer im Ausland. Er spielt auch
in der politischen Literatur noch lange eine bedeutsame Rolle,
1) »Sendschrdben etlicher Churffirsten, Farsten und Stend, des Heiligen Römischen
Reichs, darinn angezeygt sein, die Ursachen, derwegen sie, und andere Christliche Könige»
Potentaten, Fürsten, Stett und Stende zu gegenwärtigem Feldzug und Kriegsrfistung ge-
drungen worden.« s. I. 1552.
s) Relation Bemardo Navageros 1546. Alb^ri I, I, S. 363.
«) a. a. O. S. 2.
— 19 —
Der zweite Hauptgedanke des Manifestes ist die patriotische
Verteidigung »der alten löblichen Libertät und Freyheit unsers
geliebten Vatterlands der Teutschen Nation« gegen »das be-
schwerlich Joch des vorgestellten viehischen Servituts und
Dienstbarkeit«.^)
Beide Gedanken werden verbunden in der Abwehr der »so
lange gepracticierten Monarchie" Karls, »die dann nichts an-
sehnlichs neben sich leiden kann«; unter »Monarchie« ist hier
und ebenso in einer großen Zahl französischer und deutscher
Schriften der nächsten Jahrzehnte offenbar wie bei Dante
»Universalmonarchie« zu verstehen. Gegen diese richtet sich also
der Kampf. Sie wird dem Publikum, vor allem also den deutschen
Fürsten, als Schreckbild vorgeführt, im schärfsten Gegensatz zum
Mittelalter, wo der universalistische Gedanke gerade in Deutschland
noch im 14. Jahrhundert überall lebendig war.*) Jetzt wird die
deutsche Freiheit der gleichmachenden Weltmonarchie gegenüber
gestellt, während im späteren Mittelalter in Deutschland gerade
die nationale Gesinnung mit dem Anspruch zusammenfällt, das
herrschende Volk im Weltreich zu sein.
Ein neues positives System des staatlichen Zusammenlebens
an Stelle der bekämpften universalen Idee fehlt allerdings noch.
Ein Ansatz dazu findet sich auch in den beiden anderen aus
derselben Zeit stammenden Schriften nicht. Diese sind aus dem
Französischen übersetzt, wie sich denn eine beträchtliche Zahl
von Flugschriften aus der zweiten Hälfte d#s 16. Jahrhunderts
finden, die aus dem Französischen ins Deutsche übertragen
worden sind. Die beiden Schriften*) polemisieren wieder gegen
die gefährlichen Pläne Karls V., betonen die Uneigennützigkeit
des französischen Königs und die Bedeutung der deutschen
Freiheit, dieser »festen Vorburg, nicht allein der Krone Franckreich,
sondern der gantzen Christenheit«*) Heinrich II. ist der Retter
1) a. a. O. S. 6.
s) Vgl. Ficker, .Deutsches Königtum und Kaisertum," S. 121 f.
>) Ihre Titel sind »LibertasScndschrifften der Königlichen Majestit zu Franckreich etc.
an die Chur und Fürsten, Stende und Stet des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation,
darin sie sich ihrer itzigen Kriegsrfistung halben aufs kürzest erkleret.« s. I. 1552.
„Rechtschaffene Verantwortung, wider diegantz unverschampten Lügen der Kayser-
liehen, für den aller Christlichsten König, Herr Heinrich den Andern, König zu Frankreich.**
s. 1. 1552. (Im Dez. 1551 geschrieben.)
^ In der »Libertas* etc., s. Anm. 2.
2*
— 20 —
dieser Freiheit, die durch eine kaiserliche Monarchie vernichtet
worden wäre.*) — Es braucht wohl nicht darauf hingewiesen
zu werden, daß der Ausdruck „ganze Christenheit" hier allein
religiöse, nicht politische Bedeutung hat. Der Gedanke des ein-
heitlich regierten christlichen Abendlandes wird ja eben abgewiesen.
Noch in demselben 1551 ausgebrochenen spanisch-
französischen Kriege, der, wie wir sahen, von französischer Seite
mit der laut verkündeten Absicht begonnen worden war, keine
neue Weltmonarchie zu dulden, haben venetianische Staatsmänner
den Gedanken gefaßt, daß eine gute Staatskunst dritten Mächten
die Aufgabe zuweise, zwischen den beiden größten Mächten
Europas eine Art Gleichgewicht zu erhalten.
Zum ersten Male finde ich ihn allerdings nicht von einem
Venetianer selbst, sondern von der verwitweten Königin Maria
von Ungarn, damals Statthalterin der Niederlande, ausgesprochen.
Aus der Stelle selbst aber geht hervor, daß die Idee aus Venedig
stammt. Die Königin schreibt nämlich an den kaiserlichen Ge-
sandten in England, Renard, im Oktober 1553 über die Ziele
der Politik der italienischen Staaten und besonders Venedigs, um
ihm Direktiven für seine schon begonnenen Unterhandlungen
mit dem venetianischen Gesandten in London, Giovanni Michele,
zu geben.®) Sie ist der Ansicht, daß die Italiener begründete
Ursache hätten, sich gegen Frankreich zu erklären, aber, so fährt
sie fort, „Ihr kennt die Befürchtungen, die sie vor der Größe des
einen wie des andern dieser zwei Fürsten (Karls V. und Franz' I.)
hegen, und ihre Sorge, deren Macht zu balancieren."^) Trotzdem
rät die Königin dem Gesandten, seine Bemühungen bei dem
persönlich kaiserlich gesinnten Michele fortzusetzen, da eine ge-
. wisse Wirkung auf Venedig ja immerhin dadurch möglich sei.
1) In einer Flugschrift des 17. Jahrhunderts, »Le catholique d'estat" von du Ferrier
(gedruckt bei Hay du Chastelet, «Recueil de diverses pi^ces pour servir k Thistoire« s. 1. 1635)
wird eine stelle aus einer mir sonst nicht bekannten Broschüre von 1552 mitgeteilt, die den
Titel führt: T Apologie de la France contre Charles le Quint.« Karl V. wird redend ein-
geführt und sagt: mit Hilfe der Kirche will ich den König von Frankreich niederwerfen,
»lequel seul me peut faire teste, et obvier k la fin de mes entreprises, qui sont de devenir
Monarque, et finalement establir la grandeur de ma Maison, et perpetuer ainsi ce grand
Empire, que j'auray curieusement gagn6, et le laisser herdditaire ä ma postdrit^." Nach Er-
reichung dieses Ziels will Karl V. sogar den Kirchenstaat vernichten, a. a. O. S. 108. Der
rein politische Charakter von Karls Weltpolitik, den bie Franzosen behaupteten, wird hier
mit besonderer Schärfe betont.
«) Gedruckt bei Weiß, «Papiers d'^tat du cardinal de Oranvelle.- t. IV. Paris 1843.
S. 120 ff. Der Brief ist datiert von Brüssel, d. 8. 10. 1553.
8) a. a. O. S. 121.
— 21 —
Im Jahre 15S4 spricht dann ein Venetianer selbst, der Ge-
sandte Giovanni Cappello, über die Bündnisanträge, die Heinrich 11.
Venedig mehrfach gemacht hat, ohne daß die Republik auf sie
hätte eingehen wollen. Der König sei überzeugt, dieser Entschluß
beruhe auf der Furcht Venedigs, Spanien möchte bei dem
etwaigen Tode Karls V. Frankreich unterlegen sein; Venedig aber
strebe dahin, die Dinge im Gleichgewicht zu erhalten.^)
Ausführlicher entwickelt Giovanni Soranzo 1558 diese
Politik bei derselben Gelegenheit der Zurückweisung eines
französischen Bündnisses: man meine, daß die zu große Macht
Spaniens wie Frankreichs Venedig argwöhnisch mache, und
danach beurteile man das Verhalten der Republik während der
letzten Kämpfe in Italien. Und der Herzog von Guise habe das
auch ihm, Soranzo, gegenüber ausgesprochen. Er habe nämlich
auf die Versicherungen von Venedigs tiefer Betrübnis über die
französischen Verluste geantwortet, er sei immer von Venedigs
Neigung für Frankreich überzeugt gewesen, aber er habe auch
bemerkt, daß Venedig danach strebe, »daß die Wage sich nicht
auf die eine Seite neige." ^) Soranzo fügt hinzu, daß diese Politik
von klugen Männern gelobt, ja bewundert werde. Denn bei den
schweren Erschütterungen der Christenheit fänden die Bedrängten
jeglicher Nation nirgends Schutz, als bei der Republik Venedig:
daher wünschten besonders alle Italiener deren Unabhängigkeit
und freuten sich über ihre Rüstungen.
Darin, daß Venedig während des Krieges von 1551— -59
zwischen Frankreich und Spanien eine regulierende Stellung ein-
genommen hat, und daß augenscheinlich über diese prinzipielle
Stellungnahme mehrfach debattiert worden ist, darf man wohl
den Ursprung der bewußten Bestrebungen für ein Gleichgewicht
der Mächte sehen. Zwar steht das Interesse Italiens bei dieser
Politik noch im Vordergrunde, aber das Interesse auch der
>) AlbM, I, II, S. 287: Heinrich II. »ha opinione che questa repubblica non ha
voluto entrare in lega con lui, affinch^, se morisse rimperatore, restando 11 re di Spagna
inferiore di forze, la serenitä vostra si voglia accostare ad esso per tener le cose in
eguale stato.«
S) Alb^ I, II, bes. S. 462 ff. die zitierte Stelle S. 464 »sua eccellenza mi rispose
che lo credeva di certo, avendo sempre conosduto l'affezione che porteva la serenitä vostra
a quella Corona, ma che conosceva anco, che lei faceva che la bilanda non pendesse da
alcuna parte."
— 22 —
anderen Staaten wird doch wenigstens von Soranzo schon her-
vorgehoben. Die Idee ist da; bei dem nächsten großen Vorstoß
der spanischen Weltmacht wird sie zum ersten Male nicht nur
in der praktischen Politik, sondern auch als Kampfmittel in der
Literatur erscheinen.
2. Kapitel.
1. Der Ursprung des Gedankens des politischen Gleich-
gewichts beruhte auf dem Gegensatz der zwei mächtigsten Staaten
Europas; er hatte Gestalt genommen erst nach langem Kampfe
der beiden Gegner. Nach dem Frieden von Chateau Cambr&is
begegnet er fürs erste auch in den venetianischen Relationen
nicht mehr. Das Hauptinteresse nehmen die religiösen Gegen-
sätze in Anspruch, wenn auch eine latente politische Feindschaft
zwischen Frankreich und Spanien von den Venetianem mehrfach
betont wird.^) Erst mit der wachsenden Gefahr einer Einmischung
Philipps II. in die französischen Unruhen, die Frankreich politisch
von Spanien abhängig machen und das Fundament für die von
Philipp in den letzten Jahren seiner Regierung geplante katho-
lische Universalmonarchie abgeben sollte,*) erscheinen die ersten
bedeutenden Flugschriften, die energisch die modernen politischen
Ideen den mittelalterlichen gegenüberstellen.
In einer sechsbändigen Sammlung von allerlei interessanten
Schriften aus der Zeit der Liga findet sich auch ein #/ Discours au
Roy Henry III., sur les moyens de diminuer TEspagnol, du
24 Avril 1S84".') Gleich im Beginn verkündet der Verfasser,
ein lebhaft national denkender Franzose, seine Ansichten über
auswärtige Politik. Sie sind erfüllt von staatsmännischem Realis-
mus und zeigen doch zugleich Sinn für eine allgemeine Be-
trachtung der politischen Verhältnisse: »Alle Staaten werden für
stark oder schwach gehalten im Vergleich zu der Stärke oder
Schwäche ihrer Nachbarn; deshalb suchen weise Fürsten gegen
ihre Nachbarstaaten ein Gegengewicht zu bilden, soweit sie dazu
1) Vgl. Michele Soriano 1562, Alb. I, IV, S. 147. Aloise Contarini 1572, Alb. I, IV,
S. 260, 262, 266. Sigismondo Cavalli 1574, Alb. I, IV, S. 337; ders. 1584, Alb. I, IV, S. 442.
«) Vgl. Ranke, W. W. 24, S. 236.
s) »M^moires de la Ligne,* Nenausgabe, Amsterdam 1758, I, 598 ff.
— 23 —
imstande sind; solange es ihnen gelingt, können sie in Frieden
leben; gerät das Verhältnis der Gegengewichte ins Wanken, so
haben Friede und Freundschaft ein Ende, denn diese beruhen
zwischen Fürsten nur auf gegenseitiger Furcht und Achtung.«
Nur mit anderen Worten wird hier also inhaltlich ziemlich
dasselbe gesagt, was oben in der Einleitung im Anschlüsse an
Ratzel ausgeführt worden ist. Es ist die Grundlage, auf der sich
eine den jeweiligen staatlichen Verhältnissen angepaßte Gleich-
gewichtspolitik entwickeln kann. In der Tat wendet der Verfasser
des »Discours" seine allgemeinen Prinzipien sofort auf die Gegen-
wart an: »Die Häuser Frankreich und Österreich sind heute
wegen ihrer Größe die, von deren Friedens- oder Kriegszustand
Frieden oder Krieg in der ganzen Christenheit abhängen: für
ihre — der Christenheit — Ruhe liegt also viel daran, sie so-
weit möglich zwischen zwei Eisen zu halten. Besonders aber
muß Frankreich, das zuerst Gefahr und Schaden fühlen würde,
an seine Angelegenheiten denken, zumal es in der letzten Zeit
sehr geschwächt worden ist, Österreich aber seine Macht sehr
verstärkt hat: so daß die Wage zweifellos auf der einen Seite zu
schwer belastet ist, und es für den, der Frankreich nicht schließ-
lich ganz überboten sehen will, Zeit wird, ein wenig auf die
andere Seite zu drücken.«*) Dieser Einsicht muß die Politik
entsprechen, die Forderung der Idee muß in praktische Wirklich-
keit umgesetzt werden. So traurig dem Schreiber auch die Lage
seines Vaterlands erscheint, so sehr das bis zum Frieden von
Chateau Cambr&is bewahrte Gleichgewicht zwischen Frankreich
und Habsburg gestört, so tief Frankreich von Bürgerkriegen zer-
rüttet ist, der Kampf muß aufgenommen werden. Und der
Kampf ist auch nicht hoffnungslos. Gerade das Wachsen der
spanischen Macht hat alle Fürsten mit Furcht erfüllt; sobald das
Lilienbanner sich entfaltet, werden alle bereit sein, unter ihm zu
kämpfen gegen »die unverhältnismäßige Größe und den zügel-
losen Ehrgeiz des Hauses Österreich«.
Für den Kampf werden mehrere Maßregeln empfohlen, be-
vor es Frankreich zu einem offenen Kriege kommen lassen darf.
1) »tdlement que la balance est sans doute trop chargfe d'un cöt6, et s'en va temps
de peser nn peu sur Tautre qui ne veut que notre Franoe en soit enfin empörte. *
— 24 —
In erster Linie soll es eine mächtige antispanische Liga um sich
scharen. Mehr wie ein Staat kommt dafür in Betracht. Vor
allen anderen erwartet Königin Elisabeth von England nur die
Aufforderung zu einer Allianz, die natürlich nur von Frankreich, dem
mächtigeren Staate, dem die Initiative gebührt, ausgehen kann. Die
ewigen Attentate gegen ihre Person und ihren Staat, die jüngste
scharfe Spannung, die durch die Ausweisung des Gesandten Mendoza
in ihre Beziehungen zur spanischen Krone gekommen ist, lassen
der Königin gar keine andere Wahl. In Deutschland kann man
an die Partei des Erzbischofs Gebhard Truchseß von Köln an-
knüpfen. Dänemark muß zum Anschluß gebracht werden. Und
zu diesen Mächten kommen dann die alten Freunde.*) Neben
den Allianzbestrebungen muß man alle die Elemente unterstützen,
die sich im Herrschaftsbereich der habsburgischen Macht selbst
gegen diese erhoben haben. Die Kölner Frage wird dabei wieder
herangezogen und der Gedanke ausgesprochen, daß nach der
Restitution des vertriebenen Erzbischofs vielleicht später einmal
die deutsche Kaiserkrone an Frankreich kommen könnte! Natür-
lich werden auch die Niederländer nicht vergessen, eine kräftigere
Unterstützung für sie wird angeraten, aber zugleich die nicht
sehr uneigennützige Aussicht daran geknüpft, durch solche Hilfe
die reichen Länder dermaleinst für Frankreich zu erwerben.
Schließlich könne man Spanien noch auf eine dritte Weise
Abbruch tun, wenn man mit Hilfe der guten Beziehungen zu
den Türken den Versuch machen wolle, den ostindischen Handel
wieder durch das Mittelmeer zu lenken und in Marseille zu
konzentrieren. Dadurch würde der Nutzen der Erwerbung
Portugals für Spanien illusorisch gemacht werden.
Fassen wir Inhalt und Bedeutung des » Discours« zu-
sammen, so werden wir umgekehrt wie sein Verfasser von den
praktischen Zielen ausgehen. Diese bestehen charakteristischer-
weise nicht allein in der Zurückdrängung der habsburgischen
Übergriffe, sondern sie gehen weiter und zielen auf eine Ver-
größerung der französischen Macht Ein französischer König,
gestützt auf ein im Innern geeintes Reich, im Besitz der Nieder-
1) Die Schweiz und Venedig sind vermutlich gemeint.
— 25 —
lande und womöglich der deutschen Kaiserkrone, an der Spitze
eines fast ganz West- und Mitteleuropa umfassenden antihabs-
burgischen Bundes ist das Ideal der Zukunft — mit anderen Worten,
Frankreich soll selbst die erste Stelle in Europa einnehmen! Das
ist die glänzende Aussicht, mit der die französischen Katholiken
von ihren spanischen Sympathien abgezogen werden sollen.
Denn um das hohe Ziel der französischen Politik zu er-
reichen, ist auf Grund der vorangeschickten allgemeinen Aus-
einandersetzungen ein Bündnis auch mit den protestantischen Staaten
unvermeidlich. Allerdings zieht der Verfasser diese Schlüsse nicht
selbst, er vermeidet es, auf die religiösen Fragen einzugehen,
aber sicherlich hat ihm bei der Widmung an den gut katholischen
König die Absicht im Sinn gelegen, diesen aus den Prämissen
die notwendigen Folgerungen selbst ziehen zu lassen. Durch
das Eingehen auf die religiöse Frage mit eigenen Worten hat
der Verfasser offenbar die Geschlossenheit der politischen Beweis-
führung nicht stören wollen.
Erscheint so die Forderung eines politischen Gleichgewichts
der beiden führenden europäischen Staaten als eine literarische
Streitwaffe im Kampfe der feindlichen Parteien im Innern Frank-
reichs, so ist doch auch deutlich die Anwendung auf die aus-
wärtigen Mächte gegeben. Für ihre eigene Sicherheit müssen diese
Frankreich unterstützen und das Gleichgewicht bewahren. Die
Notwendigkeit, die Balance aufrecht zu erhalten, erscheint fortan
als Werbemittel der französischen Politik bei den fremden Höfen.
Nicht viel später als der » Discours au Roy Henry III" ist
in Deutschland eine kleine Schrift erschienen, die großes Auf-
sehen gemacht haben muß. Nach dem Vorwort wäre das mir
nicht bekannte Original von einem vornehmen Adligen in latei-
nischer Sprache abgefaßt worden. Deutsch ist die Flugschrift
zuerst im Jahre 1585 erschienen,^) dann 1587 etwas umgearbeitet
mit besonderer Rücksicht auf die Verhältnisse der Schweiz, 1599
1) »Ein sehr Notwendige, Trewhcrzige und wolgemdnte Warnung und Vcrmah-
nungsschrift ahn alle Chur und Fürsten, Stcnde und Stette des Heiligen Reichs Teutscher
Nation : auch alle anderen Christlichen Potentaten : Umb den gemeinen Nutz, Freyheit und
Wolfahrt der gantzen Christenheit zu erhalten« s. 1. 1585. - Ich zitiere nach der pagi-
nierten Ausgabe von 1619.
— 26 —
unverändert, 1619 nur mit neuem Titel. Andere Ausgaben
mögen sich wohl in manchen Bibliotheken noch nachweisen
lassen.
Auch dieser deutsche Edelmann geht nicht vom Besonderen,
sondern vom Allgemeinen aus. Er weist darauf hin, daß das
ehrgeizige Umsichgreifen einer Macht alle anderen in Mitleiden-
schaft ziehe, daß sich daher alle gegen sie vereinen und ihr einen
festen Damm entgegensetzen müßten, wie man es sonst gegen
die zerstörende Gewalt der Meeresfluten tut. Zur näheren Be-
gründung folgen einige historische Beispiele aus der alten und
neuen Geschichte; dabei wird mit charakteristischen Worten
Venedigs Politik in der jüngsten Vergangenheit besprochen: »Die
Venediger haben bey unserm gedenken und zuvor von viel Jahren
hero ... ihr bedenken dermaße gehabt, . .. Wo etwan Fürsten
oder Herren ihre Benachbarte mit gewalt angriffen, und aus trieb
ihres unzimlichen, gewaltgierigen gemüths undertrucken wollen,
daß sie allwegen dem schwächern theil, ihr hülff und rettung
geschickt haben, damit also der Italiänischen Fürsten macht und
Sterke im zäum gehalten und in der Wag entschieden werde,
niemand understehen, noch verhoffen könnte, der Venediger
Herrschaft mit gewalt zu undertrucken.« Dadurch hat sich
Venedig »über tausend und viel Jahr« erhalten. Dieselbe kluge
Politik hat Lorenzo von Medici «nach allen Historikern« inne
gehalten — wobei dann freilich dem Verfasser einige historische
Versehen unterlaufen,^) die aber für uns irrelevant sind.
Den angeführten Beispielen müssen alle Völker folgen;
lassen sie aber die Macht irgend eines Staates zu sehr an-
wachsen, so sind sie »als Verrähter des gemeinen Vatterlands
schwerlich anzuklagen.« Auf die augenblickliche politische Lage
angewendet, folgt aus den allgemeinen Grundsätzen, daß die
Fortschritte der Spanier eine »gemeine Gefahr für die gantze
Christenheit« sind. Die Untätigkeit so vieler Völker gegenüber
dem Heldenkampf der Niederländer ist daher zu tadeln, denn der
Krieg Spaniens gegen die Aufständischen ist nur die Einleitung für
die Unterwerfung auch Frankreichs, Englands und Deutschlands.
1) So wird Lorenzo als Schüler der Venetianer hingestellt (S. 10), Venedigs Be-
deutung als selbständiger Staat viel zu hoch zurückdatiert
— 27 —
Das letzte Ziel Spaniens ist ja »ein newe Monarchiam äuff und
anzurichten«, während der Eifer für die katholische Religion nur
ein Vorwand ist Besonders groß ist die Gefahr einer habs-
burgischen Weltherrschaft für Deutschland. Mit der deutschen
Freiheit und Wohlfahrt wird es dann vorbei sein, ja auch der
deutsche Handel wird vernichtet sein, wenn Habsburg nach Be-
zwingung der Niederlande und der Besetzung eines Emshafens
die wichtigsten deutschen Ströme, Rhein, Ems und Donau, beherrscht.
Wir haben diese »Sehr notwendige Warnung" des deutschen
Edelmanns eingehender besprochen, weil in ihr die Idee der
politischen Wage in einem Sinne gebraucht wird, wie er sonst
in dieser Zeit und im ganzen 17. Jahrhundert selten begegnet.
In der deutschen Flugschrift fehlt die Gegenüberstellung von zwei
großen Staaten, denen sich alle übrigen politisch angliedern.
An ihre Stelle tritt die Vorstellung, daß unter einer Zahl mit-
einander in näherer Berührung stehender Staaten nie einer so
mächtig werden darf, daß er allen anderen zusammengenommen
überlegen ist. Die Forderung des Gleichgewichts erscheint
bildlich etwa so dargestellt, daß in der einen Schale der Wage
die nach Universalherrschaft strebende Macht, in der andern die
übrigen Mächte gewogen werden, und die Politiker dafür zu
sorgen haben, daß die erste Schale nicht zu schwer wird. Darin
beruht das gemeinsame Interesse aller Schwächeren, dadurch be-
wahren sie sich das kostbare Gut der politischen Freiheit, das
zu erhalten geradezu Pflicht ist, auch wenn die Gefahr zunächst
einen andern bedroht. Dies Band des gemeinsamen Interesses
aller an der Freiheit aller ist es, das die Staaten West- und Mittel-
europas zusammenhält, was sie unter dem gemeinsamen Namen
der Christenheit auch politisch als eine Einheit zu fassen erlaubt.
Wir können diese Vernachlässigung der besonderen Stellung
Frankreichs bei dem deutschen Politiker wohl verstehen. Er sah
gerade damals Frankreich in den mehr als zwei Jahrzehnte schon
währenden inneren Hader verstrickt. Deutschland war trotz seiner
territorialen Zersplitterung und der konfessionellen Gegensätze noch
ein reiches Land, im Besitze einer fast alle Stände durchdringenden
Kultur^) — von seinem Standpunkt aus konnte dem Deutschen
1) Vgl. die Bemerkung Rankes: Franz. Gesch. II, 128.
— 28 —
Frankreichs Lage der der übrigen Staaten ziemlich gleich er-
scheinen. Anders lagen die Dinge für den französischen Ver-
fasser des w Discours«. Ihm mußte das Bild Franz' I. und
Heinrichs II. und die Bedeutung der französischen Macht zu
ihrer Zeit vor Augen stehen ; Frankreich sollte wieder zu gleichem
Glänze emporgehoben werden. Danach gruppierte sich ihm das
europäische Staatensystem um den Gegensatz zwischen Spanien
und Frankreich. Deren Gleichgewicht war nach seiner Ansicht
die Basis des friedlichen Zusammenlebens der europäischen
Staaten, war das gemeinsame Interesse der Christenheit.
Ungefähr aus derselben Epoche, in der die soeben be-
sprochenen Schriften geschrieben sind, dürfte eine dritte Auf-
fassung des europäischen Gleichgewichts stammen, die uns in
einem in Camdens Geschichte der Königin Elisabeth enthaltenen
Passus einer mir sonst leider nicht bekannten Schrift entgegen-
tritt.*) Der englische Historiker erzählt zum Jahre 1577 von
Verhandlungen der Königin mit dem Statthalter der Niederlande,
Don Juan D'Austria. Dieser beklagt sich über den Beistand, den
sie den Aufständischen geleistet hat, die Königin aber bleibt bei
der von ihr als richtig erkannten Politik und weist die Be-
schwerden höflich zurück. Camden fügt, ihre Festigkeit rühmend,
hinzu: »So saß sie da als eine heroische Fürstin und als Schieds-
richter zwischen Spaniern, Franzosen und Niederländern, sodaß
sie wohl das Wort ihres Vaters hätte brauchen können: cui
adhaereo, praeest . . . Und wahr ist, was jemand geschrieben
hat, daß Frankreich und Spanien gewisser Maßen die Schalen in
der Wage Europas sind, und England das Zünglein oder der
Halter der Wage."«)
Es ist deutlich, daß die zitierten Worte dieses »jemand« nicht
im Jahre 1577 geschrieben zu sein brauchen. Camden hat sie
in der von ihm benutzten Literatur, vermutlich in einer Flugschrift,
gefunden und nun bei einer Gelegenheit untergebracht, wo ihm
1) William Camden, "The Hislory of thc most Rcnowned and Victorious Princess
Elizabeth, late Queen of England." 3. A. London 1675. S. 223.
S) Die wichtigsten Worte lauten: "And true it is vhich one hath vritten, that
France and Spain are as it were the Scales in the Balance of Europe, and England the
Tongue or the Holder of the Balance."
— 29 —
seine Heldin — übrigens wohl kaum mit Recht — eine be-
sonders glänzende Schiedsrichterrolle zu spielen schien. Viel
wahrscheinlicher ist, daß die Flugschrift in die neunziger Jahre
des 16. Jahrhunderts gehört, und daß sie gelegentlich der
kräftigen Unterstützung Heinrichs IV. durch Elisabeth entstanden
ist Das war ganz der rechte Augenblick dazu, England als die
ausschlaggebende Macht zwischen Spanien und Frankreich zu
bezeichnen, während man vor der Niederlage der spanischen
Armada kaum Elisabeth eine so stolze Stellung hätte anweisen
können.
Mit dieser Einordnung in die politischen Verhältnisse ist
im Grunde auch schon die Bedeutung der Stelle gegeben. In
den Jahren, in denen Elisabeth ihre bisherige vorsichtige Politik
verließ und offen Spanien entgegentrat, hat ein Engländer im
Vollgefühl der neu errungenen Weltstellung den Gedanken gefaßt,
daß das europäische Staatensystem auf dem richtigen Verhältnis
von drei Mächten, Frankreich, Spanien und England beruhe.
England hätte dabei, seiner insularen Lage entsprechend,
regulierend in die Machtverhältnisse der beiden großen
Kontinentalmächte einzugreifen, die Wage im Gleichgewicht zu
erhalten, ähnlich wie früher Venedig. Aber diese Form des
europäischen Gleichgewichts ist ebensowenig, wie die der oben
angeführten deutschen Flugschrift diejenige, die sich für die
nächste Zeit in der politischen Auffassung durchgesetzt hat; wir
werden ihr häufiger erst in der Periode des Obergewichts
Ludwigs XIV. wieder begegnen.
2. Wie in der Politik der spanisch -französische Gegensatz
mit der Thronbesteigung Heinrichs IV. ebensowenig wie mit dem
Frieden von Vervins und dem Tode Philipps IL nachläßt, so ist
auch die politische Literatur noch lange von ihm beherrscht
Allein in zahlreichen Flugschriften aus der Zeit Heinrichs IV.
habe ich wohl mehrfache Angriffe gegen den spanischen Univer-
salismus gefunden, so in einer Broschüre des bekannten Huge-
nottenführers du Plessis-Mornay, ^) oder in dem leidenschaftlichen
1) In den M^moires de U ligne II, 106 ff.
— 30 —
Pamphlet irL'Anti-Espagnol«,*) aber das Gleichgewichtsprinzip
wird in ihnen nicht angerufen. Ja halbmittelalterliche Ideen be-
gegnen uns, wie die Schwärmerei für einen Kreuzzug als bestes
Mittel, den Frieden der Christenheit zu wahren!*) Oberhaupt
waren damals und auch später noch Kreuzzugsgedanken ein sehr
beliebtes Thema für politisierende Schriftsteller.*)
In einem gewissen Zusammenhang mit den Gleichgewichts-
ideen steht allerdings der sogenannte »große Plan« Heinrichs IV»
in den Memoiren Sullys. Indessen hat es für uns keinen Zweck,
näher darauf einzugehen, da Kükelhaus die allmähliche Ent-
stehung dieser berühmten Chimäre literar-historisch völlig auf-
gedeckt hat.*) Einen eigentlich politischen Zweck hat die Idee
bei Sully nicht, und mit Heinrichs IV. Plänen hat die Sache
nichts gemeinsam als ihre Richtung gegen Habsburg.
Von Interesse sind erst wieder Schriften, die seit dem
zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erscheinen. Der sich
ankündigende große deutsche Krieg, vor allem dann das Prager
Bündnis, das die beiden habsburgischen Kronen aufs neue, dies-
mal unter österreichischer Leitung, vereinte, endlich der Dreißig-
jährige Krieg selbst geben den immer mächtiger werdenden
Impuls für antihabsburgische Streitschriften.
Schon im Jahre 1615 erschien in Berlin die deutsche Ober-
setzung*) der mir nicht im Original bekannten Schrift eines
Franzosen, deren unmittelbare Veranlassung das Einrückea
spanischer Truppen in die jülich-bergischen Länder, vor allem,
die Besetzung der Festung Wesel bildete.*) Es wäre interessant
zu erfahren, ob an der Abfassung dieser Schrift die branden-
burgische Regierung beteiligt gewesen ist; es ist bekannt, daR
Kurfürst Johann Sigismund schon mit Heinrich IV. in engea
1) M6m. de la ligue IV, 211 ff. Eine charakteristische Stelle lautet »la religion de
l'Espagnol consiste k. s*agrandir, son z^Ie k Commander ä ses voisins, son ardeur ä devenir
Monarque«.
s) »Discours sur la Palx", in »M^m. de la ligue VI, 61 7 ff.
*) Näheres hei Theod. Kfikelhaus, »Der Ursprung des Planes vom ewigen Friedea
in den Memoiren des Herzogs von Sully." Berlin 1893.
*) s. Anm. 3.
s) »Politischer Discurß, Ob sich Franckreich der Protestierenden Chur und Fürsten
wieder Spannien annehmen, oder neutral erzeigen, und mit diesem Hause befreunden solle.
Aus dem Frantzösischen ins Deutsche gebracht." Berlin 1615.
«) Auf S. 9 der Schrift wird davon gesprochen. Vgl. Moritz Ritter, Deutsche
Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation II, 408. Wesel fiel am 5. September 1614.
— 31 —
Beziehungen stand. Besonders auffallend ist der Druck der
deutschen Obersetzung in Berlin und die Angabe des Druckorts,,
die damals im allgemeinen zu unterbleiben pflegt.
Die Schrift wendet sich an die Franzosen und sucht sie
zu einer Allianz mit den protestantischen deutschen Standen
zu bewegen. Infolgedessen bekämpft ihr Verfasser kräftig die
Vermengung von religiösen und politischen Fragen. Da nun
als politische Grundregel für alle Fürsten aufgestellt wird, ndaß»
sie nimmermehr einen andern lassen so groß werden, daß er
sie nachmale alle leichtlichen unterdrücken könne", so folgt für
Frankreich, daß es die deutschen Protestanten unterstützen muß.
Von den andern europäischen Staaten wird nicht gesprochen,.
Frankreich erscheint als der natürliche Antipode Habsburgs. Die
Regel, »daß ein theil dem andern wegen der gemeinen Sicherheit
die Wage hält«, leidet keine Ausnahme durch religiöse Bedenken.
Da zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts außer den eigenen
Mitteln auch Allianzen nötig sind, so muß man diese auch mit
Ketzern schließen, wenn das vorteilhaft erscheint Der Verfasser
stützt sich für diese Folgerung ebenso wie für die Richtigkeit
seines Gleichgewichtsprinzips auf historische Beispiele, besonders,
auf die Politik Heinrichs IV. Überhaupt ist der ganze Ton dieser
Flugschrift auf eine Wiederbelebung der Tendenzen des großen
Königs abgestimmt Ihr Verfasser wird zu der Partei der Oppo-^
sition gegen das schlaffe Regiment Concinis gehört haben, die
eine Stellung ähnlich der Partei der »Politiker« zur Zeit Heinrichs IIL
in den Fragen der innern und äußern Politik einnahm. Ihr Haupt
fand diese Partei in Richelieu, der mit den politischen Schrift-
stellern in mannigfachen Beziehungen stand. Ober seine Ver-
bindung mit einem von ihnen, Fancan, besitzen wir auch eine
Monographie, aus der der Gegensatz Richelieus zu der Politik der
Regierung bis zu seinem zweiten Ministerium neu beleuchtet wird.*)
Ebenfalls aus der Betrachtung der deutschen Dinge und
ihrer Bedeutung für Frankreich entsprungen ist eine Untersuchung;
1) Leon Oeley: Fancan et la Politique de Richelieu.« Paris 1884. Dazu kommt
das o. S. 31) zitierte Buch des Abb6 Desdouvres über den Pater Joseph als Polemiker, dessen
Auszüge ans den angeblichen Schriften seines Helden leider zu fragmentarisch sind, um ffir-
uns nennenswerte Ausbeute zu geben, und dessen kritische Ergebnisse, die zum Teil gegeni
Oeley polemisieren, ich wegen des energischen Widerspruchs von Fagniez nicht zu über-
nehmen wage. Ein eigenes Urteil in der Frage kann Idi mir nicht erlauben.
— 32 —
des Interesses, das dieses und daneben auch die andern Mächte
an der Besetzung der Kaiserwürde haben.^) Sie stammt aus dem
September 1617. Der schon erwähnte Prager Vertrag und die
in Verbindung damit geregelte Kaiserwahlfrage veranlassen den
Verfasser, die politische Zweckmäßigkeit der erneuten Sukzession
eines habsburgischen Prinzen im einzelnen zu analysieren und
zu verneinen. Die »Staatsraison«, die hier ausdrücklich an einer
Stelle angerufen wird, muß alle Mächte zu einer Politik der
»Gegengewichte« veranlassen. Da Spanien die Universalmonarchie
zu erringen trachtet, richtet sich diese Politik gegen eben diese
Macht und den mit ihr verbündeten deutschen Zweig der Habs-
burger. Ja selbst der Papst kann sich aus weltlichen wie geist-
lichen Interessen dem Widerstand gegen Habsburg nur an-
schließen; auch sein Ansehen ist »plus respect^e en l'egalit^ des
Princes et contrepoids des affaires, qu'en l'estendue d'une grande
et sur^minante domination.«*)
Mit diesem allgemeinen, etwas blassen w Systeme des contre-
poids" verbindet der Verfasser aber den konkreteren großen
spanisch-französischen Gegensatz. Denn er weist die Erwerbung
der Kaiserkrone für Ludwig XIII. mit denselben Gründen zurück,
mit denen er das habsburgische Kaisertum bekämpft hat: Staats-
raison und Selbstbewahrung müssen jeden europäischen Staat
einen solchen Plan bekämpfen lassen. Dem französischen
Herrscher ziemt vielmehr, durch seinen Einfluß irgend einem
anderen Fürstenhaus die Krone zuzuwenden. Dadurch wird er
der allgemeine Schiedsrichter werden »und die Wage der Welt
in seinen Händen halten, die er \on\ Himmel empfangen hat".*)
Seine Stellung wird so eine außerordentlich glänzende sein, selbst
über dem von ihm geschaffenen und geschützten Kaiser wird er
in den Augen der Welt stehen. Bei alledem aber wird er nicht
>) ifDiscours, auquel est examin^ sMl seroit exp^dient au Roy d'entendre k. I'Empire
pour lui : ou seulcment de tenir la main pour le faire tomber ä un autre Prince qui ne fust
point de la Maison d' Austriebe. * Gedruckt im »Recueil de quelques discours politiqucs,
escrits sur diverses occurences des affaires et guerres estrangeres depuis quinze ans en 9a.
s. 1. 1632. Erstes Stück.
s) a. a. O. S. 8. Die Bedeutung Frankreichs für den Papst als contrepoids gegen
Habsburg bildet auch ein Argument der o. S. 20, Anm. i) zitierten französischen Broschüre
des Jahres 1626. Chastclet: Recueil etc. S. 149.
<) Le roy «tiendra la balance du monde en ses mains, qu'il a apportee du Ciel,«
£. a. 0., S. 29.
— 33 —
wie die habsburgischen Fürsten wegen ihres zügellosen Ehrgeizes
gehaßt werden, sondern den Ruf der Klugheit und Mäßigung
besitzen.
Das Ziel dieses Appells an den glorreichen französischen
König ist völlig klar. Nicht durch Eroberungen, sondern durch
weise Politik soll er die führende Stellung in Europa zu gewinnen
suchen. Die religiösen Bedenken gegen eine antihabsburgische
Politik werden schonender Weise nicht direkt berührt, sondern
nur indirekt durch die Aufdeckung des Interesses gerade auch
des Heiligen Stuhles an der Einschränkung der habsburgischen
Macht widerlegt. Die Schrift scheint ihrem Stil nach aus den
höfischen Kreisen hervorgegangen und auf sie berechnet zu
sein.^) Weniger deutlich ist das Gleichgewichtssystem zu be-
zeichnen, das dem Verfasser als Ideal vorschwebt; es ist aber
charakteristisch, daß er trotz seiner etwas verschwommenen Vor-
stellungen bei seiner Polemik gegen die habsburgischen Welt-
machtspläne auf die Gleichgewichtsidee nicht hat verzichten wollen.
Zu erwähnen ist auch die allgemeine Schiedsrichter -Rolle, die
dem französischen König als Ziel seiner Bemühungen in Aus-
sicht gestellt wird. Dieser Gedanke ist sehr beliebt seit Heinrich IV.*)
Richelieu hat den Titel »arbitre de la chrestienti« schon 1616
als eine Erwerbung Heinrichs IV. für die französische Krone be-
zeichnet.*) Mit der Gleichgewichtspolitik ist das wohl vereinbar.
Frankreich sammelt gerade in Befolgung dieser Politik alle Mächte
um sich, bildet dadurch das nötige Gegengewicht gegen die
habsburgische Macht und gewinnt ganz von selbst bei allen
Streitigkeiten den maßgebenden Einfluß.
Weniger hohe Ziele stecken sich einige Politiker, die in
den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges während des fran-
zösischen Hugenottenaufstandes (1620 — 1622) ihre Stimme gegen
Österreich -Spanien erheben. Bei der schwierigen Lage ihres
Vaterlandes suchen sie vor allem im Ausland Stimmung gegen
1) DafQr spricht auch, daß derselbe Schriftsteller im folgenden Jahre eine Vertei-
digung der habsburgischen Kaiserkrone geschrieben hat ; wie der „Recueil« sagt, auf Wunsch
des ersten Staatsministers (Luynes); in demselben Recueil, zweites Stfick.
*) Vgl. Kfikelhaus, a. a. O. (s. o. S. 30«)), S. 25, 42, 72 f.
s) Vgl. die Instruktion an den nach Deutschland gehenden Gesandten Schomberg:
»Lettres etc. du Cardinal de Richelieu.« Paris 1853, I, 208.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht. 3
— 34 -
die wieder eifrig als nahe bevorstehende Gefahr geschilderte
Weltherrschaft Spaniens zu machen und die Fürsten zum An-
schluß an Frankreich zu bringen. So werden die italienischen
Staaten gegen die spanischen Umtriebe im Veltlin zu einem fran-
zösischen Bündnis eingeladen mit dem Hinweis auf das Ver-
hängnis, das der ganzen Christenheit droht. ^) Ahnliche Auf-
forderungen enthält eine ziemlich umfangreiche Untersuchung
aus dem Jahre 1 620 oder 1 622 über die Verhältnisse derjenigen
europäischen Staaten, die für Frankreich ein besonderes Interesse
haben.*) Die Untersuchung aber wird eingerahmt durch die
Forderung einer energischen Gleichgewichtspolitik. Um deren
Möglichkeit und Nutzen im einzelnen zu zeigen, scheint sie über-
haupt geschrieben zu sein. Wieder wird dabei das Bild Hein-
richs IV. beschworen. Charakteristisch aber für das Gefühl der
eigenen Schwäche gegenüber den Habsburgem ist die Vorstellung,
daß dies Gleichgewicht auf der einen Seite nicht eigentlich durch
ein zu stärkendes Frankreich gebildet werden soll, sondern durch
eine große Koalition, als deren Zentrum dann allerdings der
französische König erscheint') Von seiner starken Hand müssen
alle Bedrückten emporgehoben werden. — Neben diesem all-
gemeinen Gleichgewicht aller Staaten gegen den einen über-
mächtigen Staatenkomplex, der ausdrücklich als eine Einheit trotz
seiner zwei Herrscher bezeichnet wird, begegnen auch hier mehr
lokale Gegengewichtssysteme, so besonders ein italienisches, das
durch die spanischen Besitzungen auf der einen, Venedig,
Toscana, Savoyen und den Papst auf der andern Seite gebildet
wird.*)
War so innerhalb Italiens ein engeres Gleichgewicht ge-
fordert worden, so stellt eine energische Kampfschrift des Jahres
1621 zum erstenmal die These von einem deutschen Gleich-
1) MDiscours sur le sujet de l'invasion de la Valteline," in der Sammlung üMercure
d'Estat ou Recueil de divers discours d'Estat« s. 1. 1635.
*) »Discours des princes et estats de la chrestientö plus considerables k la France,
Selon leurs divers qualitez et conditions:« Mercure d'Estat S. 293 ff. Wenn die Angabe
*40 Jahre nach der Eroberung Portugals« (S. 304) richtig ist, gehört der Discours ins Jahr 1620.
S. 399 aber wird von dem durch Ludwig XIII. glücklich wiederhergestellten guten Zustand
Frankreichs gesprochen, was man eigentlich nur auf die Beendigung der Hugenotten - Un-
ruhen 1622 beziehen kann.
>) Vgl. S. 296 f. u. S. 399.
*) Vgl. S. 316.
— 35 —
gewicht auf, zu der die Niederlage Friedrichs V. von der Pfalz
die unmittelbare Veranlassung gegeben hat.^) Danach soll inner-
halb der Deutschen Republik, wie man sich im 1 7. und 1 8. Jahr-
hundert gern ausdrückt, zwischen den Kräften Österreichs und
denen der protestantischen Stände ein Gleichgewicht bestehen.
Mit dem Imperium dürfen die deutschen Habsburger nicht die
wirkliche Beherrschung der deutschen Fürsten verbinden. Wenn
dieser Zustand des Gleichgewichts geändert würde, müßten bei
den »pr^tensions imaginaires" des Hauses Habsburg auf die
Universalmonarchie alle Staaten der Christenheit in die größte
Gefahr geraten. Am nächsten bedroht diese Gefahr Frankreich,
dessen Sicherheit allein auf dem rechten Gleichgewicht der Kräfte
innerhalb de^ deutschen Reichs beruht. Deshalb muß Frankreich
in die deutschen Angelegenheiten eingreifen, und wenn Österreich
sich nicht im Guten fügt, als Schiedsrichter der Christenheit alle
Mächte vereint gegen den Feind ins Feld führen.
Man begreift leicht, daß ein solches System für Frankreich
sehr vorteilhaft sein mußte; allen Eingriffen in deutsche Ver-
hältnisse wäre damit ein wohlklingender, uninteressiert scheinender
Vorwand geliehen worden. Frankreich hatte dann auf der einen
Seite die Pflicht, um des allgemeinen Besten willen das europäische
Gleichgewicht bei jedem Kriege Habsburgs gegen eine schwächere
Macht durch sein Einschreiten zu wahren, auf der anderen Seite
hatte es auch über allen staatsrechtlichen Änderungen innerhalb
des Reichs zu wachen, um das durch absolutistische kaiserliche
Pläne bedrohte deutsche Gleichgewicht zu schützen. Indessen
beabsichtigte der Verfasser dieser Flugschrift offenbar weniger,
dem Argwohn der deutschen oder anderer Fürsten gegen eine
französische Einmischung in die deutschen Verhältnisse durch
den Nachweis ihrer höheren politischen Notwendigkeit zu be-
gegnen, sondern das deutsche Gleichgewichtssystem sollte vor
allem den Widerspruch entkräften, den ein antiösterreichischer
König in Frankreich selbst fand. Der Verfasser polemisiert gegen
die Vorwürfe, mit denen die streng katholische Partei in Frankreich
jedes Vorgehen gegen die katholischen Habsburger als Verbrechen
1) Discours sur oe qai peut sembler estre plus expedient, et k moyenner au sujet
des guerres entre TEmpereur et le Palatin«: Recudl von 1632, bes. S. 139.
— 36 —
an der Kirche brandmarkte, eine Auffassung, die in leiden-
schaftlichen Pamphleten gegen die gottlosen Freunde der deutschen
Ketzer vertreten wurde.^) Gegenüber dieser Partei vertritt unsere
Flugschrift die „wahren Interessen des Staats",*) deren Be-
gründung eben durch die Lehre vom deutschen Gleichgewicht
gegeben wird.
Ganz der gleiche Gesichtspunkt leitet häufig Fancan bei
den Angriffen, die er gegen die leitenden Kreise der französischen
Politik von 1621 an bis zum entscheidenden Siege Richelieus ge-
richtet hat. Auch er kämpft gegen die konfessionellen Rücksichten
in Frankreichs auswärtiger Politik. Ganz im Geiste Richelieus
verlangt er nicht eine katholische, sondern eine »patriotische«
Politik; seine Partei, die geistigen Erben der »Politiker", nennt er
deshalb die »Patrioten«.^) Er weist die Vorstellung zurück, als seien
bon catholique und Espagnol, und bon Fran^ais und huguenot
identisch;*) der Patriotismus hat nichts mit der Konfession zu tun.
Von dieser Stimmung aus hat er auch gegen die spanischen
universalistischen Tendenzen seine Feder gewandt*) und in einer
Schrift gerade auch das Interesse des Papstes an dem Gleich-
gewicht der beiden führenden Nationen Europas behauptet.*)
Nicht um im Ausland, sondern um im französischen Volke selbst
Stimmung für eine kräftige auswärtige Politik zu machen, hat
Fancan Richelieu sein Talent zur Verfügung gestellt und von
Gleichgewichtspolitik gesprochen. Allerdings tritt dieser Gedanke
in seiner Polemik nicht an die erste Stelle.
Es würde kaum etwas Neues lehren, wollten wir sämtliche
uns bekannte Schriften besprechen, die in den nächsten Jahr-
zehnten noch die Gleichgewichtspolitik Frankreichs verteidigt
haben. Es überwiegt jetzt ganz allgemein die Auffassung, daß
Frankreich allein imstande sein müsse, Habsburg gegenüber das
>) Gegen solche Pamphlete sind z. B. einzelne Schriften Fancans direkt gerichtet,
deren eine betitelt ist »La R6ponse au libelle intitul6 Admonitio ad regem Qalliae«, Oeley,
a. a. O. S. 238 ff. Vgl. Mercure d'Estat, 2. Stück, S. 51 ff.
«) a. a. O. S. 139.
I) Vgl. die reichen Auszüge, die Oeley, «Fancan« aus den verschiedenen seinem
Helden vindizierten Flugschriften gibt, bes. S. 60.
<) Oeley, a. a. O. S. 142.
») Oeley, a. a. O. S. 64, 279.
9) Oeley, a. a. O. S. 256/57. Derselbe Oedanke ist uns schon früher begegnet,
vgl. oben S. 32.
— 37 —
nötige Gegengewicht zu bilden. Seit der aggressiven Richtung
der französischen Politik, die Richelieu ihr nach Besiegung seiner
Gegner zu geben wußte, ist Frankreichs Rolle mehr die des Be-
schützers der Kleinen, die sich ihm von selbst anschließen, als
die der ängstlich überall nach Bundesgenossen gegen den über-
mächtigen Gegner ausschauenden Macht Aber ehe wir einige
der hierhin gehörenden Flugschriften anführen, weisen wir auf
eine im März 1624 erschienene politische Betrachtung hin, die
einen sonst in dieser Zeit kaum begegnenden Gedanken vertritt.^)
Hier wird offenbar ganz nach den Ideen Richelieus, zu
dessen Programm eine auf einer Verbindung der beiden könig-
lichen Familien beruhende gemeinsame Politik Englands und
Frankreichs gehörte, England dieselbe Aufgabe zugewiesen, die
einst Königin Elisabeths Ruhm gebildet hatte.') König Jakob wird
aufgefordert, als drittmächtigster Herrscher nach Spanien und
Frankreich dem glorreichen Beispiel seiner Vorgängerin und
Heinrichs VIII. zu folgen, »der so gut seinerzeit zwischen Kaiser
Karl V. und König Franz seine Rolle gespielt hat, indem er sich
von beiden fürchten und umschmeicheln ließ und gewissermaßen
das Gleichgewicht zwischen ihnen hielt"*) — Eine solche Auf-
fassung des Grundverhältnisses der europäischen Staaten mußte
schwinden, als das englisch - französische Einvernehmen sich
während der Kämpfe um La Rochelle löste, und die englische
Regierung durch ihren Kampf mit dem Parlament keine Mittel
mehr für ein einigermaßen wirksames Eingreifen in die aus-
wärtigen Verhältnisse übrig hatte.
Im allgemeinen erscheint, wie gesagt, Frankreich selbst als
Regulator des Gleichgewichts. Recht hübsch wird Anfang 1625
trotz des Hinweises auf den Nutzen, den alle Mächte an dem
Widerstand gegen die immer noch lebendigen Ideen Karls V. und
Philipps II. haben, vor allem auf die Bedeutung des Gleich-
1) »Discours des princes et estats de la Chresticnt^ plus considerables k la France,
Selon leurs diverses qnalitez et conditions" : Mercure d*Estat, S. 161 ff.
«) a. a. O. S. 204 f.
I) a. a. O. S. 204. Übrigens wird auf die Gefahr einer spanischen Universal-
monarchie auch in einer sonst nicht bedeutenden englischen Flugschrift derselben Zeit hin-
gewiesen: »An excellent and material discours . . . what great danger will hang over our
hcads of England and France . . . if it shall happen, that those of Oermany which are our
friends be subdned, and tfae king of Denmark vanquished.* s. 1. 1626.
— 38 —
gewichts für Frankreich hingedeutet: wenn man mit rechter Über-
legung den Zustand der Christenheit betrachtet, »sieht man, daß
in diesem Gleichgewicht der Kräfte Frankreichs und Spaniens,
die wie durch ihre (bloße) Erschütterung durch die Federn, die
sie in Bewegung setzen, alle anderen (Mächte) Europas wegen
ihrer Bedeutung nach sich ziehen, jeder Zuwachs des einen sicht-
lich dem andern schadet, und daß genau so viel, wie einer im
Werte steigt, der andere sinkt. «^) - Es ist ein Versuch, die
mechanische Auffassung, die in der Balanceidee liegt, im Bilde
streng durchzuführen.
Ähnliche Gedanken, wie die oben besprochenen Ideen über
ein deutsches Gleichgewicht,*) vertritt eine Broschüre des Jahres
1 629,^) freilich ohne diese Idee selbst wieder aufzunehmen. Das
Übereinstimmende ist vielmehr nur das Nebeneinanderhergehen
der zwei Gedanken, daß einmal Frankreich als Bewahrer des
Gleichgewichts um der Allgemeinheit und zwar hauptsächlich
der deutschen und italienischen Fürsten willen sich den Habs-
burgern entgegen werfen muß, andererseits aber ein geeintes
Deutschland für Frankreich eine unerträgliche Gefahr wäre. Es
ist nicht leicht zu entscheiden, an wessen Adresse sich diese
Broschüre richtet, die sich speziell noch mit dem Plan eines
bayrischen Kaisertums bei der nächsten Vakanz trägt. Sie wird
ebenso sehr durch die Schilderung der Gefahren eines kaiser-
lichen Absolutismus in Deutschland, der ja nach Wallensteins
glänzenden Erfolgen nahe bevorzustehen schien, auf die österreich-
freundlichen französischen Kreise, wie durch das Betonen des
allgemeinen Wertes der französischen Balance-Politik auf die aus-
ländischen Fürsten besonders in Italien und in Deutschland
haben wirken sollen. Das sehr eigennützige Interesse Frankreichs
an einem uneinigen Deutschland soll in den Augen der Fremden
vor der hochherzigen Hingabe an den Gedanken des Gleich-
gewichts verschwinden, das die Freiheit aller Schwachen sichert.
Wieder in erster Linie mit den deutschen, daneben auch mit
*) Mercure d'Estat, S. 211 ff.
«) s. o. S. 34 f.
>) »Discours sur roccurence des affaires estranseres, et particulierement sur le snjct
de Celles d'Allemagne:" Mercure d'Estat« bes. S. 279 ff. u. 307 ff.
— 39 —
den italienischen Verhältnissen, im Zusammenhang mit den all-
gemein-europäischen Zuständen, beschäftigt sich eine Flug-
schrift, die schon in ihrem Titel angibt, an wen ihre Mahnungen
gerichtet sein sollen, nämlich an alle christlichen Fürsten.^)
Sie stammt wohl von einem französischen Geistlichen, der
zwar in einer Vorrede durch allerhand falsche Angaben über
sein Leben und seinen Aufenthalt sein Inkognito besonders sichern
möchte, es aber nach den Andeutungen einer Gegenschrift offen-
bar doch nicht erreicht hat.') Ein Jahr nach dem Original, 1631,
erschien eine recht gute, nur dem Geschmack der Zeit entsprechend
umständliche deutsche Übersetzung.*) Da Droysen diese gekannt
und als eine »merkwürdige Broschüre" bezeichnet hat,^) möchte
ich ihren Inhalt kurz skizzieren. Es wird sich zeigen, daß sie
nach der schon vorangegangenen politischen Literatur im Grunde
nichts Neues bringt.
Gleich die Einleitung erinnert an andere ähnliche Erzeug-
nisse. Die beiden größten Staaten, heißt es, die alle übrigen
christlichen Staaten im Gleichgewicht halten, sind Frankreich und
das Haus Habsburg, denn nur sie können ohne fremde Hilfe
an Geld oder Mannschaften Krieg führen. Aber in ihrer ganzen
Konstitution sind beide Staaten grundverschieden: Frankreich will
sich nicht auf Kosten anderer ausdehnen, beschützt seine Freunde
und befolgt überhaupt eine ruhige Friedenspolitik, Habsburg
aber trachtet mit allen seinen Maßnahmen nach dem einen End-
ziel, der Universal-Monarchie. Auf Grund dieser Vergleichung
werden alle Fürsten aufgefordert, sich Frankreich zuzuwenden,
das ihre Freiheit schützen will. Deutschland und Italien gilt es
zu befreien; aus diesem alle Fremden zu verbannen, in jenem den
1) »Advis aux princes chrestiens, sur les affaires publiques presentes:" Mercure
d'Estat, 1. Stack.
s) Diese Erwiderung steht im Mercure d'Estat, S. 51 ff. und heißt: »Aux Princes
Catholiques sur Testat present des affaires publiques." Ihre Tendenz ist antifranzösisch,
streng katholisch, mit lebhafter Verteidigung der Gerechtigkeit der habsburgischen Sache.
Von seinem Oegner sagt der Verfasser: er hat eine Maske vorgenommen »pour se couvrir
de son hcresie et pertinacit^«, aber er ist erkannt als einer *qui pour son ordre et pour la
condition de sa naissance devroit plustost publier des escrits qui servissent k relever et
forb'fier les courages des fideles sujets«, als Ärgernis erregen.
s) »Rathschlag, Bedenken und Outachten an alle Christlichen Potenzen, fiber den
gegenwärtigen Zustand des gemeinen Wesens.* s. 1. 1631.
«) Preußische Politik III, 1, Anm. 9.
— 40 —
Mißbrauch der Kaiserdesignierung zu beseitigen und gesetzlich zu
verbieten, daß hintereinander zwei Kaiser aus derselben Familie
gewählt werden.
Zum Schluß wird erneut an die bedeutendsten Fürsten, an
Gustav Adolf und den englischen König, an die Niederlande
und an das »primum mobile" von ihnen allen, Frankreichs
Herrscher, die Aufforderung zum Kampf für die Freiheit ge-
richtet. Ludwig XIII. soll sich dadurch den Titel »Liberator
Christianitatis" erringen.
Die abschließende Darstellung des Qleichgewichtssystems,
wie es die französische Publizistik im Kampf gegen das Haus
Habsburg in verschiedenen Nuancen herausgebildet hat, ist
die bekannte Schrift des letzten bedeutenden Hugenottenführers,
des Herzogs von Rohan »De l'interest des Princes et Estats de
la Chrestient^«, zuerst erschienen 1638.^) Der Verfasser hat
seine Arbeit Richelieu gewidmet; in der Tat ist sie die beste
Verteidigung der auswärtigen Politik des großen Kardinals von
allgemeinen Gesichtspunkten aus. Obgleich durchaus auf politische
Wirkung berechnet, auf Beeinflussung der auswärtigen Mächte zu-
gunsten der französischen Kriegspolitik, vermeidet die Abhand-
lung die Unklarheiten, die Stillosigkeiten und den Mangel an
logischer Beweisführung, die eine fast allgemeine Erscheinung
bei den schnell geschriebenen und schnell vergessenen politischen
Broschüren sind. Nicht nur ein Augenblickserzeugnis, sondern
eine Grundlage der praktischen Politik für längere Zeit beab-
sichtigt Rohan zu bieten. Trotzdem kann es unsere Aufgabe
nicht sein, den Inhalt im einzelnen vorzuführen. Denn nicht
nur ihrem Stil, auch ihrem Gedankenwert nach steht die Schrift
am Schluß einer Epoche; sie faßt zusammen und ordnet, aber
enthält nichts, was nicht schon einmal gesagt worden wäre. Wir
geben daher nur in Umrissen ein Bild von ihr.
Ausdrücklich bezeichnet Rohan das Nebeneinanderstehen
Frankreichs und Spaniens, der »beiden Pole« im europäischen
1) Dies Datum gibt die Biographie Universelle. Mir liegt eine Ausgabe von 1640
mit königlichem Privileg vor. Eine lateinische Obersetzung zitiert Meinberg: »Das
Oleichgewichtssystem Wilhelms III." etc., S. 6.
— 41 —
Siaatenleben,^) als die Grundlage aller Erörterungen über aus-
wärtige Politik. Er sucht dann für die einzelnen Staaten nach-
zuweisen, daß das Gleichgewicht der beiden großen Mächte die
leitende Maxime für ihr Verhalten sein müsse. Wir begegnen
wieder dem Interesse der Kurie an der rechten Balancepolitik,
dem Gleichgewicht zwischen deutschen Protestanten und Katho-
liken, dem besondern italienischen Gleichgewicht und der ent-
scheidenden Stellung, die England zwischen den beiden Groß-
mächten einnehmen könnte. Ein zweiter längerer Teil erläutert
diese Prinzipien an historischen Beispielen, wie dem Jülichschen
und dem Mantuanischen Erbfolgestreit.
Trotz des im allgemeinen sachlich -vornehmen Tones fehlt
natürlich auch die Polemik nicht Eine Gegenüberstellung der
politischen Grundsätze der Habsburger und der französischen
Krone zeigt den anderen Fürsten mit genügender Deutlichkeit an,
auf wessen Seite sie sich in dem großen Kampfe zu stellen
haben, falls ihnen das mehr abstrakte Balancesystem noch einen
Zweifel gelassen haben sollte.
Fassen wir die Grundgedanken der bisher besprochenen
Gleichgewichtsliteratur zusammen! Ihr Quell ist die Opposition
gegen die wirklichen oder vermeintlichen Pläne, alle christlichen
Völker unter eine politische Herrschaft zusammenzufassen. Als
positives Ideal erscheint dagegen die Freiheit aller Staaten, die
durch das politische Gleichgewicht herbeigeführt werden soll.
Dieses Ideal ist nach der Meinung der Publizisten schon an sich
von solcher Kraft, daß sie es nie näher in seinem Werte be-
gründen oder ihm gegenüber die Verderblichkeit einer Welt-
monarchie nachweisen. Die Vorstellung einer Universalherrschaft
halten sie allein für genügend, um Furcht und Schrecken her-
vorzurufen.
Daneben spielt der Gegensatz zwischen Staatsinteresse und
katholischer Kirchlichkeit eine bedeutende Rolle. Gegenüber den
ultramontanen Forderungen nach Solidarität aller katholischen
Mächte gegen die Ketzer wird die Superiorität der Staatsräson
») s. 1.
— 42 —
begründet und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts auch
durch Bündnisse konfessionell getrennter Staaten verteidigt. Ja
der Hugenott Rohan bezeichnet in seiner dem Kardinal Richelieu
gewidmeten Schrift zwar deutlich den Zusammenhang zwischen
protestantischer und Balancepolitik für England/) aber von einer
ähnlichen Beziehung zwischen katholischer und Gleichgewichts-
Politik für Frankreich kann er natürlich ebenso wenig wie seine
literarischen Vorgänger sprechen. Politische und religiöse Interessen
mögen also, wie in England, zusammenfallen und sich so gegen-
seitig stützen. Streiten sie aber miteinander, so müssen die
politischen Rücksichten siegen, in unserem Falle also Gleich-
gewichtsbestrebungen über Katholizität.
Daraus ergeben sich für die französische Literatur — und
diese überwiegt ja durchaus — die Adressaten resp. die Gegner:
die auswärtigen Fürsten resp. die orthodox katholische Partei
innerhalb Frankreichs. Die fremden Fürsten sollen im Bunde
mit Frankreich die Sicherung ihrer Existenz, in seiner Unter-
stützung gegen das Haus Habsburg eine Forderung ihrer eigensten
Interessen erblicken. Die extremen französischen Katholiken sollen
in den einflußreichen Kreisen als Feinde der einzig richtigen,
nationalen Balance-Politik diskreditiert oder womöglich zum An-
schluß an die antihabsburgische Partei gebracht werden. Nur
in zwei Broschüren habe ich neben den beiden großen Zielen
der Gleichgewichtspolitik, der Bewahrung des selbständigen Neben-
einanderbestehens mehrerer Staaten und der Aufrechterhaltung
der bedeutenden Stellung der französischen Krone das Ziel ge-
nannt gefunden, das später von immer größerer Bedeutung in
der Literatur wird, die Rettung des Handels der einzelnen Völker
vor der Ausschließung vom Kolonialhandel durch ein übermäch-
tiges Reich. Die eine dieser Schriften ist die »Treuherzige Ver-
mahnung" von 1585, die den Ruin des deutschen Handels durch
eine spanische Universalmonarchie befürchtet,*) die andere die
Schrift Rohans, in der für England speziell auf sein Handels-
interesse neben dem allen Fürsten gemeinsamen Interesse am
») a. a. O. S. 26.
«) S. o. S. 27.
— 43 —
Gleichgewicht hingewiesen wird. ^) Im allgemeinen kommt
dieses Moment für die erste Epoche unserer Betrachtung nicht
in Frage.
Die Vorstellungen über die Form des Gleichgewichts, also
wesentlich die Frage, welche Staaten es bilden, sind, wie wir
sahen, während des besprochenen Zeitraums nicht immer dieselben.
Fest steht nur, daß es auf der einen Seite durch das Haus
Habsburg gebildet wird. Die andere Seite wird nach der einen
Meinung von allen anderen europäischen Staaten eingenommen
- soweit sie nicht von Habsburg abhängig sind -, nach der
anderen allmählich sich allgemein durchsetzenden Meinung von
Frankreich allein. Beiden Anschauungen gemeinsam ist die
Oberzeugung, daß das Haus Habsburg mit seiner Stellung als
einer der »Pole der Christenheit« nicht zufrieden, nach einer
Ausdehnung seiner Herrschaft über ganz Europa strebt. Eine
dritte Ansicht taucht unter der Königin Elisabeth und dann ver-
einzelt auch unter den beiden ersten Stuarts auf, wonach England
neben Frankreich und Spanien - Österreich eine bedeutungs-
volle Aufgabe, nämlich die Regulierung ihrer beiderseitigen Aus-
dehnungsbestrebungen, die Rolle als i/Halter'' oder »Zünglein
der Wage« zukomme. Hinter der anderen Vorstellung aber,
nach der der schwächere der beiden großen Staaten selbst alle
anderen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts aufruft und
um sich sammelt, tritt die von Englands besonderem Beruf zu-
rück. Darin spiegeln sich richtig die tatsächlichen Verhältnisse.
Treten so die grundlegenden Gedanken des Gleichgewichts-
systems dem Idealbild der mittelalterlichen Staatsanschauung dia-
metral gegenüber, so heben die literarischen Vertreter der neuen
Ideen mehrfach den unmittelaiterlichen Charakter auch der habs-
burgischen Weltreichstendenzen hervor; denn das wollen sie
doch bezeichnen, wenn sie - ob mit Recht oder Unrecht, kommt
für uns nicht in Betracht - die kirchlichen Motive der nach Welt-
herrschaft strebenden Habsburger leugnen, wenn sie deren Ziele
als Ausfluß rein staatlichen, weltlichen Ehrgeizes brandmarken,
dem die Kirche nur als Mittel dient, nicht wie im Mittelalter als
1) a. a. O. S. 23.
— 44 —
höchster Zweck. ^) Aus einer derartigen Auffassung erklärt es
sich, daß manche Schriftsteller hoffen, selbst den Papst für ihr
Gleichgewichtssystem gewinnen zu können; sie suchen ihm eben
zu beweisen, daß unter einem modernen weltlichen Universal-
herrscher die Rolle des kirchlichen Oberhauptes recht kläglich
sein müsse.
1) vgl. o. S. 18; ähnlich in »L'Anti-Espagnol*, 1590, gedruckt in den M^moires de
la Ligue IV, 211 ff. - Oeley: .Fancan-, S. 279. - Rohan: »De l'interest etc.", S. 11.
Natürlich fehlt auch die entgegengesetzte Ansicht nicht. Der innige Zusammenhang
zwischen den Habsburgem und der Kirche, der leidenschaftliche Haß gegen die Ketzer sind
das Leitmotiv ffir die oben, S. 39 Anm. 2), zitierte ultramontane, antifranzösische Flugschrift.
Aber auch von deutsch-protestantischer Seite aus vird die Identität von Katholizismus und
habsburgischem Regiment als ein natürliches Argument in der Polemik verwertet, nur eben
gegen Habsburg: vgl. ein hübsches fingiertes Gespräch zwischen Papst Paul V. und Philipp III.
mit König Ferdinand I. : »Colloquium oder Gespräch Bapst Pauli deB V. und deß Königs
zu Hispanien, und Ertzherzogen Ferdinandi etc." 1608.
IL
Das europäische Gleichgewicht im Kampf
gegen Ludwig XIV.
1. Kapitel.
Durch Richelieu und seinen großen Verbündeten, Gustav
Adolf, war die bis dahin ungestüm vordringende Macht Kaiser
Ferdinands 11. in ihrem Siegeszuge gehemmt worden; nach
schwerem Ringen sank die deutsche Linie des Hauses Habsburg
besiegt zu Boden, und bald folgte der noch tiefere Fall des
spanischen Zweiges. Gleichzeitig aber stieg die französische
Monarchie, gestützt auf ihre neue glänzende Armee, von einem
Willen einheitlich geleitet, mit überraschender Schnelligkeit empor
und weckte nun selbst Furcht und Mißtrauen, die schnell
charakteristischen Ausdruck in der politischen Literatur fanden.
Noch während der Stürme dm Dreißigjährigen Krieges, in
dem Frankreich die Welt gegen die habsburgische Universal-
monarchie und für sein System eines auf zwei großen und einer
Reihe kleinerer Staaten beruhenden politischen Gleichgewichts zu
den Waffen gerufen hatte, ist der Vorwurf, nach der Weltherrschaft
zu streben, gegen dasselbe Frankreich erhoben worden. Der
kaiserliche Publizist von Warendorff hat 1641 eine Broschüre
veröffentlicht, in der er es unternimmt, Österreich von allen An-
klagen rein zu waschen, um Frankreich um so heftiger im Namen
aller Mächte anzuklagen.^) Österreich hat keinen sehnlicheren
Wunsch, als die Wiederherstellung des allgemeinen Friedens.
1) »Jean Petage, oder französischer Brillenreißer ... * von Wunefried Alman, von
Warendorff. Wer dieser Warendorff gewesen ist, liabe idi nicht ermitteln können.
— 46 —
Deshalb hat es die Verträge von Regensburg 1630 und von
Prag 1635 geschlossen; und wie es so die Basis für die Pazifi-
zierung Deutschlands gelegt hat, so sucht es auch Italien mit
den Wohltaten des Friedens zu beglücken. Frankreichs Politik
dagegen ist diktiert vom krassesten Egoismus, der nirgends so
sichtbar hervortritt, wie in seinem Verhalten gegenüber den Pro-
testanten. Denn wie kann man anders die Tatsache beurteilen,
daß es die Angehörigen derselben Religion innerhalb seiner
Grenzen ebenso hart verfolgt, wie es sie im Auslande eifrig
unterstützt? Für die französische Politik dienen die Protestanten
nur als ein Mittel, mit dessen Hilfe sie ihr letztes großes Ziel
zu erreichen hofft, »daß Regiment über die gantze Welt und
also alle Menschen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen". Denn
was können sie sonst mit ihrer »mündlichen und schriftlichen«
Behauptung meinen, »daß Caroli Magni Monarchie ihnen gehöre.« ^)
Die Franzosen tragen eben gar kein Bedenken, ihrem maßlosen
Ehrgeiz Ausdruck zu verleihen, und »die Feindschaft der Affek-
tierten allgemeinen Monarchie, die sie bißher wider die Spanier
mit so großem Geschrei erwecket, auff sich zu lenken«. Wenn
also überhaupt jemals die Christenheit »gesambleter Macht und
mit einhelligem Gemüth« gegen eine einzelne Macht Krieg führen
soll, darf nur Frankreich das Ziel des allgemeinen Angriffs sein.
Noch in zwei anderen der mir bekannten Flugschriften aus
dem Dreißigjährigen Kriege werden gleiche Vorwürfe gegen
Frankreich erhoben. Die ei^e sucht die deutschen Fürsten gegen
Frankreich in Harnisch zu bringen.*) Die andere möchte auf
die Holländer wirken und verdient einige nähere Angaben.*)
Sie bekämpft eine gegnerische Schrift, sucht ihre Leser von der
1) Damit dürfte auf das häufig zitierte Werk de Cassans: MLa recherche des droicts
du roy et de la couronne de France sur les royaumes, duchez, comtez, villes et pais occupez
par les princes estrangers", 1632, angespielt werden, sowie auf das weniger bekannte des
Besian Arroy: »Questions d6cid6es sur la Justice des Armes des Rois de France etc.*: vgl.
O. Friedr. Freuß, •. Wilhelm Hl. von England und das Haus Witteisbach im Zeitalter der
spanischen Erbfolgefrage. •• I. Breslau 1904. S. 4*.
S) •»Nächtlich Gesichte, welches einem Teutschen der Kirchen(,) des Römischen
Reichs und des Hauses Oesterreich besondem Liebhabern, im Schlaaf ffirkommen Aber
dieser, neulich aus Franckreich herkommenden Prophezeyung Oallus ab Hispana toti do-
minabitur orbi." 1647.
9) «Antwort auff ein Schreiben so ein Venedischer Edelmann an seinen Freund zu
Turin abgehen lassen: In sich haltende die Frage iiWem doch die Schuld bcy zu messen
daß der Friede nicht fortgehe?" 1646.
— 47 —
ehrlichen Friedensliebe Spaniens in ähnlicher Weise zu über-
zeugen, wie Warendorff Österreichs friedliche Stimmung behauptet
hatte, und warnt vor Frankreichs kriegerischen Zielen: »könnte
Franckreich die Monarchie der ganzen Welt erobern, es würde
dem Könige so glorieus und rühmlich sein, als es jener Zeit
Augustus und Alexandren gewesen.« Kein Staat wird so sehr da-
durch bedroht, wie Holland, zumal wenn Flandern, Hennegau,
Namur und Luxemburg in französische Hände gefallen sein
werden. Denn diese Provinzen sind Hollands » Außenwerke « ;
»mehr als zu verwundern« ist es, daß es selbst zu deren Zer-
störung durch den Krieg gegen Spanien beiträgt. Wie alles
Irdische vergänglich ist, so wird auch Frankreichs Freundschaft
für Holland nicht ewig währen. Viele Schwierigkeiten aber wird
Frankreich nicht zu überwinden haben, sobald es erst bis an den
Rhein vorgedrungen ist und von dort aus auch Holland unter-
werfen will: »Dies sind keine Träume, keine Fabeln, es ist
sonnenklar, alle Wohlaffektionierten sehen es.«
Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Gedanke einer drohenden
französischen Weltherrschaft, wie ihn der Verfasser dieser Schrift
vertritt, nichts als eine Übertragung der alten gegen Spanien er-
hobenen Vorwürfe auf Frankreich darstellt Es ist zu bemerken,
daß der Verfasser sich an die freien Niederländer wendet, mit denen
Spanien sich damals noch im Kriegszustande befand. Die spätere
spanisch-holländische Allianz wird hier schon vorausgesehen und
der Gedanke einer französischen Universal-Monarchie dient dazu,
Holland seinem bisherigen Verbündeten abwendig zu machen.
Der Verfasser dürfte ein spanischer Niederiänder sein, der uns
vorliegende Druck eine Übersetzung des vermutlich französisch
geschriebenen Originals.
Keine der erwähnten antifranzösischen Schriften verbindet
mit der Warnung vor einer Universal-Monarchie das Lob einer
Gleichgewichtspolitik. Es ist daraus zwar nicht mit Sicherheit
zu schließen, daß nicht schon damals der Gleichgewichtsgedanke
gegen Frankreich geltend gemacht worden ist; auch später,
nachdem das mehrfach geschehen war, haben zahlreiche Schrift-
steller gegen Ludwigs XIV. universale Pläne geeifert, ohne die
Balance- Idee damit zu verbinden. Indessen ist es doch wahr-
— 48 —
scheinlich, daß zuerst eine Zeitlang der Welt der Gedanke zum
Bewußtsein gebracht werden mußte, daß nicht Habsburg, sondern
der bisherige zuverlässigste Verteidiger der Freiheit Europas,
Frankreich, die Welt seinem Gebot zu unterwerfen trachte, ehe
auf Grund dieses politischen Gedankens die weitere Folgerung
gezogen werden konnte, daß die systematische Unterstützung
des Hauses Habsburg die neue Basis der europäischen Politik
sein müsse.
Erst nach dem Pyrenäenfrieden war aller Zweifel an der
Niederlage auch der spanischen Linie der Habsburger geschwunden.
Es fragte sich, ob Frankreich auch im Glänze des Sieges fort-
fahren würde, sich als den Hort der Freiheit und der Unter-
drückten zu betrachten. Ludwig XIV. hat die Antwort auf diese
Frage gegeben; er war nicht gemeint, sich mit dem, was er besaß,
zu bescheiden. Weitausschauende Gedanken lagen in seiner
Brust. ^) Die spanische Heirat führte ihn zum Devolutionskriege,
und gleichzeitig wurde die Welt durch die Aufsehen erregende
Schrift des Parlamentsrats Aub^ry über den Umfang der An-
sprüche der französischen Krone belehrt.*)
Aber sofort eröffnete einer der kühnsten und weitblickendsten
österreichischen Staatsmänner, ein glänzender und fruchtbarer
Publizist, Franz Paul von Lisola, den literarischen Gegenangriff.*)
Noch 1667 ließ er seine bekannte Broschüre, »Le böuclier d'estat
et de justice", erscheinen. Der weitaus größte Teil ist juristisch-
historischen Widerlegungen der französischen Ansprüche auf die
spanischen Niederlande gewidmet; ein sechster Artikel aber be-
handelt die politische Bedeutung des Krieges, das »Interesse der
christlichen Fürsten«.*) Was aber bildet den Inhalt dieser Er-
örterungen? Eine Adoption des Gleichgewichtssystems des Herzogs
von Rohan, das nach Lisolas Meinung nur den einen Fehler hat,
bisher immer in falscher Weise angewendet worden zu sein !
>) vgl. Erdmannsdörffer: I>eutsche Geschichte 1648-1740. Berlin 1892 f. I, 505 ff.
Vast : »Des tentatives de Louis XIV pour arriver ä Tempire«. Rev. bist LXV (1 897), bes. S. 224.
S) D'Aub^ry: »Des justes pr£tensions du Roy sur TEmpire«. Paris 1667; vgl.
Erdmannsdörffer: a. a. O. S. 509 f.
*) »Le bouclier d'estat et de justice, contre les desseins manifestement d^couverts de la
Monarchie Universelle, sous le vain pretexte des pretentions de la Reyne de France." 1667. Vgl .
Pribram : »Franz Paul v. Lisola«. Leipz. 1894, S. 351 ff. über Lisolas schriftstellerische Tätigkeit.
*) a. a. O. S. 194 ff.
~ 49 —
Der erste Schriftsteller, der die Fahne des europäischen Gleich-
gewichts gegen Ludwig XIV. erhebt, knüpft bewußt an den
glänzendsten Vertreter der Oleichgewichtsidee vom französischen
Standpunkt aus an. Hätte man, ruft Usola aus, die Idee nur
immer in der rechten Weise und mit der rechten Kraft in die
Praxis umgesetzt, dann »genösse Europa heute tiefe Ruhe!«
Alles Unglück ist dadurch entstanden, daß man sich über die
Seite der politischen Wage geirrt hat, deren Gewicht man ver-
mehren mußte. Jetzt aber kann der Irrtum nicht länger ob-
walten, der die Mächte Europas »von ihrer wahren Staatsraison
hat abweichen lassen«. Man braucht nur Frankreichs und
Habsburgs Politik zu vergleichen, um klar zu sehen. ^) Die
habsburgischen Herrscher lieben den Frieden, achten im Innern
die Privilegien ihrer Stände, kämpfen für ganz Europa gegen
die Ungläubigen, und wenn sie siegreich sind gegen christliche
Mächte, beweisen sie edle Milde und Mäßigung. Karl V. und
Philipp II. haben der Welt diese Eigenschaften gezeigt,*) wie
kann man da behaupten, daß sie je nach einer Universal-Monarchie
verlangt haben? Das ist »ein lächerliches Schreckgespenst«*)
der französischen Diplomatie gewesen ! Frankreich dagegen bietet
der Welt ein anderes Bild. Kriegslustig und kriegsbedürftig ge-
horcht es einem absoluten Könige, stellt seine Sonderinteressen
denen der Christenheit voran,*) und gibt mit alle dem der Welt
Anzeichen genug »d'un vaste et profond dessein sem6 depuis
long-temps«.
Das Neue an Lisolas Auffassung der Gleichgewichts-
politik, wie er sie im »bouclier d'estat et de justice« vertritt, ist
lediglich die veränderte Richtung gegen Frankreich und nicht
mehr gegen Österreich, und die damit geforderte Wandlung der
europäischen Politik. Für unsere Untersuchung bedeutungs-
voller sind zwei andere Schriften von ihm, beide von 1673.
>) Auch dieser Vergleich ist nichts als eine Umkehrung der Gegenüberstellung
Frankreidis und Habsburgs bei Rohan; vgl. o. S. 41.
>) Lisola scheut vor gewaltsamen Oeschichtskonstruktionen um des guten Zweckes
willen nicht zurück.
s) a. a. O. S. 212.
<) Der Vorwurf richtet sieb natürlich gegen Frankreichs Beziehungen zu den
Türken.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht. 4
— so —
In dem »Appel de rAngleterre«*) sieht er von Rechtsfragen fast
ganz ab, um die politischen Konsequenzen des französisch-
englischen Krieges gegen Holland auszumalen. Aber er sucht
mit seiner wie stets leidenschaftlich franzosenfeindlichen Polemik
nicht mehr alle Mächte auf Grund des apodiktisch als notwendig
aufgestellten Qleichgewichtssystems zu beeinflussen, er wendet
sich vielmehr an England allein. Er schildert das Anwachsen
der französischen Macht, als deren Ziel schon Heinrich IV. die
Monarchie universelle vorgeschwebt habe, und das Vorgehen
Ludwigs XIV., um damit alle Fürsten und in erster Linie Karl IL,
»der dafür besonders empfänglich ist'', zu überzeugen, daß das
einzige Mittel, die allgemeine Sicherheit zu erhalten, darin besteht,
wdie Mächte Europas im Oleichgewicht zu halten«.*)
Gegen dies spezifisch englische Interesse aber verstößt der
englisch-französische Krieg gegen Holland. Was auch immer das
Resultat des Kampfes sein mag, es kann auf keinen Fall für
England wirklich nutzbringend sein. Der Krieg ist ein Fehler,
denn er entspricht nicht einem der Hauptgesichtspunkte, die
England und sein König in der gegebenen Situation beobachten
müssen, nämlich w der Notwendigkeit, Europas Schiedsrichter zu sein"
und »der Gefahr, die darin läge, dies Schiedsrichteramt aufzugeben«.*)
Also ein österreichischer Staatsmann ruft England zum
Kampf gegen die Obermacht Frankreichs auf, weist dem eng-
lischen Volk und seinem König die Stellung als ausschlaggebendem
Faktor in dem Gleichgewichtssystem Europas an und sucht zu
begründen, daß in einem bestimmten Falle das allgemeine Prinzip
in der Tat dem eigensten Interesse Englands entspricht. Die
gleiche Tendenz verfolgt im Jahre 1671 die umfangreiche
Broschüre eines spanischen Niederländers,*) der neben allerhand
1) nAppel de TAngleterre touchant la secitte Cabale ou Assembl^ ä Withad k et
envers le Orand Conscil de la Nation. Fait en Angle(teiTe) par un Zelateur de sa patrie".
Amsterdam 1673. Befindet sich in einem Sammelbande der Wiener Universitätsbibliothek
(I, 246420) als zweites Stück. Die w. u. S. 51 ») zitierte Schrift in demselben Bande an
sechster Stelle. Nach Pribram, a. a. O. S. 351 i) von Lisola höchst wahrscheinlich verfftfit.
Inhalt und Auszüge bei Heinlein: «Einige Flugschriften aus den Jahren 1667-78«: Pro«
gramm des Realgymnasiums zu Waidhofen a. d. Thaia. 1877. S. 3 ff.
«) a. a. O. S. 15.
>) a. a. O. S. 91 ; vgl. auch dieselbe Idee S. 67.
*) mLc politique desinteress^ ou ses raisonnements justes sur les affaires presentet
de TEurope." A Cologne 1671. Die Nationalität des Verfassers ergibt sich aus dem Lob des
neuen Gouverneurs der spanischen Niederlande, Monterey, (S. 214 ff.) und dem angefügten
Gedicht auf ihn.
— 51 —
nicht sehr zusammenhängenden politischen und historischen Be-
trachtungen, die sich alle gegen Frankreich richten und nur in
diesem Ziel eine gewisse Einheit finden, vor allem an England
einen Schirm der bedrohten Freiheit Europas zu finden hoffte.
Spanien und Frankreich, so meint er, suchen Englands Beistand,
aber während das eine Schutz und Aufrechterhaltung der Balance
begehrt, fordert das andere deren Beseitigung und gemeinsamen
Raub an dem Schwachen.^) Die Wahl dürfte für England nicht
zweifelhaft sein: v Heinrich VIII. hielt die Balance zwischen den
beiden Kronen, Elisabeth befolgte diesen Grundsatz; ebenso
Jakob; Karl I. tat desgleichen, und auch der gegenwärtige Herr-
scher hat sich dadurch zur Tripelallianz und zum Frieden von
Aachen leiten lassen . . . Das hieß, Englands Interesse folgen ! " ')
Nicht nur Neutralität, sondern offensive Kriegspolitik fordert
Europas Lage von Englands König, wenn »die Machtgleichheit,
der Friede und die Ruhe Europas bewahrt bleiben sollen.«*)
Allerdings sollen auch die anderen Fürsten nicht untätig sein,
auch sie verdienen Tadel, wenn sie sich allein dem augenblick-
lichen Sonderinteresse überlassen und an das »interest general«
gar nicht denken.*)
Einem anderen Zweck widmet Lisola die zweite Schrift
des Jahres 1673.*) Er möchte durch sie die Holländer in ihrer
Not aufrichten, sie gleichzeitig durch das Bild der bevorstehenden
französischen Weltherrschaft*) zum energischen Widerstand an-
spornen und ihnen Hoffnung auch auf den Beistand anderer
erwecken. Alle Mächte werden sich ihrer gerechten Sache an-
schließen, mit Ausnahme höchstens von Schweden und Portugal,
denn »es ist zu jeder Zeit eine Staatsmaxime gewesen, die Staaten
Europas in der Weise zu balancieren, daß keine unter ihnen zu
solcher Größe gelangt, daß sie den andern furchtbar wird«.^)
1) a. a. O. S. 127.
«) a. a. O. S. 129.
•) a. a. O. S. 136 f.
*) So mit Anwendung auf die deutschen Fürsten, S. 55.
&) »Considerations politiques au sujet de la guerre presente entre la France et la
Hollande.* Amsterdam 1673. Auszuge bei Heinldn, a. a. O. S. 7 ff. Auch Pribram hält
Lisola für den wahrscheinlichen Verfasser, a. a. O. S. 353.^)
«) a. a. O. S. 4 und S. 40.
r) a. a. O. S. 37.
4'
— 52 -^
Eben weil die Holländer auf die Hilfe rechnen dürfen, die ihnen
Europa wegen des Gleichgewichts bringen wird, müssen sie ihre
Güter und ihr Leben gegen den Feind einsetzen; es wird nicht
vergebens sein.
Im Beginne seiner Siegeszüge trat, wie wir sahen, Ludwig XIV-
bereits die Idee des europäischen Gleichgewichts gegenüber, in
der Form des Gegensatzes der zwei großen Fürstenhäuser und
ihrer Staaten, vertreten von Angehörigen der habsburgischen
Länder, bestimmt, ihnen die Unterstützung der auswärtigen
Mächte zu gewinnen. Zugleich aber wiesen zwei Schriften darauf
hin, daß England in dem System der sich balancierenden Mächte
berufen sei, die entscheidende Stellung einzunehmen und in der
Tat auch schon unter früheren Regenten eingenommen habe.
Aber während dieser Gedanke aus der politischen Literatur des
europäischen Festlandes mit Lisolas Tod, wie es scheint, für
mehrere Jahrzehnte ganz verschwand,^) hatte er schon zur
selben Zeit in England selbst wieder Aufnahme gefunden')
und war berufen, dort eine für lange Zeit, ja bis auf unsere
Tage bleibende Stätte zu finden.*)
2. Kapitel.
Es wäre nicht unmöglich, daß auch während der Regierungen
Jakobs I., Karls I. und Cromwells der Gedanke an Englands
ruhmvolle Stellung in der Welt unter der Königin Elisabeth in
der Literatur seinen Ausdruck in dem Bild von der politischen
Wage Europas mit England als ihrem Zünglein gefunden hat.
1) Allerdings ist gegen Ludwigs XIV. Streben nach der Universalmonarchie wenig-
stens während des Krieges von 1672—78 noch oft geeifert worden. Titel dahin gehöriger
Flugschriften, zu denen auch solche von Lisola gehören, hier zu nennen, ist nicht erforder.
lieh. Belege bieten v. Zwiedineck-Sfidenhorst : »Die öffentliche Meinung in Deutschland im
Zeitalter Ludwigs XIV. 1650-1700.« 1888. S. 22, 26, 50, 62 f. Ebenso Haller: »Die
deutsche Publizistik in den Jahren 1668-74. Heidelberg 1892. S. 21 f., 65 f., 75, 110 f.
Vgl. auch Eman. Münzer: »Die brandenburgische Publizistik unter dem großen Kurffirsten" :
»Märkische Forschungen« XVIII. (1884). S. 255, 258 und 282. Über die Art, wie Leibniz
sich in seinem 1670 geschriebenen Aufsatz über die Sekurität des 'Reichs die französische
Weltherrschaft dachte - als ein »arbitrium rerum in Europa« - vgl. Erdmannsdörfer :
Deutsche Geschichte, S. 536 ff., bes. S. 538. i)
«) s. 0. S. 28 ff. über sein erstes Auftreten.
>) vgl. die Formel für die jährliche Bewilligung des stehenden Heeres in England:
8. 0. S. 1.»)
— 53 —
Wirksam geworden ist er erst gegenüber der aufsteigenden Macht
der Bourbonen unter Ludwig XIV. Zuerst ausgesprochen finde
ich ihn bereits in einem Briefe des Grafen Arlington an Sir
William Temple vom 4. Oktober 1667 (a. St.).^) Allerdings
steht ihm der Graf selbst nicht sehr freundlich gegenüber,
wenigstens ist die politische Lage nach seiner Ansicht noch nicht
dazu angetan, daß sich England auf ein so weitaussehendes
Unternehmen einlassen dürfte, wie es "the keeping of the balance
even between the two crowns" wäre. William Temple selbst
schreibt am 27. Februar 1668 während der Verhandlungen, die
zum Aachener Frieden führten, an de Wit, Spanien müsse endlich
mit Portugal zum Abschluß kommen, um wieder imstande zu
sein, durch ungehinderten Widerstand gegen Frankreich die
Verhältnisse »in das notwendige Gleichgewicht zu bringen«.')
Später aber setzt er in einem Aufsatz für den Herzog von Or-
mond aus dem Oktober 1673 auseinander, England müsse ein
Bündnis mit Spanien schließen, um dadurch nun seinerseits »das
wahre Gleichgewicht der Christenheit aufrecht zu erhalten«.')
Schon aber hatte sich die Publizistik des gleichen Themas be-
mächtigt.
Noch vor dem Ausbruch des französisch -holländischen
Krieges schrieb Thomas Manley*) ein kräftiges Pamphlet gegen
Frankreich, das er aber wegen Karls IL schon damals offen-
kundiger Hinneigung zu Frankreich nicht veröffentlichte. Es
erschien erst 1689, wir weisen ihm aber in dem Zusammen-
hang seine Stelle an, dem es seine Entstehung verdankt.*)
i) Die betr. Stelle ist gedruckt bei Ranke: »Englische Oeschichte«, V, 52.
«) „The Works of Sir William Temple«. London, 1770. I, 390.
*) a. a. O. 11, 238. Die politische Bedeutung Temples ist zwar nach Emerton:
»Sir William Temple und die Tripelallianz vom Jahre 1668«, Leipz. Diss. 1877, stark
fiberschätzt worden. Wenn das von Emerton gezeichnete Bild richtig ist, so wfirden
Temples Äußerungen zwar nicht auf Originalität, daffir aber auf Wiedergabe der allgemeinen
Meinung der diplomatischen Welt Anspruch m achen können. Vgl. indessen Rankes Urteil
über Temple: »Englische Geschichte- III, 281 (WW. X).
4) vgl. fiber seine sonst unbedeutende literarische Tätigkeit das »Dict of Nat.
Biogr.-, Bd. XXXII.
6) Neugedruckt im »Harldan Miscellany of Tracts-, London 1744 ff. Der Titel
ist langatmig: »The present State of Christendom examined, and found languishing, oc-
casioned by the Oreatness of the French Monarchy: For Cure whercof, a Remedy (from
former Examples), is humbly proposed. Wrote upon occasion of the House of Commons
vote to reise 80000 1. to equip a fleet for the year 1671, moved thereunto by the pretended
march of the French Army, towards the Maritime Parts of Flanders.« By Thomas Manley
Esq. 1689. I, 190 ff.
— 54 —
Manley lenkt die Aufmerksamkeit seiner Landsleute auf den sieht-
baren Niedergang Spaniens und den Aufschwung der französischen
Macht, deren junger Herrscher sich die „Western Monarchy" zum
Ziel gesetzt habe. Um diesem Ziele näher zu kommen, habe er sich
bemüht, England und Holland miteinander zu verfeinden.^) Das
einzige Mittel, Ludwigs XIV. Plänen wirksam zu begegnen, sieht
Manley in der Wiederaufnahme der Politik früherer englischer
Herrscher, die mit Nichtachtung, ihrer Ruhe und selbst ihres
Lebens die europäischen Mächte balanciert, ihre Waffen immer in
die leichtere Wagschale geworfen und dadurch ihren eigenen
Frieden und ihre Sicherheit gerettet haben. Schon daß er gegen
diese Regel der politischen Kunst gefehlt hat, würde genügen, um
Cromwell zu einem hassenswerten, schlechten Politiker zu machen.*)
Natürlich erkennt Manley Elisabeths Politik im Gegensatz zu der
Cromwells rühmend an, und ebenso lobt er die Tripelallianz.
Aber er ist der Meinung, daß sie nicht mehr genüge, solange
»das rechte Gleichgewicht so sehr gestört bleibe" und Frankreich
Holland bedrohe. Denn wenn wirklich Holland in französische
Gewalt gerät, ist auch England verloren, da es allein gegen
Ludwig XIV. zu schwach ist; ebenso wie alle anderen Nationen
verloren wären, wenn Frankreich sich zuerst auf England stürzte,
und sie nicht helfend eingriffen. Deshalb müssen England und
mit ihm die anderen Mächte die erste günstige Gelegenheit zu
einem offensiven Kriege gegen Frankreich ergreifen und so das
ausgezeichnete Beispiel befolgen, das einst Richelieu und Oxen-
stierna durch ihren Kampf gegen das übermächtige Habsburg
gegeben haben.*)
So sieht Manley Englands Freiheit mit der des übrigen Europa,
besonders der Hollands, unauflöslich verbunden, und das Gleich-
gewichtssjrstem scheint ihm das Mittel, beide zu erhalten. Darin
liegt für ihn wie für alle folgenden Publizisten die Basis der
^) Ein sehr häufiger Vorwurf. Vgl. z. B. den »Appel de TAngleterre" (s. o. S. 50 1)
S. 31; den vielleicht von Lisola verfaßten »Veridicus Oallicus" (Wiener Univ.-Bibl.) S. 11;
Pribrani, S. 353 1).
>) Auch diese Anklage gegen Cromwell begegnet uns immer wieder, z. B. noch bei
Bolingbroke: Works, London 1754. II, 388.
S) Es ist interessant, daß hier, noch in verhältnismäßiger zeitlicher Nähe der höchsten
habsburgischen Machtentfaltung, Richelieu als Qleichgewichtspolitiker gelobt wird. Später
verwischt sich die Erinnerung daran und wird erst in der französischen Literatur zur Zdt
des Siebenjährigen Krieges wieder lebendig.
— 55 —
Balancepolitik Englands. Doch verbindet sie sich bei den ver-
schiedenen Schriftstellern mit mehreren anderen Gesichtspunkten und
erhält dadurch in jedem einzelnen Falle ihr spezifisches Gepräge.
Für Manley kommt nur ein besonderes Moment neben dem all-
gemeinen in Betracht. Er macht sich selbst den Einwurf, daß
ein Krieg gegen Frankreich England nicht nur keinen greifbaren
Nutzen bringen, sondern seinem Handel schwere Wunden schlagen
würde. Aber nach seiner Meinung ist der Einwand in doppelter
Weise nicht stichhaltig. Gesetzt, Englands Handel würde wirklich
schwer durch einen französischen Krieg leiden, so gilt es, den Ver-
lust während des Kampfes zu ertragen, wenn dadurch die nationale
Freiheit und der mit ihr bedrohte Handel für immer gerettet
werden können. Außerdem ist es aber gar nicht einmal gewiß,
daß der englische Handel von einem französischen Kriege geschädigt
werden wird, vielleicht ist gerade das für ihn die einzige Möglich-
keit, sich auszubreiten und den Handel Frankreichs zu vernichten. -
Eine sehr beachtenswerte Hypothese ! In der ersten uns bekannten
englischen Broschüre über die Bedeutung der Gleichgewichtspolitik
für England wird die Perspektive eröffnet, die französische Handels-
konkurrenz durch sie zu vernichten. Dem Verfasser erscheint die
Aussicht allerdings als eine unsichere, er scheint sie nur zu er-
öffnen, um einem gewichtigen Einwand gegen die von ihm ver-
tretene Politik zu begegnen, aber leicht kann aus dieser eventuellen
Aussicht ein unmittelbarer politischer Antrieb werden. - Berechnet
hat Manley seine Schrift auf das englische Publikum, um es gegen
die Politik der Regierung einzunehmen.
In anderer Beziehung verdient eine ebenfalls noch vor dem
französischen Angriff auf Holland geschriebene Broschüre erwähnt ,
zu werden. ^) Ihr Verfasser gibt sich für einen englischen Pres-
byterianer aus. Dem ganzen Inhalt nach kann kaum ein Zweifel
sein, daß diese Angabe auf Wahrheit beruht*) Er erklärt, von
zwei Dingen handeln zu wollen, vom Staat und von der Religion,
^) «Trait^ politique sur les mouvemens prcscns de rAngleterre contre ses interests
et ses maximes fondamentales*. Ville Franche 1672. Wiener Univ. Bibliothek, Sammelband.
>) Pribram, a. a. O. S. 353^) erwähnt eine Schrift Lisolas, die mit dieser englischen
Schrift bis auf die letzten Worte, die dort fehlen, gemeinsamen Titel führt, aber von 1671
datiert ist. Leider habe ich sie nicht erhalten können. Es scheint mir unmöglich anzunehmen,
daß diese Broschüre Lisolas mit der mir vorliegenden hier besprochenen Flugschrift in
engerem Zusammenhang steht. Möglicherweise ist nur. der Titel übernommen worden.
— 56 —
um Englands Volk über die Politik des Kabinetts aufzuklären.
Ganz ähnlich wie Thomas Manley sucht er zu zeigen, daß »Eng-
lands Ruhe von der Ruhe Europas abhängig ist, und daß diese
Ruhe die Wirkung des ewigen Gegensatzes zwischen Spanien und
Frankreich ist".^) Diesen Gegensatz muß England nach dem
Muster Heinrichs VIII. und Elisabeths regulieren. Der Verfasser
erzählt darauf, mit welchen Künsten Frankreich es fertig gebracht
hat, England in den letzten Jahren von der Oleichgewichtspolitik
abzudrängen, wie Karl IL durch die Aussicht auf eine Retablierung
seines Verwandten, des Prinzen von Oranien, zu seiner feind-
seligen. Haltung gegen die Republik gebracht worden ist Schlimmer
aber als die Interessen des Staates werden durch die Politik des
englischen Ministeriums die der Religion verletzt Elisabeth hat
auch aus religiösen Motiven Heinrichs IV. Partei ergriffen, und
Cromwell hat aus denselben Gründen den Krieg gegen die Oeneral-
staaten so bald wie möglich beendet. Karl II. aber hat seine Re-
gierung mit der Wiedereinführung der Bischöfe begonnen und
hat den Marquis von Argyle hinrichten lassen,*) dessen »Manen
nach Rache schreien", und dessentwegen wder Himmel diesen
Fürsten strafen wird, weil er der Henker eines Unschuldigen und
wahren Märtyrers des Glaubens gewesen ist".*) Die Rücksicht
auf den Protestantismus ebenso wie auf Englands politischen Vor-
teil fordert, daß die Politik der Tripelallianz fortgesetzt wird, und
daß »dieser Wahnsinn«, der Krieg gegen Holland, endlich auf-
hört Beide Ziele will der Verfasser durch die erprobte Anwendung
des Balancesystems erreichen, zu der er Englands Volk und Re-
gierung zu bewegen sucht, zu der er eventuell aber auch das Volk
gegen die Regierung aufzureizen denkt; der gelegentlich sehr
bittere Ton seiner Anklagen gegen die Regierung läßt daran
nicht zweifeln.
Noch enger mit der inneren englischen Politik verwoben
sind die Ideen des Verfassers von zwei bald nacheinander, die
eine kurz vor, die andere kurz nach der Eröffnung der Feind-
«) a. a. O. S. 6.
S) Der Marquis von Argyle, bekannt als Oegner Karls I., wurde trotz der Amnestie
nach der Restauration vor dem sdiottisdien Parlament angeklagt und 1661 hingerichtet;
vgl. Ranke: Englische Geschichte IV, 350. (S. W. 17.)
8) a. a. O. S. 44.
— 57 —
Seligkeiten durch die englische Flotte geschriebenen Pamphleten.^)
Sie gehören nach Inhalt und Tendenz beide so eng zusammen,
daß wir sie ungesondert besprechen. Ihr Verfasser macht kein
Hehl aus seinem grimmigen Haß gegen die Hofpartei, die des
Königs »grundlose Kriege gegen die protestantischen Staaten*) und
seine sündige und närrische Verbindung mit den Franzosen« ver-
schuldet hat*) Dagegen erhebt er nun seine Forderungen, die,
so verschiedener Art sie sind, doch wohl, ohne den Gedanken
des Verfassers Gewalt zu tun, sich auf die Grundforderung vereinigen
lassen, daß der König in der gegenwärtigen Lage »die Balance
halten und über sie absolut als Schiedsrichter walten muß zwischen
allen seinen Nachbarn, während diese durch Kriege ermüdet und
gebrochen sind, um so den Frieden wieder herzustellen, das Recht
wieder in seihe Stelle einzusetzen und das Interesse der englischen
Nation kräftig zu fördern«.*) Worin besteht nun aber Englands
Interesse an der Gleichgewichtspolitik? Natürlich vor allem darin,
daß durch sie Holland und die spanischen Niederlande vor Frank-
reich gerettet werden, das sonst durch deren Eroberung sich einen
bequemen Weg zur Eroberung Europas*) bereiten würde, die
auch »das arme England« zwingen würde, »den Nacken unter
das französische Joch zu beugen«. Dazu kommt die zu befürchtende
Vernichtung des Handels und der Kolonien. Aber noch mehr
Güter stehen auf dem Spiele! Englands »altes Interesse« besteht
auch in der »Erhaltung der Religion, der gerechten Freiheit und
Sicherheit der Parlamente, der wünschenswerten Harmonie zwischen
Seiner Majestät und ihnen, der Sicherheit und des Vermögens des
Volkes«.*) Und alles das wird durch die Wendung gegen Frankreich
geschützt werden, denn nur dieses bedroht Englands heiligste Güter
durch seinen Bund mit den absolutistischen Bestrebungen Karls IL;
dessen Ziele sind eben nicht identisch mit den Zielen des englischen
Volkes, er verfolgt ein besonderes Interesse, nämlich seine Freiheit
vom Parlament, das er ganz abzuschaffen gedenkt, die ungehinderte
^) «The English Ballance, wdghing the reasons of Englands present conjuncüon
with France, against the Dutch«. 1672. Kgl. Univ.-Bibl. zu Oöttingen.
>) aStaaten« ist hier im technischen Sinne von »Oeneralstaaten« gebraucht.
^ a. a. O. S. 39.
«) a. a. O. S. 22.
») »this part of the World-, a. a. O. S. 57.
«) a. a. O. S. 61 f.
— 58 —
Verfügung über Armee und Schatz, das »stat pro ratione voluntas"
in Staats- und Kirchensachen. ^) Um diese Pläne durchzuführen,
bedarf der König der Hilfe Ludwigs XIV.; um sie zu vereiteln,
muß Englands Volk auf den Kampf gegen die werdende Welt-
macht dringen, muß es sich auf Hollands Seite stellen, muß es
das europäische Gleichgewicht erhalten. - Äußere und innere Politik
verschlingen sich unauflöslich. Wer, wie der Verfasser der vor-
liegenden Flugschriften, Nonkonformist und Konstitutionalist ist,
antipäpstlich und antiabsolutistisch fühlt, muß sich gegen die
katholisch-absolute französische Königsmacht wenden, muß in
einem festen Bündnis mit den republikanisch - calvinistischen
Oeneralstaaten Englands wahre Politik erkennen. Nicht aus
irgendwelchen Idealen für die Bewahrung der Selbständigkeit
aller bedrohten Staaten Europas, sondern aus konfessionellen und
konstitutionellen Beweggründen sucht der Verfasser Englands Volk
zur Qleichgewichtspolitik zu veranlassen. Die Rücksicht auf die
materiellen Interessen dient ihm nur dazu, seinem Systeme größere
werbende Kraft zu verleihen. Übrigens dürfte nicht bestimmt zu
sagen sein, wie sich der Verfasser sein Qleichgewichtssystem
gedacht hat. Er erwartet von Spanien und dem Kaiser so wenig,*)
daß ihm kaum ein Zweimächtesystem, sondern mehr eine Kon-
föderation aller Schwachen mit England als Kristallisationspunkt
gegen den einen Starken vorgeschwebt haben wird. Auf die Um-
stände, die nicht viel später Habsburgs Rolle in der Balance Europas
wieder aufs neue betonen ließen, kommen wir noch zurück.
Hatte die Opposition seines Volkes Karl 11. schon nach
kurzem Kampfe 1674 zum Frieden gezwungen, so fuhr die
politische Presse trotzdem in ihren Angriffen gegen Frankreich
fort. Eine Schrift von 1677 verlangt, mit den bekannten Aus-
führungen über die unmittelbare Gefährdung Englands durch die
Fortschritte Frankreichs auf dem Kontinent, England solle sofort
nachdrücklich in den Krieg eingreifen, da »in dieser gefährlichen
Krisis es der göttlichen Vorsehung gefallen hat, England als Schieds-
richter über das Schicksal Europas einzusetzen und diesem Amte
solche Vorteile beizufügen, daß Ehre, Pflicht und Sicherheit der
1) a. a. O. S. 62.
«) vgl. a. a. O. S. 57.
— 59 —
Nation eng verschlungen zu sein scheinen".^) Unter »Sicherheit'»
aber ist nach der Ansicht des Verfassers offenbar nicht nur die
Abwendung der Gefahr einer Eroberung zu verstehen, sondern
auch die der Vernichtung des englischen Handels, dessen Interessen
die Flugschrift vielleicht das Hauptmotiv ihrer Entstehung ver-
dankt. Denn der Gedanke der französischen Universalmonarchie
wird hier in sehr charakteristischer Weise mit dem eines » Universal-
handels" verbunden, mit der Begründung, daß dieser »nur die not-
wendige Konsequenz jener ist«.*) Daher werden beide gleichzeitig
vereitelt, wenn England sein Schiedsrichteramt ausübt, das heißt,
mit dem gebräuchlicheren Ausdruck, das Gleichgewicht bewahrt.*)
Wegen der in ihr zitierten älteren Schriften und des dadurch
deutlichen Zusammenhangs der publizistischen Ideen verdient eine
gleichfalls aus dem Jahre 1677 oder Anfang 1678 herrührende
Schrift einige Worte.*) Sie eifert aus allgemein politischen und
kommerziellen Interessen gegen Ludwig XIV., dadurch der voran-
gehenden Schrift verwandt, begründet Frankreichs Pläne zur Er-
ringung der Weltherrschaft unter anderem mit dem »großen Pro-
jekt« Heinrichs IV., zitiert zu demselben Zwecke Aub6rys »des
justes pr^tensions du Roy sur l'Empire«,*) und stützt das von
ihr vertretene Balancesystem auf »das kleine, aber gewichtige Buch
des ausgezeichneten Herzogs von Rohan«, der es als Englands
Interesse bezeichnet habe, immer das Gleichgewicht zwischen
Frankreich und dem Haus Österreich zu halten, und wenn einer
eine überragende Stellung gewönne, ihn »zu einer Gleichheit zu
reducieren«. •) Historische Beispiele bekräftigen die Richtigkeit
der Regel.
Vor und während des französisch -holländischen Krieges
hatte die Publizistik die Gemeinsamkeit der englischen und
>) nThe present State of Christendom, and the Interest of England, with a regard
to France: Harleian Mise. I, 242 ff.
«) a. a. O. S. 245.
>) Dafür, daß »holder of the ballance* und »arbiter of Europe* gleichbedeutend in
dieser Zjc'it gebraucht werden, vgl. Lisolas »Appel de TAngleterre«, s. o. S. 50.
*) »Christianissimus Christianandus : or reasons for a reduction of France to a more
Christian State in Europe.« Gedruckt in »A Collection of State Tracts, published during
the Reign of King William III*. London 1705 ff. I, 394 ff. Das Datum ergibt sich nur
aus dem Inhalt: der terminus ante quem ist der Friede von Nymwegen.
6) a. a, O. S. 396; vgl. o. S. 48.
•) a. a. O. S. 417 f.
— 60 —
holländischen Interessen gegenüber der Politik Karls H. vertreten.
Nach dem Frieden von Nymwegen schien auch die Politik des
englischen Königs ähnlichen Antrieben folgen zu wollen. Die
im Beginn 1680 im Haag geführten Unterhandlungen über ein
englisch - niederländisches Bündnis^) scheinen einen Anhänger
dieser Bestrebungen bewogen zu haben, seine Gedanken darüber
zu veröffentlichen.*) Nach seiner Ansicht ist Frankreich durch
seine vollendete innere Einheit, sein besonders auch in finanziellen
Fragen absolutes Königtum und neuerdings durch seine starke
Seemacht auf dem besten Wege zur Weltmonarchie. Den ent-
scheidenden Anstoß zur Realisierung des großen Plans gibt die
Persönlichkeit Ludwigs XIV. Frankreich wird zuerst die spanischen
Niederlande, dann das Deutsche Reich bis zum "complete Con-
quest of that Brauch of the miserable House of Austria" unter-
jochen. Das wird das Zeichen sein, um von den belgischen
Häfen aus England zunächst in Irland anzugreifen und es seiner
»Dominion of the Sea" und überhaupt seines Handels zu
berauben.
Nicht minder bedroht ist dadurch der Protestantismus, und
doch hat während des letzten Krieges Karl IL sich tatenlos ver-
halten, als ob nicht der Ruhm seiner Vorfahren gerade im
''holding and casting of the Balance of Europe, and Protection
of the Protestant Religion" bestände.*) Allerdings ist Frankreich
schon so stark geworden, daß kein einzelner Staat mehr fähig
ist, es zu balancieren,^) und auch Qelegenheitsbündnisse ihren
Zweck nicht erfüllen. Deshalb muß in Europa ein neues v Kapital
an Macht und Interesse aufgebracht werden«,*) um das Gleich-
gewicht zu schützen, damit »es nicht wieder in ein Chaos gestürzt
1) vgl. Ranke: „Englische Geschichte* V, 270 f.
>) „Discourses upon the modern affairs of Europe" etc : Harleian Mise. I, 411 ff.
Datiert vom Haag, 24. 5. 1680.
Der Verfasser dürfte Engländer sein, so wenn er den uns schon andeutungsweise
begegneten Gedanken vertritt (s. o. S. 56 ff.), eine englisch-holländische Allianz würde Karl II.
mit seinem Parlament versöhnen (S. 422), oder für England die «Dominion of the Sea*
<S. 416) beansprucht, oder die Furcht vor englischem Ehrgeiz zurückweist und sich auf
Heinrich VIII. beruft (S. 420), der nichts wollte, als zwischen Karl V. und Franz I. die
Balance halten.
») a. a. O. S. 416.
*) Hier wird besonders deutlich dem »miserable House of Austria« jede besondere
Bedeutung für das Gleichgewicht abgesprochen.
&) "there must be a new Fund of Power and Interest raised up*': a. a. O. S. 417.
— 61 —
werde, aus dem die Franzosen eine Universalmonarchie machen
können«.^) Dieser Zweck wird allein durch eine festgefügte
Verbindung zwischen Holland und England erreicht werden,
deren nächste Spezialaufgabe der Schutz der spanischen Nieder-
lande sein müßte, der für England und Holland wertvoller ist
als für Spanien,*) und deren allgemeine Bedeutung darin bestehen
würde, daß durch sie das europäische Gleichgewicht erhalten
wird, wodurch diese Liga zugleich einen Universalzweck für
ganz Europa erfüllen und darin ihre höchste Rechtfertigung
finden würde. Die ausschlaggebende Stellung Englands können
sich alle Staaten unbedenklich gefallen lassen. Anders wie die
Völker des Kontinents hat es von Gott in dem Meere, das es
von allen Seiten umspült, eine so starke natürliche Grenze er-
halten, daß ihm Ausdehnung zum Schaden anderer verwehrt ist.
Sein Ehrgeiz kann nur das eine Ziel haben, nach Heinrichs VHI.
Vorbild Schiedsrichter in den Kämpfen der großen Festlandsmächte
zu sein. Nichts kann daher Holland abhalten, mit ihm ein
festes Bündnis zu schließen.
In dieser Wendung an Holland liegt gewiß die eine
*
Tendenz der Schrift, die im übrigen auf die Engländer selbst zu
wirken sucht. Sie wäre dann die erste, die für Englands Gleich-
gewichtspolitik im Auslande, und zwar in einem bestimmten
Staate, Billigung zu finden hoffte. Sämtliche vorher zitierten
englischen Pamphlete sind dagegen nur auf die Wirkung innerhalb
Englands berechnet; das würde schon daraus hervorgehen, daß
sie ausnahmslos zu der Politik der englischen Regierung im
Gegensatz stehen. Die Schrift des Jahres 1680 zeichnet sich vor
allen anderen auch dadurch aus, daß sie das große Ereignis von 1 688
gewissermaßen vorausnimmt: die Verschmelzung der englischen
und holländischen Politik mit dem Oberwiegen des englischen
Einflusses, die seit der glorreichen Revolution immer mehr das
bestimmende Element in der europäischen Gleichgewichtspolitik
wird, bildet schon die Grundlage des Systems des Verfassers.
Der Zusammenhang der kontinentalen Machtgruppierungen mit
1) " . . . to keep the Balance of Earope from being callcd back into a Chaos, out
of which the French may form a Universal Monarchy": a. a. O. S. 417.
«) a. a. O. S. 416.
— 62 —
den Interessen Englands als selbständiger, Handel treibender und
protestantischer Macht, der dadurch bedingte Gegensatz zu
Frankreich, bildet den Inbegriff des Oleichgewichtssystems, wie
es vom englischen Standpunkt aus aufgefaßt wird, unter Betonung
der allgemeinen Bedeutung des Systems für ganz Europa, seinen
Frieden und seine Sicherheit. Es ist die typische Form, der sich
die englische Gleichgewichtsliteratur der nächsten Jahrzehnte an-
schließt, je nach den Umständen das eine oder das andere Moment
stärker hervorhebend oder vernachlässigend, mehr oder minder
aber auch im Dienste der inneren Parteigegensätze. Denn das
ist ja das Charakteristische der englischen Politik des 17. und
18. Jahrhunderts, daß sie nicht wie die der maßgebenden
Kontinentalstaaten von einer autoritativen Stelle aus ohne Wider-
spruch des Landes gelenkt wird. Bei der Betrachtung der eng-
lischen Publizistik darf das nicht übersehen werden.
3. Kapitel.
1. So war das Gleichgewichtssystem, das wir gern mit dem
Namen Wilhelms 111. bezeichnen,^) gedanklich ausgebildet und im
politischen Kampfe mehr als einmal verwertet worden, ehe der
große Dränier den englischen Thron bestieg und in Wirklichkeit
umzusetzen unternahm, was so lange nur politisches Postulat
gewesen war. Er brauchte nicht, wie Karl IL, erst aufgefordert
^) vgl. Meinberg: «Das Oleichgewichtssystem Wilhelms III., und die englische
Handelspolitik". Berlin 1869. M. macht darauf aufmerksam, daß die rastlose politische
Tätigkeit des großen Oraniers, die ganz Europa gegen die Übermacht Ludwigs XIV. zu
einen suchte, bis zum Jahre 1688 ihren lebendigen Antrieb aus der Not und Bedrängnis
Hollands erhielt, während nach Wilhelms Erhebung auf den englischen Königsthron die
englischen See- und Handelsinteressen ihn in dieselben Bahnen einer antifranzösischen
Politik wiesen, so daß wir wenigstens in dieser späteren Zeit seines Lebens die englischen
Handelsinteressen als den realen Inhalt des nach seinem Namen genannten Oleichgewichts-
systemes zu betrachten haben.
Ob gerade Wilhelm III. persönlich auf die Vorstellungen von der politischen Balance
viel Einfluß gehabt hat, läßt sich nach M.s Darstellung nicht entscheiden; daß die prak«
tischen Erfolge seiner Politik der Idee eine außerordentlich gesteigerte Verbreitung und zuerst
auch offizielle Anerkennung gegeben haben, geht nicht nur aus der Flugschriftenliteratur
hervor, sondern z. B. auch aus dem Friedensvertrag zwischen England und Spanien vom
13. Juli 1713, Art. II., in dem als Ziel des Friedens bezeichnet wird »de r^blir la Paix et
la tranquillit6 de la Chr6tient6 par un juste 6quilibre de puissance": Lamberty: »M6moires
p. s. ä rhistorie du XVIIIe siecle-, A la Haye, 1731 ff. VIII, 377.
In dem Vertrag zwischen England und den Staaten vom 24. August 1689 und in
der sog. »Großen Allianz« vom 7. September 1 701 ist nur von »repos et tranquillit^ de TEurope"
oder von der Gefahr der Freiheit Europas die Rede : Lamberty, a. a. O. I., 462 und 621 ff.
— 63 —
zu werden, das europäische Oleichgewicht zu verteidigen. Wir
dürfen uns daher nicht wundem, daß während des Krieges von
1689-97 die Qleichgewichtsliteratur nicht nur nicht anschwillt,
sondern im Gegenteil ihr Strom recht spärlich fließt. Wir werden
daraus schließen dürfen, daß auch jetzt die Idee des Oleichgewichts
in erster Linie nicht einer Rechtfertigung der englischen Politik
vor dem Auslande, sondern vor den heimischen Parteien diente.
Die Bestätigung wird uns die Publizistik zu Beginn und während
des Spanischen Erbfolgekrieges gewähren.
Es fehlen uns aber nicht etwa ganz uns interessierende Erzeug-
nisse der politischen Literatur während der neunziger Jahre des
1 T.Jahrhunderts. Es sind uns eine Reihe von Flugschriften überliefert,
von denen mehrere Wilhelms IIL Kriegspolitik verteidigen.^) Sie er-
innern England daran, daß der Krieg um die höchsten geistigen, poli-
tischen und materiellen Interessen geführt wird, die notwendigen
schweren Lasten daher willig getragen werden müssen. Alle pole-
misieren gegen die Obermacht Frankreichs, die meisten sprechen von
der drohenden Universal-Monarchie. Nur eine Flugschrift verbindet
damit die Oleichgewichtsbestrebungen. *) Sehen wir, inwiefern
sie Neues bietet. Ihr Verfasser untersucht gelegentlich französischer
Friedensanerbietungen unter schwedischer Vermittelung die Ziele,
die England in einem annehmbaren Frieden erreichen muß. Er
verlangt vor allem eine starke Barriere für Holland und zwar
erstens, weil Hollands Unterwerfung Frankreich zum Oebieter in
Europa machen würde, zweitens, weil Frankreich durch sie Herr
des englischen Handels werden würde. Aber auch seinen übrigen
Verbündeten muß England günstige Friedensbedingungen ver-
schaffen, und indem der Verfasser das mit den anderen Forderungen
kombiniert, fährt er fort: »Es ist das allgemeine Interesse der
gesamten Christenheit, das Haus Österreich wieder in eine gewisse
Oleichheit mit Frankreich zu bringen. Dies »Equilibrium« ist
^) »The Pretences of the French Invasion examined, for the Information of the People
of England". London 1692: Harl. Mise. VIII, 407 ff., u. Somers' Tracts, 1813, X, 349 ff.
Zwei Schriften des extremen Whig und Nonkonformisten John Hampden : Collection
of State Tracts, II, 309 ff., 320 ff. Beide von 1692. Ebenso »Short and important conside-
rations« etc.: State Tracts, II, 299 ff.
Auch Charles Davenant : »An Essay of the Ways and Means of Supplying the War" :
Works, I, 3 ff. aus dem Jahr 1695, gehört hierher: vgl. u. S. 65 >) >).
>) »Reflexions upon the Conditions of Peace, offered by France; and the Means to
be employed for the procuring of better". Printed 1694: State Tracts, II, 41 2 ff.
— 64 —
notwendig für die Sicherheit der Völker und ebenso für die der
Fürsten. Das besondere Interesse Englands aber ist es, diese
Gleichheit wiederherzustellen, so daß es die Wage in der Hand
haben und auf die von ihm gewünschte Seite wenden kann. Das
ist das einzig mögliche Mittel für uns, nicht nur das »Empire
of the Seas« aufrecht zu erhalten, dessen Besitz wir in so ruhm-
reicher Weise wiedergewonnen haben, ^) sondern uns auch zu be-
fähigen, über den Erfolg des Krieges und über die Friedensbedin-
gungen zu entscheiden." Um diese Aussichten, die dem Verfasser
auf Grund ^iner den größten Teil der Flugschrift einnehmenden
Schilderung der militärischen Lage erreichbar erscheinen, zu rea-
lisieren, rät er zur Fortsetzung des Krieges. — Zweierlei zeichnet
diese Flugschrift aus, die gehobene Stimmung des Engländers,
sein gefestigtes Gefühl für die endlich wiedergewonnene Be-
deutung seines Landes in der europäischen Staatenwelt, und
andererseits die Bedeutung, die er für das Haus Österreich in
Anspruch nimmt. Es ist ganz augenscheinlich der Aufschwung,
den die Macht der deutschen Habsburger durch die glänzenden
Siege im Türkenkriege und die Eroberung Ungarns genommen
hat, der seinen Ausdruck in der Gleichgewichtsauffassung findet *)
2. Die Zahl der englischen Broschüren und Flugschriften
aus den Jahren 1700 und 1701, die für unsere Untersuchung
in Betracht kommen, ist so groß, daß sich ein Eingehen auf
jede einzelne verbietet.*) Wir finden zudem in ihnen immer
1) Anspielung auf die Schlacht von La Hogue, im Mai 1692: Erdmannsdörffer:
Deutsche Geschichte, II, 24.
*) vgl. Ranke, S. W. XXIV, 15 f. über das neue Österreich der Tfirkensiege.
*) Die Titel werden nur hier vollständig genannt und von 1-9 numeriert; alle
späteren Verweisungen geben nur die Nummer und Seite an.
I. (Defoe): »The two great questions considered". London 1700. Brit. Museum.
Von demselben »The two great questions further considered", London 1700, gibt nichts Nenes.
II. bA letter to a Member of Parliament in the Country, conceming the present
poshire of affairs in Christendom"; datiert vom 1. Dez. 1700: State Tracts III, 194 ff.
III. Lord Somers: »Anguis in herba: Or the fatal consequences of a treaty with
France-. 1701. State Tracts III, 312 ff.
IV. »An Essay upon the present Interest of England.« 1701. State Tracts III, 154 ff.
V. ,The Claims of the People of England essayed, in a letter from the country.*
1701. State Tracts III, 1 ff.
VI. u. VII. »The Duke of Anjou's Succession considered, as to its legality and to
its consequences", 1701, und »The Duke of Anjou's Succession further considered, as to the
danger that may arise from it to Europe in general; but more particularly to England,
and the several branches of our trade". 1700: State Tracts III, 22 ff. und 44 ff.
VIII. Charles Davenant: »An Essay upon the Ballanceof Power." 1701. Works III, 297 ff.
IX. „The danger of Europe, from the growing power of France". Nov. 1701.
State Tracts III, 343 ff.
— 6S —
wieder dasselbe mit meist geringfügigen Variationen. Wir werden
daher die von ihnen vertretenen Forderungen im Zusammenhang
darstellen und darauf einige Bemerkungen über die praktischen
Ziele hinzufügen, die sie etwa noch außer den innerhalb des
Balancesystems vereinigten Tendenzen verfolgen.
Der Ausgangspunkt für alle Schriften ist natürlich der Tod
Karls IL von Spanien. Die Gefahr einer Universalmonarchie
schien dadurch in drohendere Nähe gerückt als je zuvor. ^)
Während aber bisher allgemein das Wort »Universal Monarchy«
oder 1» Empire universel" hatte genügen müssen, um Frankreich
als den Feind Europas erscheinen zu lassen, versuchte jetzt der
bedeutende politische Schriftsteller Charles Davenant,') seinen
Landsleuten in einer Abhandlung zu beweisen, daß der das
Wort begleitende Schrecken wohl begründet sei.*) In einem
ersten Teile gibt er die psychologische Erklärung des manchen
Völkern innewohnenden Dranges nach Weltherrschaft, erläutert die
relative Ausdehnung, die man dem Begriffe unterlegen müsse,*)
und zeigt an Beispielen der Geschichte, daß in alter und neuer
Zeit verschiedene Völker tatsächlich mit derartigen Bestrebungen
große Erfolge errungen haben. Eingehender spricht er von der
türkischen und der spanischen Universalmonarchie und begründet,
warum sie nicht zur Vollendung gelangten, um dann auf Frank-
reich überzugehen, das nach seiner Meinung der Universalherr-
schaft schon nahe gekommen ist und durch die Erwerbung
Spaniens die ganze Welt in die größte Gefahr bringen würde;
''this sad prospect" fügt er hinzu, "has occasioned these papers".*)
In einem zweiten Teil prüft Davenant die Frage nach dem Nutzen oder
Schaden einer Universalmonarchie für die Menschheit. Er be-
kämpft die Ansicht des Spaniers Pedro Mexia, der in seinem
Buche i,Los Cesares" die glücklichen Zeiten der römischen
Kaiser des zweiten Jahrhunderts zurückersehnt hatte. Er will
weder in staatlicher, noch kommerzieller, noch geistiger Beziehung
unter einer Weltherrschaft die Möglichkeit längere Zeit an-
») Davon sprechen z. B. I, 15; III, passim; IV, ISS; VI, 32; VII, 54; IX, 344, 372.
«) vgl. Dict. of Nat. Blogr. XIV, 99 f.
^ Charles Davenant: «On Universal ' Monarchy. .1701. Neugedruckt in seinen
«fPolitical and commercial Works", London, 1771. IV, 1 ff.
*) vgl. die Ansichten von Leibniz, o. S. 52.>)
ft) a. a. O. S. 28.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht 5
— 66 —
dauernder gesunder Verhältnisse anerkennen; mit besonderer
Schärfe wendet er sich gegen den auch von sonst ausgezeichneten
Herrschern wie Trajan geübten Gewissenszwang, dem man sich
in einem Weltreich nicht einmal durch die Flucht entziehen könne.
Vor diesen allen Engländern jetzt zusammenhängend ge-
schilderten, mit einer Weltherrschaft notwendig verbundenen Ge-
fahren sollen England und mit ihm ganz Europa nach der über-
einstimmenden Meinung der Publizisten durch das Gleichgewichts-
system bewahrt bleiben. Diese Gefahren sind so dringend, weil
nach der allgemeinen Meinung Spanien auch unter der Herrschaft
eines eigenen Königs aus dem Hause Bourbon in Wahrheit von
Frankreich regiert werden würde, ^) und weil Ludwig XIV. auf
diesem Umwege nicht minder sicher seine Universalmonarchie
durchführen würde. In einer Flugschrift wird ein eigener Nach-
weis dafür angetreten, daß Ludwig XIV. wirklich die ihm allgemein
zugeschriebenen Ziele verfolgt,*) während Defoe der Meinung
ist, daß kein Beweis erforderlich sei, weil naturgemäß jeder
Herrscher seine Macht soweit ausdehnen werde, wie ihm nicht
durch einen Stärkeren Halt geboten würde.') Der erste und
wichtigste Zweck, den England durch die Aufrechterhaltung des
Gleichgewichts erzielen soll, ist also die eigene Unabhängigkeit
wie die der übrigen Fürsten; beide sind untrennbar verbunden.*)
England soll in der Erfüllung dieser Aufgabe eine »unschätzbare
Prärogative« und seinen schönsten Ruhm sehen.*) Ja, wenn sich
wie bei dem zweiten Teilungsvertrage •) ein Konflikt zwischen
dem strengen Recht und dem Prinzip des Gleichgewichts erhebt,
so muß dieses siegreich bleiben, oder, wie sich der Anwalt
dieser Meinung, Defoe, ausdrückt: »the Peace of Kingdoms, the
General quiet of Europe, prevails to set aside the Point of nice
Justice«.') Wie in den Broschüren der siebziger Jahre werden auch
jetzt vielfach historische Beispiele herangezogen; Heinrich VIII. und
Elisabeth ernten reiches Lob, Cromwell und Karl II. scharfen Tadel.®)
1) II, 202; VI, 26; VII, 46.
«) III, 326 ff.
») I. 15.
*) III, 323; VII, 59; II, 201 f.; IV, 159 ff.
») II, 196.
8) vgl. Erdmannsdörffer: Deutsche Geschichte, II, 171.
') I. 20.
8) I, 15; V, 17; bes. VIII, 305 f.
— 67 —
Ebenso wie sich die Verteidigung der Freiheit Englands
mit dem Schutz der Freiheit Europas zu einer Einheit verbindet,
so hängt auch die Rettung der englischen Kirche untrennbar mit
der Erhaltung des Gleichgewichts zusammen. Nicht nur, daß
die Universalmonarchie mit dem Katholizismus identifiziert wird,
für die freie Ausübung ihrer Religion besteht für die protestan-
tischen Engländer darin eine besondere Gefahr, daß der von
ihnen vertriebene König Jakob II. im engen Bunde mit der
katholischen Vormacht stand, ein Bund, der auch unter seinem
Sohne fortdauert Es taucht wohl die Vorstellung von einem
»protestantischen Gleichgewicht'' auf, das mit dem politischen
Gleichgewicht nicht identisch ist, aber durch dieses allein er-
halten werden kann.^) England erscheint auch in diesen religiösen
Gegensätzen als ausschlaggebender Faktor, es hat auch hier einen
doppelten Beruf als Schützer aller Protestanten und seiner be-
sonderen religiösen Unabhängigkeit auszuüben.^) Eine Schrift
bringt den Zusammenhang staatlicher und konfessioneller Selbst-
bestimmung auf die Formel: Der Königin Elisabeth vorbildliche
Maximen seien es gewesen »das Haupt der Protestanten zu sein
und die Balance von Europa zu halten «.•) Ein anderer Publi-
zist spricht die Hoffnung aus, zum Entgelt für die aus den
allgemeinen politischen Gründen notwendige Unterstützung des
Kaisers würde England Zugeständnisse für die protestantischen
Brüder in den kaiserlichen Erblanden erwirken können.^)
Das dritte Gut, das durch die drohende Universalmonarchie
dem Untergange geweiht wäre, ist Englands Handel: neben das
ganz allgemeine Freiheitsinteresse, neben das Wohl des Pro-
testantismus tritt ein rein englisches Interesse.*) Es ist nicht zu
verwundem, wenn die meisten Flugschriften von ihm mit größerer
Ausführlichkeit sprechen, waren doch Englands kommerzielle Be-
ziehungen damals schon ausgedehnt genug. •) Und gerade die
1) I, 17.
^ bes. VI, 37; vgl. auch IV, 156, 165, 172 ff.; eine protestantische Liga VII, 63;
VIII, 316; "the king was acknowledged to be the head of the Protestant Intercst" : nach dem
Frieden von Ryswick.
») V, 17.
*) VI, 36.
&) Nur I und V kommen hier nicht in Betracht.
^ Über die tatsächlichen Verhältnisse vgl. v. Noordcn : „Europäische Geschichte im
18. Jahrhundert". 1870 ff. I, 37 ff., bes. S. 44.
5*
— 68 —
Aussicht einer Vereinigung Spaniens mit Frankreich regte die
(öffentliche Meinung Englands aus gewichtigen Gründen auf. Da
schien der gewinnbringende spanische Wollhandel in französische
Hände geraten zu sollen, was die englische Tuchindustrie schwer
treffen mußte; man behauptete, England würde bei einem fran-
zösischen Monopol auf spanische Wolle in Zukunft Stoffe im-
portieren müssen, statt sie wie bisher auszuführen.^) Und auch
der sonstige Warenaustausch mit Spanien, der England gegen
seine industriellen Erzeugnisse einen Teil an dem aus Amerika
kommenden Edelmetallstrome vermittelte, würde sicherlich durch un-
erträgliche Zölle zugunsten Frankreichs unmöglich gemacht werden.
Nicht England, sondern Frankreich, so hieß es, wird die spanischen
Kolonien mit Leinen- und Wollwaren versorgen. Französische
Schiffe werden die Erlaubnis erhalten, direkt nach Westindien zu
fahren; der an den Weg über Cadiz gebundene englische Kauf-
mann wird die Konkurrenz nicht aushalten können.*) Nicht viel
besser wird es dem englischen Levantehandel gehen, denn die
Straße von Gibraltar kann durch die vereinigten französischen und
spanischen Flotten gesperrt werden,*) und auch wenn dies Ex-
trem nicht eintritt, wird Frankreich durch den Besitz oder die
Verfügung über Neapel und Sizilien die englischen Nebenbuhler
leicht aus dem Felde schlagen.*) Der afrikanische Sklavenhandel
wird französischen Handelstreibenden zufallen. *) Womöglich
werden selbst Englands eigene Kolonien in Gefahr geraten.*)
Hilft England aber dem Hause Habsburg in den Besitz der
spanischen Erbschaft, dann darf es zum Lohne günstige Handels-
bedingungen erhoffen.')
Eine andere Gefahr für die englische Schiffahrt würde durch
die Unterwerfung Hollands durch Frankreich drohen, denn England
kann sich auf seine Seemacht gegenüber der durch die holländischen
Schiffe verstärkten französischen Marine nicht verlassen.*)
1) III, 320, 340; IV, 157; bes. VII, 47.
«) IV, 157 f.; VII, 50 ff.
») VII, 49.
<) III, 320; VII, 49.
») VII, 52; III, 321.
«) VII, 52.
f) VII, 66 f.
«) II, 201 f.
— 69 —
»Liberty, religion, trade« ist das allen Schriften aus dem
Beginn des spanischen Erbfolgekrieges mit gewissen Nuancen
gemeinsame Motiv, zusammengefaßt überall unter der Forderung
des europäischen Gleichgewichts, das von da an eigentlich erst
wieder den Charakter eines Schlagworts erhält Die Form des
europäischen Gleichgewichts ist in allen Schriften dieselbe : das Haus
Bourbon auf der einen, das Haus Habsburg auf der anderen
Seite, England als dritte Macht, nach freier Wahl die politische
Wage nach der Richtung durch sein Gewicht senkend, wie
es ihm um des rechten Aquilibriums willen gut dünkt Die un-
abhängige Existenz mehrerer gleichberechtigter Staaten, die freie
Ausübung der protestantischen Religion, die ungehinderte Aus-
dehnung des englischen Handels sollen durch das Gleichgewichts-
system gesichert werden.
Aber was bezwecken die politischen Schriftsteller im ein-
zelnen Falle mit der Darlegung dieser VerhäUnisse? Man wird
ohne Zweifel annehmen dürfen, daß in mehr oder minder starker
Weise neben anderen Motiven lebendig patriotische Gefühle sie
alle oder doch die meisten unter ihnen trieben, die von ihnen für
richtig gehaltene Politik vor der Nation literarisch zu vertreten.
Mußte doch das englische Volk wissen, wofür es sich in einem
neuen Kriege gegen Frankreich neue Opfer an Menschen und
finanziellen Aufwendungen auferlegen sollte. An das englische
Volk appellieren in der Tat alle von uns besprochenen Schriften
der beiden Jahre vor dem Ausbruch des Krieges, nicht an das
Ausland. Nirgends werden andere Nationen oder Regierungen
aufgefordert, um des europäischen Gleichgewichts willen sich
England anzuschließen, im Gegenteil, England wird gemahnt,
auf Grund dieses Prinzips andere Mächte, vor allem den Kaiser
und Holland,^) in ihren Ansprüchen zu unterstützen. Eine
Ausnahme macht höchstens eine Schrift,*) die sich am Schluß,
nach sehr eingehenden Betrachtungen der Gefahren der Thron-
besteigung des Herzogs von Anjou für England von den drei
bekannten Gesichtspunkten »liberty, religion und trade« aus, über
1) Holland war wegen der spanischen Niederlande von vornherein gegen die Total-
sukzession eines französischen Prinzen.
«) VI, 39 f.
— 70 —
das voraussichtliche Verhalten der kontinentalen Mächte ausläßt.
Aber wenn dort gesagt wird, die Schweiz würde am besten
fahren, indem sie zwischen Habsburg und Bourbon die Balance
hielte; wenn auch die italienischen Fürsten nach der Meinung
des Verfassers ihr Interesse in der „ballance of Christendom •
sehen würden; so scheint damit weniger eine Aufforderung an
sie beabsichtigt zu sein, dem entsprechend Partei zu ergreifen,
sondern der Verfasser möchte mehr durch diese Erwägungen
seinen eigenen Landsleuten Mut machen, zusammen mit dem
größten Teil von Europa die von ihm empfohlene Politik zu
befolgen.^)
Außer den patriotischen Motiven aber können wir in
mehreren Broschüren auch parteipolitische Tendenzen deutlich
wahrnehmen. Zwei besonders auffallende Beispiele seien hier
hervorgehoben.*) Das erste ist Davenants Essay über das Gleich-
gewicht der Macht.') Davenant macht sich den zweiten Teilungs-
vertrag zunutze. Indem er diesen auf das heftigste angreift,
unter sorgfältiger Schonung der Person Wilhelms III., indem er
die whiggistischen Minister, die ihn abgeschlossen haben, ver-
dächtigt, gegen ihre ganze Politik die schwersten Beschuldigungen
erhebt, das »country interest" gegen das »money interest*» aus-
spielt, das durch Parlamentsbestechungen und die Gründung der
Neuen Ostindischen Kompagnie und der damit in Verbindung
stehenden Bank von England das politische Leben vergiftet habe,
indem er aber andererseits für die absolute Notwendigkeit einer
Balancepolitik eintritt, macht er jedermann den Schluß leicht, daß
nur die unehrliche Whigverwaltung durch ein ehrliches Tory-
regiment ersetzt zu werden braucht, damit jeder Engländer mit
>) Damit soll In kdner Weise bestritten werden, daß die englische Diplomatie die
Idee des Gleichgewichts als Werbemittel im Kampfe gegen h'rankreich den kontinentalen Mlcfatoi
gegenüber verwandt hat. Die Zeugnisse dafür sind in den diplomatischen Verhandlungen
zu suchen, nicht in der politischen Literatur; diese allerdings ist von solchen Tendensea
frei. Daß aber wirklich der Olelchgewichtsgedanke während des Spanischen Erbfolgekrieget
von England aus auf dem Kontinent eingebürgert worden ist, spiegelt auch die Pnblizittik
wieder. Vor 1713 ist nur die politische Literatur Englands voll von der Balanceidee, iiACh
dem Utrechter Frieden begegnet sie überall, besonders in Deutschland, und wird hier sofdrt
ein Gegenstand gelehrter Spekulation. Vgl. auch den Anhang.
«) Aber frei von Parteitendenzen sind auch andere Schriften nicht, so V, VI und
jede Schrift, die den zweiten Teilungsvertrag erwähnt, wie II und IV besonders.
>) Oben als Vlll. bezeichnet. Vgl. auch Ringhoffer: »Die Flugschriftenliteratur fa
Beginn des spanischen Erbfolgekrieges". Berlin 1881. S. 49 ff.
— 71 —
Freuden Gut und Blut zu opfern bereit ist, um das europäische
Gleichgewicht zu schützen. Allerdings leistet sich Davenant am
Schluß seines Pamphlets trotz der vorangegangenen Gehässigkeiten
die Mahnung an »alle guten Engländer", im Interesse des Gleich-
gewichts II die Parteinamen beiseite zu legen und sich in schuldigem
Gehorsam gegenüber dem König zu vereinen''; er wird aber alles
andere lieber gesehen haben, als eine Erfüllung dieses Wunsches.
Nicht minder leidenschaftlich in ihren Angriffen auf die
Gegner ist eine Whigschrift, die in ihrer Weise die Kriegsleiden-
schaften zu steigern und für die Partei auszunutzen strebt.^)
Während Davenant die Gleichung: Whigs » Geldspekulanten auf-
gebracht hatte, werden hier Tories und Jakobiten identifiziert,
um aus den bevorstehenden Neuwahlen überall Whigs hervor-
gehen zu lassen, die allein zuverlässigen Männer in der großen
Gefahr. Alle Amter sollen mit ihnen besetzt, die Gesetze gegen
die Sekten aufgehoben werden.*) Alles wieder im Interesse des
Gleichgewichts! Die innere Eintracht wird wie von Davenant
gepriesen, der Verfasser denkt sie sich dadurch erreicht, daß das
ganze Land whiggistisch wählt, und die paar etwa doch noch vor-
handenen Jakobiten und Tories gegenüber dem einigen England
nicht in Betracht kommen.
Sieht man nur diese beiden Schriften an, so könnte man
meinen, das europäische Gleichgewicht sei im Anfang des
1 8. Jahrhunderts in England nichts als ein Schlagwort im Partei-
kampf gewesen. In dieser Ausschließlichkeit ist das für die bis-
her angeführte Literatur nicht richtig: Defoes Schrift und auch
die des Lord Somers sind von direkter Vertretung eines Partei-
standpunktes fem, die anderen Flugschriften auch nur bis zu
einem gewissen Grade von ihm beeinflußt. Dem Gleichgewichts-
gedanken wohnt sichtbar noch eine eigene Bedeutung bei, er ist
geeignet, auch außerhalb des Parteiinteresses dem politischen
Fühlen des englischen Volkes einen gewissen idealen Schwung
zu verleihen. Die Begeisterung für Unabhängigkeit, Protestantis-
mus und freien Handel ist in ihrer Vereinigung nicht ohne einen
erhebenden Zug.
>) Oben als IX bezeichnet.
s) a. a. O. S. 357 f. : Polemik gegen die Testakte.
— 71 —
S. Dieser Schwung fehlt fest gänzlich den Flugschriften
aus den letzten Jahren des Spanischen Erbfolgekrieges, die in
beträchtlicher Zahl in England erschienen, und die wir hier an-
fügen. Durch die glänzenden Siege während des Krieges war
ja erreicht, was man in England erstrebt hatte. Eine wirkliche
Oefohr für die großen Güter der Nation bestand nicht mehr.
Wenn trotzdem die Qleichgewichtsliteratur noch einmal zu einem
bi^eiten Strome anschwoll, so lag der Qrund in den inneren
Verhältnissen Englands. Die Torypartei arbeitete aus hier nicht zu
erörternden Gründen seit dem Jahre 1710 für baldigen Frieden, *)
während die Fortsetzung d^ Krieges mit dem politischen und
materiellen Interesse der Whigs zusammenfiel.') Durch den Tod
Josephs I., im April 1711, und die Wahl des habsburgischen Königs
von Spanien zum Kaiser erhielten die Tories einen ausgezeichneten
Agitationsstoff. Gleich das erste berüchtigte Pamphlet gegen die
Fortsetzung des Krieges^ führte außer den zahllosen einzelnen
Angriffen auf Englands Verbündete einen allgemeinen Gruiki für
den Frieden an: Das europäische Gleichgewicht wird verletzt, wenn
derselbe Mann, der Kaiser ist und die österreichischen Besitzungen
des Hauses Habsburg beherrscht, gleichzeitig über Spanien regiert
In derselben Weise verlangte eine andere Toryschrift, daß Philipp
von Anjou unter gewissen beschränkenden Bedingungen Spanien
erhalten müsse, da Spanien und Österreich vereint schon dreimal
in der Geschichte, zur Zeit Karls V., Philipps II. und Ferdinands IL,
das Gleichgewicht gestört und die politische wie die religiöse
Freiheit Europas bedroht hätten.*) Bolingbrokes Zeitschrift, der
Examiner,^) brachte kurze Artikel mit ähnlichen Argumenten.
Dagegen aber erhoben nun auch die Whigs das Gleichgewicht
zu ihrem Panier, sie suchten nachzuweisen, daß die ungeteilte
Sukzession der Habsburger in die Länder der spanischen Monarchie
unter dem Kampf fürs Gleichgewicht zu verstehen und auch bis-
her von Krone und Parlament stets verstanden worden sei.*)
^) ErdmannsdÖrffer, a. a. O. S. 276.
*) Erdmannsdörffer, a. a. O. S. 268.
B) „The conduct of the Allies and of the late Ministry, in beginning and carrying
on the present war." London 1712. (Brit. Museum.) (1. Ausg. 1711.)
<) „The Ballance of Europe" etc. London 1711. (Brit. Mus.)
^ Im Brit. Mus. ist ein Exemplar erhalten.
0) „A few words upon the Examiner*s scandalous peace." London 1711. (Brit. Mos.)
— 73 —
Damit verband sich der Streit, ob England in den spanischen
Erbfolgekrieg als ein Hauptbeteiligter (prindpal) oder nur als
Hilfsmacht (auxiliary, confederate) eingetreten sei.^) Für die Auf-
fassung von Englands Bedeutung im europäischen Oleichgewichts-
system ist die Erörterung nicht unwesentlich. Die Frage, bis zu
welchem Grade England sich in die kontinentalen Verwicklungen
einlassen müsse, soll durch eine allgemeine Formel fixiert werden.
Wir werden der Diskussion darüber noch einmal begegnen.*)
So wird von Whigs und Tories in ihrem Kampfe die Idee von Eng-
lands Stellung als Halter der politischen Wage Europas hin und
her gezerrt, von den Tories ihrer kommerziellen und religiösen
Bestandteile meist beraubt, während die Whigs gerade religion
und trade auch jetzt eifrig in diesem Zusammenhange betonen.^
Mag man auch annehmen^ daß es ihnen dabei nicht allein um
wirkungsvolle Worte zu tun ist, daß die Begeisterung für die alten
Ideale aus dem Beginn des großen Krieges nicht ganz in ihnen
erloschen ist, im allgemeinen hat man den Eindruck, daß ein
großer Gedanke, der sich soeben noch von fruchtbarer politischer
Kraft erwiesen hatte, zu einem Spielball in den Händen von
Parteiführern geworden ist.
4. Gegenüber der Zahl der englischen Flugschriften ver-
schwinden die Erzeugnisse der Gleichgewichtsliteratur anderer
Staaten aus der Zeit des spanischen Erbfolgekrieges. Es ist schon
von Ringhoffer*) gezeigt worden, wie geringe Ausbeute die
österreichische Literatur für die Betrachtung vom allgemeinen
politischen Standpunkt aus gewährt. Sie ist zum größten Teil
juristischer Natur. Erwähnenswert ist immerhin eine deutsch
geschriebene Verteidigung der habsburgischen Ansprüche auf die
spanische Erbschaft^) Darin wird in einer Weise, die ganz an
1) Aufgebracht wohl schon Ende 1710 von Bolingbroke in einer Nummer des
Examiner; neu gedmcktbei Somers: „A collection of scarceuid valnableTracts," Neiumfl.
London 1814, XIII, 71 ff. Im „Conduct of theAUies" vertreten. Dagegen „The Allies and
the late Ministry defended against France and the present friends of France". 4 parts.
London 1712. (Brit. Museum.)
«) s. u. S. 82 ff.
•t) „The Allies . . . defended" S. 22 und passim. Ahnlich in „The offers of France
explained", London 1712. (Brit Mus.) S. 23. Freiheit und Religion auch in „Europe a
Slave, when the Empire is in Chains". 1713. (Brit. Mus.)
*) a. a. O. passim.
I») „Die ans Licht gebrachte Wahrheit des oesterreichischen Rechts und frantzösischen
Unrechts zur spanischen Succession." Collen 1701.
— 74 —
die bald immer lebhafter werdende naturrechtliche Behandlung
der Qleichgewichtstheorie erinnert, die Gemeinsamkeit der Inter-
essen aller Völker gegen die zu sehr anwachsende Macht eines
Staates betont: »Es ist nämlich die Welt ein allgemeines Vater-
land, worinnen alle freyen selbst herrschenden Völcker und IjCönige
die Bürger vorstellen.«^) Diese Weltbürger müssen ebenso auf
das allgemeine Weltbeste achten, wie der Staatsbürger auf das
Heil seines engeren Vaterlandes. Um dieses allgemeinen Besten
willen hat die Gemahlin Ludwigs XIV., Maria Theresia, auf ihr
Erbrecht verzichten müssen, und es ist eine besondere »Glorie« für
Philipp IV., in dieser Weise für das Interesse ganz Europas ge-
sorgt zu haben. Prankreich aber treibt eine ganz andere Politik :
seit Franz I. strebt es nach einer Universalmonarchie. Der Ver-
fasser weist das im einzelnen nach und fügt hinzu, wer nodi
jetzt daran zweifeln kann, »der muß wohl noch sehr jung in der
Welt sein, und wann solche Einfalt bey einigen noch übrigen
Europäischen Potenzen noch weiter vorhalten sollte, so ist die
Rechnung bald gemacht; nemlich, die Welt werde auf solche
Weiß nimmermehr Ruhe haben, bis alles mit einander Frantzösisch
worden".*) Später erklärt der Verfasser auch, in welcher Weise
Frankreich seine Absichten verwirklichen wird. Sein »Universal-
dominat« wird aus zwei Elementen bestehen, dem »Obergebiet^,
das es direkt oder indirekt beherrscht,') und dem »Alleinkauf
oder Monopolio«.^) Zu dem Zwecke wird es die wichtigsten
Seeplätze in der ganzen Welt besetzen und den Handel in Ost-
und Nordsee, den spanischen, Levante- und Kolonialhandel sich
vorbehalten, Engländer, Spanier und nordische Staaten von Handel
und Verkehr ausschließen. Und dabei haben die Franzosen der
Welt vormachen wollen, Spanien suche sich die Welt zu unter-
werfen!*) Und wirklich hat die betrogene Welt lange genug
Frankreichs Warnungen Gehör geschenkt und ist ständig bemüht
gewesen »wie doch die Waagschal zwischen beyden Monarchien
gleicher zu machen wäre", wobei sie sich denn stets gegen
>) a. a. O. S. 8.
*) a. a. O. S. 22.
») a. a. O. S. 60ff.
*) a. a. O. S. 60, und bes. S. 71 ff.
ß) a. a. O. S. 66 f.
— 75 —
Spanien gewandt hat, so daß man von dieser Verblendung der
Völker »eine recht lustige Komödie" schreiben könnte.^)
Es scheint so, als ob der Verfasser dieser Broschüre zwar
gegen den Unfug kämpfen will, den die französische Diplomatie
mit dem Schlagwort »Universalmonarchie" gelrieben hat, und
gegen die dadurch irregeleitete Richtung der Gleichgewichts-
bestrebungen des übrigen Europa, daß er aber im Prinzip diese
für wohl berechtigt anerkennt Er will eben nur dieselbe Um-
kehrung des Angriffsobjektes der Gleichgewichtspolitik vornehmen,
welche Lisola zuerst vertreten hat. *) Und zwar- wünscht der
Verfasser mit dieser richtig verstandenen Forderung des Ab-
wägens der beiden großen Mächte auf das Ausland zu wirken,
in erster Linie wohl auf die Seemächte. Nur diese konnten
durch die Ausführungen über das geplante französische Handels-
monopol sich bewegen lassen, Österreichs Ansprüche zu ver-
teidigen. Innerhalb Deutschlands würden derartige Argumente
wenig Verständnis gefunden haben. Ahnlich den englischen
Publizisten verbindet der deutsche Publizist Freiheit und Handel
als Ziele im Kampf gegen die Universalmonarchie; er läßt den
dritten Bestandteil des englischen Gleichgewichtssystems, die
Sicherheit des Protestantismus, dagegen notwendigerweise fort.
Der literarische Vertreter des katholischen Erzhauses konnte dies
Element in seinem politischen System nicht brauchen.
Neben diese österreichische Flugschrift stellt sich eine
Broschüre ähnlicher Tendenz, die nach Ringhoffers Vermutung
von einem spanischen Niederländer verfaßt ist.') Sie enthält
einen umfangreich juristisch und politisch begründeten Angriff
auf den zweiten Teilungsvertrag, dem gegenüber das Recht des
Kaisers, resp. des Erzherzogs Karl, auf die ungeteilte Erbschaft
vertreten wird: Das Interesse Europas verlangt nicht minder wie
>) a. a. O. S. 67.
^ S. O. S. 48 f.
s) Das französische Original zitiert bei Ringhoffer, a. a. O. S. 31. Ich zitiere nach
einer englischen Obersetzung: „The fable of the Lion's share, verified in the pretended
partition of the Spanish Monarchy". 1701. State Trads, III, 129 ff.
Ringhoffer führt namentlich das Interesse an den kommerziellen Verhältnissen für
die spanisch-niederländische Nationalität des Verfassers an ; nach dem oben besprochenen
deutschen Traktat erscheint dieser Schluß nicht notwendig. Indessen spricht doch die ein-
gehende Beschäftigung mit der Bedeutung der einzelnen spanischen L&ider, vor allem die
Verteidigung und das Lob Philipps II. (S. 138 f.) und die gute Schilderung des wirtschaft-
lichen Damiederliegens Spaniens (S. 146 f.) ffir Ringhoffers Annahme.
— 76 —
die Gerechtigkeit die Abweisung der französischen Ansprfidie^
die auf die endgültige Schwächung des Hauses Habsburg und
damit auf die Vernichtung des Gleichgewichts zielen.^) Noch
sicherer würde natürlich der »Bruch der Balance«*) eintreten, wenn
bei dem erwarteten Tode Karls II. ein französischer Prinz sein Nach*
folger werden würde. Für die beiden großen Seemächte zeigt
sich die Gefahr besonders in dem Übergewicht, das der franzö-
sische Handel im Mittelmeer wie in Westindien dadurch erringen
würde. An England und Holland, beziehungsweise ihre leitenden
Staatsmänner, richtet der Verfasser daher wohl den Tadel der
irspeculative'* oder »enthusiastick Politicians'«, die ihre Augen vor
der dringenden allgemeinen Gefahr nicht offen halten wollen,
sondern von Zeit und Zufall Hilfe erwarten.^
Wir sehen, das europäische Gleichgewicht wird auch in
dieser Schrift im Interesse der Habsburger angerufen. Die
Parömie »Freiheit und Handel "«y die den konkreten Inhalt des
Gleichgewichts bildet, soll England und Holland zu Bundes-
genossen des Kaisers im Kampf um das spanische Erbe machen.
Die kaiserliche Politik wendet sich, soweit sie das Schlagwort
Gleichgewicht sich dienstbar macht, an das Ausland, vor allem
an die Seemächte, die sich ihrerseits, unter Führung Englands,
als den dritten großen Machtfaktor in Europa betrachten, als den
»holder of the ballance of power«. Es war der Ausdruck für
die Tatsache, daß England unter der Regierung Wilhelms III.
und der Königin Anna sich als ebenbürtig neben die beiden
großen Festlandsmächte gestellt hatte. Aus dem spanischen Erb-
folgekrieg ging das sogenannte »alte System" neu gefestigt hervor.*)
>) a. a. O. S. 144.
«) a. a. O. S. 153.
«) a. a. O. S. 144.
<) Über dies ..alte System" der englischen Politik vgl. Wolfgang Michael: aDie
englischen Koalitionsentwürfe des Jahres 1748": Forsch, z. br. u. pr. Oesch. (1888), I, 203 ff.
Es beruhte auf der Balanceidee, mit einer nun schon traditionellen Vorliebe EngUnds 'f&r
Habsburg und Feindseligkeit oder mindestens Argwohn gegenüber Frankreich.
in.
Vom Frieden zu Utrecht bis zum
Frieden zu Aachen.
1. Kapitel.
Die Zeit von 1714-40 ist eine politisch sehr bewegte,
so wenig sie auch durch große kriegerische Ereignisse erfüllt wird.
Dementsprechend ist die Qleichgewichtsliteratur, obgleich gering
an Umfang, der Ausdruck mannigfacher politischer Konstellationen.
Sie läßt sich in vier Gruppen ordnen.
1. Das europäische Qleichgewichtssystem der Publizistik
zeigte eine Beschränkung, die mit seinem Anspruch auf Allgemein-
gültigkeit kontrastierte: es beanspruchte, für ganz Europa zu gelten
und war doch in Wahrheit nur eine Abstraktion aus den poli-
tischen Verhältnissen West- und Mitteleuropas, und auf die Staaten
dieses Teils von Europa in der Literatur fast allein bezogen.
Diese Tatsache war den politischen Schriftstellern im allgemeinen
nicht recht zum Bewußtsein gekommen, wir haben deshalb noch
nicht früher darauf aufmerksam gemacht. Eine Änderung scheint
zuerst während des nordischen Krieges eingetreten zu sein, der
zugleich mit dem Kampf um die spanische Erbfolge aüsgefochten
wurde. Aber wie die praktische Politik mit Erfolg bemüht war,
beide Kriege auseinander zu halten,^) so kam die Publizistik
auf den Gedanken, ebenso bewußt den Norden von dem übrigen
Europa zu trennen. Eine schon in anderem Zusammenhang
erwähnte englische Flugschrift des Jahres 1711 drückt den Qe-
1) vgl. Erdmannsdörffer, Deutsche Oeschidite II, 307 ff.
— 78 —
danken mit deutlicher Schärfe aus:^) ifDem Leser braucht nicht
gesagt zu werden, daß Europa hier im engem Sinne für die
Nationen Europas genommen werden muß, die an dem gegen-
wärtigen Krieg gegen Frankreich auf der einen oder andern Seite
beteiligt sind, ohne daß wir uns mit den Angelegenheiten von
Schweden oder Moskovien, Ungarn oder der Türken abgeben
wollen. Diese liegen zwar in Europa, aber da West- und Mittel-
europa der regierende Teil von Europa sind, ist die Anwendung
des Wortes Europa auf dieses allein durch Zeit und Gewohnheit
legitimiert worden."
Nun wurden aber gerade durch den nordischen Krieg
die Interessen auch der alten Kulturmächte stark berührt, eine
völlige Abtrennung des Nordens und Ostens schien doch nicht
recht möglich. Aber es ist bezeichnend für die Zähigkeit poli-
tischer Anschauungen, daß die neue Machtentfaltung Rußlands
auf die Idee des europäischen Gleichgewichts an sich keinen
Einfluß ausübte, sondern daß man sich mit einem Ausweg half.
Wie man die innern Verhältnisse der deutschen Mächte mit den
allgemein-europäischen dadurch verknüpfte, daß man ein deutsches
Gleichgewicht annahm und von dessen Bewahrung die des euro-
päischen Gleichgewichts abhängig machte,^) so kam jetzt die
Idee eines ähnlich mit den allgemeinen Interessen verbundenen
nordischen Gleichgewichts auf. Noch während des großen Krieges
forderte eine englische Broschüre unter dieser Devise zur Unter-
stützung Schwedens und Zurückdrängung Rußlands auf.')
Allgemeinere Bedeutung hat die Idee wohl erst in den
diplomatischen Verhandlungen gefunden, die ihren Ausdruck in
den Verträgen von Wien im Mai und von Herrnhausen-Hannover
im September 1 725 erhielten. Der Norden wurde dadurch hinein-
gezogen, daß Rußland der österreichisch-spanischen Allianz bei-
trat.*) Wie sollte sich Schweden in dieser Lage entscheiden?
>) nThe Ballance of Europe", Lond. 1711. (Brit. Mus.) S. 25 f. Die Obersdxnng
ist möglichst getreu; der im Deutschen nicht vörtlich wiederzugebende Schlußpassus lautet
englisch: "Without conceming ourselves vith the Affairs of Sveden or JVluscovie, Hungaiy
or the Turks, which, tho'it is true they are in Europe, yet as this is the governing ptrt of
Europe, it has been a word Legitimated to this Part by the Custom of the Times.'*
«) s. o. S. 34 f., S. 41, und u. S. 90 f.
») ,,The conduct of the Allies- etc. (s. o. S. 72 8)) S. 94.
*) Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte II, 410.
— 79 —
Eine Broschüre vom Jahre 1726 sucht darauf zu antworten.^)
Scheinbar ist sie eine Untersuchung der Gründe für oder gegen
den Anschluß an das englisch-französische Bündnis, in der Tat
eine höchst wahrscheinlich von englischer Seite ausgehende Partei-*
Schrift.') Während der Kaiser angeklagt wird, im Gegensatz zu
den Bemühungen Englands die schweren Verluste Schwedens
im Nordischen Kriege verschuldet zu haben, obgleich ihm doch
ebenso wie den anderen europäischen Fürsten daran hätte gelegen
sein müssen, Schweden zu helfen und Rußland »zur Bewahrung
des Gleichgewichts im Norden wieder in seine alten Grenzen
einzuschließen«,') wird Englands Politik gegen etwaige Angriffe
verteidigt Der Kaiser hat bewiesen, daß Schweden und das
ir6quilibre dans le Nord« ihm gleichgültig sind, darum muß
Schweden sich an England und Frankreich anschließen, die beide
gern jede Gelegenheit benutzen werden, ihm um ihres Handels
und des Gleichgewichts im Norden willen das Verlorene wieder
zu verschaffen. Schweden wird seinerseits durch eine Förderung
der englischen Interessen zwischen Rußland und England eine
Balance herstellen können, die ihm, dem Schwächeren zwischen
zwei Starken, allein Sicherheit vor beiden gewähren kann.*)
Die Vorstellungen des Schriftstellers über die Gestalt des
von ihm vertretenen nordischen Gleichgewichts sind nicht ein-
heitlich: Einmal sind ihm Schweden und Rußland die Gegner,
zwischen denen England ausgleicht, dann wieder Rußland und
England, die durch Schweden balanciert werden. Treffend spiegeln
sich die alten und die neuen Gegensätze des nordischen Staaten-
systems in diesen schwankenden Vorstellungen. Einheitlich da-
gegen ist der Zweck, den die englische Politik mit der Idee des
nordischen Gleichgewichts verbindet, den Schutz der britischen
1) „R^nse faite de Stockholm k la lettre d*un am! de Province, sur la di versitz
des opinions au sujet de l'accession de la Suhdt au trait^ de Hannover." s. 1. s. d. Das
Jahr 1726 ergibt sich aus der Erwähnung der Absendung eines englischen Geschwaders in
die Ostsee als ,,in diesem Jahre" geschehen.
s) Dafär spricht außer dem ganzen Ton des Pamphlets die ausführlidie Verteidigung:
der Haltung Englands im Jahre 1719 und die darauf gegründete Behauptung, die Geschichte
lehre „de compter TAngleterre . . . la v^ritable pierre de touche de la bonne foi des Princes" :
S. 11. Vgl. auch die Idee, daß Schweden, England und Rußland balancieren mfissc
oben im Text
s) a. a. O. S. 10.
*) a. a. O. S. 20. Das Vorhergehende auf S. 19.
— «0 —
Handelsinteressen in der Ostsee. Es ist der alte Kampf um das
dominium maris baltid, der unter neuen politischen Konstella-
tionen mit einem neuen Schlagwort geführt wird, dessen Tendenz
sich gegen die unbedingte Vorherrschaft einer der die Ostsee
umgebenden Mächte richtet, in concreto also gegen Rußland.
Dieselben Gesichtspunkte begegnen uns wieder in einer offiziösen
englischen Broschüre vom Jahre 1727, die gleichfalls die Aus-
sendung der englischen Ostseeflotte im Frühjahr 1 726 mit der not-
wendigen Rücksicht auf das nordische Gleichgewicht verteidigt.^)
Wenn auch vornehmlich Englands Handelsinteressen zu der
Forderung eines Gleichgewichts der nordischen Staaten geführt
haben, und diese Idee von vornherein in ganz anderem Maße
als das allgemeine europäische Gleichgewicht der Verteidigung
wirtschaftlicher Interessen dienen soll, so ist sie doch auch von
anderer Seite als berechtigt anerkannt worden. Eine ausgezeichnete
österreichische politische Abhandlung über die Aufgaben des für
Cambray geplanten, tatsächlich dann in Soissons 1728 abge-
haltenen europäischen Kongresses geht in einer ihrer propositiones
auf die Verwicklungen im Norden, insbesondere auf die noch
nicht erledigte Angelegenheit der Restitution des Herzogs von
Holstein-Gottorp in seine Besitzungen in Schleswig ein.*) Dabei
kommt ihr Verfasser auf die englische Flottenexpedition von 1726
zu sprechen und erklärt sie mit der i/uimia Russorum maritima
potentia«, mit der Furcht vor russischen Angriffen gegen eine
der andern Ostseemächte, und mit dem großen Interesse der
britischen Krone »ui Aequilibrium Europae itidem in Septen-
trionalibus Regnis et Provinciis servaretur". Entsprechend wünscht
der österreichische Staatsmann die Restitution resp. Entschädigung
des Gottorper Herzogs, da davon wAequilibrii in oris septentriona-
libus ratio" hauptsächlich abhänge. Auch er legt also Wert darauf,
seine Vorschläge mit der Erhaltung des nordischen Gleichge-
wichts zu begründen.
1) •»Recherche des motifs sur lesqnels est fond6e la conduite de la Orande- Bretagne,
par rapport aux affaires de l'^t präsent de TEurope." Traduit de l'Anglais. A la Hay
1727. Über den Charakter dieses kleinen Buches s. u. S. 84 f.
S) «Propositiones quaedam de causis ac dissidiis summorum aliquot Europae prin-
cipum, et de horum amicabili compositione, et solidae pacis restauratione in futuro con-
gressu Cameracensi perfidenda.« 1728. Enthält zwölf propositiones, den Norden behandelt
propositio VHI. Über den Charakter der Schrift s. u. S. 86.
— 81 —
2. Nur wenige Jahre später fand die österreichische Publizistik
Gelegenheit, auch die Idee des europäischen Gleichgewichts aus-
giebiger als bisher zu verwerten. Der polnische Thronfolgekrieg
bot den Anlaß. Eine Reihe von Flugschriften erschien und
hallte wider von Deklamationen gegen Frankreichs Universal-
monarchie, die dieses bei den polnischen Thronstreitigkeiten unbe-
merkt zu fördern gedenke, nachdem es ihm unter Ludwig XIV.
mit dem offenen Versuche nicht gelungen. Selbständigen Wert
besitzen für uns diese Flugschriften meist nicht ^) Englands und
Hollands Neutralität wird so erklärt, daß es Frankreich gelungen
sei, irdenen Puissancen, denen am meisten daran gelegen, daß sie
das Gleichgewicht in Europa erhalten sollten«, eine Falle zu
stellen.*) In einem Zwiegespräch zwischen einem Deutschen und
einem Franzosen wirft der Franzose die Meinung auf, England würde
wohl wegen des Gleichgewichts Frankreich beistehen müssen, wo-
gegen der Deutsche natürlich protestiert.*)
Politisch höher als der Durchschnitt steht nur ein Erzeug-
nis der österreichischen Publizistik, das die polnischen Dinge
mehr im Vorbeigehen streift, um die Lage in Italien näher ins Auge
zu fassen. *) Der Verfasser behauptet, Spanien beabsichtige durch
den Krieg für den Infanten Don Carlos ganz Italien zu er-
obern und es zu einer neuen bourbonischen Monarchie zu
machen. Er appelliert dagegen an den Patriotismus der deut-
schen Fürsten und an das Interesse der italienischen Fürsten an ihrer
politischen Existenz, um sich dann eingehender über Englands
und Hollands Rolle in dem polnischen Thronfolgekriege zu
äußern. Er ist überzeugt genug von der Weisheit Georgs II.
1) Genannt sdoi: »Antwort auf des Königs von Frankreich Beweggründe, einen
Schluß, zur Ankfindigimg des Krieges zu fassen.* 1733. Damit z. T. übereinstimmend:
•Beantwortung der Schrifft, so den Titel führet: Bewegungs-Oründe des vom Könige ge-
faßten Entschlusses* etc. Dresden 1733: in französischer Obersetzung als »R^nse k
rdcrit qui a pour titre: Motifs des r^lutions du Roy*, s. 1. s. d.
Übrigens schleudert das »Manifest des Königs von Spanien« etc (aus dem Franzö-
sischen übersetzt) den Vorwurf des ! »falschen Wahns seiner Superioritit* zur Abwechslung
gegen den Kaiser.
») »Beantwortung* etc. S. 7.
*) »Curieuse Gespräche im Reiche der Lebendigen zwischen einem Frantzosen und
Deutschen von denen Ursachen des itzigen Krieges und den Conjuncturen von Europa.**
1734. S. 55. Dies politisch höchst unbedeutende Pamphlet ist wohl ein reines Erzeugnis
der »öffentlichen Meinung«, von der wir sonst absichtlich nicht häufig sprechen.
*) „R^ections sur le projet de la nouvelle Monarchie." 1734. Der Appell an die
deutschen Fürsten, die Reichsrechte in Italien im Bunde mit dem Kaiser zu schützen, be-
weist die österreichische Herkunft der Schrift.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht. 6
— 82 —
und seines Parlaments, um darauf zu vertrauen, daß sie ebenso
wie Holland nicht länger untätige Zuschauer bleiben werdeo,
Ist doch nach seiner Meinung Englands Wohl abhängig von der
Bewahrung des Gleichgewichts in Europa, der siebersten Basis
der allgemeinen Ruhe. Denn bei einem Oberwiegen der bour-
bonischen Macht fallen auch die zwei Säulen, die Englands Olödc
tragen, die protestantische Dynastie, zugleich das Bolhverk giegen
absolutistisches Willkürregiment, und der freie Handel. FQr
Holland gilt es, sich auch in dieser Frage seinem mächtigen
Freunde anzuschließen. Dieselben religiösen und kommerziellen
Interessen leiten beide Staaten, die weisen Maximen der Republik
»pour maintenir l'^quilibre du pouvoir en Europe« dürfen nicht
aufgegeben werden. Alles deutet darauf hin, daß England und
Holland nicht länger zögern dürfen, nach den Prinzipien der
großen Allianz und des spanischen Erbfolgekrieges auch g^;enüber
dem neuen Vorstoß der Bourbonen zu handeln. Wollte jemand
einwenden, daß der Verlust Neapels und Siziliens an einen spa-
nischen Prinzen die Pläne Karls VI. für die Beförderung des
Seeverkehrs in seinen Ländern scheitern lassen werde, und daß
England dabei seinen Vorteil finden würde, so ist das eine
unhaltbare Ansicht Erstens läßt sich gegen die Absichten des
Kaisers, von Triest aus seine Besitzungen am kommerziellen
Leben teilnehmen zu lassen, kein berechtigter Einspruch erhebe
und selbstverständlich wird der Kaiser auch hier alle wünschens«
werte Rücksicht auf den Handel der ihm befreundeten Seemächte
nehmen; zweitens aber würde Neapel in spanischem Besitz un-
fehlbar Englands Levantehandel ruinieren und das europätsdie
Gleichgewicht vernichten.*)
Auch diese Schrift zeigt, wie die Seemächte, in erster Linie
England, durch die Qleichgewichtsidee in die kontinentalen Kftmpie
hineingezogen werden sollen.
3. Gegenüber solchen Versuchen gewinnen die Diskussionen
doppeltes Interesse, die in den zwanziger und dreißiger Jahren
in England über die Frage geführt wurden, inwieweit die Rück»
sieht auf das europäische Gleichgewicht England zum Eingreifen
1) Ober das bedeutendste koloniale Projekt Karls VI., die Ostendische Kompacnic^
vgl. w. XL. S. 84 ff.
— 83 —
in die Streitigkeiten des Festlandes verpflichte. Es sind nament-
lich die Schriften Lord Bolingbrokes, die hier in Frage kommen.^)
Natürlich entspringen sie nicht wissenschaftlichem Definitionsbe-
dürfnis, sondern politischen Interessen: gegen den Leiter der all-
gemeinen englischen Politik, Robert Walpole, und dessen ruhe-
lose Tätigkeit in den europäischen Händeln richtet Bolingbroke
seine Erörterungen. Unter dem Pseudonym des »Occasional
Writer« griff er im Beginn des Jahres 1727 den Gegner an.*)
In der Form eines Essays über die historische und rationelle
Bedeutung des Gleichgewichtssystems verfocht er die Forderung
einer Politik zwischen den Extremen. Als das eine Extrem er-
schien ihm das Verhalten Karls I. und der folgenden Regierungen
bis zur glorreichen Revolution, als das andere eine Politik, »die
unter dem Vorwand, das Gleichgewicht der Macht zu erhalten,
den Leidenschaften einzelner Männer diente«, so daß das Prinzip,
in dessen vernünftiger Anwendung Englands Sicherheit beruhte,
geradezu eine Quelle von Gefahren für England geworden war.')
- Gleichfalls gegen Walpoles Verwaltung zielten Bolingbrokes
»Bemerkungen über die englische Geschichte", die zuerst in ver-
schiedenen Nummern seiner Zeitschrift, des Craftsman, von Ende
1730 bis zum Frühjahr 1731 erschienen.*) An dem Beispiel
der Königin Elisabeth suchte er nachzuweisen, daß Englands
Interesse zwar keine politische Isolierung erlaube, aber doch
gegenüber den kontinentalen Mächten eine besondere, seiner in-
sularen Lage entsprechende Politik verlange. Nicht wie bej jenen
ist »ständiges Verhandeln Leben und Seele ihrer Regierung«,
sondern nur in den großen Krisen des europäischen Staaten-
systems darf England mit anderen Mächten Allianzen schließen,
ohne sich im allgemeinen tief in die Stürme der kontinentalen
Politik einzulassen. Nur in diesem, von ausschließlich englischem
Interesse beherrschten Sinne hat Elisabeth das Gleichgewicht in
Europa aufrechterhalten. Die ständigen Bündnisse Walpoles mit
allen möglichen Staaten richten sich danach von selbsL
1) Neugednickt in Si John, Lord Visconnt Bolingbroke: <, Works*'. London 1754
^ Works Bd. L Der Originaldruck im Brit. Musenm. Hier kommt nur die
Nummer II in Betracht; a. a. O. S. 144 ff.
s) a. a. O. S. 158.
4) Works I, bes. S. 411 ff., 41 5 f., 426 ff., 434,
6*
— 84 —
Bolingbroke hat dann noch einmal seine Gedanken über
Englands Stellung in der allgemeinen Politik niedergelegt und
auf breiter historischer Grundlage zu begründen unternommen. ^)
Er behandelt den großen Kampf zwischen Habsburg und Bourbon
in seinen verschiedenen Stadien in der Absicht, die Bedeutung^
einer gesunden Qleichgewichtspolitik Englands, wie er sie ver-
stand, an einer kritischen Wanderung durch die moderne Ge-
schichte darzulegen. Die Tendenz, seine eigene Politik während
der letzten Jahre des spanischen Erbfolgekrieges zu rechtfertigen^
tritt nicht eigentlich störend hervor; aggressive Zwecke verfolgt
er in dieser Schrift überhaupt nicht. Die eindringende politische
Schärfe seines Blickes und die Fähigkeit, die Dinge im Großen
zu sehen, erscheinen daher in diesen Briefen weniger als sonst
durch Partei-Voreingenommenheit getrübt
Praktisch wurden die von Bolingbroke als »occasional
writer" und im »Craftsman« vertretenen Ansichten besonders im
polnischen Thronfolgekrieg. Die Opposition zeigte sich bestrebt^
Englands Neutralität vom Standpunkt des Gleichgewichts anzu-
greifen,*) die Regierung war bemüht, von demselben Gesichts-
punkt aus ihr Verhalten zu rechtfertigen. Beide wenden sich an
die englischen Parteien; neue Gedanken fehlen dieser Polemik.
4. Wohl aber hat in dieser Zeit das Balanceprinzip bei
einer andern Gelegenheit eine eigenartige Anwendung erhalten.
Es handelt sich um die Frage der Kompagnie von Ostende, die
durch den Wiener Vertrag vom Mai 1725 wieder akut geworden
war.^) Eine umfangreiche englische, nach ihrer eigenen An-
gabe zur Aufklärung der öffentlichen Meinung verfaßte
Broschüre legt den Standpunkt der englischen Regierung dar.*)
Sie trägt sichtbar offiziösen Charakter, verzichtet auf eigentliche
Polemik, wendet sich höchstens ganz im allgemeinen einmal
gegen »andere Meinungen",*^) teilt mit allen offiziösen Publi-
1) „Letters on the use and study of history", Works II, bes. Brief VI -VIII, S. 358 ff.
*) „The politick on both sides with retard to foreign affairs" etc. London 1734.
Dagegen als Antvort „A Series of wisdom and policy manifested in a review of our fordgn.
negotiations and transactions for several years past" London 1735. Beide im Brit. Museum.
>) Die ganze Angelegenheit behandelt im Zusammenhang Erdmannsdörffer : Deutsche
Oeschichte II, 41 5 ff.
*) „Recherche des motifs sur lesquels est fond^ la conduite de la Orande- Bretagne,
par rapport aux affaires de l'^tat präsent de TEurope." Traduit de l'Anglais. A la Haye 1727.
») a. a. O. S. 114 f.
— 85 —
kationen den sachlichen Ton und die Vorliebe für juristische
Erörterungen. Der Inhalt wie die Tatsache, daß von ihr eine
französische Übersetzung im Haag erschienen ist, läßt mit
Sicherheit annehmen, daß sie nicht minder für das Ausland wie
für England bestimmt war.
Neben den juristischen Betrachtungen fehlen die politischen
doch nicht ganz. Holland, heißt es da, würde durch die An-
erkennung der ostendischen Gesellschaft schwer geschädigt werden.
Und das würde im allgemeinen Interesse nicht geduldet werden
können. Denn selbst wenn nur Holland durch die Ost-
ender Kompagnie benachteiligt würde, — was allerdings nicht
richtig sei - so würde doch. Hollands Ruin den Englands nach
sich ziehen. Solange nämlich diese beiden Mächte vereint sind,
können sie die politische Wage in Europa durch Anschluß an
einen der großen Kontinentalstaaten auf die von ihnen gewünschte
Seite sich senken lassen. Aber ihre Kräfte reichen für diese
Aufgabe gerade aus, daher »zerstört der, der ihren Handel
ruiniert, das heißt ihren Reichtum und ihre Stärke, gleichzeitig
das Gleichgewicht; und wenn er auch nur einen ruiniert, so
raubt er doch damit ihrer Allianz die zur Erhaltung des Gleich-
gewichts nötigen Kräfte". Die Folgen sind leicht vorauszusehen.
Der Verlust, den England oder Holland in ihrem Handel er-
leiden, muß einem anderen Lande zugute kommen, und »diese
Übertragung der Kräfte wird den Verlust des Gleichgewichts zur
Folge haben, und dieser den Verlust der Freiheit Europas im
allgemeinen und Großbritanniens im besondem'*.^) Zugleich
wird diese Machtveränderung einem katholischen Staat zum Vor-
teil gereichen, und dadurch der Protestantismus bedroht werden,
ja selbst die gewaltsame Zurückführung des Prätendenten durch
Spanien und den Kaiser ist zu fürchten. England muß so
schweren Gefahren gegenüber nicht an die Last seiner Schulden
denken, sondern tun, was die Gerechtigkeit von ihm verlangt
Diese Auffassung des Gleichgewichtssystems ist in mehr-
facher Weise bedeutsam. Nicht nur, daß die Gefährdung des
Protestantismus und der Dynastie sichtlich nicht mehr wie zur
Zeit der Vorherrschaft Ludwigs XIV. ein konstitutiver Bestandteil
1) a. a. O. S. 110 f.
— 86 —
des Systems, sondern, statt organisch ihm eingefügt zu sein,
oberflächlich nur ihm angefügt ist, und daß somit als rationelle
Grundlage des Qleichgewichtssystems für England nur das
Handelsinteresse übrig bleibt, auch die Vorstellung über die Art
und Weise, in der England die rechte Balance zu halten hat, ist
eine andere. Einmal erscheint es in einer sonst nur in der
auBerenglischen Literatur gebräuchlichen untrennbaren Verbindung
mit Holland - diese ist ja, insofern Holland allein der eigentlich
Bedrohte ist, notwendig, um überhaupt die Balanceidee auf die An-
gelegenheit anwenden zu können ~ zweitens sollen die so vereinten
Seemächte nicht nur die schwächere der beiden großen Kontinental-
machtsgruppen unterstützen, sondern sie sollen zuerst jede
Schädigung ihrer eigenen Macht verhindern, und zwar im Inter-
esse ganz Europas, im Interesse des Gleichgewichts. Eine außer-
ordentlich brauchbare Auslegung dieser politischen Theorie bot
sich damit der englischen Politik dar, die sie befähigte, ihre
egoistischsten Bestrebungen vor der Welt mit einem idealen
Schein zu umgeben.
Nicht gerade der Polemik gegen die »Recherches des
Motifs", sondern einer andern englischen Schrift ohne Interesse
für uns verdankt die schon einmal angeführte österreichische
Schrift über die Regelung der noch schwebe'nden Zwistigkeiten
wenigstens teilweise ihren Ursprung.^) In lateinischer Sprache
geschrieben, diskutiert sie mit wohl dazu passender, fast wissen-
schaftlicher Ruhe ihre Vorschläge, ohne doch das Interesse der
Wiener Alliierten vom Mai 1725 irgendwie aus den Augen zu
lassen. Wir weisen auf die historische Einleitung über die Ver-
suche, durch verschiedene Bündnisse die im Frieden von Utrecht
offen gebliebenen Fragen beizulegen und endlich ein gerechtes
Gleichgewicht herzustellen, nur kurz hin, bemerken, daß das
Wiener Bündnis gegen den Vorwurf verteidigt wird, das Oleich-
gewicht gestört zu haben,*) und wenden uns den wichtigsten
propositiones VI und VII zu. Propositio VI handelt von dem
mißlungenen spanischen Angriff auf Gibraltar im Jahre 1727,
1) „Propositiones qaaedam" etc. (s. o. S. 80*)). Der Standpunkt des Verfassen er-
gibt sich aus dem im Text Gesagten.
>) a. a. O. S. 2, 3f., 8, 10.
— 87 —
rechtfertigt ihn juristisch und schlägt Rückgabe Gibraltars an
Spanien gegen ein Äquivalent, Ceuta etwa, vor. Die Frage
dürfe aber erst auf dem allgemeinen Kongreß endgültig ent-
schieden werden, auch wenn England und Spanien sich etwa
vorher schon einigen sollten, denn alle Mächte seien an ihrer
Regelung interessiert und wünschten, daß ihnen »offene und
sichere Zeugnisse« gegeben würden »über die bessere Befestigung
des europäischen Gleichgewichts, das durch die allzu große Macl)t
eines Volkes, sei es eine Land- oder Seemacht, leicht Schaden
erleiden würde «.^)
Propositio VII wendet dieselben allgemeinen Gesichtspunkte
auf die Ostender Frage an. Weder Englands noch Frankreichs
besondere Interessen würden dabei berührt, und sollte Holland
wirklich durch die Unterdrückung der Kompagnie gewinnen
und England ihm aus alter Freundschaft gern zur Seite stehen,
so müsse man doch einen andern Weg wählen, »zumal trotz
allem in solchen Geschäften sowohl den Verträgen bequem ge-
nügt, wie auch das Gleichgewicht in bezug auf Handlung und
Schiffahrt gewahrt bleiben könne"*.*) Man könne ja eventuell
die Zahl der Schiffe der Gesellschaft fixieren, aber die Ansprüche
der Holländer liefen auf ein allgemeines Monopol hinaus, »was
nicht nur mit einer Schädigung des österreichischen Belgiens,
sondern auch anderer Nachbarvölker, und mit einer Verletzung
des europäischen Gleichgewichts durchaus verbunden wäre".')
Diese Ausführungen, verglichen mit denen der vorher
analysierten englischen Broschüre, zeigen die außerordentliche
Elastizität der Gleichgewichtsidee. Der österreichische Politiker
sieht unter den durch den Wiener Vertrag geschaffenen Kon-
stellationen von der sonst allgemein üblich gewordenen Gegen-
überstellung von Habsburg und Bourbon ab und geht wieder
auf die ursprüngliche Idee zurück, nach der der Gedanke des
^ . . . „rellqnarani . . Nationtun quam nuudme Interest, poblica vdnti ac certi,
de pace ac tnuiquillitate servanda, ac Aequilibrio Europae magis stablliendo, utpote quod
nimia alicujus Oentis potentia, vel terrestri vel maritima, fadle jacturam patiatur aliquam,
tettimonia edi et promulgari : a. a. O. S. 56.
>) „praeaertim qonm nihllomlnus In negotiis...qtiibusIibet conventionibus commode
nttsfieri, ac Aeqnilibrlnm intnitu navigationis et commerdomm quoque servari queat:"
a. a. O. S. 73.
s) a. a. O. S. 76.
— 88 —
europäischen Gleichgewichts nichts anderes sein soll| als der
Ausdruck des Protestes gegen jede »nimia potentia«. Das Über-
raschende aber ist, daß eine solche »nimia potentia« nicht immer
eine Landmacht zu sein braucht, sondern daß es auch eine »nimia
potentia maritima« geben kann, und daß gegen diese ein »Gleich-
gewicht der Schiffahrt und des Handels'' von allen anderen
Völkern erstrebt werden muß. In concreto macht er im Namen
des Gleichgewichts ebenso Front gegen einen kleinen, aber
wenigstens gegenüber neuen Rivalen monopolistisch gesinnten
Handelsstaat wie Holland, wie gegen eine alle anderen Völker
bedrohende Kontinentalmacht. Wir machen schon an dieser Stelle
darauf aufmerksam, daß sich diese neue Auffassung in demselben
Augenblicke zu erhöhter Bedeutung in der Publizistik erheben
sollte, als aufs neue und für längere Jahre andere Gegensätze in
einer großen europäischen Krisis zur Entscheidung kamen, als
die alte Rivalität zwischen Bourbonen und Habsburgem.
2. Kapitel.
Die Gieichgewichtsliteratur während des österreichischen
Erbfolgekrieges zeichnet sich durch eine verwirrende Mannig-
faltigkeit der Auffassung und der politischen Tendenzen aus.
Für die Auffassung ist die enge Verbindung naturrechtlicher An-
schauungen mit der in ihrem Wesen politischen Gleichgewichts-
idee charakteristisch, und eben so stark wirkt auf sie vielfach der
überraschende, glänzende Aufstieg des preußischen Staates. Die
verschiedenen praktischen Tendenzen finden ihre Erklärung in
der Zahl der beteiligten Staaten und ihren sich kreuzenden Inter«
essen. Im allgemeinen decken sich in gewissem Grade gleidi-
artige Vorstellungen und verwandte Interessen.
1. Die Verteidigung des »alten Systems«,*) im wesentlichen
in der bekannten Weise, ist die Aufgabe der österreichischen
>) Unter dem ,, alten System" ist in diesem Abschnitt die durch den Frieden von
Utrecht begründete Konfiguration der drei großen Mächte zu verstehen, Habsburg und
Bourbon als die zwei Schalen der politischen Wage, England als das Zängldn. Durch die
Natur der Dinge verbindet sich in England mit dem Begriff eine Österreich freundliche,
Frankreich feindliche Gesinnung, vgl. o. S. 76^.
— 89 —
Publizistik. So enthält eine Schrift vom Jahre 1746 Angriffe
auf Frankreichs Übermacht,^) gegen die es einen etwas allzu
utopischen Plan aufstellt, nach dem Frankreich seiner nördlichen
und östlichen Provinzen beraubt und daraus selbständige Republiken
gebildet werden sollen. Dadurch würde Deutschlands Friede ge-
sichert werden, und zugleich würden die Seemächte dadurch ^das
so längst gesuchte Gleichgewicht von Europa finden und ihren
Handlungen zur See ohne weitere Gefahr abwarten können«.*) -
Die deutschen Fürsten und die Seemächte sollen hier wie im
polnischen Thronfolgekriege für die Balancepolitik, das heißt für
Österreich, gewonnen werden. Es wäre möglich, daß der Ge-
danke der Zerstückelung eines Teiles von Frankreich und der
Schaffung selbständiger Kleinstaaten aus ihnen ein Gegenstück
zu dem Teilungsprojekt des Kardinals Fleury wäre, an das dieser
im Beginn des Jahres 1741 dachte. Danach sollte Österreich
Böhmen, Mähren, Schlesien und Oberösterreich verlieren, Preußen,
Sachsen und Bayern sollten diese Provinzen erhalten und dadurch
in Deutschland vier kleine Königreiche gebildet werden — Friedrich
der Große brauchte den Ausdruck »reguli« von ihren Herrschern
- die sich gegenseitig balancierten und lahmlegten.*)
In ganz ähnlicher Weise, nur noch nachdrücklicher und mit
näherer Ausführung hatte sich schon im Jahre 1 745 ein österreichisch
gesinnter Schriftsteller an die Reichsfürsten und an die Seemächte
gewandt.*) Mit der Schilderung der nimmer rastenden bösen
Pläne Frankreichs verband er ein begeistertes, wohl berechnetes
Lob Georgs II. und seiner englischen Minister, denen er die mit
ihrer Gleichgewichtspolitik eng zusammenhängende Verteidigung
der Niederlande als auch im eigensten englischen Interesse ge-
legen noch besonders ans Herz legte.*^) An die deutschen Fürsten
richtete er die Mahnung, sich Englands, Hollands und Österreichs
Gleichgewichtsbestrebungen anzuschließen. Soweit bewegten sich
1) „Frankreichs Fall, wain solchoi dessen Nachbarn wollen. Oder Betrachtungen
über den jetzigen Staat von Frankreich, und wie dessen fürchterliche Macht zur allgemeinen
Sicherheit von Europa könnte in sichere Schranken eingeschlossen weixlen." 1746.
>) a. a. O. S. 18.
^ vgl. DroyKn: „Geschichte der preußischen Politik", V, 1, 245 f., 261 und bes.
S. 276 f. Koser: „König Friedrich der Große", 3. A., Stuttgart u. Berlin 1904. I, 149.
*) „Das entlarvte Frankreich, oder das entdeckte Projekt von der europäischen
Universalmonarchie." Im Haag 1745.
B) a. a. O. S. 17, 19, 21.
— 90 —
seine Gedanken in alten Geleisen; doch fügte er auch Neues
hinzu. Bei Gelegenheit des Appells an die deutschen Stände
schaltete er folgenden Passus ein: i^Auf daß aber das Qieidi-
gewicht von Europa gerade bleibe, . . . damit auch nicht einige von
denen, so von dem Souveränetäts-Geiste aufgeblasen und von
der Süßigkeit des Regiments trunken gemacht sind, die Autoritftt
des Reichs an sich ziehen: so muß man solche Gränzen setzen,
welche die Macht eines oder des andern mäßigen, unter ihnen
das Gleichgewicht in dem Maße, worinne es bleiben soll, halten,
und das nöthige Gegengewicht geben . . . Eben diese Gränze
hat Frankreich oft verrücken wollen, ja eben dieses Gleichgewidit
hat gedachte Krone vielmals wegzuschaffen und diese vortreff-
liche Gleichheit, in deren Erhaltung hauptsächlich nicht nur die
Glückseligkeit von Teutschland, sondern auch die Wohlfahrt von
ganz Europa beruht, zu Grunde zu richten versuchet.*^)
Die Stelle ist auf den ersten Blick etwas dunkel. Sie wird
trotz des schwerfälligen Satzbaus klar, sobald man erkannt hat,
wer mit denjenigen gemeint ist, »die von der Süßigkeit des
Regiments trunken gemacht, die Autorität des Reichs an sich
ziehen«. Die Franzosen können das nicht sein, Karl VII. ebenso-
wenig, da er durch seine Wahl zum Kaiser ja eine wenn auch
bestrittene Legitimation zur Lenkung des Reiches besaß. Es kann
kein anderer als Friedrich II. von Preußen gemeint sein, der
junge, vor wenigen Jahren zur Regierung gelangte Fürst, der mit
seinem Heere von 80000 Mann und seinem Manifest vom
8. August 1744 in der Tat die Vertretung des deutschen Reiches
offiziell auf sich genommen hatte.*) Dann soll also gegen ihn
ein »Gegengewicht gegeben werden'', so daß eine »Gleichheit ein-
tritt«, durch die in erster Linie die Glückseligkeit von Deutsch-
land, dann auch die von ganz Europa erreicht werden soll.
Irren wir nicht, so hat der Verfasser die Vorstellung im Sinn,
die uns als »deutsches Gleichgewicht« schon mehrfach b^;egnet
ist^) Nur daß bisher dieser Gedanke stets gegen das habs-
burgische Übergewicht innerhalb Deutschlands gewandt worden
») a. a. O. S. 29.
^ vgl. R. Koser, „König Friedrich der Große". I, 228.
») s. o. S. 34 f. ü. S. 38.
— 91 —
war, während er jetzt von österreichischer Seite aus gegen die
junge preußische Macht gekehrt und durch die Verknüpfung mit
dem europäischen Oleichgewicht zum Gegenstand des allgemeinen
Interesses gemacht wird. Es ist das erste Mal, daß der Gegen-
satz zwischen Preußen und Österreich als das konstitutive Element
der innerdeutschen Verhältnisse und gleichzeitig als ein bedeut-
samer politischer Faktor für ganz Europa in der publizistischen
Literatur erscheint.
2. Aber nicht nur die österreichische Publizistik suchte das
»alte System« zu beleben und die Hilfe des Reiches und der
Seemächte für seine Erhaltung zu interessieren, auch der weitaus
größte Teil der den englischen Interessen sich widmenden Lite-
ratur ging auf denselben Wegen. Allerdings waren deren Ziele
nicht so einheitlich, vielfach diente sie nur den Kämpfen der
Parteien oder den Leidenschaften der Führer. Denn in England
waren die Gegensätze fast ausschließlich persönlicher Natur, und
wir finden daher die seltsame Tatsache, daß Regierungs- und
Oppositionspresse in den Prinzipien, vor allem in der Verteidigung
des europäischen Gleichgewichts, völlig einig sind und nur über
Fragen zweiten oder dritten Ranges streiten.^) Es ist für uns
wertlos, außer dieser Tatsache noch der Einzelheiten zu gedenken.
Wir heben vielmehr zwei den Parteigegensätzen entsprungene
Flugschriften nur deshalb hervor, weil sie für die Auffassung
des Gleichgewichts als solchen Interesse besitzen.
Der Empfehlung der Carteretschen Politik vor Englands
Volk dienend, erinnert das »Politische System Großbritanniens"
lebhaft an die Broschüren aus dem Beginn des spanischen Erb-
folgekrieges.*) In geradezu ermüdender Wiederholung rechtfertigt
der Verfasser das Eintreten für die Unteilbarkeit der habsburgischen
Erbländer mit dem Nutzen des »natürlichen, ewigen, unveränder-
lichen Gleichgewichts« •) zwischen Frankreich und Österreich für
1) vgl. die Darstellung der Tatsachen und die Analysen und Auszüge aus der politischen
Literatur bei E. von Wiese: „Die englische parlamentarische Opposition und Ihre Stellung
zur auswärtigen Politik des britischen Kabinetts während des österreichischen Erbfolge-
krieges, bzw. der Jahre 1740-45. Oöttinger Diss. 1883.
*) oLe Syst^e politique de la Grande-Bretagne dans la conjuncture präsente . . .
p. s. de suite ä THistoire de la Grande Crise." A la Haye 1743. Ober den Verfasser vgl.
V. Wiese, a. a. O. S. 79.
") a. a. O. S. 83. Vgl. z. B. S. 56. „L'anden et le seul vrai Systtoe'* S, 66.
— 92 —
Englands Sicherheit und Handel. Während indessen zu Wilhelms III.
Zeit das Gleichgewicht einen in jeder Beziehung defensiven
Charakter trug, hat es jetzt einen stark offensiven Zug bekommen.
Nicht nur die Gefahren, die dem englischen Handel von der
aufstrebenden Seemacht Frankreichs drohen, schildert der Ver-
fasser — »k Proportion de ce que la premiferc (la France)
gagnera de terrain, la derniere (l'Angleterre) en doit perdre« —
er deutet auch auf die Vorteile hin, die in einem Seekrieg g^;en
Frankreich in den verschiedenen Erdteilen zu gewinnen sind.
Der Krieg ist nötig, wenn die Engländer ihre Freiheit behalten
wollen ff und ihren Handel weiter als irgend ein anderes Volk aus-
dehnen".^) - Immer unverkennbarer wird für England die Gleich-
gewichtspolitik zu einem Mittel im Dienste seiner Handelspolitik.
Über die Gefahr, in die das von ihm verteidigte »alte
System«*) durch Friedrichs des Großen Eroberung Schlesiens
geraten war, ging der Verfasser mit der Wendung hinweg, daß
diese auf Grund des Friedens, der durch die erfolgreiche eng-
lische Vermittelung zustande gekommen sei, glücklich beschworen
wäre.*) Davon wollte aber eine oppositionelle Broschüre nichts
wissen.^) Unter ständiger Berufung auf pragmatische Sanktion
und Gleichgewicht polemisierte sie gegen die Anerkennung des
Breslauer Friedens, um gegen das Ministerium im Lande Stimmung
zu machen. Die Bedeutung, die Preußen unter seinem kriege-
rischen jungen Fürsten in Europa gewonnen hatte, hallte wider
aus der Heftigkeit dieser Diskussionen.
Auf das Ausland zu wirken, ist dagegen die französische Über-
setzung eines kleinen Buches bestimmt, das mit antifranzösischer
Tendenz eine Geschichte der politischen Ereignisse seit 1733
enthält.*) Der Übersetzer hat dem Buche eine Vorrede zugefugt,
1) a. a. O. S. 122 und 124. Vgl. fibrigens auch die Bemerkung, daß ffir England
untrennbar seien ,,rttn d'etre Puissance Maritime, l'autre d'avoir un commerce floritsant,
et le demier de tenir T^quilibre du pouvoir": S. 124.
*) So z. B. a. a. O. S. 89; vgl. das Zitat o. S. 91 Anm. 3, das sich allerdings auch
auf die innere Politik bezieht.
*) a. a. O. S. 104 f. Der Verfasser scheint dafür einzutreten, daß Österreich dn
Äquivalent erhalten müsse, vgl. S. 72 f., S. 82.
<) ,,An Englishman's answer to a Oerman Nobleman. Containing some obser-
vations upon the poütical System of the present administration." London 1743.
>) „Histoire de la grande Crise de TEurope" etc. Traduit de TAnglais. A
Londres 1743.
— 93 —
deren Gedanken er als ein Leitmotiv betrachtet haben wird, das
bei jedem in dem Buche erzählten französischen Übergriffe in
den Herzen der Leser erklingen sollte. Er fordert darin Europa
auf, energisch für das Recht Maria Theresias einzutreten. »Es
handelt sich hier", fährt er fort, »um das öffentliche Interesse
von ganz Europa, dem, gemäß dem Natur- und Völkerrecht, das
partikulare Interesse jedes beliebigen Staates oder Herrschers ge-
opfert werden muß«. Wie innerhalb eines Staates das Recht der
Gesamtheit dem des einzelnen vorangeht, so muß auch innerhalb
Europas, das aus mehreren Reichen besteht, ähnlich wie ein
Reich aus mehreren Provinzen^ das öffentliche Wohl stets voran-
gehen. Daher ist die pragmatische Sanktion geschaffen worden
»weil man erkannte, daß das Gleichgewicht und die Freiheit
Europas, die man jetzt als Gemeinplätze behandelt, während sie
doch die kostbarsten öffentlichen Güter sind«, von der Erhaltung
zweier gleich starker, sich gegenseitig balancierender Mächte ab-
hingen. Selbst wenn Bayern oder die spanischen Bourbonen
Ansprüche auf die habsburgische Erbschaft hätten, dürfte man
darüber in gar keine Diskussion eintreten, weil das europäische
Gleichgewicht von der ungeteilten Einheit der habsburgischen
Länder abhängt.
In diesen Ausführungen wird, soweit ich sehe, zum ersten
Male zu einem bestimmten politischen Zwecke das europäische
Gleichgewicht mit ausdrücklichen Worten auf das Natur- und
Völkerrecht begründet^) Deshalb fallen hier alle Erörterungen
über etwaige besondere Vorteile, die mit der Gleichgewichts-
poiitik für einen oder den anderen Staat verbunden sind, gänzlich
fort. Der ideale Charakter der Ausführungen soll nicht gestört
werden. Aber natürlich verfolgen diese trotzdem einen realen poli-
tischen Zweck. Sie wollen alle diejenigen, die noch nicht auf Maria
Theresias Seite stehen, für ihre und damit zugleich Englands
Sache gewinnen. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei
denen sich die englische Publizistik mit der Gleichgewichtsidee
an die auswärtigen Mächte wendet Holland und die deutschen
Anhänger Karls VII. werden gemeint sein; vielleicht darf man
1) Inhaltlich ähnliche Ideen tauchen allerdinf|[s schon früher auf, auch in der poli-
tischen Literatur. Vgl. bes. o. S. 73 f. und den Anhang.
— 94 —
wegen des völligen Absehens von den Handelsinteressen noch
mehr an Deutschland wie an Holland denken.
Diese Erwägungen fähren uns zu der merkwQrdigsten
Schrift dieser Jahre.^) Ihr Verfasser ist ein deutsdier Gelehrter,*)
der sie zur Erlangung der juristischen Doktorwürde von der
Universität Qöttingen verfaßt hat. Seine sdieinbar rein wissen-
schaftliche Abhandlung über das europäische Oleichgewicht blieb
nicht im Dunkel weltfremder Gelehrsamkeit Noch im Jahre
ihres Erscheinens wurde sie von einem Mitglied der Berliner
Akademie der Wissenschaften, dem Professor Formey, ins Fran-
zösische übersetzt^) Bald darauf ließ ein Stettiner Gymnasial-
professor, Stisser, eine Entgegnung in zwei Abteilungen er«
scheinen.^) Wir wenden uns dem Inhalt zu, um zu sehen, aus
welchem Grunde die lateinische Abhandlung so viel Beachtung
gefunden hat.
Kahle möchte gern das europäische Gleichgewicht, von dem
die ganze Welt spricht, in seinem Wesen erklären und als eine
Norm des Völkerrechtes beweisen. Er macht sich die Sache aber
ziemlich leicht Aus der damals allgemein angenommenen Lehre
von dem Naturzustande, in dem die Staaten untereinander leben,
folgert er ihre böse Wesensart und aus dieser die Notwendigkeit eines
Schutzes vor allzu mächtigen Staaten. Aus dem Trieb der Selbst-
erhaltung wird das Gleichgewichtssystem geboren. Neben dieser
völkerrechüichen Konstruktion sucht Kahle in der Geschichte nach
praktischen Beweisen für die Richtigkeit seines Prinzips, und
findet sie natürlich. Dann wendet er sich von dieser allgemeinen
rationellen und historischen Grundlegung Europa speziell zu, von
1) L. Martin Kahle: „Commentatio iuris publid de tnitint Europae, qnae volfo
appellatur „Die Ballance von Europa." Qöttingen 1744.
>) vgl. Ober Kahle A. D. B. XIV, 795. Er war schon 1737 Professor der PhilotopUe
in Qöttingen, wurde 1744 Dr. juris. Daß die »»Commentatio iuris publid'* de sdne Jvl-
stisdie Dissertation war und audi als soldie erschien, gibt Mensd im SchrifsteUerlexikoa,
VI, 389 an. Kahle ist als höherer preußischer Beamter gestort)cn. Daß er diese Arbeit
überhaupt als juristische Dissertation verwandte, bemJbigelt Stisser (s. v. AnoL 4):
a. a. O. I, 22.
B) «La balance de TEurope consid6r^ comme la r^le de la paix d de la gucrre.«
Berlin und Qöttingen 1744. Über Formey s. A. D. B. VII, 156.
*) »Freymfithige und beschddene Erinnerungen wider des berühmten OöttingitdMa
Professors, Herrn Dr. Kahle, Abhandlung von der Balance Europens.* Ldpdg 174S f.
Ober Stisser s. Meusel, Schriftstdlerlexikon XIII. Er hat auf Friedrich den Oroßcn 174f
dne Ode, 1742 eine Rede veröffentlicht. Eine Erwiderung Kahles auf Stisaers Angriff tilgt
rdn logischen Charakter und ist für uns irrelevant.
— 95 —
dem er eigentlich allein handeln wollte, und findet, daß hier die
Balance »die Hauptregel für Krieg und Frieden ist«, ^) und daß
sie im Orunde allein von Frankreich und Österreich gebildet
wird, denen sich die übrigen Völker je nach den Umständen
anschließen.*) Aus der Identität des Heilsamen und Gerechten
folgert er dann, daß diese Balance keine Chimäre sei, geht auf
die Nachteile jeder Universalmonarchie ein, um aus der Ver-
werfung des Gegenteils indirekt sein System zu bdcräftigen, und
wendet sich den Konsequenzen seiner Lehre zu. Diese führen
darauf hinaus, daß im Interesse des Ganzen, das heißt in concreto
des europäischen Gleichgewichts, das Recht des einzelnen verletzt
werden darf, im besonderen einem Staate rechtmäßige, etwa
durch Erbfall erfolgte, Vergrößerungen seines Gebietes ver-
boten werden dürfen.
Soweit ließe sich zwar mancherlei gegen das logische Rai-
sonnement und die Anordnung vorbringen,*) aber nichts gegen
dei rein wissenschaftlichen Geist der Arbeit einwenden. Wenn
ihr nur Kahle nicht noch einige Paragraphen angefügt hätte, in
denen er seine Grundsätze auf die politische Lage des Augen-
blicks überträgt! Spanien, so erklärt er, stört gegenwärtig Eng-
lands Handel und damit die Balance, denn »es ist für das
Gleichgewicht Europas wesentlich, daß diese Nation (England) im
Genüsse ihrer Vorteile erhalten bleibt.«^) Frankreich aber ist mit
Recht als der Feind ganz Europas anzusehen; ist sein Ziel doch
die Universalmonarchie. '^) Kahle will offenbar nahe legen, daß
der französische König eine »puissance excessive« besitzt, und
daher durch Krieg »sans scrupule« gezwungen werden müßte,
herauszugeben, was er zu viel hat*) Wer einer solchen über-
großen Macht Beistand leistet, begeht in jedem Falle eine Unge-
rechtigkeit, ^ folglich - so soll nach dem ganzen Zusammenhang
offenbar geschlossen werden, obgleich Kahle es nicht selbst sagt —
>) a. a. O. S 14.
^ t. t. O. § 19.
>) Gelegentlich der Schriften Jnttis verdcn wir nch auf dicae ans tonst nicht be-
rilncndcn Fragen zurtckkommen.
«) a. a. O. § 31.
i) a. a. O. S 39.
i) a. a. O. § 34. Wohl absichtlich von Kahle nicht mit aosdrficklichen Worten
mf Frankreich bezogen.
T) a. a. O. § 33.
— 96 —
ist das Bündnis Friedrichs II. mit Frankreich ein Verstoß gegen das
Völkerrecht! Georg II. von England dagegen ist des höchsten
Lobes für seine Bemühungen im allgemeinen Interesse würdig,
für ihn und Maria Theresia steigen die Segenswünsche aller
Outen zum Himmel.
Dürfen wir wegen dieser letzten Paragraphen Kahles Schrift
für eine verkleidete rein politische Tendenzschrift im hannoverisch-
englischen Auftrage halten? Gewiß nicht, da dann unverständ-
lich bliebe, weshalb Kahle sie der Universität eingereicht, weshalb
er sie in lateinischer, nicht in französischer Sprache geschrieben
hat, der Sprache der Diplomaten und Gebildeten. Aber Tendenz-
schrift bleibt die Arbeit! Wir werden annehmen dürfen, daß
Kahle der naheliegende und schon von anderen vor ihm in der-
selben Weise verwertete Gedanke kam, die Theorie des euro-
päischen Gleichgewichts für seine juristische Dissertation zu ver-
wenden,^) und daß er die Gelegenheit benützte, die Wissenschaft
mit der Politik zu verbinden. So kamen zu seinen naturrecht-
lichen und historischen Deduktionen die offenen Angriffe auf
Frankreich und Spanien, der etwas versteckte auf Friedrich von
Preußen, die Verherrlichung Georgs II. Wahrscheinlich ist, daß
er sich der hannoverischen Regierung zu empfehlen beabsichtigte.
Mit seiner anti-bourbonischen Tendenz verbindet auch Kahle die
Beibehaltung des »alten Systems" der drei Großmächte. Zwar nicht
im allgemeinen Teil, aber gelegentlich der Anklagen gegen Spanien
bezeichnet er Englands besondere Bedeutung für das Gleich-
gewicht, und vertritt die uns schon bekannte Auffassung, daß jeder
das Gleichgewicht stört, der Englands Handel zu nahe tritt ^) Es
war die Auffassung, die geeignet war, den Gleichgewichtsgedanken
absolut den englischen Handelsinteressen dienstbar zu machen.
3. Ahnlich haben wir uns psychologisch die Gegenschrift
Stissers zu erklären. Auch ihm ist wissenschaftlicher Eifer nicht
abzusprechen, seine Beweisführung mit ihrer minutiösen Einzel-
kritik läßt dem geduldigen Leser keinen Zweifel daran. Der
unmittelbare Antrieb zu seinem Angriff auf Kahles Schrift dürfte
aber ein politischer gewesen sein. Stisser war Preuße, sein bc-
>) vgl. die Titel anderer juristischer Art)dten im Anhang.
«) vgl. o. S. 86.
— 97 —
wunderter König der Verbündete der Franzosen, die Kahle als
Störer des europäischen Gleichgewichts, als die Feinde aller Völker,
deren Unterstützung er als einen Akt der Ungerechtigkeit gebrand-
markt hatte. Anlaß genug für Stisser, Kahles These kritisch zu
beleuchten und gleichzeitig seine politischen Anschauungen zu
bekämpfen. In hie und da verstreuten Bemerkungen rügte er,
daß Kahle gegen Frankreich sehr heftige, in einer wissenschaft-
lichen Abhandlung unzulässige Ausdrücke gebraucht hatte, während
er die universalen Bestrebungen der Habsburger, namentlich im
Dreißigjährigen Kriege, mit rücksichtsvollem Stillschweigen über-
gangen hatte.^) Er behauptete, daß die Politik der Königin
Elisabeth mehr in Selbstverteidigung, als in Hingabe an den
Balanc^edanken bestanden habe, daß man begründetes Mißtrauen
gegen die Frieden stiftenden Mächte hegen dürfe, die von Gleich-
gewicht und allgemeinem Wohl sprächen, aber damit nichts als
ihr eigenes Interesse wahrzunehmen suchten.^)
Solche politischen Erwägungen führten Stisser zu einem An-
griff auf die Vorstellung vom europäischen Gleichgewicht über-
haupt, mindestens in der Form, in der Kahle es wissenschaftlich zu
begründen versucht hatte. Seine logischen Erörterungen interessieren
uns hier nicht,*) dafür müssen wir aber auf eine andere Schrift
etwas näher eingehen, die schon vor ihm aus politischen Motiven
und mit politischen Gründen das Gleichgewicht bekämpft hatte.
Karl VII. und seine Anhänger fühlten sich namentlich in
Deutschland durch das odium gehemmt, das auf ihrem franzö-
sischen Verbündeten infolge der zahlreichen Angriffe gegen dessen
Weltherrschaftspläne lag. Ihren Bundesgenossen von diesem Ver-
dacht zu reinigen und ihren Gegnern ihr bestes publizistisches
Kampfmittel zu entziehen, war das Ziel eines Teils ihrer Publizistik.
Im Jahre 1743 erschien eine aus ihren Kreisen stammende Bro-
schüre, die in drei » Propositionen« gegen die Lehre vom euro-
päischen Gleichgewicht zu Felde zog.^) Einigermaßen naiv soll
1) a. a. O. I, 92ff., 117, 172f.
^ a. a. O. bes. I, 63ff.
s) Einzelnes im Anhang.
^ „RMexions touchant r^uilibre de TEarope." Nach der „Neuen enrop. Fama",
98. Teil (1743), S. 134, Anm., 1743 französisch und deutsch in Frankfurt erschienen. Die
ersten Seiten sind in dem zitierten Band der „N. eur. F." im Anhang abgedruckt Ich be-
nutze eine franz.-deutsche Ausgabe ohne Datum und Druckori (Univ. Bibl. zu Breslau.)
Kaeber, Das europäische OldchgewichL 7
— 98 —
die erste Proposition zeigen, daß die Sorge um das europäische
Gleichgewicht ein Quell nie aufhörender Beunruhigung der Völker
sei und zu so ungerechten Vorwürfen Anlaß gäbe, wie den An-
griffen auf die angebliche französische Universalmonarchie/) die
ebenso gut einmal ähnlich törichten Beschuldigungen gegen
Preußen oder Rußland Platz machen könnten. Gerade die Rück-
sicht auf die allgemeine Ruhe sollte zur Ergebung in den Gang
der Dinge führen, die die Hand des Allmächtigen ja doch zum
Besten leitet In der zweiten Proposition verficht der Verfasser
das Prinzip der Gerechtigkeit gegenüber dem der Opportunität,
das im europäischen Gleichgewichtssystem seinen Ausdruck ge-
funden habe. Solle dies System den Ausschlag geben, dann
würden die besten Rechte hinfällig werden, sobald sie sich g^;en
österreichische Länder richteten, ja dann würde auch Preußen
nicht im Besitz von Schlesien bleiben dürfen, auf das es sichere
Ansprüche habe, und dessen Besitz ihm durch die feierlichsten
Verträge garantiert sei.*) Wenn englische Schriftsteller die Sicher-
heit ihres Vaterlandes auf die Balancierung von Habsburg und
Bourbon begründeten, könne das doch nicht deutsche Fürsten
veranlassen, sich über das Recht hinwegzusetzen!
Und um so weniger würden sich die Reichsfürsten dazu
verstehen, als von ihrem Standpunkt aus das europäische Gleich-
gewicht ein Unding, ein Umsturz ihres eigenen politischen Systems,
nämlich des deutschen Gleichgewichts, sei. Eins von beiden lasse
sich nur erreichen, entweder verstärke man Österreich, damit es
Frankreich an Kräften gleich sei, das heißt, man helfe ihm selbst
dazu, eine unumschränkte Macht in Deutschland zu gewinnen,
oder man lasse die Idee des europäischen Gleichgewichts fallen.*)
Wer vor Frankreich Besorgnis hege, der begnüge sich mit Alliancen !
Herkunft und Tendenz dieser Flugschrift sind völlig klar.
Da Preußen damals mit Österreich im Frieden lebte, kann sie
nur aus der Umgebung Karls VII. stammen.
Wohl nur wenig später veröffentlichte der ir Königlich Groß-
britannische und kurfürstlich braunschweigische Justizrat« Struben,
1) Polemik gegen eine ungenannte österreichische Broschüre: a. a. O. S. 14 ff.
s) Dieser Satz ist aus der 3. Proposition genommen, a. a. O. S. 39. Die „trmit6s
des plus solenneis" sind die Breslau- Berliner Verträge von 1742.
s) a. a. O. bes. S. 42 f.
— 99 —
^sicher in höherem Auftrag, eine Gegenschrift, die die Gleich-
^ewichtstheorie in einer Reihe kurzer Aufsätze vom allgemeinen
Standpunkt wie von dem der deutschen Fürsten mit den üblichen
Vorwürfen gegen Frankreich und der Zurückweisung der Ver-
dächtigungen gegen Österreich rechtfertigte.') Man wollte offenbar
-einer weiteren Verbreitung der Ideen der »R^flexions touchant
l'^quilibre" sofort entgegentreten.
Indessen gingen diese trotzdem in eine im nächsten Jahre,
1744, veröffentlichte, wiederum wohl der wittelsbachischen Partei
«entstammende Verteidigung des bayrisch-französischen Bündnisses
über.*) Ihr Verfasser legte zwar den Hauptnachdruck auf den
Nachweis, daß Frankreich nie gegen das Deutsche Reich als
solches feindliche Pläne im Schilde geführt, vielmehr allein gegen
Österreich seine Kri^e gerichtet habe, daß nur Habsburg die
Freiheit Deutschlands und Europas bedrohe, und daß von einer Ge-
fährdung des Gleichgewichts durch Frankreich keine Rede sein
könne.^ Aber trotzdem er im Einklang mit diesen Gedanken die
deutschen Stände aufforderte, sich Karl VII. gegen das über-
mächtige Österreich anzuschließen, gerade wenn sie f»das Gleich-
gewicht von Europa unverletzt erhalten« wollten, fügte er an
anderer Stelle die Bemerkung ein, daß »eine geschickte Feder«,
nämlich der Verfasser der »Rdflexions«, schon längst die Ober-
flüssigkeit des ganzen Gleichgewichtssystems zwischen Habsburg
und Bourbon nachgewiesen habe.*) Offenbar hat der Autor dieser
Schrift selbst noch zwischen den alten, allgemein anerkannten An-
tsichten über die Notwendigkeit des europäischen Gleichgewichts,
und den neuen, gewissermaßen revolutionären Ideen geschwankt,
vielleicht auch aus Rücksicht auf seine Leser das Neue nicht un-
bedingt annehmen wollen. Und so braucht er beide Anschauungen
nebeneinander für seine praktischen Zwecke.
Diese Erklärung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir
«ein ganz ähnliches Schwanken bei einem anderen Politiker be-
>) MPrfifung der ans Licht getretenen R6flexions touchant rEquilibre", in Strubens
^.Nebenstnnden", Hannover, 1747. II, 267 ff.
s) „Historisch-politische Erörterung der Frage, ob die Crone Franckreich vor einen
Erb-fdnd des Heiligen Römischen Reiches zu achten sey." 1744.
*) a. a. O. S. 26
«) a. a. O. S. 22.
— 100 —
obachten. Es ist eine Flugschrift des geistreichen Bewunderers
Friedrichs des Großen, des späteren Ministers und Staatssekretärs,
Lord Chesterfield, von der wir sprechen wollen.^) Chesterfleld
gehörte damals, Anfang 1744, zu der Opposition, die sich vor-
nehmlich gegen die Person des leitenden Ministers, Lord Carteret,
wandte. Wir sehen von den Angriffen ab, die er in seinem
Pamphlet gegen die Regierung richtet, bemerken nur, daß er
sich ausschließlich an das englische Publikum wendet, und heben
allein die für uns wertvollen Partien hervor.
Chesterfield bekämpft die antipreußische Richtung des
englischen Ministeriums, die er auf ein »Partei Vorurteil« zurück-
führt*) Eine Entschuldigung für diese Haltung würde nach
seiner Meinung nur darin gefunden werden können, daß in dem
Kampfe Preußens »zugunsten des Hauptes und der Freiheiten
des Reichs" das allgemeine Interesse oder das Gleichgewicht be-
teiligt wären. Wäre das der Fall, so könnte man darin allerdings
eine Veranlassung zu kräftigem Eingreifen in die deutschen An-
gelegenheiten sehen. Aber davon kann nach Chesterfields An-
sicht keine Rede sein. Die Person des deutschen Kaisers geht
England als einen Handelsstaat nichts an. Und überhaupt, fügt
der Verfasser an einer späteren Stelle hinzu, wird Englands
Handel ebensowenig wie das Gleichgewicht durch Besitzwechsel
zwischen deutschen Fürsten berührt. Höchstens ein Sieg Öster-
reichs würde die »Balance of Power in the Empire« und damit
auch das europäische Gleichgewicht gefährden, das durch Friedrich^
den deutschen Patrioten, gesichert wird.*) Zwischen diese An-
sichten über die Beziehungen des preußisch -österreichischen
Krieges zu dem Balances)rstem, die charakteristisch sind durch
ihre Verbindung mit dem deutschen Gleichgewicht und ihre
Spitze gegen Österreich, schiebt Chesterfield gänzlich un-
vermittelt die überraschende Behauptung ein, daß die »Balance
of Power« überhaupt nur eine »ideal chimera" sei, durch be-
stechliche und intriguierende Minister in England eingeführt, um
1) „Natural reflexions on the present conduct of his Prussian Majesty." 1744*
Oedruckt bei Koser: „Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit Friedrichs H.'*-
Bcrlin 1877 f. I, 597 ff.
Über Chesterfields Persönlichkeit vgl. Koser: a. a. O. S. 582 ff .
>) a. a. O. S. 608.
V) vgl. a. a. O. S. 610 und 616.
— 101 —
ihre betrogenen Landsleute zu täuschen und ihren Plänen dienst-
bar zu machen.^) Wolle man aber annehmen, das Gleich-
gewicht sei ein Ding der Wirklichkeit, fährt er fort, dann wäre doch
Frankreich die einzige zu fürchtende Macht, und diese könne durch
Machtverschiebungen im Reich nichts gewinnen. - Damit ist für
Chesterfield die Leugnung des Gleichgewichts durch einen etwas
gezwungenen Obergang für den Rest seiner Ausführungen wieder
rückgängig gemacht
Offenbar ist sich Chesterfield des Widerspruchs in seinen
Anschauungen nicht völlig klar geworden. Ihm ist zum Be-
wußtsein gekommen - und darin liegt das Interessante seiner
Schrift -daß bei dem Eingreifen der neuen Großmacht Preußen
mitten in die Kämpfe der drei bisher führenden europäischen
Staaten das alte System, wie es im Frieden von Utrecht fest-
gelegt worden war, antiquiert, unhaltbar geworden war. Indessen,
die alten Vorstellungen waren noch in der ganzen politischen
Welt zu mächtig, als daß er sich ganz von ihnen hätte frei
machen können, und vor allem, sie waren für Chesterfields
publizistische Zwecke, für die Wirkung auf die englische Nation,
noch unentbehrlich.*) Eine einzelne ketzerische Bemerkung über
das Gleichgewichtssystem konnte an geeigneter Stelle Eindruck
machen, eine konsequente Leugnung war doch nicht gut möglich.
Um die Verschiedenartigkeit der Interessen, die damals mit
dem Gleichgewichtsgedanken sich auseinander setzen mußten,
durch ein letztes Beispiel zu beleuchten, führen wir noch eine
holländische Flugschrift aus dem Jahre 1744 an.*) Wir haben
oben eine englische Broschüre besprochen, die wohl auch in
Holland ihre Wirkung ausüben sollte.*) Die uns hier beschäfti-
gende Schrift sucht gegenüber den Mahnungen an Holland, sich
England fest anzuschließen, die abwartende Politik der General-
staaten zu verteidigen. Es ist fast amüsant zu beobachten, wie
der Verfasser sich zwischen dem rein holländischen Interesse,
^) „ . . . introduced among us by comipt and designing ministers, to subject and
fleece thdr dduded Countrymen'': a. a. O. S. 608; das Folgende ebenda.
S) vgl. einen Bericht des preußischen Residenten in London, Andri^: Koser,
a. a. O. S. 581.
s) „La conduite des Hollandais justifite" etc. Amsterdam 1744.
«) s. o. S. 92 ff.
— 102 —
das ihm den Frieden zu fordern scheint, und der Rücksicht auf
die allgemeinen Interessen hin und her windet. Kaum hat er
auseinandergesetzt, daß eine vernünftige Politik der Republik
durchaus Zurückhaltung auferlege, und daß diese einzig richtige
Haltung unmöglich würde, wenn Holland sich durch die
»chimärische Idee, die eine oder die andere Macht zu unter-
stützen oder zu schwächen'«, von der Sorge um das zunächst
Notwendige abbringen lasse*) - so lenkt er auch schon wieder
ein und eifert gegen die Universalmonarchie und b^[eistert sich
für das Gleichgewicht, um dann doch wieder auf seinen Aus-
gangspunkt zurückzukommen und sich mit der »Raison d'Etat«
zu decken.^) Dem unglücklichen Holländer bleibt eben nichts
anderes übrig, als mit Begriffen zu spielen. Darüber, daß Gleich-
gewicht und gesunde Realpolitik manchmal unvereinbar sind^
kann er natürlich mit aller Rhetorik nicht hinw^kommen.
In ihrer Gesamtheit zeigt die politische Literatur des öster-
reichischen Erbfolgekrieges auf der einen Seite, die in der prak-
tischen Politik die alten Machtverhältnisse unverändert wahren
möchte, die Aufrechterhaltung des auf Frankreich, Österreich und
England gegründeten Gleichgewichtssystems, ja seine scheinbar
ewige Konsolidierung durch die Verbindung mit dem Naturrecht;
auf der anderen Seite zeigt sie die mehr oder minder unent-
schiedene Verwerfung des ganzen Systems, in erster Linie ver-
anlaßt durch das Erscheinen einer neuen Großmacht, die bald
das alte Machtverhältnis der Staaten endgültig in der Welt des
realen Lebens wie in der Literatur umstoßen sollte, in zweiter Linie
durch den vorübergehenden Versuch eines wittelsbachischen Kaiser-
tums unter französischem Schutze.
») a. a. O. S. 8.
«) a. a. O. S. 18, 23.
IV.
Der Siebenjährige Krieg.
Einleitung.
Im österreichischen Erbfolgekriege war noch einmal die
Konstellation der europäischen Mächte lebendig geworden, wie
sie sich zur Zeit Ludwigs XIV. und Wilhelms III. gebildet hatte.
Zumal seit Preußen aus dem Kampfe ausgeschieden, und der
wittelsbachische Kaisertraum mit Karls VII. frühem Tode ruhmlos
beendet war, schien das politische System Europas wieder auf
den drei großen alten Mächten zu beruhen. Wäre dem wirklich
so gewesen, so wäre die Möglichkeit geblieben, die sinnlich-
mechanische Auffassung des europäischen Gleichgewichts zu be-
wahren, die der Idee plastischen Ausdruck und damit allgemein
überzeugende Kraft gegeben hatte, die Vorstellung von zwei alle
anderen Staaten überragenden Kontinentalmächten, deren Kräfte
wie die Schalen einer Wage von dem englischen Inselstaat im
Gleichgewicht gehalten werden müßten, damit durch diese Balance
die Existenz und Unabhängigkeit aller kleineren Staaten gewährleistet
würde. ^) Dieser Gedanke war von einleuchtender Einfachheit.
1) So faßt noch Vaitd die konkrete Erscheinungsform des europäischen Olddi-
gewichts auf: „Le droit des gens", 1. III. c. III § 47 f. Natürlich behaupten Vattel und
die fibrigen Völkerrechtslehrer nicht, daß das europäische Oleichgewicht auf Österrddi,
Frankreich und England basiert sein mfisse, sie erklären nur, daß es tatsächlich so ad.
Indem sie aber das Oleichgewicht als ein Rechtsmittel zum Schutz der Freiheit der einzelnen
konstruieren, wird der Anschein erweckt, als ob auch seine zufällige Form rechtlich ga-
rantiert sei. - Übrigens muß Vattel diesen Passus mit dem Lob der Uneigennütziglreit
Englands und der Oegenüberstellung von Habsburg und Bourbon schon einige Jahre vor
der ersten Ausgabe seines Werkes - 1758 - geschrieben haben, da er nach dem Ausbmdi
des Siebenjährigen Krieges auf die politischen Verhältnisse in keiner Weise mehr paßte.
Dazu stand Vattel 1758 in sächsischen Diensten, hatte also gar keine Veranhissung, das Lob
Englands, des Alliierten Preußens, zu singen; vgl. Nouv. Biogr. Univ., XLV, 997 ff.
— 104 —
Die Natur selbst schien allen Völkern den W^ gezeigt zu haben,
die Sicherheit ihres politischen Daseins durch sorgfältige Be-
wahrung des Gleichgewichts zu begründen. So fruchtbar erwies
sich die Idee, daß man sie schon früh auch auf andere Gebiete
staatlichen Lebens übertrug. Wo zwei unorganisch sich gegen-
überstehende Gewalten miteinander im Kampfe lagen, dachte
man ihre Kräfte durch ein Gleichgewicht vor Obergriffen zurück-
zuhalten und die Harmonie des staatlichen Lebens zu sichern.^)
Allerdings erhielt durch diese Vorstellung das europäische Gleich-
gewichtssystem etwas Unbewegliches, Starres. Die Konsequenz
dieses konservativen Charakters mußte die Zurückdrängung jedes
neu aufstrebenden Staates sein, durch den die Machtverhältnisse,
auf denen das Balancesystem beruhte, hätten verändert werden
können. Wir haben bemerkt, wie man Rußland auch unter
Peter dem Großen nicht als neuen Faktor des Gleichgewichts
hatte anerkennen wollen, indem sich dann der politische Charakter
der Gleichgewichtsidee mit den völkerrechtlichen Konstruktionen
verschmolz, konnte der Gedanke entstehen, als ob die Mächte
des »alten Systems", Österreich, Frankreich und England, ihre
leitende politische Stellung auch als auf einen Satz des inter-
nationalen Rechts begründet betrachten dürften und damit in
der glücklichen Lage der beati possidentes wären, deren Besitz
durch das Recht geheiligt ist.
1) Der Gegensatz zwischen dem monarchischen Absolutismus in Frankreich, ver-
körpert durch den ersten Minister, und den Aspirationen der Stande führte in der Zdt der
Fronde zu der Forderung eines Gleichgewichts zwischen Regierung und Ständen« das seinen
Ausdruck in einer hfibschen kleinen Satire fand: «La balance d'estat. Tragi -ComfcUe
alKgorique." o. D. (Brit. Museum). Ahnlich wird die Theorie der «Teilung der Gewalten*
unter dem Bilde des Gleichgewichts veranschaulicht, so von J. H. G. JustI (vgl. über Ihn
u. S. lisff. und S. 122, Anm. 2): »Abhandlung von der Anordnung und dem Gldchgewldit
der Hauptzwdge der obersten Gewalt", in seinen „Gesammelten politischen und Finanz»
Schriften", II, 3 ff. JustI wünscht ein Gleichgewicht zwischen der vollziehenden und der
gesetzgebenden Gewalt, von denen die richterliche Gewalt gleichmäßig abhängig sein soll. Er
entlehnt nicht gerade den Ausdruck, aber die Idee der sich balancierenden Gewalten
Montesquieus „Esprit des lois", 1. XI. „Des lois qui forment la libert6 politlque, dans aon
rapport avec la Constitution". Vgl. bes. die Darstellung der englischen Verfassung im
diap. VI und den Satz: ,,pour qu'on ne puisse abuser du pouvoir, il faut que, ptr U dis-
posltion des choses, le pouvoir arr^e le pouvoir": 1. XI, chap. IV.
Locke: „Two treatles on govemment" kennt zwar die Trennung der Gewalten,
räumt aber der legislativen eine überragende Stellung dn.
Für England charakteristisch ist die Idee des Gleichgewichts zwischen Staat und
Kirche In dner jakobitischen Flugschrift aus dem Regierungsbeginn Wilhelms III.: „The
balance adjusted or the interest of church and State considered upon this conjunction.*'
o. D. (Brit Mus.).
Auch das Gldchgewlcht zwischen Kaiser und Ständen oder das zwischen Pro-
testanten und Katholiken In Deutschland gehört hierher.
— 105 —
Aber die Tatsachen entsprachen dem doch nicht mehr.
Wenn auch Rußland so wenig mit West- und Mitteleuropa ver-
wachsen war, daß man es allenfalls als außerhalb Europas stehend
betrachten konnte, so ging das Preußen gegenüber nicht. Und
es konnte doch auch nach dem Dresdener Frieden bei ruhigem
Hinsehen kein Zweifel sein, daß mit Preußen den führenden
Mächten ein sehr ernsthafter Rivale an die Seite getreten war.
Es fragte sich nur, ob es auf die Dauer seine Stellung behaupten,
oder ob es den drei Großstaaten gelingen würde, das alte
System wieder herzustellen.^) Im Siebenjährigen Krieg ist die
Entscheidung zugunsten Preußens gefallen.
Zu der durch Friedrich den Großen inaugurierten .Um-
gestaltung des europäischen Qleichgewichtssystems kam noch ein
anderes, nicht minder bedeutsames Moment. Es zeigte sich
immer deutlicher, daß England durchaus nicht nur die Rolle als
Zünglein an der Wage zu spielen gedachte, sondern daß der
englisch-französische Gegensatz im Handel und in den Kolonien
auch ganz unabhängig von etwaigen französischen Fortschritten
auf dem Kontinent ausgefochten werden mußte. Vor allem doch
der Umstand, daß Englands König auch auf dem Festlande
Besitzungen hatte, fügte es dann so, daß der schon vorher aus-
gebrochene See- und Kolonialkrieg zum größten Teile mit dem
kontinentalen Ringen zusammenfiel, das wir im engeren Sinne
als den Siebenjährigen Krieg zu bezeichnen pflegen. Allerdings
leiteten den führenden englischen Staatsmann weniger diese
persönlichen Motive als politische Erwägungen, seinen Einfluß
für die Verteidigung Hannovers in die Wagschale zu werfen.*)
Begleitet wurde überall der Kampf der Schwerter von dem Streit
der Federn, in dem die Gleichgewichtsidee den veränderten
politischen Kombinationen entsprechend Ausdruck fand. Aber
wenn schon der politische Zusammenhang zwischen den beiden
>) Diese Bemerkungen sind nicht ohne starke Einschränkungen richtig. Alle drei
großen Mächte haben sich nie gemeinsam unter der Devise des Oleichgewichts gegen
Preußen gewandt. In den ersten Schlesischen Kriegen ist Frankreich, im dritten England
Friedrichs Verbündeter gewesen. In den vierziger Jahren ist von englischen Schriftstellern
auf die Gefahr der Balance durch Preußens Beraubung Österreichs nur schwach hingewiesen
worden, erst im Siebenjährigen Kriege wird das Oldchgewichtsinteresse scharf gegen
Preußen geltend gemacht.
>) vgl. A. V. Ruville: „William Pitt, Graf von Chatham". Stuttgart 1905.
II, 101 ff. u. 159.
— 106 —
Kriegen ein ziemlich loser war, so zeigt die Publizistik eine fast
völlige Divergenz und muß gesondert dargestellt werden, wobei
als unterscheidendes Merkmal nicht die Herkunft aus dem einen
oder dem anderen Lager, sondern das Überwiegen der kon-
tinentalen resp. der maritimen Gesichtspunkte gilt Oemdnsam
ist den meisten Erzeugnissen beider Gruppen die engere Ver-
knüpfung von Theorie und Politik, gedanklicher Konstruktion
und praktischem Zweck, die nicht so scharf wie vorher von
einander gelöst werden können.
1. Kapitel.
Durch das große ifRenversement der Alliancen«, den Bund
Österreichs und Frankreichs und die Vereinigung von Preußen und
England, entstand zunächst in der politischen Literatur mehrfach
ein Gefühl der Verwirrung und Unsicherheit, das durch den
kühnen Angriff Preußens auf seine mächtigen Feinde noch er-
höht wurde. — Eben noch war Preußen eine Macht zweiten
Ranges, so beginnt ein gleichzeitiger Schriftsteller einen Abriß der
ersten Regierungsjahre Friedrichs des Großen, und jetzt läßt es
ganz Deutschland vor sich erzittern. Welchen Einfluß wird seine
Macht auf das politische System Europas ausüben, welche Ver-
änderungen im Gleichgewicht Deutschlands verursachen?^) Ein
deutscher Publizist drückt den Wechsel, den der Siebenjährige
Krieg hervorgerufen hat, mit den Worten aus: vDas politisdie
Systema, das sonsten die europäischen Völkerschaften gq;en ein-
ander geheget, sieht bey gegenwärtigem Krieg sehr verwirrt aus^
es scheinet, als ob die mehreste im Krieg verwickelte Mächte^
ihr altes System über den Haufen geschmissen, und ein gmz
neues, von dem man sehr ungewiß seyn muß, ob es die Probe
halten werde? errichtet haben'', während früher der politisdie
Zustand Europas sehr einfach darin bestand, daß immer zwei
Mächte abwechselnd nach der Universal-Monarchie strebten und
sich gegenseitig an der Vollendung ihrer Pläne hinderten.*)
1) „L'Europe ridicule ou rMexions polltiques sur la gucrre präsente." Colofne ITSf.
^ „Juristische und politiscfae Briefe von Bcdenklichkdten bey Jetzigem Kiiqie.*'
Alfdorf 1758. S. 15. Vgl. fiber diese Schrift auch w. u. S. 113 f.
— 107 —
Wenn die Politiker sich klar darüber waren, daß die alten
Konstellationen der Mächte zusammenzubrechen [begannen, so
erhob sich för sie die Frage, ob man überhaupt noch von einem
Gleichgewicht sprechen sollte, oder ob der Begriff nicht ganz
fallen zu lassen war. Zog man diese letzte Folgerung nicht, so
hatte man zu untersuchen, woher der gegenwärtige Wirrwar ent-
sprungen war, oder mit anderen Worten, wer das europäische
Gleichgewicht gestört hatte, und gegen wen daher in seinem
Namen einzuschreiten war. Eng verbunden damit war die Er-
örterung über den Einfluß des preußisch-österreichischen Kri^es
auf die deutschen Staaten, nach damaligem Sprachgebrauch auf
das deutsche Gleichgewicht Doch brauchten die Antworten auf
die Frage nach dem Interesse der einzelnen Staaten am europäischen
und am deutschen Gleichgewicht in derselben Schrift nicht identisch
beantwortet zu werden. Die Gründe dafür werden sich bei der
Besprechung der einzelnen Broschüren zeigen.
1. im Jahre 1716 hatte der bekannte Hallenser Jurist
Nicolaus Hieronymus Gundling eine ebenso scharfsinnige wie
witzige Abhandlung über die seit Albericus Gentilis immer wieder
zur Diskussion gestellte Frage geschrieben, ob die bloße Tatsache
der übergroßen Macht eines Staates dessen Nachbarn einen ge-
rechten Grund zum Kriege gewähren könne.^) Gundling hatte
die Frage bejaht und, ganz sichtbar unter dem noch frischen
Eindruck des spanischen Erbfolgekrieges, mit der Gleichgewichts-
idee lose verbunden. Jetzt, im Jahre 1757, wurde die kleine
Schrift gesondert in Frankfurt und Leipzig neu herausgegeben.*)
Der Neudruck enthält keinen Kommentar, keine Angabe über
die Veranlassung der Edition. Und doch kann man nicht glauben,
daß ein plötzliches wissenschaftliches Bedürfnis der kleinen Bro-
schüre nach über vierzig Jahren zu verjüngtem Leben verholfen
habe. Den einzigen Anhalt für eine Vermutung geben der oder
die Druckorte, beide Zentren der antipreußischen Stimmungen.
Darf man daraus schließen, daß Gundlings Polemik nach der
Meinung des Herausgebers jetzt gegen die »übergroße Macht"
>) Sie steht In den „Oundlingiina". 5. Stfick. „Ob wegen der inwichsenden
Macht der Nachbarn man den Degen entblößen könne." Halle 1716.
*) „Nie. Hieronymi Gundlings . . . Erörterung der Frage, ob wegen der anwach-
senden Macht" etc. Frankfurt und Leipzig 1757.
— 108 —
Friedrichs des Großen ihre Spitze richten sollte? Wenn man
weiß, daß in der Tat von sächsischer wie von österreichischer
Seite das Gleichgewicht in der literarischen Fehde gegen Preußen
ins Feld geführt worden ist,^) wird die Vermutung höchst wahr-
scheinlich, und wir hätten dann in des einstigen preußischen
Professors Abhandlung das erste Beispiel für eine antipreußische
Verwendung der Gleichgewichtsidee. Wir gehen jedoch auf die
Schrift, die immerhin nur indirekt zur politischen Literatur des
Siebenjährigen Krieges gehört, hier nicht näher ein.*)
Wenn auch schon in den ersten Jahren des Siebenjährigen
Krieges mehrfach die Gleichgewichtspolitik in der Publizistik eine
Rolle spielt, scheint sie doch mit Nachdruck von österreichischer
Seite aus erst in einer offiziösen Broschüre aus dem Frühjahr 1761
geltend gemacht worden zu sein.^) Wir analysieren diese, soweit
sie für uns wertvoll ist, schon an dieser Stelle, obgleich die be-
deutendste Publikation von englisch -preußischer Seite schon
drei Jahre früher erschienen war,*) da sie durchaus den Charakter
des Angriffs, die gegnerischen Schriften den der Abwehr tragen.
Die österreichische Staatsschrift ist nach Beginn der Ver-
handlungen über einen dann allerdings nicht zustande gekommenen
Friedenskongreß geschrieben worden und beabsichtigt, die Forde-
rungen der Gegner Preußens bei einem Friedensschluß mit all-
gemeinen Gründen zu vertreten.*) Die Grundsätze, nach denen
die verschiedenen Staaten Europas ihre Politik während des Krieges
der österreichischen Koalition gegen Preußen richten sollen, ent-
wickelt der Verfasser nicht in logischer Gedankenfolge, sondern
neben einigen im Zusammenhang vorgebrachten und allerdings
grundlegenden Ansichten stehen an verschiedenen Stellen andere,
die sie zu ergänzen und genauer zu bestimmen geeignet sind.
Wir fassen die leitenden Gesichtspunkte zusammen, ohne Rück-
sicht darauf, wo und in welcher Reihenfolge sie ausgesprochen
») vgl. w. u. S. 108ff.
s) Einige Angaben im Anhang.
*) M Staatsbetrachtungen fiber gegenwärtigen preußischen Krieg in Teutschland.
Wien 1761. Mit Anmerkungen wieder aufgelegt." Berlin, im Oktober 1761. Daß die
österreichische Schrift eine aus dem Ministerium hervorgegangene Staatsschrift vom Mai 1761
ist, sagt die offizielle preußische Erwiderung (s. u. S. 114, Anm. 2), S. 7.
*) Die w. u. besprochene Schrift Justis.
s) vgl. Koser: „König Friedrich der Große". II, 283 f.
— 109 —
werden, und gehen dabei vom allgemeinen aus, um darauf die
praktischen Konsequenzen kennen zu lernen.
Die Notwendigkeit eines Balancesystems in Europa steht
für den Verfasser gewissermaßen a priori fest; es handelt sich
für ihn nur darum, sein Wesen näher zu bezeichnen. Aus den
Betrachtungen eines sonst nicht hervorragenden französischen
Schriftstellers, Pecquet, sollen die landläufigen Vorstellungen ver-
vollständigt und vertieft werden.^) Danach ist das Oleichgewicht
als der Zustand der europäischen Staaten zu definieren, in dem
sie »unter sich in Ruhe und Frieden sich befinden können, und
keine Macht von der andern einen Umsturz oder nachtheilige
Veränderung ihrer Lande oder Gerechtsame zu befahren hat".*)
Für das Zustandekommen des i^^quilibre" muß zwischen »causes
premi^res« und »causes secondaires« unterschieden werden;*)
unter den einen sind die physischen Machtmittel verstanden,
unter den andern weniger greifbare, aber nicht minder einfluß-
reiche Momente, wie der Geist der Staaten und vor allem ihrer
Regenten. Denn nicht nurdieStärkeeinesStaates ist von dem Charakter
und den Talenten seines Herrschers vielfach abhängig, auch völker-
rechtlich ist es nicht bedeutungslos, wie der Fürst gesinnt ist.
Der Verfasser schränkt nämlich die von ihm zitierte Ansicht
Gundlings, nach der jeder Fürst seinem Nachbarn schaden wjrd,
sobald es in seiner Macht steht, dahin ein, daß nur eroberungs-
lustige und ruhmbegierige Fürsten das tun werden. Und nur
dann darf völkerrechtlich einem übermächtigen Staate ein Teil
seiner Länder abgenommen werden, wenn bei seinem Herrscher
»Recht und Gerechtigkeit, Treu und Glauben nichts gelten«, wenn
er Macht und Willen zum Bösen in sich vereinigt. Nur in diesem
Falle darf gegen ihn auf Grund des Gleichgewichts, das auf dem
Recht der Selbsterhaltung beruht, eingeschritten werden.*) Alle diese
Erwägungen gelten in derselben Weise auch für das Verhältnis der
deutschen Staaten zueinander, d. h. für das deutsche Gleichgewicht.
1) Pecquet: „L'esprit des maximes politiques". A Leyde 1758. I. cap. XII, S. 131 ff.
Vgl. über Pecquet die Nouv. Biogr. univ. : XXXIX, 44 f. Pecquet war eine Zeitlang im „bureau
des affaires ^trangfcres" in einer höheren Stellung beschäftigt.
>) „Staatsbetrachtungen" etc, S. 31.
I) Die „Staatsbetrachtungen" äbemehmen nicht die technischen Ausdrücke Pecquets,
wohl aber die Sache : vgl. S. 31 .
«) „Staatsbetrachtungen" etc. S. 31 ff. und 65.
— 110 —
Aus diesen Prämissen ergibt sich ohne Schwierigkeit für
den österreichischen Publizisten der praktische Schluß. Preußens
Macht übertrifft die aller anderen Staaten und ist, durch die
Talente seines Königs noch höher gehoben, eine Bedrohung für
das europäische Gleichgewicht Die Gefahr wird noch schwerer
dadurch, daß Friedrich IL, »der Eyffer und Talente zum Krieg-
führen besitzet, selbst zu Felde lieget und obrister Befehlshaber
ist«.^) Da Friedrich außerdem nach Ruhm und Eroberungen
dürstet, also sicher seine großen Mittel zum Schaden aller ge-
brauchen wird, so tritt ihm gegenüber der Grundsatz in Kraft,
nach dem sich alle Mächte um des Gleichgewichts willen zusammen-
tun müssen. Es gilt, Preußen zu Boden zu schlagen, aber auch
es im Frieden wirksam zu reduzieren, da bei dem militärisch-
despotischen Geist, der in dem ganzen Staate lebt, auch nach
Friedrichs Tode sein Nachfolger gewissermaßen gezwungen sein
würde, in seines Vorgängers Fußstapfen zu treten, wenn Preußen
in seinem alten Umfang erhalten bliebe. Preußen muß, mit
anderen Worten, »#nach dem allgemeinen europäischen wahren
Interesse« den übrigen deutschen Kurfürstentümern wieder gleich
gemacht werden. Demnach hat, falls es auf dem geplanten Kon-
gresse zum Frieden kommen sollte, Österreich das gemubte
Schlesien, Sachsen verschiedene preußische Besitzungen, Schweden
Vorpommern zu erhalten, und auch Ostfriesland und Geldern
dürfen nicht bei Preußen bleiben.*) Selbst Preußens Verbündeter,
England, sollte daran denken, seine Politik zu ändern. Bliebe
auf die Dauer Preußens Macht unbeschränkt, so würde zuletzt
England selber »noch die Haltung des Gleichgewichts in Europa
verlieren, . . . weil das Gleichgewicht zu Lande sich dahin lenken
würde, wohin Preußen sich hinlenkte". Außerdem beruht Eng-
lands Interesse vornehmlich auf seinem Handel, es kann ihm aber
um dessentwillen ganz gleichgültig sein, ob Preußen Schlesien
behält oder Österreich es wiederbekommt*)
Dieselben Maßregeln, die sich aus dem europäischen Gleich-
gewicht für alle Staaten ergeben, folgen für die Angehörigen des
>) a. a. O. S. 31 f.
«) a a. O. S. 61 f., 68 ff, 76 f.
>) a. a. O. S. 53 und 26.
— 111 —
Reichs aus dem deutschen Gleichgewicht Wie schon Pufendorf
es definiert hat, besteht das leitende Prinzip aller deutschen Politik
darin »ne unius gliscens potentia (in imperio) ceteris praegravis
fiat«. Die preußische Macht aber »zeigt eine brandenburgische
Haupt-Superiorität über die Reichs-Mitstände, und eine Tretung
aus dem Oleichgewichte, in betreff des Reichs-Systems, an«.
Die einzig richtige Politik aller Reichsstände ist deshalb der
Widerstand gegen Preußen, der auch für Hannover das natürlich
Gegebene wäre.*) Die Annahme, daß die protestantischen Reichs-
stände irgend ein besonderes Interesse an einem starken Preußen
hätten, ist ganz verfehlt, Friedrich IL ist in keiner Weise der be-
rufene Vertreter des Protestantismus in Deutschland; Religion
und Politik stehen nicht mehr, wie in früheren Zeiten, in irgend
einem Zusammenhang.^)
Neu sind unter diesen Ausführungen der Wiener Staatsschrift
vor allem zwei Dinge. Einmal die Einführung der »isekundären
Ursachen« der Macht eines Staates. Darin lag nichts, was logisch
überraschen könnte, im Gegenteiles war eine ganz richtige Be-
obachtung, die dazu führte, den Umfang eines Staates, die Ein-
wohnerzahlen und ähnliches nicht allein als ausschlaggebend zu
betrachten. Aber natürlich war die Übernahme der Pecquetschen
»causes secondaires« nur Mittel zu einem bestimmten Zweck.
Wie hätte jemand Preußen seinem Territorium nach als eine
Gefahr für ganz Europa bezeichnen können? Erst dadurch, daß
seine militärische Organisation und die Leidenschaften und die
Feldhermtugenden seines Monarchen als Gewichte von beliebig
hoher Schwere in die politische Wagschale geworfen wurden,
konnte Preußen als eine Bedrohung der Freiheit Europas er-
scheinen. Das zweite neue Moment ist eben die Wendung des
Gleichgewichtsgedankens gegen Preußen, das bisher überhaupt
nicht zu den großen Mächten gehört hatte. Die wahre Tendenz
dieser Wendung liegt klar vor Augen: nicht eigentlich die Be-
1) a. a. O. S. 28 ff.
>) Die angeblichoi UnterdrQckungsgelfiste der österreichischen Regierung gegen
die Protestanten spielen in der Publizistik des Siebenjährigen Krieges eine sehr große Rolle.
In den preußischen Staatsschriften wie in privaten Broschfiren dient die Gefahr des Pro-
testantismus in Deutschland der Stimmungmache gegen Österreich. Die gegnerischen
Schriften pflegen mehr oder minder energisch solche Beschuldigungen zurückzuweisen.
Vgl. andi Koser: a. a. O. I, 611.
— 112 —
seitigung der preußischen Gefahr, sondern die Rückwandlung des
jungen Qroßstaats in einen Territorialstaat ist das Ziel der Flug-
schrift. Das bedeutet der Appell an das europäische und an das
deutsche Gleichgewicht! Die Großen sollen den kühnen Ein-
dringling in ihren Kreis wieder ausstoßen, die Kleinen den über
sie Hinausgewachsenen wieder zu sich hinabziehen. - Wie sich
der Verfasser den Zustand des europäischen Gleichgewichts nach
der Zertrümmerung Preußens gedacht hat, läßt sich aus seiner
Schrift nicht entnehmen. Es ist recht fraglich, ob er sich über
die Form der Staatengruppierung, die dann zu erwarten war, klar
geworden ist. Auch wenn Preußen wieder in das politische Nichts
zurücksank, war damit das alte Staatensystem noch nicht in
seiner einstigen Form wieder hergestellt.
Ähnliche Tendenzen verfolgte zum größeren Teil eine schon
1758 erschienene sächsische Flugschrift, der indessen die so
charakteristische Staats- und völkerrechtliche Fundierung der Wiener
Broschüre fehlt.*) Ihr Verfasser spricht nur die Erwartung aus,
daß »alle Potentaten, um das Gleichgewicht von Europa zu er-
halten, dem preußischen Adler nicht die Flügel zu lang wachsen
lassen werden^, und macht auf die Gefahr für den Norden Europas
und sein Gleichgewicht aufmerksam, dessen Vernichtung durch
einen übermächtigen Staat auch im Interesse »der Freiheit vieler
europäischen Teile nicht zu wünschen sei".
Auch die deutschen Stände dürfen nicht ruhig zusehen,
«daß ein Reichsmitstand eine verdächtige Übermacht an Mann^
Schaft und Zurüstung auf den Beinen habe"; aber an eine Zer-
trümmerung Preußens sollen sie doch nicht denken, denn »durch
den gänzlichen Umsturz des Hauses Brandenburg würde das
deutsche Gleichgewicht ebenfalls gewaltig leiden«! - Gegen
allzuweit gehende Pläne Österreichs in Deutschland macht selbst
ein Angehöriger des stets Habsburg freundlichen Sachsen Front
So wenig er von einer preußischen Hegemonie wissen will,
auch eine allmächtige Stellung Österreichs im Reich ist ihm
nicht wünschenswert, gegen beide gilt es das »deutsche Gleich-
gewicht", den Horf der Kleinstaaten, zu erhalten. Der Dualismus
1) „Das politische Ma- und Microscoplum des gegenwärtigen Kriegs nnd das 9X1"
gemeine System des römischen Reichs betreffend.'* 1758. Die angefahrten Stdlcn auf S 31,
9, 11, 32. Die sächsische Hcrlcunft ist nach dem ganzen Inhalt nicht zu bezweifeln.
— 113 —
Preußens und Österreichs scheint schon hier als die Devise der
deutschen Mittelstaaten verteidigt zu werden.
2. Gegen die Angriffe der Gegner fand die preußisch ge-
sinnte Presse vornehmlich zwei Wege für die Verteidigung offen.
Den einen, den näher liegenden, wählte der Verfasser einer wahr-
scheinlich aus dem protestantischen Nürnberg stammenden kleinen
Schrift^) In der Form einer brieflichen Diskussion suchte er
die deutschen Stande über die wahre Bedeutung der veränderten
politischen Konstellationen aufzuklären. An die bekannte Schrift
Kahles und an Stissers »Erinnerungen« anknüpfend,*) untersucht
€r im ersten Briefe die formale Berechtigung des preußischen An-
griffs auf Sachsen,') im zweiten und dritten beleuchtet er die
politische Situation, deren Eigentümlichkeit in dem französisch-
österreichischen Bunde bestand. Die alten Vorstellungen über
die Form des europäischen Staatensystems sind nach seiner An-
sicht nicht länger haltbar;*) aber auch wenn man ganz von ihnen
absieht und nur die Gegenwart im Auge hat, ist es schwer, sich
ein Bild von den Zielen der Politik vor allem der kleinen Staaten
und der deutschen Fürsten zu machen. Man sollte bei der Ober-
macht der österreichischen Partei über die preußische doch er-
warten, daß alle nicht direkt interessierten Staaten auf die neue Lage
die Gleichgewichtsidee anwenden, »die Doctrin wohl studieren«
und sich auf Preußens Seite stellen würden.*) Aber nichts von
dem geschieht; dieselben Reichsstände, die früher gegen Habs-
burg bei Frankreich Schutz suchten, halten es jetzt unbesorgt mit
dem vereinten Österreich und Frankreich; man muß glauben,
daß »die Völkerschaften in Europa sich gar nichts mehr aus der
Doctrin von der Balance in Europa machen . . . und als ob sie
derselben den Satz: ein jeder für sich, Gott für uns alle entgegen
setzten«.*) Die betreffenden Staaten können doch nicht etwa
1) , Juristische und politische Briefe von Bedenklichkeiten bey jetzigem Krieise."
Altdorf 1758. Der Inhalt läßt in dem Verfasser einen protestantischen Prenßenfreund er-
Icennen, der Druck in Altdorf, der Nürnberger Universitätsstadt, vielleicht auf einen Nfim-
l>erger Bürger schließen.
«) vgl. 0. S. 94 ff., 96 f.
8) Die Ausführungen bringen nichts Neues. Bei Kahle, Stisser und Justi (s.u S. lisff.)
sind die beidta entgegengesetzten Ansichten ausführlicher behandelt.
*) vgl. o. S. 106.
») a. a. O. S. 15.
«) a. a. O. S. 19.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht S
— 114 —
annehmen, daß Preußen durch die Eroberung Schlesiens so
mächtig geworden sei, daß es seinerseits das europäische Gleich-
gewicht gefährde ! Die Politik Österreichs und seiner Verbündeten
allerdings ist ganz klar; sie wollen durch den Krieg einen Zustand
herbeiführen, in dem sie allein die ausschlaggebenden Mächte
sind, oder im Stil der Zeit, »Österreich, Frankreich, Rußland und
Schweden wollen die sogenannte Universal-Monarchie als vor eine
einzige Macht ein unmögliches Werk unter sich teilen«. Es gilt
deshalb für alle anderen Staaten, sich ihren Plänen zu wider-
setzen und sich Preußen und seinen Alliierten anzuschließen, »dea
rechten europäischen Patrioten, die die Knechtschaft des übrigen
Europa abzuwenden suchen«.^)
Das Ziel dieser Flugschrift ist nicht zu verkennen. Sie dreht
zugunsten Preußens einfach die Spitze des von den Gegnern
gegen Preußens Obermacht gerichteten Gleichgewichtsprinzips unt
und läßt Friedrich den Großen als den Verteidiger eben des
europäischen Gleichgewichts erscheinen, das er nach der Be-
hauptung seiner Feinde zu vernichten beabsichtigt. Interessanter
ist eigentlich die Vorstellung, die der Verfasser von den politischen
Zielen der großen Koalition hat. Diese n Universalmonarchie zu
vieren" ist im Grunde nur eine andere, beschränktere Form für
das Gebilde, das sich am Ende aus dem siebenjährigen Riesen-
kampf entwickelte, die Vorherrschaft der fünf großen Mächte, die
im 1 9. Jahrhundert als System der Pentarchie mit dem Kern der
heiligen Allianz und später als europäisches Konzert eine bevor-
mundende Autorität gegenüber den Kleinstaaten beanspruchen
sollten, eine Autorität, die der Verfasser unserer Flugschrift als
eine «geteilte Universalmonarchie« bezeichnet haben würde.
Schärfer war die zweite Waffe der preußischen Publizistik.
Die offizielle Entgegnung auf die Wiener Staatsschrift vom Mai
1761, die im Oktober desselben Jahres in Berlin erschien,') löste
die Verschmelzung von deutschem und allgemein europäischem
Interesse radikal auf. Innerhalb einer Staatenverbindung, wie das
1) a. a. O. S. 19 und 22.
I) „Das wahre Interesse des Teutschen Reiches bei dem gegenwftrtisen Kriefe-
zwischen den Häusern Preußen und Oesterreich." Berlin 1761. Den Hauptinhalt der Schrift
bilden nicht die allgemeinen Erörterungen, sondern der Nachweis der Widersprüche der be*
kämpften Broschfirc.
— 115 —
Reich sie darstelle, bestände allerdings der gemeinsame Vorteil
aller Mitglieder darin, daß niemand unter ihnen allzu mächtig
würde, und aus diesen «Grundsätzen einer gesunden Staatskunst"
folge, daß »jedermann die Preußische Macht als das Gleichgewicht
und den Damm ansehen müßte, welcher die österreichische Ober-
macht im teutschen Reiche in Schranken hält". Die Geschichte
bewiese ja zur Genüge Österreichs Versuche, die Freiheit der
deutschen Stände zu beseitigen, während Preußen gar nicht auf
einen derartigen Gedanken kommen könne, da ihm das Mittel
fehle, mit dessen Hilfe Österreich zu jeder Zeit an die allmäh-
liche Erfüllung seiner Wünsche gelangen könne — die deutsche
Kaiserwürde.
Die Waffe des deutschen Gleichgewichts gegen Österreich
zu wenden, verschmäht also die preußische Broschüre nicht; war
doch die Behauptung, das Haus Habsburg habe nie aufgehört,
nach einer wirklichen Herrschaft in Deutschland zu streben, seit
Richelieus Tagen ein beliebtes Argument aller antiösterreichischen
Publizistik und auch von Friedrich dem Großen nicht verachtet
worden,^) Aber von der Theorie eines europäischen Gleich-
gewichts will die Berliner Schrift nichts wissen. Auf Grund von
Zitaten aus dem großen Werk des älteren Mirabeau, des »Ami
des hommes",') und aus der Abhandlung Justis über das Gleich-
gewicht wird die Notwendigkeit, ja die Möglichkeit des Gleich-
gewichts geleugnet*)
Damit sind wir zu der interessantesten Schrift gelangt, die
wir unter den Erzeugnissen des literarischen Kampfes auf dem
Kontinent zu betrachten haben.*) Obschon bereits 1758 er-
schienen, stellen wir Justis Schrift doch an das Ende dieses Kapitels,
da sie einen abschließenden Charakter durch ihren Inhalt trägt
Wir geben diesen zunächst wieder, ausführlicher als wir es sonst
zu tun pflegen, da die Schrift auch heut noch an Klarheit der
Gedanken kaum übertroffen werden könnte, und werden darauf
die Frage nach ihrer politischen Tendenz untersuchen.
1) vgl. Koser: a. a O. I, 611.
^ vgl. w. IL S. 126 ff.
>) Eigenes enthält die Broschüre nicht
*) Johann Heinrich Gottlob v. Justi : „Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa."
Altona 1758.
8*
— 116 —
Justi teilt seine Schrift in fünf Hauptstücke ein, von denen
vier sich direkt mit dem Gleichgewicht beschäftigen, eins staats-
wissenschaftliche Auseinandersetzungen enthält, die als Fundierung
des Baus unentbehrlich sind. Wir folgen Justis Gedankengängen
unter Auslassung aller etwa zwischen den allgemeinen, theoretischen
Ausführungen versteckten praktisch-politischen Ziele.
Die erste Frage, die jede wissenschaftliche Diskussion der
Qleichgewichtstheorie zu beantworten hat, ist die nach ihrer Ent-
stehung. Justi widmet ihr sein erstes Hauptstück. Gleich hier
zeigt sich allerdings die Schwäche aller seiner scharfsinnigen
Deduktionen, der Mangel an historischem Sinn trotz der ein-
gehenden Eröriemng der geschichtlichen Vergangenheit, und das
Oberwiegen des Rationalismus. Justi beginnt mit dem alten Thema,
der Untersuchung, wann ein Krieg erlaubt sei. Er erklärt den
Krieg für gerechtfertigt bei friedlich nicht beizulegenden Inter-
essenkonflikten, das heißt praktisch bei kommerziellen Gegen-
sätzen. Nur dann sind Kriege vernünftig. Bei dieser engen
Begrenzung, bei der z. B. das Machtbedürfnis als unvernünftig
ausgeschaltet wird, lassen sich nun selbstverständlich nicht alle
Kriege unter die Kategorie der erlaubten, weil vernünftigen,
Kriege bringen. Justi schließt daraus, daß ^lo ^'l^i* Kriege in
den Leidenschaften oft ganz untergeordneter Persönlichkeiten ihre
Erklärung finden. Die allgemeinste dieser Leidenschaften, die
am stärksten sich bei Fürsten äußert, ist der Neid, und in diesem
ist auch der Ursprung der Gleichgewichtsidee zu suchen. Weil
blühende Staaten sofort der Gegenstand des Neides ihrer Nachbarn
werden, bilden sich alsbald Bündnisse mehrerer Fürsten gegen
sie. Nun haben aber meistens diese Ligen gegen einen gut
regierten Staat wenig Erfolg, deshalb beginnen die Unterlegenen
gegen die Übermacht des Siegers zu eifern, und bei einer solchen
Gelegenheit ist zum ersten Male als ein Einfall Heinrichs VIII.
die Idee des Gleichgewichts in die Welt gesetzt worden. Ob-
gleich längere Zeit ohne Einfluß, haben doch die französischen
und englischen Deklamationen gegen die habsburgische Universal-
monarchie sie nicht wie ähnliche Ideen wieder vergessen lassen,
so wenig reale Berechtigung auch hinter diesem »Geschrei«
steckte. Zu allgemeiner Anerkennung aber hat erst Wilhelm III.
— 117 —
von Oranien die Theorie gebracht Haß gegen Ludwig XIV.,
Furcht vor Jakob II. nach der Revolution von 1688, vor allem
das englische Handelsinteresse leiteten ihn und seine Berater.
Die französische Seemacht galt es zu schwächen durch kontinentale
Angriffe auf Frankreich, »und das System des Gleichgewichts
war ein schönes Gespenst, die Landmächte zu erschrecken und
zum Bündnisse mit England zu bewegen, um diese Landkriege
gegen England zu unterhalten''.
So erweist sich schon die Geschichte der Gleichgewichtsidee
als eine Folge von Handlungen des Neides gegen blähende Staaten.
Der Begriff des Gleichgewichts selbst, wie ihn dessen Ver-
teidiger aufgestellt haben, ist ein doppelter. Der eine »ist ziemlich
grob** und betrachtet Österreich und Frankreich als zwei Wag-
schalen, an die sich je nachdem England und die übrigen Staaten
anhängen. Trotzdem hat Kahle auf ihn vorzüglich seine Folge-
rungen aufgebaut Mindestens ist der Begriff jetzt nicht mehr
haltbar, da Rußland und vielleicht auch Preußen ebenfalls Wag-
schalen sein müßten, und außerdem ist durch die politische
Kombination des Siebenjährigen Krieges »dieses ganze System
als ein Schattenbild verschwunden''. Man kann also von dieser
Auffassung gänzlich absehen, und hat sich nur mit dem zweiten,
«ein klein wenig gesünderen", auch schon von Kahle aufgestellten
Begriff zu beschäftigen, nach dem das Gleichgewicht darin besteht,
daß kein Staat in Europa so mächtig werden darf, daß ihm die
übrigen Staaten vereint nicht mehr widerstehen können, und mithin
ihre Freiheit gefährdet wird.
Um die Unmöglichkeit auch dieser weiteren Auffassung
des Gleichgewichts zu beweisen, schaltet Justi als zweites Haupt-
stück die Beantwortung der Frage ein, worauf die wahre Macht
eines Staates beruht Denn da sich die Gleichgewichtstheorie
gegen die zu große Macht eines Staates richtet, muß man wissen,
nach welchen Kriterien überhaupt staatliche Macht zu beurteilen
ist Die Anhänger der Gleichgewichtstheorie scheinen dabei
immer nur an den Umfang des staatlichen Gebiets zu denken,
obgleich damit durchaus nichts Sicheres über die wirkliche Macht
gesagt ist. War nicht Spanien mit allen seinen europäischen
und amerikanischen Besitzungen ein Bild der Schwäche unter
— 118 —
Philipp IV. und Karl IL? Und auch die Zahl der Einwohner
ist kein brauchbarer Maßstab; das ungeheure und gut bevölkerte
Perserreich, das kaiserliche Rom im dritten und vierten nach-
christlichen Jahrhundert, oder das menschenreiche China sind
verhältnismäßig sehr kleinen erobernden Heeren erlegen. Oder
will man den Reichtum an Edelmetallen oder die Größe der
Armeen zu Kriftrien machen? Auch dagegen gibt es historische
Gegenbeweise genug. Die riesigen modernen Heere, wie sie
Ludwig XIV. zuerst eingeführt hat, sind zudem wegen der Ver-
proviantierungsschwierigkeiten und der unerträglichen Lasten, die
sie dem Lande auferlegen, ein sehr zweifelhafter Gewinn. In
Wahrheit beruht eben die Blüte eines Staates nicht auf solchen
äußeren Manifestationen, sondern auf der Vollkommenheit seiner
Regierung.
Damit ist justi, der große Kameralist, auf sein eigenstes
Gebiet gekommen« Mit sichtlicher Liebe entwirft er ein Bild
des vollkommen regierten Staates. Als einem überzeugten An-
hänger des PoHzeistaats des aufgeklärten Absolutismus gilt ihm
das Prinzip des Individualismus oder auch der freien Genossen-
schaft nichts, das der Ordnung des gesamten Staatslebens vom
Zentrum aus, nach einem genauen, wohl ausgearbeiteten Plane,
dagegen um so mehr. Als das zu erstrebende Ideal preist er
das Bild einer kunstvollen Maschine, deren Räder und Trieb-
werke ohne Störung ineinander greifen und alle dem einen
großen Zwecke der ganzen Maschine dienen. Eine Reihe be-
sonders wichtiger Gesichtspunkte hebt er einzeln hervor, so die
Pflicht des Fürsten, selbst zu regieren, keine Faktionen auf-
kommen zu lassen, die einheitliche Seele der Staatsmaschine zu
sein. Die Wahl tüchtiger, nur dem Ganzen dienender Beamter,
so schwierig sie ist, ist doch von höchster Bedeutung. Der König
muß mit ganzer Tatkraft sich dazu der Armee widmen, das
Amt des Heerführers »ist eine der allerwichtigsten Pflichten des
RQ[enten«. Schließlich wird der Regent Gelegenheit finden,
einen Schatz zu sammeln, die Kultur des Landes zu heben, die
Kommerzien zu befördern; aber diese sind nicht das eigentlich
Wesentliche, sondern folgen aus der guten Anordnung der
Regierung fast von selbst. Die größten Veränderungen in der
— 119 —
Macht eines Staates können also vor sich gehen, ohne daß er einen
Fußbreit neuen Bodens gewinnt Aber es kann doch auf keinen Fall
■ein Akt der Gerechtigkeit und nicht vielmehr des Neides sein, einen
ausgezeichnet gelenkten Staat eben wegen der Weisheit seiner Re-
gierung anzugreifen ! Das wäre ja nicht anders, als wenn ein Unfähiger
aus Neid einem Gelehrten Opium eingäbe, um ihn dumm zu
machen und von seiner Klugheit nichts mehr befürchten zu brauchen.
Dies würde indessen die Konsequenz der Gleichgewichts-
Iheorie sein. Diese müßte, so führt Justi im dritten Teil aus,
•das Recht geben, einem Staate innere Reformen, die geeignet
sind, seine Macht zu erhöhen, zu verbieten, würde also auf das
empfindlichste gerade die Freiheit der Staaten beschränken, die
man durch das Gleichgewicht zu schützen beabsichtigt Das
Prinzip würde in seiner Anwendung die Legitimation der Rechts-
^Widrigkeit sein, es würde dem natürlichen Trieb nach Erhöhung
des Qlücksempfindens, das den Staaten ebenso wie den Individuen
durch das Naturrecht garantiert ist, eine Schranke errichten, es
^würde die «Beleidigung" eines Staates erfordern, der selbst
niemandem unrecht getan, es würde gegebenen Falles gegen
unstreitige Rechte eines Staates, z. B. bei Eröffnung einer politischen
Erbschaft, einzuschreiten befehlen. Ebenso unbrauchbar würde
«ich die Theorie nach Justis Meinung selbst vom Standpunkt der
Politik erweisen — und hier zeigt sich die dialektische Kunst
Justis auf der Höhe. Ganz abgesehen davon, daß Gerechtigkeit
und Staatskunst in ihren Forderungen an sich identisch sind,
sobald man nur den wahren Vorteil des Staates im Auge hat,
■so verdankt die Welt dem Gleichgewicht die ungeheuren Armeen
und die Staatsschulden, also das schlimmste Übel der modernen
Staaten, verleitet die Balancepolitik zu Kriegen, deren Ausgang
immer ungewiß ist, um einer vielleicht ganz unbegründeten
Furcht willen, und kann überhaupt nur in ganz außerordentlich
seltenen Fällen zur Anwendung kommen. Denn fast nie wird
der Fall eintreten, daß ein Staat in jeder Beziehung allen anderen
derart überlegen ist, daß er eine wirkliche Obermacht besitzt
Tritt dieser Ausnahmefall aber wirklich einmal ein, dann ist die
einzig vernünftige Politik die, Konzessionen zu machen und den
Unüberwindlichen nicht zu reizen.
— 120 —
Wollte man Justi hier einwenden, daß es sich ja darum
handelt, einem schon sehr mächtigen, aber noch nicht unbesieg-
baren Staate weitere Vermehrung seiner Kräfte zur rechten Zeit
zu verwehren, so führt Justi sein stärkstes Argument ins Feld,
die Bestreitung auch nur der Möglichkeit der Gleichgewichts-
politik. Denn da die Macht des Staates auf seinen inneren Vor-
zügen beruht, diese aber unmerklich wachsen, weil so vieles
Kleine dabei ineinander greift, so können Angehörige fremder
Staaten nie den Zeitpunkt bestimmen, wo die Stärke des be-
treffenden Staates plötzlich »zu groß« wird. Dazu kommt, daß
der Begriff der »zu großen Macht« ein relativer ist, alle Staaten
in einem ständigen Fallen und Steigen begriffen sind, und jeder
feste Maßstab fehlt.
Damit könnte Justi seine Abhandlung schließen, er zieht
es aber vor, in zwei letzten Teilen auf den positiven Beweis
eine Widerlegung der gegnerischen Argumente folgen zu lassen.
Die Freunde des Oleichgewichts operieren gern mit einer Reihe
von falschen Voraussetzungen, deren eine die ist, daß es irgendwo
doch einen Berufenen geben muß, der über den Eintritt der
Gefahr des Gleichgewichts entscheidet. Aber wo soll man nur
einen Richter herholen, der über allen Staaten steht? Diese
können natürlich nicht selbst Richter in einer Sache sein, in der
sie notwendigerweise immer Partei sind ! Eine andere Annahme
ist die, daß jeder Mächtige auch den Willen habe, anderen zu
schaden, was nicht zutrifft, auch wenn man sich alle R^;enten
von Leidenschaften beherrscht vorstellt; gibt es doch genug un-
kriegerische Leidenschaften. Gerade der Idealzustand femer, der
jedem Gleichgewichtsfreund vorschweben muß, der einer völligen
Gleichheit aller Staaten, würde das traurigste Resultat geben, da er
jeden Fleiß und Eifer ebenso sicher vernichten müßte, wie es
etwa volle Vermögensgleichheit unter den Angehörigen eines
Staates tun würde. Die bestechendste, aber darum nicht weniger
zu bekämpfende These der Gegner ist schließlich die Konstruktion
einer Staatengemeinschaft, einer »soci6t6 unie par un lien moral«. ^)
Zwar hat auch Leibniz in seinem Buche »De suprematu«*)
1) s. Kahle- Formey § 25.
S) Erschioicn 1677 unter dem Pseudonym Caesarinus Fuersteneriiu.
— 121 —
dieselbe Auffassung vertreten, nallein die Staatskunst war eben
nicht die Stärke des Herrn von Leibniz«. Davon kann keine
Rede sein, daß man sich ein Gebilde wie eine allgemeine euro-
päische »Republik« vorzustellen habe; die verschiedenen Völker
leben »im Stand der natürlichen Freiheit«, ohne Verbindung und
Zusammenhang miteinander, und haben überhaupt in ihrer Ge-
samtheit keine gemeinsamen Interessen.
Nicht besser wie den naturrechtlichen und logischen Kon-
struktionen Kahles und seiner Gesinnungsgenossen geht es ihren
historischen Begründungen. Eine wie zweischneidige Waffe die
Geschichte in den Händen derer ist, die aus ihr irgend eine
Wahrheit für einen bestimmten Zweck entnehmen möchten, läßt
sich hier recht hübsch an einem konkreten Beispiele studieren.
Man hätte meinen sollen, die Geschichte mindestens der letzten
beiden Jahrhunderte, die für Politiker und Theoretiker immer
wieder den Beweis der Realität der Gleichgewichtsidee geliefert
hatte, hätte nicht umgedeutet werden können. Und doch ge-
schieht es, und man kann nicht einmal sagen, daß Justi dabei
viel willkürlicher verführe, wie seine Gegner, die wie Kahle oder
Hume^) das Gleichgewicht auch im Altertum nachgewiesen zu
haben meinten. Justi weist nicht ohne Berechtigung auf die
Sondervorteile hin, die bei den allgemeinen Koalitionen gegen
eine Macht die anderen Staaten jeder für sich verfolgt haben, er
macht ganz richtig auf vielfache Unbegreiflichkeiten in der Politik
der letzten Jahrzehnte aufmerksam, wenn die Rücksicht auf das
Gleichgewicht immer das leitende Prinzip aller Staaten gewesen
wäre. Und so kommt er zu dem Schluß, daß in Wahrheit
sich nie ein Volk nach dem Balancesystem gerichtet hat, sondern
daß alle »sich dieses Lehrgebäudes bedient haben, um sich
Bundesgenossen zu verschaffen und ihr besonders Interesse und
ihre Leidenschaften . . . darunter zu verstecken.«
Wollte man Justis »Vorbericht« glauben, so hätte ihn allein
das durch die Lehre vom europäischen Gleichgewicht über die
Völker gekommene Unglück zu einer Widerlegung dieser un-
heilvollen Chimäre veranlaßt. Ganz im Geschmack seiner Zeit,
9 David Hume: »On the Ballance of Power«. In sdnen »Essays and treaties on
acveral tabjects«. New edition. London 1760. II.
— 122 —
in der Kultus der Vernunft und Kultus des Gefühls in so selt-
samer Mischung oft ineinander übergingen/) einer Zeit, die
Voltaire und Rousseau gleichzeitig bewunderte, läßt auch Justi
neben den Gründen des Verstandes die Töne des Gefühls bald
pathetisch, bald wehmütig erklingen. Mit starken Worten geißelt
er den unseligen Neid, dessen Ausgeburt die Lehre vom Gleich-
gewicht ist, mit rührenden Worten beklagt er die Not des
hungernden Untertanen, der unter den unendlich gesteigerten
militärischen Lasten seufzt, den unausbleiblichen Folgen des
Gleichgewichts. Er kann sich darauf berufen, schon in seinem
Werke über Staatswirtschaft kurz gegen die Balancetheorie pole-
misiert zu haben,*) er verwahrt sich ausdrücklich gegen die An-
nahme, als ob er auf die Gegenwart exemplifizieren oder irgend
jemand persönlich angreifen wolle.
In der Tat hat Justi den Schein sehr gut gewahrt Denn
als Schein enthüllt sich bei schärferem Zusehen die Leugnung
jeder Tendenz, und sollte sie sich natürlich in gewissem Sinne
auch enthüllen, denn jede Tendenz ist dazu da, verstanden zu
werden. Wozu dienen sonst die häufigen Zitate aus dem Anti-
machiavell mit der nie fehlenden Verbeugung vor seinem
»großen", «weisen und erhabenen", »allen folgenden Zeiten ver-
ehrungswürdigen Verfasser", dem »größten Monarchen unseres
Jahrhunderts«?*) Will Justi nichts als eine historische Tatsache
anführen, wenn er erklärt, daß König Friedrich »die alleredelste,
wahrhaftigste und weiseste Staatskunst ausübt" ? ^) Ist es ohne
tieferen Zweck, wenn er an einer Stelle Ludwig XIV. und
Friedrich den Großen gegenüber stellt, um diesen als das Bild
«ines idealgesinnten Fürsten, jenen als einen rücksichtslosen
Eroberer zu malen?*) Polemisiert er nur um der wissenschaft-
I) vgl. O. Steinhausen: »Verstand und Gefühl im 18. Jahrhundert". Dentsche
Monatsschrift, 1904, Heft 11 und 12.
>) Justi meint seine im Jahre 1 755 aus den Vorlesungen am Theresianum hervor-
gegangene nStaatswirtschaft" ; vgl. den Artikel von Inama-Stemeggs in der A. D. B.^
XIV, 747 ff.
») a. a. O. S. 4, 39, 43, 46, 51, 61.
«) a. a. O. S. 79.
&) a. a. O. S. 102. Die Stelle verdient, angeführt zu werden: uwenn Friedrich,
der wahrhaft Große, sehr wichtige Geldsummen und andere außerordentlich vortheilhaftige
Bedingungen anbietet, um dasjenige zu erhalten, worauf er gerechte Anforderungen hat;
wenn er gleichsam in dem Augenblicke eines wichtigen Sieges Frieden schließet, ohne sich
seines in Händen habenden Vorteils zu bedienen, wenn er in dem Dresdner Frieden nichts
— 123 —
liehen Erkenntnis willen gegen diejenigen Engländer, die sich in
ihren Schriften gegen jede Verbindung Englands mit dem Kon-
tinent erklärt haben, und die nicht wie Justi der Ansicht sind,
daß es »immer eine starke Landmacht in seinem Bündnis und
Interesse haben muß?«*)
Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein! Und wenn man
erw^, daß Justi bei Abfassung dieser Schrift königlich groß-
britannischer Bergrat war,*) und dann die angeführten Verirrungen
von den Höhen der Theorie in die Welt der praktischen Politik
in Zusammenhang mit den heftigen Schwankungen der englisch-
hannoverischen Politik während der ersten beiden Jahre des
Siebenjährigen Krieges bringt, so kann der realpolitische Zweck,
den Justi mit seiner Schrift verfolgt, leicht erkannt werden.')
Gegenüber den Wünschen der hannoverischen Regierung, die
unter Führung des Kammerpräsidenten von Münchhausen bis
zu der Schlacht von Roßbach gegen den Anschluß an Preußen
agitierte,^) gegenüber denjenigen Engländern, die gegen jede
Allianz mit einer Kontinentalmacht waren, gegenüber all den
Stimmen, die in dem Staat des Preußenkönigs eine Gefährdung
des europäischen Gleichgewichts sehen wollten und unter diesem
Schlagwort gegen Friedrich zu Felde zogen, verteidigt Justi das
englisch-preußische Bündnis durch den Nachweis, daß Englands
Politik so wenig wie die irgend eines anderen Staates jemals
von der Gleichgewichtstheorie bestimmt worden ist noch ver-
nünftigerweise hat bestimmt werden können. Diese ganze
Theorie ist nichts als eine Chimäre, erfunden, um die öffentliche
Meinung irre zu führen; wie sie früher gegen Habsburg und
Frankreich verwertet worden ist, so soll sie jetzt gegen Preußen
verwandt werden und damit zugleich auch England, Preußens
verlanget, als was er schon besitzet, und ihm der vorhergehende Friede versichert hat, . . .
wenn er, um das Blutvergießen zu hindern, nichts als eine Erklärung verlangt, daß man
ihn nicht angreifen will ; so sind dieses selbstredende Handlungen, die jeden Unpartheiischen
fiberzeugen, daß dieser Held von der ersten Größe ebenso sehr durch den Geist der Mftßi-
gnng geleitet wird, als sich Ludwig XIV. von dem Geist der Herrschsucht und Eroberung
hat einnehmen lassen."
J) a. a. O. S. 25.
s) So bezeichnet er sich selbst auf dem Titelblatt.
>) vgl. v. Hassel : «Die Schlesischen Kriege und das Kurfürstentum Hannover.«
Hannover 1879. v. Ruville: .William Pitt, Graf von Chatham«. II.
4) vgl. ffir diese Zeitgrenze v. Hassel : a. a. O. S. 473 ff.
— 124 —
Verbündeter, diskreditiert werden. Es entspricht nur Justis Ten-
denz, wenn er neben der allgemeinen Rechtfertigung der englischen
Politik sie indirekt auch insofern verteidigt, als er Friedrich den
Großen in jeder Weise rühmt. Um so ehrenvoller war es für
England-Hannover, einen solchen Bundesgenossen zu haben.
Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Justi seine Arbeit
in höherem Auftrag geschrieben hat, zumal er noch einmal, und
zwar ohne den Schein so sorgfältig zu wahren, die englische
Politik verteidigt hat^)
2. Kapitel.
1. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, daß der
siebenjährige Seekrieg für sich betrachtet werden muß und auch
gegenüber den vorhergehenden englisch -französischen Kriegen
eine besondere Stellung einnimmt. Er brach aus, ehe noch auf
dem Kontinent ein Schuß fiel, er entzündete sich rein an kolo-
nialen Gegensätzen, er wurde von England vom Beginn bis zum
Ende fast nur als See- und Handelskrieg geführt Keine natio-
nalen englischen Regimenter fochten auf dem Festland, nur
durch Allianzen und Subsidien schützte das englische Volk das
Stammland seiner Könige, wenn es damit auch indirekt seine
amerikanischen Kolonien verteidigte, die das durch den Festlands-
krieg stark in Anspruch genommene Frankreich nicht mit voller
Macht angreifen konnte. Als dann auch der Kampf auf dem
Kontinent ausbrach, stand Frankreich an seines alten Rivalen
Österreich Seite. Damit fiel für die englische Regierung jede
Möglichkeit fort, ihre Mitbürger oder die Neutralen gegen Frank-
reich als den Störer des europäischen Gleichgewichts zum
Kampf aufzurufen.
Es ist daher kein Zufall, daß die einzige einer ganzen An-
zahl englischer Flugschriften aus dem Siebenjährigen Kri^;e, die
die Idee der »balance of power« verficht, noch aus dem Jahre
1755 stammt, aus einer Zeit also, wo die Feindseligkeiten in
Amerika und auf dem Meere schon begonnen hatten, die Neu-
gruppierung der Kontinentalmächte aber noch nicht eingetreten
>) vgl. die w. u. S. 137 ff. besprochene Schrift Justis.
— 125 —
war.^) Schon damals erhob sich in England die Forderung,
die Kriegführung von vornherein auf die See und die Kolonien
zu beschränken. Das englische Ministerium, das durch einen
Subsidienvertrag mit Rußland versucht hatte, auch auf dem
Kontinent den englischen Einfluß zum Schutz Hannovers zur
Geltung zu bringen,«) wurde von der oppositionellen Presse
angegriffen. Dagegen sucht unsere Flugschrift die Regierung zu
verteidigen und die Engländer durch die beliebte Erinnerung an
Königin Elisabeth davon zu überzeugen, daß es Englands eigenes In-
teresse als Handelsvolk sei, die Verbindung mit dem Kontinent nicht
zu lösen, sondern ständig das Gleichgewicht zu schützen und Frank-
reich und seinen Verbündeten nicht zu gestatten, es zu vernichten.
Dann aber ist höchstens noch einmal in einem Pamphlet
des Jahres 1760 von dem Interesse des Protestantismus und da-
mit auch Englands an der Verteidigung Friedrichs des Großen
und der Bewahrung des deutschen Gleichgewichts die Rede,
während der Verfasser im allgemeinen der Ansicht zu sein
scheint, daß England am besten nichts zu tun hat »mit der
Eifersucht und den Streitigkeiten von Fürsten, die, sich selbst
fiberlassen, schon das Gleichgewicht der Macht aufrecht erhalten
vferden«.') Die anderen englischen Flugschriften sind während
des Krieges ausschließlich den Handels- und Kolonialproblemen
gewidmet, wenn auch gelegentlich einmal von einem Autor
Holland durch die Furcht vor der Macht und dem »gefährlichen
Geist« Frankreichs auf Englands Seite zu ziehen gesucht wird,
Englands, das mit seiner »Unfähigkeit" irgend welcher eigenen
ehrgeizigen Absichten zusammen mit Holland dazu bestimmt ist,
die Welt vor den bösen Plänen anderer zu schützen.*) Im all-
1) »Reflexions upon the present State of affairs, at home and abroad, particularly
vifli regard to subsidies, and the differencies between Oreat-Britain and France." London,
1755. (Brit. Museum.) Die Kenntnis dieser und fünf anderer englischer Schriften aus dem
Sid>enjlhrigen Krieise, die sich in Berlin und Oöttingen nicht befinden, verdanke ich
mdnem Freunde H. I. Bell, Assistenten am Brit. Museum, der sich die Mfihe gemacht hat,
die Schriften zu lesen und mir ausffihrliche Auszüge zu schicken.
S) Das russisch-englische Bündnis fällt in den Herbst 1755; vgl. Koser, a. a. O.
I, 5791.
>) »Letter to the people of England on the necessity of putting an immediate end
io flie war." London 1760. (Brit. Museum).
<) Charles Jenkinson : »A Discourse on the conduct of the Government of Oreat-
Brltain with respect to neutral nations.« 1757. Neugedruckt als Einleitung zu einer
•Collediön of treaties" etc. London 1785. Die angeführte Stelle auf S. XXXIX; vgl.
mcfa S. XLVL
— 126 —
gemeinen darf man sagen, daß in dem entscheidenden Kampfe
um die Herrschaft auf dem Meere und in den amerikanischen
und ostindischen Kolonien England mit dem Schlagwort »Gleich-
gewicht« weder Bundesgenossen hat werben, noch seine Politik
vor der Welt hat rechtfertigen wollen. Selbst in der inneren
Politik ist der Gedanke fast bedeutungslos geworden.
2. Dafür trat das Unerwartete ein, daß eben die Macht,
gegen deren unaufhaltsames Vordringen halb Europa unter dem
Panier »Freiheit und Gleichgewicht" ein Jahrhundert lang in
stets erneuten Kämpfen ins Feld gezogen war, dieselbe Waffe zu
seiner Verteidigung ergriff, die seinen Angriffen so starken und
schließlich erfolgreichen Widerstand geleistet hatte. Ohne auf
die schwierige Frage nach Recht oder Unrecht beim Ausbruch
der Feindseligkeiten in Nordamerika einzugehen, dürfen wir doch
sagen, daß England von Anfang an besser vorbereitet in den
Krieg eintrat und imstande war, noch im Jahre 1755 durch seine
überlegene Flotte mehrere hundert französische Handelsschiffe
abzufangen, ohne wesentliche Gegenwehr zu erfahren. Seine
Überlegenheit zur See und der Wille, sie rücksichtslos auszu»
beuten, schienen zweifellos.^) Das schwächere Frankreich suchte
alsbald die Welt mit allgemeiner Furcht vor Englands Tyrannei
auf dem Meere zu erfüllen.
Schon der ältere Mirabeau muß hier genannt werden. Im
zweiten Bande seines großen Werkes über Volkswirtschaft,') der
zuerst 1756 erschien, findet er Gelegenheit, auf die allgemeine
europäische Politik zu kommen. In seiner unsystematischen
Weise schreibt er die Gedanken nieder, wie sie ihm in bunter
Fülle zufließen, nicht selten sich widersprechend, immer be-
herrscht von dem Verlangen, seine neuen Ideen mit Kraft und
Ursprünglichkeit auszudrücken.') Er weist in einem dem Handel
gewidmeten Teil mit lebendigen Worten auf die Bedeutung von
Handel und Verkehr, von Kauffahrtei- und Kriegsflotte für sein
1) vgl. Mahan: »Der Einfluß der Seemacht anf die Oesdiichte." (Deutsdie Obers.>i
Berlin 1896. S. 322.
s) (Victor de Riquette de Mirabeau): »L'Ami des hommes on trait^ de la popu"
lation«. Nonv. 6d. 1758.
>) Über Mirabeaus schriftstellerische Eigentfimlichkeit und Bedcntung vgl. Eid»
mannsdörfer : »Mirabeau«. Bielefeld und Leipzig 1900. S. Uff. Ober den »Ami dct
hommes« S. 1 7 ff.
— 127 —
Vaterland hin:^) Die vorwiegend kontinentale Politik Ludwigs XIV.
war ein verhängnisvoller Fehler; in erster Linie sollten franzö-
sische Staatsmänner sich der Sorge für freien Handelsverkehr
auf allen Meeren und in allen Ländern widmen. Darauf be-
ruht der Wohlstand der Völker, und doch wird er in der un-
gerechtfertigsten Weise durch England eingeschränkt. Seit dem
Erlaß der Navigationsakte, »dieses Attentats auf die öffenfliche
Freiheit«, »auf das Völkerrecht«, gegen das alle Nationen Front
machen müßten, sucht England allen Staaten »das Joch seines
ausschließlichen Interesses« aufzuerlegen, »das im Grunde nichts
anderes ist, als die Universalmonarchie«.') Nicht diese aber darf
die handeltreibenden Völker in Fesseln schlagen, nein, ein
»System der Brüderlichkeit« sollte zwischen ihnen walten und
sollte auch überallhin übertragen werden, wohin Europäer
kommen; in Amerika und den dortigen Kolonien sollte es nicht
minder herrschen, wie in Europa.*)
Mit den Angriffen Mirabeaus auf England stehen in inne-
rem Zusammenhang seine Vorstellungen vom europäischen Gleich-
gewicht, die er an einer etwas späteren Stelle seines Buches,
leider ohne rechte Konsequenz der Gedanken, auseinandersetzt^)
Jedenfalls ist soviel gewiß, daß nach Mirabeaus Ansicht bisher
das Gleichgewicht sich nur als eine gefährliche Chimäre er-
wiesen und dem »Neid und dem Ehrgeiz einzelner« gedient hat.
Noch mehr zeigt sich die Wesen losigkeit der Gleichgewichtsidee,
wenn man sie auf die Gegenwart anwenden wollte. Frankreich,
gegen das die Idee doch gewöhnlich benützt wird, ist frei von
allem Ehrgeiz, so daß es seinen Gegnern ganz unmöglich sein
wird, je wieder das »^quilibre« auf ihre Fahnen zu schreiben,
und selbst wird es hoffentlich nie wieder so dem »esprit de la
vertique« verfallen, daß es die Wiederbelebung dieser trügerischen
Idee nötig hätte. Das wahre Ziel der französischen Politik sieht
Mirabeau in einem etwas phantastisch ausgemalten Zustand, in
dem Frankreich nichts als die Ruhe Europas zu erhalten trachtet,
und in dem sein König als »p^re universel« die Rolle eines
>) a. a. O. S. 73.
«) a. a. O. S. 119 und 116.
^ a. a. O. S. 117.
*) a. a. O. S. 183 ff.
— 128 —
allgemeinen Völkerbeglückers ohne äußeren Zwang spielt. Aber
- und hier kommt in das ideale Zukunftsbild ein sehr prak-
tischer Gedanke — dieser Zustand des Friedens, in dem der
irpacificateur universel« eine Art von Gleichgewicht allerdings
herstellen wird, etwa nach dem Beispiel Lorenzos von Medici,
wird nie Sicherheit und Festigkeit gewinnen können, wenn die
Verhältnisse in Amerika nicht neu geregelt werden, und wenn
nicht völlige Handelsfreiheit eingeführt wird, ohne die die Eifer-
sucht nie enden kann.
Damit kommt Mirabeau wieder zurück auf die Gedanken,
von denen er bei dem Thema der Handelspolitik ausgegangen
ist: England stört durch seine kommerzielle Eifersucht die Ruhe
Europas, während Frankreich der natürliche Beschützer der all-
gemeinen Freiheit ist. Sein Ehrgeiz darf nur sein, durch den
friedlichen Einfluß seiner Kultur einen Zustand ruhigen Neben-
einanderlebens der Staaten herbeizuführen.
Dies war die Stimmung, von der die eigentliche Publizistik
des Siebenjährigen Krieges ausging. Zwei französische Literaten,
Maubert und Moreau, haben in der vordersten Reihe der Kämpfer
gestanden, ihre Schriften haben wir hier zu besprechen.
Maubert de Gouvest hatte schon ein seltsam abenteuer-
liches Leben hinter sich, als er im Siebenjährigen Kriege im
Dienst des französischen Ministeriums seine Angriffe gegen
England eröffnete.^) Auch als politischer Schriftsteller war er
schon 1753 mit dem w Testament politique du Cardinal Alberoni«
(erschienen in Lausanne) hervorgetreten. Diese ziemlich umfang-
reiche Broschüre zeigt manche Ähnlichkeit mit den beiden uns
näher interessierenden Schriften, so die Zusammenhanglosigkeit,
häufige Wiederholungen, leidenschaftliche Sprache und auch
schon eine starke Feindschaft gegen England. ^) Wir sehen darin
eine Bestätigung seiner Autorschaft für die nur von Justi^) ihm
zugeschriebenen, hier zu besprechenden, zwei Broschüren.
Wir wenden uns diesen selbst zu und zwar zunächst dem
wPolitique Danois«, in zweiter Auflage 1759 in Kopenhagen
») vgl. Nouv. Blogr. Univ., XXXIV, 333 ff.
S) vgl. bes. S. 327 f. und das ganze VI. Kapitel.
8) »Chimäre des Oleichgewichts der Handlung etc." (s. u. S. 137, i) S. 7, 8, 10.
— 129 —
erschienen.^) Die erste Auflage, die mir nicht zugänglich war,
muß zwischen dem Januar 1756 und dem April desselben Jahres
geschrieben worden sein, also nach dem tatsächlichen Ausbruch
des Krieges, aber vor der Kriegserklärung Frankreichs.*) Maubert
sudit in der leidenschaftlichsten Sprache einen negativen und
einen positiven Hauptzweck zu erreichen, nämlich Frankreich
von allen Vorwürfen zu reinigen und England als den berech-
tigten Gegenstand allgemeiner Feindschaft hinzustellen. Die
Theorie des Gleichgewichts muß seinen Zwecken dienen. Er
leugnet nicht, wie Mirabeau, den Nutzen des Balancesystems,
sondern sucht es vielmehr naturrechtlich fest zu begründen. Er
nimmt die von vielen Völkerrechtslehrern verteidigte Ansicht auf,
daß die europäischen Staaten einen inneren Zusammenhang be-
sitzen, der sie als einen »corps g^n^ral'' oder als eine »Republik«
zusammenzufassen gestattet^) In diesem einheitlichen Staaten-
system hat jede Nation ihren bestimmten Platz, so daß das Ganze
dne harmonische Gliederung aufweist, die für die Aufrecht-
erhaltung des Gleichgewichts in ihm notwendig ist.^) Das
Gleichgewicht selbst wiederum ist für jeden einzelnen Staat ein
Gebot des wohlverstandenen Vorteils, die Garantie gegen die
Universalmonarchie.
Nur muß das Gleichgewicht richtig aufgefaßt werden!
Man hat bisher stets geglaubt, daß eine Störung des Gleich-
gewichts im letzten Jahrhundert allein durch die ehrgeizige
Politik Frankreichs zu befürchten war. Das ist ein schwer^
wiegender Irrtum. Der Gedanke, an Stelle des Gleichgewichts
eine Universalmonarchie zu setzen, kann überhaupt ernsthaft
einer Landmacht gar nicht kommen, das ganze Schreckgespenst
»der Universalmonarchie ist so chimärisch, daß die Zukunft
nicht glauben wird, wenn sie das Wesen der Staaten genau be-
trachtet, daß diese Fabel unter zivilisierten Völkern je Glauben
gefunden hat«.*) Gewiß, Versuche dazu sind wohl einmal ge-
*) In der Universitätsbibliothek zu Oöttingen vorhanden.
«) Der Vertrag von Westminster (16. Januar 1756) wird mehrfach erwähnt (S. 61,
66, 97), der Angriff der französischen Flotte auf Toulon (10. April bis 28. Juni) noch nicht.
Vgl. Mahan : a. a. O. S. 323 ff.
«) a. a. O. S. 114, 245 f.; vgl. «la r^publique Chretienne« S. 124, 199 und passim.
Über die völkerrechtliche Auffassung vgl. den Anhang S. 149 ff.
«) a. a. O. S. 245 f., 250. Viele ähnliche Stellen passim.
6) a. a. O. S. 101.
Kaeber, Das europäische Oleichgewicht. 9
— 130 —
macht worden, wie z. B. durch Karl V. oder mehr noch durch
Philipp II. von Spanien, aber ein derartiger Versuch erregt so-
fort »allgemeinen Haß« und endet stets unter schwersten Ver-
lusten für den unverständigen Staat, der ihn unternimmt.^)
Frankreich jedenfalls hat nie danadi gestrebt, so seine Grenzen
zu überschreiten, ein Satz, der auch für Ludwig XIV. durchaus
seine Geltung behält, einen in jeder Beziehung ausgezeichneten,
von seinem Volke angebeteten Monarchen.*) Die Beschuldigungen,
die die Welt gegen Frankreich und insbesondere gegen seinen
größten Herrscher erhoben hat, sind nichts als eine Folge der
klugen englischen Politik, die mit großer Verschlagenheit die
ganze Welt auf diese falsche Fährte gelockt hat, um ihren eigenen
geheimen Plänen zu dienen, die erst jetzt offenkundig ge-
worden sind.')
Denn der Gedanke »Europa in Ketten zu schmieden«,
»diese Trunkenheit, kann nur in dem Geist einer Seemacht zum
Glauben werden".^) In der Tat hat England diese Idee zum
Leitstern seiner Politik gemacht. Indem es ihm in geradezu un-
glaublicher Weise gelungen ist, »anderthalb Jahrhunderte lang . . .
den Versuch zu unternehmen, alle anderen Menschen zu unter-
jochen und doch ständig zu erklären, daß es seine Macht nicht
vermehren wolle«, indem es heuchlerisch alle Welt zur Erhaltung
des Gleichgewichts gegen Frankreich aufrief, hat es ständig seine
Macht erhöht, sich in immer weiterem Umfang den Welt-
handel angeeignet, hat Gibraltar und Port Mahon in Besitz ge-
nommen und »hat so das Recht, nach dem Imperium über alle
Meere zu verlangen«. Im Vertrauen auf seine unbezwingliche
Flotte hat es schließlich den letzten Schritt getan und mitten
im Frieden, gegen alles Völkerrecht, die französischen Handels-
flotten überfallen und in seine Häfen geschleppt und durch
diesen Bruch der heiligsten Rechte alle Völker in gleidiem
Maße beleidigt. •)
i)a. a. O. S. 239 f. und li7ff.
>) a. a. O. S. 18, 65, 92, 245 ff.
s) Besonders S. 193 f.
«) a. a. O. S. 101 f.
») a. a. O. S. 28, 56, 75, 103, 104, 196, 255 ff. und sonst
— 131 —
Englands Streben nach dem »empire envers et contre tous«
ist nicht länger anzuzweifeln. Wie soll sich Europa dagegen
verhalten? Nun, wenn England sein Ziel wirklich erreichte,
dann wäre für alle Staaten das Unglück gleich groß, das überaus
wichtige Element in ihrer Staatsverwaltung, ihr Handel, wäre
vernichtet. Das aber darf nicht geschehen. Nicht nur in den
Machtverhältnissen der Völker Europas muß ein Gleichgewicht
herrschen, sondern auch in ihrem Handel; da die Reichtümer
der Erde »allen Menschen gemeinsam sein müssen«, so ist eine
»gleiche Teilung des Handels" zu fordern. Ermöglicht werden
kann diese Forderung bei Englands Widerstand nur dadurch,
daß alle Staaten sich zuerst gemeinsam gegen England erheben,
damit eine »Balance in den Kräften der Seemächte'^ eintritt, auf
die von selbst eine gerechte Teilung der Handelsgeschäfte
folgen wird.*)
So hat Maubert eine Basis gefunden, von der aus er alle
Staaten in ihrem eigenen Interesse, das zugleich das allgemeine
ist, zum Widerstand gegen England sammeln kann. Er fügt
dazu Ausführungen über den besonderen Schaden, den die
einzelnen Nationen durch Englands Politik erlitten haben. Er
erinnert Österreich an die traurige Geschichte der Ostender
Kompagnie, er sucht die deutschen Fürsten zu überzeugen, daß
eigentlidi nur englische Einflüsse das Reich in die langen
Kriege mit Frankreich gelockt haben, von dem es durch den
Rhein, eine schöne natürliche Grenze, getrennt sei. Nur
Wilhelm HI. hat Holland in den Gegensatz zu Frankreich und
in das englische Bündnis gezogen, sein wahres Interesse fordert
es auf, sich von dieser Erbschaft zu trennen. Für die italie-
nischen Staaten gibt es keinen gefährlicheren Feind als die
englische Herrschaft im Mittelmeer, und auch Spanien und die
nordischen Mächte haben unter englischer Rücksichtslosigkeit zu
leiden gehabt')
Alle diese Erwägungen werden von Maubert nicht in der
Ordnung vorgebracht, in der sie hier wiedergegeben sind. Bei
ihm geht alles durcheinander, manches wird in falschen Zu-
>) a. a. O. S. 20, 84, 87, 109, 165, 244.
^ a. a. O. S. 78 ff., 56 und 66, 93 ff., 157, 131 und 144.
— 132 —
sammenhang gestellt, überall bricht der HaB gegen England in
leidenschaftlichen Tönen hervor. Kaum wird in einer anderen
politischen Broschüre ein allgemeines System wie das des Gleich-
gewichts des Handels in so unverhohlener Weise den besonderen
Interessen eines Staates dienstbar gemacht worden sein !
Neben all den Aufforderungen zum Kriege stehen etwas
unorganisch Ideen über die Schönheit eines allgemeinen Friedens
unter der Ägide des deutschen Reichs, Frankreichs und Spaniens,
eines »Friedens ohne Ende«, der erreichbar wäre, wenn alle
Staaten auf Ehrgeiz und Vergrößerungen verzichten wollten, eines
Zustandes, der mit Recht System des Gleichgewichts zwischen
den Mächten genannt werden könnte.^) Auch dieses Friedens-
projekt soll deutlich gegen England und seine Seeherrschaft
durchgeführt werden.
Sehr viel kürzer läßt sich das Wesentliche über die zweite
Flugschrift Mauberts und über die Broschüre Moreaus sagen.
Hatte Maubert in seinem ersten Werk den patriotischen Dänen
geispielt, so versucht er es in zwei zusammengehörenden Flug-
blättern vom Jahre 1758 mit der Rolle des Holländers.') Dazu
hatte er einen besonderen Grund in der Erbitterung, die in
weiten holländischen Kreisen über die Anwendung der soge-
nannten »ruie of the seven years war« durch die englischen
Prisengerichte herrschte.*) Darin sah Maubert einen neuen Be-
weis für die englischen Pläne, Europa zu knechten, die er dies-
mal in ihrer Entstehung unter Wilhelm III. genauer aufzudecken
unternahm: Wilhelm III., der ehrgeiziger war als Ludwig XIV.,
hat seinen »tiefen Plänen«' (vues profondes) ganz Europa dienen
») a. a. O. S. 213 ff.
V) „La Voix d*un Citoyen d 'Amsterdam " I., H. Amsterdam 1758. Beide kleine
Schriften können inhaltlich nicht getrennt werden.
>) Die Sachlage war folgende : Frankreich sah bei der Schwäche seiner Kriegsflotte
keine Möglichkeit, seine Handelsschiffe zu schätzen, und hielt sie deshalb überhaupt in den
heimischen Häfen zurück. Um seine Kolonien aber nicht von dem Verkehr mit Europa
und dem Austausch der kolonialen Produkte gegen die Erzeugnisse der europäisdien Kultar
abzuschneiden, gestattete es mittelst besonderer Lizenzen holländischen und auch anderen
Schiffen den Handel mit den französischen Kolonien, der im Frieden ausschliefilich der
nationalen Schiffahrt vorbehalten war. England konnte das nicht wohl dulden und ließ
daher alle mit französischen Lizenzen fahrenden neutralen Schiffe aufbringen als „ainemii
par adoption." Als Frankreich den Neutralen den Handel ohne Lizenzen erlaubte, erkürte
England jeden Handel für illegitim, der nicht auch im Fri;.den erlaubt sei.
vgl. Bergbohm: „Die bewaffnete Neutralität 1780 -1783.« Beriin 1884, S. 33
Wheaton: *fHistoiredu progr^ du droit des gens." 2me W. Leipzig 1846; S. 271 ff.
— 133 —
lassen; sein Ziel war »die allgemeine Herrschaft über das Meer.'
Es gilt also, das Gleichgewicht des Handels zu bewahren. Hol-,
land hat dazu die meiste Ursache, aber auch die anderen Staaten
werden sich gewiß anschließen, »um einen Damm zugunsten
der allgemeinen Freiheit zu errichten.«^)
Mit den Angriffen auf England verbindet Maubert eine
scharfe Polemik gegen die Statthalterpartei in Holland, in der er
die Freunde Englands bekämpft. Die Schrift wendet sich speziell
an die kommerziellen Kreise Hollands, die er zu einem festen
Bündnis mit Frankreich zu veranlassen sucht
Die beiden ziemlich starken Bändchen, die der später zum
französischen Historiographen ernannte Jacob Nicolas Moreau*)
im Beginn seiner ungemein fruchtbaren schriftstellerischen Tätig-
keit unter einem Qesamttitel 1757 und 1758 veröffentlicht hat,*)
bestehen aus einer Reihe einzelner Artikel, mit denen er den
Anfang des englisch -französischen Krieges begleitet hatte. Sie
sind nicht alle den großen politischen Problemen gewidmet,
auch die Rechtsfragen, die sich an den Ausbruch des Krieges
knüpfen, werden mit antienglischer Tendenz dargestellt, während
ein anderer Teil über die Gründe der Antipathie zwischen
Engländern und Franzosen handelt Immerhin nehmen die
politischen Betrachtungen einen beträchtlichen Raum ein und
lassen sich inhaltlich in allgemeine Grundsätze und praktische
Erläuterungen scheiden. Sie sind bemerkenswert geschickt ge-
schrieben, die Sprache ist häufig scharf, aber im ganzen weit
gemäßigter als die Mauberts. Seine Behauptung allerdings, er
schreibe »weder als Feind Englands, noch als Freund Frankreichs,
sondern als Philosoph . . . und als Weltbürger« *) wird nicht nur
durch den Inhalt, sondern auch durch die Form widerlegt.
Einzelne Widersprüche und öftere Wiederholungen erklären sich
ungezwungen aus den publizistischen Bedürfnissen sowie daraus,
1) a. a. O. I, 3 ff.; II, 6; I, 8 f.; II, 9, 12, 15.
S) vgl. Nouv. Biogr. Univ. XXXVI, 48 ff. Moreau galt später für streng absolu-
tistisch und ministeriell gesinnt.
s) »M^moires pour servir k l'histoire de notre temps, par rapport k la guerre
Anglo-Oallicane. Par I'Observateur Hollandais. " Frankfurt et Leipzig 1757 und 58. I, II.
Oe 240 Seiten stark.) Die ersten Briefe (Brief 2 und 3 befinden sich einzeln auf der Kgl.
Bibliothek zu Berlin) erschienen 1755.
*) vgl. a. a. O. I, 70.
— 134 —
daß die verschiedenen Abschnitte nicht gleichzeitig geschrieben
worden sind.
Der Ausgangspunkt^) aller Erörterungen Moreaus ist der-
selbe wie der Mauberts, Unterschiede im einzelnen lassen es
gerechtfertigt erscheinen, auf seine Gedanken einzugehen. Auch
Moreau bekämpft die Idee, als hätte Ludwig XIV. je an das
»absurde Projekt der Universal -Monarchie" gedacht.*) Nach
seiner Ansicht hätten die R^fugi^s diese unsinnige Behauptung
aufgebracht Von den Kanzeln der reformierten Kirchen seien
ihre Deklamationen zum englischen Parlament, von da zum
Londoner Kabinett und weiter zu allen europäischen Regierungen
gedrungen. In panischem Schrecken habe Europa den Sturz des
Tyrannen als höchstes Ziel seiner Politik betrachtet: »Furcht vor
der Universal-Monarchie, Gleichgewicht der Macht, das war der
Leitstern für die Operationen der europäischen Kabinette«.*) Aber
in Wahrheit war die Universalmonarchie nur ein Traum, und ist
nicht auch das Gleichgewicht nur ein Schemen? Ist es etwa
Wirklichkeit geworden? Nein, gewiß nicht, denn würde sonst
die Herrschaft über das Meer der Macht geblieben sein, die es
zuerst okkupiert hat? Gleicht nicht »Europa einer Wiese, deren
sie bewässernder Bach einem fremden Herrn gehört, der nach
Belieben in ihm fischen oder seinen Lauf abändern kann?«^)
Gibt es etwa ein Gleichgewicht bei der Teilung der Neuen Welt?
Nein ! Und dieser Mißerfolg der Bemühungen Europas ist leicht
genug zu erklären. Unglaublicherweise haben die Diplomaten
vergessen, die Seemacht der Völker und ihren Kolonialbesitz mit
in die politische Wage zu legen.^) Und doch könnte man viel-
leicht behaupten, daß ein Gleichgewicht des Handels und das
politische Gleichgewicht gar nicht zu trennen, sondern eins sind,
1) Gemeint ist der Moreau unterzulegende logische Ausgangspunkt. Tatsächlich be-
ginnen seine Angriffe auf England ganz anders, denn seine Zwecke sind rdn publizistische,
Iceine systematisdien, während Justi beide vereint
s) a. a. O. II, 68; vgl. auch I, 213.
*) a. a. O. II, 69.
«) a. a. O. II, 69.
&) Es könnte scheinen, als ob Moreau an einer Stelle (II, 17) und wohl auch an
einer zweiten, der oben zitierten, (II, 69) gegen das Gleichgewicht sich auszusprechen be-
absichtigte. Doch wäre das auch bei einem schnell schreibenden Publizisten, wie Moroni,
ein gar zu starker Widerspruch mit seinen sonst immer wiederkehrenden Ansichten. Ich
glaube daher, daß die Stellen, wie oben geschehen, aufgefaßt werden mfissen : Moreau be»
streitet nicht das Prinzip, sondern nur die tatsächliche Existenz eines Gleichgewichts.
— 135 —
da auf dem Handel die Kraft eines Volkes beruht, und das Volk, das
den Handel beherrscht, überhaupt die entscheidende Stimme besitzt
Dies so nützliche Handelsgleichgewicht braucht natürlich nicht
darin zu bestehen, daß jeder einzelne Staat den gleichen Handel
hat — das wäre unmöglich und ungerecht, da es allen Wett-
bewerb vernichten würde - sondern es fordert nur, daß kein
Volk ein solches Obergewicht erlangt, daß ihm alle übrigen vereint
nicht als Gegengewicht dienen können.^)
Da diese Erkenntnis aber den Staatsmännern gefehlt hat,
hat es dahin kommen können, daß England Zeit gefunden hat,
»diese universale Tyrannei zu usurpieren«, gegen die es selbst
sich mit ganz Europa verbündet hatte.') Sein Ziel ist es, den
Handel aller anderen Nationen an sich zu bringen. Die Eng-
länder wünschen dahin zu kommen, daß ganz Europa nur noch
arbeitet, um sie zu bereichem.*)
Von diesem Gesichtspunkt aus gilt es, den jetzigen Krieg
zwischen England und Frankreich zu betrachten. England möchte
«sein System << auch auf Nord-Amerika ausdehnen und dort alle
fremden Kolonien vernichten. Dadurch wird die »balance du
Commerce de l'Am^rique" und weiter der gesamte politische
Zustand Europas bedroht. Alle Völker müssen also sich mit
Frankreich vereinen; »die Interessen Hollands, Spaniens, Portugals
und Dänemarks« sind hier unzertrennlich von denen Frankreichs.*)
Wenn Frankreich in dieser Lage seine Streitkräfte verstärkt, wo
es so deutlich sich in Verteidigungsstellung befindet, kann niemand
es anklagen, »das Gleichgewicht zerstören zu wollen«.*)
Einzelne Staaten haben besondere Ursache, ihr Verhalten
gegenüber den Kriegführenden gemäß diesen allgemeinen Grund-
sätzen einzurichten. Spanien wird durch die englischen Über-
griffe kaum minder wie Frankreich angegriffen. Allein wird es
Florida nicht gegen England verteidigen können, sein gesamter
Kolonialhandel geht einer schweren Gefahr entgegen. Wären die
spanischen Staatsmänner voraussehende Politiker, so würden sie
1) a. a. O. II, 42 f. und I, 58.
s) a. a. O. II, 42 f.
8) a. a. O. I, 5, 10.
«) a. a. O. I, 5 ff, 56 ff.
8) a. a. O. I, 213.
— 136 —
sich nicht besinnen, sondern Frankreich in seinem Kampfe um
die Handelsfreiheit ihren Beistand leihen, wie ein besonnener
Bürger das brennende Haus seines Nachbarn löschen hilft, um
das seine zu retten. So sollte auch Holland sich zu seinem
französischen Nachbarn gesellen oder wenigstens strenge Neu-
tralität bewahren, damit nicht die Bemühungen Europas zur
Wiederherstellung des Gleichgewichts zur See sich auch gegen
den Freund des übermächtigen England richten.^) Vor allen
anderen Staaten aber sollten die italienischen Mächte sich gegen
England wenden! Nach dem unverzeihlichen Fehler, den die
Diplomatie im Utrechter Frieden begangen hat, indem sie Gibraltar
und Minorka England auslieferte und dadurch Englands Herr-
schaft im Mittelmeer begründete, haben die französischen Truppen
zwar Minorka erobert, aber nun gilt es, mit gemeinsamen Kräften
Gibraltar zu befreien und überhaupt das Handelsgleichgewicht
wieder herzustellen. Freilich hätte man sich ja alle Not sparen
können, wenn man in Utrecht den v Engländern den Eintritt ins
Mittelmeer geschlossen, ihnen jeden Handel mit der Ostsee und dem
Süden^) verboten und sie gezwungen hätte, Schottland und Irland
zugunsten des Prätendenten aufzugeben''; aber durch eine gemein-
schaftliche Eroberung Gibraltars ist auch jetzt noch die Befreiung
Europas und das w^quilibre du commerce" zu erreichen.')
Das ist und bleibt das bei Maubert und Moreau bis zur
Ermüdung des modernen Lesers wiederkehrende Motiv, der Kampf
Europas für seine kommerzielle Unabhängigkeit zur Begründung
eines Gleichgewichts im Handel (und, nach Moreau, auch im
Kolonialbesitz). Wie solch ein Gleichgewicht im einzelnen durch-
zuführen sei, kümmert sie nicht; anders als den Propheten des
politischen Gleichgewichts schwebt ihnen kein System von aus-
schlaggebenden Mächten vor. Nur daß der Gegensatz von Frank-
reich und England es natürlich macht, daß ihre praktischen
Vorschläge fast sämtlich darauf hinauslaufen, Frankreich gegen
1) Für Spanien vgl. I, 67, 102 f., 107; für Holland I, 107 ff., II, 3ff.
s) Mit dem ,, Süden" wird wohl an das ,, Schiff des Südens" gedacht sein, d. h. an
das eine konzessionierte Handelsschiff, das nach dem Utrechter Frieden England direkt,
nicht über Cadiz, nach Portobello schicken durfte - der Anlaß zu einem ungdieuren
Schmuggel, der bekanntlich dem englisch-spanischen Kriege von 1739 Veranlassung und
Namen gegeben hat.
8) a. a. O. II, 18 ff. und bes. S. 42 ff.
— 137 —
den Tyrannen der Meere, den allgemeinen Feind Europas, zu
unterstützen. Charakteristisch für beide Schriftsteller, aber auch
für ihre Zeit, ist die völlige Vernachlässigung des Ackerbaues als
Quelle für nationalen Wohlstand. Es ist ohne weiteres zuzugeben,
daß das in Mauberts und Moreaus Tendenz allein begründet
sein könnte, doch stimmen ihre Ansichten über die Bedeutung
des Handels für das Staatsleben so gut zu der Praxis des
Merkantilismus und der fast allgemeinen Unterschätzung des
Bauernstandes — Preußen macht aus den bekannten finanziellen
und militärischen Gründen eine Ausnahme —, daß sie hier
wenigstens berührt werden mußten.
3. Gegen die neue Theorie von dem »6quilibre du commerce«
hat sich derselbe Schriftsteller erhoben, der schon das politische
Gleichgewicht als unrealisierbares Phantasiegebilde bekämpft hatte.
Hatte er hier im Interesse des englisch-preußischen Bündnisses
gefochten, so wandte er sich jetzt der Verteidigung der englischen
Handelspolitik zu.^) Deutlicher als seine erste Schrift verrät die
zweite ihren Charakter als politische Tendenzschrift Sie beginnt
zwar auch mit Betrachtungen über den Neid und die Notwendig-
keit, ihn zu bekämpfen, unter welcher Maske er sich auch zu
verbergen suche, verfällt aber alsdann in eine überaus scharfe
Polemik gegen Maubert, die auch an anderen Stellen der Schrift
wiederkehrt.*) Ebenso dient das ganze sechste Hauptstück dazu,
die »ruie of the seven years war« gegen die holländischen An-
griffe zu verteidigen, zu deren Interpreten sich Maubert gemacht
hatte. Schließlich fehlen nicht politische Ratschläge an einzelne
Staaten, die zwar nach Justis Wunsch sich aus seinen allgemeinen
Ausführungen wie absichtslose, rein logische Konsequenzen er-
geben sollen, die aber natürlich in Wirklichkeit erst die all-
gemeinen Betrachtungen veranlaßt haben. Wir kommen darauf
noch zurück.
Im ganzen lehnt sich diese Abhandlung namentlich in der
Komposition eng an die «Chimäre des Gleichgewichts von
Europa« an. Sie zerfällt in zwei vorbereitende » Hauptstücke",
1) Joh. Hcinr. Gottlob v. Justi : „Die Chimäre des Gleichgewichts der Handlung
und Schiffahrt" Altona 1759.
«) Vgl. die Einleitung, S. 7ff. und S. 52, 56, 66, 72 ff.
— 138 —
zwei »Hauptstücke", die den positiven Beweis enthalten, und ein
fünftes, das die gegnerischen Argumente einzeln abweist.^)
Justi legt auch hier den eigentlichen Nachdruck auf die
staatswissenschaftlichen Grundlagen, das heißt, eine Untersuchung
der Natur des Handels. Da dieser allein auf der durch besondere
Arbeitsamkeit eines Volkes erzielten Oberschußproduktion von
Gütern über den eigenen Bedarf hinaus und dem Wunsche ihres
Austausches gegen andere Güter fremder Völker beruht, so liegt
es in der freien Willkür jedes Staates, ob er überhaupt Handel
treiben will, oder mit wem und unter welchen Bedingungen er
zu handeln gedenkt. Ferner muß auch deshalb der Handel ganz
frei sein, weil er auf gegenseitigen Vorteil gegründet ist, und kein
Privater und kein Volk mit einem anderen Geschäfte machen
werden, wenn ihnen ein dritter bessere Bedingungen bietet
Folglich beruht blühender Handel eines Volkes auf den niedrigen
Preisen seiner Waren, die es so billig abgeben kann entweder
vermöge der natürlichen Vorzüge seines Bodens oder der Tüchtig-
keit und Geschicklichkeit seiner Angehörigen. Den Gewinn oder
Verlust bei den einzelnen Handelszweigen zeigt die Handelsbilanz
an, die jedes Volk im Rahmen des natürlichen und arbiträren
Völkerrechts so günstig wie möglich zu gestalten bemüht sein
mag.*) Ja, um nicht zurück zu gehen, muß jedes Volk stets
bestrebt sein, seinen Handel zu erweitem.
Denn — und hier tritt uns das Prinzip von Justis Staats-
lehre unmittelbar entgegen — i/der Endzweck eines jeden Staates
ist seine gemeinschaftliche Glückseligkeit."*) Diese läßt sich zwar
auch durch völlige Absonderung erreichen und hat bei steter
Aufmerksamkeit Aussicht auf Dauer,^) aber in der Tat führt auch
die höchste Blüte von Handel und Schiffahrt zu ihr. Allein dieser
zweite Weg ist von vielen Gefahren bedroht, und wenn er wirklich
zu Ende gegangen wird, so wird der Erfolg, so paradox das
>) Das 6. Hauptstuck, das nur künstlich mit dem Ganzen zusammenhingt, ist
schon erwähnt.
S) Justi braucht die technischen Ausdrücke nicht, meint aber S. 19 f. dasselbe, was
sie besagen. Wenn Justi dabei Maubert die Verwechslung von Handelsbilanz mit der von
ihm vertretenen Handelsbalance unterschiebt (S. 17 f.), so trifft dieser Vorwurf nicht zu.
8) a. a. O. S. 22. Das Folgende im 2. Hauptstück.
*) Auf die interessante Schilderung dieses Idealstaats, bei dem wohl an Aristoteles'
aviaQxeia gedacht wird, und auch das Beispiel Spartas vorschwebt (vgl. S. 23, 27, 28),
kann hier nicht eingegangen werden.
— 139 —
scheinen mag, mit dem Resultat des Staates, der von vornherein
den Weg der Absonderung gewählt hat, identisch sein. Der
Beweis ist nach Justi ganz einfach der, daß der im internationalen
Verkehr stets gewinnende Staat einen solchen Reichtum an Edel-
metallen erlangen wird, daß ihr Wert außerordentlich sinkt, der
Preis der Arbeit im Verhältnis zu anderen Staaten immer höher
steigt und zuletzt alle Waren so verteuert, daß jeder Export auf-
hören muß. Trotzdem wird der betreffende Staat bei seinem
Geld- und Volksreichtum nun in der Abgeschlossenheit einen
Zustand höchsten Glücks repräsentieren.
Wer sich über diese Dinge klar geworden ist, kann die
Idee eines Gleichgewichts des Handels der verschiedenen Völker
nur unsinnig finden. Wie wären je seine Voraussetzungen zu
erfüllen? Müßte man nicht alle Völker nach Vorzügen des Bodens
wie nach Fleiß und Anlagen gleich machen, damit ihr Handel
gleich werden könnte? Müßte nicht jede freie Wahl beim Handel,
die Rücksicht auf den eigenen Vorteil fortfallen, ja, müßten nicht
die Unterschiede der geographischen Lage, die die Handelswege
und ihre Länge bestimmen und damit den Preis der Waren
beeinflussen, irgendwie eliminiert werden? Ebenso unmöglich
wäre ein Gleichgewicht durch eine gleichmäßige Aufteilung der
Kolonien, da Kolonialbesitz und Handel sich durchaus nicht wie
Ursache und Wirkung verhalten, wie das Beispiel Spaniens lehrt
Und da andererseits Handel und Seemacht voneinander wirklich
abhängig sind, ist auch ein Gleichgewicht der Macht zur See —
ein ^quilibre maritime — ausgeschlossen. So unmöglich die ganze
Idee in die Wirklichkeit umzusetzen ist, so ungerecht ist sie^) und
so unklug. Die höchste kommerzielle Blüte führt ein Volk ja
zur Absonderung, macht es also für alle anderen Staaten unge-
fährlich. Der Gedanke gar, England könne mit einer allmächtigen
Flotte eine Universalmonarchie gewinnen, ist absurd, da alle Land-
mächte von einer Seemacht überhaupt nichts Ernstliches zu
fürchten haben. Außerdem beruht ja eine große Seemacht nur
auf inneren Vorzügen eines Staates; diese gilt es nachzuahmen,
nicht einen ungerechten und in seinem Ausgang doch höchst
1) Die hierfür angeführten Gründe sind denen in Justis erster Abhandlung zu
ähnlich, um ihre Wiedergabe hier zu rechtfertigen.
— 140 —
problematischen Krieg zu erregen. Das einzige, was man aus
dem gleichen Recht aller Völker auf Glückseligkeit folgern könnte,
wäre also »ein Gleichgewicht des Fleißes, der Arbeitsamkeit und
Geschicklichkeit«.^) — Alle Folgerungen, die aus der Konstruktion
einer europäischen Republik gezogen werden, sind ebenso hin-
fällig wie diese Konstruktion selbst*)
Die Idee eines Gleichgewichts des Handels ist und bleibt
also eine Chimäre, und damit alle Vorwürfe, die gegen Englands
kommerzielle Überlegenheit geschleudert werden. Justi weist des-
halb die Anklagen über Englands Haltung in der Ostender An-
gelegenheit zurück,*) und polemisiert gegen die Aufhetzung
Dänemarks durch Mauberts »Politique Danois''.^) In denselben
Zusammenhang gehört wohl auch die Ermahnung an alle handel-
treibenden Völker, sich gerade im Interesse der Ausdehnung ihres
Handels nicht in einen Krieg mit einer überlegenen Seemacht
einzulassen.^) Daß Justi diese Broschüre auf höhere Veranlassung
hin verfaßt hat, dürfte nicht zweifelhaft sein.
Schluß.
War das das Ende der Gleichgewichtsidee, daß sie als Chimäre
unter den Angriffen eines überlegenen Dialektikers endete? Nein,
sie ist bis auf unsere Tage nicht gestorben und hat zeitweilig
noch in den diplomatischen Verhandlungen eine Rolle gespielt
wie nie zuvor.*) Trotzdem bezeichnet der Siebenjährige Krieg
eine Epoche in ihrer Geschichte. Bis zu diesem mächtigen
Ringen war sie zuerst der Ausdruck für das auf zwei, dann für
das auf drei Großstaaten basierte europäische Staatensystem ge-
wesen, zuletzt mit der Tendenz, den tatsächlichen Machtzustand
als etwas Festes, völkerrechtlich Begründetes erscheinen zu lassen.
Jetzt war Preußen ebenbürtig neben die drei alten Mächte getreten,
und Rußland, durch die Teilnahme an einem allgemeinen euro-
päischen Kriege mit West- und Mitteleuropa fester verschmolzen,
») a. a. O. S. 63.
«) vgl. o. S. 180.
8) a. a. S. 19 f.
♦) a. a. O. S. 56 ff.
ß) a. a. O. S. 55 f. und 58 ff.
*) vgl. bes. die eingehenden Angaben über die Friedensverhandlungen von 1813-15
bei Donnadieu: »Essai sur la thtorie de I*^uilibre " Paris 1900. S. 110 ff.
— 141 —
als fünfte Großmacht durch die Tatsachen anerkannt worden.
Wenn man jetzt doch noch vom europäischen Gleichgewicht
sprach, so verstand es sich von selbst, daß man dabei an fünf
Mächte dachte, an und um die sich die übrigen Staaten grup-
pierten. Dies System hat, durch den Hinzutritt Italiens in seinem
Wesen wenig geändert, die Stürme der französischen Revolution
und der nationalen Kämpfe des neunzehnten Jahrhunderts über-
dauert, ja, in der heiligen Allianz und dann im europäischen
Konzert sich eine Art Organisation gegeben, die der Zeit vor
den Wiener Verträgen noch fremd war.
In den Krisen des europäischen Staatensystems erscheint
auch in der Literatur noch nach 1763 häufig die Rücksicht auf
das Gleichgewicht als politisches Kampfmittel.^) Auch der im
Laufe des siebenjährigen Seekrieges zuerst nachdrücklich hervor-
gehobene Zusammenhang zwischen Handelsmacht und politischer
Macht wird im englisch-amerikanischen Kriege und während der
Revolutionskriege wieder berücksichtigt*) Eine besondere Be-
deutung gewann die Verbindung von Handelsbilanz mit politischem
Gleichgewicht bei einigen bedeutenden Nationalökonomen des
18. Jahrhunderts, ohne, soweit ich sehe, in der eigentlich poli-
tischen Literatur größeren Einfluß zu erlangen.') Eine bemerkens-
werte Zusammenfassung der Geschichte und Bedeutung der
1) Das russische Vordringen in Polen und in der Türkei bekämpft Mallet du Pan :
■Du p6ril de la balance politique de I'Europe.* A Londres 1789. Vgl. bes. S. 3 und S. 90.
Die Bedeutung des deutschen Oleichgewichts zwischen Preußen und Österreich
zeigt der Vortrag von Hertzberg : »Sur la v^ritable richesse des 6tats. la balance du com-
merce et Celle du pouvoir." Der Vortrag ist z. T. eine Apologie der Ffirstenbundpolitik
Friedrichs des Großen, zu seinem Geburtstag in der Berliner Akademie am 26. Januar 1 786
gdialten, gedruckt in Hertzbergs «Huit dissertations". Berlin 1789.
Für die Periode der französischen Revolution sind die Schriften Edmund Burkes
zu nennen, bes. »Thoughts on French Affairs" : Works. London 1899. IV, 315 ff., bes.
S. 330. -Gegen das Oleichgewicht vgl. einen Passus bei D(umouriez): »Tableau sp^latif
de rEuropc.« 1798, S. 13.
Von französischer Seite stimmt für das politische Oleichgewicht der Kontinental-
staaten als friedefördemd Charles Theremin : »Des int^rets des puissances continentales
relativement ä rAngleterre." Paris, Tan III. S. 8. Der Zweck der Broschüre ist: Friede auf
dem Kontinent, Krieg aller gegen England.
^ Die Bedeutung des Widerstandes Frankreichs gegen England während des
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges betont lebhaft Hertzberg, a. a. O. S. 19.
Neben heftigen Angriffen gegen das englische Übergewicht und der Forderung einer
Handelsbalance von französischen Publizisten (so Thöremin : a. a. O. S. 1, 5, 20, 95)
erkennt auch Burke die Berechtigung dieser Forderung durchaus an: Works, IV, 447, 457.
>) vgl. die Angaben v. Heykings : »Zur Geschichte der Handelsbilanztheorie. *
Bert. Diss. 1880. II. Kap. bes. S. 40 f. Unter den Politikern ist hier wieder Hertzberg
zu nennen.
— 142 —
Gleichgewichtspolitik und Gleichgewichtsidee gab der spätere
preußische Minister Ancillon.^)
Der schwerste Stoß, den das europäische Staatensystem in
der neueren Zeit erhielt, der Angriff Napoleons auf die alten
Machtverhältnisse, wurde wieder mit dem Schlagwort »Gleich-
gewicht« bekämpft,') und mit der Rücksicht auf das europäische
Gleichgewicht begründeten die Diplomaten das Werk der Wiener
Verträge.') Was 1763 erreicht worden war, wurde 1814 und 15
wiederhergestellt
Die weitere Geschichte der Gleichgewichtsidee auch nur
skizzenhaft darzustellen, liegt außerhalb unserer Aufgabe.
>) FrMMc Andllon : «Tableaii des r^olutions du systtoie politique de VEnrope."
Berlin 1803.
>) Friedrich v. Oentz: •Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen
Gleichgewichts von Europa.« St Petersburg 1806. Gentz gibt als Einleitung einige all-
gemeine Begriffe fiber das Gleichgewicht, das er mit Ancillon lieber als «systtoie des
contrepoids" (S. 8) bezeichnen möchte. Er greift die polnischen Teilungen heftig an als
Symptome des Mißbrauchs der Form bei Erschlaffung des Geistes der Gldcfagewicfatsidee.
*) vgl. Donnadieu: a. a. O. S. 110 ff.
Anhang.
Das europäische Gleichgewicht und das natürliche Völkerrecht
im 18. Jahrhundert
Die Zeit, in der in der Politik die Theorie des europaischen
Gleichgewichts zu allgemeiner Anerkennung gelangte, war in ihrer
Weltanschauung von dem »natürlichen System der Geisteswissen-
schaften« beherrscht^) Gegenüber der theologischen Befangen-
heit des mittelalterlichen Denkens wurde der Versuch unter-
nommen, die Welt und in ihr die menschlichen Verhältnisse
allein mit Hilfe der Vernunft zu begreifen. Eine solche Kon-
struktion erschien möglich durch die Annahme fester, allgemein
gültiger Begriffe in der menschlichen Natur; es galt nur, sich
diese unveränderlichen Züge des Menschen klar zu machen, um
danach auch im praktischen Leben zu handeln.
So entstand die Idee einer natürlichen Religion, in letzter
Wurzel aus dem Bedürfnis nach Einheit inmitten der seit der
Reformation fast unheilbar gewordenen religiösen Gegensätze
entspringend,^) und daneben die Annahme der Existenz eines
natürlichen Rechts, aus dem die wahren Grundsätze der Ordnung
der menschlichen Verbände abzuleiten seien, aus dem sich aber
auch die Regeln ergeben müßten, die die gesellschaftlichen Körper
unter- und gegeneinander zu beobachten hätten.') Neben ein
*) vgl. die unter diesem Titel erschienenen Aufsitze Diltheys im «Ardiiv f. Oesdi.
der Philos.« Bd. V und VI, sowie den ergänzenden Aufsatz desselben »Die Autonomie des
Denkens, der konstruktive Rationalismus und der panthdstische Monismus nach ihrem Tjol-
sammcnhang im 17. Jahrb.«, a. a. O. VII, 28 ff.
>) Dilthey: a. a. O. V, 489.
s) Damit soll nicht geleugnet werden, dafi die Idee des naturlichen Rechts an sich
viel ilter ist, ebenso wie die Lehren des natfirlichen Staatsrechts in das Altertum und
Mittelalter zurückreichen. Vgl. Oierke: «Dentschcs Oenossenschaftsrecht, III" und des-
selben Verfassers »Althusius".
— 144 —
natürliches Staatsrecht trat damit das natüriiche Völkerrecht, dieses
besonders in den Nöten des Dreißigjährigen Krieges als not-
wendiger Ersatz der verlorenen Einheit der christlichen Welt-
regierung des Mittelalters zu fast allgemeiner Anerkennung durch
Hugo Qrotius erhoben.^)
Die außerordentliche Bedeutung des Naturrechts beruht auf
dem Bruch mit der scholastischen Denkmethode und auf den
praktischen, politischen Wirkungen, die es ausgeübt hat, und
deren Einfluß kaum zu überschätzen ist.*) Seine wissenschaftliche
Basis allerdings ist im 1 9. Jahrhundert zerstört worden. Ebenso
wie die Annahme eines Normalmenschen und einer Normalver-
nunft der modernen geschichtlichen Auffassung des Lebens wider-
spricht, sind wir auch imstande, die angeblich allein aus der
reinen Vernunft und der Natur gezogenen Sätze in ihrer Bedingt-
heit nachzuweisen. Wir sehen zugleich, daß hinter den scheinbar
allgemeinen und objektiven Formeln der stärkste Subjektivismus
steckt. Die Folgerungen aus der Natur des Menschen sind
nichts als die Resultate des Nachdenkens eines, und zwar eines
von seiner Zeit abhängigen, bedingten Menschen. Daher sind
die verschiedenen Naturrechtslehrer zu den entgegengesetztesten
Resultaten gekommen, obgleich das eigentlich unmöglich hätte sein
sollen, und obgleich sie dadurch gezwungen waren, sich selbst die
rechte, dem Gegner aber eine getrübte Vemunfterkenntnis zuzu-
schreiben. Auf der anderen Seite hatte der Subjektivismus eine
große Elastizität der naturrechtlichen Systeme zur Folge. Diese
waren schließlich imstande, so ziemlich jeden positiv rechtlichen
Satz und jedes rechtliche Postulat aufzunehmen.') Dadurch ist
es möglich geworden, auch eine scheinbar so rein politische
Theorie, wie die Lehre vom europäischen Oleichgewicht, zu einem
Satz des Völkerrechts zu machen.
Erst im spanischen Erbfolgekriege war die Aufrechterhaltung
des europäischen Oleichgewichts zu einem vor allem in England,
1) über die theoretisch lange unterschätzten Vorläufer des Orotius vgl. E. Nys:
»Le droit de la guerre et les pr6courseurs de Orotius.« Bruxelles 1882. Über den durchaus
naturrechtlichen Charakter des Werkes von Orotius und seine Beschränkung auf das formdle
Recht - denn der Krieg steht bei ihm ganz im Mittelpunkt - vgl. Bulmerincq: »Die
Systematik des Völkerrechts von H. Orotius bis auf die Gegenwart." Dorpat 1858. S. 16 ff.
I) vgl. außer Jellineks Allgemeiner Staatslehre Bergbohm: i.Jurisprudenz und
Rechtsphilosophie", I. »Das Naturrecht der Gegen vart.« Leipzig 1892, bes. S. 195 ff.
>) vgl. Bergbohm: a. a. O. S. 161 f., bes. Anm. 15,
— 145 —
Holland und Deutschland allgemein anerkannten politischen Dogma
geworden, mit dem Anspruch, die in seinem Namen geführten
Kriege vor der Welt zu rechtfertigen. Das war das Signal für
die Vertreter des Völkerrechts, sich dieser politischen Theorie
zu bemächtigen und sie von ihrem Standpunkt aus zu unter-
suchen. Noch innerhalb des ersten Jahrzehntes nach dem Utrechter
Frieden erschienen mehrere dem Oleichgewicht gewidmete Ab-
handlungen — meist juristische Dissertationen — und andere
folgten ihnen. Wenigstens die große Mehrzahl der von Ompteda
aufgeführten Arbeiten sind mir zugänglich gewesen.^) Die meisten
haben nur wissenschaftliche, keine politischen Ziele; wo solche er-
kennbar sind, werden sie doch an dieser Stelle nicht berücksichtigt
Den Hebel, mittelst dessen das Oleichgewicht in das Völker-
recht einbezogen wurde, bildete die Lehre vom gerechten und
ungerechten Kriege, nach der es einen absoluten Unterschied
zwischen erlaubten und unerlaubten Kriegen gab, der im einzelnen
durch das natürliche Völkerrecht bestimmt war.*) Es fragte sich,
ob man in das schon vorhandene Schema das Oleichgewicht würde
einfügen können. Wirklich fand man eine Kategorie von
Kriegsgründen, die dazu wohl geeignet schien, in der Lehre
von den Kriegen gegen die allzu große oder die zu stark wachsende
Macht eines Nachbarn vor. Man hatte dann eigentlich nichts
1) Von Ompteda: „Die Literatur des gesammten, sowohl natürlichen als positiven
Völkerrechts.- Regensburg 1785. S. 485 ff.
Die Titel der benutzten Schriften - die im folgenden nur mit dem Autorennamen
zitiert werden - sind : i .Anhänger der Theorie : a) Oundling : MÜb wegen der anwachsenden Macht
der Nachbarn man den Degen entblößen könne«: Oundlingiana, 5. Stück, Halle 1716.
b) V. Huldenberg: »Diss. jurid. sol. de aequilibrii alioque legali juris gentium arbitrio in
gentium controversiis pads tuendae causa interponendo.« Helmstadii 1720. c) Joh. Jac.
Lehmann : »Trutina vulgo bilanx Europae, norma belli pacisque hactenus a summis impe-
rantibus habita.« Jena 1716; von mir in dem Abdruck des eigentlichen Teils bei Olafey:
»Vernunft und Völkerrecht", Frankfurt 1727, benutzt, d) Eberh. O. Wittich (praes. Joh.
Friedr. Kayser): ifDissertatio juris gentium et publici, de tuendo aequilibrio Europae.*
Oießae 1723 (Univ.-Bibl. zu Halle), e) Ludw. Mart. Kahle: «Commentatio juris publid
de trutina Europae, quae vulgo appellatur »Die Balance von Europa." Oöttingen 1744.
f) Carl Friedr. v. Biehring (praes. Joh. Christ. Muhrbeck): i.Dissertatio de bilance gentium.*
Oryphiswaldiae 1772. (Univ.-Bibl. zu Ordfswald.)
2. Gegner der Theorie: a) (Stisser): »Freymütige und beschddene Erinnerungen
wider des berühmten Oöttingischen Professors, Herrn Dr. Kahle, Abhandlung von der
Balance Europens." L, IL Ldpzig 1745/46. b. Joh. O. Mans. v. Benzel (praes. Joh. O.
Neureuter): »Specimen juris naturae de justis aequilibrii f inibus." Maguntiad 1 746. (Univ.-
Bibl. zu Marburg.) c) Joh. Heinr. Gottlob von Justi : »Die Chimäre des Gleichgewichts
von Europa." Altona 1758 (vgl. die Analyse o. S. 115 ff.). Einzdne Zitate aus den all-
gemeinen Lehrbüchern des Völkerrechts s. in den Anmerkungen.
S) Das moderne Völkerrecht schdnt diesen ganzen Unterschied abzulehnen; vgL
Lueder in v. Holtzendorfs Handbuch, I, 222 f. Ebenso Bergt>ohm: a. a. O. S. 352.
Kaeber, Das europäische Gleichgewicht. 10
— 146 —
weiter zu tun, als die Verstärkung der Macht eines großen
Staates als einen Verstoß gegen die ursprüngliche Idee des
Gleichgewichts zu bezeichnen. Um die besonderen Formen des
Gleichgewichts, die sich in der praktischen Politik ergeben
mochten, brauchte sich die juristische Konstruktion nicht zu
kümmern. Deshalb haben moderne Autoren die Idee des Gleich-
gewichts zuerst bei Albericus Gentilis finden wollen,^) obschon
er das Wort nicht kennt und es nur für gerecht erklärt, dafür
zu sorgen, »ne homines augentur nimium potentia.^') Wenn
man auch gegen diese Einbeziehung des Gentilis in die Gleich-
gewichtsliteratur kaum etwas einwenden kann, so bleibt doch so
viel richtig, daß die ganze Frage erst lebhafter und vor allem
auch in Spezialuntersuchungen diskutiert wurde, seitdem sie unter
der Flagge des aequilibrium stand.
Die Frage, ob und wie weit die Rücksicht auf das Gleich-
gewicht einen Krieg rechtfertige, ließ sich von zwei ganz ver-
schiedenen Ausgangspunkten konstruieren, deren Unterschied
allerdings den Verfassern einiger der dem aequilibrium ge-
widmeten Schriften nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein
scheint, so daß sie mit Gründen aus beiden Beweisreihen pro-
miscue operieren.^
a) Der eine Beweis beginnt mit der Lehre vom Status
naturalis und seiner Anwendung auf das Völkerrecht. Danach
leben die Staaten untereinander in demselben Zustand und unter
denselben Gesetzen der Natur, in dem die einzelnen Menschen
vor der Begründung der societates lebten. Sie alle sind ein-
ander rechtlich völlig gleich und erkennen keinen superior über
sich an.^) Daraus folgte, daß es unter den Staaten keinen
1) vgl. E. Nys : »La thdorie de T^quilibre europtoi« : Revue de droit international,
(1893), XXV. 44. Der Aufsatz, dessen angekündigte Fortsetzung nicht erschienen ist,
zitiert zwar die bei Ompteda aufgezahlten Schriften und fügt einige biographische oder kurz
beurteilende Notizen hie und da hinzu, behandelt aber sonst die historisch-politisdie, nicht
die völkerrechtliche Theorie. Ganz an ihn lehnt sich Donnadieu (s. o. S. 2, Anm. ^) an.
I) Alb. Oentilis : »De jure belli libri III.« (Von mir benutzt in der Ausg. von Hanau.
1598.) 1. I, c XIV. Das Zitat auf S. 103.
>) So besonders Kahle.
*) V. Behring § 3, Benzel § 7; Oundling, S. 384: »daß die Republiken, Printzen
und Herrn in der natürlichen Freiheit stehen, und keinen menschlichen Oberherm haben,
wird als ein postulatum voraus gesetzet". - Hobbes und Pufendorf folgerten daraus, daß
es überhaupt kein anderes Völkerrecht als das Naturrecht gebe: vgl. Rivier in v. Holtzcn-
dorfs Handbuch, I, 416, 425; Landsberg: »Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft",
III, I, 9, 17.
— 147 —
arbiter gab. Mußte man da nicht weiter folgern, daß dann
auch keine Möglichkeit vorhanden war, überhaupt ein Urteil
über die Gerechtigkeit eines Krieges zu fällen, wie das z. B.
Böhmer behauptete?*) Nein, diese Folgerung war durchaus nicht
notwendig! Ein Dritter allerdings konnte eine Entscheidung
darüber, wer in einem schon begonnenen Kriege Recht habe,
nicht fällen, aber man brauchte das Urteil nur vor den Aus-
bruch des Krieges und in die Gewissen der beiden Parteien zu
legen. Diese selbst mußten wissen, ob sie nach den auf die
Staaten anzuwendenden Sätzen des Naturrechts im Begriü waren,
einen gerechten Krieg zu führen oder nicht. Waren sie sich im
einzelnen Falle nicht recht klar, nun, so war ja die Völkerrechts-
wissenschaft dazu da, ihnen Auskunft zu geben. Aber natürlich
mußte diese die schwierigeren Fragen, wie die des aequilibrium,
selbst erst gründlich erörtern.
Einer der einfachsten Sätze des Naturrechts verbietet jede
Kränkung eines Individuums durch ein anderes, resp. es gestattet
gegen jedes Unrecht die Verteidigung des Angegriffenen. Ebenso
ist es im Völkerrecht; ja, die Verteidigung wird von einzelnen
Autoren zu einer Pflicht der Selbstbewahrung erweitert*)
Femer ist es eine natürliche Folge des Rechts auf Selbst-
erhaltung, daß nicht nur gegen eine laesio (injuria) illata, sondern
auch gegen eine laesio imminens, sofern sie zweifellos eintreten
wird, oder sofern sie »moraliter certa"« ist, wie man das aus-
drückt, die Verteidigung gestattet ist.^ Nun lebt jeder Staat,
resp. jeder Fürst, soweit er nicht Privatmann, sondern Re-
präsentant des Staates ist,^) »nach seinen natürlichen Begierden",
d. h. er hat »keinen affectus fortior, als Land und Leute zu ge-
winnen«.*) Wenn er die Macht hat, seinen Nachbarn straflos
zu schädigen, mit anderen Worten, wenn er aus der Balance
getreten ist, wird er unbedingt den Schwächeren unterdrücken.
1) Böhmer: «Jus publicnm universale«. Halle 1710. S. 308.
s) vgl. Kahle, § 7. Ahnlich de Bielefeld: «Institntions politiqucs", II, 1760. c. IV,
§ 27. Allerdings vermengt Bielefeld völlig Politik nnd Völkerrecht: vgl. Bulmerincq:
a. a. O. S. 50.
s) Die termini am lusammenhingendsten bei Behring, § 4.
<) Diese ffir das hlstorisdie Urteil sehr wertvolle psychologische Scheidung bd
Onndling, S. 406, im Anschluß an Bayle.
») Oundling, S. 385, 390. vgl. Witticfa, § 1. Kahle, § 6.
10*
148
Folglich ist die Furcht, die der Schwächere vor einem Unrecht
des Stärkeren hegt, gewiß, »die künftige attaque« ebenso »nicht
ungewiß, sondern gewiß". Folglich »ist auch das jus belli, vel
vim adhibendi, vorhanden«,*) d. h. jeder Krieg, der zur Er-
haltung des Gleichgewichts unternommen wird, ist gerecht.
Es ist ja deutlich, daß dieser Grundsatz in der Schärfe, in
der er bei Gundling und bei Kahle begegnet, vielfach Anstoß
erregen mußte, nicht nur bei den Gegnern, auch bei den Freunden
der Balancetheorie. Diese suchten deshalb eine Abschwächung
der extremen Ansicht. Gundling war stark von Hobbeis beein-
flußt') und räumte außerdem politischen Erwägungen einen Ein-
fluß auf die Lehren des Völkerrechts ein,*) Kahle schrieb gar
mit politischer Tendenz*) - davon waren die meisten Völker-
rechtslehrer frei. Soweit sie daher aus dem Recht auf Selbst-
bewahrung das aequilibrium zu rechtfertigen suchten, knüpften
sie es doch an Bedingungen. Sie gaben nicht zu, daß große
Macht unbedingt gegenüber den Schwachen zu Mißbrauch werde,
sondern verlangten in jedem Falle einen besonderen Beweis für
die moralische Gewißheit eines durch einen Obermächtigen
drohenden Schadens, ehe sie ein Einschreiten gegen ihn für ge-
recht erklärten.*) Dasselbe hatten auch schon Grotius und Pufen-
dorf gelehrt, aber sie hatten daraus den Schluß gezogen, daß
nimia potentia keinen Kriegsgrund in sich schließe.*) Lx)gisch
war jeder andere Schluß unmöglich, denn sobald eine laesio
imminens moraliter certa vorlag, dann enthielt eben diese einen
Grund zum Kriege, und es war ein reiner Zufall, wenn mit der
Absicht, einem andern zu schaden, große Macht verbunden war.
1) Oundling, S. 385.
s) vgl. die Abhandlung: „De statu natural! Hobbesii" seines Schülers v. Kirchen-
Sittenbach. Halle 1706. (Praes. N. H Oundlingio.)
*) Qundling, S. 413 : er polemisiert gegen die reinen Philosophen und ihren Grund-
satz „aliter philosophos, aliter politicos censere" mit den drastischen Worten „es sey zu be-
■dauern, daß die Philosophen sich einbilden, alle anderen Leute wären ungerecht; Sie allein
aber sSßen auf dem Catheder der Weißheit, und tränken von den Quellen der Wahrheit: Dahin-
i;egen diejenigen, velche von ihren Ideen sich entfernen, mit Pffitzen-Wasser sich gurgelten.*
«) vgl. o. S. 94 ff.
B) Übrigens hatte auch Kahle zugegeben, daß nicht jeder Ffirst böse sei (§ 6), aber
er hatte daraus keine seine Ansicht einschränkenden Folgerungen gezogen.
>) Orotius: „De jure belli et pacis", 1. 11, c. 22; Pufendorf: „De jure naturae et
gentium", Londini Scanorum 1672, 1. VIII, c VI, § 5. Allerdings windet sich Pttfdidorf
zwischen seinem Rechtsbewußtsein und den politischen Erwägungen einigermaßen hin und her.
— 149 —
Aber die Autorität der Gleichgewichtsidee war so groß, daS
trotzdem das aequilibrium selbst als causa belli — man kann nur
sagen — hineingeschmuggelt wurde.^)
b) Einen anderen Weg schlugen, z. T. neben diesem ersten
Weg, mehrere Anhänger des Gleichgewichts ein. Sie gingen
nicht von den einzelnen Staaten, sondern von ihrer Gesamtheit
aus. Obschon sie den Status naturalis der Staaten nicht bestritten,')
behaupteten sie doch die Existenz einer Art von Völkergemein-
schaft und eines allgemeinen Völkerinteresses, ohne den Versuch
zu machen, die beiden Ideen miteinander auszugleichen. Dieser
Widerspruch tritt besonders auffällig bei den Autoren hervor, die
die Gerechtigkeit der Gleichgewichtskriege sowohl auf das Recht
der Selbstbewahrung des einzelnen Staates begründen, wie die
aus der Annahme eines allgemeinen Interesses sich ergebenden
Schlüsse benutzen.*)
Die wesentlichste Forderung des allgemeinen Interesses ist
der Friede und die gegenseitige Sicherheit der Existenz.*) Beide
werden, bei dem vorauszusetzenden logischen Zusammenfoll von
Macht und Willen zum Schaden,*) durch die zu große Macht
eines Staates bedroht Es können dabei entweder schon die aus
der Furcht vor einer nimia potestas entspringenden Rüstungen
der Nachbarn, deren Lasten für sie den Frieden tatsächlich wertlos
machen,*) oder nur der reale, von dem Mächtigen zu erwartende
Schade als Störungen der gemeinsamen Interessen aufgefaßt werden,
jedenfalls ergibt sich ein Konflikt zwischen der salus publica und
dem Vorteile der einzelnen mächtigen Mitglieder der Völker-
gemeinschaft Es handelt sich daher um ein Mittel, beide in
gerechten Einklang zu bringen. Nun sind schon außer dem
Gleichgewicht verschiedene Mittel vorgeschlagen worden, deren
Brauchbarkeit die Balancefreunde gut tun zu prüfen, ehe sie ihre
Lehre entwickeln.
Das Mittelalter kannte in der Theorie einen arbiter in allen
1) vgl. Wittich § 29 ff.; Benzel § 36 f., obgleich dieser eigentlich von den Oegnern
der Theorie sich kaum unterscheidet
9) Ausdrücklich erkennt ihn Wittich an, § 16, wenn er alle Staaten für gleich erklärt.
«) Vgl. Kahle, bes. § 6f. und § 25. Auch Wittich gehört hierher.
*) Lehmann c III, § 8; Wittich § 3; Huldenberg c. III.
s) Huldenberg c. III, § 9; Lehmann, c. III, § 75.
0) Lehmann c. II, § 80.
lOlI
— ISO —
weltlichen Händeln, den Kaiser; das moderne Naturrecht lehnt
ihn aber in dieser Stellung ab,^) ebenso wie ein eventuelles
Schiedsrichteramt des Papstes.') Die Idee femer einer tatsäch-
lichen politischen Vereinigung aller Völker unter einer Universal-
monarchie könnte nur durch unzählige Kriege realisiert werden,
wenn man überhaupt an die Durchführung eines so chimärischen
Unternehmens glauben könnte.*) Wichtiger scheint vom völker-
rechtlichen Standpunkt der »große Plan« Heinrichs IV. und das
Friedensprojekt des Abb6 de St Pierre zu sein.*) Indessen läßt
die nähere Betrachtung ihrer Systeme schon an ihrer politischen
Unbefangenheit und wenn nicht an St Pierres, so doch an
Heinrichs IV. reinen Absichten zweifeln, und außerdem ist die
Ausführung ihrer Vorschläge kaum möglich und würde ähnlich
wie die Aufrichtung einer Universalmönarchie gerade die blutigen
Kriege nötig machen, zu deren Vermeidung die Projekte dienen
sollen. Der von St Pierre zur Unterstützung seiner Ideen an-
geführte Vergleich mit dem deutschen Reichsverband ist recht
unglücklich, da dieser auf dem Boden der einen deutschen Nation
organisch erwachsen ist, während die Union des Abb6 »per mera
ratiocinia«*) entstehen soll.
Es bleibt also nur das Gleichgewicht als Mittel der Friedens-
bewahrung. Nach der Ansicht der Extremen unter seinen An-
hängern rechtfertigen der allgemeine Nutzen und die aus der
Geschichte bewiesene Notwendigkeit die Einrichtung eines Gleich-
gewichts, d. h. einer völkerrechtlichen Institution, kraft derer
allzu mächtige Staaten soweit eingeschränkt werden, daß eine
derartige Proportion der Kräfte erreicht wird, wie sie die con-
servatio gentium erfordert. •) Daraus ergeben sich eine Reihe
von völkerrechtlichen Gesetzen, wie der Vorrang des allgemeinen
1) Olafcy: »Vernunft- und Völkerrecht-, Leipzig 1727, 1. VI, c. I, § 3 f. Hulden-
berg c. VII, § 1.
5) Huldenberg c. VIII.
>) Kahle § 21 ff.; Huldenberg c. I, § 4 f. vgl. Wittich § 2: in anderem Zusammen-
hang wird die Universalmonarchie ffir utopisch erklärt. - Ahnlich schon Pufendorf: „De
systematibus civitatum" : (Dissertationes academicae selectiores", Lipsiae 1677), § 2.
4) Huldenberg c II; Lehmann c. III, § 7; Wittich § 4 ff.; Benzel, § 29. -
Vgl. Pufendorf: a. a. O. § 7, von dem Wittich abhängig ist.
B) Huldenberg S. 120, Anm.
6) Lehmann c. III, § 4. Im engsten Anschluß an ihn Kahle, § 4. Überhaupt ist
Kahle von Lehmann stark abhängig, selbst den Titel hat er mit geringen Änderungen von
seinem Vorgänger äbemommen.
— 151 —
Interesses vor dem Recht des einzelnen, wonach z. B. um des
Oleichgewichts willen ein mächtiger Fürst zum Verzicht auf eine
ihm rechtmäßig zugefallene Erbschaft gezwungen werden kann/)
femer die Pflicht, die Realisierung des Gleichgewichts zu fördenii
sich jeglicher direkter oder indirekter Störung der Balance zu
enthalten.*) Natürlich ist der Krieg nur als ultima ratio zu be-
trachten nach Erschöpfung aller milderen Mittel.^
Außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten findet sich
mancherlei Besonderes bei den einzelnen Autoren. Huldenberg
untersucht, wem das arbitrium legale aequilibrii zustehe, und
wie ein Mißbrauch am besten zu vermeiden sei.^) Kahle und
Lehmann werfen die Frage auf, ob auch das Wachstum der
inneren Kräfte eines Staates Grund zur Geltendmachung des
aequilibrium gebe, und beantworten sie verneinend.*) Gegen
die Einwände der Gegner verteidigt Huldenberg die vorher positiv
bewiesene Theorie. Er bestreitet, daß sie die allerdings unmög-
liche physische Gleichheit aller Staaten voraussetze,^ weist Analogien
aus dem bürgerlichen Recht zurück und erklärt ähnlich wie Gund-
iing die Vorstellung eines sehr mächtigen, aber seinen Nachbarn
ungefährlichen Fürsten, für eine blutlose, irreale Idee.')
Auch diese Lösung des Problems ist so gut wie die andere
von Anhängern der Theorie eingeschränkt worden. Die Idee
eines »arbitrium juris gentium legale"« schien ihnen mit der Natur
der Staaten nicht vereinbar, sie wollten dem Gleichgewicht nur
die Bedeutung beilegen, daß in seinem Namen alle durch eine
große Macht bedrohten Staaten sich vereinten, aber nur bei dem
Vorhandensein einer moralisch sicheren Kränkung zu den Waffen
griffen und einen die Forderungen des aequilibrium berücksich-
tigenden Frieden schlössen.^) Oder sie gaben zwar eine gemein-
1) Kahle, § 26, §30. In dieser Folgerung aus dem Oleichgewichtsprinzip lag seine
fruchtbarste politische Anwendung beschlossen, sowie andererseits die politische Tatsache des
mit der spanischen Erbschaftsfrage zusammenhängendenKrieges dieTheorie stark beeinflußt hatte.
2) Die Gesetze ausführlich bei Lehmann c. III.
«) Lehmann c. III, Gesetz 12; Huldenberg c. IV, § 4.
♦) Huldenberg c. IV, § 1 ff.
6) Lehmann c. II, § 89; Kahle § 16.
«) Huldenberg c. III, § 11. Ebenso Lehmann c III , § 19; Wittich § 19.
») Huldenberg c III, § 11.
8) vgl. Wittich § 19, § 36. Mir scheint Wittich wegen des § 36 auch zu dieser
Gruppe gerechnet werden zu müssen, obgleich er sonst immer von dem Interesse der ein-
zelnen Staaten ausgeht.
— 152 —
same Pflicht aller Völker zu, für die Aufrechterhaltung des allge»
meinen Friedens zu sorgen, und stellten ein dieser Pflidit ent-
sprechendes Recht auf die Mittel zu ihrer Durchführung und
damit ein »jus quoddam naturale . . ad bilancem gentium custo-
diendam" fest, aber nur insoweit, als dies »medium justum et
honestum« sei. Damit wurde aus der Verpflichtung, das Gleich-
gewicht aufrecht zu erhalten, eine »obligatio hypothetica sive
respectiva«, die immer nur zur Verstärkung eines schon ander-
weitig vorhandenen Rechtes in Aktion treten konnte.^)
c) Daß diese Versuche, die Rücksicht auf ein irgendwie
realisierbares Gleichgewicht^) als gerechten Kriegsgrund natur-
rechtlich zu konstruieren, leicht zu bekämpfen waren, liegt auf der
Hand. Trotzdem war die Theorie politisch im allgemeinen
während des ganzen 18. Jahrhunderts zu fest anerkannt, als daß
die Wissenschaft ein Bedürfnis empfunden hätte, gegen die juristische
Form, in die man das politische Postulat gebracht hatte, häufiger
zu polemisieren. Die beiden einzigen entschiedenen Angriffe auf
diese ganze naturrechtliche Doktrin, die ich aus dem 1 8. Jahrhundert
kenne, verdanken daher ihren Ursprung bestimmten politisdien
Strömungen, die dem Gleichgewichtsgedanken vorübei^gehend
gegenüber standen.^) Zu ihnen gesellt sich nur eine Dissertation
aus den 40er Jahren, die Schrift Benzeis, die das Gleichgewidit zwar
nicht ganz verwirft, ihm aber doch so energisch die juristische
Seele austreibt, daß man ihren Verfasser wohl am besten zu den
Gegnern der Theorie zählt. Bei weitem die gründlichste Wider-
legung ist die von Justi. Da wir diese im Hauptteil dieser
Arbeit schon eingehend analysiert haben, genügt es, an diesem
Orte summarisch aus ihr und den gesinnungsverwandten
Schriften die Hauptgesichtspunkte hervorzuheben.
Den radikalen Vertretern der beiden Lösungswege wurde
die ungeheuerliche Konsequenz vorgehalten, die in ihrer Lehre
lag. Wenn es erlaubt war, einen Stärkeren, nur weil er stärker
1) V. Behring § i, § 5 ff. Behring bekämpft die zu weiten Folgenmgen ans
Recht auf Selbstbewahrung, § 3, A. 4.
s) Mit der praktisch durchführbaren Form des aequilibrium hat die Politik, nldit
das Völkerrecht, zu tun.
>) Die Schrift Stissers und die erste Schrift Justis, vgl. o. S. 96 f. und S. IIS ff.
war, zu mehreren anzugreifen, so mußte dies Gesetz auch im
Status naturalis der Individuen gegolten haben, was allen, denen
der Naturstand nicht mit Hobbes und Spinoza ein bellum om-
nium contra omnes war, eine abscheuliche Annahme war.^) So-
weit die Gleichgewichtsfreunde etwa auf dem Begriff der zu
großen, nicht schlechthin der größeren Macht Wert legen wollten,
nützte ihnen das gar nichts, da ihnen eine genügende Definition
des Begriffs der nimia potestas nie gelingen konnte.*) Leichter
noch waren die Gemäßigten zu widerlegen, da sie mit der
Forderung einer außerhalb der Rücksicht auf das aequilibrium
vorhandenen causa belli dieses selbst überflüßig gemacht hatten.
Denjenigen, die etwa den Status naturalis der sodetates überhaupt
vor der Annahme einer festen Staatengemeinschaft, einer Art
Völker-Republik, zurücktreten lassen wollten, wurde die Unver-
einbarkeit ihrer Ansicht mit den unbestrittenen Regeln des natür-
lichen Völkerrechts entgegen gehalten.') Wenn schließlich die
meisten Autoren versucht hatten, auch in dem Verlauf der Ge-
schichte die tatsächliche Bestätigung ihrer Theorie zu finden, so
wurde teils ihre Beurteilung historischer Ereignisse als willkürlich
bekämpft,^) teils mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß ihre
ganze Lehre überhaupt erst aus der Geschichte destilliert sei, und
CS eine völlige Umkehrung der Tatsachen bedeute, wenn historische
exempla das beweisen sollten, was aus ihnen allein abgeleitet
sei.*) Den letzten Grund nahm dann der ganzen Lehre der
Nachweis, daß sie gerade das erreiche, was sie vermeiden wolle,
ewigen Krieg und Blutvergießen.*)
1) Stisser 1, 158 ff. Im Anschluß an ihn der Oberhaupt vor allem St. systemati-
sierende Benzel § 12.
*) Stisser I, 148 f., 168 ff., 180 ff., II, 28 ff. und sonst vielfach, da St. Kahle nicht
systematisch, sondern Paragraph für Paragraph widerlegt und sich daher sehr oft wiederholt.
Hierher gehören auch die Erörterungen über die Bedeutung der inneren Stärke eines
Staates für die Erkenntnis seiner Macht, durch die schon Stisser und nach ihm Justi den Be-
griff der »mimia potestas" völlig ad absurdum fährten. Stisser exemplifiziert das boshaft durch
eine Rechnung, in der er zeigt, daß ein Ffirst, der, allegorisch gesprochen, 3 Pfd. Macht,
4 Pfd. Staatskunst, 5 Pfd. Eifer und 2 Pfd. Ehrbegierde besitzt,, offenbar mächtiger ist als ein
anderer, der 12 Pfd. Macht, aber von den übrigen Eigenschaften nur zusammen 1 Pfd.
besitzt: vgl. 1, 206 f. dazu Justi, 2. und 3, Hauptstück.
8) Justi S. 97 ff; Benzel § 14.
4) Stisser I, 63 ff., 185 ff.; II 91 ff. Benzel § 24.
6) Benzel § 5.
«0 Benzel § 3, § 27 f.
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Univ.-Prof. K. Boas.
usw. usw.
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zur Zell SrltdrlAs des 6ro^en und Deute.
"*> Betrad)tungen und S^or$d)ungen. ^
uon Dr. P. Böcketidoit.
1903. VIII, 164 S. u. 1 plan. — (Belj. tat. S.-, geb. tat. 7.—.
Konrad ooit Burasdorff
ein brandenburgi$d)er Kriegs* und Staatsmann aus der Zeit der
Kurfürsten 6eord WllDelm und
$nedrl« Wilbelm (1595-1652).
Uon Dr. Karl Spannaflcl, Prof. an der UniversitSt zu mOnster i. Ol.
1903. XVIII, 458 S. - <5el}. Utf. IS.—, geb. Htf. 17.—.
Die €rititierutigen der Prinzessin
Ulilbelmine von Oranien
($d)we$ter K$nig Sriedrid) Olilbelms II.)
an den Bot !?riedrid)s des Großen (1751—1767).
Uon Or. B. Volz.
1903. VII, 93 S. a. 2 JtbbiH». — (Selj. Utf. 3.—, geb. OTf. S.— .
Briefwechsel zwi$d)en
l^einrid)» Prinz von Preußen
und
Katbarina IL von Rußland.
Uon Dr. R* Krauclt Kais. Gesandter z. D.
1903. VIII, 178 5. — (Sei?. Vflt 6.—, geb. Vflf. 8.—.
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Repetitorium der Deutsthen beschichte.
NFIITPIT i™>nh., Brandenburgisch - Preußische uer-
HITTELAITEB. '^ Autl«gc Tscleint 1907)
Abriß der dcubclien Geschichte vor BMlno der Völker-
wanderuns bis tum Tode Maximillins I,
Zur VerfnssuriKS- und Tcrritnrlalgcschichie.
Tabellen lur Entwicklung der bedeutendsten Territorial-
Staaten.
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Bcmerkiniftcn tv den Quellen.
Praktische Hartdbacher: Oeti. it Mk. 3J0, geb. i^ Mk. 4-
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Tagebuch tlcs
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über «Vitien Aiifrnlhall in WuilcrbauS":" vom 4, - in. September 17;
Mit ElnldlnnKen un«! ErHÜranBen herausgegeben von
Dr. B. KRIEOEB
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