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' -p ■ ^
MO
Die Inquisition
der russisch-orthodoxen Kirche.
Die Klostergefängnisse.
Von
Ä. S. Pnigawin.
Mit einem Geleitwort
von
M. von Rensner,
ehemalig. Professor des Staaterechts an der Universität Tomsk,
Berlin - Charlottenburg,
Friedr. Oottheiners Verlag
August Brenzinger.
1905.
PUBLIC LIBRARY
A8T0R, LENOX ANO
TILDEN FOÜNDATIONS.
R 1906 L
Alle Rechte vorbehalten.
(
Vorwort.
^-
Das in Rufsland herrschende kirchea-polizei-
liehe System war nicht nur im Auslande, sondern
auch in Bufsland selbst verhältnismäfsig wenig be-
kannt. Die äufserst strenge Zensur der orthodoxen
Kirche, der alle Artikel und Abhandlungen, die
das religiöse Leben berühren, unterworfen sind,
machte die einfachste Zeitungsmitteilung wie die
wissenschaftliche Untersuchung auf diesem Gebiete
unmöglich. Anderseits spielt der Umstand eine
grofse Rolle, dafs nicht nur die orthodoxe Theologie,
sondern alle Wissensgebiete, welche die Geschichte
der Religionen, das Kirchenrecht, die Kirchen-
gesehichte, die Religionsphilosophie und sogar
f^ manche Teile der Philologie berühren, ausschliefs-
lieh unter dem Schutze der orthodoxen geistlichen
* Akademien stehen und dadurch der strengen
p Zensur der Heiligen Synode unterliegen. Die
Mafsregdn, zu denen die Heilige Synode griff,
gingen so weit , dafs Rufsland bis jetzt noch keine
mehr oder minder ausführliche Geschichte seiner
eigenen Kirche hat, die auf der Höhe der
modernen wissenschaftlichen Forschung stünde.
Nur in sehr geringem Mafse gelang es einigen
— IV —
Juristen, insofern das Kirchenrecht in den juristi-
schen Fakultäten vertreten ist, das in RuTsland
herrschende kirchen-polizeiliche System teilweise
zu enthüllen. Allein, wir wiederholen, solche
Gelehrte gibt es nur wenige. Der Lehrstuhl des
Kirchenrechtes wird in Rufsland in der Regel von
den Zöglingen der geistlichen Akademien besetzt;
•diese Leute aber schämen sich nicht, die wissen-
schaftliche Wahrheit zu fälschen und zu entstellen.
Die Archive der Klöster und Kirchen sind selbst-
verständlich den Vertretern der Wissenschaft ver-
schlossen , ebenso ist die geheime russische Gesetz-
gebung auf dem Gebiete der Religion, Kirche und
des Sektenwesens den fremden neugierigen Blicken
unzugänglich. Nur einem glücklichen Zufalle ist
es zu verdanken, dafs vor kurzem Sammelwerke
geheimer Bestimmungen und Verordnungen ent-
deckt wurden, die während eines halben Jahr-
hunderts regulierende Normen für das geistige
Leben vieler Millionen des russischen Volkes ab-
gaben.
Das System der russischen religiösen Polizei
basiert auf folgenden allgemeinen Prinzipien: Die
Zulassung resp. Verbietung einer Religion ent-
scheidet in Rufsland die weltliche Regierung ganz
nach ihrem Ermessen. Das Gesetz gibt keinen
Weg an, auf dem ein Glaubensbekenntnis seine
Anerkennung oder Duldung innerhalb des Staates
erreichen könnte. Die Liste der zugelassenen
Religionen in Rufsland ist rein historisch ent-
standen, als Resultat der Eroberung von anders-
gläubigen Völkerschaften oder teilweise als Re-
— V —
sultat des beständigen Kampfes der Regierung
gegen die Ketzer und Sektierer. Prinzipiell er-
kennt das russische Gesetz die Religion als solche
nicht an, es kennt sie nur als eine gewisse
nationale Eigentümlichkeit. In dem Mafse, als
die Regierung eine Nationalität duldet, duldet sie
dementsprechend auch deren Religion. Diese
Toleranz hängt ausschliefslich von dem freien Er-
messen der weltlichen Gewalt ab. Ihrer Rechts-
stellung nach verteilen sich die „fremden" und
andersgläubigen Religionen je nach den ihnen zu-
kommenden Vorrechten (Privilegien) in verschiedene
Gruppen. Die Kirchen und der Klerus der
wichtigsten nicht -russischen Völkerschaften ge-
niefsen die gröfsten Vorrechte. In zweiter Linie
kommen die zahlreichen und besonders stark ver-
tretenen religiösen Gemeinschaften des alten
Glaubens oder des Schisma in Betracht, die sich
noch im 17. Jahrhundert von der Staatskirche ge-
trennt hatten. Sie werden geduldet. . Dann folgen
die russischen religiösen Sekten, die mystischen
sowohl als auch die rationalistischen, die den grau-
samsten Verfolgungen ausgesetzt sind. Die reli-
giösen Gemeinschaften von Buddhisten, Heiden und
Mohammedanern geniefsen also im Vergleiche zu
den friedlichen Anhängern der russischen evangeli-
schen Sekte, ja sogar im Vergleiche zu dem ge-
duldeten alten Glauben, der ebenfalls orthodox
ist, geradezu uneingeschränkte Rechte. Es ist
selbstverständlich, dafs die Geistlichkeit aller
„fremden" und andersgläubigen Bekenntnisse ganz
und gar dem Minister des Innern unterworfen ist
— VI —
und die Pflieht hat, die politische „Legalität"
ihrer Geisteskinder zu wahren. Dem »fremden"
Klerus gegenüber wird das System des durch nichts
gemilderten staatlichen Eirchenwesens durchge-
führt , während die Religion und die Geschäfte der
Kirche durch administrative Verordnungen des ge-
nannten Ministers reguliert werden.
Und wenn die orthodoxe Kirche in Bufsland
schon längst den Charakter einer religiösen Ge-
meinschaft eingebttfst und sich vollkommen in
eine polizeiliche Anstalt des schlimmsten Typus
verwandelt hatte, so erhielt sie dafür ein ganzes
System von staatlich sanktionierten Verordnungen,
durch die allerhand „Ketzereien" und Zwistigkeiten,
die in ihrem Schoofse entstehen , unterdrückt und
Anhänger anderer Glaubensbekenntnisse zu ihren
Proselyten gemacht werden können. Der russische
Staat, der die russische Nationalität mit dem
russischen Kirchenwesen identifiziert und die russi-
sche Kirche als das beste Mittel zur Befesti-
gung loyaler politischer Gesinnung erachtet, —
dieser Staat schreckt vor keinen Mafsregeln zu-
rück, um für die Orthodoxie so viel Proselyten als
möglich zu gewinnen und dadurch dem Throne und
der Polizei die Treue zu sichern.
Um für die Orthodoxie Proselyten zu machen,
sucht die russische Gesetzgebung vor allem mit
Geldbelohnung, Erleichterung der Steuerlast, Er-
weiterung seiner bürgerlichen und öffentlichen
Rechte und durch Gewährung verschiedener wirt-
schaftlicher Vorteile den Andersgläubigen zu
locken. Ein anderes Mittel ist die Einräumung
— VII —
des Piopagandarechtes zugunsten der orthodoxen
Kirche. Der Proselyt darf unter allen anderen
Glaubensbekenntnissen um neue Proselyten werben,
während es diesen unter strengster Strafe ver-
boten ist, ihrerseits Proselyten zu machen. Ein
weiteres Mittel zur Verbreitung der Orthodoxie
sind die gemischten Ehen, denn wenn einer der
Erzeuger orthodox ist, müssen auch alle Kinder
in seiner Religion getauft werden. Um dem Abfall
von der Orthodoxie vorzubeugen — was vom Straf-
gesetz strengstens verboten ist — , ist eine orthodoxe
Zensur, die sich auch auf die Andersgläubigen
ausdehnt, und ein beständiges polizeiliches Organ
eingeführt, das die Orthodoxen zu beaufsichtigen
hat: es hat dafür zu sorgen, dafs sie fromm sind
und alle Gebräuche der Kirche und alle Wünsche
der geistlichen Behörden befolgen. Die Polizei
hat auch die Pflicht, die individuelle und eheliche
Sittlichkeit einzelner Bürger zu beaufsichtigen.
Unter der polizeilichen Aufsicht steht ferner die
christliche Kunst und das Kunstgewerbe. Der
Abfall von der Orthodoxie wird mit Konfiskation
des Eigentums, Wegnahme der Kinder und kirch-
licher Verfolgung bestraft. Das Bekennen zum
jüdischen Glauben hat den Verlust der elemen-
tarsten, öffentlichen und privaten Rechte zur Folge.
Das Bekennen zu evangelisch - christlichen An-
schauungen im Geiste des Baptismus, zu den
rationalistischen Sekten (Stundisten, Tolstoianer,
Paschkowzy, Duchobozzy etc.) hat die Verbannung
nach Sibirien oder Hinterkaukasus zur Folge.
Ebenso werden die Anhänger mystischer Sekten,
- VIII —
die religiöse Selbstkasteiung oder unsittliche Hand-
lungen begehen (Chlysty, Skopzy etc.), bestraft.
Bestraft wird übrigens jeder, der sogar auf dem
Wege friedlicher Unterhaltung versucht, einen
orthodoxen Christen zu einer bereits existierenden
oder zu einer neuen christlichen und sittlichen
Sekte zu bekehren.
Allein die allerschrecklichste Waffe in den
Händen der kirchlichen Gewalt ist die Bestrafung
der Ketzer mit Einzelhaft in den Klostergefäng-
nissen, wie sie der berühmte Forscher des russi-
schen Raskol, A. S. Prugawin, in diesem Werke
schildert. Diese Einkerkerungsweise, die durch
die öffentlichen russischen Gesetze in keiner Weise
gerechtfertigt werden kann, wird von den geist-
lichen Behörden in einer Form durchgeführt, die
mit Recht mit der berüchtigten Einkerkerung in
die venetianischen bleiernen Gefängnisse oder mit
der Inquisition des grofsen Torquemado verglichen
werden darf. Ohne jegliche Formalität, ohne Ge-
richt und Verhör werden Hunderte von russischen
Bürgern schuldlos in die Klostergefängnisse, die
unter der Obhut heiliger Väter, Äbte und Ober-
priester stehen, gesteckt, damit sie dort den
Verstand verlieren oder durch Hunger und^ Kälte,
in Schmutz und Finsternis, aber dafür unter
Glockengeläute und heiligen Hymnen einen qual-
vollen Tod sterben. Wie schwer es war, die Opfer
den Krallen der verbrecherischen Geistlichkeit zu
entreifsen, — das schildert uns Prugawin in grellen
erschütternden Farben. Die Verkünder der Religion
der Liebe kennen keine Schonung und keine Nach-
— IX —
sieht. Langsam, volle Jahrzehnte hindurch quälen
sie ihre Opfer im Namen der ewigen Erlösung zu
Tode. Und in ein undurchdringliches Geheimnis ver-
mochten sie die Schandtaten ihrer Inquisition zu
hüllen.
Prugawins grofses Verdienst besteht darin, dafs
er es verstanden hat, in die Kasematten des
Klostergefängnisses zu dringen und die Schrecknisse,
die dort geschehen, wenigstens zum Teil, zu ent-
hüllen. Und merkwürdig, als Prugawin beschlossen
hatte, die Aufsätze über die Klostergefängnisse,
die früher in der Zeitschrift „Pravo"' veröffentlicht
waren, in Buchform erscheinen zu lassen, konnte
die geistliche Zensur nicht umhin, auch hier ihre
christlichen Gefühle kund zu ^un. Das Buch ist
mit „kritischen" Bemerkungen des geistlicher
Autors, des demütigen Mönches Alexander, versehen,
der die Welt verlassen hatte, um seine Seele retten
und Gott besser dienen zu können. Diese An-
merkungen sind in ihrer heidnischen Naivität und
in ihrem polizeilichen Eifer so herrlich, dafs wir
im Einvernehmen mit dem verehrten Herrn Ver-
fasser beschlossen haben, sie unverändert auch hier
wiederzugeben.
Wir glauben, dafs das Buch einer solchen
Autorität auf dem Gebiete der russischen Kirchen-
gesetze und des russischen Sektenwesens, wie es
Prugawin zweifellos ist, der freundlichen Aufnahme
des deutschen Lesepublikums sicher sein kann.
Berlin, im Januar 1905.
Prof. M. Y. Bensner.
I.
%Aiel Schreckliches und Trauriges ist uns auf
* den verschiedenen Gebieten des staatlichen,
kirchlichen und sozialen Lebens des Volkes von
altgrauen Zeiten, unserer historischen Vergangen-
heit her erhalten geblieben. Die meisten finsteren
Überreste des Altertums jedoch haben sich bei uns
gerade auf einem Gebiete aufgehäuft, das seinem
Wesen, seinem inneren Charakter nach vollkommen
frei von allem sein mufste, was das Gepräge der
Grausamkeit und Gewalt an sich trägt. Wir ineinen
nämlich das Gebiet des Glaubens, das Gebiet der
religiösen Überzeugungen.
Diesmal wollen wir an die traurige und düstere
Anomalie erinnern, die sich in unserem staats-
kirchlichen Leben von den vergangenen Zeiten
religiöser Verfolgung und Unduldsamkeit erhalten
hat. Wir wollen an das Schicksal der sogenannten
Klosterhäftlinge erinnern, d. h. solcher Leute, die
das Unglück hatten, wegen Vergehen oder Ver-
brechen gegen die Kirche und Religion in das Kloster-
gefängnis gesteckt zu werden. Bekanntlich gab es
seit jeher in manchen unserer Klöster Gefängnisse.
Besonders weit bekannt war das Gefängnis im
Solowezky-Kloster, wohin in früheren Zeiten nicht
nur religiöse, sondern auch politische Verbrecher
verbannt wurden, die nach der Terminologie der
Zeit als „Diebe und Rebellen" bezeichnet wurden.
Die Verbannung der religiösen und politischen Ver-
Prugawin, Die Inquis. d. russ.-orthod. Kirche. 1
— 2 —
brecher nach dem Solowezky-Kloster hatte schon in
der Mitte des 16. Jahrunderts, in der Regierungs-
zeit Johann des Schrecklichen, häufig stattgefunden.
Im 17., 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts war das Gefängnis am Solowezky-Kloster
nicht selten von Gefangenen überfüllt.
Dadurch ist wahrscheinlich die Tatsache zu
erklären, dafs in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts ein neues Kloster gefängnis, eine neue Festung
entstand — diesmal im Herzen Rufslands, nämlich
im Spas-Euphimius-Kloster, das sich in Susdal, Gou-
vernement Wladimir, befindet.
Dieses Kloster zählt zu den ältesten in Rufs-
land. Es ist gleichzeitig mit der Troiz - Sergius
Laura vor 550 Jahren entstanden. Seine Be-
gründer waren der heilige Euphimius und der Grofs-
fürst von Susdal und Nischni-Nowgorod, Boris Kon-
stantinowitsch. In den früheren Zeiten hatte dieses
Kloster unter tatarischen und polnischen Über-
fällen zu leiden. Das veranlafste auch die Eürsten
von Susdal, das Kloster nach Möglichkeit zu be-
festigen, um es den Überfällen unzugänglich zu
machen. So wurde das Spas-Euphimius-Kloster
nach und nax^h von hohen, ungewöhnlich massiven
Mauern und Türmen umgeben, mit „Geschützen,
Kanonen, Hellebarden, Harnischen" usw. versehen
und verwandelte sich allmählich in eine, wie es in
der Beschreibung dieses Klosters heifstS „kolossale
Feste", „eine fürchterliche unzugängliche Festung".
^ Die historische Beschreibung des hervorragenden
Spas- Euphimius -Klosters in Susdal von L. Sacharo w.
Wladimir an der Kljasma, p. 1 — 8.
r
— 3 —
Zum Yerbannungs- und Gefängnisort wird das
Spas-Euphimius-Kloster seit 1766, seit dem Aller-
höchsten Erlafs Katharinas II., in dem es unter
anderem heifst : „Diejenigen Sträflinge, welche die
frühere Geheimkanzlei in verschiedene Klöster ver-
bannen liefs, damit sie, zehn an der Zahl, ihre
Gesinnung bereuen, sollen nun aus den Klöstern,
die sich im Gouvernement Moskau befinden, nach
dem Spas - Euphimius - Kloster gebracht werden,
damit sie strenger beaufsichtigt und ihr Leben
besser gesichert wäre, ebensowie damit ihr Wahn-
sinn niemandem einen Schaden zufüge. Zur Be-
wachung sollen sie einem Militärkommando aus
der Provinzkanzlei in Susdal unterstellt werden."
Indem die Heilige Synode diesen Aller-
höchsten Befehl dem Archimandriten des Spas-
Euphimius-Klosters Euphrem kundgab, schrieb sie
ihrerseits: „Da Du aber in diesem Kloster die
höchste Gewalt repräsentierest, soll das Militär-
kommando unter Deine Obhut gestellt werden,
dann soll Dir empfohlen werden , auf jegliche Art
zu versuchen, diese Häftlinge zu bessern; denn
dadurch können sie sich, Archimandrit, ihrem Be-
rufe entsprechend für die Erhaltung des mensch-
lichen Lebens nützlich machen. In bezug auf den
Empfang der Sträflinge und über die Zahl der
Zellen, die ihnen anzuweisen sind, ebensowie über
die notwendigen Mafsregeln zur Besserung der
Gesinnung dieser Wahnsinnigen, hast Du, Archi-
mandrit, nach dem Allerhöchsten Befehl Ihrer
Kaiserlichen Majestät Verordnungen von der Heiligen
Synode gehorsamst zu erbitten."
1*
— 4 —
Gleich nach dem oben angeführten Allerhöchsten
Befehl wurde eine besondere Instruktion zur Behand-
lung der Sträflinge, die nach dem Spas-Euphimius-
Kloster verbannt werden sollten, veröffentlicht»
Diese Instruktion wurde von dem Oberprokurator
der Heiligsten Synode, dem Kämmerer General
und Kavalier Fürst Wjasemskij, dem Wojewoden
(Oberkommandant) in Susdal und dem Archiman-
driten mitgeteilt : „Diese Wahnsinnigen sind in die
vom Archimandriten angewiesenen zwei oder drei
leeren Zellen einzuquartieren, jedoch ohne Fesseln ;
sie sind zu beaufsichtigen, damit sie infolge ihres
Wahnsinnes sich selber und den anderen keinen
Schaden verursachen; zu diesem Behufe soll von
ihnen jegliche Waffe femgehalten werden, ebenso
ist ihnen das Schreiben zu verbieten. Falls einer
von ihnen zu toben beginnt, so ist er in Einzel-
haft und für einige Tage ohne Nahrung unter-
zubringen. Hat er sich dann beruhigt, so kann er
wieder zu den anderen zurückkehren. Diejenigen,
die still sind und keine Unruhe verursachen,
dürfen unter der Aufsicht der Wache in die Kirche
zugelassen werden, um den Gottesgesang anzu-
hören; dabei ist streng zu beachten, dafs sie mit
niemand unziemliche Gespräche anknüpfen und dafs
sie nicht aus dem Kloster entfliehen. Die Wache
hat sie nach Möglichkeit ohne Härte zu behandeln ;
insofern sie geisteskrank sind, sollen sie mit
menschenmöglicher Nachsicht behandelt werden.
Wenn jemand von ihnen etwas Wichtiges sagt, so
ist darüber, da es ein Wahnsinniger gesagt hat,
keine Anzeige zu machen, nur mufs das Gesagte
dem Kommandanten mitgeteilt werden."
— 5 —
Freigelassen konnte der Verbannte nur dann
werden, wenn er seinen „Wahnsinn" * völlig auf-
gegeben hatte.
Bald darauf wurde in dem Spas-Euphimius-
Kloster eine besondere, sogenannte „Sträflings-
abteilung" oder ein Gefängnis eingerichtet. Eine
ganze Ecke des Klosters, in der dieses Gefängnis
eingerichtet wurde, war von einer massiven Mauer
umgeben und als „Festung" bezeichnet. Zugleich
änderte sich auch das Ziel und die Bestimmung
dieser Festung : anstatt ein Aufenthaltsort für wahn-
sinnige Gefangene zu sein, wird sie zu einem Ge-
fängnisse, in das Leute verbannt werden, die sich
irgendwie gegen die Kirche und Religion vergangen
haben.
Tag und Nacht ist die Festung unter Schlofs
und Biegel. Das einzige Fort, das in die Festung
ftlhrt, wird immer von Soldaten bewacht. Ohne
besondere Erlaubnis oder, wie man hier sagt, ohne
den Segen des Archimandriten , der zugleich der
Kommandant der Festung ist, darf niemand über
die Schwelle des Tores treten.
II.
Die ersten zehn Menschen, die 1776 in das
Susdalkloster kamen, waren folgende Personen : der
Dragoner Nikanor Ragosin, der Kapitän a. D. Iwan
Njemtschinow, der Leutnant Korobkow, der Fourier
Sawwa Petrow, der Mönch Wladimir Selentkij, der
1 Ebenda p. 72—73.
— 6 —
Pfarrerssohn Andrei Jegorow, der Kopienschreiber
Wassilij Stscheglow, der Diener des Fürsten Urussow,
Michail Wassiljew, der Bauer Iwan Wassiljew und
der Bahnwächter Wassilij Smagin.
Diesen ersten Gefangenen folgt eine lange
Reihe von Personen, die entweder als Amtsbrüder
der Klostergemeinde verbannt oder als Sträflinge
in das Klostergefängnis verbracht wurden. Es ist
zu bemerken, dafs die erste Gruppe einen ver-
hältnismäfsig unbedeutenden Prozentsatz von der
Gesamtzahl derjenigen bildete, die nach dem Susdal-
kloster verbannt waren, und vorzugsweise aus den
Vertretern der Weifsen^ und Schwarzen^ Geist-
lichkeit bestand, die sich irgend etwas hatten zu-
schulden kommen lassen.
Unter den „Gefangenen" und „Sträflingen", die
in das Susdalsche Klostergefängnis verbracht wurden,
befanden sich Offiziere, Adelige, Beamte, Soldaten,
Bauern, Kaufleute, Kleinbürger, Kanzleischreiber,
Leibeigene, Raskolniki und Sektierer, Pfarrer,
Mönche, Archimandriten, Diakone, Küster, Kloster-
diener, Kirchendiener usw. Während der Zeit 1766
bis 1902 beträgt die Gesamtzahl der Gefangenen im
Susdalschen Spas-Euphimius-Kloster mehr als 400.
Diese Zahl setzt sich aus zwei Hauptgruppen zu-
sammen: aus geistlichen und weltlichen Personen.
Zur ersten Gruppe gehören 108 Pfarrer, darunter
5 Oberpriester, 1 Schliefser der Kathedrale und
Mitglied des geistlichen Konsistoriums; Archiman-
^ Weltgeistlichkeit.
^ Mönchsgeistlichkeit.
— 7 —
drite und Äbte : 16 ; Mönche, Hieromönche und Hiero-
diakone: 65; Diakone: 16; Küster, Kirchen- und
Klosterdiener usw.: 17. Aufserdem befanden sich
in dem Kloster zu verschiedenen Zeiten: 1 Baka-
laurus der geistlichen Akademie in Kiew, 1 Psalmen-
leser, 1 Pfarrerssohn und 1 Diakonsohn.
Zur zweiten Gruppe gehören : Offiziere , Adelige
und Beamte : 50 an der Zahl , darunter 1 General-
major, 2 Barone, 1 Graf und 2 Fürsten ; Soldaten und
Unteroffiziere: 16 an der Zahl; Bauern: 51; Klein-
bürger : 10 ; Kaufleute : 3 ; Leibeigene : 2 ; Kanzlei-
schreiber, Protokollisten und Kopisten : 6 ; Geistliche
von den Sektierern (Raskolniki), Pfarrer und Mönche :
11; Erzbischöfe unter den Raskolniki : 4; Personen
unbekannten und unbestimmten Berufes: 8.
Aufserdem: 1 Lehrer, 1 Schauspieler, 1 Kadett
des Berginstitutes, 1 Kosak, 1 Polizeiaufseher,
1 Schiffskapitän und 1 Schuster aus Saratow.
Abgesehen von diesen, safsen im Susdalschen
Kloster : 2 rumänische Mönche, 1 bulgarischer Archi-
mandrit, 1 griechisch-katholischer Pfarrer und
1 griechisch-katholischer Mönch und endlich 1 Fran-
zose, Bardio, und 1 Deutscher, Krüger. Die letzteren
zwei wurden Januar 1773 in das Klostergefängnis
gebracht und verblieben dort bis zu ihrem Tode,
Oktober 1791. Von der Gesamtzahl der Gefangenen
fallen auf das 18. Jahrhundert (von 1766 bis
1800): 62, auf das 19.: 341 Personen. Teilen wir
diese letzte Zahl nach den Jahrhundertvierteln
ein, so erhalten wir folgende Zahlen: vom 1. Ja-
nuar 1800 bis zum 1. Januar 1825 betrug die
Zahl der nach dem Susdalschen Kloster Ver-
— 8 —
bannten: 55; vom 1. Januar 1825 bis zum
1. Januar 1850: 53; vom 1. Januar 1850 bis zum
1. Januar 1875: 117 und endlich vom 1. Januar
1875 bis zum 1. Januar 1902: 116. Wir überlassen
es den Lesern selbst, aus diesen Zahlen, die
auf Grund archivarischer Forschungen festgestellt
sind, den Schlufs zu ziehen. Wir glauben nur
folgendes bemerken zu müssen. Da die Archive
die Prozesse der letzten Zeit nicht enthalten, so
dürfen unsere Angaben bezüglich der Personen, die
in letzter Zeit nach dem Susdalschen Kloster ver-
bannt waren, zum Teil nur als annähernd richtig
gelten. Es ist sehr leicht möglich, dafs unsere
Angaben gerade die Zahl der Personen, die in
letzter Zeit verbannt wurden, nicht enthalten.
Zieht man diesen Umstand in Betracht, so gelangt
man mit Recht zu dem — allerdings sehr un-
erwarteten — Schlüsse, dafs in Rufsland die An-
wendung der längst abgelebten, mittelalterlichen
Straf form, als welche die Klosterverbannung gelten
mufs, in den fünfziger und sechziger Jahren des
verflossenen Jahrhunderts den Gipfelpunkt erreicht
hatte und seitdem bis auf den heutigen Tag auf
demselben Niveau geblieben ist. Da völlige Sühne
„aufrichtige Abbitte" aller „Verirrungen" und
ketzerischen Ansichten die unentbehrliche und uner-
läfsliche Bedingung zur Freilassung aus dem
Klostergefängnis war, so ist es natürlich, dafs Leute,
die von der Wahrheit ihrer Ansichten vollkommen
überzeugt waren, es vorgezogen haben, lieber in
der Gefangenschaft ihre Tage zu beschliefsen, als
das als Lüge zu bekennen, woran sie mit aller
— 9 —
Leidenschaft der religiösen Begeisterung glaubten.
In die Elostergefängnisse gerieten aber meistens
Menschen von diesem Schlage. Daher sehen wir,
dafs nur sehr wenige die Freiheit erlangt hatten,
während die meisten hier bis zu ihrem Lebensende
verblieben.
Nicht umsonst ist der Elostergarten , der an
das Gefängnis schliefst und „als Friedhof der
Sträflinge" bezeichnet wird, von Gräbern früherer
„Gefangener" und „Arrestanten" bekränzt. Von
den vielen Gräbern früherer Gefangener sind nur
drei bis vier erhalten geblieben, unter anderem
die Gräber der Fürsten Feodor Petrowitsch
Schachowski und Wladimir Nikolojewitsch ßantysch-
Eamenski.
Die verstorbenen Arrestanten werden hier in
der Begel im Garten beerdigt — ohne Kreuz,
ohne Platte, ohne jede Bezeichnung oder Inschrift,
auf Grund deren die Verwandten das Grab des
teueren Verstorbenen aufsuchen könnten. Bei der
Bestattung eines Führers des Raskols oder des
Sektierertums sorgt die Obrigkeit streng dafür,
dafs der Begräbnisort unbekannt bleibe, um da-
durch einer eventuellen Pilgerfahrt der Anhänger
und Verehrer vorzubeugen. Zu diesem Zwecke
werden solche Personen manchmal aufserhalb des
Gefängnisses begraben, und die Bestattung findet
heimlich am frühen Morgen, wenn alle noch
schlafen, statt. Das Grab wird dem Boden gleich-
gemacht und Reisig darauf gestreut. Dadurch
werden alle Merkmale beseitigt, die auf den
Begräbnisort hindeuten könnten. So wurde z. B.
— 10 —
das Haupt und der Begründer der Sekte der kau-
kasischen „Priguni" (Springer), der Kosak Maxim
Rudemetkin , der im Klostergefängnisse am 13. Mai
1877 gestorben war, beerdigt.
III.
1902 befanden sich im Gefängnis des Spas-
Euphimius-Klosters 12 Gefangene, von denen manche
mehr als 10, 15 sogar 20 Jahre eingekerkert
waren. So z. B. sitzt der Diakon Nikolai
Iwanowitsch Dobroljubow, aus dem Gouvernement
Nischni-Nowgorod , schon 23 Jahre in diesem Ge-
fängnisse. Aber andere Gefangene sind erst in
letzter Zeit dahin verbannt worden: so ist der
Bauer aus dem Gouvernement Samara Jermolai
Fedossejew 1900 da eingetroffen, der Pfarrer
Keratim Iwanot witsch Zwjetkow im Sommer 1901.
Über den Grund, der zur Verbannung des Bauern
Feodosejew führte, finden wir folgende Angaben
in dem Bericht der eparchialen Verwaltung in
Samara für das Jahr 1900. „Die eparchiale
Obrigkeit hat zu dem äufsersten Mittel gegriffen,
um auf die gefährlichen und unverbesserlichen
Ketzer und Propagandisten einzuwirken, als sie die
Heilige Synode ersuchte, dieselben aus der orthodoxen
Kirche auszuschliefsen und nach dem Spas-Euphi-
mius-Kloster zu verbannen. So sah sie sich ge-
zwungen, einem gewissen Jermolai Feodossejew
gegenüber, der in einer Höhle lebte und durch
seine Scheinheiligkeit die Massen des einfachen
— 11 -
Volkes verführte, so zu handelnd Über den
Grund, der zur Verbannung des Pfarrers Zwjetkow
aus dem Gouvernement Tambow führte, war aus-
führlich in den „St. Peterburgskija Wjedomosti**
berichtet. Dem zufolge ist der Pfarrer Zwjetkow
von der höheren Obrigkeit wegen mancher Ansichten,
die den bei unserer Geistlichkeit herrschenden
widersprechen, zur Verbannung nach dem Susdal-
schen Kloster verurteilt worden. So z. B. verwarf
Zwjetkow die Unterordnung der Kirche unter die
weltliche Gewalt in der Person des Oberprokurators
der Heiligen Synode; er erklärte ferner für not-
wendig, ein Konzil einzuberufen zur Lösung der
vielen Fragen, die in der orthodoxen Kirche heran-
gereift seien; er leugnete die Autorität der
Heiligen Synode u. dergl. mehr. In diesem Sinne
erklärte er sich dem Oberprokurator der Heiligen
Synode und vielen höheren Hierarchen der russi-
schen Kirche gegenüber, was gleichfalls die Kloster-
verbannung Zwjetkows behufs Besserung und Reue
zur Folge hatte." Aufser dem Pfarrer Zwjetkow, dem
Diakon Dobroljubow und dem Bauern Feodossejew
sitzen gegenwärtig in der Susdalschen Festung noch
zwei Pfarrer: Peter Rudokow und Gabriel
Alexandrowitsch Sinzorow, dann ein Mönch aus
Moldau, der Hierodiakon Pimen, ein Sektierer,
ein Bauer aus dem Gouvernement Wladimir
Anikij Antonowitsch Utotschkiu, vier Sektierer aus
der Sekte Jenochowzi, die aus dem Gouvernement
Saratow hierher gebracht wurden, und endlich ein
Samarer eparchiale Nachrichten 1901. Nr. 16 p. 886.
— 12 —
Bauer aus dem Gouvernement Cherson, der be-
kannte Sektierer Feodor Kowalew, der etwa 20
Personen , Verwandte und Gesinnungsgenossen
während der allgemeinen Volkszählung, die er für
eine Sache des Antichristen hielt, eingemauert
hatte.
1901 brachten die Blätter die Nachricht, dafs
Kowalew wegen seines Übertritts zur orthodoxen
Kirche aus dem Klostergefängnisse freigelassen
wurde. Diese Nachricht ist, wie wir uns ge-
legentlich selbst überzeugen konnten, falsch, da
Kowalew noch heute im Gefängnis sitzt, obwohl
er sich seit seinem Übertritt zur Orthodoxie einer
relativ besseren Behandlung erfreut.
Zwei aus den „ Jenochowzy" betragen sich sehr
aufrührerisch, sie schelten den Archimandriten
des Klosters „Antichrist" und leisten den Befehlen
der Wache keine Folge; daher werden sie fort-
während, Tag und Nacht, hinter Schlofs und Riegel
gehalten und niemals aus der Zelle gelassen. Allem
Anschein nach sind diese Jenochowzy zweifellos
psychisch kranke Menschen. Öfters gehen sie
nachts ans Fenster und beginnen laut zu schreien
und zu weinen; mitunter hört man einzelne Worte
und Sätze wie: „Christus ist auferstanden! Der
Antichrist ist gekommen ! Heilige Dreieinigkeit ! "usw.
Überhaupt ist der Prozentsatz der psychischen
Erkrankungen unter den Klostergefangenen sehr
hoch. Wenn die Psychiater Gelegenheit hätten,
den Seelenzustand derjenigen zu untersuchen, die
in den Klostergefängnissen . 10 , 15 und 20 Jahre
zugebracht hatten , so könnte man sicher sein, dafs
— 13 —
sie unter diesen Unglücklichen nur sehr wenige
finden würden, die geistig gesund sind. Es ist
dabei zu bemerken, dafs in die Elostergefängnisse
früher und zum Teil auch jetzt noch vorzugsweise
Leute verbannt werden, deren geistiges Vermögen
mehr oder minder gestört und zerrüttet ist. So
z. B. hielt man es für notwendig , den Dekabristen
F. P. Schachowsky, der, 1839 nach Krassnojarsk
verbannt, geisteskrank geworden war, nach dem
Kloster in Susdal zu transportieren, wo er auch in
demselben Jahre starb. Viele solche Beispiele
könnte man aus der Geschichte des Solowezky-
Gefängnisses anführen. Es unterliegt selbstver-
ständlich keinem Zweifel, dafs die Verhältnisse
des Klostergefänguisses für Kranke dieser Art
keineswegs günstig sind.
Wegen religiöser Verbrechen werden nach den
Klöstern nicht nur Männer, sondern auch Frauen ver-
bannt. In den zwei Frauenklöstem der Stadt Susdal :
Risopoloschensk und Pokrowsk, befinden sich immer
Frauen, die wegen Vergehen gegen die Kirche,
öfters aber wegen Verbreitung von Lehren, die der
Orthodoxie widersprechen, hierher verbannt wurden.
Auch jetzt befinden sich dort einige verbannte
Frauen, unter anderen Nastasja Kusnainischna
Schuwina, als Nonne „Marie" genannt, die Be-
gründerin des bekannten Bakowschen Klosters im
Gouvernement Samara. In ihrer Heimat, im
Gouvernement Samara, genofs sie Popularität und
Vertrauen der Bevölkerung, weshalb es ihr auch
gelang, ein Kloster zu errichten. Die lokale Geist-
lichkeit aber beschuldigte sie der Zugehörigkeit
— 14 —
zu der Sekte „Chlystowtschina" ; es erfolgten
Anzeigen, Prozesse, bis sie schliefslich nach Susdal
gebracht und ins Pokrowsk-Kloster gesteckt wurde.
Die in die Klöster verbannten Frauen leben
in besonderen Zellen unter strenger Bewachung der
Nonnen und dürfen das Tof des Klosters nicht
überschreiten.
IV.
In der vorpetrinischen Zeit hatten aufser dem
Zaren der Patriarch, die Metropoliten und sogar
die Erzbischöfe das Recht, nach den Klöstern zu
verbannen. Im 18. Jahrhundert sind viele Sträf-
linge auf die Verordnung fler geheimen Unter-
suchungskanzlei und dann auf Grund der Resolu-
tionen der Heiligen Synode verbannt worden.
Seit 1835 konnte man nur auf Allerhöchsten Be-
fehl nach den Klöstern verbannend Diese Ver-
fügung war scheinbar das Resultat der Revidierung
des Solowezky- Zuchthauses, die im selben Jahre
auf Allerhöchsten Befehl wegen der darin statt-
gefundenen Unruhen erfolgte^.
Die Untersuchung ergab unter anderem, dafs
von den 50 Sträflingen, die in diesem Zuchthause
safsen**, 41 auf Allerhöchsten Befehl verbannt worden
1 Russkaja Starina, 1887, Nr. 11 p. 340. Kiltschin.
^ Diese Unruhen äufserten sich unter anderem darin,
dafs der Porutschik Goroschansky, der geheim gehalten
wurde und offensichtlich geisteskrank war, den Soldaten
Skworzow auf der Wache mit einem Messer getötet hatte.
* Unter diesen 50 Sträflingen waren : Pfarrer, Offiziere,
Studenten, Bauern, Leibeigene, Soldaten, Vagabunden, ein
— 15 —
waren, 9 auf Verordnung verschiedener Begierungs-
behörden: der Heiligen Synode, des Ministerkomitees,
des Senats, des Generalstabs und ein Arrestant
schliefslich, „Lew Pawlow", wurde wegen des „alten
Glaubens" auf Grund eines Geheimschreibens der
Gouvernementsverwaltung Archangelsk hierher ge-
bracht.
Wie es kam, dafs die mehr als bescheidene
Gouvernementsverwaltung in Archangelsk unter die
höheren Staatsbehörden geraten ist, die, wenn
nicht de jure, so doch de facto über das Becht,
Menschen nach den Klöstern zu verbannen, ver-
fügen, ist unerfindlich. Ebenso ist es unerfindlich,
wer der Lew Pawlow war, den die Gouvemements-
verwaltung in Archangelsk „wegen des alten Glau-
bens" nach Solowki verbannen zu müssen glaubte.
Gegenwärtig werden Gesuche um Verbannung
und Einsperrung in die Klostergefängnisse aus-
schliefslich von den lokalen geistlichen Behörden
eingereicht, von den Pfarrern und Missionären, die
dann durch die eparchiale Verwaltung nach der
Heiligen Synode weiter befördert werden. Wenn
die letztere das Gesuch der eparchialen Verwaltung
als begründet erklärt, so stattet der Oberproku-
rator der Synode diesbezüglich den allerunter-
tänigsten Bericht ab.
Was die Verpflegungsverhältnisse in den Kloster-
gefängnissen und die Besultate betrifft, die in un-
serer Zeit durch diese Verbannungen behufs Besse-
Lehrer einer Kirchenschule, ein Kosakenoffizier, ein Be-
amter 8. Klasse, zwei Mönche, ein Küster und ein Kleinbürger.
— 16 -
rung der Gesinnung erreicht werden, davon werden
wir eingehend in den folgenden Kapiteln berichten.
V.
Durch die Klosterverbannung und Einkerke-
rung derjenigen, die sich irgendwie gegen Kirche
und Religion vergangen hatten, wurden in der
Regel folgende drei Ziele verfolgt. Vor allem
sollte freilich der Schuldige oder der Verdächtige
durch die Entziehung der Freiheit, durch die
Strenge der Verbannung und Kerkerhaft bestraft
werden; dann sollte dadurch der Verbreitung der
Irrlehren vorgebeugt werden, um von vornherein
die Ideen und Ansichten, die vom Standpunkte der
Kirche aus als falsch, schädlich und ketzerisch galten,
zu unterdrücken; endlich beabsichtigte man da-
durch, den „Verbrecher" zu bessern und zur Reue
zu bewegen, um ihn womöglich wieder in den
Schofs der orthodoxen Kirche zurückzuführen.
In den Zuschriften und Instruktionen, die bei der
Einlieferung der Verbannten und Sträflinge folgten,
wurde immer, mehr oder minder bestimmt, auf
diese drei Hauptziele der Verbannung hingewiesen.
Zugleich enthielten diese Zuschriften und Instruk-
tionen ausführliche Anweisungen bezüglich der
Art der Verbannung und Einkerkerung, der Be-
handlungsweise des Arrestanten im Gefängnisse, be-
züglich der Beaufsichtigung seines Verkehrs und
seiner Korrespondenz usw. Daher ist es in viel-
facher Beziehung interessant und lehrreich, diese
Art Instruktionen und Anweisungen, die aus ver-
— 17 —
schiedenen Epochen unserer Vergangenheit stam-
men, kennenzulernen.
Wir verweilen bei den typischsten dieser In-
struktionen, die aus einer entlegenen Zeit stammen,
nämlich aus der in der Geschichte der russischen
Kirche bedeutsamsten Epoche des 16. Jahrhunderts,
als die Verquickung der Kirche mit dem Staate
stattgefunden hätte ^. Eine der ersten Zuschriften
dieser Art stammt, soweit unsere Kenntnisse reichen,
aus der düsteren Epoche Iwan des Schrecklichen,
nämlich aus dem Jahre 1554, und* betrifft die Ver-
bannung des Abtes Artemius, den die Versammlung
der Geistlichen der Gemeinschaft mit Baschkin,
dem bekannten „Ketzer" und Rationalisten des
16. Jahrhunderts, schuldig gesprochen hatte.
In dieser Zuschrift, die im Namen des Metro-
politen Makarius verfafst ist, werden ausführlich
die Beschuldigungsgründe der geistlichen Versamm-
lung gegen Artemius dargetan und wird in folgen-
den Worten Anweisung gegeben, wie er im Kloster
zu behandeln sei: „Artemius soll im Kloster Auf-
enthalt nehmen, streng bewacht und in einer
stummen Zelle gehalten werden, damit sein
seelengefährlicher und gotteslästerlicher Geist nie-
manden anstecke, damit er mit niemandem Ge-
spräche führe, weder mit den Mönchen der Kirche
noch mit den anderen, die sich im Kloster befinden."
Ferner wird streng vorgeschrieben, dem Verbannten
nicht zu erlauben, Briefe und Nachrichten zu senden.
^ Näheres bei Miljukow: Skizzen aus der russischen
Kulturgeschichte, II. Teil, p. 25—33.
Fragawin, Die Inquis. d. russ.-orthod. Kirche. 2
— 18 —
ebensowie solche und andere Gegenstände von
jemandem zu empfangen ; kurz , es wird ihm jeg-
licher Verkehr mit Freunden und anderen Menschen
verboten, damit er „in stummer Haft und Ver-
bannung die Ketzerei bereue, der er anheimgefallen
ist" K
In dieser Zuschrift wird also die Einkerkerung
des Artemius im Klostergefängnis nicht erwähnt,
obwohl es vorgeschrieben wird, ihn mit möglichster
Strenge und „Härte" zu beherbergen. Daraus ist
zu schliefsen, dafs es damals, nämlich in der Mitte
des 16. Jahrhunderts, in Solowki noch keine Ge-
fängnisse gab. „Die stumme Zelle", von der in
der Zuschrift die Rede ist, und in die Artemius
untergebracht werden sollte, darf nicht als eine Ge-
fängniskasematte aufgefafst werden, um so weniger,
als es an einer anderen Stelle der Zuschrift heifst,
er müsse „innerhalb des Klosters gehalten werden".
Diese Meinung wird auch durch den Umstand
bestätigt, dafs in den Zuschriften der späteren Zeit
— die den Verbannten folgten — sich ganz be-
stimmte und genaue Anweisungen bezüglich der
Einkerkerung der Sträflinge in ein Gefängnis finden.
So z. B. heifst es in der Zuschrift gelegentlich der
Verbannung des ehemaligen Bischofs Ignaz aus Tam-
bon nach Solowki im Jahre 1701:
„Ignaz ist in das Golowlenkow-Gefängnis unter-
zubringen und hat dort bis zu seinem Lebensende
zu verbleiben. Es darf ihm nur Sträflingskost
verabreicht werden. Tinte und Papier sollen ihm.
Busskaja Starina 1887, Buch XI, Koltschin.
— 19 —
Iwaschka*, nicht gestattet werden. Er darf keine
Briefe fortschicken und keine empfangen. Falls er,
Iwaschka, irgendwelche Briefe von jemandem er-
halten oder selbst Briefe an jemanden geschrieben
hat, so sind diese nach Moskau, nach der Preobra-
schensky-Kanzlei zu beförden." ^
Heute ist es schwer, sich nur eine Vorstellung
von den Schrecknissen zu machen, welche die
Klostergefangenen in früheren Zeiten über sich
ergehen lassen mufsten. Keiner von ihnen hat uns
eine Beschreibung seiner Leiden und seines Märtyrer-
tums zurückgelassen. Warum nicht — ist leicht zu
begreifen. In den Zuschriften und Erlassen, die
der Verbannung folgten, hiefs es immer wieder,
„Papier, Tinte und Bleistift sind den Gefangenen
zu verbieten, damit sie, die Gefangenen, unter
keinen Umständen korrespondieren können".
Man mufs dabei in Betracht ziehen, dafs die
Sträflinge meistens nach überstandener Folterung
direkt aus der Folterkammer in die Klosterkase-
matten gesteckt wurden. Zu Tode gequält durch
allerhand Folterqualen, „schonungslos" mit Peit-
schen geschlagen, wurden sie mit verstümmelten
Nasen und abgeschnittenen Zungen nach Solowki
oder in andere „entlegene Klöster" gebracht und
in feuchte, finstere, kalte Erdgeschosse, sogenannte
Gefängniszellen, geworfen. Hier waren sie zu
ewiger Einsamkeit, zu ewigem Schweigen, Not
und Kummer verdammt. Es schien, als hätte man
^ Yerächtliche Bezeichnung des Namens Ignaz.
a Ebenda p. 356.
2*
- 20 —
sie nach der Verbannung völlig vergessen, aus der
Liste der Lebenden gestrichen. Und wirklich, oft
war es nur der Tod, der die unglücklichen Ge-
fangenen von weiteren Qualen erlöste, nur das
Grab, das die gequälten Leiber zur Ruhe aufnahm.
VI.
Als die härteste Strafe galt die Einkerkerung
in die „Erdgefängnisse" oder richtiger in die unter-
irdischen Gefängnisse. Es gab solche Gefängnisse
in Solowki und in anderen Klöstern. In Solowki
waren die unterirdischen Gefängnisse unter einem
Klosterturm eingerichtet, der sich in der nordwest-
lichen Ecke der Festung befand. Den älteren Be-
schreibungen zufolge waren die Erdgefängnisse in
Gruben, drei Meter tief unter der Erde ; am Rande
waren sie mit Ziegelsteinen eingefafst; ihr Dach
bestand aus Brettern, die mit Erde bedeckt waren.
Im Dache befand sich eine kleine Öffnung, die
eine Tür schlofs. Durch diese Öffnung wurde der
Sträfling hinuntergelassen resp. hinaufgezogen, und
durch diese Öfliiung wurde ihm auch Nahrung
gereicht. Für die Notdurft liefs man besondere
Gefäfse hinunter, die einmal im Tage hinauf-
gezogen und gereinigt wurden. Ob in diesen Erd-
geschossen Öfen waren, ist unbekannt.
In diese dunklen, feuchten Keller, tief unter
der Erde, liefs man oft Menschen hinuntersteigen,
die an Händen und Ftifsen gefesselt waren. In
diesen Gefängnissen gab es in der Regel eine Menge
Ratten, die häufig den schutzlosen Sträfling über-
— 21 —
fielen ; es kamen Fälle vor , wo Ratten Nase und
Ohren der „Verbrecher", die in dem Erdgefängnisse
safsen, weggefressen hatten. Es wurde verboten,
ihnen etwas zur Wehr gegen die kleinen Übeltäter
zu geben. Diejenigen, die diese Verordnung ver-
letzten, wurden äufserst grausam bestraft. So z. B.
wurde ein Wächter, der „dem Diebe und Rebellen
Iwaschka Saltykow" einen Stock zur Wehr gegen
die Ratten gegeben hatte, „wegen dieser Nachsicht
schonungslos mit Ruten gezüchtigt".
Nur selten und bei weitem nicht allen Ge-
fangenen in den Erdgefängnissen gelang es, das
Licht der Welt nochmals zu erblicken und die
Kirche zu besuchen. So wurde in einem Erlasse,
der aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammte,
vorgeschrieben , den Sträfling des Erdgefängnisses
Mischka Amirew während des Kirchengesanges
aus dem Gefängnisse hinaufkommen und nach
dem Gottesdienste wieder in das Gefängnis hin-
untersteigen zu lassen.
Es ist übrigens zu bemerken, das die Ein-
kerkerung in die Erdgefängnisse in manchen
Klöstern auch bedeutend später stattfand, nämlich
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. So
z. B. wurde nach den Angaben W. J. Semjewskis im
Jahre 1768 die bekannte Saltytschicha in das Erd-
gefängnis, das sich im Iwanow -Frauenkloster in
Moskau befand, gesteckt. Sie verbrachte dort 11 Jahre.
Um wenigstens eine annähernde Vorstellung
über die Verhältnisse der Klosterverbannung in den
früheren Zeiten zu gewinnen, mufs man die so-
genannten Geheimprozesse der Preobraschensky-
— 22 —
Kanzlei und ähnlicher Einrichtungen der damaligen
Zeit, die Untersuchungsberichte , die Verbannungs-
verordnungen , die Instruktionen bezüglich der Be-
handlungs weise der Gefangenen in den Klöstern
usw. studieren. Die Erlasse bezüglich der Ver-
bannung und Einkerkerung einer Person wurden
in der Regel an den Gouverneur des Ortes und
zugleich an den Archimandriten des Klosters „mit
seinen Amtsbrüdern " verschickt. Oben haben wir
erwähnt, dafs im Erlasse des Metropoliten Makarius
bezüglich der Verbannung des Abtes Artemius nach
Solowki alle Gründe der geistlichen Versammlung,
infolge deren er zur Einkerkerung in das Kloster
verurteilt war, dargelegt wurden. Wenn man aber
zu jener Zeit, in der Mitte des 16. Jahrhunderts,
es noch als notwendig erachtete, in den Erlassen
ausführlich die Gründe der Verbannung anzugeben,
so wurde zuletzt diese Sitte aufgegeben , so
dafs in den Erlassen des 17. und 18. Jahrhunderts
sich nur selten eingehende Angaben darüber
finden, worin eigentlich die Verbrechen derjenigen
bestanden , die einer so grausamen Strafe anheim-
gefallen waren. Am häufigsten hiefs es in dieser
Art Erlassen: „wegen seiner Verfehlung" oder
„infolge seiner vielen Vergehen" soll der Gefangene,
anstatt mit dem Tode bestraft, „schonungslos mit
Ruten gezüchtigt werden", soll ihm die „Zunge aus-
geschnitten werden" oder er soll nach dem
Solowezky-Kloster zur ewigen Einkerkerung in
das Kotroschenski - Gefängnis verbannt werden.
Nach dem Vollzug der Strafe ist er unter Be-
wachung des Unteroffiziers und so und so vieler
Soldaten nach dem Solowezky-Kloster zu bringen.
— 23 —
Wenn in den Erlassen manchmal erklärt
wurde, worin die Schuld oder das Verbrechen be-
stand , das die Verbannung zur Folge hatte , so
wurde diese Erklärung nur in allgemeinen Rede-
wendungen angegeben.
So z. B. heifst es in dem Erlasse vom
15. Januar 1722 bezüglich der Verbannung des
Fürsten Jephim Mestscherski nach Solowki, unter-
zeichnet vom Vorsitzenden der Kanzlei geheimer
Prozesse, Peter Andrejewitsch Tolstoi, folgender-
mafsen: „wegen der Gottlosigkeit, die er sich zu-
schulden kommen liefs, soll er nach dem Solowezky-
Kloster gebracht werden und dort bis zu seinem
Lebensende verbleiben." Worin aber diese „Gott-
losigkeit" des verbannten Fürsten bestand, darüber
ist kein Wort gesagt.
VII.
Dafür wird in allen diesen Erlassen und
Instruktionen ausführlich darüber berichtet, wie
die Gefangenen im Kloster zu behandeln sind. In
den Erlassen, die an den Archimandriten gerichtet
waren, hiefs es in der Regel: „und wenn dieser
Gefangene in dem Solowezky-Kloster eintrifft, und
Du, unser Gottesdiener, Archimandrit (so und so),
mit Deinen Brüdern ihn, den Gefangenen, empfängst
und für alle Zeiten in das Kotroschenski-Gefängnis
gesteckt und befohlen hast, ihn dort ohne
Ausgang zu halten, damit er, der Gefangene,
aus dem Gefängnisse nicht entfliehe , so ist ihm
weder Papier noch Tinte zu geben; und wenn er.
— 24 —
der Gefangene, während er im Gefängnis sitzt,
zu schreien beginnt und von unserem kaiserlichen
Wort und Tat (Folter) erzählt, so ist auf diese,
von ihm so gesprochenen Worte nicht zu hören."
Oder z. B. in folgender Weise: „Er, der Ge-
fangene, ist in strenger Haft unter der Aufsicht des
Archimandriten des Klosters zu halten, während
der Unteroffizier und die Soldaten der Wache
unablässig darauf zu achten haben, dafs er Feder,
Tinte und Papier nicht bei sich habe, und dafs
er mit niemandem spreche und nichts Ungeziem-
liches predige ; deshalb soll nicht nur kein Fremder
zu ihm hineingelassen werden, sondern auch niemand
von der Klostergemeinde und den Dienern darf seine
Zelle aufsuchen; weder während der Messe und
des Kirchengesanges, noch zu einer anderen Zeit
ist ihm erlaubt, zu sprechen."
Besonders wurde darauf geachtet, dafs die
Gefangenen mit „niemandem über den Glauben
Gespräche führen und somit die eingebildeten Vor-
züge ihres Glaubens und die Frechheiten, die der
Frömmigkeit widersprechen, nicht weiterverbreiten
können, sondern in Demut und Reue sollen sie,
die Gefangenen, verharren und sich mit tränen-
begossenem Brot nähren."
Aus allen diesen Anweisungen ist unter anderem
zu ersehen, welche schwere Pflichten die Archiman-
driten und die Klostergemeinden zu jener Zeit auf
sich nehmen mufsten, um diejenigen zu beaufsich-
tigen, die eines Verbrechens gegen die Religion und
Kirche beschuldigt oder verdächtigt wurden und da-
her unter die Gefangenen und Sträflinge geraten
— 25 —
waren. Es ist jedoch zu bemerken, dafs diese Pflichten,
die sich so wenig mit der Würde des Mönches,
besonders des Ärchimandriten , vertragen, leider
noch jetzt den Äbten und den Vorstehern der
Klöster auferlegt sind.
Was die Verpflegung der Klostersträfliuge be-
trifft, so wurden sie auch in dieser Hinsicht nicht
verwöhnt. Nur in seltenen Fällen war es erlaubt,
einem Gefangenen Nahrung von der Tafel der
Brüdergemeinschaft zu gewähren; am häufigsten
jedoch wurde vorgeschrieben: „Als Nahrung hat
der Korporal nur Brot und Wasser durch das Fenster
zu reichen." Ferner war es streng verboten, dafs
die Gefangenen Geld oder irgendwelche Gegen-
stände bei sich tragen.
Manche Gefangene wurden nicht nur hinter
Schlofs und Riegel gehalten, sondern die Türen
ihrer Gefängniszellen wurden mit besonderen
Siegeln versehen, welche die Offiziere und die
Soldaten besonders zu beaufsichtigen hatten. Wir
lassen auszugsweise eine diesbezügliche Ver-
ordnung an einen Offizier folgen: „Wenn er, der
Gefangene , ins Gefängnis gesteckt wird , so ist da-
vor eine Wache von zwei Soldaten mit geladenem
Gewehr aufzustellen; ein Soldat von der Garde
und ein zweiter von der Garnison. Die Tür mufs
unter Schlofs und Riegel sein und mit Deinem
Siegel versehen werden; die Zelle darf nur ein
kleines Fenster besitzen, durch das Nahrung ver-
abreicht wird; Du selbst darfst die Zelle nicht
betreten. Zur Kirche darf der Gefangene nicht
zugelassen werden. Wenn der Gefangene krank
— 26 —
wird und dem Tode nahe ist, so ist ihm nach
der Beichte das heilige Sakrament in dem Gefäng-
nisse, in dem er gehalten wird, zu spenden. Zu diesem
Zwecke soll die Tür geöffnet und der Siegel ge-
brochen werden; darauf aber ist die Tür wieder
zu schliefsen und mit Deinem Siegel zu versehen
und streng zu bewachen, wie es in den früheren
Erlassen bekannt gegeben ist." ^
Fürwahr, das waren wirklich lebendig
Begrabene.
Alle Anweisungen dieser Art schliefsen mit
der Drohung, diejenigen, die sich die geringste
Verletzung der Instruktion und die Vernach-
lässigung der Bewachungsregeln zuschulden kom-
men lassen, mit aller Strenge der Militärartikel
„zu verurteilen und zu bestrafen" . . . Diese
Drohungen konnten natürlich nicht ohne Wirkung
bleiben.
Wie streng alle diese Erlasse und Instruktionen
befolgt wurden , ist unter anderem aus dem folgen-
den Falle zu ersehen. Ein Gefangener des Solo-
wezky-Klosters — Fürst Wassilij Lukitsch Dolgo-
rukow — wurde ernstlich krank ; er bedurfte eines
Beichtvaters. Da aber in dem Erlasse, mit dem
er eingetroffen war, vorgeschrieben wurde, „nie-
manden von den Fremden zu ihm in die Zelle zu
lassen", so konnten weder der Archimandrit noch
der wachhabende Offizier sich entschliefsen , den
Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Sie wandten
sich betreffs dieser Angelegenheit an die Gouver-
Archangelsker Gouvernementsnachricliteii, 1875, Nr. 25.
— 27 —
nementskanzlei in Archangelsk. Die Gouvernements-
kanzlei wagte auch nicht, der Bitte des kranken
Gefangenen Folge zu leisten und wandte sich
ihrerseits an den Senat, der im Erlasse vom
29. März 1731 an den Gouverneur entschieden
hatte, der Beichtvater habe nur im äufsersten Falle
die Zelle des Fürsten Dolgorukow zu betreten ^
Manche Gefangene safsen das ganze Leben in
Ketten gefesselt. Erst nach dem Tode wurden sie
die Ketten los. Eine fürchterliche, blutige Zeit!
Wie ein finsteres Gespenst sieht sie auf uns aus
der Ferne herab.
VIII.
Da wir die Verhältnisse der Verbannung und Ein-
kerkerung in unseren Klöstern bis jetzt hauptsäch-
lich auf Grund der Angaben geschildert haben, die
sich auf das Solowezky-Kloster und Spas-Euphimius-
Kloster in Susdal beziehen, so könnte der Gedanke
entstehen, dafs nur diese zwei Klöster bei uns als
Ort der Verbannung und Einkerkerung galten.
Diese Vermutung aber entspricht nicht völlig der
V?^ahrheit, da die Klosterverbannung in früheren
Zeiten in Rufsland in weitestem Mafse und zwar
der verschiedensten Verbrechen wegen stattge-
funden hat.
Im 16. bis 18. Jahrhundert spielten sehr viele
unserer Klöster die Rolle von Staatsgefängnissen,
in welche die wichtigsten Verbrecher gegen Religion
^ Archangelsker Gouvemementsnachrichten, 1875, Nr. 25.
— 28 —
und Kirche sowohl als auch gegen Staat, Regierung,
öffentliche Sittlichkeit usw. geworfen wurden.
Dabei war die Klosterverbannung bekanntlich mit
der gewaltsamen Einweihung zum Mönch ver-
bunden. Diese Mafsregel wurde häufig Leuten
gegenüber angewandt, die aus politischen oder
besser dynastischen Gründen der Verbannung an-
heimgefallen waren.
Die Sitte der gewaltsamen Einweihung wie
viele andere „böse" Sitten kamen zu uns aus
Byzanz. Dort wurden oft Leute gegen ihren Willen
zu Mönchen gemacht, die, weltlich lebend, der Kirche
oder ihren Vertretern schaden konnten. Die Kaiser
verschickten die ihnen gefährlichen Verwandten und
Höflinge in die Klöster, die Männer ihre Frauen,
wenn sie sie nicht mehr liebten oder aus einem
anderen Grunde nicht mehr bei sich haben wollten.
„Die gewaltsam dem Mönchstande Geweihten, die
also vor Gottes Antlitz auf alle weltlichen An-
sprüche verzichten, die Welt verlassen und ihre
Rechte aufgeben mufsten, räumten auf diese Weise
ihren Verfolgern für immer und unabänderlich den
Platz." ^ In Rufsland machten von dieser Sitte
gern Gebrauch: die Grofsfürsten Iwan III.,
Wassilij Iwanowitsch, Iwan der Schreckliche,
Boris Godunow und manche der nachfolgenden
Kaiser.
Wir lassen hier einige von den Klöstern folgen,
die — abgesehen von dem Solowezky-Kloster und
^ Die rechtgläubige Grofsfürstin Solomonia (Saburow)
als Nonne „Sophie^ genannt.
— 29 —
dem Susdalschen — zum Verbannungsort bestimmt
waren. Diese Klöster sind : Nikolajewski Korelski,
Gouvernement Archangelsk; Sijsk, an der Dwina;
Spas - Priluzk , in der Nähe von Wologda; Now-
gorod-Sjewerski, Kirillo-Bjelooserski, Walaam, Spas-
Preobraschenski in Staraja Russa; Jurjewski, in
der Nähe von Nowgorod; Pskowski, Swijaschski,
Gouvernement Kasan; Dalmatow - Uspenski , Gou-
vernement Perm ; Troizki Selenginski , in der Nähe
von Baikal ; Wosnesenskij, Uspenskij, Nertschinskij
usw. Das sind alles Männerklöster. Die Frauen
wurden hauptsächlich in folgende Frauen-
klöster verbannt: Pokrowski und Risopoloschenski
in der Stadt Susdal, Gouvernement Wladimir;
Dalmatowski Wwedenski , Gouvernement Perm ;
Kaschinski, Gouvernement Twer ; Jenissejski, Bosch -
destwenski, Irkutski, Snamenski u. a.
Die Verbannungs- und Einkerkerungsver-
hältnisse waren in allen diesen Klöstern dieselben,
wie im Solowezky- und Susdalkloster. So z. B.
wurde bezüglich der obenangeführten sibirischen
Klöster in den Blättern berichtet, dafs sich darin
„grofse Gefängnisse befanden", in die Baskolniki
und andere wichtige Verbrecher geworfen wurden.
Dabei wurden viele nicht nur ohne nähere An-
gabe ihrer Schuld in die Verbannung geschickt,
sondern nicht einmal ihre Namen wurden genannt.
Auf diese Weise figurierten sie als anonyme
Verbrecher.
„Die Verbannten standen unter der Verant-
wortung der Klosterbehörden. Die Klostervor-
steher hatten sich diesbezüglich mit den Wojewod-
— 30 —
Schäften ins Einvernehmen zu setzen/ Die Sträf-
linge dieser Klöster wurden in einzelnen Kasematten
gehalten oder in „Zellen" und zwar gefesselt.
Besonders waren die Gefängnisse des Troizki-
Selenginski-Klosters überfüllt.
Die gleichen Verbannungsverhältnisse hatten
bei den Sträflingen selbstverständlich die gleichen
Folgen, nämlich den frühzeitigen Tod und einen
grofsen Prozentsatz psychischer und geistiger Er-
krankungen. „Viele Menschen, die ohne Angabe
ihrer Namen verbannt wurden , sind dort (d. h. im
Troizki - Selenginski - Kloster) zugrunde gegangen, "
sagt der Verfasser des Artikels: ,Die Verbannung
bedeutender Männer nach Ostsibirien.' „Aus den
Meldungen der Klostervorsteher ist zu ersehen,
dafs sie ab und zu die Obrigkeit des Selenginski-
Klosters von dem Tode der namenlosen Gefangenen
in Kenntnis setzten. In einer der zwei Zuschriften,
die ich zu Gesicht bekommen habe, bringt eine
Klosterbehörde zur Kenntnis, dafs zwei unbekannte
Verbrecher infolge der langen Kerkerhaft den Ver-
stand verloren haben und bald darauf gestorben
sind. Die andere Zuschrift berichtet: Nach der
Aufhebung der Geheimkanzlei wurde der Ver-
waltung des Selenginski - Klosters befohlen, alle
Gefangenen zu befreien, wobei es sich herausstellte,
dafs alle Gefangenen, die darin waren, ge-
storben waren und nur einer am Leben geblieben
war, der einstmalige Padporutschik des sibirischen
Infanterieregiments, Rodion Kowalew, der in Einzel-
haft des Klostergefängnisses mehr als 25 Jahre in
Fesseln zugebracht hatte. Als dieser unglückliche
— 31 -
Märtyrer aus der Zelle (!) entlassen wurde, war er
schon ganz wahnsinnig und konnte fast kein Wort
mehr sprechen. Dem Berichte des Klostervorstehers
über den Zustand Kowalews zufolge wurde be-
fohlen, den Gepeinigten seinen Verwandten zu über-
geben, falls solche vorhanden sind." ^ In demselben
Artikel finden wir manche Angaben über die Ge-
fängnisse in den Frauenklöstem. Es stellte sich
heraus, dafs in dem Roschdestwenski - Kloster zu
Jenisseisk „eine besondere Gefängisabteilung mit
eisernem Gitter für den Aufenthalt der Verbreche-
rinnen weiblichen Geschlechts eingerichtet war".
In früherer Zeit wurden in dieses Kloster viele
Frauen verbannt, oft ohne Angabe der Namen.
„Auch solche Verbrecherinnen befanden sich dort,
die, zur ewigen Kerkerhaft verurteilt, in besonderen
Zellen (d. h. Kasematten) gehalten wurden und
nicht einmal in die Kirche gehen durften. Die
Verbannungsstrafe von Personen weiblichen Ge-
schlechts hatte verschiedene Stufen : manche wurden
für eine bestimmte Frist verbannt und konnten
dann wieder zurückkehren, die anderen hingegen,
die wichtigeren Verbrecherinnen, kamen in den
Klostergefängnissen für immer um." *
Es ist zu bemerken, dafs viele der oben auf-
gezählten Klöster nicht nur in den früheren Zeiten,
sondern auch in einer viel späteren Epoche, näm-
lich im Laufe des eben verflossenen 19. Jahr-
hunderts, zum Verbannungsort bestimmt wurden.
^ Yerbannung bedeutender Männer nach Ostsibirien.
Russkoje Slowo. 1861, August, p. 24 — 25.
2 Ebenda.
— 32 —
IX.
Bei dem Übergang zum 19. Jahrhundert durften
wir freilich hoffen, dafs, wenn dieses Zeitalter der
Humanität und Freiheitsbestrebungen die Kloster-
verbannung, diese mittelalterliche Bestrafungsform
nicht völlig unmöglich mache, so würde es doch
wenigstens die Verhältnisse in den Klostergefäng-
nissen und die Lage der Sträflinge darin günstig
beeinflussen.
Leider aber rechtfertigte die Wirklichkeit diese
Hofltaung nicht. Die Klostergefängnisse sind uns
erhalten geblieben und nicht nur erhalten ge-
blieben, sondern aus dem verflossenen Jahrhundert
in das neue 20. mit gleichen Befugnissen über-
gegangen. . . .
Sind sie nun besser geworden? Hat sich die
Lage derjenigen verbessert, die zur Einkerkerung
in diese Gefängnisse verurteilt sind? Zweifellos,
im Verhältnis zum 17. und zur ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts haben sich die Verhältnisse be-
deutend gebessert. Schon gegen Anfang des
19. Jahrhunderts waren die monströsen unter-
irdischen Gefängnisse, die „steinernen Säcke", in
den Klostermauern und Türmen, in denen die Ras-
kolniki, Sektierer und andere „Ketzer" eingemauert
wurden, längst vergessen; vergessen waren die
Peitschen und Knuten, „das schonungslose Prügeln"
der Sträflinge, die in den Klostergefängnissen ihre
Strafen abzubüfsen hatten. Dennoch kann auch
jetzt in unseren Tagen die Lage der Kloster-
gefangenen nicht anders als eine äufserst schwierige
~ 33 —
und entsetzliche — im vollen Sinne des Wortes —
bezeichnet werden.
Bevor wir jedoch über die gegenwärtige Lage
der Klostergefängnisse sprechen, müssen wir uns,
wenn auch in allgemeinen Zügen, mit den Ver-
hältnissen der Klüsterverbannung vertraut machen,
wie sie sowohl in der ersten als auch noch in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden
haben. Das wird uns die Möglichkeit geben, dar-
über zu urteilen, wie langsam und mit welchen
Schwierigkeiten Veränderungen zur Besserung der
traurigen Lage der Klostergefangenen auf diesem
Gebiete vor sich gehen.
In bezug auf die Behandlung der Gefangenen
im Gefängnis des Solowezky - Klosters teilt Herr
Koltschin mit, dafs seit dem Anfang des 19. Jahr-
hunderts „die Lebensweise der Gefangenen sich
etwas gebessert hat. Sie wurden nicht mehr in
feuchten und schwülen Kasematten untergebracht,
sondern in neuen Arrestantenkammern gehalten,
die mehr Licht haben und trocken sind. Gefangene,
die nicht besonders isoliert gehalten werden müssen,
werden nur des Nachts eingesperrt, am Tage aber
dürfen sie in den Korridoren frei miteinander ver-
kehren und einander besuchen."
Es ist jedoch zu beachten, dafs die Lage der
Klostergefangenen gewissermafsen von dem persön-
lichen Willen und den persönlichen Eigenschaften
des Vorstehers abhängt. „Vieles in bezug auf die
strenge resp. milde Behandlungsweise der Arre-
stanten" — schrieb Herr Koltschin — »hing von dem
Vorsteher des Klosters ab, der in Solowki der Gott
Prugawin, Die Xnquis. d. niss.-orthod. Kirche. 3
— 34 —
und der Zar selbst war. Unter guten und humanen
Vorstehern lebten die Arrestanten erträglich: sie
wurden an Feiertagen in die Kirche geführt; sie
durften sich selbst Wasser aus der Grube, die etwa
eine halbe Werst vom Kloster entfernt war, und
der Reihe nach Nahrung aus der Klosterküche
holen; jede Woche konnten sie baden; Spazier-
gänge wurden ihnen erlaubt.
Aber das alles wurde nur im Winter gestattet,
wenn das Kloster niemand aufsuchte; im Sommer
jedoch durften die Gefangenen das Kloster nicht
verlassen. Die Kirche, das Wasserholen, alles wurde
ihnen verboten; nur zum Baden wurden sie am
frühen Morgen geführt, wenn alles noch schlief."
So lebten die Klostergefangenen in der ersten
Hälfte des 19, Jahrhunderts unter „guten und
humanen" Vorstehern. Sobald jedoch das Amt des
Vorstehers ein Mann anderen Schlages und anderer
Anschauungen antrat, veränderte sich die Lage der
Gefangenen schroff und rasch.
So z. B. „war die Lage der Gefangenen im
Solowezky - Kloster unter grausamen und strengen
Vorstehern unerträglich: man liefs sie in schwülen
Zellen schmachten, ohne sie auch nur zur Verrich-
tung der Notdurft herauszulassen, sie wurden schlecht
genährt, die Beschwerden über die schlechte Be-
handlungsweise seitens der Bewachung, die sich
vor der Obrigkeit auszeichnen wollte, blieben un-
berücksichtigt, Spaziergänge wurden verboten" ^
Ein Gefangener des Solowezky-Klosters, Pfarrer
Russkaja Starina, 1887, Nr. 10.
— 35 —
Lasarowski, schildert die Verhältnisse der Kloster-
verbannung unter dem Archimandriten Dossifei
Njemtschinow im Anfange der 30 er Jahre folgender-
mafsen : „Das Solowezky-Gefängnis unter dem Archi-
mandriten Dossifei war wirklich unerträglich. In
jeder Zelle, die drei Meter in der Länge, etwas
über zwei Meter in der Breite hatte und fast
immer geschlossen war, befanden sich je zwei Arre-
stanten. Zwischen den zwei Betten war nur so viel
Baum, dafs kaum noch einer durchgehen konnte.
Die Fenster hatten keine Luftlöcher, so dafs die
auch sonst schwüle Luft zum Ersticken wurde.
Nur Gottes Erbarmen rettete die Dulder. Die Ge-
fangenen durften nicht einmal den geeigneten Ort
zur Verrichtung der Notdurft aufsuchen. Nur ein-
mal im Tage wurden die Gefäfse aus den Zellen
entfernt und gereinigt. Die Nahrung war ärmlich ;
die Gefangenen waren schon entzückt, wenn man
ihnen ab und zu weiches Brot brachte. In langen
Winternächten gestattete man den Gefangenen nicht,
bei Licht das Abendbrot einzunehmen. Daher
konnten sie nur tastend die Nahrung zu sich nehmen.
Alle Leiden unter jenen Verhältnissen sind jedoch
nicht aufzuzählen." ^
Man braucht nur einen Augenblick diese kurze
und einfache Schilderung zu betrachten, um sich
jene wahrhaft entsetzliche Lage, jenes Märtyrer-
tum vorzustellen, zu dem die unglücklichen Arre-
stanten des Klostergefängnisses verdammt waren:
Indessen war gerade in den dreifsiger Jahren die
^ Ebenda p. 64.
3*
— 36 —
Verbannung in die Klostergefängnisse besonders ver-
breitet. Überhaupt war Kaiser Nikolaus I. ein grofser
Anhänger dieses Strafsystems, das während seiner
ganzen Begierungszeit auch sehr häufig angewandt
wurde. Er verbannte nicht nur religiöse, sondern
auch politische Verbrecher ins Kloster. So wurden
während seiner Regierungszeit 1828 unter anderen
die Studenten der Moskauer Universität Nikolai
Popow und Michail Kritski als „Teilnehmer der
Verschwörung" (Decabristen)nach Solowki verbannt.
Viel später, nämlich 1850, wurde der frühere Stu-
dent und Adlige aus Poltawa, Georg Andrusski
„wegen gefährlicher Gesinnung und schädlicher
Werke" ins Solowezky-Gefängnis gebracht.
Die Verbannung nach Solowki drohte auch
einmal unserem grofsen Dichter A. S. Puschkin.
Seine bekannte „Ode an die Freiheit" und die
Tatsache, dafs er im Theater seinen Nachbarn das
Bild von Luwel, dem Mörder des Herzogs von B.,
zeigtiö, riefen die Verfolgung der Administration
gegen ihn hervor. Puschkin drohte die Anklage-
bank imd die Verbannung nach dem
Solowezky-Kloster oder nach Sibirien. Dank
dem energischen Eintreten seiner Freunde entging
der Dichter zum Glücke Bufslands der drohenden
Gefahr. .Anstatt nach Solowki wurde er nach
Jekaterinoslaw gebracht. A. S. Puschkin war nicht
der einzige Vertreter der Literatur, dem die Ver-
bannung ins Kloster drohte. Viel später, und zwar
Anfang der sechziger Jahre, wurde der bekannte
Schriftsteller A. P. Stschapow wegen Abhaltens
einer Trauermesse für Popow, der die Bauern-
— 37 -
Unruhen im Dorfe Besdna, Gouvernement Kasan,
verursacht hatte, zur Verbannung nach dem
Solowezky-Kl oster verurteilt. Prof. N. J. Aristow,
der Biograph Stschapows, teilt mit, dafs die Heilige
Synode, nachdem die Studenten der geistlichen
Akademie in Kasan (die der Trauermesse beiwohnten)
verhört worden waren und vielen von ihnen die Strafe
zudiktiert worden war, beschlossen hatte, Stschapow,
als Angehörigen des Departements für kirchliche
Angelegenheiten, ins Solowezky-Kloster zu
verbannend
Aristow zufolge hat es viel Mühe gekostet
das Urteil der Synode zu verhindern. Stschapow
aber hatte dadurch viele Unannehmlichkeiten, so
dafs er einmal unüberlegt ein Gesuch einreichte,
man möchte ihn lieber nach Sibirien verbannen,
als ins Solowezky-Kloster, „diese Grube der Hölle".
Einige hochgestellte Persönlichkeiten traten für
Stschapow ein , und es gelang ihnen , zu bewirken,
dafs er, vom Zaren begnadigt, einem geistlichen
Gerichte nicht mehr unterstellt werden durfte^.
Wenn es Stschapow, dank dem Eintreten ein-
fiufsreicher Persönlichkeiten, gelungen war, dem
Solowezky-Gefängnisse aus dem Wege zu gehen,
so mufste dafür ein anderer Teilnehmer an dieser
Geschichte, der Pfarrer Jachontow, der die Trauer-
messe für Popow gelesen hatte, stark büfsen: er
wurde gemäfs dem Beschlüsse der Heiligen Synode
nach dem Solowezky-Kloster verbannt. Diese Ver-
^ N. J. Aristow, A. P. Stschapow.
8 Ebenda.
- 38 --
bannung hatte auf ihn einen sehr traurigen Einflufs
gehabt. Jachontow wurde psychisch krank. Später
wurde er, nachdem er wiederhergestellt war,
Mönch des Solowezky-Klosters, dann als Missionär
nach Sibirien gesandt.
X.
Die Instruktion der zwanziger und dreifsiger
Jahre über die Behandlungs- und Beaufsichtigungs-
weise der Arrestanten im Klostergefängnisse
zeichnet sich durch grofse Strenge aus. In den
wichtigeren Fällen gab es sogar zwei Instruktionen :
eine von einer Zivilbehörde, dem Ministerium des
Innern, die andere von einer geistlichen Behörde.
Z. B. bei der Verbannung des Begründers der Skopzy-
sekte (Schneidlinge) , des berühmten Kandratius
Seiiwanow, nach dem Spas-Euphimius-Kloster zu
Susdal im Jahre 1820 wurde aufser der Instruktion
des Grafen Kotschubej, des Ministers des Innern, an
den Archimandriten dieses Klosters, noch eine be-
sondere Instruktion geschickt, die von dem Metro-
politen von St. Petersburg und Nowgorod, Michail,
verfafst und eigenhändig geschrieben war.
Diese Instruktion betont hauptsächlich folgende
vier Punkte: 1. Der Arrestant darf keinen Ver-
kehr haben, aufser mit denjenigen aus dem Mönchs-
stande, die der Archimandrit behufs Bekehrung
und Erbauung für ihn bestimmt hat. 2. Er darf
keine Briefe, Sendungen und Liebesgaben empfangen;
er mufs von jedem Verkehr mit fremden Menschen
ferngehalten werden. 3. Sein Aufenthaltsort mufs
unter allen Umständen geheimgehalten werden,
-So-
und endlich 4. der ganze Eorrespondenzwechsel in
dieser Sache mufs strenges Geheimnis bleiben.
Der Gouverneur der Stadt Wladimir nahm die
Instruktion an und schrieb seinerseits an den
Archimandriten : „Um die Versuche der Gesinnungs-
genossen, mit dem Arrestanten in den Verkehr zu
treten , zu verhindern , halte ich es für notwendig,
dafs sein Aufenthaltsort von wenigstens vier Mann
aus der Klostergarnison bewacht wird; damit alle
Ihre Forderungen in dieser Sache genau und un-
ablässig erfüllt werden, habe ich zugleich mit
diesem eine strenge Verordnung an den Vor-
gesetzten des Invalidenkommandos in Susdal erteilt."
Aufserdem bittet der Gouverneur den Archiman-
driten, nach Ablauf eines Monats ihm Mitteilungen
über „den Gesundheitszustand, Gesinnung und Lebens-
weise des Arrestanten zu machen und festzustellen,
ob Versuche seitens der Gesinnungsgenossen, mit dem
Gefangenen in Verbindung zu treten und seinen Auf-
enthaltsort zu entdecken, stattgefunden haben".
Nur ein Mensch durfte in das Geheimnis der
Gefangenschaft Seiiwanows eingeweiht werden, —
nämlich der Susdalsche Stadtkommandant Makow.
„Er(Makow)hat die Pflicht," schrieb der Gouverneur
an den Archimandriten, „jede Bewegung der Gre-
sinnungsgenossen des Gefangenen, ihre Ankunft usw.
insgeheim zu verfolgen, persönlich Eure Ehrwürden
davon in Kenntnis zu setzen und, falls es not-
wendig ist, Ihre Forderungen zu erfüllen."
Um das Geheimnis strenger zu bewahren,
wurde es verboten, selbst im Briefwechsel den
Namen des „geheimen Gefangenen", d.i. Seiiwanows,
— 40 -
anzuführen, und vorgeschrieben, ihn nicht anders
zu nennen „als den Greisen, den Führer der
Skopzysekte". Die Akten Seiiwanows, die sich im
Klosterarchive befinden, führen den Titel: „Das
Geheimaktenstück von dem Greisen, dem Führer
der Skopzysekte, der mit dem Schreiben des
Grafen Kotschubej am 17. Juli 1828 hierher ein-
getroflFen war. Name unbekannt." Allein, alle
diese Mafsregeln haben, wie aus den eigentlichen
Akten zu ersehen ist, ihr Ziel nicht erreicht.
Von Seiiwanows Verbannung nach dem Susdal-
kloster erfuhren seine Anhänger und alle anderen,
die um sein Schicksal besorgt waren, bald. Die
strengen Mafsregeln der Bewachung und Beauf-
sichtigung haben ebenfalls nichts geholfen: trotz
der Einzelhaft gelang es Seiiwanow mit seinen
Anhängern in Verkehr zu treten.
Graf Araktschejew , der zur Zeit am Ruder
war, erschien als ein grofser Anhänger des Systems
der Klosterverbannung. Während der ganzen Zeit
seiner Herrschaft fand die Verbannung der „reli-
giösen Verbrecher" nach den Klöstern trotz der
sanften und humanen Art Alexanders I. die weiteste
Verbreitung. Unter anderen wurden zur Zeit des
grausamen Günstlings die berühmten Mystiker
jener Zeit, die Gutsbesitzer aus dem Gouvernement
Rjasan: A. P. Dubowizki und L. M. Gagin, nach
den Klöstern verbannt. Der erste nach Kirillo-
Bjelooserski-Kloster, der zweite nach Walasmow*.
In den dreifsiger Jahren befürwortete das System
^ Dubrowin: „Unsere Mystiker", „Russkaja Starina"
1895/96.
- 41 -
der Klosterverbannung „wegen religiöser Ver-
irrungen und behufs Bekehrungen der Verbrecher"
unter anderen der bekannte General Dübelt, der
Vorgesetzte des Gendarmeriekorps. Auf seine Ver-
anlassung begannen die Verfolgungen gegen die
Mitglieder des religiösen „Bruderbundes" ; an
dessen Spitze E. F. Tatarinowa, geborene Baronin
Buxgefoen, stand. Der Prozefs, den Dübelt
gegen diesen „Bund" angestrengt hatte, schlofs
mit einer ganzen Reihe von Klosterverban-
nungen ab. Tatarinowa wurde nebst ihrem Zög-
ling Wassiljewa nach dem Katschinski - Frauen-
kloster im Gouvernement Twer verbannt, Geheim-
rat Popow ins SUantow-Kloster von Kasan, wo er
auch starb; der Staatsrat Pilenski in das Susdal-
sche Spas-Euphimius- Kloster; Titulärrat Fedorow
ins Juqewski- Kloster und seine Frau ins Swja-
toduchow-KIoster der Eparchie Nowgorod usw.
XI.
Wie in den fernen früheren Zeiten wird auch
jetzt bei der Verbannung ins Kloster die Strafzeit,
die der Verbrecher zu verbtifsen hat, nicht angegeben.
In den Erlassen und Verordnungen, mit denen
die Verbannten eintrafen, wurde in der Regel nur
vorgeschrieben, „sie bis zur Bereuung", oder „bis sie
sich gebessert haben", oder einfach „bis sie still
geworden sind", im Gefängnis zu halten, ohne jede
Angabe der Frist. Die Fristlosigkeit der Ver-
bannung und Gefängnishaft erschwert freilich am
meisten die ohnedies äufserst traurige Lage der
Verbannten und Sträflinge der Klöster.
— 42 —
Um eine Vorstellung davon zu geben, wie
dauernd mitunter die Einkerkerung in den Kloster-
gefängnissen war, führen wir hier einige Angaben
an, deren Richtigkeit keineswegs bezweifelt werden
kann. In der „Russkaja Starina" hat Herr
Koltschin unter anderem eine Liste der Gefangenen
veröffentlicht, die im Juli 1885 im Solowezky-
Gefängnis safsen.
Diese Liste wurde auf Veranlassung des Ober-
prokurators der Heiligen Synode, Geheimrat A. J.
Karasewski, von dem Archimandriten des Klosters
Alexander aufgestellt. In dieser Liste sind 19 Ge-
fangene angegeben, von denen einige — es ist
schrecklich zu sagen — 20, 30, 40, 50, 60 und
mehr Jahre im Gefängnis gesessen haben !
So z. B. hat der Abt des Selenginski-Klosters,
Israel, der wegen der Begründung einer neuen
Sekte und „sonstiger gotteswidriger Handlungen"
seine Abtwürde verloren hat und dem Pfarrer- und
Mönchstande enthoben wurde, 21 Jahre im Ge-
fängnisse gesessen. Der Bauer des Gutsbesitzers
Durnowo aus dem Gouvernement Kaluga, Stepan
Sergejew, „hat deshalb, weil er sich nach altgläu-
biger Art bekreuzte und aus religiösem Fanatismus
Albernheiten verbreitete", 25 Jahre im Gefängnisse
gesessen. Der Bauer aus dem Gouvernement Saratow,
Bezirk Otokark, Jegor Afanasjew , hat „wegen der
Nichtbefolgung der ihm auferlegten Kirchenbufse,
der Ermordung seines Söhnchens und des Über-
ganges von der Orthodoxie zum Raskol" 29 Jahre
im Gefängnisse gesessen.
Der Kleinbürger aus Petersburg Semjon
- 43 —
Konono w hat „wegen Übergangs zur Skopzy-
sekte und Verharrens in den verderblichen Irr-
tümern" 33 Jahre im Gefängnisse gesessen. Der
Bauer des Grafen Golowkins, Anton Dmitrijew,
hat „wegen Kastrierung und Verbreitung der
Skopzysekte" 37 Jahre im Gefängnisse gesessen.
Der Bauer aus dem Gouvernement Wjatka Semen
Schubin, der auf Allerhöchste Bestimmung, die
seiner Verurteilung vom Regierungssenat wegen
Altgläubigkeit, Kirchenlästerung und Beschimpfung
der heiligen Sakramente folgte, verbannt wurde,
hat 43 Jahre im Gefängnisse gesessen. In dem
Momente, als seine Akten veröffentlicht wurden,
im Juli 1855, zählte er 88 Jahre.
Man kann sich leicht den Zustand der Ge-
fangenen vorstellen, die 30, 40 und mehr Jahre
im Klostergefängnisse gesessen haben.
Äufserst interessant sind — trotz ihrer Kürze
und Mangelhaftigkeit — die Charakteristiken, die
der Archimandrit von jedem Gefangenen gibt. Ich
führe hier einige davon an. Von dem Bauern
Semen Schubin, der 43 Jahre im Gefängnisse ge-
sessen hat, heifst es: „Die Strafzeit ist unbestimmt.
Wegen seines hohen Alters verläfst er die Zelle
nie; meistens liegt er im Bette. Ins Bad wird er
im Wagen geführt. Er kann nur sehr schlecht
lesen und liest keine Bücher aufser seinem
eigenen Psalmbuche; die Kirche besucht er
nie, da er sie hafst. Leidet an Windbruch,
kann aber nicht geheilt werden, da es hier keine
Ärzte und keine Arzeneien gibt. Begriffisschwer,
geistig gesund. Bei jeder Gelegenheit wird ver-
— 44 —
sucht, ihn zu bekehren; da er aber in seiner
Ketzerei alt geworden, hört er auf nichts, und es
ist ausgeschlossen, dafs er jemals Abbitte
tut. Sein Charakter ist zänkisch und auf-
rührerisch. Wegen Verharrens in der Ketzerei
und wegen des hohen Alters mufs er in dem gegen-
wärtigen Zustand verbleiben." Der Schlufs, den
der Archimandrit daraus zieht, ist wirklich uner-
wartet. Nachdem er selbst Schubin als einen
unwissenden stupiden Greis schildert, der noch
dazu nahe am Sterben ist, dürfte man wohl er-
warten, dafs er seine sofortige Freilassung aus
dem Gefängnisse beantragen würde. Der un-
glückliche 90jährige Greis, der mit einem Fufse
schon im Grabe steht, kann doch wahrhaftig für
die orthodoxe Kirche und Religion nicht mehr ge-
fährlich sein.
Von dem Bauern Anton Dmitrijew, der 37
Jahre im Gefängnisse gesessen hat, schreibt der
Archimandrit folgendes: „Er ist 81 Jahre alt.
Ist für immer eingekerkert. Wird aus der
Zelle nur zum Spaziergang im Korridor heraus-
gelassen. Im Sommer darf er seinen Spaziergang
auch im Gefängnishofe machen. Ist Analphabet
und hört nur zu, wenn die anderen lesen. Die
Kirche besucht er nicht. Ist verschlossenen
Charakters und geistig gesund. Es wird versucht,
ihn zu bekehren. Er hört aber auf nichts. Es
ist ausgeschlossen, dafs er Abbitte tut;
sein Verhalten ist ruhig. Infolge seiner gefähr-
lichen Ketzerei (Skopzy) mufs er im Gefängnisse
verbleiben." In diesem Sinne lauten die meisten
— 45 —
Charakteristiken bezüglich der Arrestanten, die im
Elostergefängnisse sitzen.
Nur für sehr wenige läfst der Archimandrit
gewisse Erleichterungen zu. So z. B. schreibt der
Archimandrit in bezug auf den Katholiken und
Gouvemementssekretär Josif Dubowski, der wegen
„Frechheit und Gotteslästerung" ins Kloster ver-
bannt wurde: „Er ist klug, aber von seiner Ketzerei
gefangen ; scheinbar krank ; ihm kann im Solowezky-
Kloster nicht geholfen werden. Man versucht ihn
auf den richtigen Weg zu bringen, indem man sich
auf seine lateinische Religion stützt. Das wirkt
aber nicht. Er nennt seinen Glauben jüdisch-
christlich; Gottesbilder läfst er in seiner Zelle
nicht zu. Er wollte den Eid der Untertanentreue
nicht leisten. Wenn die Regierung seine Über-
führung nach einem katholischen Kloster oder nach
einer Stadt, wo es katholische Geistliche gibt, ver-
ordnen wollte, so wäre es leichter, ihn in einen
gesunden physischen und sittlichen Zustand zu
bringen und seinen vollen Verstand zu retten; in
der gegenwärtigen Haft ist es unmöglich, ihn geistig
zu heilen; er ist reizbar und jähzornig und wartet
auf Grund geheimnisvoller Zeichen und infolge
seines kranken Zustandes auf das Eintreffen irgend-
welcher Ereignisse. Er verdient Nachsicht und
Erleichterung seines Schicksals durch Überführung
in ein anderes Kloster." Einige der Arrestanten,
die auf der Liste verzeichnet sind, wurden, gleich
Anton Dmitrijew, für immer eingekerkert. Da-
von haben von neunzehn acht im Jahre 1855 im
Solowezky-Kloster gesessen. Auf diese Weise waren
— 46 —
diese acht MeDScheD, die zur lebenslänglichen Haft
verurteilt wurden, dadurch auch zum Tode inner-
halb der Kloßtermauern verurteilt. Es gab aller-
dings nur sehr seltene Ausnahmen auch hier:
manche, die zu lebenslänglicher, ewiger Haft ver-
urteilt waren, wurden noch vor dem Tode frei.
In der Regel ging es folgendermafsen vor sich ;
irgendein Administrator oder ein anderer Würden-
träger erfuhr z. B. während seines Besuches im
Kloster, dafs unter den Gefangenen sich einer be-
findet, der hier 50 oder 60 Jahre in Haft ist. Die
Mitteilung mufste selbstverständlich einen starken
Eindruck auf ihn machen. Da beeilt sich auch der
Würdenträger, die Freilassung des greisen Sträf-
lings, der, von allen vergessen, im Gefängnisse sitzt,
zu beantragen. Manchmal hatten diese Art Gesuche
einen günstigen Ausgang, und der Gefangene wurde
in Freiheit gesetzt.
Es ist jedoch gerechtermafsen hinzuzufügen,
dafs es nicht selten auch Fälle gab, wo die Frei-
heit zu spät kam : der Gefangene, der sein ganzes
Leben innerhalb der Gefängnismauern zugebracht
hatte, hatte nicht mehr die Kraft, die Freiheit zu
geniefsen, die man ihm vor dem Tode zurückgab.
Das war z. B. der Fall mit dem oben erwähnten
Anton Dmitrijew. Aufserordentlich traurig war
das Schicksal dieses Menschen: er hat in den
Solowezky-Kasematten ganze 65 Jahre in Einzelhaft
gesessen !
Er zählte bereits 90 Jahre, als ihm der Kloster-
vorsteher plötzlich erklärte, dafs er freigelassen wird,
dafs er endlich das düstere Gefängnis, in dem sein
— 47 —
ganzes Leben begraben wurde, verlassen und nach
allen Windesrichtungen sich begeben kann . . .
Der unglückliche Greis erklärte, dafs er niemanden
mehr habe, zu dem er gehen könnte, da alle seine
Beziehungen zur Heimat und zu den Verwandten
längst gelöst waren, und wollte das Gefängnis nicht
verlassen. Da wurde es ihm grofsmtitig erlaubt,
„bis zu seinem Lebensende im Gefängnisse zu ver-
bleiben", und zwar nicht mehr als Gefangener, Er
ist 1880 gestorben, „ohne seine Verirrungen zu be-
reuen".
Von den Personen, die ohne Angabe der Straf-
zeit „bis zur Besserung" verbannt wurden, sind in
der Arrestantenliste von 1855 elf angeführt. Dar-
unter ist Semen Schubin z. B, 63 Jahre im Kloster-
gefängnisse verblieben, da er bis zu seinem Tode
„unerschütterlich in seinen Irrlehren verharrte".
Er ist 1875, 89 Jahre alt, gestorben. Die letzten
drei Jahre konnte er nicht mehr gehen ^. Hier
mufs bemerkt werden, dafs bei weitem nicht alle
Gefangenen ein so hohes Alter erreicht haben wie
Anton Dmitrijew und Semen Schubin, Im Gegen-
teil, viele Gefangene starben im Gefängnisse kurz
nach ihrer Verbannung. So z. B. verlebte der
Kollegienrat Bautysch - Kamenski , der am 29, De-
zember 1828 ins Klostergefängnis zu Susdal ein-
gekerkert wurde, nur einen Monat darin und starb
am 22. Januar 1829. Der Moskauer Kleinbürger
Feodor Schigarew, der wegen Raskol am 2, Novem-
ber 1856 in dasselbe Gefängnis eingekerkert wurde.
^ Russkaja Starina, 1887, Nr. 12, p. 614.
— 48 —
verlebte darin nur 25 Tage und starb am 27. des-
selben Monats. Der Dekabrist Fürst Schachowski,
der am 3. Februar 1829 in diesem Gefängnis ein-
getroflfen war, starb am 24. Mai desselben Jahres*.
Es gibt viele Gründe zur Annahme, dafs der erste
Eindruck, den die Klostergefängnisse auf die Ge-
fangenen machten, ungeheuer stark war und sie
manchmal zur Verzweiflung trieb. Als der Stabs-
kapitän Stschegolew, der 1826 wegen eines „reli-
giösen Verbrechens" nach Solowki verbannt wurde,
seine Zelle erblickte, geriet er in ein derartiges
Entsetzen, dafs er sofort „ganz erzürnt dem Offizier
der Wache erklärte, er würde sich den Kopf an
der Wand zerschlagen , wenn man ihn länger hier
behalten würde".
Besonders schwierig war die Lage der Ge-
fangenen, die geisteskrank waren. Und doch war
die Zahl dieser Kranken in unseren Klöstern, be-
sonders in früheren Zeiten, sehr grofs. Dies ist
hauptsächlich auf folgende zwei Gründe zurück-
zuführen : erstens boten unsere Klöster in früheren
Zeiten, da es keine Spezialanstalten für Geistes-
kranke gab, eine Zufluchtsstätte für sie. Dahin
wurden oft Menschen — nicht selten fürs ganze
Leben — verbannt, die im wahnsinnigen Zustande
ein Verbrechen begangen hatten. Andererseits
mufsten die äufserst schwierigen Verhältnisse der
Einzelhaft in den Klostergefängnissen eine Zer-
rüttung der Seelentätigkeit auch bei ganz gesunden
Menschen hervorrufen, die in diese Gefängnisse ge-
Aus offiziellen Aktenstücken.
— 49 —
raten sind und dort lange Jahre, oft Jahrzehnte
zugebracht haben. Wir haben bereits früher er-
wähnt, dafs der Prozentsatz der psychischen Er-
krankungen unter den Elostergefangenen sehr
grofs ist.
Unter den 50 Gefangenen, die 1835 im Solowezky-
Kloster safsen, gab es viele, die mehr oder minder
an Geisteszerrtittung. litten. Darauf weist unter
anderem sowohl der Charakter der von ihnen be-
gangenen Verbrechen als auch ihre Charakteristik
seitens der Klosterbehörden hin. So z. B. heifst
es, dafs ein Bauer, der Raskolnik Stepan Sergejew
„wegen Albernheiten, die er im religiösen Wahn-
sinn verbreitete", verbannt wurde. Abgesehen von
solchen Subjekten, deren anormalen Zustand man
nur vermuten kann, gab es unter den Gefangenen
des Solowezky-Klosters fünf, die an deutlich aus-
gesprochener Seelenzerrtittung im höchsten Grade
litten.
Der Handwerker des Modikowschen (?) Gufs-
eisenwerkes Peter Potapow wurde wegen Er-
mordung seines Vaters Potaps und dessen Frau
Praskowja im Zustande des Wahnsinns 1828 zur
ewigen Einkerkerung nach Solowki verbannt.
Die Klosterbehörde versieht diesen Namen 1835
mit folgender Anmerkung: „Ist im höchsten Grade
wahnsinnig, weshalb die Heilige Synode ersucht
wurde, ihn in eine Heilanstalt zu befördern."
In noch entsetzlicherem Zustande befand sich
der geisteskranke Gefangene Feodor Babotschij aus
dem Militärbezirk Pskow, der 1830 „wegen der
Ermordung seiner drei Töchter und seines Bruders
Frugawin, Die Inquis. d. russ.-orthod. Kirche. 4
— 50 —
in wahnsinnigem Zustande und wegen vieler
anderer Mordversuche" behufs Bufse für immer
nach Solowki verbannt wurde. Die Klosterbehörde
versieht seinen Namen mit folgender Anmerkung:
„Ist jetzt stark wahnsinnig geworden und ifst sogar
seinen eigenen Kot. Die Heilige Synode wurde
ersucht, ihn, wohin es sich gehört, zu be-
fördern."
Endlich war unter den geisteskranken Ge-
fangenen des Klosters der Porutschik Goroschankin,
der 1833, als er im Solowezky-Gefängnisse safs, im
Wahnsinnsausbruch einen Soldaten aus der Wache
erstochen hatte. Dieser Mord lenkte die Auf-
merksamkeit der Kegierungskreise auf ihn, weshalb
auf Allerhöchsten Befehl eine Kevidierung des
Solowezky- Gefängnisses verordnet wurde. Diese
bestätigte die unmögliche Lage der Geisteskranken
im Klostergefängnisse und brachte eine ganze Reihe
von Einschränkungen, denen die Gefangenen un-
verdientermafsen ausgesetzt waren, an den Tag.
Einen schweren , niederschmetternden Eindruck
machen diese kurzen, aber laut redenden Angaben
über die Lage der Geisteskranken, die viele Jahre
in den „Kasematten" und „Zellen" der Klöster
schmachten mufsten, ohne Hilfe und ohne Pflege.
Man darf jedoch bei der Beurteilung dieser Tat-
sachen die allgemeinen Verhältnisse jener Zeit nicht
vergessen. Man darf nicht vergessen, dafs eine
humane und aufmerksame Behandlungsweise der
Geisteskranken, die ein Verbrechen begangen
hatten , erst in einer viel späteren Epoche, nämlich
unter dem Einflufs des neuen, öflFentlichen Gerichts-
— 51 —
Wesens, in die Regierungskreise Eingang ge-
funden hat.
Es ist übrigens darauf hinzuweisen, dafs
kranke Gefangene, gleichviel, welcher Art, im
Solowezky-Gefängnisse überhaupt keine ärztliche
Hilfe geniefsen. „Wird jemand krank, so kann er
hier nicht geheilt werden, da es hier keine Ärzte
und keine Arzneien gibt," berichtet der Archi-
mandrit Alexander 1855 an der Oberprokurator
der Heiligen Synode; „wenn aber jemand wahnsinnig
geworden ist, so wurde er im Einvernehmen mit
der höheren Obrigkeit in eine bestimmte private
Krankenanstalt behufs Heilung befördert." *
Allein , man mufs sagen , dafs die Beförderung
nach einem Krankenhause nur in seltenen Ausnahme-
fällen zugelassen wurde. Um dazu die Erlaubnis der
Obrigkeit zu erlangen, brauchte man ein Jahr Kor-
respondenz durch allerhand Kanzleiverschleppung.
XIL
Bis jetzt haben wir hauptsächlich von der
Lage der Klostergefangenen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und im Anfang der fünfziger
Jahre gesprochen. Wenn wir dann zum Ende der
fünfziger Jahre, zu den sechziger und siebziger
Jahren übergehen, so müssen wir konstatieren,
dafs gewisse liberale Einflüsse, die die eben ge-
nannte Epoche auszeichnen, und denen Rufsland
eine ganze Reihe grofser und wohltätiger Reformen
Russkaja Starina, 1888, Nr. 2, p. 899.
4«
- 52 —
verdankt, leider keine wesentliche Verbesserung
in der Lage derjenigen gebracht haben, die der
Verbannung und Einkerkerung in die Kloster-
gefängnisse anheimfielen.
Da ferner die Gesetze , welche das religiöse
und geistige Leben des russischen Volkes regulieren,
während dieser Zeit keine wesentliche Veränderung
erfahren haben, so ist es klar, dafs.die Verhältnisse,
in denen Millionen unserer Altgläubigen und
Sektierer leben mufsten, ebenfalls dieselben ge-
blieben sind wie vor den Reformen. Daher sehen
wir, dafs gerade während der Blütezeit des Libe-
ralismus Verfolgungen jeglicher Art gegen die
Sektierer und Altgläubigen stattfinden. Und wenn
diese Verfolgungen nicht den systematischen und
bestimmten Charakter trugen, den sie während
der Regierungszeit Nikolaus' I. hatten , so fand
doch die Verbannung der Sektenführer, der Pfarrer
und Bischöfe der altgläubigen Hierarchie nur zu
häufig statt.
Um nicht bei leeren Behauptungen zu bleiben,
halten wir es für notwendig , hier einige Tatsachen
anzuführen. 1854 wurden in das Susdalsche Eloster-
gefängnis Altgläubige, die „auf türkischem Boden
verhaftet waren", gebracht: Erzbischof Arkadius,
Bischof Alimpius und Pfarrer Semenow ; 1859 wurde
in demselben Gefängnisse der im „Gouvernement
Kiew verhaftete" altgläubige Bischof Konow ein-
gekerkert. Im gleichen Jahre ist ein Prozefs ent-
standen wegen der Begründung einer besonderen
Sekte am Ural, die den Namen „Die Brüder-
schaft Gottes" erhalten hatte. Infolge dieses
— 53 —
Prozesses wurden zuerst im Gefängnisse zu
Jekaterinburg , dann in der Peter -Paulsfestung
eingekerkert: der Begründer der Sekte und der
Mitarbeiter der Zeitschrift „Majak", Artillerie-
kapitän N. S. Iljin, und seine Anhänger: Beamter
der Bergverwaltung EoUegienassessor Budrin,
Titularrat Protopopow, der Podporutschik des Forst-
korps Laletin und die Frauen von Budrin und
Laletin. Budrin, der an Schwindsucht litt, ertrug
die Einkerkerung nicht und starb im Gefängnis.
Seine Frau wurde nach dem Swjatoduchow-Frauen-
kloster in Nowgorod verbannt. Saletin wurde 1859
in das Swjaschski-Kloster verbannt, wo er auch
nach zehnjähriger Einkerkerung gestorben ist.
Iljin wurde zu gleicher Zeit im Solowezky-
Gefängnis in strenge Einzelhaft gesteckt , wo er bis
zum Herbst 1873 geblieben ist. In diesem Jahre
wurde er infolge der wiederholten Gesuche seiner
Töchter um Erleichterung seines Schicksals aus
Solowki nach dem Klostergefängnisse in Susdal
überführt , wo er auch bis zum 18. Juli 1879 ver-
blieb. Die lange Haft verursachte bei ihm eine
Geisteszerrtittung , weshalb er auf Ersuchen der
Verwandten aus dem Gefängnis freigelassen und
dann in Polangen, Gouvernement Kurland, unter
„strengste Polizeiaufsicht" gestellt wurde.
1860 wurde der Kosak Maxim Rudometkin
wegen der Begründung der Sekte Priguni im
Kaukasus im Solowezky-Gefängnis eingesperrt. 1869
wurde Rudometkin aus Solowki nach dem Susdal-
schen Klostergefängnis versetzt, „damit er die
Korrespondenz mit seinen Gesinnungsgenossen
— 54 —
nicht mehr pflegen könne". Hier erlag er 1877
„einem apoplektischen Schlage", wie darüber der
Vorsteher berichtet hatte.
1863 wurde der altgläubige Bischof Gennadius
in das Susdalsche Gefängnis eingesperrt und safs
dort bis 1881. 1865 wurde in demselben Gefängnisse
der Pfarrer P. F. Solotnizki wegen seines Über-
tritts zu den Kaskolniki-Beglopopowzi eingesperrt.
1866 wurde der bekannte Sektierer Adrian Puschkin
in das Solowezky-Gefängnis gebracht usw.
Was die Haftzeit in den Klostergefängnissen
während der fünfziger und sechziger Jahre betrifft,
so mufs man sagen, dafs sie nach wie vor eine
ungewöhnlich lange war. So befanden sich von
den ebenerwähnten Personen in der Haft: Kosak
Rudometkin 15 Jahre, der altgläubige Bischof
Gennadius 18, der Artilleriekapitän Iljin 20, der
altgläubige Bischof Konow 22 Jahre, der Erz-
bischof Arkadius 27 ^ der Pfarrer Solotnizki 32
Jahre. Der letztere wurde erst 1897 frei. 32 Jahre
hatte auch der griechisch-katholische Pfarrer Josef
Antschenski in dem Susdalschen Gefängnisse zu-
gebracht. Er starb 1877.
Was, abgesehen von der Strafzeit, die anderen
Verhältnisse des Klostergefängnisses betrifft, so
mufs man feststellen, dafs sie sich während der
sechziger und siebziger Jahre sehr wenig von den-
^ Arkadius und Gennadius wurden erst 1881 auf An-
suchen des damaligen Ministers des Innern, Grafen Ignatjew,
in Freiheit gesetzt. Alimpius starb nach fünfjähriger Einzel-
haft im Gefängnis.
— 55 —
jenigen unterschieden, in welchen die Kloster-
gefangenen der zwanziger Jahre lebten. Als Beweis
dafür führen wir auszugsweise die Instruktion an,
die mit der Verbannung der ebenerwähnten Alt-
gläubigen , der Erzbischöfe Arkadius und Alimpius
und des Pfarrers Semenow, im Zusammenhang steht.
Der Bischof aus Wladimir , Justin , schrieb an
den Archimandriten des Spas-Euphimius-Klosters,
Amwrosius: 1. Sobald die Zivilbehörde die ver-
zeichneten Personen zugestellt hat , ist jedem von
ihnen eine besondere Zelle zuzuweisen (das Wort
„Kasematte" fehlt) und die Zeit ihres Eintreffens
und ihrer Einkerkerung mir mitzuteilen. 2. Sie
sind streng zu beaufsichtigen , damit sie in keinen
Verkehr miteinander, mit den Kaskolniki und
sonstigen Leuten treten können ; ebenfalls sind alle
Mafsregeln anzuwenden, um sie von ihren Irr-
lehren abzubringen und sie zu veranlassen, alles,
was sie von den Pseudokanzeln im Auslande und von
ihren Beziehungen zu unseren Raskolniki wissen, mit-
zuteilen. 3. Die Resultate Ihrer Bekehrungsversuche
und Ihrer Beaufsichtigung haben Sie allmonatlich
oder auch früher, je nach Bedarf, mir mitzuteilen.
4. Ihre Namen und falschen Bezeichnungen dürfen
nicht angeführt werden, sondern sie sind als Ge-
fangene unter Nr. 1, 2, 3 der Reihe nach zu
verzeichnen , wie sie auch im Erlasse der Heiligen
Synode verzeichnet sind: nämlich Arkadius unter
Nr. 1, Alimpius unter Nr. 2 und Semenow unter
Nr. 3 K
^ Aus offiziellen Akten des Klosterarchivs.
— 56 —
Abgesehen von diesen Instruktionen benutzt
die Zivil- und geistliche Behörde jede Gelegenheit,
um bei dem Oberpriester und dem Archimandriten
des Klosters eine strengere Beaufsichtigung der
Gefangenen zu beantragen. Besonders streng wird
die Korrespondenz beaufsichtigt. Sie wird über-
haupt nur geduldet und steht unter der unmittel-
baren Kontrolle des Archimandriten, der verpflichtet
ist, alle Briefe, die die Gefangenen abschicken
oder erhalten, durchzulesen. Manche Kloster-
vorsteher empfinden diese echt polizeilichen
Pflichten, die ihnen auferlegt sind, als eine Last.
Andere hingegen gefallen sich als Kontrolleure der
Korrespondenz in ganz überflüssigen Schikanierungen
und Böswilligkeiten. Daher suchen die Gefangenen
nach Möglichkeit der strengen und argwöhnischen
Zensur aus dem Wege zu gehen und ihre Briefe,
so weit es geht, ohne Wissen des Vorstehers fort-
zusenden. Der letztere sucht seinerseits alle
Briefe, die die Gefangenen gegen sein Wissen er-
halten oder fortsenden , aufzugreifen. Dabei über-
schreitet der Argwohn der Vorsteher oft alle
Grenzen. Von vielen Tatsachen, die uns zur Ver-
fügung stehen, und die dies bestätigen, wollen wir
einen äufserst charakteristischen Fall anführen,
der sich im Susdalschen Kloster ereignet hatte.
Archimandrit Dosifei grijBF einen Brief auf, der
von einer Frau geschrieben und an den altgläubigen
Bischof Gennadius, der zurzeit in der Susdalschen
Festung safs, adressiert war. Dieser Brief kam
dem Archimandriten äufserst verdächtig vor, da er
darin einen Beweis für die Existenz einer Raskol-
— 57 —
nikiverschwörung erblickte. Besonders gefährlich
schienen ihm die „nicht zu Ende geschriebenen
Worte" oder genauer die Reihe der Buchstaben
am Anfange des Briefes zu sein : H. J. C. S. G. E.
D. U. Er überreicht den rätselhaften Brief dem
Oberpriester von Wladimir und erklärt in einem
besonderen Geheimschreiben die aufserordentliche
Bedeutung desselben. Der Oberpriester schickt den
Brief des Gennadius an das geistliche Konsistorium
mit dem Antrag, sofort in dieser Sache eine ge-
heime Untersuchung einzuleiten. Es entsteht ein
„Prozefs", es beginnt ein Verhör. Gennadius wird
aufgefordert, zu erklären, wer ihm diesen unheil-
vollen Brief geschrieben hat, und was die geheimnis-
vollen Buchstaben H. J. C. S. G. E. D. U., die am
Anfange des Briefes stehen, bedeuten. Gennadius
erklärt, dafs dieser Brief von seiner Cousine ge-
schrieben sei, und dafs die schrecklichen Buchstaben
bedeuten: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, er-
barme Dich unser ^
Trotzdem der harmlose Inhalt des Briefes, den
der Archimandrit aufgegriffen hatte, festgestellt
war, wurde er dennoch dem Besitzer nicht zurück-
gegeben. Dem Archimandriten aber wurden des-
halb keine Vorwürfe gemacht. Im Gegenteil: das
geistliche Konsistorium lobte seine Handlungsweise
und empfahl ihm, auch künftighin Gennadius'
Korrespondenz zu beaufsichtigen und alle Briefe,
die ihm aus irgendeinem Grunde verdächtig vor-
kämen, dem Oberpriester von Wladimir vorzulegen.
^ Aus offiziellen Aktenstücken.
— 58 —
Was die intelligenteren Gefangenen, wie z. B.
den Artilleriekapitän Iljin und andere, betrifft, so
entstanden fortwährend Mifsverständnisse wegen
der Korrespondenz. Fortwährend mufsten die geist-
lichen Behörden — die des Klosters und die der
Eparchie — Verhöre abhalten und Untersuchungen
einleiten, da die Gefangenen die Instruktion be-
züglich Korrespondenz und Verkehr mit Verwandten,
Bekannten und Anhängern ihrer Lehren nicht be-
folgten.
XIII.
Die Gefangenen werden nach wie vor ver-
schiedentlich nach den Klöstern befördert : die einen
in Begleitung „von zwei zuversichtlichen Gen-
darmen", die anderen unter Bedeckung von Polizisten,
die dritten in Begleitung eines Polizeibeamten oder
eines Gendarmerieoffiziers, die vierten endlich per
Etappe.
In der Regel wird der Arrestant, der zur Ein-
kerkerung in das Klostergefängnis verurteilt ist,
zuerst dem Gouverneur jenes Gouvernements, in
dem sich ein Kloster befindet, übergeben und dann
von dem Gouverneur an den Archimandriten des
Klosters weiterbefördert.
Um eine Vorstellung von der strengen Be-
handlungsweise zu geben, die den Gefangenen unter-
wegs zuteil ward, führe ich als Beispiel die In-
struktion an, die der Gouverneur von Perm dem
Gendarmeriekapitän Latuchin erteilte, als dieser den
altgläubigen Bischof Gennadius (weltlich: Bauer
Grigori Bjeljajew) nach dem Susdalschen Kloster zu
— 59 —
begleiten hatte. „Indem ich bestimme, dafs Sie den
Bauern Grigori Bjeljajew bis zur Stadt Wladimir
begleiten, befehle ich Ihnen, ihn sofort in Empfang
zu nehmen und sich sofort mit ihm nach der Stadt
Wladimir zu begeben, und zwar: 1. Während des
Weges nach Wladimir haben Sie in voller Be-
waffnung bei dem Arrestanten ununterbrochen zu
verbleiben und ihm nicht zu erlauben, mit jemandem
Gespräche zu führen. 2. Sie müssen darauf achten,
dafs der Arrestant sich keinen Schaden zufüge und
sich nicht auf eine Ihrer WaiTen stürze. 3. Sie haben
keine Wohnung zu mieten, sondern solche von der
Obrigkeit des Ortes zu fordern ; Rast ist nur in den
Orten zu halten, wo es Militärkommandos gibt;
von diesen ist auf Grund der beiliegenden Liste
Wache zu verlangen, die während Ihrer Aufenthalts-
zeit an Ort und Stelle zu sein hat. 4. Beim Ein-
treffen in der Stadt Wladimir haben Sie sich sofort
dem Gouverneur zu melden , ihm das beiliegende
Kuvert unter Nr. 00 zu übergeben und Verfügung
bezüglich der Übernahme des Arrestanten zu er-
bitten. Dann haben Sie eine Quittung diesbezüglich
zu verlangen. 5. Im Falle einer schweren Erkrankung
des An*estanten haben Sie bis zur nächsten Stadt
zu fahren, ihn dort der Obrigkeit des Ortes behufs
Heilung zu übergeben und zu verlangen, dafs der
Arrestant, nachdem er sich erholt hat, unter ent-
sprechender Beaufsichtigung an den Gouverneur
der Stadt Wladimir weiterbefördert wird. Bei
der Zurücklassung des Arrestanten ist eine Quittung
zu verlangen. 6. Zum Schlüsse verwarne ich Sie,
dafs Sie Unordnung während des Weges, noch
— 60 —
mehr aber die Freilassung des Arrestanten vor
der Strenge des Gesetzes zu verantworten haben
werden." *
Nach dem Eintreffen im Kloster übergeben die
Gendarmen oder Polizisten den Arrestanten dem
Archimandriten , der ihn in Empfang nimmt und
eine besondere Quittung, gewöhnlich folgenden In-
halts, ausstellt: „Den in das mir anvertraute Spas-
Euphimius-Eloster in Susdal behufs Einkerkerung
in der Sträflingsabteilung überwiesenen Arrestanten
80 und so habe ich heute, den 11. April 1865,
um 6 Uhr früh in aller Ordnung von dem ihn
begleitenden Unteroffizier des N. Gendarmerie-
kommandos so und so und dem Gemeinen so und so
empfangen, was ihnen durch diese Quittung, mit
meiner Unterschrift und dem offiziellen Kloster-
siegel versehen, bestätigt wird."
Dann läfst der Archimandrit den Arrestanten
untersuchen, wobei ihm das Geld, die Sachen,
Wäsche und Kleidung weggenommen werden. Von
den Kleidern wird ihm nur das Unentbehrlichste
zurückgelassen. Das ganze übrige Vermögen des
Arrestanten bleibt bei dem Archimandriten in Ver-
wahrung. Besonders streng werden die Schreib-
gegenstände durchsucht; Papier, Tinte, Beistift,
das alles wird dem Arrestanten sofort genommen.
Ebenso auch die Bücher. Wir kennen einen Fall,
wo dem Gefangenen verboten wurde, die erste Zeit
ein Evangelium und Psalmbuch bei sich zu behalten.
^ Aus den offiziellen Aktenstücken in der Kanzlei des
Gouverneurs von Perm.
— 61 —
Dieser Fall ereignete sich nicht etwa vor hundert
oder zweihundert Jahren, sondern vor einem oder
vor zwei Jahren. Nach der Untersuchung wird der
Arrestant in die Festung oder in die Sträflings-
abteilung des Klosters geführt und dort in einer
kleinen Einzelzelle mit sehr dicken, feuchten Wänden
untergebracht. Die Zelle hat nur ein Fenster mit
eii^em massiven eisernen Gitter; aber man kann
durch dieses Fenster nichts sehen, da die hohe
Festungsmauer darüber hinausragt, die das Ge-
fängnis von drei Seiten umgibt. Das Gefängnis ist
sehr alt, feucht und kalt. Es wird nicht einmal
im Sommer durchwärmt, weshalb die Arrestanten
sehr stark unter Kälte und Feuchtigkeit leiden.
Die Zellen sind immer verschlossen; manche
Arrestanten werden zum Spaziergang in den Korri-
dor gelassen. Aber nicht alle geniefsen dieses
Vorrecht. Die erste Zeit darf der Arrestant die
Zelle unter keinen Umständen verlassen. Nur ein-
mal am Tage wird die Tür geöffnet, damit der
Arrestant den Eimer, der sich in der Zelle be-
findet, hinaustragen kann. Die Nahrung wird durch
eine besondere^ in der Tür sich befindende ÖflFnung
gereicht. Durch diese Öffnung beaufsichtigen die
Soldaten der Wache den Arrestanten. Dieses fort-
währende Beobachten mufs freilich die Gefangenen
furchtbar ärgern, um so mehr, als die Nerven der
meisten völlig zerrüttet sind. Dazu kommt noch
eine Tatsache, die nicht unterschätzt werden darf,
wenn man die moralische Wirkung beurteilen will,
die das Klostergefängnis auf die Arrestanten
ausübt.
- 62 -
Die meisten Gefangenen sind tief religiöse,
gläubige Menschen: sie wollen beten, da es schon
längst ein unentbehrliches Bedürfnis für sie ge-
worden ist; aber es ist schwer, zu beten, wenn
man jeden Augenblick das argwöhnische Auge des
wachhabenden Soldaten auf sich gerichtet fühlt. Es
ist schwer, unangenehm und beleidigend. Der
Gefangene deckt, so gut es geht, die Öffnung an
der Tür zu , bereitet sich zum Gebet vor und über-
läfst sich ganz dem religiösen Gefühle, das über
ihn gekommen ist, — da ertönt aber in diesem Augen-
blick ein starkes Klopfen an der Tür, und eine
rohe Stimme fordert mit brutalen Schimpfwörtern,
dafs die Öffnung unverzüglich freigemacht wird.
Keine Bitten des Arrestanten helfen in solchen
Fällen. „Ich kann nicht wissen, ob du betest,
oder ob du die Wand untergräbst," sagen die
Soldaten zu ihrer Rechtfertigung.
In manchen Klöstern gab es bis vor kurzem
besondere Militärkommandos, denen es oblag, das
Klostergefängnis zu bewachen. So z. B. befand sich
im Solo wezky-Klostergefängnis ein Militärkommando,
das zuerst aus 50 Soldaten und einem Oberoffizier
bestand. Später wurde die Zahl der Soldaten auf
23 herabgesetzt. In letzter Zeit wurden die
Soldaten und der Offizier jedes Jahr von anderen
abgelöst. Diese Mafsregel ist auf den Umstand
zurückzuführen, dafs die Soldaten, da sie mit den
Gefangenen fortwährend verkehren, nach und nach
ihre ketzerische Überzeugung zu teilen beginnen.
Mitte der achtziger Jahre besuchte der Be-
fehlshaber des St. Petersburger Militärkorps, Grofs-
— 63 —
fürst Wladimir Alexandrowitsch , das Solowezky-
Kloster und fand, dafs das Militärkommando dort
völlig tiberflüssig ist. Infolgedessen wurde das
Kommando 1886 von Solowki fortgeschafft. Auf
diese Weise wurde das Kloster von den Soldaten,
deren Anwesenheit nur eine rohe und schrille
Dissonanz war, endlich befreit.
Das Ende des Solowezky-Gefängnisses.
Ich bin in der Lage, eine grofse Neuigkeit mit-
zuteilen, die meines Erachtens von nicht zu
unterschätzender sozialer Bedeutung ist: das
historisch berühmte Gefängnis, das sich im
Solowezky-Kloster befand, — das Gefängnis, welches
in der Geschichte der religiös-ethischen, zum Teil
auch sozialpolitischen Bewegungen des russischen
Volkes eine so traurige Rolle gespielt hat, — hat
nun aufgehört, zu existieren. Als ich im Herbst
1903 das Archangelsk - Gouvernement aufgesucht
hatte, gelang es mir, manche Angaben über die letzten
Tage dieses historischen Gefängnisses zu sammeln.
Infolge des tiefen Geheimnisses, das mit allem,
was die Verbannung nach Solowki und die Ein-
kerkerungin dem Kl oster gefängnis betraf, verbunden
war, sind nur sehr mangelhafte und sehr dürftige
Nachrichten über die Personen, die dieser schweren
Strafe anheimfielen, und über die Verhältnisse, in
denen die Gefangenen des Solowezky-Gefängnisses
lebten, in die Gesellschaft gedrungen.
Wir übergehen die „altersgrauen Zeiten". Wir
lassen beiseite solche Epochen des russischen ge-
— 65 —
schichtlichen Lebens wie z. B. die Regierung Iwans
des Schrecklichen oder Peters des Ersten, da die
Solowezky-Türme , die unterirdischen Gefängnisse
und „steinernen Säcke^, die sich innerhalb der
Klostermauem befanden, von Ketzern und Staats-
verbrechern tiberfüllt waren. Wir wollen dem Leser
mit einigen Worten eine uns näher liegende Epoche
ins Gedächtnis rufen; wir wollen nämlich erzählen,
was während der letzten drei Regierungen statt-
gefunden hat.
Die Verbannung nach Solowki fand, wie wir
bereits erwähnt haben, besonders weite Verbreitung
während der ganzen Regierungszeit Nikolaus' L
Er bevorzugte dieses Strafsystem und unterwarf
demselben Sektierer, Raskolniki, Offiziere, Mönche,
Studenten, Pfarrer, Gutsbesitzer, Bauer d, Beamte,
Soldaten usw. Die Verbrechen, die mit Ver-
bannung nach Solowki und Einkerkerung im
Klostergefängnis bestraft wurden, waren äufserst
verschiedener Natur. Dennoch liegt es aufser
allem Zweifel, dafs die meisten Arrestanten des
Solowezky-Gefängnisses sogenannte religiöse Ver-
brecher waren, d. h. Verbrecher gegen die
herrschende Religion und Kirche. Bevor wir aber
bei dieser Hauptgruppe verbleiben, wollen wir mit
einigen Worten die anderen, minder wichtigen
Verbrechergruppen erwähnen. Vor allem gehören
hierher diejenigen , die wegen politischer Umtriebe
nach Solowki verbannt waren.
Unter Nikolaus I. wurden aus der Zahl dieser
Verbrecherkategorie unter anderen die Studenten
der Moskauer Universität Nikolai Popow und
Prugawin, Die Inquis. d. russ.-orthod. Kirche. 5
— 66 —
Michail Kritski wegen ihrer Verwicklung in den
Prozefs der Dekabristen in das Solowezky-Gefängnis
gebracht. Dann wurde in den dreifsiger Jahren
der Karrer aus dem Gouvernement Wladimir,
Lawrowski, „wegen angeblicher Verbreitung von
aufrührerischen Flugblättern in verschiedenen Teilen
des Gouvernements Wladimir" in dasselbe Gefängnis
gesteckt. In diesen Flugblättern „wurde die Leib-
eigenschaft getadelt und den Bauern empfohlen,
ihren Kindern, die im Heere sind, Briefe zu
schreiben und sie aufzufordern, sich behufs Ab-
schaflEung der Leibeigenschaft^ zu erheben." Es ist
zu bemerken, dafs Lawrowski seine Teilnahme
daran auf das Entschiedenste leugnete, und dafs
'fr, aller Wahrscheinlichkeit nach, wirklich un-
schuldig war und nur das Opfer des damaligen
Gerichtswesens geworden ist. Das letztere fand in
dem Obersten der Gendarmerie, Maslow, der in
dieser Sache die Untersuchung und das Verhör
leitete, seine Verkörperung. Ferner kam in den
fünfziger Jahren der frühere Student der Kiewer
und dann der Kasaner Universität, Georg
Andrufski, „wegen schädlicher Gesinnung und bös-
williger Werke" in das Solowezky-Gefängnis. Da
bei ihm während der Untersuchung verschiedene
„Schriften und Gedichte aufrührerischen Inhalts, die
auf die Wiederaufrichtung des Kleinrussentums
zielten", gefunden worden sind, so kann man an-
nehmen, dafs Andrufski der ukrainophilen Partei
angehörte.
In der Regierungszeit Alexanders IL wurde
1861 der Pfarrer des Gouvernements Pensa, Feodor
— 67 -
Pomeranzew, nach Solowki verbannt und unter
^strengste Aufsicht" gestellt. Der Grund dafür
war „die falsche Auslegung des Manifests von
1861", was die Erhebung der Bauern gegen den
Grafen UwaroflF und das Einschreiten des Militärs
gegen die Rebellen zur Folge hatte.
1864 wurde der Student der geistlichen
Akademie, Pfarrer Jachontow, nach Solowki ver-
bannt, weil er eine Trauermesse für Anton Petrow,
der im Dorfe Besdno, Bezirk Kasan, während der
Unterdrückung eines Bauernaufstandes getötet
wurde, abgehalten hat. Gleich Jachontow wurde
damals der Student der geistlichen Akademie zu
Kasan, Hierodiakon Miletius, mit der Verbannung
nach Solowki bedroht. Er war im vierten Semester.
Allein, einflufsreiche Geistliche traten für ihn ein,
und er wurde statt dessen als Missionar nach Ost-
sibirien gesandt, und zwar unter Obhut des Erz-
bischofs von Jrkutsk. In Sibirien vollendete Pater
Miletius seine Doktorarbeit (Kandidatenarbeit).
Erzbischof Benjamin äufserte eine väterliche Teil-
nahme an dem Schicksal des unglücklichen Mönches
und half ihm nach und nach die Stufen des hie-
rarchischen Dienstes erklimmen. Später wurde
Pater Miletius Eminenz Miletius, Bischof von
Jakutsk und Wilujsk und starb als Bischof von
Bjasan und Sarajsk.
Ferner finden wir, Ende 1879, im Solowezky-
Gefängnis den Bauern aus dem Gouvernement
Twer , Jakob Potapow , wegen seiner Teilnahme an
der bekannten Demonstration, die den 6. Dezember
1876 am Kasanski-Platz in Petersburg stattgefunden
5*
— 68 —
hatte, und den Bauern aus dem Gouvernement
Jaroslaw, Matwei Grigorjew, der „in einer be-
sonderen Senatssitzung vom 18. — 25. Januar 1877
als Staatsverbrecher verurteilt worden war".
Zu dieser Gruppe zählen auch diejenigen,
die „wegen frecher, unanständiger und beleidigender
Äufserungen gegen fürstliche Personen und gegen
die Staatsgewalt" nach Solowki verbannt wurden.
Aus diesem Grunde eben wurden unter anderen
Porutschik Goroschanski , der Bauer Skutin und
viele andere ins Solowezky-Gefängnis geworfen.
Oft gingen „die frechen" und „beleidigenden
Äufserungen" gegen die höchste Gewalt aus der
„falschen" und „albernen" Auslegung der Heiligen
Schrift hervor. So z. B. wurde ein Kosakenfähnrich
aus Orenburg „wegen alberner Auslegung der hei-
ligen Schrift und der damit verbundenen frechen
Äufserungen gegen die Fürsten und die allerhöchste
Gewalt" ins Solowezky-Gefängnis gesteckt. Oft
wurden freche und beleidigende Äufserungen ohne
jede Absicht, „in betrunkenem Zustande" getan,
doch rettete dieser Umstand die Schuldigen von
der Bekanntschaft mit der Klosterkasematte nicht.
Der Pfarrer Wassiljew, aus dem Gouvernement
Tula, z. B. „tat in betrunkenem Zustande be-
leidigende Äufserungen gegen den Zaren". Er
wurde angezeigt und vor das Strafgericht in Tula
gestellt, das ihn zur Zwangsarbeit verurteilte,
aber der Zar liefs ihn nach dem Nowosilski-
Kloster verbannen. Da Pfarrer Wassiljew den
Berichten der Klosterbehörde zufolge auch dort
einen liederlichen und skandalösen Lebenswandel
— 69 —
führte, so beschlofs die Heilige Synode, ihn nach
dem Solowezky-Kloster zu verbannen.
Schliefslich wurden Leute nicht nur wegen
frecher und beleidi gender Äufserungen inS Solo wezky-
Gefängnis geworfen^ sondern auch wegen Ansichten
und Meinungsäufserungen, die den allgemein aner-
kannten Ansichten über Kirche und Staatsgewalt
widersprachen. So wurde ein gewisser Feodor
Podschiwalew „wegen seiner Meinungsäufserungen
über Religion und Staatsordnung, die seine ge-
fährliche Gesinnung verrieten", ins Klostergefängnis
geworfen, ebenso der Bauer aus dem Gouvernement
Jaroslow, Nikitin, „wegen unerschütter-
lichen Festhaltens an seinen gefähr-
lichen Ansichten über das heilige Kreuz, das
geistliche Gesangshaleluja und andere religiöse
Dinge, und wegen frecher politischer
Meinungen.
Abgesehen von seiner eigentlichen Bestimmung
— ein Verbannungsort für Verbrecher gegen die
Kirche und den Staat zu sein — war das Solowezky-
Gefängnis in gewissem Sinne auch eine Ver-
besserungsanstal t für verschiedene „rebellische" und
„stürmische" Naturen. So z. B. geriet der Haupt-
mann Hannibal „wegen Aufruhr und frecher
Handlungen" in dieses Gefängnis; der Pfarrer
Semenow „wegen frecher Reden"; der Gouver-
nements-Sekretär Dybowski „wegen Frechheiten
und Gotteslästerung" usw.
Manche wurden auf Veranlassung ihrer Ver-
wandten wegen lasterhaften Lebenswandels, Zank-
und Trunksucht nach Solowki verbannt. So z. B.
— 70 —
wurde der Kornett Spetschinski, von seinem Vater
„wegen lasterhaften Lebenswandels, Trunk- und
Zanksucht angeklagt "", nach Solowki verbannt, „bis
er sich in der guten Sittlichkeit und besonders in
den Regeln unserer Religion befestigt hat". Femer
wurden nach dem Solowezky-Gefängnis diejenigen
verbannt, die besonders schwere kriminelle Ver-
brechen , wie Vater-, Mutter-, Frauen- und Kindes-
mord oder widernatürliche Verbrechen, wie z. B.
Blutschändung begangen haben. Der Moskauer
Kaufmann Kasjanow wurde wegen der Ermordung
seiner eignen Schwester verbannt. Besonders oft
wurden Leute, die im wahnsinnigen Zustande Mord
begangen haben, nach Solowki verbannt. Ein Fabrik-
arbeiter wurde „wegen Ermordung seines Vaters
und seiner Frau im wahnsinnigen Zustande" zur
ewigen Verbannung nach dem Solowezky-Gefängnis
verurteilt. Ein Bauer aus dem Militärkreise
Pskow wurde „wegen Ermordung seiner drei
Töchter und seines Bruders im wahnsinnigen Zu-
stande und wegen vielfacher Versuche, noch
weitere Morde zu begehen, behufs Bufse lebens-
länglich" nach Solowki verbannt.
Ein zufälliger , unversehens vollbrachter Mord
wurde mit derselben Grausamkeit bestraft wie ein
absichtlicher. Nicht einmal die Minderjährigkeit
rettete in solchen Fällen von der Kloster Verbannung.
So wurde „der minderjährige Kosakensohn Iwan
Ponasenko wegen Ermordung eines 8 Monate alten
Mädchens" ins Solowezky-Gefängnis geworfen. Als
Ponasenko diesen Mord begangen , war er 10 Jahre
alt. Und obwohl man nicht daran zweifeln kann,
— 71 -
dafs diese Tötung ganz zufällig geschah, aus Un-
Vorsichtigkeit, so verblieb der unglückliche Knabe
dennoch 6 Jahre im Klostergefängnisse, bis er
schliefslich zum Militärdienste eingezogen wurde.
Der Bauer Iwan Bestoltschenkow , aus dem Gouver-
nement Tambow , wurde wegen Blutschändung mit
seiner Schwiegertochter auf Bestimmung der
Heiligen Synode für sieben und ein halb Jahre
nach Solowki verbannt. Das war eine Art Epidemie.
II.
Indem wir zu der Gruppe religiöser Verbrecher
übergehen, müssen wir bemerken, dafs meistens
Führer und Leiter der Altgläubigen (Raskol), Be-
gründer und Hauptvertreter verschiedener Sekten,
wie der bekannte „priesterlose" Hauptmann Papou-
lin aus Kostroma, der Kosakenkapitän Eulampeius
Kotelnikow aus Don, der bekannte Mystiker und
Abt des Selinginsky-Klosters. Israel, der Begründer
der „Gottesgemeinschaft" Artilleriekapitän Iljin,
„der geistliche König" der Pryguni Rudometkin,
der Kaufmann Adrian Puschkin aus Perm, der
Lehrer der Molokane in Saratow, Peter Plechanow,
der in den Annalen der Sekte Beguni und Pilger
berühmt gewordene Nikita Semenow Kitelow usw.
nach Solowki verbannt wurden.
Einfache Baskolniki und Sektierer wurden
nur wegen angeblicher oder tatsächlicher Ver-
breitung des Baskols und Sektierertums nach So-
lowki verbannt. Ein Verstofs gegen die heiligen
Gebräuche der orthodoxen Kirche wurde ebenfalls
— 72 —
mit Gefängnis bestraft. So z. B. wurden drei
Soldaten nach Solowki verbannt, „weil sie ihre
Kinder nicht nach dem Ritus der orthodoxen
Kirche haben taufen lassen wollen".
Alle Gefangenen wurden immer geheim be-
fördert, die Gründe der Verbannung nur allgemein
angegeben. Z. B. folgendermafsen : „wird wegen
gesetzeswidriger und äufserst schädlicher Hand-
lungsweise als Raskolnik verbannt" ; oder: „wegen
Ketzerei und Verwerfung der Sakramente der
Beichte und des heiligen Abendmahls* ; oder :
„wegen Verbreitung gefährlicher Lehren vom
Glauben und gotteswidriger Handlungsweise" ; oder :
^wegen Verhöhnung der heiligen Gottesbilder" ;
oder : „wegen wiederholten Übertritts von der Ortho-
doxie zum Raskol"; oder: „wegen Verbrechens
gegen die Geistlichkeit, das er (Stabskapitän Stsche-
golew) aus Unsittlichkeit und Unwissenheit be-
gangen hatte" usw.
Allein auch diese kurzen Charakteristiken
wurden nicht immer angegeben ; oft gefiel man sich
in noch lakonischeren und unbestimmteren Wen-
dungen, wie z. B.: „wegen Angehörigkeit zum
Raskol", „wegen des alten Glaubens", „wegen
Ketzerei" usw. Endlich befanden sich unter den
Klostergefangenen auch solche, von denen nicht
einmal die Klosterbehörde wufste, weshalb sie ver-
bannt wurden.
Viele wurden „wegen Abfalls von der Ortho-
doxie" und „wegen Verführung zum Raskol oder
zur Ketzerei nach Solowki verbannt". Der Beamte
der 8. Klasse Krestinski wurde wegen Verführung
— 73 —
seiner Frau und Kinder und sich selbst (!) zur
Ketzerei der „priesterlosen" Raskolniki ins Solo-
iv^ezky-Gefängnis geworfen. Besonders streng wurde
die Verftlhrung der Soldaten zum Raskol verfolgt.
Häufig waren die Verbannungsfälle wegen Ver-
weigerung des Militärdienstes. Die Verweigerung
des Militärdienstes geschah meistens aus religiösen
Gründen. So z. B. weigerte sich der Bauernrekrut
Iwan Schurupow aus dem Gouvernement Moskau,
19 Jahre alt, als Molokane den Eid zu leisten, als
er eingezogen wurde. Alle möglichen Gewalt-
mafsregeln halfen nicht* Er motivierte seine Ver-
weigerung damit, dafs es nach Gottes Lehre geboten
sei, nur Gott allein zu dienen. Dem Kaiser wolle
«r nicht dienen und den Eid nicht leisten, da er
ftlrchte, Meineid zu begehen.
Kaiser Nikolaus I. beschlofs auf Grund dies-
bezüglicher Berichterstattung, Schurupow unter
Bewachung nach dem Solowezky - Kloster zu ver-
bannen.
Die Gardisten Nikolgajew und Bagdanow
flüchteten vom Militärdienst in eine Baskolansiede-
lung, die ein Kleinbürger im Walde begründet
hatte. Als sie abgefafst wurden, verweigerte einer
von ihnen grundsätzlich den Militärdienst; da es
seiner Überzeugung widerspreche, wolle er den Eid
nicht leisten; der andere leistete den Eid nur
Tinter der Bedingung, dafs es ihm erlaubt würde,
sich zum alten Glauben zu bekennen. Die Militär-
behörden wollten sie deshalb Spiefsruten laufen
lassen, der Kaiser aber befahl, sie ins Solowezky-
Gefängnis zu stecken.
- 74 —
Bei der Verbannung nach Solowki wurde nur
in relativ wenigen Fällen die Sekte angegeben, der
der Verbannte angehörte. Am meisten hiefs es,
„dafs der und der wegen gotteswidriger Ketzerei"
oder „wegen Verbreitung des Sektierertums und
Frechheit gegen die geistliche Gewalt" verbannt
wird ; worin aber diese Ketzerei oder dieses Sektierer-
tum bestand — wurde nicht angegeben.
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sekte
kann man übrigens den kurzen Charakteristiken
entnehmen, die ihren Akten beigegeben sind.
So ist es z. B. nicht schwer, die Anhänger
der bekannten Sekte Beguni oder Wandernder
in folgenden Charakteristiken der Solowezky-
Gefangenen zu erkennen: „Jegor Iwanow wird als
Vagabund wegen Verschweigens seines Namens und
Nichtanerkennung der Gewalten verbannt", oder:
„N.N. als unbekannter Vagabund wegen Nicht-
anerkennung der heiligen Wundertäter, des Kaisers
und der Obrigkeit", oder: „Als Vagabund, der
Staatsgewalt und Religion nicht anerkennt" usw.
Nur die Anhänger einer Sekte wurden genau
bestimmt, nämlich die Skopzy, von denen nicht
wenige in den Solowezky-Kasematten waren. Einer
von ihnen, der Bauer Anton Dmitriew wurde wegen
Selbstkastrierung und Kastrierung seines Guts-
besitzers, Graf Golowkin, „für immer" ins Kloster-
gefängnis gesperrt. Er verblieb im Gefängnis — es
ist schrecklich es zu sagen! — ganze 65 Jahre.
Unter den Skopzy , die im Solowezky - Gefängnis
safsen, befanden sich privilegierte Personen und
Beamte, wie z. B. Stabskapitän Satonowitsch.
— 75 —
Die Pfarrer wurden meistens „wegen der Flucht
zu den Raskolniki^ verbannt. Dieser Hauptschuld
gesellten sich noch andere hinzu, wie Trunksucht^
lasterhafter Lebenswandel, Tobsucht u. dgl. mehr.
Der Pfarrer Alexei Stepanow wurde „wegen gesetzes-
widriger Handlungen, Betrunkenheit, Aufruhr und
wegen des Übertritts zu den Raskolniki" nach So-
lowki verbannt. Mönche wurden wegen Ketzerei,
„lasterhaften Lebenswandels'', „wegen lügnerischer
und verleumderischer Anzeigen", „wegen Trunk-
sucht und lasterhaften Lebenswandels" usw. nach
Solowki verbannt.
Den offiziellen Angaben zufolge ging das Ketzer-
tum mancher Elostergefangenen zu weit. So z. B.
befand sich in den fünfziger Jahren im Solowezky-
Gefängnis der Hofsänger Alexander Orlowski,
Abiturient des geistlichen Seminars in Tschemigow.
Er wurde — nicht mehr und nicht weniger — als der
Gottlosigkeit beschuldigt. Schenkt man aber
den selbstgeschriebenen Bekenntnissen des Gefan-
genen Glauben, so bestand sein Atheismus nur
darin, dafs er in einer betrunkenen Gesellschaft,
mit seiner Gelehrsamkeit prahlend, einige freche
Äufserungen gegen die Religion getan hatte. Dies
wurde von einem der Anwesenden der Obrigkeit
angezeigt, weshalb Orlowski des Atheismus be-
schuldigt und nach Solowki verbannt wurde.
Von den Sekten, die sich von der orthodoxen
Kirche besonders weit entfernt haben, nehmen die
Sabbatäer, d. h. die Anhänger der jüdischen Sekte,
den ersten Platz ein. Bekanntlich verwerfen die
Sabbatäer nicht nur die Orthodoxie, sondern das
- 76 —
Christentum überhaupt und sind der Überzeugung,
dafs der von Gott verheifsene Welterlöser, Messias,
bis jetzt noch nicht gekommen ist. Unter den
Arrestanten des Solowezky- Gefängnisses gab es
einige Anhänger des Jüdischen Glaubens", die „des
Abfalls vom Christentum beschuldigt wurden".
Was den Abfall von der Orthodoxie betrifft
— dessen wurden die meisten Gefangenen des
Solowezky-Klosters beschuldigt — , so geschah er
oft in äufserst schroffer Form. So z. B. wurde der
Aufseher Iwan Burakow — wie die Charakteristik
des Kloster Vorstehers lautet — „wegen des Abfalls
von der Orthodoxie zu einem nie dagewesenen
Raskor (er glaubt an gar nichts) ins Solowezky-
Kloster gesteckt. Den Berichten desselben Archi-
mandriten zufolge ist Burakow der „gröfste Gottes-
leugner", der „keiner Bekehrung zugänglich ist,
das Heiligtum, die Dogmen und Jesus Christus
«elbst lästert, an irgendwelche Offenbarungen glaubt
und noch heute Veränderungen in der Kirche und
in der ganzen Welt erwartet".
Unverhältnismäfsig häufiger wurden Leute
wegen eines Vergehens, das offenkundig nichts Ent-
setzliches enthält, verbannt. So z. B. wurden drei
Soldaten wegen des „alten Glaubens" ins Solowezky-
Gefängnis eingesperrt. Der Gemeine Potainikow
kam wegen „irrtümlicher Auslegung der Heiligen
Schrift" ins Klostergefängnis. Viele wurden „wegen
Verbreitung von Albernheiten" oder „wegen alberner
Prophezeiungen" nach Solowki verbannt. Der Bauer
Sergejew wurde „wegen des Sich-bekreuzens nach
altgläubiger Art und der Verbreitung von Albern-
— 77 —
heiten in religiösem Wahnsinn" verbannt usw.
Solcher Beispiele gibt es eine Menge.
Oben haben wir gesehen, dafs einen bedeuten-
den Teil der politischen Gruppe im Solowezky-
Gefängnis diejenigen Personen bildeten, die wegen
frecher und beleidigender Äufserungen gegen die
Staatsgewalt und ihre höchsten Vertreter dahin
verbannt wurden. Ebenso finden wir unter den
religiösen Gefangenen des Solowezky-Klosters eine
Menge Personen, die wegen „frecher und gottes-
lästernder Äufserungen gegen Religion, Kirche und
geistliche Gewalt, heilige Sakramente der ortho-
doxen Kirche und Gottesbilder" verbannt wurden.
Der Bauer Schubin aus dem Gouvernement Wjatka
verblieb „wegen des alten Glaubens und gottes-
lästernder Äufserungen gegen das heilige Sakrament
und gegen die Kirche" 63 Jahre im Solowezky-
Gefängnis!
Der Lehrer Woskressenskij wurde „wegen
frecher gotteslästerlicher Äufserungen" „lebensläng-
lich" ins Solowezky-Kloster gesteckt.
Besonders grausam wurde die „Beleidigung des
Heiligtums" bestraft, wenn das nicht nur durch
Worte, sondern auch durch Handlungen geschah. In
diesen Fällen wurden die Schuldigen mit Klosterver-
bannung auch dann bestraft, wenn alle Umstände
dafür sprachen, dafs der Angeklagte die Handlung
in einem unzurechnungsfähigen Zustande begangen
hatte. So z. B. wurde der Edelmann Mandryka, der auf
seinem Gute im Dorfe Tscheptschugi, Bezirk Kasan^
lebte und offenbar an psychischer Zerrüttung litt,
wegen Verletzung des Heiligtums in der Dorfkirche
— 78 —
nach Solowki verbannt und einer strengen Einzel-
haft im Klostergefängnis unterzogen.
Diese Tatsachen beweisen zweifellos erstens,
dafs im Solowezky - Gefängnis Leute wegen Ver-
brechen verschiedenster Art bestraft wurden,
zweitens zeigen sie deutlich, was für eine ungeheuer
wichtige Rolle dieses historische Gefängnis im
sozialen Leben des russischen Volkes auch in den
späteren Zeiten gespielt hat.
III.
Wer persönlich in Solowki war, der wird wahr-
scheinlich nie den düsteren Eindruck vergessen,
den das Klostergefängnis, das von den einheimischen
Einwohnern als „Zuchthaus" bezeichnet wird, auf
alle ohne Ausnahme macht.
Das altertümliche düstere dreistöckige Gebäude
ragte über die Mauer, die es von den anderen Ge-
bäuden des Klosters trennte, hinaus. Besonders
fesselte die Reihe dunkler, kleiner Fenster mit
glanzlosen, grünen Scheiben, dicken dreifachen
Rahmen und doppelten eisernen Gittern. Das
Gefängnis bestand aus engen, halbdunklen Kase-
matten, die von muffiger Feuchtigkeit und von dem
Gestank „aus den Eimern" durchtränkt waren und
jeder Ventilierung entbehrten. Überhaupt dachte
hier niemand an eine Ventilierung, noch an andere,
nicht weniger wichtige und elementare Forderungen
der Hygiene und Sanität. Das Solowezky-Gefängnis
stand — wie alle Klostergefängnisse überhaupt —
aufserhalb jeglicher Kontrolle der Gerichts- und
- 79 —
Gefängnisanstalten und wurde einzig und allein
vom Klostervorsteher, der auch als Kommandant
galt, verwaltet. Die Nahrung war schlecht und
Ärmlich. Die Gefangenen freuten sich wie Kinder,
wenn man ihnen frisches, weiches Brot brachte.
Die traurige Lage der Klostergefangenen wurde noch
ganz besonders durch die ausnehmend schlimmen
klimatischen Verhältnisse der Solowezky-Insel ver-
schlechtert: die Nebel, die dicht die Erde bedeckten,
das kalte, menschenleere Meer, langdauemde Polar-
nächte, der unendlich strenge Winter, das war die
Umgebung der Gefangenen, die Jahre, oft jahr-
zehntelang in den feuchten und stinkenden Kase-
matten des Klostergefängnisses schmachteten.
Besonders schwierig war hier die Lage der
Gefangenen, die aus dem Süden stammten: aus
Ukraina, Noworossien und Kaukasus.
Während des ganzen Winters sind die Solowki-
Einwohner von der ganzen übrigen Welt abge-
schnitten. Sie bekommen weder Briefe, noch
Zeitungen, da jeder Verkehr mit dem festen Lande
aufhört. Die freiwilligen und unfreiwilligen Be-
wohner von Solowki sind in vollständiger Unwissen-
heit darüber, was sich auf der weiten Gotteswelt
ereignet, was aufserhalb ihrer öden Insel geschieht.
Erst mit dem ersten Schiffe, das im Frühling oder
richtiger im Sommer zu ihnen kommt, erfahren sie,
was sich während der Zeit ereignet hat , da sie
keine Gelegenheit hatten, mit lebendigen Menschen
zu verkehren.
Mit höchster Ungeduld warten die Bewohner
des fernen Nordens auf den Sommer; für die In-
— 80 —
Sassen des Solowezky-Gefängnisses aber bringt auch
der Sommer keine Freude und kein Glück, da die
Beaufsichtigung und Behandlung der Arrestanten aus
Furcht, dafs sie fliehen, im Sommer strenger wird»
Im Winter kann man aus Solowki nicht fliehen. Da-
her geniefsen die Arrestanten während des Winters
eine gewisse Freiheit : sie werden aus den Kammern
in den Hof gelassen, um Wasser, Holz und Nahrung
zu holen. Aber mit dem Eintreffen des ersten
Schiffes verändern sich die Verhältnisse mit einem
Male, die Gefangenen dürfen nicht mehr das Tor
des Klosters verlassen, ihre Zellen werden ge-
schlossen, die Beaufsichtigung des Gefängnisses
wird strenger, alle Mafsregeln werden angewandt,
damit die Arrestanten weder mit den Pilgern noch
mit anderen Leuten, die im Sommer Solowki auf-
suchen, in Verkehr treten.
Das Gefängnis , welches sich bis auf die letzte
Zeit in Solowki befand, wurde 1718 begründet,
als in der nordwestlichen Ecke des Klosters, in
der Nähe des Koroschenski-Turmes mit den Erd-
gefängnissen, ein grofses, zweistöckiges „Gebäude^
errichtet war. Der untere Stock dieses Gebäudes
wurde 1798 für Gefängnisräume eingerichtet. Die
erste Zeit gab es darin zwölf Zellen. Dreifsig
Jahre darauf, 1828, zur Regierung Nikolaus' I.,
wurde auch der zweite Stock in ein Gefängnis ver-
wandelt, und zwar wurden 16 Zellen eingerichtet.
Zu dieser Zeit, d. h. im Anfang des eben ver-
flossenen Jahrhunderts, befanden sich in demselben
Gefängnisgebäude die Soldaten, die die Gefangenen
bewachten : die Korridore zwischen den Gefangenen-
— 81 —
Zellen waren der Platz für die Soldaten. Die nahe
Nachbarschaft der Wache mit den Gefangenen rief
zwischen ihnen häufig Konflikte hervor, daher
wurde 1842 auf Ersuchen des Archimandriten
Ilarius für die Soldaten und den Offizier eine be-
sondere Kaserne gebaut. Aufserdem bekam das
Gefängnis noch einen dritten Stock. In dieser
Gestalt existierte das Gefängnis bis auf die letzte
Zeit , d. h. bis zum Herbst des vergangenen Jahres
1903. Nach dem Zeugnis des Herrn Koltschin hat
sich in Solowki eine Legende erhalten, die sich
auf die Errichtung dieses Gefängnisses bezieht:
Bekanntlich wurde in der düstersten Zelle , die im
Süden des Klosters gelegen war, lange Zeit der
letzte Ataman der Saporoschzi (des kleinrussischen
Kosakentums), Kolnischewski , in Verbannung ge-
halten. Schon ein Greis, safs er in dieser Kase-
matte ganze 16 Jahre, als es sich plötzlich
herausstellte, dafs er gar nicht schuldig war.
Da wird erzählt, dafs der Zar den Kolnischewski
für das ertragene Leid belohnen wollte. Nun liefs
er ihn fragen, was für eine Belohnung er haben
möchte. „Alt bin ich geworden," an wertete
Kolnischewski, „die weltlichen Ehren verlocken
mich nicht, und Reichtum brauche ich auch nicht;
ich werde auch das nicht verzehren können, was
ich noch habe. Wenn der Zar-Väterchen aber mich
dennoch belohnen will, dann lafs er befehlen, für
die Verbrecher ein richtiges Gefängnis zu bauen,
damit sie nicht wie ich in den schwülen Kasematten
der Festung schmachten müssen."
Prugawin, Die Inquis. d. mss.-orthod. Kirche. 6
— 82 —
IV.
Lange Zeit war alles, was die Verbannung in
die Klostergefängnisse betrifft, in tiefes Geheimnis
gehüllt. Lange Zeit hatte die russische Presse
keine Möglichkeit, die Frage der Klosterverbannung,
insbesondere die Frage betreffend des Solowezky-
Gefängnisses und die darin herrschenden Ver-
hältnisse zu berühren. Erst 1880 , als der Minister
des Innern, Loris-Melikow , der Presse eine ge-
wisse Freiheit — für kurze Zeit nur allerdings —
gewährte, konnte man darüber sprechen. Man
konnte dann die Verhältnisse in dem Solowezky-
Kloster erörtern; man konnte den Wunsch aus-
sprechen , dafs die Gefangenen freigelassen werden
und dafs diese längst überwundene, mittelalterliche
Strafform abgeschafft wird.
Man konnte annehmen, dafs man auch in den
Eegierungskreisen allmählich zur Überzeugung von
der völligen Unbrauchbarkeit des Solowezky-
Gefängnisses gekommen ist. Und wir sehen in der
Tat, dafs die Zahl der Verbannten im Solowezky-
Gefängnisse nach und nach geringer wird. 1886
wurde diesem Gefängnisse ein starker Hieb versetzt.
Der Befehlshaber des St. Petersburger Kreises, Grofs-
fürst Wladimir Alexandrowitsch, besuchte Solowki
und fand, dafs die Garnison, die hier zur Bewachung
der Gefangenen bestimmt ist, völlig überflüssig sei,
da die Zahl der Arrestanten unbedeutend ist. Er
verfügte, dafs die Garnison Solowki verlasse.
Zur völligen Abschaffung des Solowezky-
Gefängnisses soll der Kriegsminister Kuropatkin
I — 83 —
beigetragen haben, der persönlich Solowki im
Sommer 1902 besucht hatte. Wie dem auch sei,
im nächsten Jahre 1903 sind die Gefängnisräume
in das Eigentum des Solowezky-Klosters über-
gegangen. Aufser dem Hauptgebäude , in dem sich
das Gefängnis befand, wurde dem Kloster auch
der zweistöckige steinerne Flügel, wo sich die
Soldaten und der Offizier der Wache aufhielten,
tibergeben.
Im früheren Gefängnisse, in dessen Kasematten
noch unlängst Gefangene schmachteten, wird nun
ein Krankenhaus nebst Kirche für die Amtbrüder-
gemeinschaft des Klosters eingerichtet. In dieses
Gebäude sind auch die Mönche übergeführt worden.
Der Flügel , in dem sich früher die Garnison auf-
gehalten hatte, ist jetzt von der Wohnung des
Arztes und der Apotheke in Anspruch genommen.
Auf Veranlassung A. N. Kuropatkins wurde ein
Militärarzt nach Solowki kommandiert, der jedes
Jahr von einem anderen abgelöst wird. Bis jetzt
entbehrte das Solowezky- Kloster jeglicher medi-
zinischer Hilfe, wenn man nicht den Feldscher als
solchen rechnet, der ab und zu Solowki aufsuchte.
Gegenwärtig ist von den früheren Gefangenen
des Klosters, wenn wir nicht irren, nur Peter
Lawrentjew in Solowki geblieben, der vor 23
Jahren in die Verbannung ging. Trotz der langen
Haft hat Lawrentjew seine Überzeugungen nicht
aufgegeben und benutzt, wie uns mitgeteilt
wird, jede Gelegenheit, um die Mönche zu be-
schimpfen und zu verhöhnen. Übrigens erzählten
mir Leute, die Gelegenheit hatten, sich mit ihm
6*
— 84 —
zu unterhalten, dafs die zwanzigjährige Gefangen-
schaft tiefe Spuren in seiner Seelen Verfassung
zurückgelassen und seinen Geist vollständig zer-
rüttet ^hat. Lawrentjew ist jetzt ein bejammerns-
werter, halbverrückter Mensch.
Mit der Abschaffung des Solowezky-Gefängnisses
hat auch die Klosterverbannung — dieser düstere
Überrest der längst vergangenen Jahrhunderte —
aufgehört zu existieren. Aber die Verbannung nach
Solowki hat nicht aufgehört zu existieren. Leider
findet noch heute die Verbannung nach dem
Solowezky-Kloster in ausgiebigstem Mafse statt.
Es ist übrigens zu bemerken, dafs gegenwärtig fast
ausschliefslich Leute, die dem geistlichen Stande
angehören, am häufigsten Mönche, die sich gegen
das Klosterreglement vergangen haben, nach
Solowki verbannt werden.
In den Jahren 1902—1903 gab es unter den
Verbannten des Splowezky-Klosters 10 Hieromönche
und Hierodiakone. Wir lassen ihre Namen folgen :
Feofan, Pawel, Iliodor, Serafim, Isichius,
Pafnutius, Iraklius, Wsewolod, Nikolai und
Alexander. Manche von ihnen sind „verboten"
und für immer aus der Kirche ausgeschlossen. Sie
sind für unbestimmte Zeit, bis zur weiteren Ver-
fügung der Heiligen Synode, verbannt. Die Lage
dieser verbannten Mönche ist selbstverständlich
wenig beneidenswert. Die meisten von ihnen sind
in die entlegenen Einsiedeleien verschickt und
unter strenge Aufsicht gestellt. Aber abgesehen
von den Mönchen, die sich gegen das Kloster-
reglement vergangen haben, werden auch Leute
; — 85 —
nach Solowki verbannt, die der „Ketzerei" ver-
fallen sind. So z. B. befindet sich jetzt der wegen
„Ketzerei" verbannte Archimandrit Michael und
sein Anhänger, der Mönch Isaakius, im SoloWezky-
Kloster. Beide sind sie bis zu ihrem Lebensende
nach Solowki verbannt und unter die strenge Aufsicht
des Klostervorstehers gestellt. Unter anderem ist
ihnen jede Korrespondenz strengstens verboten.
Worin eigentlich die Ketzerei des früheren Archi-
mandriten Michael bestanden, gelang mir leider
nicht zu erfahren, da die Mönche des Solowezky-
Klosters sehr ungern davon sprachen. Überhaupt
wird diese Sache streng geheim gehalten. Wenn
man der Person glauben darf, die angeblich Ge-
legenheit hatte, in die Personalien des Archiman-
driten Michael und des Mönches Isaakius Einblick
zu erlangen, so kann man vermuten, dafs sie beide
wegen der „Chlystowtschina" verbannt wurden.
Dem Berichte dieser Person zufolge hatte sich
Archimandrit Michael in ein Mädchen vom Lande
verliebt und sie derart vergöttert, dafs er sie als
eine Heilige zu betrachten begann. Isaakius teilte
die Überzeugungen seines Archimandriten und be-
fürwortete seinerseits die Heiligung dieses Mädchens.
So hat nun das Solowezky-Gefängnis seine lange
und traurige Existenz aufgegeben und ist endlich
in das Gebiet der Geschichte entschwunden. Ein
düsteres, blutiges Angedenken hatte es in den
Herzen vieler Tausender russischer Menschen hinter-
lassen. Wie ein Damoklesschwert hing es viele
— 86 —
Jahrhunderte über dem Denken und Gewissen des
russischen Volkes. Von nun an werden seine
düsteren Kasematten diejenigen nicht schrecken
und nicht ängstigen, deren Suchen nach geistiger
und sittlicher Wiedergeburt den Weg der ver-
alteten vergriffenen Schablone verlassen und die
engen offiziellen Schranken sprengen wird.
Das mufs man selbstredend von ganzem Herzen
begrüfsen, aber . . .
Aber es darf dabei nicht vergessen werden,
dafs das Solowezky-Gefängnis nicht einzig in seiner
Art war. Man darf nicht vergessen, dafs in einem
zentralen Kloster Rufslands — im Susdalschen
Euphimius-Kloster — noch bis auf den heutigen
Tag eine Festung und ein Gefängnis zugleich in
Funktion ist, in dem gegenwärtig 14 ^Verbrecher
gegen Religion und Kirche "" schmachten. Es ist
Zeit, dafs man sich an diese unglücklichen, offen-
bar völlig vergessenen Menschen erinnert, um so
mehr, als manche von ihnen mehr als 10, 15 und
sogar 20 Jahre in Einzelhaft sitzen. So z. B. sitzt
Nikolai Iwanowitsch Dobroljubow, aus Nischni-
Nowgorod gebürtig, schon 25 Jahre im Susdalschen
Klostergefängnis.
Genügt denn die zwanzigjährige strenge Einzel-
haft wirklich nicht, um sogar eine vollkommen be-
wiesene, ernste und gewichtige Schuld zu sühnen ?
Diese Erwägung hat um so mehr Gründe für sich,
als die Schuld derjenigen, die in den Kloster-
gefängnissen schmachten, keineswegs als bewiesen
gelten kann.
Unter diesen Verhältnissen wäre eine volle
— 87 —
Amnestie für diejenigen, die in den Kloster-
gefängnissen [schmachten, nur ein Akt unentbehr-
licher Gerechtigkeit.
Leidenschaftlich möchten wir diesen Akt eben
jetzt verwirklicht sehen, da über das Volk schwere
Tage gekommen sind. Einigkeit zwischen Volk und
Gesellschaft, ermunternder Aufschwung im öffent-
lichen Leben tut uns so not und wird von allen so
sehr herbeigesehnt.
Die Klosterverbannniig der letzten Zeil
Da in unserer Gesellschaft die Ansicht ver-
breitet ist, dafs die Klosterverbannung eine Er-
scheinung der mehr oder minder fernen Vergangen-
heit ist, und viele daher geneigt sind, dieser Straf-
form nur eine historische Bedeutung beizumessen,
halten wir es für notwendig, Tatsachen und Bei-
spiele aus der letzten Zeit anzuführen und darauf
näher einzugehen. Wir werden dadurch beweisen,
dafs diese Bestrafungsform trotz ihres mittelalter-
lichen Charakters leider bis jetzt bei uns sehr ver-
breitet ist.
Abgesehen davon, können die Beispiele und
Tatsachen, die wir hier anführen, die allgemeine
Bekämpfungsweise des Sektierertums und allerhand
religiös - ethischer Differenzen, an der unsere
Administration, die bürgerliche und die geistliche,
noch bis jetzt festhält, vorzüglich illustrieren.
Von diesem Standpunkte aus erhalten die folgen-
den Fälle eine grofse und ungeheure soziale Be-
deutung.
- 89 —
Hier die Tatsacheo:
I.
Erster Fall.
Im August 1902 wurde aus dem Susdalschen
Klostergefängnis Wassilij Ossipowitsch Rachow,
aus Archangelsk gebürtig, entlassen, nachdem er
volle acht Jahre in der Einzelhaft in den Kloster-
kasematten gesessen hatte. Es gelang uns, manche
Angaben über die Verbannung und Einkerkerung
Bachows zu sammeln. Wir halten es für nützlich,
diese Angaben zu veröffentlichen, da die Ver-
bannungsgeschichte ßachows uns beweist, wie
leicht es auch noch jetzt ist, in ein Klostergefängnis
zu geraten.
Biographische Angaben über Rachow und seine
philanthropische und aufklärende Tätigkeit, die ihn
eigentlich ins Susdalsche Gefängnis gebracht hatte,
finden wir in einem Briefe aus Archangelsk, der
in der Zeitschrift „Nedjelja" 1893 abgedruckt war.
Vor zehn Jahren, heifst es darin, war ein
gewisser Herr Rachow, 22 Jahre alt, in einem
Handelsgeschäft einer reichen deutschen Firma in
Archangelsk angestellt. Als Sohn wohlhabender
Eltern und von seinen Prinzipalen sehr geschätzt,
war er sozusagen an der Schwelle einer glänzenden
Laufbahn, als er plötzlich zum Entsetzen der
Eltern und zur nicht geringen Verwunderung der
Bekannten die Stellung und die Gesellschaft, in
der er verkehrte, aufgab und verschwand. Einige
Zeit darauf finden wir ihn schon in einem kleinen
— 90 —
Dorf, Bezirk Pineschsky. Von Hütte zu Hütte
wandernd, erteilt er dort den Bauernkindern
Unterricht im Lesen und Schreiben und in der
Religion, den Erwachsenen hilft er mit Rat und
Tat und liest ihnen an den Abenden und Feier-
tagen aus Büchern religiös-ethischen Inhalts vor.
Zu gleicher Zeit bekämpft er eifrig die Trunksucht,
Roheit und die anderen Fehler des Bauern, weckt
mit Erfolg sein Gewissen, so dafs die Bauern
förmlich aufleben. Rachow erscheint als will-
kommener Gast in jeder Hütte; er ist Lehrer,
Friedensstifter und Helfer zugleich. Die Bauern
geben das Trinken auf; die Bauernweiber, die von
den betrunkenen Männern so viel zu leiden hatten,
preisen die Vorsehung dafür, dafs sie ihnen einen
Menschen gesandt hatte, durch den sie das Licht
erblickten.
Ob diese aufklärende Tätigkeit Rachows lange
gedauert hatte, können wir nicht sagen, wir wissen
nur, dafs ihm infolge der Anzeige seitens des
Pfarrers des Ortes, dem er als verdächtig vorge-
kommen ist, verboten wurde, im Dorfe zu bleiben.
Rachow verreiste nach Archangelsk. Das war im
Frühling. Er hielt sich einige Tage im Hause
seiner Eltern auf, dann verschwand er wieder,
diesmal für lange Zeit.
Mehr als zwei Jahre vergehen, bis er wieder
in seiner Heimatstadt erscheint. Man erfuhr, dafs
er inzwischen den ganzen russischen Süden durch-
wanderte, in Athen und Palästina war^.
^ Nedjeya Nr. 16.
— 91 —
Endlich kommt er nach Odessa. Hier läfst er
sich gewohnheitsgemäfs in einer Vorstadt nieder
und kommt mit deren Bevölkerung, die aus Ar>
beitem, Bettlern und Barfüfslern bestand, in Be-
rührung. Er ist entsetzt über die fürchterliche
Not, in der alle diese Menschen leben. Er be-
schliefst, das zur Kenntnis der reichen Gesellschaft
in Odessa zu bringen, um ihre Teilnahme zu wecken
und sie zur Hilfe zu veranlassen.
Wie ist das aber zu machen.
Jeden Abend kommen die reichen und wohl-
habenden Leute im Theater zusammen ; da beschliefst
Rachow, ohne viel zu überlegen, ins Theater zu
gehen. Er nimmt ini Parterre Platz. Das Theater
war wirklich voll, fast alle Plätze waren besetzt.
Schon während der ersten Pause, sobald der Vor-
hang fiel und das Publikum bereit war, sich von
seinen Plätzen zu erheben, wandte sich ßachow zu
ihm mit einer glühenden Rede, in der er die Not
und das Elend der Vorstadt schilderte, und forderte
die Gesellschaft zur unverzüglichen Hilfe auf.
Man kann sich leicht das Ende dieses Ver-
suches vorstellen: die Polizei erschien natürlich,
dann kam die Verhaftung, die Protokollaufnahme
usw. Schliefslich wird Rachow per Etappe aus
Odessa nach Archangelsk befördert. Hier wird er
ins Gefängnis geworfen und als „Verbreiter von
Ketzerei" angeklagt. Da man aber weder in seiner
Rede, noch in seinen Handlungen etwas Verdächtigem
finden konnte, wurde er freigesprochen und ent-
lassen.
Bald darauf zieht Rachow wieder nach dem
— 92 —
Süden und wird ein Jahr später per Etappe aus
Kiew nach seiner Heimatstadt befördert. Es ist
merkwürdig, dafs er im Gefängnisse und unterwegs
immer munter und lustig und von unwider-
stehlichem, wohltuendem Einflüsse auf seine Ge-
fängnisgenossen war. Den Aussagen der Gefängnis-
wächter zufolge wurden Strolche, Diebe sittlich
reiner, als sie seinen überzeugungsvollen Reden
lauschten. Manche haben direkt einen neuen Lebens-
wandel begonnen.
Als Rachow wieder nach Archangelsk kam,
ging er ganz in der Liebestätigkeit für die Nächsten
im Geiste des reinen Christentums auf. Seine De-
vise war: „Alles für die anderen, nichts für sich
selbst". Er knüpft enge Beziehungen zu den armen
Leuten, die in der Vorstadt leben, an und
studiert aufmerksam und eingehend die Bedürf-
nisse dieser Menschen. Tagtäglich, vom frühen
Morgen bis zur späten Nacht, besucht er die Nacht-
asyle und verschiedene Herbergen, in denen sich
Armut, Laster und Verbrechen nisten, lehrt die
Menschen das Gute, verteilt Bücher, hilft, wo und
wie er nur kann, versöhnt die Streitenden mit-
einander. Im Anfang des Winters 1893 mietete
Rachow in den zwei entlegensten Stadtvierteln, die
Ton den ärmsten Leuten bevölkert waren, zwei
Wohnungen, wo er täglich etwa hundert und mehr
Menschen speiste. Diese Tischgesellschaften be-
gannen und schlössen in der Regel mit dem Vor-
lesen aus dem Evangelium und den Heiligen-
geschichteu, die er erläuterte, und mit einem Gebet.
Auch sonst kamen viele in Rachows Speisehallen
— 93 —
aus Neugier, um zu hören, wie er spricht und vor-
liest. Da er aber keine Erlaubnis hatte, diese
Speisehallen zu eröffnen, so wurden sie geschlossen.
Ohne die Möglichkeit zu haben, die Wohltätigkeit
in grofsen Dimensionen zu organisieren, sah sich
Rachow gezwungen, seine Tätigkeit auf diesem Ge-
biete zu beschränken. Dann begann er von Haus
zu Haus, von Hütte zu Hütte zu wandern. Und
zwar gelang es ihm — wie der Korrespondent ver-
sichert — überall zur rechten Zeit zu erscheinen,
als unverzügliche Hilfe und Trost erforderlich
waren.
Im Winter verlies er, während es noch dunkel
war, den Hof mit einem mit Mehl, Brot, Holz usw.
beladenen Schlitten. Er machte vor bestimmten
Hütten Halt, liefs an deren Schwelle Mehl oder
Holz zurück und entfernte sich dann, ohne dafs
ihn jemand gesehen hätte.
Rachow hatte auf die armen Leute und die
Arbeiter der Stadt einen wohltuenden, moralisieren-
den Einflufs. So z. B. beginnen nun die Arbeiter auf
manchen Sägemühlen den Tag mit einem Gebet ; man
hört sie nie mehr schimpfen, streiten, lästern. Sie
sind alle in gehobener Stimmung, und das beein-
ilufste auch die Leistungsfähigkeit günstig.
Zum Schlufs fragt der Verfasser der Korre-
spondenz: „Wo nimmt denn dieser sonderbare
Mensch Mittel her, um eine Masse von hungernden
Menschen zu speisen, Bücher zu verteilen und
ihnen auch sonst zu helfen?" „Gott gibt sie", würde
Rachow selbst geantwortet haben. Mittel werden
ihm von überall her zugeschickt, und in dieser
— 94 —
Hinsicht ist er ebenso versorgt worden wie Joann
Kronstadtsky ^.
Besonders viel hat Rachow für den ärmsten
Teil der Bevölkerung von Archangelsk während
der Hungersnot 1892 getan. Abgesehen von den
Speisehallen, die er für die Armen und Bettler der
Stadt eröffnet hatte und die auch zugewanderte
Pilger aufsuchten, die sich alljährlich in Massen
nach dem Solowezky- Kloster begaben, richtete
Rachow in einem äufsersten Stadtviertel, wo nur
arme Leute wohnen, in Kusnetschicha, Werkstätten
oder richtiger Arbeitshäuser, ein, wo die Armen,
die selbst keine Mittel hatten, sich Werkzeuge ver-
schaff'en und verschiedene Arbeiten verrichten
konnten. Hier konnten Männer und Frauen arbeiten.
Dann richtete er ein Waisenhaus für 40 Kinder
ein, in das vorzugsweise Säuglinge und Kinder bis
zum 12. Lebensjahre aufgenommen wurden. End-
lich begründete er ein Nachtasyl für Obdachlose.
Aber auch das befriedigte ihn scheinbar nicht, und
er war immer bereit, alles, was er hatte, mit den
Armen zu teilen. Er hatte nichts, was nur ihm
allein gehörte und was er nicht mit den Armen,
Bettlern und Barfüfslern teilen wollte; sah er
einen in zerrissener Kleidung, so vertauschte er
mit ihm das, was er anhatte. Einmal begegnete
Rachow einem Bettler, der vor Kälte zitterte; er
zog seinen Fuchspelz , den er eben vom Vater als
Geschenk bekam, aus und gab ihn dem Bettler;
es ist natürlich, dafs alle Armen der Stadt Rachow
» Nedjelja 1893, Nr. 16, p. 507.
— Go-
als ihren Wohltäter betrachteten. Sie vergötterten
ihn förmlich. Was die anderen Schichten der Be-
völkerung betrifft, so behandelten sie diesen aufser-
gewöhnlichen Menschen sehr verschieden, wenn sie
auch alle von der Aufrichtigkeit seiner Gesinnung
und der Reinheit der inneren ethischen Motive
seiner Tätigkeit vollständig überzeugt waren. Die
einen hielten ihn für einen Sonderling und ein
Original, die anderen für einen religiösen Mystiker
und „für einen Menschen, der nicht von dieser
Welt ist", die dritten endlich für einen anormalen
Menschen, bei dem „etwas da oben" fehlt.
Wie dem auch sei, es ging lange Zeit alles ziem-
lich gut vor sich : die Anstalten, welche Rachow zu-
gunsten der Bevölkerung ins Leben rief, entwickelten
sich allmählich und gediehen. Plötzlich verbreiteten
sich in der Stadt sonderbare unruhige Gerüchte.
Die Geistlichkeit des Ortes argwöhnte, Rachow
bekämpfe die Gebräuche der orthodoxen Kirche.
Geheimnisvoll erzählte man von Büchern und
Broschüren, aus denen er manchmal in seinen
Speisehallen vorlas und die der Lehre der ortho-
doxen Kirche widersprachen. Man sprach davon,
dafs Rachow die heiligen Wundertäter nicht ge-
nügend ehre.
Haussuchungen wurden in den von ihm be-
gründeten Anstalten vorgenommen. Es wurde aber
dabei nichts Verbrecherisches und Verdächtiges
entdeckt. Alle Gottesbilder waren am geeigneten
Platz; die Broschüren, die die Pfarrer des Ortes
so beunruhigten, waren die harmlosesten Schriften,
die durch jede nur mögliche Zensur gegangen waren.
— 96 —
Dennoch wurde auf Veranlassung der geist-
lichen Behörden eine gerichtliche Verfolgung gegen
Rachow eingeleitet. Er wurde in Archangelsk vor
Gericht gestellt. Als man ihm vorschlug, sich
einen Verteidiger zu wählen, schlug er es ab
und sagte nur: „Gott wird mich verteidigen."
Leider konnten wir nicht erfahren, wie die An-
klage gegen Rachow abgefafst war; er wurde,
wie erwähnt, freigesprochen, da das Gericht in
seinen Handlungen nichts Verbrecherisches finden
konnte.
Die Administration am Orte, mit dem Gou-
verneur A. P. Engelhardt an der Spitze, hatte
gegen Rachow und seine Tätigkeit ebenfalls nichts
gehabt. Die eparchiale Behörde in Archangelsk
aber war darüber ofFenbar anderer Meinung, da
sie es für notwendig hielt, die Verbannung Rachows
nach dem Susdalschen Spas-Euphimius-Kloster zu
beantragen. Der diesbezügliche Antrag wurde als
begründet befunden, und Oktober 1894 traf die
Verfügung über die Verbannung Rachows nach dem
Susdalschen Kloster aus Petersburg ein. Gleich
darauf wurde er verhaftet und zum grofsen Ent-
setzen der Mutter und des Vaters ins Gefängnis
gesteckt. Dann mit dem ersten Gefangenen-
transport am 20. Oktober 8 Uhr früh nach Susdal
geschickt. Es wurde ihm nur erlaubt, von Vater
und Mutter Abschied zu nehmen.
Die Verbannung des einzigen Sohnes, auf den
die Familie alle ihre HofFnungen gesetzt hatte,
war ein harter Schlag für den alten Vater und
die Mutter. Die letztere hielt es nicht aus: sie
— 97 -
wurde krank und starb drei Monate darauf, am
10. Februar 1895, „aus Kummer". Nach dem Tode
der Frau blieb der alte Mann ganz und gar ver-
einsamt. Bitter, wenn auch ohne jede Erbitterung,
klagte er über den schweren Schlag des Schicksals,
der ihn getroffen hatte. Der unglückliche Vater
fürchtete, dafs die strenge Einzelhaft den mystisch
gestimmten Sohn besonders mitnehmen und geistig
völlig zerrütten würde. Um so mehr, als der
junge Rachow früher schon einmal psychisch er-
krankt war.
Der unglückliche alte Mann hoffte immer durch
Bitten, die er an verschiedene hochgestellte Persön-
lichkeiten richtete, die Freilassung seines Sohnes
aus dem Klostergefängnis zu erreichen. Er bat,
dafs man ihn seiner Obhut anvertraue. Umsonst!
Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung: der alte
Mann starb, ohne die Freilassung des Sohnes aus
dem Klostergefängnis zu erleben.
Dennoch ist anzunehmen, dafs die Bitten und
Gesuche des alten Rachow nicht ganz ohne Erfolg
geblieben sind ; wenigstens wurde — wie wir oben
bereits mitgeteilt haben — Wassilij Ossipowitsch
Rachow im August 1902 aus dem Susdalschen
Gefängnis entlassen. Er liefs sich in Archangelsk
bei seinen Verwandten nieder. Die schwere, acht-
jährige Einzelhaft ging an ihm nicht spurlos vor-
über. Leute, die Rachow vor und nach der Ver-
bannung kannten, erzählen, dafs die Befürchtungen
seines Vaters wegen des geistigen Zustandes seines
Sohnes ganz begründet waren. Die langjährige Haft
verlieh dem Seelenzustand des unglücklichen Stiäf-
Prugawin, Die Inquis. d. mss.-orthod. Kirche. 7
- 98 —
lings ihr Gepräge. Er ist jetzt kaum fähig, weiter
zu leben und zu arbeiten.
Das ist die traurige Geschichte Rachows. Wir
erzählten sie hier einerseits auf Grund der Zeitungs-
nachrichten, anderseits auf Grund der Mitteilungen
seines Vaters und anderer Personen, die ihn näher
kannten. Da wir aber die offiziellen Akten nicht
zur Hand hatten, so ist es möglich, dafs sich in
unsere Darstellung manche Fehler eingeschlichen
haben. Daher darf man im Interesse der Wahrheit,
im Interesse der Aufklärung dieser äufserst trau-
rigen und tragischen Geschichte wünschen, dafs die
^parchiale Behörde in Archangelsk sich entschliefse,
alle Gründe mitzuteilen, die zur Verbannung und
zur Einkerkerung eines Menschen geführt haben,
dessen Tun und Lassen ganz und gar von dem
hohen Geiste des wahren Christentums ge-
tragen war.
Ohne ausführliche Kenntnis aller Umstände
aber drängen sich jedem unwillkürlich die Fragen
auf: Warum hat denn dieser seltene Altruist, der
sein ganzes Leben dem Ideale des Evangeliums
gemäfs aufzubauen suchte, so grausam leiden
müssen? Warum ist das Leben dieses Menschen
und seiner Angehörigen zerstört worden? Vielleicht
hatte sich in diese Sache ein fataler Fehler seitens
derjenigen eingeschlichen, welche die Verfolgung
gegen einen Menschen einleiteten, in dessen Tätig-
keit das Strafgericht keine Spur von einem Ver-
brechen entdecken konnte.
— 99 —
II.
Zweiter Fall.
Unter den Sträflingen, die noch heute hinter
dem Gitter des Susdalschen Klostergefängnisaes
schmachten, befindet sich ein gewisser Jermolai
Feodossejew , der auf Veranlassung der eparchialen
Behörde in Samara hierher verbannt wurde. Schon
fünf Jahre sitzt er in Einzelhaft, in einer Kloster-
zelle. Über die Gründe dieser Verbannung finden
wir im „Berichte über das Sekten wesen in der
Eparchie Samara für das Jahr 1900" folgende Er-
klärung :
„Die eparchiale Obrigkeit sah sich gezwungen,
den schädlichen Ketzern und Propagandisten gegen-
über, die sich nicht bekehren lassen, zum äufsersten
Mittel zu greifen, und ersuchte die Heilige Synode,
dafs sie sie aus der orthodoxen Kirche ausschliefse
und nach dem Susdalschen Spas-Euphimius-Kloster
verbanne. So mufste sie auch Jermolai Feodossejew
behandeln, der in einer Höhle wohnte und durch
seine Scheinheiligkeit (?) die Massen des einfachen
Volkes verlockte." ^
Man mufs wenigstens einen Augenblick bei
diesen Zeilen des „Berichtes" verweilen, um ihren
verborgenen Sinn zu erfassen. Vor allem ist die
Offenherzigkeit hervorzuheben, mit der die Samarer
Eparchie ihr Verhalten zu „den Ketzern" und
„Propagandisten" schildert, die „sich nicht bekehren
lassen und schädlich sind". Diesen Leuten gegen-
' Samarer eparchiale Nachrichten, 1901. Nr. 16.
7*
;^/^v
— lou —
über hält sie sich für berechtigt, „zu dem äufsersten
Mittel zu greifen", d. h. mit ruhigem Gewissen
ihren Ausschlufs aus der orthodoxen Kirche und
ihre Verbannung nach dem Spas-Euphimius-Kloster
zu verlangen. Und obwohl dieses „Mittel** von der
eparchialen Obrigkeit selbst als „extremes" be-
zeichnet wird, fühlt sie sich doch dadurch in
keiner Weise getroffen und hält es offenbar für
notwendig, nicht nur um die Ketzer und Propa-
gandisten bekämpfen zu können, sondern überhaupt,
weil es ein zweckmäfsiges und natürliches Mittel
ist. Da ferner die Begriffe „Ketzerei", „Propa-
ganda" äufserst dehnbar und unbestimmt sind, so
können wir nur bedauern, dafs die eparchiale
Obrigkeit in Samara es nicht für notwendig hielt,
wenigstens zum Teil Aufschlufs darüber zu geben,
wen sie eigentlich als „Ketzer" und „Propa-
gandisten" betrachtet, und wie sie die „schädliche
Gesinnung" , die ihrer Überzeugung nach nur mit
Klostergefängnis bestraft werden mufs, auffafst?
Wenn wir dann den Fall Jermolai Feodossejew
in Betracht ziehen, gelegentlich dessen die ep-
archiale Obrigkeit ihre prinzipielle Ansicht über die
Klosterverbannung ausgesprochen hat, so kann
man nicht umhin, das Befremden darüber zu
äufsern, wie sie ihre Beschuldigungsgründe und
die Anklage, infolge deren Feodossejew ins Kloster-
gefängnis geworfen wurde, formuliert.
Die Samarer Eparchie gibt sich in ihrem Be-
richte Mühe, uns davon zu überzeugen, dafs sie
genötigt war, bei Feodossejew das äufserste Mittel
zu ergreifen, d. h. ihn nach Susdal zu verbannen.
— 101 —
weil er „in einer Höhle lebte und durch seine
Scheinheiligkeit die Massen des einfachen Volkes
verführte" K
Wir sind berechtigt, daraus zu schliefsen, dafs
wir in der Person Feodossejews weder einen „Ketzer"
noch einen „Propagandisten" zu sehen haben,
sondern einen Mystiker und tiefreligiös gestimmten
Menschen, der nach dem Beispiele der Heiligen
früherer Zeiten beschlossen hat, in einer Höhle zu
leben und dadurch seine Seele zu retten. Wäre
Feodossejew ein Sektierer und ein Ketzer gewesen
und noch dazu „gefährlich" und „unverbesserlich",
so hätte dieser Umstand im Berichte eine ganz
andere Betonung gefunden.
Auf diese Weise bestehen alle „Verbrechen"
Feodossejews gegen Kirche und Staat darin, dafs
er 1. in einer Höhle lebte, 2. durch seine Schein-
heiligkeit die Massen des einfachen Volkes ver-
führte. Darf man darüber noch Worte verlieren,
dafs diese zwei „Verbrechen" nichts Verbrecherisches
in sich enthalten und unter keinem Artikel der
bei uns herrschenden Gesetze subsumiert werden
können ? So sehr sich bei uns in Rufsland das
System der Bevormundung und der strengen
Reglementierung dem Bauerntum gegenüber ein-
gewurzelt hatte, so sehr dadurch nicht nur sein
öffentliches, sondern auch sein Privatleben beein-
^ Erläuterung des Zensors Hieromönch
Alexander: Wenn die Samarer eparchiale Obrigkeit
Feodossejew in diesem Sinne schilderte, so hat sie offenbar
dafür sehr wichtige und ernsthafte Gründe gehabt
— 102 —
flufst wird, ist es dennoch auch bei uns gesetzlich
nicht verboten, z. B. in einer Höhle zu leben und
„das Volk zu verlocken". In diesem Falle wurde
die Schuld Feodossejews , wie aus dem Berichte
zu ersehen ist, dahin formuliert, „dafs die Heilig-
keit", durch die er die Massen „verlockte", eine
„Scheinheiligkeit" war. Da aber der Bericht den
Beweis dafür schuldig bleibt und nicht einmal an-
gibt, wer die Richter und Experten sind, denen es
gegeben war, in den Herzen der Menschen zu
lesen, so ist es klar, dafs diese Beschuldigung
nur eine leere Behauptung ist. Ja, sogar wenn
wir die Ansichten der Samarer Eparchie teilen
und anerkennen wollten, dafs die Heiligkeit
Feodossejews wirklich nur eine Scheinheiligkeit
war, so drängt sich doch unwillkürlich die Frage
auf: seit wann ist denn die „Scheinheiligkeit" ein
strafrechtlich zu verfolgendes Verbrechen, das mit
vieljähriger Gefängnishaft strengstens bestraft
werden mufs?
Freilich erscheinen Heuchelei und Scheinheilig-
keit unter anderen Fehlem der sittlichen Natur
des Menschen als die gröfsten und widerlichsten
Laster. Der Typus des Heuchlers und Schein-
heiligen, der Tartüfftypus weckte immer und über-
all das Gefühl der Entrüstung , aber nirgends, nie
und niemand wagte es — nicht einmal während
der heiligen Inquisition — , zu beantragen, diese
Menschen mit Gefängnis zu bestrafen.
Dann äufsert die eparchiale Obrigkeit kein
Wort darüber, auf wessen Veranlassung die Ver-
folgung gegen Feodossejew begann. War eine
— 103 —
Untersuchung eingeleitet? Wer leitete die Unter-
suchung : der Pfarrer des Ortes oder der Missionar,
ein Mitglied des geistlichen Konsistoriums oder ein
Vertreter der administrativen und gerichtlichen
Gewalt?
Ferner wissen wir nicht, ob Feodossejew die
Möglichkeit hatte, sich zu rechtfertigen. Ob
ferner, bevor man ihn zu bestrafen beschlofs^
Versuche gemacht wurden, auf Feodossejew durch
die Mittel einzuwirken, die in solchen Fällen für
die geistliebe Gewalt bindend sind.
Auf alle diese Fragen finden wir in dem Be-
richte der eparchialen Obrigkeit keine Angaben,
keine Erläuterungen.
Unter diesen Umständen mufs man es sehr
bedauern, dafs erstens die Samarer Geistlichkeit
es für möglich hielt, die Verbawnung Feodossejews
nach der Susdalschen Festung ohne jeden Grund
zu beantragen, und zweitens — was noch wichtiger
ist — , dafs dieser Antrag in den höheren geist-
lichen Kreisen Gehör gefunden hat und ange-
nommen wurde.
Wie dem auch sei, wir stehen nun vor einer
Tatsache, die fast unwahrscheinlich erscheint: Ein
Mensch, auf dem keine Spur von einem Verbrechen
lastet, sitzt bereits fünf Jahre im Gefängnis, und
niemand weifs, wie lange er noch sitzen wird.
Haben wir doch geseheD , dafs Menschen ohne An-
gabe der Strafzeit in Klostergefängnisse geworfen
werden. Wir haben auch gesehen, dafs eine solche
Hftft oft Jahrzehnte und si^gar lebenslänglich
dauern kann.
— 104 —
IIL
Dritter Fall.
In demselben offiziellen Berichte über das
Sekten wesen der Samarer Eparchie für 1900, dem
wir den Fall Feodossejew entnommen haben, wird
auch noch eine zweite Verbannung nach dem
Susdalschen Klostergefängnis mitgeteilt. Um die-
>«elbe Zeit wurde in dasselbe Gefängnis der Bauer
Iwan Tschurikow aus dem Gouvernement Samara
eingesperrt, dessen Schuld dem Berichte nach
darin bestand, dafs er „sich für einen Heil-
kundigen und einen Wundertäter ausgab und somit
auf das religiöse Gefühl der Einfältigen speku-
lierte".
In die Klosterverbannung geht also auch dies-
mal kein „gesinnungsgefährlicher Ketzer'', kein
„Propagandist", der gefährliche Lehren verbreitet,
und kein Sektierer einer schädlichen Sekte, sondern
ein Mensch, der selbst nach der Ansicht der ep-
archialen Obrigkeit nur darin schuldig ist, dafs er
auf das religiöse Gefühl des einfachen Volkes
spekulierte. Freilich mufs man auch hier be-
dauern, dafs die Samarer Obrigkeit es nicht für
notwendig hielt, die Beschuldigung Tschurikows
irgendwie mit Tatsachen zu belegen. Allein, wir
geben zu, dafs diese Beschuldigung begründet ist,
und dafs Tschurikow sich wirklich für einen
Wundertäter ausgab und auf das religiöse Gefühl
des einfachen Volkes spekulierte. Dann müfste aber
in seinen Handlungen Betrug entdeckt worden sein,
unlauterer Erwerb, kurz, Verbrechen und Vergehen,
— 105 —
die in unseren Gesetzen genau vorgesehen sind und
streng bestraft werden.
Folglich : ist die Schuld Tschurikows bewiesen,
so mufs er einer bestimmten gesetzlichen Be-
strafung vom Zivilgerichte unterzogen werden,
welches zweifellos in der Lage wäre, den Schuldigen
für seine verbrecherische Tätigkeit nach Gebühr zu
bestrafen und die Bevölkerung davor zu warnen.
Die geistliche Behörde in Samara aber hielt diesen
einfachen Weg des Gesetzes aus irgend einem
Grunde für unbequem und zog es vor, Tschurikow
auf dem administrativen Wege zu bestrafen, indem
sie seine Einsperrung im Klostergefängnis be-
antragte. Wahrscheinlich wurde dieser Antrag als
begründet befunden, da Tschurikow gleich darauf
ohne Verhör und Gerichtsverhandlung verhaftet und
in Einzelhaft in die Susdalsche Festung gebracht
wurde. Wofür ? Auf wie lange ? Niemand weifs es.
Der Fall Tschurikow wie die eben angeführten
Fälle (Rachow und Feodossejew) zeigen deutlich,
dafs es auch heutzutage leicht ist, in ein Kloster-
gefängnis zu geraten. Aus dem aber, was wir früher
mitgeteilt haben, haben die Leser zweifellos
die Überzeugung gewonnen, dafs es ebenso leicht
ist, ins Gefängnis zu geraten, als es schwer ist,
davon loszukommen. Zum Glück fand Tschurikow
Beschützer, die in gewissen Kreisen Einflufs
hatten, und es gelang ihm bald uqd ganz uner-
wartet, die Susdalsche Festung zu verlassen. Da-
mit waren aber die geistlichen Behörden in
Samara sehr unzufrieden. Der Bericht der ep-
archialen Obrigkeit, in dem mitgeteilt wird, dafs es
— 106 —
Tschurikow im Jahre 1900 gelungen ist, „auf unbe-
kannte Weise der Verbannung zu entgehen", scheint
diese Verfügung, d. h. die Freilassung Tschurikows,
zu tadeln. Um die verderblichen Folgen dieser
Verfügung nachzuweisen, werden folgende Mit-
teilungen über Tschurikows Leben und Tätigkeit ge-
macht. „Tschurikow benutzte seine Freiheit — heifst
es im Bericht — , um mehr Popularität zu gewinnen.
£r erklärte seine Freilassung nicht als eine Gnade
der Obrigkeit, sondern als eine Anerkennung
seiner Schuldlosigkeit und als eine Bestätigung der
Wahrheit seiner Lehre." ^
^ Anmerkung des Zensors Hieromöncb
Alexander. In letzter Zeit beginnen viele Petersburger,.
Tschurikow nicht mehr so sympathisch zu behandeln wie früher.
Der Grund dafür liegt darin, dafs Tschurikows Persönlichkeit
sich mehr und mehr aufklärt . . . Tschurikow begeht sonder^
bare Handlungen. Z. B. auf photographischen Bildern ist er
mit einem grofsen Kreuze auf der Brust dargesteUt, als wäre
er ein Geistlicher. In seiner Wohnung hielt er „Versamm-
lungen" ab, wobei er die Anwesenden „mit Öl salbte^. Zwar
sagte er, er täte das nicht als Pfarrer, sondern aus „Bruder-
liebe**; warum äufserte aber Tschurikow seine Bruderliebe in
Handlungen, die das Vorrecht der Pfarrer sind? Es gibt noch
viele andere „Sonderbarkeiten** in Tschurikows Lebens- und
Handlungsweise — Eigentümlichkeiten, die das Gefühl eines
orthodoxen Christen verletzen müssen. Wer diese Absonder-
lichkeiten kennen lernen will, den verweisen wir auf das Mai-
beft der Zeitschrift „Der orthodoxe Wegweiser** (1904X hi dem
eine ausführliche Korrespondenz „über das Brüderchen Iwa-
nuschka** — wie man in der Regel Tschurikow tituliert — ent-
halten ist. Folglich darf man Tschurikow nicht als einen ganz
harmlosen Menschen betrachten und ohne weiteres die Gründe
verwerfen, die zu seiner Ausweisung aus dem Gouvernement
Samara gefuhrt haben.
— 107 —
„Jetzt lebt er in Petersburg und zÄhlt Hunderte
von Anhängern, die ihm seine Existenz gesichert
und ein luxuriös ausgestattetes Haus für ihn ge-
mietet haben."
Der Fall Tschurikow verdient ganz besondere
Beachtung darum, weil seine Verbannung, wie man
uns versichert, allerhöchst nicht sanktioniert wurde.
Noch mehr. Es bestehen beharrliche Gerüchte,
dafs die Heilige Synode die Klosterverbannung
Tschurikows nicht verfügte, und dafs die ganze Ge-
schichte darauf zurückzuführen sei, dafs das geist-
liche Konsistorium in Samara seine Tätigkeit als
schädlich erklärte und verordnete, ihn nach dem
Susdalscben Kloster zu bringen. Das erfüllte auch
die Polizei mit einer Genauigkeit, die einer besseren
Sache würdig gewesen wäre.
Infolge des tiefen Geheimnisses, in das alles,
was die Klosterverbannung angeht, gehüllt ist,
zirkulieren in der Gesellschaft wie im Volke ver-
schiedene Gerüchte, die zwar mitunter übertrieben
sind und der Wahrheit nicht immer entsprechen, aber
dennoch verbreitet werden und Verwirrung und
Unruhe in den Köpfen vieler Menschen anrichten.
Man mufs daher das Erscheinen eines offiziellen
Berichtes wünschen, der ähnlichen, oft phantasti-
schen Gerüchten ein Ende machen könnte. Nur
müfste dieser Bericht genaue Zahlen und die
Namen derjenigen enthalten, die dieser grausamen
Strafe anheimfielen, und die Gründe angeben, die
ihre Notwendigkeit hervorgerufen haben.
- 108 —
IV.
Wir haben die Aufmerksamkeit des Lesers auf
die ersten besten Verbannungsfälle aus der letzten
Zeit gelenkt. Ähnliche Fälle könnten aber in
Menge angeführt werden. Wenn in unserer Presse
nur selten und dazu nur kurze und mangel-
hafte Berichte über die Klosterverbannung ver-
Mentlicht werden, so kann dennoch jeder, der auf-
merksam die Chronik unseres religiösen Lebens ver-
folgt, quellenmäfsig ganze Reihen ähnlicher Fälle fest-
stellen. So z. B. wurde vor kurzem, im Sommer
1901, folgender Fall aus dem Podeler Gouver-
nement mitgeteilt. Man schöpfte Verdacht, dafs
Pfarrer Schandrowski die Stundisten begünstige.
Es wurde sogar erzählt, dafs er die Orthodoxie
aufgegeben habe und offen zu der Stunda über-
getreten sei. Er wird zitiert, verhaftet und ver-
schwindet spurlos. Einige Zeit darauf erfährt man,
dafs er nach einem Kloster verbannt wurde.
Inwiefern diese Mitteilung richtig ist, wissen
wir leider nicht. Wenn aber der Übertritt des
orthodoxen Pfarrers zu den Stundisten wirklich
stattgefunden hat, so ist es vollkommen klar, dafs
die geistlichen Behörden den Fall besonders streng
behandelt haben. Schade nur, dafs er auf admini-
strativem Wege erledigt und dafs die ganze Ge-
schichte wieder einmal in tiefes Geheimnis gehüllt
wurde.
Pfarrer Schandrowski geriet also ins Kloster,
und zwar wegen seines Abfalls von der Orthodoxie
— 109 —
und des Übertritts zu den Stundisten. Vom Stand-
punkt des russischen Strafrechts und noch mehr
von dem des Kirchenrechts müssen freilich solche
Handlungen als schwere und grofse Verbrechen
gelten. Es ist nur zm bemerken, dafs die Pfarrer
nicht immer auf Grund bewiesener, ernsthafter
Schuld in die Klostergefängnisse geraten. Es ist
auch jetzt nicht selten der Fall, dafs Geistliche
nicht wegen begangener Verbrechen , sondern
wegen Ansichten und Meinungsäufserungen über
bestimmte Fragen der Religion und der kirchlichen
Verwaltung mit Verbannung bestraft werden. Als
Beispiel weisen wir auf den Pfarrer Zwjetkow aus
dem Gouvernement Tambow hin, den wir früher
bereits erwähnten. Pfarrer Zwjetkow wurde im
Sommer 1901 von der „höheren geistlichen
Obrigkeit" zur Verbannung nach dem Susdalschen
Klostergefängnisse verurteilt. Dem Berichte der
„St. Petersburgski ja Wjedomosti" zufolge boten
manche seiner Ansichten, die den in unseren geist-
lichen Kreisen herrschenden widersprechen, den
Grund für diese grausame Strafe. So z. B. ver-
urteilte Zwjetkow die Unterwerfung der Kirche
unter die weltliche Gewalt in der Person des Ober-
prokurators der Heiligen Synode; er hielt es für
notwendig, ein Konzil zu berufen, um manche
Fragen der orthodoxen Kirche zu lösen, und
leugnete in dieser Hinsicht die Autorität der
Heiligen Synode. In diesem Sinne richtete er an
den Oberprokurator der Heiligen Synode und viele
andere Hierarchen der russischen Kirche wiederholt
Erklärungen. Das hatte auch die Verurteilung
— 110 —
Zwjetkows zur Klosterverbannung „behufs Besse-
rung" zur Folget
Schon drei Jahre sitzt Zwjetkow in der Ge-
fängniszelle der Susdalschen Festung und wird da
noch weiter schmachten, solange der Vorsteher des
Klosters und die höhere geistliche Obrigkeit sich
nicht davon überzeugt haben, dafs er sich gebessert,
d. h. seine Verirrungen bekannt und seine Ansichten
und Überzeugungen als falsch' bezeichnet hat.
Wann es aber geschehen und ob es geschehen
wird , das weifs selbstverständlich kein Mensch.
Es ist leicht möglich, dafs Zwjetkow noch lange,
lange Jahre in strengster Einzelhaft verbleibt,
dafs er die Zeit nicht mehr erlebt, wo er das
Tor des -Susdalschen Gefängnisses wird verlassen
können.
Bei dieser Gelegenheit drängt sich uns unwill-
kürlich ein analoger Fall aus der fernen Ver-
gangenheit auf. Es war vor rund zweihundert
Jahren. Zur Zeit Peters I. liefs die Geheimkanzlei
einen leibeigenen Jakuten, Andrei Surgutschow,
nach dem Solowezky-Kloster verbannen. Seine
Schuld bestand darin, dafs er die Synode nicht
anerkannte und erklärte, er werde die Kirche so
lange nicht besuchen, „bis. die Synode abgeschafft
sei und im Kirchengesang nicht mehr erwähnt
werde". Dieser frechen Gesinnung wegen wurde
Surgutschow verhaftet und einem Verhör unter-
zogen. Er wurde, den Sitten der Zeit entsprechend,
gefoltert und „mit Feuer gebrannt". Da er aber
St. Petersburgskija Wjedomosti.
— 111 —
„bei seiner Hartnäckigkeit verblieb**, wurde er ins
Solowezky-Gefftngnis geschickt.
Seit diesem Falle verstrichen volle zwei Jahr-
hunderte. Während dieser Zeit hatte sich in
unserem öffentlichen Leben freilich vieles zum
Besseren geändert: man foltert nicht mehr, man
brennt beim Verhör nicht mehr mit Feuer usw.,
aber für den Mut, seine Überzeugung auszu-
sprechen, läfst man die Menschen jetzt ebenso wie
vor 200 Jahren in den Kasematten des Kloster-
gefängnisses schmachten. Wie man sieht, kann der
Fortschritt, den wir in zwei Jahrhunderten ge-
macht haben , als nicht allzu bedeutend bezeichnet
werden ^.
Aufser dem Pfarrer Zwjetkow sitzen gegen-
wärtig noch zwei Pfarrer im Susdalschen Gefäng-
nisse : Peter Rudakow und Gabriel Alexandrowitsch
Sinzorow und ein Mönch Hierodiakon Pimen. Leider
sind uns die Gründe, die sie ins Gefängnis brachten,
unbekannt.
Ferner safsen noch vor kurzem in demselben
^ Anmerkung des Zensors Hieromönch
Alexander. In den Worten des Verfassers ist ein Mifs-
yerständnis enthalten. Bei uns werden nicht die Ansichten
und Überzeugungen bestraft, sondern „ihre öffentliche Äufserung^,
wenn sie mit einer gewissen Bechtsverletzung verbunden ist
Und das mufs auch wie eine Verbrechensbegehung bestraft werden.
Wie man sogar aus dem Berichte sehen kann, wurde Pfarrer
Zwjetkow nicht wegen seiner persönlichen Ansichten bestraft,
sondern wegen öffentlicher Äufserung derselben (da es unseren
Gesetzen widerspricht). Selbstverständlich würde eine solche
öffentliche Äufserung, falls sie „ohne Folgen geblieben wäre'',
nur zur Verbreitung der Verirrung fuhren.
— 112 —
Gefängnisse: Pfarrer Alexei Jewgrafowitsch Ser-
tschaninow, aus dem Gouvernement Nischni-Now-
gorod, Pfarrer Peter Feodorowitsch Solotnizki u. a.
Der letztere safs wegen seines Übertritts zu den
Altgläubigen Bjeglopopowzy (wandernde Pfarrer)
32 Jahre in der Susdalschen Festung, und zwar vom
23. Dezember 1865 bis zum 3. April 1897. Es ist
selbstverständlich, dafs die lange Einzelhaft die
traurigsten Folgen für ihn gehabt hat: er wurde
psychisch krank ; die Krankheit verschlimmerte sich
mit den Jahren immer mehr, und als er endlich
aus dem Gefängnis entlassen und den Verwandten,
die darum ersuchten, anvertraut wurde, war er
schon ein bejammernswerter, hofluungslos kranker
Mann, der nicht mehr wufste, was mit ihm und
um ihn geschah.
V.
Wie in früheren Zeiten werden auch jetzt,
am Anfang des 20. Jahrhunderts, meistens Leute
nach den Klöstern verbannt, die bei uns unter dem
Namen „Sektierer" und „Ketzer" bekannt sind.
Wir haben schon einmal davon gesprochen, wie
man bei uns diese Begriffe mifsbraucht; daher
halten wir es für überflüssig, dieses Thema hier
zu behandeln.
Wir führen nur einige Fälle aus den letzten
Jahren an, um einen Begriff davon zu geben, wie
Sektierer und Ketzer in die Klöster verbannt
werden. Aus dem Berichte des Oberprokurators
der Heiligen Synode für das Jahr 1898 erfahren
wir unter anderem von der Verbannung des Bauers
— 113 —
Wassilij Podgorny aus dem Gouvernement Charkow,
Bezirk Achtyr, nach dem Susdalschen Kloster
wegen Verbreitung der Sekte „Chlystowzy". Durch
seine Tätigkeit lenkte Podgorny die Aufmerksamkeit
der geistlichen Behörden auf sich, die eine gericht-
liche Verfolgung gegen ihn einleiteten.
Dem Berichte zufolge ergab die Untersuchung,
die von der eparchialen Behörde veranlafst wurde,
folgendes: „Podgorny hatte äufserst verdächtige
Handlungen begangen ; unter der Maske der Fröm-
migkeit verbreitete er unter unwissenden, leicht-
gläubigen Menschen eine Irrlehre, die die Grund-
lagen des Familienlebens erschüttert, die Achtung
vor der heiligen Kirche und ihren Dienern, den
orthodoxen Priestern, vor dem Sakrament und
Gottesdienst untergräbt. Indessen führte er selbst
einen unsittlichen Lebenswandel, indem er in
zügellos - roher Sinnlichkeit schwelgte. Er ver-
sammelte Frauen und Jungfrauen unter dem Ver-
wände gottgefälliger Absichten, vergewaltigte und
schändete sie dann, ohne auf das Alter zu achten.
Infolgedessen bestimmte die Heilige Synode 1892,
Podgorny nach dem Spas - Euphimius - Kloster zu
verbannen und in die Sträflingsabteitung unter-
zubringen, bis er sich gebessert und Abbitte getan
hat."i
Auf solche Weise fand auch in diesem Falle
die Verbannung ohne Gerichtsverhandlung statt,
lediglich auf Grund einer Untersuchung, die von
der eparchialen Obrigkeit in Charkow veranlafst
^ Die Rundschau der Missionäre, 1901, Maiheft.
Priigawin, Die Inquis. d. russ.-orthod. Kirche. 8
— 114 —
wurde. Bekanntlich werden solche Untersuchungen
von einem Mitglied des geistlichen Konsistoriums
— am häufigsten von dem Oberpriester oder dem
eparchialen Missionär des Ortes — geleitet. Ohne
die Frage zu berühren, inwiefern diese Leute als
unparteiische und kompetente Untersuchungsrichter
in Fragen sein können, die offenbar einen juri-
dischen Charakter^ haben, mufs man sich doch
darüber wundern,dafs die geistlichen Untersuchungs-
richter, die Podgorny solche verbrecherische Hand-
lungen, „wie Schändung und Vergewaltigung von
Frauen", zur Last legten, dennoch es für tiberflüssig
gefunden haben, ihn einer gerichtlichen Verant-
wortung für diese Verbrechen zu unterziehen.
Podgorny verbrachte volle zehn Jahre im
Susdalschen Gefängnisse. Er bekannte nicht nur
seine Schuld nicht, sondern fuhr fort — wie im
Berichte des Oberprokurators konstatiert wird —
im Gefängnisse sitzend, durch geheime Korre*
spondenz „schädlichen Einflufs" auf seine zahl-
reichen Anhänger „auszuüben".
Als wir im vorigen Jahre (1903) das Susdalsche
Kloster aufsuchten, fanden wir jedoch Podgorny nicht
mehr im Gefängnisse, sondern in einer Kloster-
zelle, wo er nicht als Sträfling und Verbannter,
sondern als Mönch lebte und Mitglied der Brüder-
gemeinschaft des Susdalschen Spas - Euphimius-
* Anmerkung des Zensors Hieromönch
Alexander. Jedenfalls sind die Geistlichen in juridischen
Fragen, die Religion und Kirche betreffen, nicht minder
als die Juristen aus der weltlichen Intelligenz kompetent.
— 115 -
Klosters war. Diese schroffe Veränderung kam,
wie man uns erklärte, daher, dafs der Vorsteher des
Klosters, Archimandrit Serafim (früher Artillerie-
hauptmann Tschitschagow), als er Podgorny näher
kennen gelernt hatte, sich davon überzeugte, dafs
er an den ihm von den gestlichen Behörden in
Charkow zur Last gelegten Verbrechen ganz und
gar unschuldig war. Wenn das richtig ist, so
drängt sich einem unwillkürlich die Frage auf:
wofür safs denn Podgorny volle zehn Jahre in den
Klosterkasematten in Einzelhaft?
Von den anderen Sektierern, die noch heute
im Susdalschen Gefängnisse schmachten, erwähnen
wir vier Bauern aus dem Gouvernement Saratow,
die wegen Verbreitung der Sekte Enochowzy
hierher verbannt sind. Bereits mehr als zehn Jahre
sitzen sie in Einzelhaft. Zwei von ihnen hielten
die lange Haft nicht aus und verloren den Ver-
stand. Dieser Umstand jedoch liefs keine Ver-
besserung in ihrer Lage eintreten, im Gegenteil,
es verschlechterte sich ihre ohnedies traurige Lage
noch mehr. Infolge der Wahnsinnsausbrüche, die
über sie kommen, hält man sie jetzt Tag und Nacht
hinter Schlofs und Riegel. Nicht einmal in den
Korridor oder auf den kleinen Gefängnishof werden
sie herausgelassen. Sie dürfen keine Spaziergänge
machen, obwohl dies allen anderen Arrestanten des
Klostergefängnisses erlaubt ist . . . Wird denn
auch der Wahnsinn diese Unglücklichen nicht aus
der weiteren Gefängnishaft erlösen? . . .
8*
— 11(5 —
VI.
Aus den angeführten Tatsachen ist zu ersehen,
dafs die Initiative zur Verbannung von Leuten, die
des Abfalls von der Kirche oder der Ketzerei be-
schuldigt sind, fast immer von den geistlichen Be-
hörden des Ortes ausgeht. Manche eparchiale
Behörden greifen mit besonderer Vorliebe zu dieser
Mafsregel, ohne offenbar die Exklusivität und
Grausamkeit dieser Strafform zu überlegen.
Femer ersieht man aus diesen Tatsachen, dafs
die Klosterverbannung nach wie vor auf admini-
strativem Wege , ohne Gerichtsverhandlung und
Verhör, mitunter, wie im Falle Rachow, gegen den
Gerichtsbeschlufs vor sich geht. Wenn die admini-
strative Mafsregelung auf dem Gebiete der Politik
das Gefühl verletzt, was soll man dann von den
Fällen sagen, wo sie auf dem intimsten Gebiete des
menschlichen Geistes, auf dem Gebiete religiöser
und ethischer Überzeugungen, angewendet wird*.
^ Anmerkung des Zensors Hieromönch
Alexander: Der administrativen Mafsregelung wird nicht
die intime Seite unserer religiösen Überzeugungen unter-
zogen, sondern das Verbrechen gegen Religion und Kirche.
Mit anderen Worten: wenn eine falsche religiöse Anschau-
ung durch Verletzung der Gesetze sich nach aulsen be-
kundet. Die Annalen unserer Journale für Missionäre und
unsere weltlichen Blätter zeigen zur Genüge, was die
Sektierer an Unruhestiftung, Demolierung und schreiender
Gewalttätigkeit den Orthodoxen gegenüber leisten können.
Diese traurigen Tatsachen haben ihren Grund nicht nur in
der Blindheit, mit der der Geist der Sektierer geschlagen
ist, sondern auch in derNachsicht der administrativen
Mafsregelung.
— 117 —
Im Interesse der Kirche selbst ist zu wünschen^
dafs der „Klosterverbannung*^ sobald als möglich
ein Ende gemacht wird. Sie ist eine unmögliche
Anomalie, die uns aus der Epoche der Inquisitions-
verfolgungen , der Folterung und Intoleranz er-
halten geblieben ist. Im Interesse, der Kirche
mufs man von ganzem Herzen wünschen , dafs
die Klöster, „diese Stätten des Friedens, der Liebe
und Verzeihung", endlich aufhören, die Rolle der
Herr Jesus Christus beschräukte sieb nicht darauf^
die Schacherer zu geifseln, sondern jagte sie mit einer
Peitsche aus dem Tempel, schmifs das Geld der Wucherer
zu Boden und stülpte ihre Tische um. Als er Jerusalem di&
fürchterliche Katastrophe prophezeite, wies er auf den
engen Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe hin»
Die Prüfung, die Jerusalem heimsuchen wird, ist ein
notwendiges Postulat seines sittlichen Verfalls, ähnlich, wie
wenn sich Geier auf eine verwesende Leiche niederlassen^
ähnlich, wie wenn die Wärme der Frühlingssonne das
Blühen des Feigenbaumes hervorruft, und umgekehrt an dem
blühenden Feigenbaume sich der Sommer erkennen läfst.
Jedes unbestrafte Verbrechen erscheint vor dem Gewissen^
dem geistigen Auge des Menschen, als etwas Anormales, um
so mehr muDs man das vom Verbrechen gegen Keligion und
Kirche sagen.
Da die Gewalttätigkeiten der Sektierer infolge der
schwachen administrativen Mafsregelung während ihres
früheren Lebens entstehen, so legt dieser Umstand den
Vertretern der Gewalt die Pflicht auf, den geringsten Ver-
such der Sektierer, ihre Irrlehren öffentlich zu bekunden
und die Orthodoxen zu verwirren, unverzüglich zu unter-
drücken. Beugt man dem kleinen Übel vor, so beugt man
dadurch auch dem damit verbundenen grofsen vor. Jeden-
falls mu& es Zügel geben, die die religiösen Verirrungen
der Sektierer zurückzuhalten vermögen.
— 118 —
Zuchthäuser und Gefängnisse zu spielen ; man mufs
wünschen, dafs den Mönchen die trüben Pflichten
der Gefängniswächter, die sich mit ihrer Würde
nicht vertragen, abgenommen werden.
Das ist um so leichter zu erfüllen, als es keiner
Veränderung unserer Strafgesetze bedarf, da sich
darin bekanntlich gar keine Hinweise bezüglich
der Klostergefängnisse befinden. Es ist wahr, der
5. Artikel des „Reglements über die Gefangenen"
lautet: „Privatpersonen können in manchen Fällen
zur Verbannung in ein Kloster verurteilt werden.
Ihre Behandlungsweise wird dort nach den Ver-
ordnungen der Kirche bestimmt." Allein, erstens
wird es klar, dafs hier von einer Klosterverbannung
die Rede ist, die auf gerichtlichem und nicht ad-
ministrativem Wege zu erfolgen hat ; zweitens kann
man den Ausdruck „Klosterverbannung" nicht im
Sinne der Einkerkerung ins Kloster auffassen.
Eine Klosterverbannung gab es bei uns immer,
unabhängig von der Einkerkerung in Kloster-
gefängnisse. Auch jetzt werden Leute nach den
Klöstern verbannt und in gewöhnlichen Kloster-
zellen untergebracht. Sie geniefsen eine gewisse
Freiheit, während diejenigen, die in Kloster-
gefängnisse gesteckt werden, dem strengen Regime
eines Gefängnisses ausgesetzt sind.
Um das zu beweisen, könnten wir viele Beispiele
anführen, wo der Klosteraufenthalt mit einer Ein-
kerkerung in das Klostergefängnis nicht verbunden
war. Wir wollen nur auf einen Fall hinweisen, der
vor kurzem stattgefunden hat. Das ist der Fall
Melnikow, gegen den auf Grund des Artikels 181
- 119 —
des Strafgesetzbuches eine strafrechtliche Verfolgung
eingeleitet wurde '.
Die Sache zog sich lange hin, während Melnikow
in Gefangenschaft safs. Schliefslich erfolgte am
27.Februarl902, nach dem Berichte des Herrn Justiz-
ministers, der Allerhöchste Befehl folgenden Inhalts :
1. „Die Sache des Kleinbürgers Wassilij Jefimow
Melnikow, der nach Artikel 181, B. 2, des Straf-
gesetzbuches beschuldigt ist, soll nicht mehr vor
Gerieht gebracht werden. Die strafrechtliche Ver-
folgung gegen ihn wird eingestellt. Die SOOO Rubel,
die er lt. Beschlufs der Gerichtskammer in Kiew,
der am 13. April li)i"il erfolgte, als Sicher-
heit hinterlegte, hat er wieder zurück zu erhalten.
2. Die lange Untersuchungshaft ist in die Strafzeit
aufzurechnen, die ihm zudiktiert ist, Aufaerdem
ist Melnikow für ein Jahr nach einem Kloster zu
verbannen, das die geistliche Behörde des nächsten
Ortes zu bestimmen hat. Nach der Entlassung
aus dem Kloster ist er für 5 Jahre unter polizei-
liche Aufsicht zu stellen. Den künftigen Auf-
enthaltsort darf er sich mit Ausnahme der
Residenzstädte und der Gouvernements: Moskau,^
Petersburg, Techernigow, Charkow und der (
Königreich Rumänien naheliegenden
Taurien und Cherson selbst wählen.
Auf Verfügung der gei^^en Behörde^
' Melnikow wurdp beBi
Blatte „Das Wort der Wuhri
lande, in Rumänien, benuisg^
Blatt widmete Bich, wie " "^
des Alten Glaubene".
— 120 —
Melnikow in das Walaamsche Kloster, Gouvernement
Olonezk, eingeliefert. Hier verlebte er seine Straf-
zeit in einer gewöhnlichen Klosterzelle, ohne Gitter,
Schlofs und Wache. Er konnte im Kloster frei
herumgehen, durfte nur nicht das Kloster ver-
lassen. Soweit wir unterrichtet sind, besitzt das
Walaamsche Kloster kein Gefängnis, obwohl nach
wie vor verschiedene Leute zur „Einsperrung" da-
hin verbannt werden.
Wir erwähnten schon, dafs, wenn man in
unseren gesetzlichen Hinweisen bezüglich der
Verbannung und Einkerkerung in die Kloster-
gefängnisse suchen wollte, dies völlig nutzlos wäre.
Ja, wir werden in unserer Gesetzgebung kaum
eine einfache Erwähnung der Klostergefängnisse
ünden. Im 11. Bande des Gesetzbuches sind alle
Gefängnisorte aufgezählt , Klosterfängnisse aber
werden dort mit keinem Worte erwährt. Übrigens
ünden wir in demselben Bande sogar „das Reglement
über das Schlüsselburger Gefängnis, das für Staats-
verbrecher bestimmt ist", aber weder vom Solo-
wezky- noch vom Susdal- Gefängnisse ist dort die
Rede.
Obwohl in dem obenangeführten 5. Artikel
„des Reglements über die Gefangenen" gesagt
wird, dafs die „Behandlungsweise Privatpersonen
gegenüber, die dort eingeschlossen sind, durch Ver-
ordnungen der Kirche bestimmt wird", gelang es
uns leider nicht, trotz aller Mühe, diese Ver-
ordnungen kennen zu lernen. Wir werden daher
kaum irren, wenn wir voraussetzen, dafs die er-
wähnten „Verordnungen" eine Art administratives
- 121 —
Geheimnis der kirchlichen Verwaltung bilden, das
nicht veröfifentlicht werden darf.
Wir begegnen also auch hier unserem von
jeher bevorzugten administrativen System, das um
jeden Preis besorgt ist, seine Handlungen in tiefes
Geheimnis zu hüllen. Oben haben wir bereits ge-
zeigt , dafs dieses , System sein Ziel nicht nur
nicht erreicht hat, sondern im Gegenteil, die Ent-
stehung und Verbreitung der verschiedensten Ge-
rüchte, die die traurigste Wirklichkeit übertreffen,
fördert Überhaupt ist es aufser allem Zweifel,
dafs die Geheimnistuerei am wenigsten den hart-
näckigen Kampf fördert, den die russische Re-
gierung und Kirche seit jeher gegen das Sekten-
wesen, Baskol, den alten Glauben und gegen alle
Meinungsverschiedenheiten, die auf religiös - ethi-
schem und religiös-sozialem Boden entstehen, führt.
Es ist freilich für niemanden ein Geheimnis, dafs
dieser Kampf bis jetzt sein Ziel nicht erreicht hat.
Er hatte keine Erfolge, keine irgendwie wünschens-
werten Resultate zu verzeichnen. Der Hauptgrund
des Mifslingens liegt selbstverständlich in dem
System von Repressalien, Verfolgungen und aller-
hand Beschränkungen , innerhalb deren sich dieser
Kampf bewegte.
Unter diesen Repressionsmafsregeln erscheint
die Klosterverbannung und -Einkerkerung als die
grausamste, ungerechteste und — wie die histo-
rische Erfahrung lehrt — als die unzweckmäfsigste
Mafsregel. Vor mehr als zwanzig Jahren haben
wir in einem Artikel, in dem wir die Notwendigkeit
sofortiger Abschaifung der Klostergefängnisse be-
— 122 —
tonten, geschrieben: „Wir wollen wünschen, dafs
alle Sucher der Wahrheit und des gerechten
Glaubens, die jetzt in Elostergefängnissen schmach-
ten, nicht dem langsamen marternden Tode
in den Kasematten geweiht sind, dafs sie nicht
einsam in der Grabesstille der Klosterzelle sterben
werden, dafs man sie nicht gleich ihren Vorgängern
zum Wahnsinn treiben wird. Wir wollen ferner
wünschen, dafs sich von nun an die Tür der
Klosterkasematten nicht wieder öffnen wird, um
ein neues Opfer, einen neuen „Ketzer", dessen
Schuld nur darin besteht, dafs es ihm um die
Fragen der Religion und Ethik mehr zu tun ist,
als uns kalten Vernunftmenschen , zu verschlingen
und in seinen Mauern zu begraben."
Leider hat das Leben, die Wirklichkeit, diese,
wie wir glauben, bescheidenen und berechtigten
Hoffnungen nicht gerechtfertigt. Es ist wahr, um
jene Zeit, auf die sich der erwähnte Artikel be-
zieht, wurden manche Gefangene, die viele Jahre
in den Klostergefängnissen geschmachtet haben, frei-
gelassen ^ das war aber offenbar nur eine Aus-
nahme, da bald anstatt der Entlassenen neue Ge-
fangene kamen.
In dieser Hinsicht fiel während der letzten
20—25 Jahre dem Susdalschen Klostergefängnisse
eine besonders traurige Rolle zu: Die Zahl der
^ So z. B. wurden aus dem Susdalschen Kloster-
gefängnis die altgläubigen Bischöfe: Arkadius, Kanon und
Gennadius und aus dem Solowezky- Kloster der bekannte
Mystiker Adrian Puschkin und der Staatsverbrecher Matwei
Grigorjew entlassen.
i;
— 123 —
Gefangenen hat sich darin nicht nur nicht verringert,
sondern wuchs im Gegenteil immer an. Und so-
gar jetzt sind, wenn wir nicht irren, alle Zellen
des Susdalschen Elostergefängnisses von Gefangenen
besetzt . . •
Daher haben die Forderungen, die wir vor
einem Yierteiijahr hundert ausgesprochen haben,
noch jetzt ihre Bedeutung, ihre Schärfe nicht
verloren.
Ja, lange, lange schon ist es Zeit, dafs dieser
Überrest aus dem Mittelalter, dieses düstere Echo
vergangener Zeiten aus dem Leben verschwinde.
Pierersohe Hofbuohdruckerei Stephan Geibel & Oo. in Altenbui^.
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