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Full text of "Die Kultur der Juden; eine Versöhnung zwischen Religion und Wissenschaft"

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Dingler,  Hugo 

Die  Kultur  der  Juden 


Hugo  Ding f er 

Die  Kultur  der  Juaen 


Eine   Ver sonnung 
z-wiflclien  Religion  und  ^^l ssenscLaft 


Der    Neue     Geist    Verlag    /    Leipzig 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/diekulturderjudeOOding 


Die  Kultur  der  Juden 

Eine  Versöhnung 
zwischen  Religion  und  Wissenschaft 


Von 

Dr.  Hugo  Dingler 


1919 
DER  NEUE  GEIST.  VERLAG -LEIPZIG 


06 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Einleitung   9 

I.  Kapitel:  Die  Geschichte, 

§   1.  Die  Vorzeit 15 

§   2.  Das  Altertum 22 

§   3.  Das  Mittelalter  und  die  Neuzeit 27 

IL  Kapitel:  Der  wissenschaftliche  Tatbestand. 

§   1.  Das  Problem  32 

§   2.  Die  Wissenschaft    37 

§   3.  Entwickelung 42 

III.  Kapitel :  Die  religiöse  Auswertung.  Allgemeines. 

§    l.Der  Gottesbegriff    46 

§   2.  Die  kausale  Seite  des  Gottesbegriffes 54 

§  3.  Die  ethische  Seite  des  Gottesbegriffes 58 

§   4.  Das  Lebensziel ..  ..  61 

§  5.  Der  Lebensdrang   64 

rV.  Kapitel:  Speziellere  religiöse  Auswertung.  Die  altjüdische 
Ethik. 

§    1.  Der  Gottesgedanke 70 

§   2.  Die  Wirksamkeit  des  Gottesbegriffes 74 

§   3.  Ethische  Begriffsbildung 78 

§   4.  Die  Zweiteilung  der  Handlungen   82 

§   5.  Das  Gesetz 85 

§   6.  Typen  menschlicher  Ziele 90 

§   7.  Ethische  Grundprobleme 97 

§   8.  Die  Wurzeln  des  menschlichen  Handelns 104 

§   9.  Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vortejjl^aften  Handelns  111 

§  10.  Weitere  Entwickelungen 121 

§  11.  Beispiele  aus  dem  Alten  Testament 129 


Motto:  Tolle,  lege. 

Vorwort. 

Dies  Büchlein  ist  zwar  im  Kriege,  fern  dem  gewohnten 
Arbeitsplatz  und  abgeschnitten  von  jeder  wissen- 
schaftlichen Literatur  entstanden.  Sein  Inhalt  aber  ist  das 
Resultat  einer  langen  inneren  Arbeit  von  Verstand  und 
Seele,  die  seit  jeher  eine  Einheit  zu  erreichen  strebten, 
welche  durch  die  vorhandenen  Erkenntnisse  und  die  For- 
men, unter  denen  sie  zugänglich  waren,  nicht  von  selbst 
gewährleistet  erschien.  Bis  es  sich  ergab,  daß  das  Gold 
dieser  Einheit  gerade  in  den  ältesten  Gruben  tatsächlich 
vorhanden  und  zu  finden  war,  wenn  man  die  Dinge  nur 
recht  bedachte.  — 

Wenn  die  Schrift  dem  einen  oder  andern,  der  in  glei- 
chem innerem  Zwiespalt  steht  und  Wissen  und  Handeln, 
wissenschaftliche  und  ethische  Weltanschauung  zu  einem 
vollen  Akkord  in  sich  zusammenklingen  lassen  möchte, 
ein  wenig  Klärung  und  Förderung  bringt,  so  ist  ihr  Zweck 
völlig  erreicht.  Der  Verfasser  grüßt  alle  Suchenden, 
Augsburg,  im  Sommer  1918.  H.  D. 


Einleitung. 


Man  hat  neuerdings  begonnen,  der  altjüdischen  heiligen  Lite- 
ratur, wie  sie  uns  in  dem  Kanon  der  Bibel  überliefert  ist,  ge- 
wisse ästhetische  Seiten  abzugewinnen.  Man  hat  wiederum  ver- 
sucht, jene  unnachahmliche  Gewalt  der  Sprache,  die  schon  Her- 
der nicht  genug  rühmen  konnte,  ohne  Beziehung  zum  Religiösen, 
rein  als  Volkspoesie  oder  Weltliteratur  auf  sich  wirken  zu  lassen. 
Und  m^m  war  erstaunt  über  die  immer  wieder  jugendneue  Wirkung, 
welche  die  alten  Gesänge  z.  B.  in  der  Interpretation  einer  Irene 
Triesch  auf  uns  ausübten.  Dies  aber  war  fast  der  einzige  Gesichts- 
punkt, unter  dem  für  den  modernen,  ästhetisch  gerichteten  Men- 
schen eine  Beschäftigung  mit  diesen  alten  Werken  möglich  er- 
schien. Eine  Reihe  von  typographischen  Ausgaben,  welche  das 
gewohnte  Bild  des  Bibeldruckes  nach  Möglichkeit  fernhalten  soll- 
ten, gab  dem  verständlichen  Bedürfnis  Ausdruck,  diesen  Schöp- 
fungen einer  grauen  Vorzeit  gegenüber  Distanz  zu  gewinnen, 
ihnen  nach  Möglichkeit  vorurteilslos,  zum  Mindesten  aber  außer- 
halb des  von  der  Kindheit  und  der  Schule  her^Dekannten  und  ge- 
wohnten Weges  gegenüberzutreten. 

In  der  Tat,  denken  wir  ein  wenig  nach,  so  kann  es  uns  nicht 
schwer  fallen,  die  Vorgänge  in  der  Seele  des  modernen  Menschen, 
die  dessen  Stellung  der  Bibel  gegenüber  bestimmen,  zu  verstehen. 

Das  Zentralproblem,  das  jene  Stellung  des  modernen  Gebildeten 
zur  Bibel  bestimmt,  ist  das  Problem  seiner  Stellung  zur  Religion. 

9 


Einleitung 

Was  ist  Religion?  Man  kann  auf  diese  Frage  schwer  eine  befriedi- 
gende Antwort  bekommen,  und  insbesondere  ist  kaum  abzusehen, 
wo  sie  innerhalb  des  Weltbildes  des  naturwissenschaftlich  gebil- 
deten, kritisch  denkenden  Menschen  von  heute  ihren  Platz  finden 
sollte.  Man  hat  diese  Dinge  seinerzeit  in  der  Schule  gelernt,  man 
ist  manchmal  damit  übermäßig  vielleicht  geplagt  worden.  Dieses 
Lernen  geschah  meist  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der 
Bibel,  in  welcher  das  ganze  gelernte  Religionsgebäude  verankert 
war.  Diese  Verankerung  andererseits  schien  wiederum  den  Haupt- 
zweck der  Bibel  auszumachen,  sie  schien  neben  einigen  ästhetischen 
Schönheiten  die  einzige  Art  zu  sein,  die  allgemeine  Verbreitung 
und  Verehrung  dieses  Buches  zu  erklären.  Mit  dem  Älterwerden 
aber  überwand  der  Schüler  diese  angelernte  Religion  seiner  Jugend- 
und  Schulzeit  mehr  oder  weniger  —  mit  der  ReHgion  aber  auch 
die  Bibel.  Je  nach  der  einzelnen  Individualität  waren  es  schwerere 
oder  leichtere  seelische  Kämpfe  vielleicht,  welche  die  Ablösung 
von  dem  Glauben  der  Kindheit,  das  Eindringen  des  kritischen, 
skeptischen  Verstandes  in  diese  umhegten  Gebiete  der  jugendlichen 
Seele  begleiteten.  Vielfach  und  allzumeist  wurde  das  erlernte  Sy- 
stem in  seinen  Grundlagen  als  ernster  Kritik  nicht  standhaltend  er- 
kannt, und  brach  damit  zusammen. 

Später  versuchte  doch  der  eine  oder  andere  sich  einen  Ersatz 
für  das  Verlorne  zu  schaffen.  Andere  Anschauungen  waren  unter- 
dessen an  die  Stelle  der  alten  getreten.  Naturwissenschaft  und 
Philosophie,  beide  je  nach  dem  Entwicklungsgange  des  einzelnen 
in  verschiedenen  Stufen,  Teilen,  Mischungen  und  Ausdehnung 
traten  auf  den  Plan  und  lieferten  Bausteine  zu  einem  neuen  Bau, 
der  mehr  oder  weniger  einfallsicher  konstruiert,  mehr  oder  weniger 
ins  einzelne  ausgeführt  war,  oder  auch  nur  gleichsam  als  ein  un- 
wirkliches Nebelbild  der  Seele  von  ferne  vorschwebend  zum  Er- 

10 


Linleitung 

Satz  des  alten,  zusammengebrochenen  Baues  dienen  mußte.  Die 
alten  religiösen  Schriften  aber  waren  und  blieben  damit  endgültig 
über  Bord  geworfen  und  schienen  gerichtet. 

Es  wäre  überaus  unbillig,  dem  einzelnen  aus  solchem  Zustande 
einen  Vorwurf  machen  zu  wollen.  Im  Gegenteil!  Gerade  die  ern- 
sten Geister,  die  tieferen  Seelen  sind  es,  die  das  Bedürfnis  haben, 
weiterzudenken  und  weiterzuforschen,  ihren  Verstand  selbst  und 
kritisch  zu  gebrauchen,  die  selbst  zu  stehen  versuchen,  statt  sich 
auf  ererbten  Krücken,  deren  Festigkeit  unbekannt  ist,  nur  einen 
Schein  der  Sicherheit  des  Feststehens  zu  verschaffen.  Und  wer 
konnte  vom  einzelnen,  der  sich  nur  in  einigen  wenigen  ruhigen 
Stunden  seines  Lebens  mit  diesen  Fragen  beschäftigen  durfte,  ver- 
langen, daß  er  in  diesen  das  leiste,  was  der  vereinten  Wissenschaft 
und  Philosophie  nicht  oder  nur  langsam  gelingen  wollte,  nämlich 
ein  nach  beiden  Seiten  hin  befriedigendes  Gebäude  zustande  zu 
bringen,  in  dem  Herz  und  Gehirn,  kritischer  Verstand  und  füh- 
lende, wollende  Seele  gleichermaßen  ihr  Genüge  finden  konnten? 

Man  bezeichnete  vielfach  allein  jenes  Lehrgebäude,  welches  man 
in  der  Schule  gelernt  hatte,  als  Rehgion  und  verstand  somit  dar- 
unter im  wesentlichen  eine  Sammlung  von  Behauptungen,  die 
durch  ihr  Alter  nicht  sicherer  in  ihrer  Begründung  geworden  waren. 
Man  rechnete  zur  Religion  alle  jene  schönen  und  tiefen  alten  Sagen 
von  der  Weltschöpfung,  vom  Sündenfall  und  der  Sintflut  usw. 
Und  wenn  man  erkannte,  daß  dies  Sagen  waren,  d.  h.  ihrem  wört- 
lichen Sinne  nach  „nicht  wahr",  da  war  für  viele  Leute  die  Reli- 
gion und  damit  die  Bibel  gerichtet  und  abgetan,  und  jene  wunder- 
vollen und  unersetzlichen  Geistesfrüchte  des  alten  Israel  erschienen 
als  überwundene  und  kindische  Anschauungen,  welche  durch  die 
modernen  Resultate  der  Wissenschaft  längst  überholt  und  als  falsch 
und  abergläubisch  nachgewiesen  seien.  So  begannen  viele  das, 

11 


Einleitung 

was  vorher  bei  ihnen  Religion  in  Anführungszeichen  gewesen  war, 
nun  durch  eine  ebensolche  Wissenschaft  zu  ersetzen. 

Die  Wissenschaft  ist  nicht  so  leicht  zu  verderben,  und  es  waren 
wichtige  Erkenntnisse,  die  auf  diese  Weise  Gemeingut  der  gebil- 
deten, ja  weiter  Kreise  des  Volkes  wurden.  Die  so  verbreiteten 
Kenntnisse  bieten  immerhin  ein  gewisses  Fundament,  auf  dem 
weitergebaut  werden  kann.  Aber  sie  selbst  genügen  noch  nicht. 
Während  unter  der  Führung  der  Religion  im  alten  Sinne  der  ein- 
zelne sich  sorgsam  eingeordnet  sah  in  ein  Gewebe  von  Bezie- 
hungen, welche  ihn  mit  der  Welt,  vor  allem  mit  seinen  Mitmen- 
schen verbanden,  sich  eingesponnen  fand  in  ein  Netz  von  Lehren, 
welche  ihm  das  Schwierigste  und  Verwickeltste  des  Lebens,  die 
Art  seines  Handelns  und  Denkens  gegen  seine  Mitmenschen  und 
gegen  sich  selbst  anzuraten  und  darzustellen  hatten,  war  er  nach 
seinem  Übergang  zur  Wissenschaft  in  einer  gänzlich  anderen  Lage. 
Zwar  versuchten  viele  sich  in  dieser  Hinsicht  neue  Direktiven 
aus  einer  besonderen  Wissenschaft,  der  „Ethik"  oder  „Moral"  zu 
entnehmen,  jedoch  war  eine  überzeugende  und  zwingende  Begrün- 
dung dieser  Wissenschaft  nicht  einwandfrei  zu  erreichen  —  und 
ohne  eine  solche  hing  sie  völlig  in  der  Luft;  eine  Begründung 
aber  konnte  sie  nur  aus  einer  ganz  allgemeinen  „Weltanschauung" 
heraus  gewinnen,  die  selbst  natürlich  nichts  anderes  als  Religion 
bedeutet,  aber  aus  jenen  Erkenntnissen  noch  nicht  entnommen 
werden  konnte.  Die  naturwissenschaftlichen  Erkenntnisse,  welche 
Allgemeingut  geworden  sind,  genügten  hierfür  nicht.  In  der  Tat, 
es  wurde  ein  allgemeiner  Wissensbesitz  der  Gebildeten,  daß  der 
Mensch  nicht  geschaffen  im  eigentlichen  Sinne  sei,  sondern  als 
letzter  und  höchster  Sproß  der  Tierwelt  sich  entwickelt  habe,  daß 
alles  genau  nach  wissenschaftlichen  Gesetzen  und  dem  Kausalitäts- 
prinzipe  verlaufe  und  es  außerhalb  dieser  Gesetze  keine  Wunder 

12 


Ein  l  e  i  t  u  n  g 

gebe.  Dies  alles  ist  sehr  wichtig  und  grundlegend,  aber  wie  konnte 
hieraus  der  Mensch  entnehmen,  wie  er  gegen  seine  Mitmenschen 
oder  sich  selbst  handeln  oder  denken  solle,  wie  er  sich  die  letzten 
Ziele  zu  denken  habe?  Viele  versuchten  zwar  durch  weitgehende 
Schlüsse  und  Hypothesen  sich  auch  hier  mehr  oder  weniger  luftige 
Gebäude  zu  errichten,  welche  diese  Fragen  beantworten  sollten. 
Die  mannigfachen  und  oft  seltsamen  Gebilde,  die  dabei  zutage 
traten,  waren  zwar  als  die  ersten  Versuche,  aus  den  wissenschaft- 
lichen Erkenntnissen  unserer  Zeit  heraus  Stellung  zu  nehmen  zu 
den  ethischen  Grundfragen  des  Lebens,  als  Versuche  selbständig 
und  frei  von  den  Fesseln  der  Überlieferung  dem  Leben  ins  Gesicht 
zu  sehen  und  ihm  seine  letzten  und  tiefsten  Geheimnisse  abzu- 
lauschen und  abzudringen,  verehrungswert  und  beachtungswürdig, 
aber  eine  wirkliche  Klärung  wollte  nicht  zustande  kommen. 

Und  nun  das  Merkwürdige:  der  Stein,  den  die  Bauleute  verwor- 
fen haben,  er  soll  zum  Eckstein  werden.  Die  als  völUg  überholt, 
als  kindUch  angesehenen  Schriften  der  alten  jüdischen  Denker, 
jene  Anschauungen,  die  uns  manche  auch  noch  aus  dem  anderen 
Grunde,  daß  sie  artfremd  seien,  und  daher  in  unsere  Schulen  nicht 
paßten,  verekeln  wollen,  diese  enthalten  bereits  die  völlige  Er- 
füllung der  im  Vorstehenden  ausgesprochenen  Wünsche,  die  volle 
Lösung  der  dort  gestellten  Fragen.  Wenn  wir  mit  dem  ganzen  Rüst- 
zeug der  modernen  Wissenschaft  und  Philosophie,  mit  aller  Kritik 
und  Skepsis  an  sie  herantreten  und  sie  durchforschen,  dann  wer- 
den wir  mit  wachsendem  Erstaunen  und  Ehrfurcht  gewahr,  daß 
jene  alten  Denker  ohne  eine  Wissenschaft,  ohne  eine  Philosophie 
unter  den  Füßen  zu  haben,  ohne  alle  geistige  Rüstung  dem  all- 
gewaltigen Leben  gegenübergestellt,  das  Rechte,  das  allein  Rechte 
erschaut  und  es  in  der  wundervollsten  Sprache  zum  Ausdruck  ge- 
bracht haben.  Nicht  „Moses  oder  Darwin"  heißt  es  mehr,  wie  der 

13 


Einleitung 

frübere  Züricher  Botaniker  Dodel-Port  seine  Arbeitervorträge  seiner- 
zeit überschrieben  hat,  sondern  „Moses  und  Darwin"  können  wir 
mit  jedem  Grade  wissenschaftlicher  Sicherheit  nun  als  die  Signatur 
dessen  aussprechen,  was  wir  über  die  wichtigsten  Fragen  des  Men- 
schenlebens auszusagen  haben. 

Davon  wollen  wir  uns  im  folgenden  überzeugen. 


14 


I.  Kapitel. 

Die  Geschichte. 


§  1 .  Die  Vorzeit. 

Es  gab  in  den  Zeiten  vor  der  Entwickelung  der  Kulturen,  mit 
denen  wir  unmittelbar  zusammenhängen,  eine  Kultur  und  eine 
Zeit,  wo  der  Gegensatz  zwischen  Wissenschaft  und  Religion,  wie 
er  in  unserer  Zeit  vielfach  herrscht,  nicht  vorhanden  war.  Die  Ent- 
deckungen aus  dem  Ende  des  18.  und  dem  19.  Jahrhundert  über 
die  Keilschrift  und  die  Hieroglyphen  haben  uns  einen  Einblick  in 
uralte  Kulturen  eröffnet,  welcher  sich  Jahr  für  Jahr  verschärft  und 
immer  feinere  und  wichtigere  Details  erkennen  läßt.  Insbesondere 
die  Untersuchungen  über  die  astronomischen  Forschungen  jener 
alten  Völker  im  Lande  des  Euphrat  und  Tigris,  in  Persien  und 
Kleinasien,  sowie  über  ihre  im  engsten  Zusammenhang  damit 
stehenden  religiösen  Vorstellungen  haben  unter  den  Händen  von 
Forschern  wie  Hugo  Winkler,  H.  Hilprecht,  Eduard  Meyer,  Fritz 
Hommel  und  vielen  anderen  uns  nach  und  nach  sehr  wertvolle 
Aufschlüsse  über  das  Denken  dieser  Völker  gegeben.  Wir  wollen 
das  für  uns  Wesentliche  hier  kurz  zu  skizzieren  versuchen. 

Zunächst  ist  festzustellen,  daß  die  ganzen  Quellen  durchaus  den 
Eindruck  erwecken,  daß  wir  hier  eine  Kultur  vor  uns  haben,  wel- 
che eine  außerordentliche  Einheitlichkeit  in  allen  ihren  Äußerungen 
aufweist.  Es  dürfte  wohl  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  diese 

15 


DieVorzeit 

Kultur  in  ihren  geistigen  Äußerungen  fast  durchgehend  auf  uralten 
astronomischen  Beobachtungen  beruht.  Die  Götter  der  altbabylo- 
nischen Götterlehre  stellen  sich  im  wesentlichen  als  Gestirngott- 
heiten dar,  unter  denen  naturgemäß  Sonne,  Mond  und  Venus  die 
Hauptstellungen  einnehmen.  Es  läßt  sich  wohl  kaum  anders  den- 
ken, als  daß  die  späteren  recht  komplizierten  Mythen  und  Sagen 
hervorgegangen  sind  aus  einer  primitiven  vorzeitlichen  Sonnen- 
und  Gestirnverehrung.  Es  ist  ja  unmittelbar  klar,  welch  gewaltigen 
Eindruck  das  Sonnengestirn  insbesondere  in  jenen  Breiten  auf  die 
primitiven  Völker  gemacht  haben  muß.  Die  auf  der  Hand  liegende 
Abhängigkeit  der  Tag-  und  Nachteinteilung  von  der  Sonne  sowie 
deren  einerseits  lebenspendende,  andererseits  verdorrende  und 
tötende  Kraft  müssen  Veranlassung  gegeben  haben,  zu  ihr  als  der 
mächtigsten  Gottheit  emporzublicken,  welche  für  die  hauptsäch- 
lichsten Umstände  des  damaligen  einfachen  und  primitiven  Lebens 
die  wirkende  Ursache  sein  mußte.  Man  kann  nachfühlen,  wie  jene 
noch  einfacheren  Menschen,  welche  die  ersten  Grundlagen  dieser 
Kultur  legten,  an  die  Allmacht  dieses  Prinzips  zu  glauben  began- 
nen, und  wie  sie  versuchten,  durch  Gebete  und  Opfer  seine  Gunst 
für  sich  zu  gewinnen. 

Weiterhin  mögen  fortgesetzte  astronomische  Beobachtungen  zu 
erkennen  gegeben  haben,  wie  scheinbar  alle  Bewegungen  der  Ge- 
stirne irgendwie  mit  der  Bewegung  der  Sonne  zusammenhängen. 
So  wurde  diese  zur  Herrscherin  über  die  Erscheinungen  des  Him- 
melsgewölbes, und  die  übrigen  auffallenden  Gestirne,  wie  insbe- 
sondere der  Mond,  die  ja  auch  überirdischer  und  unerkennbarer 
Natur  waren,  wurden  zu  anderen,  kleineren  Göttern  neben  ihr.  Es 
ergab  sich  von  selbst,  daß  die  Priester,  welche  die  Verehrung  des 
Volkes  für  diese  Götter  leiteten,  zugleich  sich  auch  mit  diesen 
Göttern  selbst  mit  allem  Ernst  und  aller  Hingabe  beschäftigten,  und 

16 


DieVorzeit 

daß  sie  so  auch  die  astronomische  Erforschung  des  gestirnten 
Himmels  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  betrieben. 
Wir  wissen  aus  der  Geschichte  der  Astronomie,  daß  die  Babylonier 
schon  ziemlich  frühe  in  derLage  waren,  Finsternisse  und  sonstige 
auffallende  Himmelserscheinungen  mit  einiger  Genauigkeit  voraus- 
zuberechnen. Derartige  Berechnungen  sind  nur  möglich  auf  Grund 
einer  durch  sehr  lange  Zeiträume  fortgesetzten  messenden  Be- 
obachtung der  Vorgänge  am  Himmel,  die  wir  also  schon  sehr 
frühe  als  in  ständiger  Ausübung  begriffen  voraussetzen  dürfen. 
Wir  können  uns  etwa  denken,  daß  schon  ca.  um  4000  v.  Chr.  an 
gewissen  heiligen  Stätten  Priesteransiedelungen  vorhanden  waren, 
welche  sich  vielleicht  um  einen  Tempel  als  Zentralheiligtum  grup- 
pierten, und  in  denen  fast  Tag  für  Tag  messende  Beobachtungen 
des  Sternenhimmels  vorgenommen  wurden  und  daß  diese  Mes- 
sungen gewissermaßen  zu  den  heiligen  Handlungen  der  Priester 
selbst  gehörten.  Auf  diese  Weise  entstanden  keilschriftlich  auf  Ton- 
zylinder oder  Tontafeln  festgehaltene  Beobachtungsreihen,  aus 
deren  genauem  Studium  und  auf  deren  genauer  Durchrechnung 
die  späteren  Voraussagungen  usw.  sich  ermöglichen  ließen.  Wir 
haben  aus  späterer  Zeit  eine  ganze  Menge  solcher  Reihen  in  Keil- 
schrift. 

Was  uns  dabei  interessiert,  ist  der  nicht  nur  innige,  sondern  bei- 
nahe absoluteZusammenhang,  der  hier  zwischen  Wissenschaft 
und  Religion  besteht.  Die  wissenschaftliche  Beobachtung  geschieht 
durch  den  Priester  und  ist  gleichzeitig  heilige  Handlung.  Umge- 
kehrt werden  die  Resultate  dieser  Beobachtungen  sofort  in  ihren 
Konsequenzen  für  das  religiöse  und  ethische  Leben  ausgenützt. 
So  ergibt  sich  jene  vollständige  Durchdringung  des  ganzen  Lebens 
mit  diesen  Erkenntnissen  über  die  Götterwelt  des  Sternenhimmels, 
die  sich  in  so  vielem  bis  auf  unsere  Tage  erhalten  hat.  Ich  erinnere 

17  2 


DieVorzeit 

nur  an  die  sieben  Tage  der  Woche,  welche  den  sieben  Planeten 
heihg  sind  und  nach  ihnen  benannt  werden,  an  die  sieben  Farben 
des  Regenbogens,  an  die  Einteilung  des  Jahres  in  Monate,  an  die 
Einteilung  der  Eklyptik  in  die  12  Tierkreiszeichen,  an  das  alt- 
babylonische Zahlensystem,  aufgebaut  auf  der  Grundzahl  60,  die 
noch  heute  in  einer  Unzahl  von  Beziehungen  aus  der  grauen  Vor- 
zeit zu  uns  herüber  wirkt  (man  denke  nur  an  die  Einteilung  des 
Kreises  in  360  Grad,  an  die  Einteilung  der  Uhr  in  12  Stunden  usw., 
an  die  alten  Maßeinheiten:  das  Dutzend,  das  Schock  =  60,  das 
Groß  =  144  =  12x12,  die  12  Zoll  des  alten  Fußmaßes  und  un- 
gezählte andere  Beispiele). 

Es  ist  zu  beachten,  daß  außer  dieser  Astronomie  an  eigentlicher 
Wissenschaft  so  gut  wie  nichts  existierte,  daß  also  tatsächlich  hier 
wissenschaftliche  Organisation  und  religiöse  Organisation  voll- 
ständig sich  deckten  —  nicht  nur  äußerlich,  sondern  bis  in  ihre 
letzten  Auswirkungen  hinein.  Denken  wir  uns  ein  wenig  in  das 
Weltbild  eines  jener  alten  Schamaschpriester  etwa  um  1500  v.  Chr. 
hinein,  so  finden  wir  ein  solches  von  einer  wirklich  ungeheuren 
Größe  und  EinheitHchkeit,  so  unrichtig  es  auch  nach  unseren  Vor- 
stellungen sein  mag.  Alles,  die  ganze  ihm  zugängliche  Welt,  näm- 
lich der  Himmel,  sein  Land,  seine  staatliche  Organisation,  sein 
eigenes  Leben  sind  geordnet  und  geregelt  nach  dem  Vorbilde  der 
ewigen  Götter.  Diese  selbst  offenbaren  bei  näherer  Erforschung 
immer  tiefere  und  großzügigere  Harmonie.  Die  Erkenntnisse  über 
die  Götter  erfüllen  das  irdische  Leben  bis  in  seine  kleinsten  Einzel- 
heiten. Man  beachte,  und  dies  ist  ein  äußerst  wichtiger  Punkt,  diese 
Vorstellung  ist  weit  erhaben  über  jenem  primitiven  Fetischismus, 
wo  wahllos  irgendeine  besondere  Lebenserscheinung,  die  sich  dem 
Menschen  angenehm  oder  unangenehm  aufdrängt,  mit  dem  nächst 
besten  äußerlichen  Vorgang  auf  ganz  willkürliche  Weise  in  eine 

18 


Die\/orzeit 

Kausalbeziehung  gesetzt  wird.  Hier  ist  diese  absolute  Willkür  im 
einzelnen  bereits  ersetzt  durch  ein  großes  einheitliches  System, 
wo  als  logisches  Hauptmoment  die  zahlenmäßige  Analogie  auf- 
tritt, wo  gewissermaßen  die  Götter  das  irdische  Dasein  leiten,  in- 
dem letzteres  sich  in  einem  möglichst  scharfen,  zahlenmäßigen 
Abbild  zu  den  Vorgängen  am  Himmel  abspielt.  Natürlich  ist  auch 
dies  noch  nicht  jene  wissenschaftliche  Kausalität,  wie  wir  sie  heut- 
zutage bei  derartigen  Zusammenhängen  verlangen,  es  ist  keines- 
wegs die  Bewegung  eines  Planeten,  die  „wissenschaftliche  Ur- 
sache" in  unserem  Sinne  von  irgendeinem  Vorgang,  den  der  baby- 
lonische Priester  dazu  in  Analogie  setzt,  aber  es  leuchtet  unmittel- 
bar ein,  daß  dieses  Weltbild  des  babylonischen  Priesters  sozusagen 
eine  Zwischenstufe,  eine  notwendige  Entwicklungsstufe  darstellt 
zwischen  jenem  primitiven  fetischistischen  Kausalitätsbedürfnis  des 
Wilden  und  unserer  strengen  wissenschaftlichen  Kausalität.  Mit 
letzterer  hat  sie  insbesondere  bereits  die  systematische  Allgemein- 
heit gemein,  welche  dem  ganzen  Weltbilde  den  Stempel  einheit- 
licher Systematik  aufprägt. 

Die  so  skizzierte  Geisteskultur  stellt  den  Höhepunkt  der  ganzen 
Entwickelung  der  alten  Weltkultur  dar.  Dieser  Höhepunkt  wurde, 
wie  es  scheint,  in  dieser  Form  schon  etwa  zur  Zeit  des  Chammu- 
rabi  um  2000  v.  Chr.  im  Zweistromlande  erreicht.  Wenden  wir  uns 
zu  den  sonstigen  zu  dieser  Zeit  wichtigen  Kulturvölkern  der  alten 
Welt,  so  kommt  hier,  nach  dem,  was  wir  wissen,  hauptsächlich 
noch  Ägypten  in  Betracht.  Hier  war  jedoch  die  Entwickelung  eine 
bei  weitem  nicht  so  durchgearbeitete.  Wir  haben  in  der  ägyptischen 
Götterlehre  zwar  auch  einen  ursprünglichen  Gestirndienst  vor  uns, 
der  aus  der  gleichen  Quelle  stammt  wie  der  babylonische,  jedoch 
war  dieser  bei  weitem  nicht  derart  systematisiert,  wie  der  babylo- 
nische, und  vor  allem  fehlte  jene  Durchdringung  der  Umstände  des 

19  2" 


DieVorzeit 

täglichen  Lebens  mit  den  zalilenmäßigen  Analogien  zu  den  Him- 
melsvorgängen, wie  wir  sie  bei  den  Babyloniern  getroffen  haben. 
Es  herrscht  in  der  allgemeinen  ägyptischen  Religion  wesentlich 
weniger  systematische  Durcharbeitung,  vielmehr  scheint  es,  daß 
die  sehr  weit  getriebenen  astronomischen  Untersuchungen  der 
alten  Ägypter  im  wesentlichen  eine  Geheimwissenschaft  gewisser 
Kreise  der  Priester  geblieben  sind,  und  nicht  so  sehr  in  die  allge- 
meine Lebensführung  hineingearbeitet  wurden. 

Die  Geschichte  der  Mathematik,  welche  ja  nichts  anderes  ist,  als 
die  Geschichte  des  Anfanges  exakter  logischer  Wissenschaft  über- 
haupt, zeigt  uns  nun  noch  eine  Reihe  interessanter  Umstände, 
welche  wir  hier  noch  kurz  anführen  wollen.  Wir  haben  in  Baby- 
lonien  eine  sehr  weitgehende  Entwickelung  des  Rechnens  auf 
Grund  eines  sehr  hochstehenden  Zahlensystems.  Die  Babylonier 
verstanden,  wie  uns  eine  Reihe  von  Tontafeln  lehrt,  mit  sehr 
großen  ganzen  Zahlen  und  ebenso  mit  gewissen  Brüchen  bereits 
um  diese  Zeit  gut  zu  rechnen.  Eine  Reihe  von  Umständen  läßt 
darauf  schließen,  daß  sie  bei  diesen  Zahlenrechnungen  verschiedene 
mystische  Beziehungen  auffanden  und  sie  zu  ihren  religiösen  und 
Götter-Vorstellungen  in  Beziehung  setzten.  Die  Ägypter  waren 
hingegen,  wie  uns  der  Papyrus  Rhind  aus  der  18.  Dynastie  (ca. 
1800  V.  Chr.)  im  Britischen  Museum  lehrt,  bereits  in^ der  Lösung 
praktischer  geometrischer  und  arithmetischer  Aufgaben  weit  vor- 
geschritten. Offenbar  waren  sie  mehr  auf  praktische  Zwecke  in 
ihrem  Sinnen  gerichtet  als  die  Babylonier,  hatten  nicht  so  sehr  das 
Bedürfnis,  ihre  Erkenntnisse  zu  einer  allgemeinen,  umfassenden 
Weltanschauung  zu  verwerten  und  auszubauen.  Es  ist  interessant, 
daß  diese  mehr  praktische  Neigung  der  Ägypter  sich  bis  zum  Ende 
ihrer  spezifischen  Geisteskultur  erhalten  hat,  sehen  wir  doch,  daß 
die  Bücher  des  berühmten  Mathematikers  und  Physikers  Hero  von 

20 


DieVorzeit 

Alexandria  (ca.  100  n.  Chr.)  noch  in  genau  der  gleichen  auf  das 
rein  Praktische  gerichteten  Darstellungsweise  geschrieben  sind, 
wie  das  2000  Jahre  ältere  Rechenbuch  des  Papyrus  Rhind.  Auch 
die  Inder  haben,  soweit  sie  schon  in  jener  Zeit  in  Betracht  kommen, 
noch  nicht  diese  Durchdringung  des  ganzen  Daseins  mit  der  glei- 
chen Weltanschauung  wie  die  Völker  Babyloniens,  und  was  die 
übrigen  Mittelmeervölker  betrifft,  so  waren  sie,  hinsichtlich  der 
wissenschaftlichen  und  sozusagen  philosophischen  Kultur,  nach 
allem,  was  wir  wissen,  damals  im  wesentlichen  auf  jene  wenigen 
Ausläufer  angewiesen,  die  von  der  großen  Kulturzentrale  in  Baby- 
lon oder  aus  Ägypten  zu  ihnen  herüber  drangen. 


21 


§  2.  Das  Altertum. 

Dies  war  der  geistige  Boden,  in  dem  die  großen  kulturellen  Fort- 
schritte wurzelten,  welche  einige  der  Völker,  die  am  Ufer  des  öst- 
lichen Mittelmeerbeckens  wohnten,  etwa  im  letzten  Jahrtausend 
V.  Chr.  hervorbringen  sollten.  Sie  alle  wurzeln  in  ihrem  geistigen 
und  seelischen  Leben  zunächst  in  jener  uralten  Kultur,  welche  sich 
seit  mehreren  Jahrtausenden  vorher  im  Zweistromlande  entwickelt 
hatte.  Ihre  großen  Leistungen  bestehen  im  wesentlichen  in  genialen 
Weiterbildungen  gewisser  Seiten  jener  älteren  Kultur. 

So  läßt  sich,  wie  neuere  Forschungen  (von  F.  Boll,  Bezold  u.  a.) 
immer  deutlicher  erkennen  lassen,  die  ganze  griechische  Ent- 
wickelung  nur  verstehen  auf  dem  Boden  der  altbabylonischen 
Kultur.  Die  Hauptleistung,  welche  die  Griechen  in  dem  genannten 
Zeiträume  für  die  allgemeine  geistige  Entwickelung  der  Mensch- 
heit vollbrachten,  war  die  Erfindung  dessen,  was  wir  heute  als 
„exakte  Wissenschaft"  bezeichnen.  Wir  haben  gesehen,  wie  die 
alten  Babylonier  mit  Hilfe  von  Zahlenmystik  und  logischer  Ana» 
logie  ihre  ganze  Welt  in  einem  einzigen  großen  Gedankengebäude 
zu  umfassen  bestrebt  waren  —  den  Griechen  erst  jedoch  gelanges, 
aus  jenem  mehr  unbewußten  Drange  die  einfachen  logischen  Ele- 
mentargesetze herauszulösen,  und  an  Stelle  der  mystischen  Ana- 
logie die  wesentlich  exakteren  Begriffe  des  logischen  Beweises  und 
einer  wissenschaftlichen  Kausalität  zu  setzen.  Mit  diesen  Hilfs- 
mitteln waren  sie  dann  in  der  Lage,  aus  den  hauptsächlich  für 
praktischen  und  astronomischen  Gebrauch  zusammengetragenen 

22 


Das        Altertum 

geometrischen  Kenntnissen  ihrer  Lehrer  nach  und  nach  jenen 
wundervollen  Kristall  der  reinen  Geometrie,  des  exakten  geome- 
trischen Systems  aufzubauen,  wie  wir  es  in  dem  bekannten  Buche 
des  Euklid  (ca.  300  v.  Chr.)  vor  uns  haben.  Sie  erfanden,  um  es 
mit  einem  Wort  zu  sagen,  die  Methode,  exakte  Wissenschaft  auf- 
zustellen, sie  erfanden  die  wissenschaftliche  Methode. 

Es  wurde  ihnen  nämlich  jene  Methode,  mittels  der  sie  die  Geo- 
metrie aufgestellt  und  exakt  gemacht  hatten,  zur  wissenschaftlichen 
Methode  überhaupt,  und  in  Plato  haben  wir  jenen  Philosophen, 
der  diese  Erkenntnis  und  Erfindung  der  logischen  Methode  zu  einer 
ganzen  Weltanschauung  ausbaute.  Wir  können  die  griechische 
Idee  der  Wissenschaft  etwa  so  formulieren,  daß  der  Grieche  das 
Ideal  aufgestellt  hat,  es  müsse  alles  wirkliche,  genaue  und  beweis- 
bare Wissen  in  einer  Form  dargestellt  werden  können,  wie  sie  die 
Geometrie  des  Euklid  bietet:  nämlich  durch  Aufstellung  wissen- 
schaftlicher Gebäude,  in  denen  sämtliche  Sätze  aus  Axiomen, 
Forderungen  und  Definitionen  mittels  logischer  Schlüsse  abgeleitet 
werden. 

Ich  weiß  nicht,  ob  es  mir  gelungen  ist,  durch  diese  wenigen 
Worte  dem  Leser  einen  kleinen  Eindruck  zu  geben,  in  welch  hohem 
Maße  die  ganze  griechische  Entwickelung  bedingt  und  förmlich 
eine  direkte  Konsequenz  ist  von  der  altbabylonischen  Weltauffas- 
sung. Sie  stellt  eine  Weiterentwickelung  einer  bestimmten  wich- 
tigen Seite  der  babylonischen  Geisteskultur  dar.  Aber,  und  dies 
ist  ein  wichtiger  Punkt  für  uns,  die  alte,  absolute  Union  zwischen 
Wissenschaft  und  Religion  ist  damit  bereits  zu  Ende.  Dies  zeigt 
ein  kurzer  Blick  auf  die  griechische  Geschichte. 

Schon  zu  den  Zeiten  des  Pythagoras  ist  der  Gelehrte  und  der 
Priester  nicht  mehr  dieselbe  Person.  Wohl  ist  der  Meister  der  pytha- 
goräischen  Philosophenschule  für  seine  Anhänger  auch  höchste 

23 


DasAltertum 

Instanz  in  religiösen  und  politischen  Dingen,  aber  nur  für  seine 
Anhänger  —  eine  zwar  ausgebreitete,  aber  doch  nicht  das  ganze 
Volk  umfassende  Geheimgesellschaft.  Das  Volk  hat  seine  eigenen 
Priester,  welche  weit  davon  entfernt  sind,  die  Autorität  des  Pytha- 
goras  anzuerkennen.  Immermehr  trennt  sich  im  weiteren  Verlauf 
der  Geschichte  der  Begriff  vom  Priester  und  Gelehrten  bei  den 
Griechen  und  bald  beginnt  sogar  ein  Gegensatz  hervorzutreten, 
der  sich  bis  zur  gegenseitigen  Kampfstellung  verstärken  sollte.  In 
Sokrates  fällt  das  erste  Opfer,  welches  dieser  Kampf  verlangte;  mit 
ihm  richtet  die  Volkspriesterschaft  den  Philosophen,  den  Vertreter 
der  logischen  Wissenschaft. 

Um  jedoch  gerecht  zu  sein,  dürfen  wir  nicht,  wie  es  meist  ge- 
schieht, einseitig  nur  die  Seite  des  Wissenschaftlers  betrachten, 
sondern  wir  müssen  uns  auch  mit  gleichem  unbefangenen  Sinn  auf 
die  andere  Seite  zu  stellen  versuchen  und  fragen,  was  war  denn 
das,  was  gegen  diese  Wissenschaft  zu  Felde  zog,  was  war  denn 
jene  Religion,  welche  die  Volkspriester  verteidigten.  Wir  können 
es  mit  einem  Worte  sagen:  Es  war  das  Weltbild  der  untergegange- 
nen Urkultur,  das  gegen  das  neuaufkommende  zunächst  einmal 
„wissenschaftlich"  genannte  Weltbild  kämpfte.  Die  Ideen  und  Emp- 
findungen der  Urzeit  begannen  den  Kampf  gegen  etwas  Neuauf- 
kommendes, in  dem  sie  den  eigenen  Nachfolger  witterten. 

Leider  ist  es  nicht  sehr  viel,  was  wir  über  die  griechische  Volks- 
religion wissen.  Und  gerade  diese  Tatsache  zeigt,  daß  die  grie- 
chische Volksreligion  als  Ethik  nicht  auf  sehr  großer  Höhe  gestan- 
den haben  kann,  denn  sonst  würde  auch  die  wissenschaftliche 
griechische  Literatur  sie  mehr  beachtet  haben.  Es  ist  wohl  im 
wesentlichen  das  primitivste  Spiel  von  Gehorsam  und  Strafe  ge- 
wesen, welches  die  Priester  ihrem  Volke  als  ethische  Verhaltungs- 
maßregeln gaben  —  abgesehen  von  jenen  alten  sozialen  Gesetzen, 

24 


DasAltertum 

wie  etwa  Verhinderung  der  Verwandten-Ehe  usw.,  welche  sich  ja 
bereits  ziemlich  weitgehend  von  der  eigentlichen  Religion  abgelöst 
hatten.  BedeutendeDenkmälergriechischerEthik  finden  wir  anderer- 
seits in  den  griechischen  Dramen.  Jedoch  auch  hier  ist  der  Ein- 
druck ein  äußerst  unbefriedigender.  Die  Stellung  des  Einzelnen 
zum  Weltengrunde  ist  von  einer  geradezu  fürchterlichen  Proble- 
matik, insofern  als  entweder  eine  sinnlos  waltende  Ananke,  eine 
starre  Notwendigkeit  angenommen  wird,  der  die  Schicksale  der 
Menschen  Untertan  sind,  oder  aber  falls  die  Menschen  größere 
Schuld  auf  sich  geladen  haben,  rächende  Gottheiten  erscheinen, 
die  sie  verfolgen  und  rettungslos  verderben.  Irgendein  tieferes, 
systematischeres  oder  verständnisvolles  Eindringen  in  das  Verhält- 
nis des  Individuums  zur  Weltleitung  ist,  wenn  wir  von  gewissen 
Äußerungen  Piatos  usw.  absehen,  nirgends  zu  finden.  Wir  haben 
im  Griechentum  eine  grandiose,  etwas  einseitige  Entwickelung  des 
rationalisierenden  Intellekts  vor  uns,  die  in  ihrer  Richtung  zu  einer 
wundervollen  Blüte  des  menschlichen  Geistes  sich  emporhob,  in 
ethisch-religiöser  Richtung  jedoch  versagte. 

Ein  anderes  Bild  bot  in  dieser  Hinsicht  ein  anderes  Volk  des 
östlichen  Mittelmeerbeckens,  wenn  wir  nach  einem  intimeren  Ver- 
hältnis zum  Weltengrunde  und  auf  die  Tiefe  der  ethischen  Ein- 
stellung des  Individuums  gegenüber  seinem  Nebenmenschen  und 
dem  Weltganzen  schauen.  Dies  andere  Volk  waren  die  Juden. 
Eine  ungeheure  ethische  Gewalt,  ein  tiefstes  Eindringen  in  das 
letzte  Verhältnis  der  Seele  zu  ihrem  „Gott",  in  die  letzte  Verant- 
wortung des  Einzelnen  gegenüber  der  Weltleitung  zeigen  die  reli- 
giösen Schriften  dieses  Volkes  —  und  andere  als  religiöse  haben 
sie  kaum  hinterlassen.  Auch  die  Juden  basierten  auf  der  alten 
Kultur  des  Zweistromlandes,  in  ihrer  äußeren  Kultur  sind  sie  direkt 
ein  Zweig  dieses  riesigen  Baumes  —  aber,  wie  haben  sie  die  über- 

25 


DasAltertum 

nommenen  Mythen  ethisch  zu  vertiefen  gewußt,  wie  sind  sie  den 
Dingen  auf  ihren  letzen  Grund  gegangen.  Eine  Wissenschaft  im 
griechischen  Sinne,  eine  Wissenschaft  von  der  Außenwelt  hatten 
sie  nicht,  daher  war  hier  auch  für  den  genannten  Zwiespalt  mit  der 
Religion  kein  Platz.  Dafür  aber  haben  sie,  wenn  ich  mich  so  aus- 
drücken darf,  die  Wissenschaft  von  der  Innenwelt  erfunden,  be- 
gründet und  bis  zu  fabelhafter  Höhe  ausgebaut. 

Griechen  und  Juden  haben  die  zwei  Seiten  der  alten  Kultur  des 
Zweistromlandes,  die  wissenschaftliche  und  die  ethische,  jedes  Volk 
die  seine  in  glücklicher  Einseitigkeit,  soweit  ausgebaut,  daß  sie 
damit  auf  beiden  Gebieten  die  bleibenden  Fundamente  aller 
weiteren  Entwicklung  geschaffen  haben. 


26 


§  3.  Das  Mittelalter  und  die  Neuzeit. 
Wir  haben  gesehen,  daß  wohl  die  Griechen  das  einzige  Volk 
waren,  bei  dem  im  Altertum  ein  tiefer  gehender  Zwiespalt  zwischen 
Wissenschaft  und  Volksreligion  sich  auftat.  Es  ist  ja  auch  dies  ganz 
selbstverständlich,  da  die  Griechen  lange  Zeit  die  Einzigen  waren, 
die  wirkliche  Philosophie  und  Wissenschaft  im  eigentlichen  Sinne 
betrieben  und  zu  treiben  in  der  Lage  waren.  Hinzu  kommt  ein  ge- 
wisser Tiefstand  der  eigentlichen  griechischen  Volksreligion  und 
der  sozialen  Ethik  im  Vergleich  mit  derjenigen,  die  wir  bei  den 
Völkern  des  älteren  östlichen  Kulturkreises,  insbesondere  den 
Juden  usw.  fanden.  Als  dann  zu  den  Zeiten  des  Höhepunktes  des 
römischen  Kaiserreiches  jene  ungeheure  Vermischung  und  Durch- 
einanderwürfelung  der  orientalischen  und  griechischen  Geistes- 
kulturen stattfand,  aus  der  das  Christentum  zum  Teil  erst  hervor- 
ging, da  war  die  eigentliche  griechische  Wissenschaft  bereits  so 
sehr  von  ihrer  klassischen  Höhe  herabgesunken,  die  sie  in  einigen 
wenigen  ihrer  Vertreter  erreicht  hatte,  daß  ein  eigentlicher  Gegen- 
satz zwischen  ihr  und  den  neuen  religiösen  Bestrebungen  inner- 
halb der  gebildeten  Kreise  nicht  recht  zutage  treten  konnte.  Wir 
finden  allerdings  eine  heftige  Stellungnahme  der  führenden  Geister 
des  jungen  Christentums  gegen  gewisse  Formen  der  griechischen 
Philosophie  (Aufhebung  der  Akademie  in  Athen  durch  Kaiser  Ju- 
stinian  ca.  500  n.  Chr.),  insbesondere  auch  auf  ägyptischem  Boden, 
es  war  dies  jedoch  weniger  ein  Gegensatz  zwischen  Wissenschaft 
und  Religion  im  eigentlichen  Sinn,  als  vielmehr  ein  Gegensatz 

27 


Das    Mittelalter    und    die    Neuzeit 

zwischen  verschiedenen  philosophisch  ziemlich  gleichwertigen 
Richtungen  der  damaligen  Geistesbestrebungen.  Und  es  ist  ja  be- 
kannt, wie  sehr  die  junge  Kirche  sich  bemühte,  gerade  auch  mit 
der  klassischen  griechischen  Philosophie  sich  auseinander  zu 
setzen  und  diese  womöglich  zu  assimilieren.  Das  Evangelium  Jo- 
hannis  ist  ein  klassischer  Zeuge  für  dieses  Streben,  indem  es  nach 
Möglichkeit  die  christlichen  Heilslehren  zum  Teil  durch  die  Be- 
trachtungen der  idealistischen  griechischen  Philosophie  zu  be- 
gründen sucht.  Auch  Augustin,  der  selbst  auf  griechisch-organi- 
sierten Hochschulen  studiert  hatte,  wirkte  in  dieser  Richtung  wie 
viele  andere,  und  der  Erfolg  aller  dieser  Bestrebungen  war  derart, 
daß  die  mittelalterliche  Kirche  direkt  die  Philosophie  der  Aristoteles 
zur  offiziellen,  kirchlichen  Philosophie  erhob. 

Aus  diesem  Tatbestand  geht  unmittelbar  folgendes  hervor:  So- 
lange nicht  eine  neue  Wissenschaft,  eine  neue  Philosophie  auf- 
stand, welche  in  merkbarer  Weise  über  Aristoteles  hinausgriff,  war 
es  natürlich  unmöglich,  daß  von  neuem  ein  Gegensatz  zwischen 
Wissenschaft  und  Religion,  wie  sie  damals  verstanden  wurde,  ent- 
stehen konnte.  Und  bis  es  dazu  kam,  mußten  beinahe  eineinhalb 
Jahrtausende  vergehen.  Die  Zwischenzeit  gehörte  anderen  Auf- 
gaben als  derartigen  rein  geistig  spekulativen  Forschungen,  es 
mußten  all  jene  neuen  in  den  Gesichtskreis  der  bewußten  Welt- 
geschichte getretenen  Völker,  welche  die  Römer  zum  Teil  nur 
äußerlich  unterworfen  hatten,  zivilisiert,  kolonisiert,  es  mußten  die 
gewaltigen  geistigen  und  seelischen  Errungenschaften  der  alten 
Kulturwelt  von  ihnen  aufgenommen  und  verarbeitet  werden.  Diese 
Kolonisationsarbeit  war  eine  so  ungeheure,  die  Notwendigkeit, 
Organisationen  zu  schaffen,  um  alle  jene  neuen  Volksmassen  halb- 
wegs zu  der  zivilisatorischen  Höhe  zu  erziehen,  welche  das  Alter- 
tum unter  den  Griechen  und  Römern  erreicht  zu  haben  glaubte 

28 


Das    Mittelalter    und    die    Neuzeit 

bezw.  neue  Formen  hierfür  zu  entwickeln,  um  die  neue  soziale 
Gliederung  aller  Völker  auf  Grund  der  neuen  christlichen  Ideen 
durchzuführen,  war  eine  so  gewaltige,  daß  zunächst  keine  Zeit  und 
keine  Kraft  übrig  blieb,  um  den  letzten  und  feinsten  Äußerungen 
einer  hohen  geistigen  Kultur  des  logischen  Denkens  sich  von  neuem 
zuzuwenden. 

Erst  als  diese  Kolonisationsarbeit  insoweit  geleistet  war,  daß 
so  ziemlich  ganz  Westeuropa  von  Völkern  relativ  gleichförmiger 
Kulturhöhe  bewohnt  war,  da  begannen  da  und  dort  wiederum  die 
äußeren  Umstände  für  die  Entstehung  eines  ausgreifenderen  Den- 
kens günstig  zu  werden.  Gleichzeitig  kamen  dann  die  starken  An- 
stöße, welche  die  Wiederentdeckung  der  klassischen  Schriften  des 
griechischen  Altertums  und  deren  Verbreitung  durch  die  Erfindung 
der  Buchdruckerkunst  gaben.  Jetzt  verbreitete  sich  wieder  die  Kennt- 
nis jener  höchsten  Errungenschaften  griechischer  Geistesarbeit  unter 
den  Gelehrten  und  gaben  so  einen  Maßstab  und  einen  Ausgangs- 
punkt zu  neuen  Forschungen  und  neuen  kühnen  Gedankentaten. 

Und  mit  diesen  Umständen  tritt  automatisch  wiederum  der 
Gegensatz  zwischen  Wissenschaft  und  Religion,  letztere  verkörpert 
in  der  Kirche,  auf.  Naturgemäß,  denn  die  damalige  Kirche  hatte 
sich  festgelegt  auf  die  Philosophie  des  griechischen  Altertums,  ins- 
besondere auf  Aristoteles.  Somit  war  es  notwendig,  daß  jeder 
Denker,  der  irgendwie  über  Aristoteles  hinaus  wollte,  in  Konflikt 
mit  der  Kirche  kommen  mußte.  Wir  wollen  hier  nicht  untersuchen, 
warum  es  historisch  notwendig  war,  daß  die  Kirche  sich  auf  die 
aristotelische  Ph.osophie  festlegte,  es  leuchtet  unmittelbar  ein, 
daß  zu  einer  Zeit,  wo  es  keine  andere  Philosophie  gab,  man  nicht 
verlangen  konnte,  daß  man  das  spätere  Auftreten  anderer  Philo- 
sophien in  Rechnung  zog;  — für  uns  ist  nur  wichtig  die  Tatsache, 
daß  es  so  geschah.  Und  nun  folgt  jener  immer  heftiger  werdende 

29 


Das    Mittelalter    und    die    Neuzeit 

Kampf  der  beiden  Prinzipien,  einerseits  der  in  der  Kirche  verkör- 
perten Religion,  andererseits  der  in  den  kühnen  vorwärtsstrebenden 
Geistern  der  Gelehrten  verkörperten  Wissenschaft,  ein  Kampf,  der 
in  immer  steigender  Schärfe  und  mit  wechselndem  Erfolg  von 
beiden  Seiten  bis  auf  unsere  Zeit  geführt  wird,  und  der  vielleicht  in 
seinem  tiefsten  Sinne  ganz  unnötig  ist. 

Betrachten  wir  die  letzten  Phasen  dieses  Gegensatzes  seit  dem 
Wiederaufleben  der  Wissenschaften,  also  etwa  seit  1400,  noch  kurz 
etwas  näher. 

Auf  Seite  der  Wissenschaft  kam  eine  ununterbrochene  Reihe 
großer  Entdeckungen  zutage,  welche  vielfach  mit  den  Anschau- 
ungen der  Alten  in  Widerspruch  treten  mußten.  Angefangen  von 
den  Entdeckungen  des  Kopernikus  und  Keppler,  welche  die  Erde 
als  einen  um  die  Sonne  kreisenden  Planeten  erkennen  ließen,  die 
Entdeckung  der  allgemeinen  Schwerkraft,  die  Entdeckung  der  ver- 
schiedenen Kräfte  in  der  Physik,  die  Atomlehre  Daltons,  die  Ent- 
deckung der  Zelle,  die  Forschungen  über  die  geologischen  Verhält- 
nisse der  Erde  und  über  die  ausgegrabenen  Reste  von  Pflanzen 
und  Tieren,  die  moderne  entwicklungsgeschichtliche  Forschung 
in  Tier-  und  Pflanzenwelt,  mit  ihren  Hunderten  und  Aberhunderten 
von  großen  Geistestaten,  sie  alle  bewirkten  eine  steigende  Achtung 
vor  der  Wissenschaft  als  solcher  auch  in  den  breiten  Massen  des 
Volkes.  Damit  aber  wurden  auch  immer  neue  Gegensätze  ge- 
schaffen, denn  viele,  ja  die  meisten  dieser  Entdeckungen,  die  im- 
mer weniger  in  ihrer  Richtigkeit  angezweifelt  werden  konnten, 
standen  im  Gegensatz  zu  den  Kenntnissen  des  Aristoteles.  Und 
wie  der  Kampf  stets  die  Stellungnahme  der  Gegner  automatisch 
immer  mehr  zu  verschärfen  bestrebt  ist,  so  war  es  auch  hier.  Natur- 
gemäß neigte  die  Kirche  dazu,  überhaupt  die  ganze  neue  Wissen- 
schaft abzuweisen,  während  andererseits  viele  Forscher  in  der 

30 


Das    Mittelalter    and    die    Neuzeit 

Siegesfreude  ihrer  wissenschaftlichen  Triumphe  auch  jede  Berech- 
tigung der  Kirche  abzustreiten  und  auch  vielfach  aus  Gründen 
falsch  verstandener  intellektueller  Konsequenz  jeder  eigentlich  reli- 
giösen Regung  ihres  Innern  mit  Mißtrauen  gegenüber  zu  stehen 
begannen.  Es  entstand  mit  einem  Wort  eine  immer  schärfere  Tren- 
nung der  Geister.  Auf  der  einen  Seite  die  eigentlichen  Gläubigen, 
welche  mit  Willen  die  Lehren  der  Kirche  annahmen,  auch  da,  wo 
diese  mit  anerkannten  wissenschaftlichen  Tatsachen  in  Widerspruch 
standen.  Andererseits  viele  Wissenschaftler,  welche  jegliche  äußere 
und  innere  Gemeinschaft  mit  den  Gedankenkreisen  der  Kirche 
völlig  ablehnten  und  in  sich  unterdrückten.  In  beiden  Lagern  gab 
es  natürlich  eine  große  Menge  vorurteilsloser  Individuen,  denen  es 
zum  Bewußtsein  kam,  daß  sie  sich  in  einer  Zwangslage  befanden, 
jedoch  gab  es  objektiv  keine  Möglichkeit,  für  Menschen,  die  über- 
haupt zu  derartigen  Problemen  eine  ausgeprägte  Stellung  nehmen 
wollten  oder  mußten,  einen  Zwischenweg  einzuschlagen.  In  dem 
mehr  theoretisch  veranlagten  Deutschland  wenigstens  war  jene 
Möglichkeit,  die  manchen  Vertretern  der  mehr  praktisch  denkenden 
englischenNation  nahezuliegen  scheint,nämlich  beide  Standpunkte, 
sozusagen  zeitlich  und  räumlich  getrennt  in  ihrem  Gehirne  gleich- 
zeitig und  dennoch  glücklich  zu  bewahren,  nicht  so  leicht  einzu- 
führen. (Ich  erinnere  an  berühmte  englische  Forscher,  wie  Newton, 
Faraday  u.  a.)  Es  scheint,  daß  die  deutsche  Seele  nicht  umhin 
kann,  eine  gewisse  Einheitlichkeit  in  ihrer  Stellungnahme  zu  ver- 
langen, und  daß  sie  den  Mangel  solcher  Einheitlichkeit,  falls  diese 
durch  irgendwelche  Umstände  nicht  möglich  sein  sollte,  schwer 
empfindet  und  ihm  auf  alle  mögliche  Weisen  abzuhelfen  versucht. 
Wie  dem  auch  sei,  Tatsache  war  und  ist,  daß  dieser  tiefe  Zwiespalt 
bei  allen  wirklich  Denkenden  besteht,  und  gar  viele  Versuche  von 
verschiedenen  Seiten  sind  gemacht  worden,  ihn  zu  überbrücken. 

31 


II.  Kapitel. 

Der  wissenschaftliche  Tatbestand. 


§  1 .  Das  Problem. 

Wir  haben  im  vorigen  Kapitel  überlegt,  wie  sich  der  Zwiespalt 
zwischen  Wissenschaft  und  formulierter  Religion,  wie  wir  ihn  noch 
heute  scharf  unser  ganzes  Leben  und  Denken  durchziehen  sehen, 
entwickelte.  Wir  haben  uns  erinnert,  daß  dieser  Zwiespalt  im  wesent- 
lichen begann  zur  Zeit  des  Wiederaufblühens  der  Wissenschaften. 
Jedoch  trat  der  Gegensatz  nicht  überall  unmittelbar  und  allgemein 
in  seiner  ganzen  Tiefe,  in  Erscheinung,  sondern  wir  sehen,  wenn 
wir  die  Schriften  der  Gelehrten  verfolgen,  immer  wieder  die  ange- 
strengtesten Versuche,  die  momentane  Wissenschaft  mit  den  reli- 
giösen Vorstellungen  in  Einklang  zu  bringen.  Schon  die  Tatsache, 
daß  eine  ganze  Menge  der  bedeutendsten  Gelehrten  des  15.,  16.  und 
17.  Jahrhunderts  Geistliche  waren,  zeigt,  daß  die  Versuche,  beide 
Vorstellungskreise  in  Einklang  zu  bringen,  vielfältige  und  lebhafte 
gewesen  sein  müssen.  Um  nur  einen  der  Großen  herauszugreifen, 
so  sehen  wir  z.  B.  bei  Leibniz,  mit  welcher  GewaU  er  darum  ringt, 
seine  religiösen  und  philosophischen  Vorstellungen  in  Überein- 
stimmung zu  bringen.  Das  Resultat  ist  ein  eigenartiges  Produkt 
dieses  Strebens.  Der  Zwang  der  mathematischen  und  physikalischen 
Vorstellungen,  zu  deren  Ausbau  er  selbst  so  Bedeutendes  beige- 
tragen hat,  war  bereits  ein  so  starker,  daß  wir  bei  ihm  im  wesent- 

32 


Das  Problem 

liehen  schon  ein  mechanistisches  Weltbild  finden,  in  dem  für  die 
Tätigkeit  seines  Gottes  nur  in  seinen  letzten  Ausläufern  Platz  übrig- 
bleibt. Er  begabt  seine  Atome,  die  sogenannten  Monaden,  mit  der 
Vorstellung  einer  Art  von  Seele,  deren  Gesamtheit  für  ihn  die  Welt- 
seele darstellt.  Wir  haben  hier  einen  typischen  Versuch  vor  uns, 
das  bereits  sehr  weitgediehene  mechanische  Weltbild  nachträglich 
mit  der  Vorstellung  einer  bereits  ebenfalls  sehr  logisierten  Welt- 
seele zu  behaften. 

Noch  viel  schärfer  ist  dieser  Gegensatz  bei  Kant  geworden. 
Seinem  kritischen  Geiste  gelingt  es  nicht  mehr,  mit  dem  mecha- 
nischen Weltbilde  eine  Gottesvorstellung  der  alten,  überlieferten 
Art  in  natürUche  Beziehung  zu  setzen,  und  er  greift,  da  ihm  den- 
noch eine  solche  pFaktisch  als  absolut  nötig  erscheint,  zum  Aus- 
fluchtsmittel, diesen  Gott  gewissermiaßen  seinem  Weltbilde  gewalt- 
sam zu  oktroyieren,  ohne  daß  es  ihm  gelingt,  sich  in  dieser  Verbin- 
dung irgendwie  philosophisch  tiefer  zu  rechtfertigen. 

Durch  die  von  den  Erfolgen  der  exakten  Wissenschaften  ge- 
wissermaßen forcierte  Entwickelung  des  mechanistischen  Welt- 
bildes in  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  wurde  dann  für  viele  Kreise 
die  Möglichkeit  einer  Vereinigung  eines  Gottesbegriffes  mit  dem 
Weltbilde  immer  schwieriger  und  wir  sehen  den  Erfolg  dieses  Vor- 
ganges in  der  immer  größer  werdenden  Vertiefung  des  Wider- 
streites zwischen  mechanistischen  Wissenschaften  und  Religion, 
wie  wir  ihr  in  der  heftigsten  Ausprägung  insbesondere  in  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  begegnen. 

Es  zeigte  sich  immer  deutlicher,  daß  für  einen  Gottesbegriff  der 
aus  den  Kindheitstagen  der  Menschheit  überlieferten,  kritisch  und 
wissenschaftlich  völlig  ungeklärten  Art  eine  Anknüpfung  an  das 
rein  mechanistische  Weltbild  nicht  gefunden  werden  konnte.  Aber 
die  damalige  verbreitetste  Form  dieses  Weltbildes,  welche  auf  einer 

33  3 


Das  Problem 

rein  materialistischen  Erkenntnistheorie  basierte,  die  sich  allzu 
naiv  Atome  und  Kräfte  als  unmittelbar  Letztes  gegeben  vorstellte, 
ohne  zu  fragen,  wie  dann  diese  selbst  wieder  ihre  Existenz  recht- 
fertigen könnten,  zeigte  sich  bei  der  weiteren  Entwickelung  der 
philosophischen  Forschung  wenigstens  in  ihren  Grundlagen  im- 
mer weniger  als  stichhaltig.  Zwar  war  in  keiner  Weise  zu  leugnen, 
daß  das,  was  der  Materialismus  als  einziges  für  ein  Weltbild  bieten 
konnte,  die  Hauptmasse  des  wissenschaftlich  begründeten  Welt- 
bildes darstelle,  doch  eben  die  erste  Begründung,  die  Fundierung 
des  ganzen  Gebietes  war  eine  derart  naive  und  mangelhafte,  daß 
abschließende  Resultate  auf  diesem  Wege  nicht  erhalten  werden 
konnten.  Und  damit  konnte  auch  nicht  eine  volle,  sichere  Klä- 
rung jener  Fragen,  welche  den  Zusammenhang  zwischen  Wissen- 
schaft und  Religion  berühren  und  welche  doch  immer  wieder  die 
Seelen  der  Menschen  beschäftigten,  von  dieser  Seite  her  erwartet 
werden. 

Hier  nun  setzte,  zum  Teil  wohl  direkt  von  solchen  Überlegungen 
mit  angeregt,  eine  ganz  neue  Entwickelung  in  Wissenschaft  und 
Philosophie  ein,  welcher  es  gelang,  zunächst  einmal  das  starre 
Vorurteil,  daß  der  Materialismus  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
sämtliche  Fragen  bereits  löse,  in  den  denkenderen  Geistern  all- 
mählich zu  lockern,  und  so  die  Bahn  für  eine  neue,  unvoreinge- 
nommenere Betrachtung  frei  zu  machen.  Die  Wissenschaft  begann 
ihre  tieferen  Grundlagen  einer  neuen  und  intensiveren  Durch- 
forschung zu  unterziehen  —  eine  Bewegung,  die  in  stetiger  Aus- 
breitung seit  dem  letzten  halben  Jahrhundert  ständig  begriffen  ist, 
immer  neue  und  wunderbarere  Resultate  zeitigte,  und  von  der  noch 
nicht  abzusehen  ist,  wann  sie  ihren  Höhepunkt  überschreiten 
wird.  Die  Philosophie  wiederum  schuf  durch  eine  teilweise  Rück- 
kehr zu  Kant  sich  die  Möglichkeit,  sozusagen  von  neuem  anzu- 

34 


Das  Problem 

fangen,  ohne  sich  von  Vorurteilen  eingeengt  zu  sehen,  sie  ergriff 
mit  Freuden  die  ihr  von  der  ihre  eigenen  Grundlagen  erforschenden 
Wissenschaft  gebotenen  Anregungen,  und  versuchte  mit  vielfachem 
und  wachsendem  Erfolge  die  dort  erhaltenen  Resultate  für  eine 
allgemeine  philosophische  Weltbetrachtung  zu  verwerten  und  sich 
so  besser  zu  assimilieren. 

Auf  dieser  Stufe  angelangt  nun  kann  man  mit  neuer  Aussicht 
auf  einige  Klärung  sich  wiederum  die  Frage  nach  dem  Verhältnis 
von  Wissenschaft  und  Religion  stellen.  Man  kann  von  neuem 
fragen,  ob  denn  nicht  die  religiösen  Erfahrungen  und  ethischen 
Formulierungen  der  Alten  —  in  irgendeiner  modifizierten  Form 
natürlich  —  wenigstens  verständlich  innerhalb  des  wissenschaft- 
lichen Weltbildes  erscheinen  möchten.  —  Oder  ob  es  tatsächlich 
notwendig  sei,  diese  gewaltige  Seite  menschlichen  Innenlebens, 
wie  es  vom  Materialismus  fast  durchgehends  geschah,  lediglich 
als  eine  kindische  Verirrung  der  vergangenen  Generationen  zu 
betrachten,  und  sich  zu  der  Ansicht  zu  zwingen,  daß  die  riesigsten 
Konflikte  und  die  einschneidendsten  Meinungsstreite  der  Mensch- 
heitsgeschichte nur  durch  abergläubische  Beschränktheiten  verur- 
sacht worden  seien,  kurz,  ob  einer  der  wichtigsten  Motoren  der 
menschlichen  Entwickelung  ein  reines  Phantom  gewesen  sei.  Man 
kann  ferner  wieder  fragen,  ob  es  denn  notwendig  sei,  den  tiefsten 
ethischen  Fragen,  den  letzten  Wertungsproblemen,  wie  es  der 
Materialismus  pflegte,  fast  völlig  meinungslos  und  ohne  jede  Direk- 
tive gegenüberzustehen,  ob  es  tatsächlich  dem  wissenschaftlich  Den- 
kenden auferlegt  sei,  in  diesen  Fragen  auf  einer  Stufe  letzter  Primi- 
tivität zu  verharren,  sein  Dasein  und  sein  Streben  als  ein  mehr  oder 
weniger  sinnloses  Kräftespiel  zu  betrachten,  oder  ob  nicht  auch 
die  Wissenschaft  in  der  Lage  sei,  denen,  die  sich  von  ihrer  Unum- 
stößlichkeit überzeugt  hatten,  auch  einen  Aufschluß  über  die  letzten 

35  3* 


Das  Problem 

Fragen  des  Menschenlebens  zu  gewähren,  der  dem  Leben  einen 
Sinn  und  einen  Inhalt  bieten  kann. 

Um  diesen  Fragen  nähertreten  zu  können,  dazu  ist  es  nötig,  in 
aller  Kürze  einige  philosophische  Überlegungen  einzuflechten, 
welche  den  gegenwärtigen  Stand  der  wissenschaftlichen  Forschung 
in  diesen  Fragen  charakterisieren  sollen.  Und  wenn  wir  dann  im 
folgenden  Kapitel  die  Frage  in  Angriff  nehmen,  ob  denn  die  Vor- 
stellungen der  überlieferten  Religion  und  Ethik  wirklich  gar  so 
sinn-  und  grundlos  gewesen  seien,  wie  sie  einer  allzu  schnell  er- 
rungenen naturwissenschaftlichen  Bildung  heute  manchmal  er- 
scheinen möchten,  dann  werden  wir  finden,  daß  diese  Vorstellungen, 
wenn  sie  auch  mit  vielen  Resten  vorzeitlichen  Aberglaubens  be- 
haftet waren,  in  ihrem  wesentlichen  Kerne  ihr  volles  wissen- 
schaftliches Gegenbild  finden,  und  daß  insbesondere  die  For- 
mulierungen der  alten  jüdischen  Denker,  wie  sie  uns  im  Kanon 
des  Alten  Testamentes  entgegentreten,  den  wunderbarsten  Ein- 
blick in  die  tiefsten  Wahr-  und  Wesenheiten  des  Daseins  bieten, 
der  durch  die  kritischste  wissenschaftliche  Forschung  niemals  ver- 
worfen, sondern  immer  nur  von  neuem  bestätigt  und  um  so  tiefer 
begründet  werden  kann.^) 


*)  Wem  die  beiden  folgenden  Paragraphen  Schwierigkeiten  des  Verständnisses 
bieten,  der  kann  sie  ohne  besondere  Störung  überschlagen. 


36 


§  2.  Die  Wissenschaft. 

Wir  sahen  soeben,  daß  die  rein  materialistische  Weltauffassung 
sich  bei  näherer  Erforschung  nicht  bestätigte.  Es  ergab  sich  viel- 
mehr folgendes. 

Schon  seit  altersher  hatte  die  Mathematik,  und  mit  ihr  die  Geo- 
metrie und  mathematische  Mechanik  als  das  Vorbild  einer  vollen- 
deten Wissenschaft  gegolten.  An  ihr  also  mußten  sich  die  Ziele  der 
wissenschaftlichen  Forschung  und  das  Wesen  der  Naturgesetze 
am  besten  erkennen  und  verstehen  lassen.  Schon  die  Erfinder  der 
theoretischen  Geometrie,  die  alten  Griechen,  hatten  auf  diese  Über- 
legung eine  ganze  Philosophie  gegründet.  Nun  bestätigte  die 
wissenschaftstheoretische  Forschung  bis  jetzt  immer  mehr  bis  zur 
unumstößlichen  Gewißheit,  daß  wir  in  der  Mathematik  eine  beson- 
dere Form  der  Wissenschaft  vor  uns  haben,  eine  besonders  vollen- 
dete Form,  die  wir  als  theoretische  Wissenschaft  bezeichnen 
wollen.  Es  ergab  sich  ferner,  daß  alle  Wissenschaften  von  irgend- 
einem Gebiete  des  Wirklichen  dieser  vollendetsten  Form  zustreben, 
viele  (wie  große  Teile  der  Physik  und  Chemie)  sind  ihr  schon  sehr 
nahe  oder  haben  sie  erreicht,  andere  Gebiete  wieder  stehen  ihr 
noch  ferner  (die  unfertigen  Teile  von  Physik  und  Chemie,  die 
Meteorologie  usw.),  wieder  andere  dürften  erst  in  sehr  ferner  Zeit 
in  nennenswerter  Weise  sich  ihr  nähern,  oder  haben  sie  nur  erst 
ganz  wenig  gestreift  (die  größten  Teile  der  Biologie  und  Physio- 
logie usw.).  Innerhalb  dieser  vollendetsten  Art  von  Wissenschaft 
nun,  so  fand  man,  werden  die  Naturgesetze  nicht  mehr  im  eigent- 

37 


Die        Wissenschaft 

liehen  Sinne  experimentell  gefunden  oder  begründet,  sondern  sie 
entstehen  auf  mehr  logischem  Wege,  durch  Bearbeitung  der  Wirk- 
lichkeit mittels  unseres  logischen  Verstandes.  Die  Hilfsmittel  und 
Betrachtungsarten,  welche  der  logische  Verstand  hierbei  zur  An- 
wendung bringt,  werden  formuliert  in  sogenannten  Prinzipien,  und 
unter  diesen  Prinzipien  steht  in  erster  Linie  das  Prinzip  der  Öko- 
nomie, welches  besagt,  daß  in  der  theoretischen  Wissenschaft  in 
allen  Fällen  das  einfachste  logisch  mögliche  Gesetz  zur  Anwen- 
dung komme  und  als  Gesetz  gewählt  werden  müsse.  So  hatte  sich 
z.  B.  ergeben,  daß  rein  logisch  betrachtet  nicht  bloß  eine  Art  von 
Geometrie,  etwa  die  unsrige,  formuliert  werden  könne,  sondern 
daß  man  logisch  unabsehbar,  beliebig  viele  Arten  von  Geometrien 
formulieren  könne.  Man  fand  aber,  daß  gerade  die  unsrige  auf 
Grund  des  Ökonomieprinzips  als  einfachste  gefunden  werden 
müsse.  Natürlich  hatte  man  diese  unsere  Geometrie  schon  früher 
gefunden  gehabt,  sozusagen  experimentell,  aber  jetzt  erst  stellte 
sich  heraus,  wie  man  dieses  experimentelle  Resultat  in  seinem 
Vorhandensein  verstehen  könne.  Man  fand  nämhch,  daß  man  bei 
der  experimentellen  Erforschung  der  Geometrie  früher  sozusagen 
instinktiv  schon  die  einfachsten  Verhältnisse  gewählt  hatte.  So  ist 
es  denn  nicht  mehr  merkwürdig,  daß  etwas,  was  früher  rein  objektiv 
durch  Experiment  gefunden  zu  sein  schien,  neuerdings  sich  als  das 
Resultat  einer  zwar  nicht  willkürlichen,  aber  doch  freiwilligen  Wahl 
darstellt. 

Mit  dieser  kurzen  Darlegung  über  die  Geometrie  haben  wir  den 
wesentlichsten  Punkt  der  modernen  Entwicklung  der  Wissen- 
schaftslehre, bzw.  der  Erkenntnistheorie  schon  festgelegt:  es  ist 
eine  völlige  Verschiebung  in  der  Auffassung  der  Naturgesetze  zu- 
stande gekommen,  Waren  früher  die  Naturgesetze  irgendwelche 
mystisch  gegebene  Dinge,  welche  von  irgendeiner  höheren  Macht, 

38 


Die        Wissenschaft 

sei  sie,  welche  sie  sei,  als  gegeben  erschienen,  welche  dem  Weltall 
auf  eine  nicht  erklärbare  Weise  anhafteten,  so  zeigte  sich  jetzt,  daß 
diese  Naturgesetze  in  den  theoretischen  Wissenschaften  alle  und 
jede  Mystik  ablegten  und  sich  einfach  als  freiwillig  zur  logischen 
Bearbeitung  der  Wirklichkeit  nach  möglichst  praktischen  Gesichts- 
punkten aufgestellte  logische  Schemata  erwiesen.  Die  experimen- 
tell gefundenen  und  bisher  noch  nicht  theoretisch  begründeten  Ge- 
setze fallen  zwar  zunächst  aus  diesem  Rahmen  heraus,  es  ist  aber 
klar,  daß  auch  sie  nur  ein  vorläufiges  Stadium  darstellen  und  in 
irgendeiner  Zeit  ihre  Einreihung  in  diejenigen  Gesetze  zu  erwarten 
haben,  denen  jede  Mystik  genommen  ist. 

Nach  dieser  Anschauung  stellt  sich  aber  das  Gesamtbild  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  etwa  folgendermaßen  dar.  Gegeben 
ist  der  Gesamtstrom  der  Wirklichkeit,  des  wirklichen  Geschehens. 
Ihn  zu  erklären  und  zu  deuten  —  und  dadurch  dann  auch  mit  der 
Tat  zu  beherrschen  —  ist  die  Aufgabe  der  Wissenschaft.  In  rein- 
ster Form  tut  dies  die  theoretische  Wissenschaft.  Sie  zerlegt  diese 
Gesamtheit  der  wirklichen  Erscheinungen  nach  gewissen  beson- 
ders praktischen  logischen  Prinzipien,  indem  sie  auf  diese  Weise 
die  Naturgesetze  sozusagen  selbst  herbeiführt,  sie,  die  nach  prak- 
tischsten logischen  Gesichtspunkten  ausgewählt  sind,  in  die  Wirk- 
lichkeit hineinträgt.  Dieser  Prozeß,  der  auf  ein  systematisches  Ord- 
nen der  natürlichen  Erscheinungen  hinausläuft,  ist  ein  stetig  immer 
weiter  fortschreitender  und  ein  sowohl  ins  Kleine  wie  ins  Große, 
d.  h.  intensiv  und  extensiv  unendlicher.  Mit  anderen  Worten,  die 
theoretische  Wissenschaft  stellt  sozusagen  ein  stetig  sich  vergrößern- 
des Gebäude  dar,  das  immer  weitere  Gebiete  der  Wirklichkeit  zu 
umfassen  strebt.  Ein  Bild  wird  dies  vielleicht  noch  klarer  machen. 
Denken  wir  uns  in  einer  Lösung,  einer  Mutterlauge  einen  kleinen 
Kristall  eingelegt  des  betreffenden  Stoffes.  Dann  denken  wir  uns 

39 


Die        Wissenschaft 

bekanntlich  die  Moleküle  im  Kristall  nach  schärfsten  mathema- 
tischen Gesetzen  orientiert,  während  die  Moleküle  in  der  Lösung 
völlig  ungeordnet  und  unorientiert  sind.  Der  Kristall  nun  reißt 
beim  Wachsen  die  Moleküle  seiner  Umgebung  an  sich  und  ordnet 
sie  in  sein  eigenes  genaues  Gefüge  ein.  So  können  wir  uns  die 
Gesamtheit  der  Wirklichkeit  als  die  Mutterlauge  vorstellen  und  die 
theoretische  Wissenschaft  als  den  Kristallkern,  de*  immer  mehr 
und  mehr  von  der  Lösung  sich  anzuschließen  und  seiner  Ordnung 
einzufügen  sucht. 

An  dieses  Gebäude  der  theoretischen  Wissenschaft  schließen 
sich  dann  die  Gebiete  an,  welche  noch  nicht  völlig  oder  noch  kaum 
„theoretisiert"  sind.  Zum  Unterschiede  wollen  wir  das  Gebäude  der 
theoretischen  Wissenschaft  den  „theoretischen  Urbau"  nennen 
und  konstatieren,  daß  dieser  im  Laufe  der  unendlichen  Zeit  die  Ge- 
samtheit der  Wirklichkeit  zu  umfassen  berufen  ist.  Damit  ist  aber  ge- 
sagt, daß  es  keinerlei  Grenze  gibt,  welche  der  Urbau  nicht  zu  über- 
schreiten vermöchte,  d.  h.  daß  es  keine  Erscheinung  der  Wirklich- 
keit gibt,  welche  nicht  nach  und  nach  in  einer  kürzeren  oder  länge- 
ren, aber  stets  endlichen  Zeitspanne  der  wissenschaftlichen  Erfor- 
schung und  Erklärung  ihrer  Bedingungen  und  dann  der  Einordnung 
in  den  theoretischen  Urbau  unterworfen  würde.  Dies  ist  ein  Resultat 
von  überaus  großer  Tragweite,  welches  hier  zwar  nicht  in  allen  De- 
tails bewiesen  werden  (hierzu  wären  die  modernen  wissenschafts- 
theoretischen Untersuchungen  zu  vergleichen),  welches  aber  bereits 
als  sehr  klare  Folgerung  aus  dem  bereits  Gesagten  eingesehen 
werden  kann.  Denn  offenbar  ist  für  unser  zerlegendes  Herantreten 
mittels  der  logischen  Prinzipien  an  die  Wirklichkeit  irgendeine 
Abhängigkeit  davon,  was  dieser  Operation  unterworfen  wird,  in 
keiner  Weise  gegeben,  sondern  es  wird  die  vorgelegte  Wirklichkeit 
einfach  nach  diesen  Regeln  behandelt.  Die  Frage,  ob  irgendein 

40 


Die        Wissenschaft 

bestimmter  Teil  der  Wirklichkeit  nach  diesen  Regeln  behandelt 
werden  kann  (z.  B.  die  Organismen)  hat  also  gar  keinen  Sinn. 
Irgendeine  Unterscheidung  verschiedener  Teile  der  Wirklichkeit, 
die  nach  diesen  Regeln  behandelt  werden  können  oder  nicht,  ist 
sinnlos.  Sie  werden  eben  alle  darnach  behandelt  und  zwar  führt  je 
nach  der  Komplikation  diese  Behandlung  langsamer  oder  schneller 
zu  einem  gewissen  Ziele. 

Nun  sind  natürlich  verschiedene  Teile  der  Wirklichkeit  in  einem 
bestimmten  Sinne  von  verschiedenen  Graden  der  Komplikation. 
Ein  Stück  Kochsalz  und  eine  Maus  unterscheiden  sich  dadurch, 
daß  die  Maus  ein  Gegenstand  von  unvergleichlich  viel  größerer 
Mannigfaltigkeit  der  Reaktionen  gegen  die  Bedingungen  der  Um- 
gebung darstellt  innerhalb  des  gleichen  Genauigkeitsspielraumes, 
als  das  Stück  Kochsalz.  Daher  werden  uns  auch  die  Gesetze, 
welche  das  Verhalten  des  Kochsalzes  darstellen,  viel  leichter  zu  er- 
forschen sein,  wie  die  bei  der  Maus  in  Betracht  kommenden.  Aber 
ein  prinzipieller  Grund,  warum  irgendein  spezielles  Verhalten  der 
Maus  nicht  auf  Grund  der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Regeln 
sollte  —  wenn  auch  erst  in  vielleicht  sehr  ferner  Zeit  —  erklärt 
werden  können,  ist  nicht  vorhanden.  So  ist  es  klar,  daß  schließlich 
auch  der  Mensch  mit  jeder  einzelnen  seiner  Äußerungen  theoretisch 
völlig  einmal  in  den  Bereich  des  auf  diese  Weise  Erforschbaren  fallen 
muß,  insoferne,  daß  diese  Äußerungen  als  Folgen  bestimmter  Be- 
dingungen und  in  ihrer  Abhängigkeit  von  diesen  nach  allgemeinen 
Gesetzen  erkannt  werden.  * 

1  Die  Gesamtheit  der  Wirklichkeit  wird  jedoch  erst  nach  unendlich  langer  Zeit 
restlos  unter  diese  Erforschung  gefallen  sein.  In  endlicher  Zeit  wird  daher  niemals 
alles  erforscht  sein  und  soweit  man  auch  gekommen  sein  wird,  immer  wird  noch 
imendlich  viel  zu  erforschen  übrig  bleiben.  Aber  irgendeine  Abgrenzung  oder 
Kennzeichnung  dessen  oder  von  etwas  Bestimmtem,  das  stets  unerforscht  bleiben 
müßte,  ist  ebenfalls  unmöglich. 

41 


§  3.  Entwickelung. 

Mit  der  letzten  Bemerkung  des  vorigen  Paragraphen  aber  haben 
wir  das  Gebiet  berührt,  welches  uns  für  unseren  vorliegenden 
Zweck  am  meisten  angeht  von  den  Konsequenzen  der  Wissen- 
schaftstheorie. 

Es  ergibt  sich  aus  diesen  Überlegungen  zunächst,  daß  das,  was 
unserer  wissenschaftlichen  Erklärung  unterworfen  ist,  wenn  auch 
erst  vielleicht  in  beliebig  ferner  Zeit,  schlechterdings  keine  Lücke 
übrig  läßt,  die  Platz  ließe  für  etwas,  das  prinzipiell  von  dieser  Er- 
klärung ausgeschlossen  wäre,  sondern  daß  es  die  ganze  Wirklich- 
keit restlos  und  ohne  Ausnahme  umfaßt.  Daß  dies  der  Fall  ist,  geht 
aus  dem  genauen  Studium  der  Art  hervor,  wie  wir  derartige  Er- 
klärungen wirklicher  Erscheinungen  herstellen.  Damit  ist  nun  aber 
auch  gesagt,  daß  wir  irgendwelche  Fragen  innerhalb  des  gegebe- 
nen Rahmens  beantworten  müssen,  daß  wir  keine  Möglichkeiten 
haben,  Erscheinungen  der  Wirklichkeit  auf  andere  Weise  zu  er- 
klären. 

Für  unsere  Interessen  in  der  vorliegenden  Schrift  ist  nun  die 
Konsequenz  aus  dem  Gesagten  von  Wichtigkeit,  daß  wir  selbst, 
unsere  Person  mit  allen  ihren  Äußerungen,  ebenfalls  in  den  Bereich 
des  durch  die  Wissenschaft  in  näherer  oder  fernerer  Zeit  Erklär- 
baren völlig  aufgenommen  sind.  Dieses  Resultat  ist  allerdings  für 
die  meisten  Erscheinungen  an  unserer  Person,  wie  wir  sie  im  täg- 
lichen Leben  erleben,  ein  rein  theoretisches.  Denn  gerade  die 
Lebensäußerungen,  und  besonders  noch  die  des  Menschen,  sind 

42 


Entwickelung 

von  einem  so  hohen  Grade  von  KompHkation,  daß  wir  auf  eine 
wissenschaftlich  genaue  Erklärung  in  der  am  Ende  des  vorigen 
Paragraphen  geschilderten  Weise  in  den  meisten  Fällen  erst  in 
sehr  ferner  Zeit  hoffen  dürfen.  Aber  trotzdem  ist  das  Resultat  von 
großer  Tragweite. 

Wenn  ich  daraufhin  nämlich  nach  den  Konsequenzen  für  das 
tägliche  Leben,  für  mein  tägliches  Handeln  frage,  so  ergibt  sich 
als  erste  Folgerung:  Ich  muß  mich  in  meinen  Handlungen  den  ge- 
fundenen Gesetzen  der  Wirklichkeit  unterwerfen,  denn  diese  Ge- 
setze gelten  für  mich  und  meine  Äußerungen  in  jeder  Hinsicht. 
Eine  Opposition  dagegen  gibt  es  nicht. 

Aber  nicht  alles,  was  das  Leben  bringt,  läßt  sich  zurzeit  durch 
Gesetze  der  theoretischen  Wissenschaft  erklären.  Vielmehr  stellt 
das  so  Erklärbare  den  geringeren  Teil  des  Erlebens  dar.  Allzumeist 
sind  wir  im  täglichen  Leben  auf  „Erfahrungsgesetze"  angewiesen, 
welche  Vorläufer  späterer  theoretisch  formulierter  und  ableitbarer 
Gesetze  sind.  Diese  Erfahrungsgesetze  beruhen  auf  folgendem 
Satze,  welcher  theoretisch  durchaus  begründbar  ist:  Unter  Um- 
ständen, welche  nicht  erkennbar  verschieden  oder  nicht  sehr  stark 
verschieden  sind,  findet  auch  so  ziemlich  das  Gleiche  statt.  Dabei 
genügt  es  meistens,  auf  die  Beachtung  der  näher  liegenden  Um- 
stände sich  zu  beschränken.  Dieser  Satz  wird  auf  Vorgänge  ange- 
wandt, welche  noch  nicht  genau  erforscht  sind,  und  deren  Gesetze 
noch  nicht  dem  theoretischen  Urbau  angehören.  Er  führt  in  den 
meisten  Fällen  zu  richtigen  Resultaten.  Die  Resultate  sind  also 
nichtvölligsicher,  sondern  nur  mehr  oder  wenigerwahrscheinlich,  je 
nachdem  uns  Umstände,  welche  für  den  Vorgang  von  Wichtigkeit 
sind,  entgangen  sind  oder  nicht.  Wir  alle  wissen  tausende  von  Bei- 
spielen aus  unserem  täglichen  Leben,  wo  wir  unsere  Erwartungen 
getäuscht  sehen.  Aber  andererseits  hat  ein  Mensch  von  einiger  Er- 

43 


Entwickelung 

fahrung  auch  sehr  viel  mehr  Fälle  aufzuweisen,  wo  seine  Erwar- 
tungen eintreffen.  Denn  in  unsicheren  Fällen  vermeidet  er  es  eben, 
sich  auf  bestimmte  Erwartungen  festzulegen.  Also  auch  diesen  Er- 
fahrungsgesetzen, soweit  sie  uns  eben  bekannt  sind,  müssen  wir 
folgen,  so  gut  wir  können.  Auch  da  hilft  keine  Opposition. 

Zu  diesen  Erfahrungsgesetzen  gehört  aber  insbesondere  das 
Folgende :  Wenn  wir  die  geologischen  Schichten  der  Erde  durch- 
forschen, dann  finden  wir,  daß  die  Tierreste  in  ihnen  derart  ange- 
ordnet sind,  daß  im  allgemeinen  je  näher  eine  Schicht  unserer 
jetzigen  Zeit  liegt,  je  komplizierter  sind  die  Lebensäußerungen 
derjenigen  lebenden  Tiere,  welche  den  betreffenden  Tierresten  am 
ähnlichsten  sind.  Diese  Bemerkung  enthält  die  Aussage,  daß  in 
dem  Auftreten  neuer  Tierarten  im  Laufe  der  Erdgeschichte  eine 
gewisse  Tendenz  obgewaltet  haben  muß,  eine  gewisse  Richtung. 
Wir  bezeichnen  diese  Veränderung  in  bestimmter  Richtung  als 
Entwickelung,  und  nennen  das  Fortschreiten  zu  höherer  Kompli- 
kation der  Lebensäußerungen  Fortschritt.  Die  ganze  Betrachtungs- 
weise  wird  als  Prinzip  der  Entwickelung  bezeichnet. 

Dieses  Entwickelungsprinzip  ist  kein  Gesetz  der  theoretischen 
Wissenschaft,  sondern  ein  Erfahrungsgesetz.  Unsere  Forschungen 
zeigen  uns,  daß  es  im  Vergleich  zur  Dauer  eines  Menschenlebens 
überaus  lange  Zeiträume  gewesen  sein  müssen,  innerhalb  deren 
diese  Entwickelung  vor  sich  gegangen  ist,  und  daß  die  während 
dieser  Zeiten  herrschenden,  allgemeinen  Verhältnisse  auf  der  Erde 
keine  mit  den  unsrigen  völlig  unvergleichbaren  gewesen  sein  kön- 
nen, wenn  sie  auch  vielfach  verschieden  genug  waren.  Im  ganzen 
aber  waren  es  in  den  langen  Zeiträumen  der  Entwickelung  Ver- 
hältnisse, denen  wir  mit  unseren  modernen  Anpassungsmethoden 
wohl  immerhin  noch  gewachsen  wären.  Wenden  wir  dann  unseren 
obigen  Satz  auf  diese  Umständean, so könnenwiretwasagen:Inner- 

44 


Entwickelung 

halb  des  Spielraumes,  in  dem  die  Verhältnisse  auf  der  Erde  während 
der  Entwickelung  der  Tierwelt  sich  änderten,  wird,  nachdem  diese 
Periode  eine  so  unübersehbar  lange  Zeit  andauerte,  und  eine 
größere  Veränderung  der  Umstände  des  Universums  in  unserer 
Umgebung  nicht  bemerkt  oder  erwartet  werden  kann,  auch  auf 
sehr  lange  Zeit  hinaus  die  Änderung  der  Umstände  auf  der  Erde 
sich  erhalten.  Damit  aber  ist  auf  diese  Zeit  hinaus  die  weitere  Er- 
haltung und  auch  der  weitere  Fortschritt  des  Menschengeschlechtes 
äußerst  wahrscheinlich.  Nehmen  wir  hinzu,  daß  auch  in  der  Be- 
herrschung der  Natur  eine  sogar  neuerdings  recht  schnelle  Ent- 
wickelung im  Sinne  eines  Fortschrittes  konstatiert  werden  kann, 
so  ist  zu  hoffen,  daß,  wenn  einmal  dann  nach  sehr  langer  Zeit  die 
Umstände  auf  der  Erde  sich  in  erheblicherem  Maße  ändern  sollten, 
die  Menschen  auf  Grund  der  dann  gewonnenen  Hilfsmittel  in  der 
Lage  sein  werden,  sich  auch  diesen  veränderten  Umständen  anzu- 
passen und  sich  zu  erhaltend 
Hieraus  wollen  wir  versuchen  einige  weitere  Schlüsse  zu  ziehen. 


1  Vorausblicke  in  eine  nähere  Zukunft  enthält  die  vor  einem  grandiosen  ethischen 
Hintergrund  aufgebaute  Schrift  von  Walter  Rathenau  .Von  kommenden  Din- 
gen", mit  deren  Inhalt  wir  uns  da  und  dort  berühren. 

45 


III.  Kapitel. 

Die  religiöse  Auswertung.  Allgemeines. 


§  1.  Der  Gotiesbegriff. 

Aus  den  Uranfängen  der  Menschheit  herauf  sind  uns  Gedanken 
überliefert,  welche  mit  einer  Gewalt  wie  keine  anderen  in  die  Ge- 
schicke der  Menschen  eingegriffen  haben  und  welche  sich  mit  einer 
unerhörten  Kraft  und  Ausdauer  erhalten  und  immer  wieder  durch- 
gesetzt haben,  derart,  daß  wenn  sie  einmal  fallen  gelassen  zu  sein 
schienen,  sie  doch  immer  wieder  aufgenommen  und  in  vielleicht  et- 
was anderer  Gestalt  mit  immer  wieder  neuer  Kraft  vorwärts  getragen 
wurden.  Wir  meinen  diejenigen  Gedanken,,  welche  man  im  allge- 
meinen als  „religiöse"  bezeichnet.  Bei  allen  Völkern,  wo  wir  auch 
auf  der  weiten  Erde  nachforschen,  finden  wir  eine  Vorstellungs- 
gruppe, welcher  die  kausale  Verantwortlichkeit  für  alle  und  insbe- 
sondere die  letzten  Dinge  des  Daseins  zugeschrieben  wird,  welche 
dafür  also  ein  „kausales  Zentrum"  bildet.  Bei  den  primitivsten  Völ- 
kern sehen  wir  diesen  Begriff  der  Weltleitung  noch  zersplittert,  der- 
art, daß  irgendein  besonders  auffälliger  Umstand  der  Außenwelt, 
sei  es  ein  auffallender  Baum,  ein  auffallendes  Tier,  ein  merkwürdig 
geformter  Stein,  ja  sogar  mitunter  ein  farbiger  Lappen  als  das  kau- 
sale Zentrum  für  irgendeine  Gruppe  von  Geschehnissen  betrachtet 
wird,  die  den  Betrachter  irgendwie  persönlich  besonders  berühren. 
Wir  haben  im  ersten  Kapitel  gesehen,  daß  eine  wesentlich  höhere 

46 


Der        Gottes     begriff 

Stufe  dieser  Gedankengänge  uns  bei  den  Babyloniern  entgegen- 
tritt, wir  sahen,  daß  diese  Völker  zur  Zeit  ihrer  Blüte  nicht  mehr 
irgendeinen  beliebigen  Gegenstand  je  nach  Bedarf  als  Kausal- 
zentrum für  bestimmte  Geschehnisse  verwenden,  d.  h.  daß  sie  nicht 
mehr,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  dem  Fetischismus  huldigen.  Sicher- 
lich war  auch  einst  bei  den  ältesten  Vorfahren  jener  Völker  des 
Zweistromlandes  der  Fetischismus  zu  Hause.  Aber  schon  unsere 
ältesten  Quellen  lassen  erkennen,  daß  zu  der  Zeit,  da  sie  geschaffen 
wurden,  eine  sehr  viel  höhere  Stufe  der  Weltdeutung  erreicht  war, 
indem  es  ein  für  allemal  bestimmte  Gegenstände  waren,  welche 
als  Kausalzentren  für  das  gesamte  Geschehen  betrachtet  wurden. 
Und  zwar  waren  dies  nicht  irgenwelche  naheliegende  oder  klein- 
liche Gegenstände,  sondern  außerordentliche,  eindrucksvolle,  mäch- 
tige und  den  kleinen  Weltläuften  unerreichbare  Gegenstände,  welche 
zu  diesem  Zwecke  herausgegriffen  waren  aus  der  Wirklichkeit  — 
es  waren  die  großen  Gestirne  des  Himmels.  Es  ist  ohne  weiteres 
klar,  daß  zwischen  der  primitivsten  fetischistischen  Stufe  und  der 
Form  der  Weltdeutung,  wie  wir  sie  bei  den  Babyloniern  finden, 
eine  Zwischenstufe  eingeschaltet  gewesen  sein  muß,  in  der  es  eben- 
falls nicht  mehr  dem  Belieben  des  einzelnen  überlassen  war,  seine 
Kausalzentren  selbst  zu  wählen,  sondern  wo  die  ganze  soziale  Ge- 
samtheit, welche  einer  einheitlichen  Kultur  unterlag,  bereits  dazu 
gelangt  war,  ein  für  allemal  bestimmte  Kausalzentren  aufzustellen, 
wenn  auch  diese  noch  nicht  in  jenen  mächtigen  und  unerreichbaren 
Gestirnen  bestanden  haben.  Es  werden  hiefür  wohl  zunächst  be- 
stimmte eindrucksvolle  Tiere,  sogen,  heilige  Tiere,  heilige  Bäume, 
schließlich  auch  heilige  Berge  gewählt  worden  sein,  dazwischen 
aber  wohl  immer  wieder  einmal  eine  besonders  eindrucksvolle 
menschliche  Persönlichkeit. 
Bei  den  Babyloniern  finden  wir  also  —  in  voller  Reinheit  natür- 

47 


Der        Gottes     begriff 

lieh  nur  bei  den  Priestern  und  Gelehrten  —  die  unerreichbarsten 
Dinge  der  Wirklichkeit  als  Kausalzentren  gewählt.  Wir  haben  früher 
schon  gesehen,  daß  diese  Wahl  gerade  den  Vorzug  hatte,  auf  Dinge 
zu  treffen,  welche  einer  großartigen  und  relativ  leicht  zu  durch- 
schauenden Gesetzlichkeit  gehorchten.  Ob  nun  diese  Gesetz- 
lichkeit der  Grund  war,  warum  gerade  die  großen  Gestirne  zu 
Kausalzentren  gemacht  wurden,  oder  ob  man  durch  das  Studium 
der  gewählten  Kausalzentren  erst  zur  Entdeckung  jener  feineren 
Gesetzlichkeiten  gelangte,  oder  ob  drittens  —  was  das  wahrschein- 
liche ist  —  beide  Möglichkeiten  abwechselnd  eintraten  und  sich 
auf  diese  Weise  gegenseitig  verstärkten,  das  ist  nachträglich  schwer 
zu  entscheiden.  Sicher  aber  ist  das  eine,  daß  im  Zusammenhang 
mit  der  Wahl  der  großen  Gestirne  als  Kausalzentren  für  alles  Ge- 
schehen der  Anstoß  gegeben  war  zur  möglichsten  Durchführung 
einer  analogen  Gesetzlichkeit  in  den  Dingen  des  täglichen  Lebens 
und  des  Staates,  welche  von  der  gewaltigsten  Wirkung  für  die  Kul- 
turentwicklung wurde.  —  Wir  wollen  zunächst  hier  einhalten  und 
die  Bedeutung  des  Begriffes  des  Kausalzentrums  uns  ein  wenig 
überlegen.  Der  primitivste  Mensch  stand  den  Erscheinungen  seiner 
Umgebung,  welche  in  unübersehbarer  Abwechselung  und  Zufällig- 
keit auf  ihn  einstürmten,  gedanklich  zunächst  völlig  hilflos  gegen- 
über. Es  passierte  ihm,  daß  seine  Kinder  von  einem  wilden  Tiere 
zerrissen  wurden,  dann  bekämpfte  er  dieses  Tier  und  suchte  es  zu 
vernichten.  Solange  er  es  bloß  während  der  Tat  selbst  bekämpfte, 
war  es  einfaches  Abhalten.  Aber  mit  der  geistigen  Höherentwicke- 
lung kam  dann  ein  geistiges  Nachzeichnen  der  Vorgänge,  auch 
wenn  sie  vielleicht  schon  vergangen  waren  und  dieselbe  Kampfes- 
wut, welche  vorher  das  Untier  nur  während  der  Tat  angriff,  wurde 
jetzt  durch  die  Phantasievorstellung  auch  noch  nach  der  Tat  ausge- 
löst—  mit  einem  Wort,  es  trat  die  Idee  der  Strafe  oder  der  Rache  in 

48 


Der        Gottes     begriff 

den  Gesichtskreis  der  Menschen.  Wir  bemerken  unmittelbar,  daß 
dies  bereits  eine  kausale  Verknüpfung  bedeutet.  Es  ist  nicht  mehr 
der  unmittelbare,  größtenteils  instinktive  Anreiz  der  momentanen 
Wahrnehmung,  sondern  es  entsteht  bereits  ein  Handeln  auf  Grund 
dieser  Nachkonstruktion  —  eine  typische  Kausalverknüpfung.  So 
gewöhnte  sich  der  Mensch  allmählich,  alle  Vorgänge,  welche  ihm 
persönlich  nahetraten  und  daher  für  ihn  Interesse  hatten,  in  seiner 
Phantasie  auf  irgendwelche  Umstände  zurückzuführen,  welche  er 
zunächst  wohl  in  Analogie  zu  jenem  wilden  Tiere  dachte  —  er  er- 
weiterte seine  Kausalbetrachtung.  Und  so  kam  es,  daß  bei  irgend- 
einem Vorgang,  dessen  Kausalzentrum  er  nicht  kannte,  er  irgend- 
einen naheliegenden  Gegenstand  als  Kausalzentrum  dafür  annahm. 
Nun  wurde  sicher  bei  der  weiteren  geistigen  Höherentwickelung 
des  Menschen  gar  häufig  die  Beobachtung  gemacht,  daß  ein  sol- 
ches vermeintliches  Kausalzentrum  nicht  die  Ursache  von  dem  be- 
treffenden Ereignis  gewesen  sein  konnte.  Der  Schluß,  der  dabei 
zur  Anwendung  kommt,  ist  die  sogen.  Differenzmethode  nach  John 
Stuart  Mill,  indem  ein  nochmaliges  Vorhandensein  des  Kausalzen- 
trums nicht  nocheinmal  die  gleiche  Wirkung  auslöste,  so  daß  also 
das  vermeintliche  Kausalzentrum  „es  nicht  gewesen  sein  konnte". 
Diese  Methode  der  Kausalzentren  hatte  für  die  geistig  erwachende 
Menschheit  etwas  sehr  Befriedigendes.  Es  war  den  Menschen  ein 
geistiger  Zwang,  derartige  Kausalzentren  aufzustellen,  und  so  oft  sie 
auch  sich  getäuscht  gesehen  haben  mögen,  immer  wieder  versuchten 
es  lebhaftere  Geister  von  neuem,  die  richtigen,  wahren  Kausalzen- 
tren aufzufinden.  Nun  war  es  natürlich  bei  irdisch  zugänglichen 
Gegenständen  sehr  häufig  möglich,  die  Probe  auf  das  Exempel 
zu  machen.  Und  dabei  mußte  sich  naturgemäß  sehr  häufig  heraus- 
stellen, daß  es  fälschlich  gewählte  Kausalzentren  gewesen  waren. 
So  ergibt  sich  ganz  von  selbst,  daß  die  gewählten  Kausalzentren 

49  * 


Der        Gottes     begriff 

mit  der  fortschreitenden  Entwickelung  förmlich  automatisch  in  im- 
mer weitere  Ferne  rücken  mußten.  Und  so  haben  wir  bei  den  Ba- 
byloniern  jenen  Zustand  vorgefunden,  der  in  einer  gewissen  Hin- 
sicht einen  Höhepunkt  dieser  Entwickelung  darstellt,  insofern  als 
die  auffallendsten,  aber  auch  zugleich  unerreichbarsten  Gegenstände 
der  äußeren  Wahrnehmung  die  Kausalzentren  für  das  gesamte 
Weltgeschehen  geworden  waren. 

Und  nun  erst  kommen  wir  dazu,  zu  bemerken,  daß  man  das- 
jenige, was  wir  bisher  als  Kausalzentren  bezeichnet  haben,  in  der 
Mythologie  als  Götter  zu  bezeichnen  pflegt.  Und  eine  kurze  Über- 
legung wird  zeigen,  daß  der  Begriff  des  Kausalzentrums  tatsächlich 
einen  wesentlichen  Teil  des  Gottesbegriffes  dieser  alten  Völker  dar- 
stellt. Jedoch  ist  dieser  Gottesbegriff  damit  keineswegs  erschöpft. 

In  der  Tat  ist  es  nicht  nur  ein  rein  theoretisches  Bedürfnis  nach 
irgendeinem  kausalen  Verständnis  für  die  Geschehnisse  ihres 
Lebens  und  ihrer  Umgebung,  welches  die  alten  Völker  veranlaßte, 
derartige  Kausalzentren  anzunehmen.  Sicherlich  war  dieser  sozu- 
sagen mehr  theoretische  Gesichtspunkt  überwiegend  in  den  frühe- 
sten Zeiten,  wo  reiner  Fetischismus  herrschte.  Damals  war  es  wohl 
lediglich  das  Kausalbedürfnis  (d.  h.  das  Bedürfnis  hinter  einem 
Geschehen  das  handelnde,  mächtige  Lebewesen,  an  das  man  vom 
täglichen  Leben  mit  Tieren  und  Menschen  her  gewohnt  war,  zu 
entdecken),  welches  die  Menschen  zwang,  ihnen  nahegehende  Er- 
eignisse irgendeinem  Kausalzentrum  zuzuschreiben.  Mit  der  seeli- 
schen Höherentwickelung  knüpfte  sich  hieran  alsbald  noch  ein  sehr 
wichtiges  zweites  Moment,  welches  einen  immer  bedeutenderen 
Einfluß  auf  die  Entwickelung  der  Gottesvorstellung  hatte.  Sobald 
nämlich  die  Vorstellung  dieser  Kausalzentren  in  Form  irgendwel- 
cher mächtiger  Wesen,  die  etwa  mit  einem  mächtigen  Herrscher  oder 
König  eines  sozialen  Gemeinwesens  sich  vergleichen  ließen,  ge- 

50 


Der        Gottes     begriff 

Wonnen  war,  tauchte  auch  in  Analogie  hiezu  der  Gedanke  auf,  ob 
sich  diese  göttlichen  Wesen  nicht  gleich  jenem  Herrscher  durch 
Geschenke  und  Lobreden  möchten  beeinflussen  lassen.  Dies  führte 
dann  immer  mehr  dazu,  die  gewählten  Kausalzentren  mit  den 
Eigenschaften  mächtiger  Menschen  auszustatten,  so  daß  sie  nach 
und  nach  immer  mehr  die  Züge  mächtiger  menschlicher  Persön- 
lichkeiten annehmen  mußten.  Und  nun  ergab  es  sich  von  selbst, 
daß  man  dazu  überging,  sie  in  der  gleichen  Weise  zu  behandeln 
und  ihnen  in  der  gleichen  Weise  gegenüber  zu  treten,  wie  dies  mit 
den  Fürsten  dieser  Welt  geschah.  Der  Gedanke,  daß  man  einen 
Fürsten  durchGeschenkezumWohlwollen  veranlassen  kann,  führte 
zur  Sitte  der  Opfer,  die  Gewohnheit  durch  lobende  Reden  die 
Mächtigen  der  Erde  für  sich  zu  gewinnen,  führte  zur  Darbringung 
von  Lobgesängen  und  Preisreden  für  die  Götter.  Aber  noch  mehr! 
War  nicht  der  beste  Weg,  um  sich  das  Wohlwollen  eines  Fürsten 
zu  verschaffen,  der,  daß  man  sich  nach  seinen  Wünschen  richtete 
und  nach  seinen  Geboten  handelte?  Man  war  gewöhnt,  daß  anderen 
Falles  Strafe  oder  Rache  die  Folge  war.  Hatte  man  nun  einmal  die 
Götter  sich  als  Personen  vorzustellen  begonnen,  so  war  es  nahe- 
liegend, daß  auch  sie  in  gleicher  Weise  sich  verhalten  würden.  Da 
es  aber  vielfach  nicht  möglich  war,  sie  direkt  über  ihre  Gebote  zu 
befragen,  so  mußte  man  sich  darauf  beschränken,  aus  ihrem  Ver- 
halten Rückschlüsse  zu  ziehen,  auf  das,  was  sie  wünschten  und 
wollten.  Wenn  man  also  unter  dem  Gesichtspunkte,  im  Sinne  der 
Götter  zu  handeln,  etwas  tat,  etwas  bezweckte,  und  alsbald  traf 
einem  ein  Unglück,  oder  der  Zweck  wurde  nicht  erreicht,  was  lag 
da  näher,  als  zu  schließen,  daß  die  Götter  durch  jenes  Unglück, 
durch  jenen  Mißerfolg  zeigen  wollten,  daß  die  Handlung  nicht  in 
ihrem  Willen  lag,  gegen  ihre  Gebote  verstieß?  Sehr  bald  wurden 
daher  Handlungen  und  Verhaltungsweisen,  welche  erfahrungs- 

51  .     *• 


Der        Gottes     begriff 

gemäß  von  Mißerfolg  und  Unglück  gefolgt  waren,  als  solche 
betrachtet,  die  gegen  den  Willen  der  Götter  verstießen.  Nun  war 
es  natürlich  zunächst  die  Tradition,  welche  derartige  Erfahrungen 
von  Generation  zu  Generation  weitergab.  Bei  der  großen  Wichtig- 
keit derartiger  Erfahrungen  für  die  Selbsterhaltung  des  einzel- 
nen oder  eines  Volkes  war  es  klar,  daß  dieser  Tradition  große  Be- 
deutung beigemessen  wurde,  daß  man  alle  Mittel  verwandte,  um 
sie  mit  dem  Empfinden  der  Verehrung  und  Scheu  zu  verknüpfen, 
und  sie  so  den  jüngeren  Gliedern  der  sozialen  Gemeinschaft  tiefer 
einzuprägen.  Sicher  waren  natürlich  die  ältesten  Männer  des  Stam- 
mes diejenigen,  welche  am  meisten  derartige  Erfahrungen  in  ihrem 
Gedächtnis  aufgespeichert  hatten,  sie  wurden  daher  die  Ratgeber 
für  die  Jüngeren,  für  die  Schwächeren,  Schwankenden,  sie  wurden 
die  Lehrer  der  Jugend.  Unter  den  Jungen  aber  mag  gar  leicht  der 
eine  oder  der  andere  eine  besondere  Begabung  bewiesen  haben, 
diese  Dinge  zu  behalten,  ihnen  nachzuleben,  und  sie  anderen  in 
eindrucksvoller  Form  weiterzugeben.  Solche  mögen  dann  die  Alten 
besonders  herangezogen,  ihnen  ihre  besondere  Sorgfalt  zugewendet 
haben.  So  bekam  die  alte  Weisheit  junge  Adepten,  und  wir  finden 
hier  den  Ursprung  der  Priestergemeinschaften,  die  durch  Heran- 
ziehung begabter  jugendlicher  Elemente  sich  stets  neues  Blut  zu- 
führten. In  solchen  Priestergemeinschaften  wurden  dann  die  alten 
Erfahrungen  des  Stammes  hochgehalte'n  und  weitergegeben.  Die 
ungeheure  Wichtigkeit  solcher  Priesterpersönlichkeiten  für  die 
Stammeserhaltung  leuchtete  auch  dem  Beschränkten  so  unmittel- 
bar ein,  daß  es  vielfach  Sitte  wurde,  ihnen  die  Arbeit  des  eigenen 
ökonomischen  Lebenskampfes  abzunehmen  und  sie  von  Stammes- 
wegen zu  erhalten.  In  diesen  Priestergemeinschaften  nun  wurden 
die  ahen  Göttervorstellungen  weiter  tradiert,  man  hatte  eine  Reihe 
von  Mitteln  im  Laufe  der  Erfahrung  gewonnen,  von  denen  man 

52 


Der        Gottes     begriff 

überzeugt  war,  mit  ihnen  eine  besonders  günstige  Wirkung  auf  die 
Götter  erzielen  zu  können,  man  hatte  auf  Grund  der  seit  alten 
Tagen  gesammelten  Stammeserfahrungen  eine  Vorstellung  davon 
bekommen,  „was  die  Götter  wollten",  d.  h.  welches  Verhalten  den 
Göttern  angenehm  war  und  welches  von  Unglück  und  Mißerfolg 
gefolgt  war. 

So  finden  wir  denn  jene  zweite  Seite  des  Gottesbegriffes  allmäh- 
lich sich  herausarbeiten,  welche  darin  besteht,  daß  die  Menschen 
in  bestimmten  Handlungen  Erfolg  zu  haben  wünschen  und  Miß- 
erfolg als  Unglück  betrachten,  daß  sie  Schmerzen  und  Not  zu 
vermeiden  wünschen,  hingegen  Glück  und  gutes  Leben  herbei- 
zuführen suchen,  und  daß  sie  auf  Grund  des  oben  entwickelten 
Gedankenganges  das  Angenehme  als  Belohnung  der  Götter, 
das  Unangenehme  und  Schmerzliche  aber  als  Strafe  von  ihnen 
ansehen. 

Sicherlich  spielten  bei  der  Schaffung  gewisser  historischer  For- 
men des  Gottesbegriffes  sehr  wesentlich  auch  mehr  oder  weniger 
unbewußte  Gemütsbedürfnisse  mit  (welche  z.  T.  neuerdings  Freud 
und  seine  Schüler  zum  Gegenstande  von  Untersuchungen  gemacht 
haben).  Doch  sind  diese  für  unsere  vorliegende  Überlegung  ohne 
Belang,  denn  wenn  auch  frühere  Menschen  sich  durch  solche  Ge- 
fühle bei  der  Schaffung  ihres  Gottesbegriffes  leiten  ließen,  so  kann 
das  niemals  uns  der  Aufgabe  entheben,  auch  denkend  und  unab- 
hängig von  allen  Gefühlen  uns  mit  dem  tiefsten  Grunde  des  Seins 
und  unserer  Stellung  zu  ihm  auseinanderzusetzen. 

Wir  wollen  diese  beiden  konstituierenden  Seiten  des  Gottesbe- 
griffes einmal  als  die  kausale,  das  anderemal  als  die  ethische  be- 
zeichnen und  auseinanderhalten,  wenn  auch  die  letztere  nicht  ohne 
die  erstere  denkbar  ist. 

Einstweilen  aber  wollen  wir  uns  von  der  geschichtlichen  Betrach- 

53 


Der        Gottes     begriff 

tung  abwenden,  und  nachdem  wir  die  wesentlichsten  Seiten,  welche 
für  den  Gottesbegriff  in  Betracht  kommen,  uns  klar  gemacht  haben, 
uns  der  Auswertung  der  Überlegungen  des  vorigen  Kapitels  in 
dieser  Richtung  zuwenden. 


54 


§  2.  Die  kausale  Seite  des  Gottesbegriffes. 

Wir  haben  im  vorigen  Paragraphen  zwei  Seiten  des  Gottesbe- 
griffes besonders  hervorgehoben:  die  kausale  und  die  ethische 
Seite.  Es  sind  dies  diejenigen  Seiten  dieses  Begriffes,  die  einerseits 
dem  Erkennen,  andererseits  dem  Handeln  gegenüber  zur  Wirksam- 
keit kommen.  Mit  diesen  beiden  Seiten  ist  aber  auch  die  Bedeutung 
des  Begriffes  bereits  voll  gekennzeichnet,  denn  was  konnte  außer 
dem  Verstehen  des  Geschehens  und  dessen  Einfluß  auf  seine  Hand- 
lungen für  den  Menschen  von  Wichtigkeit  sein? 

Haben  wir  aber  vorhin  uns  mit  der  Rolle  beschäftigt,  die  der 
Gottesbegriff  in  seinen  beiden  Auswirkungen  bei  den  Alten  spielte, 
so  wollen  wir  jetzt  umgekehrt  auch  fragen:  Wie  stehen  denn  wir 
selbst  zu  jenen  beiden  Fragen :  der  Frage  nach  der  kausalen  Er- 
klärung des  Geschehens  in  unserer  Welt  und  der  Frage,  wie  wir 
unser  Handeln  einrichten  sollen.  Haben  auch  wir  die  Möglichkeit, 
die  Antwort  auf  diese  wichtigsten  Fragen  unseres  Daseins  mit 
einem  Worte  zu  geben,  mit  jenem  unausschöpfbaren  und  unum- 
schreibbaren  Worte,  mit  dem  unsere  Vorfahren  diese  Fragen  be- 
antworteten, mit  dem  Worte  „Gott"?  Sicher  ist,  daß  beide  Fragen 
auch  uns  noch  Probleme  bedeuten.  Eine  Antwort  darauf  zu  finden, 
wird  das  Bemühen  des  folgenden  sein.  Hier  aber  seien  zunächst 
lediglich  für  die  Frage  nach  dem  Kausalzentrum  die  philosophischen 
Erkenntnisse  zur  Behandlung  herangezogen,  die  wir  im  vorigen 
Kapitel  in  ihren  wichtigsten  Linien  umrissen  haben. 

Wir  sahen  dort,  daß  es  jedesmal  nur  darauf  ankommt,  eine  ge- 

55 


Die   kausale  Seite   des  Gottesbegr  iff  e  s 

nügende  Spanne  Zeit  zur  Verfügung  zu  stellen,  um  jedes  konkrete 
Problem,  das  sich  auf  irgendwelche  Verhältnisse  der  Wirklichkeit 
bezieht,  zu  lösen,  jeden  Vorgang  der  Wirklichkeit  wissenschaftlich, 
d.  h.  kausal  zu  erklären.  Dies  ist  sozusagen  die  Theorie. 

Aber  wenn  wir  auch  sicher  sind,  daß  jeder  Vorgang  einmal  seine 
wissenschaftliche  Erklärung  finden  wird,  so  kann  dies  uns  doch 
dann  nur  ein  schwacher  Trost  sein,  wenn  wir  gezwungen  sind,  uns 
im  praktischen  Leben  mit  dem  Vorgang  auseinanderzusetzen.  Die 
Theorie  kann  warten,  das  praktische  Leben  aber  wartet  nicht.  Hier 
heißt  es  Entschlüsse  fassen,  handeln  oder  den  Schaden  tragen. 
Und  gerade  aber  das  praktische  Leben  hat  allzumeist  mit  Vor- 
gängen zu  tun,  welche  sehr  weit  davon  entfernt  sind,  bereits 
wissenschaftlich  voll  erklärbar  und  beherrschbar  zu  sein.  Schon 
der  Verkehr  mit  unseren  Nebenmenschen  bringt  uns  fast  fortwäh- 
rend in  die  Lage,  ohne  exaktwissenschaftliche  Gegenzeichnung 
handeln  zu  müssen.  Und  wenn  wir  auch  genau  wissen,  daß  keiner- 
lei Schranken  existieren,  welche  der  wissenschaftlichen  Erklärbar- 
keit gesetzt  sind,  so  wissen  wir  doch  ebenso  genau,  daß  selbst  un- 
sere fernsten  Enkel  sich  immer  noch  in  der  gleichen  Lage  mit  uns 
befinden  werden,  denn  wenn  auch  die  Wissenschaft  fortschreitet, 
so  wird  doch  der  Mensch  und  dessen  Geistesleben  insbesondere, 
in  weiterem  Sinne  auch  alle  Lebewesen,  und  sogar  mit  wachsender 
Beobachtungsgenauigkeit  jeder  Gegenstand  bis  in  alle  Ewigkeit 
wieder  neue  Vorgänge  darbieten,  welche  noch  nicht  erklärbar  sind. 
Treten  uns  also  im  täghchen  Leben  solche  Vorgänge  entgegen, 
welche  nicht  schon  wissenschaftlich  geklärt  sind,  und  wir  sahen 
eben,  daß  dies  in  überreichem  Maße  der  Fall  ist,  dann  können 
wir  also  nicht  auf  unsere  wissenschaftlichen  Kenntnisse  und  auf 
bekannte  wissenschaftliche  Lehrsätze  rekurrieren,  sondern  dann 
sind  wir  auf  andere  Fähigkeiten  angewiesen,  auf  Handlungsweisen, 

56 


Die    kausale  Seite    des   Gottesbegri ff e s 

die  noch  nicht  logisch  zerghedert  sind,  auf  „unmittelbares  Han- 
deln". Denken  wir  an  unser  Verhalten  in  einer  schwierigen  Situa- 
tion, in  einer  Lage,  wo  von  unserem  Verhalten  gegen  einen  anderen 
Menschen  vielleicht  unser  Leben  abhängt.  Da  handeln  wir  nicht 
aus  wissenschaftlich-theoretischen  Prinzipien,  sondern  aus  der 
Fülle  unserer  Innern,  meist  fast  unbewußten  Erfahrung  heraus, 
auf  Grund  vererbter,  tiefst  im  Unbewußten  liegender  Fähigkeiten. 
Zu  einem  wissenschaftlichen  Überlegen  gäbe  es  da  gar  nicht  die 
Zeit. 

Hier  aber,  wo  die  wissenschaftliche  detaillierte  Kausalität  noch 
nicht  durchgedrungen  ist,  da  wissen  wir  dennoch,  daß  nur  unsere 
menschliche  Begrenzung  es  ist,  die  uns  noch  nicht  bis  zu  dieser 
vollendeten  Durchforschung  hat  durchdringen  lassen,  daß  jedoch 
irgendein  absolutes  Hindernis,  welches  die  kausale  Erklärung  irgend 
eines  bestimmten  Vorganges  aus  seinen  Umständen  unmöglich 
machen  würde,  nicht  existieren  kann  und  nicht  existiert. 

Somit  ergibt  sich,  daß  an  die  Stelle  des  alten  Kausal- 
zentrums der  Gottheit  heute  völlig  der  allgemeine  Kau- 
salitätsbegriff getreten  ist,  d.  h.  daß  jedes  Geschehen  ledig- 
lich aus  seinen  Umständen  zu  erklären  versucht  wird  und  —  wenn 
auch  erst  in  späterer  Zeit  vielleicht  —  als  erklärbar  angenommen 
werden  muß. 

Eine  Frage  wäre  hier  noch,  ob  nicht  in  einer  allgemeinen  Ziel- 
strebigkeit, Entwicklungstendenz  des  Weltalls  eine  Kausalität  ge- 
legen wäre,  die  nicht  unter  das  allgemeine  Kausalgesetz  fällt,  son- 
dern ein  besonderes  Kausalzentrum  vielleicht  doch  voraussetzt. 
Hier  ist  zu  sagen,  daß  es  ebensogut  sein  kann,  daß  das  Geschehen 
des  Wehalls  überhaupt  darin  besteht,  unsäglich  und  unaussprech- 
bar viele  Möglichkeiten  durchzumachen.  Dies  bleibt  natürlich  an 
sich  ein  scheinbar  sinnloses  Spiel.  Unter  diesen  Möglichkeiten 

57 


Die   kausale  Seite   des   Gottesbegriffes 

werden  aber  an  sich  von  Zeit  zu  Zeit  immer  höhere,  kompliziertere 
auftreten,  als  solche,  die  vorher  da  waren.  Unter  diesen  vielleicht 
einmal  solche,  welche  von  dem  allgemeinen  Geschehen  sich  so  un- 
abhängig zu  machen  verstehen,  wie  wir  Menschen  es  von  uns  glau- 
ben und  hoffen.  Und  nun  wird  die  Frage  sein,  wann  zum  ersten 
Male  solche  Wesen  auftreten,  denen  es  gelingt,  sich  dem  allgemei- 
nen Weltgeschehen  gegenüber  zu  erhalten.  Diese  werden  dann  für 
ihren  Bereich  in  steigendem  Grade  die  Lenker  des  Geschehens 
werden  können.  Doch  ein  Durchbrechen  der  allgemeinen  Kausali- 
tät ist  auch  damit  nicht  gegeben.  Auch  diese  Vorgänge  müssen 
unter  die  gleiche  Erklärungsart  fallen,  wie  alles,  was  in  unserer 
Wirklichkeit  sich  begibt,  und  damit  ist  schon  ausgesprochen,  daß 
auch  sie  nach  unseren  allgemeinen  wissenschaftlichen  Erklärungs- 
regeln behandelt  werden  müssen,  daß  auch  sie  dem  Kausalgesetz 
unterworfen  sind. 


58 


§  3.  Die  ethische  Seite  des  Gottesbegriffes. 

Es  ist  klar,  daß  bei  einer  Höherentwickelung  der  Menschheit  der 
Gedanke,  die  angenommenen  Kausalzentren  irgendwie  zu  beein- 
flussen, Platz  greifen  wird,  daß  der  Mensch  versuchen  wird,  auf 
diese  Weise  unangenehme  Erscheinungen  zu  verhindern,  an- 
genehme herbeizuführen,  und  damit  kommen  wir  auf  die  ethische 
Seite  des  Gottesbegriffes. 

Mit  der  Verfeinerung  der  Kultur  wurden  natürlich  die  Wünsche 
des  einzelnen  Menschen  in  bezug  auf  das,  was  ihm  in  seinem  Le- 
ben begegnen  sollte  oder  konnte,  immer  mannigfacher,  gingen 
immer  mehr  ins  kleine  und  einzelne,  —  so  daß  der  Bereich  von 
Vorkommnissen,  der  dem  Einflüsse  der  Götter  Untertan  erschien, 
sich  immer  weiter  ausbreitete  und  ausdehnte.  Die  Situation  liegt 
so:  Der  Mensch  hat  seine  bestimmten  Wünsche  und  Ziele  und 
versucht  dieselben  zu  verwirklichen.  Es  ist  ihm  klar  geworden, 
daß  dies  nicht  immer  ohne  weiteres  geschehen  kann,  sondern  daß 
in  sehr  vielen  Fällen  Umstände  in  Betracht  kommen,  welche  er 
nicht  unmittelbar  in  der  Hand  hat,  von  denen  aber  der  Erfolg  sei- 
nes Strebens  abhängt.  Er  kennt  die  Umstände  teilweise  nicht,  und 
wenn  er  sie  kennt,  er  kennt  nicht  ihren  Charakter,  er  kennt  nicht 
ihre  Gesetze,  denen  sie  gehorchen.  So  wäre  er  also  in  vielen  Fäl- 
len auf  eine  mehr  oder  weniger  reine  Passivität  derartigen  Um- 
ständen gegenüber  angewiesen.  Aber,  und  hier  hängt  unsere  Über- 
legung mit  derjenigen  des  vorigen  Paragraphen  zusammen :  er 
schreibt  die  seinem  Vorhaben  günstigen  und  ungünstigen  Um- 

59 


Die  ethische  Seite  des  Gottesbegriffes 

stände  und  ihre  Wirkungen  irgendwelchen  Ursachen  zu,  und  da  er 
diese  Umstände  nicht  kennt,  so  schreibt  er  sie  irgendwelchen  an- 
genommenen Kausalzentren  zu.  Von  diesen  nun  nimmt  er  an, 
daß  sie  Persönlichkeiten  seien,  Götter  in  irgendwelcher  mensch- 
licher Vorstellung.  Diese  nun  versucht  er  in  der  gleichen  Weise  zu 
behandeln,  wie  er  dies  bei  mächtigen  Mitmenschen  gelernt  hat. 
Dieser  Gedankengang  ist  wohl  der  Anfang  aller  Ethik. 

Unter  diesen  Umständen  steht  also  der  Mensch  vor  dem  Problem : 
Wie  muß  ich  leben,  um  mir  die  Gunst  meiner  Götter  zu  gewinnen, 
so  daß  diese  meinen  Zielen  kein  Hindernis  in  den  Weg  legen,  son- 
dern im  Gegenteil  meine  Ziele  fördern?  Hier  nun  entwickelt  sich 
das  Achtgeben  auf  irgendwelche  Vorzeichen,  auf  Eingebungen, 
auf  innere  und  äußere  Stimmen  usw.,  welche  als  Stimmen  der  Göt- 
ter gedeutet  werden  und  dem  im  unklaren  Dunkel  über  den  Willen 
der  Götter  tappenden  Menschen  sich  offenbaren. 

Die  Frage,  wie  soll  ich  handeln?  hat  natürlich  nur  dann  einen 
Sinn,  wenn  ich  ein  Ziel  habe,  welches  ich  durch  mein  Handeln  er- 
reichen will.  Welches  Ziel  war  es,  welches  der  Mensch  damals  er- 
strebte? Dies  ist  nun  genau  wie  heute  mit  Worten  eigentlich  gar 
nicht  zu  sagen.  Es  sind  bloß  einzelne  Teile  und  einzelne  Seiten 
dieses  Zieles,  wenn  wir  etwa  sagen,  der  Mensch  wünschte  Ange- 
nehmes sich  zuzuwenden.  Unangenehmes  von  sich  abzuwenden. 
Er  wünschte  sich  möglichst  viel  Glück,  vor  allem  möglichst  viel 
„Kraft",  andererseits  möglichste  Vermeidung  des  Unglücks.  Ich 
wiederhole,  daß  dies  nicht  das  Endziel  wiedergeben  soll,  sondern 
nur  gewisse  Seiten  der  menschlichen  Grundwünsche,  Beispiele 
von  solchen.  Wir  wollen,  um  einen  kurzen  Ausdruck  zu  haben, 
diese  Summe  von  verschiedenen  Wünschen  und  Strebungen, 
welche  letzthin  das  Handeln  der  Menschen  bestimmen,  als  das 
Lebensziel  des  Menschen  bezeichnen,  wobei  keineswegs  gesagt 

60 


Die  ethische  Seite   des  Gottesbegriffes 

ist,  daß  diese  irgendwie  einheitlicli  zu  sein  braucht.  Alles  nun,  was 
dieses  Lebensziel  förderte,  mußte  der  Mensch  als  Glück,  alles,  was 
es  beeinträchtigte,  als  Unglück  empfinden.  Und  da  nun  die  Ge- 
schehnisse seiner  Umwelt,  welche  sein  Lebensziel,  sei  es  fördernd, 
sei  es  störend,  beeinflußten,  den  Göttern  als  Ursache  zugeschrieben 
wurden,  so  ergab  sich  für  ihn  ganz  von  selbst  die  Frage,  wie  muß 
ich  handeln,  damit  mein  Lebensziel  möglichst  gefördert  wird,  im 
speziellen,  wie  muß  ich  mich  zu  diesem  Zweck  zu  den  Göttern 
verhalten. 

Wir  haben  damit  ganz  kurz  zu  skizzieren  versucht,  wie  wir  uns 
die  historische  Entwickelung  der  ethischen  Seite  des  Gottesbegrif- 
fes in  ihren  ersten  Anfängen  zu  denken  haben.  Wir  wollen  die  wei- 
tere historische  Entwickelung  zunächst  nicht  verfolgen,  sondern 
uns  dem  Probleme  zuwenden,  welche  Antwort  auf  Grund  der  im 
vorigen  Kapitel  dargelegten  Erkenntnisse  wir  selbst  wohl  auf  diese 
Frage:  „wie  sollen  wir  handeln?"  zugeben  haben.  Offenbar  haben 
wir  hier  die  Kernfrage  aller  wirklich  religiösen  Problemstellungen 
vor  uns,  und  damit  wohl  auch  vielleicht  die  tiefste  Frage  des  Men- 
schenlebens überhaupt.  Wir  werden  daher  auch  naturgemäß  ziem- 
lich weit  ausholen  müssen,  um  ausdrücken  zu  können,  was  wir  auf 
die  Frage,  wie  sollen  wir  handeln,  antworten  können. 


61 


§  4.  Das  Lebensziel. 

Wir  sahen  soeben,  daß  die  Frage  „wie  sollen  wir  handeln"  nur 
dann  einen  Sinn  haben  kann,  wenn  wir  unserem  Handeln  einen 
mehr  oder  weniger  einheitlichen  Zweck,  ein  Ziel,  zuschreiben  dürfen, 
welches  wir  entweder  uns  selbst  setzen  oder  das  uns  gesetzt  wird. 

Betrachten  wir  also  die  Frage  einmal  zunächst  rein  naturwissen- 
schaftlich und  fragen  uns,  welche  Lebensziele,  welches  Lebensziel 
hat  denn  der  Mensch?  Hier  ist  zunächst  zu  sagen,  daß  er  dies 
wohl  im  allgemeinen  selbst  nicht  weiß.  Wenn  wir  ganz  unvorein- 
genommen den  Menschen  betrachten,  dann  sehen  wir,  daß  die 
letzten  Gründe  seiner  wichtigsten  Handlungen  unterhalb  der  Sphäre 
der  Überlegung  liegen.  Es  wohnt  dem  Menschen  inne  ein  instink- 
tiver Trieb,  sich  einmal  zunächst  selbst  zu  erhalten,  dann  aber 
auch  seine  Art  zu  erhalten.  Der  primitive  Mensch  macht  sich  dar- 
über keine  Gedanken,  er  lebt,  weil  es  so  in  ihm  liegt,  weil  es  so  in 
ihn  gelegt  ist.  Und  diese  Ziele  stellt  er  sich  nicht  selbst,  sondern  sie 
liegen  in  ihm,  sie  sind  ihm  gestellt.  Nun  wäre  das  alles  sehr  ein- 
fach, wenn  nicht  die  beiden  genannten  Hauptziele  gelegentlich 
und  sogar  ziemlich  häufig  miteinander  in  Konflikt  gerieten.  Neh- 
men wir  nur  den  Fall  der  Mutter,  welche  das  Leben  ihrer  Kinder 
bedroht  sieht.  Sie  stellt  das  Lebensziel  der  Selbsterhaltung  zurück 
hinter  dem  der  Arterhaltung  und  ist  in  vielen  Fällen  geneigt,  sich 
diesem  zweiten  Ziele  zu  opfern.  Schon  dieses  einfache  Beispiel 
lehrt,  daß  man  das  Lebensziel  des  Menschen  nicht  mit  wenigen 
Worten  aufzeigen  kann.  Nun  sind  die  beiden  genannten  Ziele  nur 

62 


Das  Lebensziel 

die  ersten  und  primitivsten  — -  und  es  ist  klar,  daß  bei  fortschrei- 
tender Komplikation  der  Kultur  die  Lebensziele  selbst  und  auch 
die  Konflikte  zwischen  den  verschiedenen  Lebenszielen  immer 
mannigfaltiger  werden,  so  daß  es  ganz  unmöglich  ist,  das  Lebens- 
ziel des  Menschen  vollständig  anzugeben. 

Ein  zweiter  wichtiger  Punkt  ist  der,  daß  sehr  häufig  das  große 
Lebensziel  des  Menschen  zurücktritt  hinter  kleineren  momentanen 
Zielen  des  täglichen  Lebens.  Es  kann  seinem  Innern  irgendein 
Wunsch  entspringen,  der,  sei  es,  daß  er  ihm  nützlich  ist  oder  daß 
er  ihm  schadet,  einmal  da  ist  und  vorherrscht.  Die  Erfüllung  dieses 
Wunsches  wird  dann  für  kürzere  oder  längere  Zeit  das  Ziel,  dem 
er  zustrebt.  Aber  es  braucht  nicht  bloß  ein  Ziel  zu  sein,  es  können 
gleichzeitig  mehrere  Ziele  sein,  die  ein  Individuum  verfolgt,  ja,  es 
wird  vorkommen,  daß  sich  ein  Mensch  gleichzeitig  verschiedene 
Ziele  setzt,  die  sich  einander  widersprechen  —  es  hängt  das  rein 
von  der  ihm  gewordenen  Begabung  und  seinem  Wissen  ab,  ob  er 
erkennt,  daß  diese  Ziele  gleichzeitig  nicht  verfolgbar  sind  —  Haupt- 
sache ist  für  uns,  daß  er  sich  diese  Ziele  setzt. 

Wir  haben  bisher  nur  von  den  Zielen  gesprochen,  die  der  ein- 
zelne sich  selbst  setzt.  Nun  kommt  aber  noch  eine  sehr  wichtige 
Quelle  von  anderen  Zielen,  nämlich  solche  Ziele,  die  dem  Men- 
schen von  außen  her  gesetzt  werden.  Wir  können  sie  teilweise  auf 
die  ebengenannte  Gruppe  zurückführen,  wenn  wir  uns  über- 
legen, daß,  um  den  Menschen  dazu  zu  bringen,  diese  Ziele  wirk- 
lich zu  verfolgen,  sie  ihm  so  tief  eingeprägt  werden  müssen,  als 
ob  es  eigene  Ziele  wären.  Der  Weg,  um  dies  zu  erreichen,  ist  die 
Beeinflussung  des  Menschen  in  geeigneter  Weise  und  wird  in  der 
Pädagogik  im  weitesten  Sinne  behandelt.  Dort  wird  gelehrt,  wie 
es  der  Gesellschaft  gelingt,  ihre  Ziele  dem  einzelnen  jüngeren 
Individuum  so  einzuprägen,  daß  es  sie  für  seine  eigenen  Ziele 

63 


Das  Lebensziel 

wählt  und  ihnen  nachgeht,  wie  wenn  sie  in  seinen  eigenen  Wün- 
schen entstanden  wären.  Dies  gelingt  natürlich  am  besten  durch 
Anknüpfung  an  die  eigenen  inneren  Ziele  des  Menschen. 

So  sehen  wir  denn,  daß  es  fast  unmöglich  ist,  bei  irgendeimem 
Einzelmenschen  über  ein  mehr  oder  weniger  geschlossenes  Lebens- 
ziel zunächst  etwas  auszusagen.  Es  ist  klar,  wir  müssen  erst  etwas 
tiefer  dringen,  um  den  Problemen,  die  sonst  unübersehbar  ver- 
wickelt erscheinen,  auf  den  Grund  zu  kommen. 


64 


§  5.  Der  Lebensdrang. 

Wir  wollen  uns  zunächst  einmal  überlegen,  wie  denn  wohl  die 
Lebensziele  des  Menschen  in  der  Entwickelung  historisch  ent- 
standen sind,  und  wollen  daraus  die  Möglichkeit  schöpfen,  einiges 
Weitere  über  dieselben  auszusagen. 

Wir  alle  wissen,  daß  sich  im  Verlaufe  der  Erdgeschichte  das 
Leben  aus  primitiven  Anfängen  heraus  aufwärts  entwickelt  hat.  Wo 
die  Anfänge  liegen  und  wo  sie  zu  denken  sind,  das  wissen  wir 
nicht,  es  ist  dies  auch  für  unser  momentanes  Problem  durchaus 
belanglos.  Sicher  können  wir  jedoch  das  sagen,  daß  Tendenzen 
vorhanden  waren,  welche  bewirkten,  daß  vorhandene  Formen  des 
Lebens  immer  mannigfaltiger  wurden,  daß  sie  in  ihren  Eigen- 
schaften immer  mehr  Differenzierungen  aufwiesen  und  daß  inner- 
halb gewisser,  sei  es  engerer,  sei  es  weiterer  Gebiete  heftige  Kon- 
kurrenzkämpfe um  die  Möglichkeit  der  Existenz  stattfanden.  Als 
dann  größere  Gebiete  der  Erde,  welche  geographisch  irgendwie 
abgegrenzt  waren,  sich  dichter  mit  Lebewesen  zu  bevölkern  be- 
gannen, da  mußte  notwendigerweise  unter  diesen  der  Kampf  ums 
Dasein  ein  immer  heftigerer  werden.  Andererseits  war  es  durchaus 
möglich,  daß  innerhalb  der  innersten  Konstitution  der  vorhandenen 
Lebewesen  Tendenzen  bestimmter  Entwickelungsrichtung  vorhan- 
den waren.  So  kommen  wir  denn  zur  Unterscheidung  von  zwei 
Gruppen  von  Entwickelungstendenzen,  die,  wie  man  leicht  sieht, 
sich  nach  logischen  Regeln  derart  ergänzen,  daß  sie  die  Gesamt- 
heit aller  überhaupt  möglichen  Fälle  umfassen: 

65  5 


Der  Lebens      drang 

1.  Wir  unterscheiden  zunächst  die  im  Innern  der  vorhandenen 
Organismen  liegenden  Entwickelungstendenzen,  welche  sich  aus- 
zuwirken streben, 

2.  wir  unterscheiden  andererseits  die  äußeren  Entwickelungs- 
tendenzen, sowohl  die,  welche  entstehen  durch  die  an  der  be- 
treffenden Stelle  gegebenen  äußeren  geologischen  und  klimatolo- 
gischen  Umstände,  als  die,  welche  entstehen  aus  der  Konkur- 
renz unter  Einwirkung  der  übrigen  Lebewesen  des  betreffenden 
Bereiches. 

Da  jede  neue  Generation  von  Lebewesen  sich  mit  den  beiden 
genannten  Gruppen  von  Umständen  auseinanderzusetzen  hat  und 
durch  sie  beeinflußt  wird,  so  liegt  deren  Einwirkung  auf  die  Ge- 
staltung der  Lebewesen  auf  der  Hand.  Wir  brauchen,  um  das  zu 
sehen,  nicht  einmal  auf  die  von  der  Wissenschaft  wieder  erschlos- 
senen Vorgänge  früherer  Erdperioden  zurückzugreifen,  es  genügt, 
wenn  wir  die  Menschheitsgeschichte  der  letzten  tausend  Jahre  an 
uns  vorüberziehen  lassen.  Auch  an  dieser  ist  das  Gesagte  klar  zu 
erkennen. 

Denken  wir  uns  nun  in  unserer  jetzigen  Zeit  die  Erde  dicht  mit 
Menschen  bevölkert,  welche  den  endgültigen  Sieg  über  alle  Lebe- 
wesen im  wesentlichen  davongetragen  haben,  so  werden  sich  die 
Überlegungen,  welche  wir  soeben  auf  Lebewesen  früherer  Erdperi- 
oden anwandten,  unmittelbar  auf  die  Gesamtheit  der  Menschen  an- 
wenden lassen.  Auch  hier  haben  wir  durch  den  Lebenskampf,  das 
gegenseitige  Drängen  und  Stoßen  den  Zwang,  bestimmte  Eigen- 
schaften zu  fördern,  andere  zu  unterdrücken,  und  haben  so  eine  ge- 
wisse Zielstrebigkeit  der  Entwickelung  des  Ganzen,  sowie  auch  wie- 
derum gewisser  geographisch  abgeschlossener  Teilgebiete  in  sich. 

In  dieser  Weise  betrachtet,  stellt  die  Gesamtmenschheit,  oder 
auch  die  eines  Volkes  oder  abgeschlossenen  Gebietes,  eine  Art 

66 


Der  Lebens      drang 

von  mechanischen  Gleichgewichtssystems  dar,  wo  sich  die  Kräfte 
auszugleichen  suchen,  und  irgendeine  übermäßige  Kraft  sich  so- 
lange auswirkt,  bis  sie  eine  genügend  starke  Gegenkraft  gefunden 
hat,  die  das  Gleichgewicht  wiederum  herstellt.  Es  ist  klar,  daß  sich 
aus  diesem  Zustande  ganz  bestimmte  Möglichkeiten  und  Zwänge 
für  die  einzelnen  Teile  eines  solchen  Systems  ergeben,  denen  eben 
ein  solcher  Teil  mehr  oder  weniger  ohnmächtig  gegenübersteht, 
denen  er  folgen  muß,  will  er  nicht  irgendwie  durch  überragende 
Kräfte  zerstört  werden.  Diese  Kräfte  sind  überpersönlicher  Natur 
und  unterstehen  somit  im  großen  und  ganzen  nicht  irgendwelcher 
denkender  und  handelnder  Kontrolle  von  Seiten  bewußter  Teile  der 
Menschheit.  Sie  machen  sich  also  als  aufgezwungene,  nicht  selbst- 
gesetzte Ziele  geltend,  und  wir  wollen  sie  demgemäß  nicht  als  Ziele, 
sondern  als  „Dränge"  bezeichnen.  Es  wird  also  verständlich  sein, 
wenn  wir  sagen,  daß  innerhalb  der  Gesamtmenschheit,  ebenso  wie 
auch  innerhalb.oder  zwischen  den  Völkern  und  Staaten  oder  sonst- 
wie abgeschlossenen  Gruppen  gewisse  Entwickelungsdränge  vor- 
handen sind.  Es  ergibt  sich  auch,  daß  es  fast  unmöglich  ist,  die- 
selben im  einzelnen  zu  erkennen  und  auszusprechen,  daß  sie  sich 
erst  nach  längerer  Zeit  dem  historisch  zurückblickenden  Beschauer 
teilweise  und  in  groben  Zügen  offenbaren. 

Nunmehr  werden  wir  auch  verstanden  werden,  wenn  wir  sagen, 
daß  während  der  ganzen  Entwickelung  des  Lebens  auf  der  Welt 
derartige  Entwickelungsdränge  vorhanden  waren,  nur  daß  sie  den 
damaligen  Lebewesen,  bei  denen  die  gedankliche  Nachbildung 
der  Tatsachen  durch  die  Vernunft  nur  in  einem  verschwindend 
kleinen  Maße  vorhanden  war,  um  so  viel  weniger  bekannt  und  be- 
wußt wurden.  Diese  großen  Linien  der  Entwickelungsrichtung,  die 
durch  den  allgemeinen  Entwickelungsdrang  des  Lebens  auf  der 
Erde  dargestellt  werden,  haben  sich  nun  naturgemäß  auf  das  tiefste 

67  5« 


Der         Lebens      drang 

den  Lebewesen  selbst  eingeprägt.  Sind  doch  diese  selbst  in  ihrem 
ganzen  Handeln  nichts  anderes  als  die  Resultanten  dieser  Ent- 
wickelungsdränge,  welche  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  zusammen- 
setzen aus  den  inneren  Entwickelungsdrängen  und  den  äußeren. 
Die  tiefsten  und  tiefstgreifenden  unter  diesen  Drängen  müssen 
also  auch  im  Allertiefsten  und  Allerletzten  dieser  Lebewesen  und 
somit  auch  der  Menschen  und  der  heutigen  Menschen  fundiert 
sein.  Sie  müssen  somit  einerseits: 

1.  im  Einzelnen  liegen, 

2.  im  Leben  ganzer  Völker  sich  geltend  machen  und 

•  3.  im  Leben  der  gesamten  Menschheit  überhaupt.  Und  da  der 
Mensch  auf  der  Erde  unbestritten  zurzeit  das  höchste  und  mäch- 
tigste der  Lebewesen  ist,  so  können  wir  sagen,  daß  der  Entwicke- 
lungsdrang  der  Menschheit  zusammenfällt  mit  dem  derzeitigen 
Entwickelungsdrang  des  Lebens  auf  der  Erde  überhaupt,  kurz,  dem 
Lebensdrange  auf  der  Erde. 

Diese  Lebensdränge  im  einzelnen,  in  den  Völkern  und  in  der 
Menschheit  überhaupt  bestimmen  nun  die  Lebensziele  und  Hand- 
lungen der  Menschen,  Sie  sind  die  letzten  treibenden  Ursachen  all 
der  mannigfaltigen  Lebenstätigkeiten,  welche  das  Leben  derMensch- 
heit  auf  der  Erde  ausmachen.  Sie  sind,  wie  wir  gesehen  haben,, 
allzumeist  unbewußt  im  einzelnen,  fast  stets  unbewußt  in  den  Völ- 
kern, gänzlich  unbewußt  in  der  Menschheit.  Sie  sind  die  tiefsten 
Gründe,  welche  den  Einzelnen,  die  Völker  und  die  Gesamtheit  zu 
ihren  Handlungen  bestimmen. 

Und  nun  gelangen  wir  zum  letzten  Schluß,  den  wir  aus  dem 
Gesagten  ziehen  können.  Wir  bedenken  folgendes:  In  all  den  Vor- 
zeiten der  Entwickelung  haben  die  Geschehnisse  und  Bedingungen, 
der  äußere  Entwickelungsdrang,  die  Individuen  geformt,  haben 
ihnen  bis  in  ihre  letzten  Tiefen  hinein  die  letzten  Tendenzen  des 

68 


Der         Lebens      drang 

Lebensdranges  eingeprägtjhaben  sie  zuResultanten  der  jahrtausend- 
langen Entwickelung  werden  lassen,  so  daß  sie  sozusagen  nichts 
sind  als  die  Form  gewordenen  Erinnerungen  jener  Äonen  von 
Entwickelungszeiten,  die  ihre  Vorfahren  seit  den  Anfängen  des 
Lebens  auf  der  Erde  durchlaufen  haben.  Daraus  ist  klar,  daß  je 
tiefer  sie  in  das  eigene  Innere  hineingreifen,  desto  näher  gelangen 
sie  an  die  letzten  und  ausschlaggebenden  Marschlinien  der  Ent- 
wickelung, an  die  tiefsten  Geheimnisse  des  Werdens  und  Wachsens 
des  Lebens,  an  die  letzten  Lebensdränge  heran.  Je  weiter  sie  in 
einer  ruhigen  Stunde  das  wechselvolle  Hin  und  Her  des  Alltags 
und  des  kleinen  Daseins  des  Individuums  hinter  sich  lassen,  desto 
mehr  kommen  sie  den  letzten  großen  Zielen  der  Art  und  des 
Lebens  überhaupt  näher.  Diese  Dinge  sind  nicht  rational  faßbar, 
nicht  in  Worten  ist  es  auszusprechen,  was  da  in  diesen  tiefsten 
Lebensgefühlen  erlebt  wird,  es  ist  das  unmittelbare  Erleben  letzter 
Lebensziele  und  Dränge  überhaupt,  es  ist  das  Hineinblicken  in  den 
Kampf  der  Vorväter  und  in  den  Drang  der  entschwundenen  Gene- 
rationen, deren  direkter  Nachkomme  das  Individuum  ist.  Wir  wollen 
in  einem  kurzen  Wort  diese  Erkenntnis  festhalten,  indem  wir  sagen: 
Je  tiefer  das  Individuum  in  sein  eigenes  Innere  greift,  je  weiter  es 
die  kleinen  Vorgänge  seines  individuellen  Daseins  von  sich  schiebt, 
desto  klarer  erlebt  es  die  letzten  Lebensziele  seiner  Art  und  des 
Lebens  der  Erde  überhaupt  (natürlich  nicht  in  expliziten  Vorstel- 
lungen, sondern  es  erlebt  Gefühle,  welche  besonders  geeignet  sein 
müssen,  es  unbeeinflußt  vom  Tagesgetriebe  auf  das  Wesentliche 
seines  Lebens  hinzuführen). 

Blicken  wir  jedoch  jetzt  nach  außen!  Blicken  wir  auf  die  Ent- 
wickelung der  Völker  und  der  Menschheit  im  ganzen  während 
längerer  Zeiträume,  dann  ist  es  klar,  daß  wir,  je  weiter  wir  diese 
Zeiträume  wählen,  und  je  tiefer  wir  in  die  Geschichte  der  einzelnen 

69 


Der         Lebens      drang 

Völker  eindringen,  daß  wir  dann  desto  klarer  die  tieferen  Ent- 
wickelungsdränge  der  Menschheit  überhaupt  erkennen.  Und  es  ist 
andererseits  klar,  daß  diese  letzten  Endes  im  wesentlichen  die 
gleichen  sein  müssen,  die  ich  in  meiner  eigenen  Brust  finde,  wenn 
ich  ihnen  in  der  vorher  geschilderten  Weise  nachgehe.  Je  weiter 
wir  die  Zeiträume  spannen,  die  wir  unserer  Betrachtung  unter- 
werfen, desto  tiefer  werden  die  Lebensziele  sein,  die  wir  dann  er- 
kennen können,  und  wenn  wir  schUeßlich  in  der  Lage  wären,  die 
Geschichte  des  Lebens  auf  Erden  von  seinen  ersten  Anfängen  ab 
bis  zu  uns  herauf  in  ihren  Einzelheiten  und  ihrem  Gang  zu  studie- 
ren, dann  würden  uns  die  tiefstmöglichen  Lebensdränge  aufgehen, 
die,  wenn  sie  auch  noch  nicht  die  allerletzten  sind  und  sein  können, 
doch  als  die  markantesten  Linien  in  der  Entwickelung  des  Lebens 
auf  der  Erde  sich  darstellen. 

So  haben  wir  denn  jene  wunderbare  Tatsache  der  absoluten 
Übereinstimmung  der  äußeren  und  inneren  letzten  Lebensdränge 
in  uns  und  um  uns  konstatiert.  Wir  haben  uns  damit  eine  Tatsache 
ins  Bewußtsein  heraufgehoben,  die  vielen  Denkenden,  wohl  seitdem 
es  Menschen  gibt,  unbewußt  entgegentrat,  die  von  vielen  geahnt 
und  auszusprechen  versucht  wurde  und  die  sie  mit  ehrfurchtsvollen 
Schauern  erfüllte.  Es  werden  wichtige  und  tiefgehende  Schlüsse 
sein,  die  wir  auf  sie,  nachdem  wir  sie  einmal  greifbar  vor  unseren 
Augen  und  Händen  liegen  haben,  bauen  können.  Doch  davon  im 
nächsten  Abschnitt! 


70 


IV.  Kapitel. 

Speziellere  religiöse  Auswertung. 
Die  altjüdische  Ethik. 


§  1 .  Der  Gottesgedanke. 

Was  wir  im  vorigen  Paragraphen  aussprachen,  das  umfaßte  die 
letzten  Gründe  unseres  Seins,  die  letzten  Tiefen  unseres  Lebens. 
Wir  sind  dort,  wenn  auch  nur  mit  stammelnden  Worten,  vor- 
gedrungen bis  zu  den  letzten  Kräften,  die  unser  Dasein  leiten,  unse- 
res, das  der  Völker  und  der  Menschheit  im  ganzen.  Wir  sind  den 
letzten  Gründen  auf  die  Spur  gekommen,  welche  die  Linien  ziehen, 
denen  wir  und  die  Menschen  überhaupt  nachwandeln  müssen,  und 
wir  haben  gefunden,  daß  wir  auf  dieses  Tiefste  und  Letzte  überall 
da  stoßen,  wo  wir  zu  den  ersten  Gründen  vordringen,  sei  es  außer 
uns,  sei  es  in  unserer  eigenen  Brust.  Es  folgt  aus  dem,  was  wir  fan- 
den, daß,  wenn  ich  nur  tief  genug  in  meine  eigene  Seele  steige,  ich 
unmittelbar  direkt  diese  letzten  Gründe  zu  erleben  vermag,  die- 
selben letzten  Gründe,  welche  ich  außer  mir  als  Lenker  allen  Lebens 
verehren  muß. 

Aber  wir  können  noch  weiter  gehen.  Denken  wir  daran,  daß  wir 
doch  bloß  eine  dünne  lebende  Hülle  auf  der  Oberfläche  eines  Pla- 
neten bilden,  mit  allem  Leben  auf  Erden  zusammen,  und  daß  die- 
ser Planet  nur  ein  kleines  Ding  ist,  wenn  wir  ihn  betrachten  in  sei- 

71 


DerGottesgedanke 

nem  Zusammenhang  mit  anderen  Welten  des  Weltenraums,  dann 
bemerken  wir,  daß  selbst  unsere  letzten  Lebensziele  für  das  ganze 
All  genommen  auch  nur  ein  relativ  kleines  Teilziel  sein  können. 
Wir  müssen  zugeben,  daß  es  durchaus  möglich  ist,  daß  all  dieses 
Kämpfen  und  die  Erfolge  der  Menschen  auf  Erden  sozusagen  nur 
ein  Versuch  des  Universums  sei  unter  vielen  ähnlichen,  sich  seiner 
selbst  bewußt  zu  werden,  daß  dieser  Versuch  dahinschwinden  und 
vergehen  könnte,  um  nach  weiteren  Äonen  besser  und  dauerhafter 
erneuert  zu  werden.  Es  wäre  schließlich  doch  möglich,  —  wenn 
ich  es  auch  gefühlsmäßig  nicht  glauben  kann  —  daß  diese  ganze 
dünne  Lebenshülle  der  Erde  vernichtet  würde,  bevor  sie  Zeit  ge- 
funden hätte,  Wesen  hervorzubringen,  die  stark  und  erfindungs- 
reich genug  sind,  um  allen  irgendwie  möglichen  Katastrophen, 
und  seien  es  selbst  Welt-Katastrophen,  als  Art  standzuhalten,  um 
ihr  Sein  sogar  auch  unter  Verlust  des  Planeten,  der  sie  hervor- 
gebracht hat,  fortzuführen.  Sicherlich  wird,  wenn  wir  es  so  aus- 
sprechen dürfen,  das  Universum  nicht  ruhen,  bis  es  Wesen  her- 
vorgebracht hat,  die  sich  auch  die  Sternenwelt  unterwerfen.  Aber 
abgesehen  davon,  wer  sagt  uns  denn,  ob  nicht  auch  in  Teilen  des 
Universums  eine  Art  von  Entwicklungstendenz  vorhanden  ist,  ob 
nicht  einfach  im  Weltenraum  selbst  Entwickelungsdränge  und  Ent- 
wickelungslinien  vorhanden  sind,  welche  in  ähnlicher  Weise  wie  die 
Entwickelungslinien  auf  der  Erde  die  Entwickelungsmöglichkeiten 
im  Universum  vorzeichnen  ?  Manche  neuere  Errungenschaften  der 
anorganischen  Chemie  möchten  solche  Gedanken  nahe  legen.  Wer 
könnte  sozusagen  ein  letztes  Sehnen  oder  eine  Entwickelung  des 
Seienden  überhaupt  als  unmöglich  bezeichnen?  Und  wenn  es  so 
wäre,  was  durchaus  möglich  ist,  dann  müßten  wir,  die  wir  doch  dem 
Universum  angehören,  in  unseren  tiefsten  Tiefen  die  Entwicke- 
lungslinien spüren,  und  auch  wir  würden  auf  ihnen  fortgerissen. 

72 


Der      Gottes     gedanke 

So  finden  wir  uns  denn,  wenn  wir  den  Dingen  auf  den  Grund 
gehen,  Tendenzen  und  inneren  Erfahrungen  gegenüber,  vor  de- 
nen Generationen  von  Menschen  nur  sind  wie  die  Glieder  einer 
langen  Kette  und  wie  Stufen  einer  Leiter,  wie  ein  Gras,  das  doch 
bald  welk  wird  nach  den  Worten  des  Psalmisten;  Tendenzen 
und  Erfahrungen,  mit  denen  wir  so  untrennbar  verknüpft  sind, 
daß  wir  sie  nicht  besser  erleben  können,  als  wenn  wir  in  unser 
eigenes  tiefstes  Innere  hinabsteigen;  Tendenzen  und  Erfah- 
rungen, die  auch  von  außen  unwiderstehbar  uns  Lebensziele 
setzen,  und  mit  sanftem,  aber  unbeugsamen  Zwange  unsere  Lebens- 
straße uns  in  großen  Linien  vorzeichnen.  Was  ist  das  aber  an- 
deres, wie  soll  man  es  anders  nennen  in  einem  kurzen  Wort  als 
„Gott"? 

Es  ist  der  gleiche  „Gott",  den  unsere  Vorväter  auf  intuitivem 
Wege  in  ihrem  Herzen  fanden  und  den  sie  in  dem  Leben  der  Na- 
tur zu  erkennen  glaubten,  allerdings  war  es  nur  ein  instinktives, 
ein  rein  phänomenologisches  Erkennen,  ohne  jede  Möglichkeit 
einer  wissenschaftlichen  Fundierung,  trotz  vieler  Versuche,  die  in 
dieser  Richtung  später  gemacht  wurden. 

Es  sind  die  gleichen  inneren  Erfahrungen,  welchen  unsere 
Vorväter  auf  ihre  Weise  mit  ihren  noch  unentwickelteren  Erkennt- 
nismitteln einen  wissenschaftlich  naiven  und  von  mannigfachen 
Resten  früherer  primitiverer  Auffassungen  vermischten  Ausdruck 
zu  geben  versucht  haben,  als  sie  ihre  religiösen  Erlebnisse  auf- 
zeichneten. Wir  werden  Gelegenheit  haben,  uns  zu  überzeugen, 
daß  gar  vieles  von  dem,  was  sie  niederschrieben  und  was  gar 
manchen  jetzt  als  kindisch  und  längst  überwunden  erscheint,  nichts 
anderes  ist  als  der  naive  Ausdruck  für  Dinge,  welche  wir  bei  tiefe- 
rem Forschen  mit  unseren  modernen  wissenschaftlichen  und 
philosophischen  Methoden,  ihrem  Wesen  nach  in  ganz  ähnlicher 

7a 


Der      Gottes     gedanke 

Weise  wiederfinden  —  nur  daß  wir  sie  jetzt  in  gereinigter  und 
wissenschaftlich  begründeter  Form  vor  uns  sehen,  wo  sie  zwar 
jegliche  Art  von  abergläubischer  Mystik,  die  ihnen  anhaftete,  nichts 
dagegen  von  ihrer  Erhabenheit  verloren  haben.  Wir  würden  aber 
wohl  vergebens  versuchen,  sie  in  der  gleichen  grandiosen  Einfach- 
heit und  Ursprünglichk'eit  der  Empfindung  darzustellen,  wie  es 
denjenigen  gelang,  die  sie  zuerst  gesehen,  und  in  sich  bewußt  er- 
lebt haben. 


74 


§  2.  Die  Wirksamkeit  des  Gottesbegriffes. 

Wie  wirkt  nun  dieser  „Gott",  den  wir  zu  ahnen  versucht  haben, 
in  unserem  Leben?  Er  wirkt  in  uns  und  wirkt  um  uns.  In  unserem 
Innern  leitet  er  unsere  tiefsten  und  letzten  Entschließungen,  wenn 
wir  ihm  nur  Gehör  geben,  denn  im  Innern  leiten  uns  eben  die  tiefst- 
liegenden  Kräfte,  unseres  Volkes,  der  Menschheit  und  des  Lebens, 
und  kommen  da  zur  Wirkung,  wo  die  denkende,  rechnende  Ver- 
nunft aufhört.  Im  Äußern  aber  wirkt  er  durch  die  allgemeinen 
Lebensdränge,  denen  wir  alle  unterliegen  und  die  uns  und  alle  auf 
Bahnen  führen,  die  wir  nicht  vorschreiben  können. 

Alle  diese  Dinge  sind,  wie  immer  wieder  gesagt  werden  muß, 
nicht  in  exaktwissenschaftlicher  Form  völlig  ausdrückbar.  Eben 
weil  sie  sich  mit  den  tiefsten  Quellen  des  Daseins  beschäftigen, 
d.  h.  mit  jenen  Teilen  unserer  Gesamtwelt,  welche  die  komplizier- 
testen sind  und  in  denen  deshalb  unser  eigentlich  praktisches  Leben 
verankert  ist,  während  die  erklärendeWissenschaft  sozusagen  vom 
anderen  Ende  aus  sich  nachzuarbeiten  bemüht.  Wenn  wir  es  trotz 
dieser  Schwierigkeiten  unternehmen,  etwas  darüber  zu  sagen  und 
sogar  Begriffe  usw.  zu  bilden,  so  können  wir  dies  nur  aus  der  Er- 
kenntnis heraus,  daß  diese  verwickeltsten  Probleme  sozusagen 
„Durchschnittsprobleme"  sind.  Betrachten  wir  diesen  Aus- 
druck näher.  Wenn  wir  gesagt  haben,  daß  die  Lebensdränge  der 
Entwickelung  des  Lebens  auf  der  Erde  und  der  Menschheit  gewisse 
Entwickelungslinien  vorschreiben,  so  sind  diese  Entwickelungs- 
linien  keineswegs  leicht  zu  erkennen  oder  gar  auf  der  Hand  liegend. 

75 


D  i  eW  i  r  k  s  a  m  k  e  i  t  des  Gottesbegriffes 

Ebenso,  wie  man  aus  einer  spontanen  Handlung  eines  Menschen 
noch  nicht  dessen  Lebensziel  ableiten  kann,  so  kann  man  nicht 
aus  dem  Lebensgange  eines  Menschen  oder  auch  nur  einer  Gene- 
ration oder  eines  Volkes  die  Entwickelungslinien  der  Menschheit 
ableiten. 

Deshalb  dürfen  wir  aber  an  der  Bedeutung  dieser  Dinge  für  unser 
persönliches  Leben  und  für  unsern  Alltag  nicht  irre  werden. 

Wie  sehr  wir  innerlich  vom  Tiefsten  in  uns  bestimmt  werden, 
zeigt  uns  eine  kleine  Überlegung.  Ein  Mensch  von  scheinbar  über- 
großem ethischem  Wollen,  der  sich  vornähme,  vor  einer  Handlung 
sämtliche  Umstände  und  Folgen  in  Betracht  zu  ziehen,  käme  über- 
haupt nie  zum  Handeln.  Solcher  zu  überlegender  Umstände  und 
Folgen  gibt  es  um  so  mehr,  je  sorgfältiger  man  sein  v.äll.  Will  man 
gar  Vollständigkeit  in  dieser  Hinsicht  erstreben,  so  sind  es  ihrer  un- 
endlich viele,  und  die  Zeit,  die  man  nötig  hätte,  sie  alle  durch- 
zudenken, wäre  unendlich  lang.  Zu  allem  Überfluß  bleibt  die  Welt 
während  meiner  Überlegung  nicht  stehen,  sondern  produziert  im- 
mer neue  Umstände,  die  in  Erwägung  gezogen  werden  müssen, 
so  daß  nie  ein  Ende  abzusehen  wäre.  Wir  kommen  also  zu  dem 
Schluß,  daß  keine  Handlung  auf  alle  ihre  Folgen  hin  überlegt  wer- 
den kann,  irgendwo  muß  ich  mit  dieser  Überlegung  abbrechen, 
wenn  ich  überhaupt  handeln  will,  irgendwo  also  muß  ich  die  Art 
meiner  Handlung  meinem  „Gefühl",  meinem  „Instinkt"  überlassen. 
Irgendwie  wurzelt  also  jede,  auch  die  scheinbar  überlegteste  Hand- 
lung im  Irrationalen  (und  wenn  das  Irrationale  nur  darin  liegt, 
welche  Gründe  die  Seele  als  beachtbar  wertet). 

Damit  aber  zeigt  sich,  daß  letzten  Endes  unsere  Handlungen 
ausschlaggebend  aus  dem  sogenannten  Unbewußten  heraus  bei 
uns  bestimmt  werden.  Irgendwie  hängen  sie  alle  zusammen  mit 
unseren  letzten,  innersten  Lebenstendenzen,  von  denen  die  tiefsten 

76 


Die  Wirksamkeit  des  Gottesbegriffes 

nicht  nur  uns  angeboren,  sondern  Erbgut  von  vielen  Generationen, 
zuletzt  Erbgut  des  Menschengeschlechts  und  des  Lebens  überhaupt 
sind.  So  ist  es  doch  immer  wieder  das  überpersönliche  Prinzip,  Gott 
in  und  um  uns,  der  unsre  Handlungen  und  damit  unser  eignes 
Leben  lenkt. 

Daraus  aber  ergibt  sich  als  wichtige  Konsequenz  für  unser  Han- 
deln, als  ethisches  Grundgesetz :  Will  ich  im  Sinne  meiner  tiefsten 
Lebensziele,  will  ich  also  im  Sinne  Gottes  handeln,  so  tue  ich  dies 
um  so  mehr,  je  mehr  ich  von  innen  heraus  handle,  je  mehr  ich  in 
ruhiger  Übereinstimmung  bin  und  handle  mit  meinem  innersten 
Kerne. 

Auch  dies  Gesetz  hat  jene  charakteristische  Note,  welche  wir  aus- 
drücken können  mit  dem  Worte:  auch  dies  ist  ein  „Durchschnitts- 
gesetz". Wann  bin  ich  in  Übereinstimmung  mit  meinem  innersten 
Kern?  Ich  bin  es  einmal  mehr  und  einmal  weniger.  Sicher  aber 
bin  ich  es  nicht,  wenn  ich  mich  durch  Erregungen  und  Leiden- 
schaften auf  Grund  spontaner  Erlebnisse  bestimmen  lasse.  Zorn, 
Haß,  Neid  und  Eifersucht,  diese  können  nicht  meinen  innersten 
Kern  bilden,  denn  sie  alle  sind  oberflächliche  Wogen  der  Seele, 
von  den  Stürmen  des  Alltags  aufgerührt.  Nicht  aber  werden  durch 
sie  jene  Tiefen  berührt,  welche  jenseits  aller  Tagesprobleme  liegen 
und  welche  sich  die  Generationen  einander  weiterreichen.  Aus 
diesen  Tiefen  aber  soll  unser  Leben  fließen,  dann  fließt  es  aus  Gott, 
den  Zielen,  die  uns  hieraus  sich  aufdrängen,  sollen  wir  nachstreben, 
dann  arbeiten  wir  im  Sinne  Gottes. 

Was  das  aber  für  Ziele  seien,  die  so  erlebt  werden,  dies  ist  im 
einzelnen  nicht  möglich  auszusprechen.  Was  die  uns  innewohnen- 
den Lebensdränge  wollen,  das  läßt  sich  in  dürren  Worten  nicht 
sagen.  Es  läßt  sich  „leben",  aberjederVersuch  einer  Formulierung 
bleibt  unvollständig  und  einseitig.  Natürlich  muß  es  immer  wieder 

77 


DieWirksamkelt  des  Gottesbegriffes 

versucht  werden,  und  jede  Generation  hat  ihre  Dichter  und  Führer, 
welche  versuchen  es  auszusprechen  und  welche  auch  den  vielen, 
welche  keine  Zeit  und  keine  Kraft  haben,  über  diese  Dinge  nach- 
zudenken, zu  einem  bewußteren  Leben  und  Streben  verhelfen 
wollen,  —  aber  ausschöpfen  läßt  es  sich  nie.  Jede  Generation,  je- 
des Volk,  ja  jeder  einzelne  muß  sich  von  neuem  mit  Gott  aus- 
einandersetzen und,  so  gut  es  eben  geht,  ihn  seinem  Bewußtsein 
zu  eigen  zu  machen  und  möglichst  viel  Kraft  aus  ihm  zu  schöpfen 
suchen,  aber  dies  kann  niemals  ein  für  allemal  geschehen.  Dieser 
Gott  in  uns  und  um  uns  wird  selbst  erst  im  Laufe  der  Entwickelung 
immer  tiefer  erkannt,  lebt  sich  in  sich  selbst  erst  immer  tiefer  aus. 
So  ringen  die  Menschen,  auch  das  Innerste  ihres  Seins  in  Worte 
zu  fassen,  so  versuchen  sie  in  immer  erneutem  Streben,  auch  ihr 
letztes  Wollen  zu  formuheren.  Dies  ist  der  Sinn  der  geistigen  Kul- 
turgeschichte, dies  ist  deren  niemals  vollendete  und  immer  wieder 
sich  neu  gebärende  hohe  Aufgabe.  Aber  ethisch  betrachtet  sind 
alle  diese  Bemühungen  nur  immer  neue  Schalen  um  einen  inner- 
sten Kern,  den  wir  in  unserem  Sinne  andeuten  mit  den  Worten 
„von  innen  heraus  leben  und  handeln." 


78 


§  3.  Ethische  Begriff sbildung. 

Wenn  man  unseren  ganzen  bisherigen  Gedankengang  so  über- 
denkt, so  erkennt  man,  daß  es  eigentlich  letzten  Endes  in  exakter 
wissenschaftHcher  Form  fast  noch  unaussprechbare  Dinge  sind, 
von  denen  wir  reden.  Dies  ist  auch  unmittelbar  verständlich,  denn 
nach  den  Darlegungen  des  ersten  Kapitels  bewegen  wir  uns  ja  ge- 
rade in  dem  Gebiet,  welches  der  exakten  Wissenschaft  im  einzelnen 
noch  nicht  zugänglich  ist,  und  somit  auch  noch  nicht  im  einzelnen 
deren  Begriffen.  So  sind  wir  denn  darauf  angewiesen,  eine  beson- 
dere Begriffsbildung  hier  einzuführen,  und  es  ist  klar,  daß  es  wieder- 
um „Durchschnittsbegriffe"  sein  werden,  zu  denen  wir  hier  greifen 
müssen;  so  werden  wir  diejenige  Sprache  erhalten,  die  notwendig 
ist,  um  uns  einerseits  verständlich  zu  machen,  andererseits  aber 
doch  diejenige  Strenge  des  Denkens  beizubehalten,  die  auf  diesem 
Gebiet  besonders  nötig  ist. 

Eine  methodische  Bemerkung  sei  es  erlaubt  hier  einzuflechten. 
Wenn  wir  sagen,  wir  wollen  „Durchschnittsbegriffe"  bilden,  so  ist 
damit  nicht  gesagt,  daß  diese  Begriffe  deshalb  irgendwie  weniger 
exakt  und  deshalb  etwa  weniger  wert  seien,  als  die  Begriffe  der 
exakten  Wissenschaften.  Was  wir  vorstehend  betonten,  war  nur, 
daß  wir  die  Begriffe  der  bestehenden  exakten  Wissenschaften  nicht 
selbst  (also  z.  B.  die  Begriffe  der  Geometrie,  theoretischen  Physik 
usw.)  hier  anwenden  können,  die  Art  unserer  Begriffsbildung  ist 
jedoch  eine  durchaus  exakte  in  dem  Sinne,  als  sie  die  gleiche  ist 
wie  in  vielen  wohldurchforschten  Teilen  der  Naturwissenschaften. 

79 


Ethische     Begriffsbildung 

So  wird  z.  B.  die  Erde  als  Kugel  bezeichnet,  trotz  aller  Erhebungen, 
Vertiefungen  und  Abplattungen,  diesie  aufweist.  In  ihrer  „durch- 
schnittUchen"  Form  ist  sie  eben  eine  Kugel.  Diese  Art,  eine  große 
Menge  widersprechender  Erscheinungen  durch  einen  „durchschnitt- 
lichen Begriff"  in  erster  Annäherung  einmal  auf  einen  Ausdruck 
zu  bringen,  nennt  man  auch  Idealisierung.  Durch  Idealisierung 
dieses  Wirrwarrs  von  Erscheinungen  also  erhalten  wir  zunächst 
einmal  übersichtliche  Verhältnisse  und  damit  auch  die  Möglichkeit 
zu  ebensolchen  Begriffsbildungen.  Von  dieser  Art  aber  sind  auch 
die  Begriffsbildungen,  die  wir  im  folgenden  auf  unserem  besonders 
komplizierten  Gebiete  vornehmen  werden. 

Geht  man  in  dieser  Weise  vor,  so  bemerkt  man  etwas  sehr  Eigen- 
artiges. Sucht  man  nach  Worten  für  die  Vorgänge  und  Einsichten, 
die  uns  beschäftigen,  so  drängt  sich  einem  immer  wieder  eine 
Sprache,  eine  Begriffsbildung  auf  die  Lippen,  die  uns  in  gewissem 
Sinn  von  frühester  Jugend  auf  bekannt  und  geläufig  ist.  Es  sind  die 
uralten  ethischen  Begriffe,  wie  sie  sich  im  Verlaufe  einer  sicherlich 
vielhundertjährigen  Entwicklung  unter  den  Händen  der  altjüdischen 
Priester  und  Propheten  herausgebildet  haben.  Es  sind  diejenigen 
Begriffe,  welche  mit  am  klarsten  in  jener  klassischen  Sammlung 
alter  religiöser  Gesänge,  die  wir  als  die  „Psalmen"  zu  bezeichnen 
pflegen,  zutage  treten.  Die  nächste  Aufgabe  unserer  weiteren  Über- 
legungen wird  es  sein  müssen,  dieses  eigentümliche  Verhältnis 
eingehendst  nachzuweisen  und  zu  begründen,  zugleich  aber  wer- 
den wir  damit  von  selbst  Gelegenheit  zur  weiteren  Vertiefung  un- 
serer Gedankengänge  haben. 

Es  wird  sich  zeigen,  daß  die  Resultate,  welche  die  modernsten 
erkenntnistheoretischen  Forschungen  unserer  Zeit  uns  über  die 
letzten  ethischen  und  religiösen  Fragen  auszusprechen  erlauben, 
sich  unmittelbar  aussprechen  lassen  in  der  alten  ethischen  Sprache, 

80 


Ethische     Begriffsbtldang 

die  wir  eben  genannt  haben.  Natürlich  ist  damit  nicht  gesagt,  daß 
den  Schöpfern  dieser  Sprache  die  Dinge  in  der  Weise  durchsichtig 
gewesen  seien,  wie  sie  es  uns  heute  sind,  und  daß  sie  etwa  auf  Grund 
dieser  Kenntnisse  diese  Sprache  gefunden  hätten  —  nein,  das  Ver- 
hältnis ist  ein  anderes  und  ein  für  beide  Seiten  viel  ehrenvolleres. 
Die  alten  Priester  fanden  ihre  Sprache  einfach  aus  einer  tiefen 
traditionellenLebenserkenntnis  und  Lebenserfahrung  heraus,welche 
in  ethischer  Beziehung  offenbar  tiefer  war  als  bei  irgendwelcher 
anderenMenschengruppe  und  zwar  sozusagen  auf  rein  empirischem 
Wege,  ohne  irgendwelche  Theorie.  Wir  können  uns  hier  nicht  mit 
der  überaus  reizvollen  Aufgabe  beschäftigen,  die  allmähliche  Ent- 
wickelung  dieser  ethischen  Begriffe  im  Laufe  der  früheren  vorzeit- 
lichen und  altgeschichtlichenMenschheitsentwicklungdarzustellen. 
Wir  benützen  nur  die  Tatsache,  die  wir  aus  den  Quellen  entnehmen, 
daß  diese  Sprache  erfunden  und  geschaffen  wurde.  Wenn  wir 
heute  in  der  Lage  sind,  festzustellen,  daß  unsere  Einsichten  in  diese 
ethischen  Fragen  sich  zum  mindesten  in  erster  Annäherung  genau 
in  jener  alten  Sprache  aussprechen  und  darstellen  lassen,  so  zeigt 
das,  mit  welcher  Schärfe  die  alten  Schöpfer  in  die  tatsächlichen 
Verhältnisse  rein  empirisch  auf  Grund  der  Erfahrung  von  Gene- 
rationen einen  induktiven  Einblick  zu  gewinnen  vermochten.  Natur- 
gemäß sind  es  nur  die  Hauptlinien  der  Gesamtverhältnisse,  welche 
so  dargestellt  werden,  aber  diese  werden  es  auch  restlos  und  mit 
völliger  Genauigkeit.  Wollen  wir  uns  dazu  bequemen,  das  ganze 
Gebiet  der  Dinge,  welche  das  praktische  Leben  beherrschen,  welche 
noch  nicht  von  den  exakten  Wissenschaften  erreicht  werden  konn- 
ten, und  welche  ja  allein  den  Gegenstand  unserer  jetzigen  Über- 
legungen bilden,  als  das  Gebiet  des  Irrationalen  zu  bezeichnen,  so 
können  wir  aussprechen,  daß  die  alten  griechischen  Weisen,  die 
Philosophie  des  Rationalen,  die  altjüdischen  Priester,  die  Philo- 

81  6 


Ethische     Begriffsbildung 

Sophie  des  Irrationalen  erfunden  haben  und  daß  es  sich  für  den 
Fortschritt  der  Menschen  um  eine  Vereinigung  beider  Errungen- 
schaften handeln  muß. 

In  den  Psalmen  also  finden  wir  die  einfachsten  und  klarsten  Be- 
griffe, die  sich  auf  das  Handeln  des  Menschen,  sich  selbst  und  sei~- 
nen  Mitmenschen  gegenüber,  und  zwar  auf  das  verantwortliche 
Handeln,  das  sogen,  ethische  Handeln  beziehen  und  da  diese  Ge- 
sänge in  ihrem  ältesten  Kern  sicher  weit  in  vorexilische  Zeiten 
der  jüdischen  Geschichte,  d.  h.  mindestens  vor  600  v.  Chr.  zurück- 
gehen, so  sehen  wir,  welch  uraltes  Erkenntnisgut  wir  dabei  vor 
uns  haben.  Immer  wieder  haben  religiöse  Denker  aller  Kulturvölker 
seit  jenen  Zeiten  aus  diesem  Borne  geschöpft,  und  bis  heute  sind 
diese  Begriffe  auch  im  täglichen  Leben,  ohne  daß  wir  es  merken, 
dauernd  für  uns  maßgebend  geblieben.  Dabei  ist  es  von  hohem  In- 
teresse, wie  bei  den  beiden  schöpferischen  Hauptvölkern  des  medi- 
terranen Altertums,  Juden  und  Griechen,  ihre  klassische  Zeit  unge- 
fähr in  der  gleichen  Epoche  zustande  kam. 


82 


§  4.  Die  Zweiteilung  der  Handlangen. 

Die  Ethik  der  Psalmen  ist  aufgebaut  auf  einer  grundlegenden 
Unterscheidung :  der  zwischen  Gut  und  Böse.  Diese  Zweiteilung  der 
Handlungen  spiegelt  sich  wider  in  einer  großen  Menge  von  Pa- 
rallelbegriffen hierzu.  Der  guten  Handlung  steht  die  böse  Handlung, 
die  Sünde  gegenüber.  Die  gute  Handlung  ist  Gott  wohlgefällig, 
er  fördert,  wünscht  und  belohnt  sie,  die  böse  Handlung  ist  gegen 
Gott  gerichtet,  es  empfindet  sie  als  feindlich,  hemmt,  verbietet  und 
bestraft  sie.  Der  Ausüber  der  guten  Handlung  ist  der  Gerechte, 
Gottes  Knecht  und  Kind,  der  Verüber  der  bösen  Handlung  hingegen 
ist  der  Ungerechte,  der  Sünder,  der  Feind  Gottes,  der  „Narr",  wie 
Luther  das  hebräische  Wort  racha  übersetzt. 

Dieser  Gegensatz,  daß  der  Gerechte  recht  handelt,  und  er  belohnt 
wird,  Erfolg  ihm  blüht,  und  daß  der  Ungerechte,  der  Narr  sündigt, 
bestraft  wird,  Mißerfolg  erntet,  er  ist  der  Grundakkord,  der  uns 
immer  wieder  aus  den  Psalmen  entgegenklingt. 

Eine  ganz  analoge  Zweiteilung  der  Handlungen  aber  ergibt  sich 
aus  den  Übedegungen,  die  wir  im  Vorhergehenden  angestellt 
haben,  und  daß  diese  Zweiteilung  zu  derjenigen  der  Psalmen  eine 
nähere  Verwandtschaft  hat  als  die  einer  rein  formalen  Analogie, 
daß  vielmehr  beide  Einteilungen  ihrem  Sinne  nach  völlig  überein- 
stimmen, dies  werden  wir  im  weiteren  zeigen.  Wir  können  uns  etwa 
so  ausdrücken:  Wir  sahen,  daß  der  einzelne  wie  alles  Lebendige 
gewissen  Lebensdrängen  Untertan  ist,  welche  ihm  in  gewissem 
Sinne  seinen  Weg  vorschreiben ;  wir  sahen  daß  diese  Lebensdränge, 

83  6* 


Die    Zweiteilung    der    Handlungen 

deren  Gesamtheit  in  und  um  uns  wir  als  Gott  bezeichneten,  über- 
aus gewaltig  auf  das  Leben  jedes  Menschen  wirken,  so  sehr,  daß 
wir  mit  all  unserem  Sein  sozusagen  nichts  anderes  sind,  als  das 
formgewordene  Resultat  dieser  Kräfte^  Und  damit  teilen  sich  un- 
sere Handlungen  in  solche,  die  aus  unseren  innersten  Tiefen  her- 
vorquellend in  Richtung  der  allgemeinen  Lebensdränge  liegen,  und 
solche,  die  etwa  aus  oberflächlichen  und  momentanen  Erregungen 
geboren  im  Gegensatze  zu  diesen  Lebensdrängen,  zu  Gott  stehen. 
Es  ist  klar,  daß  erstere,  da  sie  die  ganze  Macht  der  Entwickelungs- 
kräfte  hinter  sich  haben,  im  allgemeinen  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Erfolges  ihr  eigen  nennen  können.  Andererseits  werden  Hand- 
lungen letzterer  Art,  welche  die  große  Gewalt  jener  unnennbaren 
Kräfte  gegen  sich  haben,  die  sich  mit  elementarer  Wucht  auf  den 
Bahnen  der  Entwickelung  bewegen,  zum  Mißerfolg,  zum  Scheitern 
verurteilt  sein. 

Es  zeigt  sich  somit,  daß  wir  hier  eine  genaue  Analogie  zu  den 
genannten  ethischen  Begriffen  der  Psalmen  vor  uns  haben.  Wie 
dort  die  gute  Handlung  belohnt  wird,  so  findet  hier  die  Handlung, 
die  im  Sinne  der  Lebensdränge  geschieht,  ihren  Erfolg.  Wie  dort 
die  böse  Handlung  bestraft  wird,  so  erntet  die  gegen  den  Sinn  des 
Lebens  gerichtete  Handlung  den  Mißerfolg.  Wie  dort  liegt  die  gute 
Handlung  im  Sinne  Gottes  und  ist  die  böse  Handlung  gegen  ihn 
gerichtet. 

Diese  Formulierung  ist  aber,  das  sei  sogleich  festgehalten,  eine 
erste  Annäherung,  ein  erster  Überschlag  über  das  Geschehen.  Viele 
neue  Fragen  tauchen  alsbald  auf.  Gilt  diese  Einteilung  meiner 
Handlungen  nur  für  die  großen,  entscheidenden,  folgenreichen 
Handlungen  oder  gilt  sie  auch  für  die  kleinen,  alltäglichen?  Und 
wie,  sehen  wir  nicht  oft  im  Leben  eine  gute  Handlung  von  Miß- 
'  Die  Lamarcksche  Theorie  hat  dafür  zuerst  einiges  Verständnis  bewiesen. 

84 


Die    Zweiteilung    der    Handlangen 

erfolg  und  Unglück  gefolgt,  und  umgekehrt  die  schlechte  Handlung 
mit  Erfolg  belohnt?  Wie  stimmt  das  mit  dem  obigen?  Hier  ist  zu- 
nächst zu  wiederholen,  daß  die  obigen  Begriffe  Durchschnittsbe- 
griffe sind,  aber  wir  wollen  es  bei  dieser  Ausflucht  nicht  beruhen 
lassen.  Wir  wollen  den  Dingen  noch  näher  auf  den  Grund  gehen. 
Hier  zunächst  nur  die  Bemerkung,  daß  auch  den  alten  jüdischen 
Priestern  diese  Fragen  viel  Nachdenkens  bereiteten,  worüber  wir 
gar  schöne  Zeugnisse  besitzen.  Wir  werden  darauf  zurückkommen. 


85 


§  5.  Das  Gesetz. 

Bevor  wir  uns  aber  den  wichtigen  und  schwierigen  Problemen 
zuwenden,  mit  welchen  wir  den  vorigen  Paragraphen  beschlossen, 
ist  noch  eine  andere  Frage  zu  beantworten.  Wie  haben  die  jüdi- 
schen Religionsschöpfer  ihre  Begriffe  von  Gut  und  Böse  definiert, 
durch  welche  Kennzeichen  haben  sie  diese  Gegenbegriffe  charak- 
terisiert? „Wohl  dem,  der  nicht .  ,  .  tritt  auf  den  Weg  der  Sünder, 
sondern  hat  Lust  zum  Gesetz  des  Herrn  und  redet  von  seinem  Ge- 
setze Tag  und  Nacht",  so  beginnt  der  erste  Psalm,  und  gibt  uns 
sogleich  die  gewünschte  Definition.  Derjenige,  der  dem  Gesetz 
des  Herrn  folgt,  ist  der  Gerechte,  der  andere  der  Sünder.  Was  aber 
ist  das  Gesetz  des  Herrn?  Das  ist  die  große,  entscheidende  Frage. 
Sobald  wir  dieses  Gesetz  genau  kennen  würden,  wäre  alle  Ethik 
bloß  eine  Sache  des  guten  Willens.  Kennen  wir  es  aber,  glaubten 
die  alten  Juden,  daß  sie  es  kennen? 

Wir  haben  eine  Reihe  von  Stellen,  aus  denen  hervorgeht,  daß 
auch  die  Schöpfer  der  Psalmen  nicht  glaubten,  das  Gesetz  des 
Herrn  vollständig  zu  kennen.  „Wer  kann  merken  wie  oft  er  fehlet? 
Verzeihe  mir  die  verborgenen  Fehler",  so  singt  Psalm  19,  Vers  13. 
Aber  der  Herr  kennt  sein  Gesetz,  wenn  auch  wir  es  nicht  kennen. 
„Denn  unsre  Missetaten  stellest  du  vor  dich,  unsre  unerkannte 
Sünde  ins  Licht  vor  deinem  Angesicht"  (Psalm  90. 8)  ^  Es  ist  die 
feinste  Blüte  altjüdischen  Denkens,  die  wir  hier  vor  uns  haben.  Es 
ist  dies  eine  Erkenntnis  von  einer  Tiefe  und  Reinheit,  daß  wir  be- 
»  Analogen  Inhalts  ist  z.  B.  die  Stelle  Hiob  11,  Vers  4  bis  7,  ebenso  Ps.  51,  Vers  8. 

86 


Das  G 


z 


wundernd  vor  ihr  stehen,  und  es  ist  charakteristisch,  daß  sie  auf 
die  Dauer  sich  im  Volke  nicht  erhalten  konnte,  sondern  in  ihrem 
tiefsten  Sinne  verloren  ging.  Später  veräußerlichte  sich  der  Begriff 
des  Gesetzes  in  der  jüdischen  Tradition  immer  mehr,  so  daß  er 
schließlich  zusammenfiel  mit  der  Gesamtheit  der  priesterlichen 
Kultvorschriften,  welch  letztere  eben  auf  Grund  jener  uralten  Er- 
kenntnis von  der  fundamentalen  Wichtigkeit  des  göttlichen  Gesetzes 
derartige  Ausdehnungen  annahmen,  daß  der  einzelne  sich  kaum 
mehr  frei  bewegen  konnte,  und  in  fast  allen  seinen  Handlungen 
bis  ins  kleinste  festgelegt  war.  Es  ist  ja  durchaus  verständlich,  daß 
unter  dem  Druck  schwerster  Geschicke  eine  derartige  Versteine- 
rung der  alten  Erkenntnisse  stattfand,  welche  sich  religionsgeschicht- 
lich als  ein  Rückschritt  gegenüber  der  klassischen  Zeit  darstellt. 

Wenn  wir  nun  versuchen,  das,  was  nach  den  Resultaten,  die  wir 
in  den  früheren  Abschnitten  erhalten  haben,  den  hier  genannten 
alten  Begriffen  entspricht,  auszusprechen,  so  finden  wir,  daß  auch 
wir  es  kaum  mit  besseren,  sicher  aber  nicht  mit  schöneren  Worten 
sagen  können,  als  es  der  Verfasser  des  ersten  Psalmes  getan  hat. 
Wir  haben  in  etwas  mehr  erklärender  Weise  das,  was  die  Alten  als 
das  Gesetz  des  Herrn  bezeichneten,  vorhin  als  Entwicklungsdränge 
kennen  gelernt,  und  unmittelbar  ergibt  sich  die  Parallele  zu  den  alten 
Worten,  daß  wer  dem  Gesetze  des  Herrn  folgt,  daß  der  blühen 
wird  wie  ein  Palmbaum  und  wer  ihm  nicht  folgt,  der  wird  verdorren 
und  verweht  werden  wie  Spreu  im  Winde.  Doch  wir  wollen  uns 
die  Sache  nicht  zu  leicht  machen  und  wollen  versuchen,  den 
Dingen  ein  wenig  ins  Detail  nachzugehen.  Was  ist  das  Gesetz,  dem 
ich  zu  gehorchen  habe,  damit  es  mir  wohlergehe  und  dessen  Ver- 
letzung so  hart  an  mir  bestraft  wird?  Es  ist  das  Gesetz  des  Seins; 
aber  auch  dies  ist  nur  ein  Wort,  es  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  das 
Gesetz,  das  unsere  Vorfahren  aus  der  Tiefe  unserer  Vergangenheit 

87 


Das  Gesetz, 

heraufgeführt  hat  bis  auf.  unsere  Tage.  Es  ist  das  Gesetz,  welches 
das  Leben  von  kleinsten  Anfängen  an  sich  hat  entwickeln  lassen, 
bis  die  Nachkommen  beginnen,  stark  genug  zu  sein  und  die  Erde 
in  Luft  und  Wasser  immer  mehr  zu  beherrschen.  Es  ist  das  Gesetz, 
welches  aus  brausenden  Weltennebeln  Körper  hat  hervorgehen 
lassen,welche  mannigfaltig  genug  waren  in  ihrer  Zusammensetzung 
und  ihren  Verhältnissen,  um  Wesen  hervorzubringen,  die  sich  da- 
von loslösten  und  als  selbständige  Intelligenzen  und  Wi^lenszentren 
in  der  Welt  auftreten  konnten.  Dieses  Gesetz  ist  unaussprechbar. 
Es  ist  nicht  ein  Gesetz,  welches  sich  in  mathematische  Formeln 
fassen  läßt,  es  ist  ein  Gesetz,  welches  sich  nur  dann  in  voller 
Exaktheit  aussprechen  ließe,  wenn  uns  das  Weltall  in  allen  Ein- 
zelheiten so  genau  bekannt  wäre,  daß  wir  die  ganze  Zukunft 
vorausberechnen  könnten.  Da  aber  dies  nie  sein  wird,  so  können 
wir  nur  sagen,  daß  ein  Gesetz  vorhanden  ist;  wie  es  lautet,  dies 
können  wir  nicht  angeben,  sondern  nur  nach  dem,  was  von  die- 
sem Gesetze  in  uns  selbst  angeboren  liegt,  nach  bestem  Willen 
und  Wissen  handeln.  Wenn  ich  sage,  daß  ich  diesem  Gesetz  unter- 
stehe, so  heißt  das,  daß  ich  letztlich  die  Resultante  bin,  sämt- 
licher Umstände  der  jetzigen  Welt  und  ihrer  Vergangenheit  seit 
Anbeginn. 

Worin  besteht  nun  die  Aufgabe,  die  ich  diesem  Gesetz  gegen- 
über habe?  Diese  Aufgabe  ist  überaus  schwer  aus  zweierlei  Grün- 
den :  der  erste  Grund  ist  der,  daß  wir  das  Gesetz  nicht  kennen, 
wenigstens  nicht  so  genau  kennen,  daß  wir  bis  in  die  kleinsten 
Details  hinein  seine  Meinung  verständen.  Der  zweite  Grund  ist 
der,  daß  es  dieses  Gesetz  für  die  Zukunft  in  gewissem  Sinn  noch 
gar  nicht  gibt,  oder  wenigstens  nicht  vollständig  gibt,  insofern, 
als  auch  ich  selbst  ein  Stück  der  Welt  bin,  und  somit  ebenfalls 
auf  die  weitere  Gestaltung  des  Gesetzes  Einfluß  habe. 

88 


Das  Gesetz 

Die  Situation,  in  der  wir  uns  somit  diesem  „Gesetze"  gegenüber 
befinden,  läßt  sich  kurz  durch  folgende  Antithese  darstellen :  Wir 
unterstehen  alle  einem  großen  Gesetze  des  Daseins,  von  dem  Ab- 
weichungen schwer  bestraft  werden,  aber — wir  kennen  das  Gesetz 
nicht  ganz.  Die  Antithese  löst  sich,  wenn  wir  hinzufügen,  daß  wir 
aber  ein  innerstes,  oft  unbewußtes  Wissen  von  dem  Gesetze  in  uns 
haben,  dem  wir  nur  nachzuleben  brauchen,  um  immerhin  von  un- 
serer Seite  aus  das  Beste  für  ein  erträgliches  Dasein  zu  tun.  Das  ist 
es,  was  die  alten  Religionsschöpfer  darunter  verstanden,  wenn  sie 
sagten,  man  solle  dem  Gesetze  des  Herrn  folgen.  Natürlich  mein- 
ten sie  damit  auch  das  Gesetz  Mosis,  aber  die  vorhin  angeführten 
Stellen,  und  das  ganze  Buch  Hiob  zeigen,  daß  sie  genau  wußten, 
daß  das  geschriebene  Gesetz  nicht  das  einzige,  ja  nicht  einmal  die 
Hauptsache  sei. 

Sind  wir  heute  weiter?  Nein,  und  wir  können  auch  nicht  weiter 
sein,  und  unsere  spätesten  Enkel  können  ebenfalls  niemals  zur 
letzten  Erkenntnis  des  Gesetzes  gelangt  sein.  Das  Gesetz  des  Da- 
seins für  uns  ist  niemals  aufschreibbar,  dazu  ist  es  zu  mannigfaltig 
und  unübersehbar  groß  und  verwickelt.  Wir  wissen  nur,  daß  sein 
Sinn  die  Erhaltung  des  Lebens  und  der  Menschheit  bis  in  mög- 
lichste Fernen  und  die  sieghafte  Überwindung  aller  Widerstände 
in  und  außer  ihr  durch  sie  sein  muß.  Sicherlich  kann  man  daraus 
versuchen,  detailliertere  Gesetze  abzuleiten,  aber  wir  müssen  vor 
der  unerbittlichen  Wahrheit  die  Augen  nicht  verschließen:  absolut 
geltende  Gesetze  werden  wir  dadurch  niemals  erhalten.  Natürlich 
sind  die  Forderungen,  die  Moses  im  Dekalog  aufgestellt  hat,  ver- 
bindlich für  alle  Völker,  welche  Anspruch  auf  Kultur  machen  wollen 
und  in  erster  Annäherung  die  wichtigsten  Vorbedingungen  für  ein 
soziales  Leben,  aber  ausnahmslos  gültig  sind  sie  deshalb  doch 
nicht.  Man  kann  etwa  sagen,  daß  es  eine  gewisse  Rangordnung 

89 


Das  Gesetz 

der  moralischen  Gesetze  gebe,  und  daß  die  Gesetze  des  Dekalogs 
vielleicht  diejenigen  sind,  welche  am  letzten  verletzt  werden  sollen, 
aber  vor  dem  Gesetze  selbst  müßten  auch  sie  gegebenenfalls  zurück- 
stehen, da  auch  sie  nur  Folgerungen  sind  auf  Grund  eines  zeitigen 
Zustandes,  der  zwar  beliebig  lange  dauern  kann,  der  aber  doch 
nicht  ewig  zu  dauern  braucht  —  und  wenn  er  sich  ändert,  dann 
können  auch  die  Folgerungen  aus  dem  Gesetze  des  Daseins  sich 
ändern,  denn  dieses  steht  immer  über  allen  Folgerungen,  die  aus 
ihm  auf  Grund  spezieller  Umstände  gezogen  werden  können.  Die- 
jenigen Folgerungen,  welche  mit  fast  unbeschränkter  Dauer  aus 
dem  Gesetze  des  Seins  gezogen  werden  können,  sind  die,  welche 
sich  auf  die  physische  Natur  des  Menschen  gründen  (z.  B,  Gesetze 
gegen  Verwandtenehen  usw.),  aber  auch  hier  könnte  man  theore- 
tische Fälle  konstruieren,  wo  die  Frage,  ob  nicht  ihre  Durchbrechung 
einmal  für  das  Grundgesetz  wichtiger  sein  kann  als  ihre  Durch- 
führung, zweifelhaft  wird  (das  Problem  berührt  1 .  Mosis  1 9,  Vers  30, 
wohl  eine  Parallele  zu  1.  Mosis  9,  Vers  20). 


90 


§  6.  Typen  menschlicher  Handlungen  und  Ziele. 

So  steht  denn  der  einzelne  im  Kampfe  der  Umstände  und  muß 
sich  handelnd  mit  ihnen  auseinandersetzen.  Bevor  wir  aber  seine 
Handlungen  nach  Gerechtigkeit  und  Ungerechtigkeit,  nach  Lohn 
und  Strafe  zu  beurteilen  versuchen,  sei  es  erlaubt,  uns  einen  all- 
gemeineren Überblick  über  die  Gesamtsituation  des  handelnden 
Menschen  zu  verschaffen,  und  uns  einige  Hauptarten  menschlicher 
Handlungstypen  zu  vergegenwärtigen. 

Zunächst  wollen  wir  versuchen,  einen  Blick  auf  die  gesamte 
Situation  des  handelnden  Menschen  zu  werfen.  Ein  naheliegendes 
Bild  läßt  sie  uns  in  kurzen  Worten  charakterisieren.  Der  einzelne 
steckt  einmal  wie  jeder  andere  Gegenstand  der  Welt  innerhalb 
seiner  Umgebung  und  steht  mit  ihr  in  einer  Gegenseitigkeits- 
beziehung, insofern  als  er  auf  die  Umgebung,  diese  auf  ihn  wirkt. 
Er  wird  von  ihr  gedrückt  und  drückt  sie  wieder,  kurz,  es  besteht 
etwas,  das  wir  wie  oben  als  mechanisches  Gleichgewichtsver- 
hältnis bezeichnen  können.  Die  Umgebung,  das  ist  hauptsächlich 
die  umgebende  Menschheit,  sowie  andererseits  die  umgebende 
Natur,  liefert  Bedingungen,  Forderungen  usw,,  welche  dem  Einzel- 
menschen gewisse  Lebensrichtungen  vorschreiben.  Der  einzelne 
kann  nicht  vollständig  wie  er  will,  er  ist  vielmehr  abhängig  von 
seiner  Umgebung  und  von  dem  eigenen  Körper  und  sein  Lebens- 
weg wird  ein  fortgesetztes  Kompromiß  sein  müssen  zwischen  den 
verschiedenen  Kräften,  die  auf  ihn  einwirken.  Denken  wir  uns,  der 
Einzelmensch  fasse  einen  Willen,  indem  er  sich  ein  bestimmtes 

91 


Typen  menschlicher  Handlangen  und  Z  le  l  e 

Ziel  setzt.  Wenn  er  dann  versucht,  diejenigen  Handlungen  auszu- 
führen, welche  ihn  dem  Ziele  näherbringen,  dann  wird  er  je  nach 
der  Art  dieser  Handlungen  und  des  Zieles  kleinere  oder  größere 
Widerstände  und  Schwierigkeiten  zu  überwinden  haben. 

So  lebt  in  einem  gegenseitigen  Stoßen  und  Drängen  mit  ande- 
ren Menschen  und  den  äußeren  Umständen  der  einzelne  Mensch 
dahin.  Nun  wäre  es  möglich,  daß  er,  um  schmerzhafte  Stöße  mög- 
lichst zu  vermeiden,  auf  die  Idee  käme,  rein  passiv  zu  bleiben  und 
sich  einfach  von  den  Umständen  völlig  treiben  zu  lassen.  Ein  der- 
artiger Mensch  wäre  in  einem  gewissen  Sinne  wie  ein  toter  Körper 
anzusehen.  Aber  es  würde  ihm  doch  nichts  helfen,  denn  die  Um- 
stände sind  niemals  derart  gleich  gegenseitig,  daß  er  nicht,  und 
wenn  er  sich  noch  so  passiv  verhielte,  gezwungen  würde,  irgend- 
wie Stellung  zu  nehmen,  selbst  ausgleichend  einzugreifen,  damit 
ihn  die  Umstände  nicht  zerstören.  Diesen  Zustand  des  mehr  passiven 
Verhaltens  und  Handelns  ohne  bestimmte  weitere  Ziele  haben  wir 
je  nach  dem  Charakter  vielfach  in  kleinen  Handlungen  des  täg- 
lichen Lebens,  in  Handlungen,  welche  für  die  Erreichung  unseres 
eigentlichen  Zieles  nicht  von  Belang  sind  oder  uns  momentan  zu 
sein  scheinen.  Anders  liegen  die  Verhältnisse,  sobald  ich  mir  ein 
weiteres  Ziel  setze.  Hier  sind,  wie  sofort  einzusehen,  folgende  Um- 
stände ausschlaggebend.  Es  ist  zu  unterscheiden  zwischen  ferneren 
und  nahen  Zielen,  d.  h.  zwischen  Zielen,  die  durch  vielleicht  viel- 
jährige Zwischenräume  von  ihrer  Erreichung  entfernt  sind,  und 
solchen,  die  durch  ganz  kurze  Zeiträume  von  einigen  Tagen  oder 
Wochen  oder  Monaten  von  ihrer  Erreichung  abstehen.  Betrachten 
wir  zunächst  die  letzteren,  die  nahen  Ziele.  Hier  haben  wir  dreier- 
lei Möglichkeiten:  Ich  kann  einmal  ein  solches  Ziel  wählen,  wel- 
ches derart  in  der  Richtung  der  Bedingungen  meiner  Umgebung 
liegt,  daß  ich  es  unter  Anwendung  normaler  Anstrengungen  und 

92 


Ty  p  e  n  menschlicher  Handlungen  und  Ziele 

zweckmäßiger  Handlungen  fast  unmittelbar  erreiche.  Wähle  ich 
hingegen  das  nahe  Ziel  so,  daß  es  mit  den  Bedingungen  meiner 
Umgebung  unvereinbar  ist,  so  werde  ich  dieses  Ziel  im  allgemeinen 
nicht  erreichen.  Dazwischen  liegen  jene  vielen  Fälle,  in  denen  das 
Risiko  angibt,  daß  das  Ziel  zwar  einerseits  nicht  unmittelbar  in 
Richtung  der  Bedingungen  liegt,  die  mich  umgeben,  daß  es  aber 
auch  nicht  andererseits  außerhalb  der  Bedingungen,  die  mich  im 
weiteren  Sinn  umgeben,  liegt:  insofern,  als  es  mir  gelingt,  diese 
letzteren  mir  zunutze  zu  machen.  Anders  liegt  die  Sache  bei  den 
weiteren,  ferneren  Zielen. 

Sicher  ist  aus  der  Erfahrung  der  Geschichte  das  zu  entnehmen, 
daß  derjenige,  welcher  zwar  in  Richtung  des  allgemeinen  Ent- 
wickelungszieles  handelt,  aber  das  Ziel  seines  Strebens  sich  sehr 
weit  in  die  Zukunft  steckt,  daß  der  innerhalb  seiner  momentanen 
Sphäre  keinen  unmittelbaren  Erfolg  für  sein  eigenes  Leben  zu 
haben  braucht  und  auch  vielfach  nicht  einmal  den  ideellen  Erfolg 
seiner  Tätigkeit  irgendwie  zu  sehen  bekommt.  Er  trägt  vielleicht 
wichtiges  bei  zur  Erreichung  des  fernen  Zieles,  aber  Wohl- 
stand und  Glück  zu  seinen  Lebzeiten  ist  nicht  sicher  verbürgt. 
ImGegensatz  zu  diesem  Menschen  steht  derjenige,  welcher  sich 
ein  zu  kurzes  Ziel  steckt.  Dies  tut  er,  wenn  er  immer  nur  das- 
jenige Ziel  im  Auge  hat,  welches  aus  den  allernächsten  Umständen 
sich  ihm  aufdrängt.  Dieser  Mensch  wird  ebenfalls  nicht  viel  äuße- 
res Glück  haben.  Er  wird  zwar  in  den  meisten  Fällen  dieses  nächst- 
gelegene Ziel  erreichen,  dabei  jedoch  immer  wieder  die  heftigsten 
Erschütterungen  seiner  Position  in  körperlicher  und  seelischer  Be- 
ziehung erleiden  durch  Überraschungen  mannigfachster  Art,  die 
plötzlich  das  Resultat  seiner  früheren  kurzfristigen  Zielstrebigkeiten 
ihm  zunichte  machen.  Er  hätte  einen  großen  Prozentsatz  dieser 
Überraschungen  vermeiden  können,  wenn  er  nicht  nur  die  aller- 

93 


Typ  e  n  menschlicher  Handlungen  und  Ziele 

nächsten  Ziele  und  nicht  nur  diejenigen  Umstände,  welche  die 
allernächsten  Ziele  bestimmen,  im  Auge  gehabt  hätte.  So  erkennen 
wir,  daß  voraussichtlich  derjenige  Mensch  für  sein  eigenes  Leben 
betrachtet  am  sichersten  dieses  Leben  in  einer  schönen  Linie  von 
Erfolgen,  die  er  noch  selbst  erlebt,  durchlaufen  wird,  der  sich  seine 
Ziele  weder  zu  weit  noch  zu  kurz  steckt,  sondern  etwa  gerade  so- 
weit, als  der  durchschnittliche  Mensch  sie  im  Laufe  seiner  durch- 
schnittlichen Lebenslänge  zu  erreichen  vermag.  Alle  drei  Sorten 
von  Menschen,  die  kurzzieligen,  die  normalzieligen  und  die  lang- 
zieligen  sind  an  sich  ethisch  keineswegs  zu  verwerfen,  sondern  sie 
stellen  nur  Typen  verschiedener  Lebensmöglichkeiten  dar.  Und 
vielleicht  sind  alle  drei  Arten  in  gewissem  Sinne  notwendig  und 
geben  erst  in  ihrer  Vereinigung  den  vollen  Effekt  der  menschlichen 
Entwickelung,  Sicherlich  werden  die  kurzzieligen  sehr  bald  in  Ab- 
hängigkeit von  den  beiden  anderen  geraten,  dadurch,  daß  sie  deren 
Schutz  vor  Überraschungen  aufsuchen  werden.  Jedoch  ist  das 
bloße  Vorhandensein  von  Vertretern  der  beiden  ersten  Gruppen 
von  kurzzieligen  und  normalzieligen  vielleicht  noch  nicht  ganz  ge- 
nügend, um  einen  gutgeleiteten  Fortschritt  der  Menschheit  zu  be- 
werkstelligen. Denn,  wie  aus  der  Sache  selbst  hervorgeht,  sind 
gerade  die  langzieligen  es,  welche  die  Linien  vorzeichnen  für  die 
Weiterentwickelung  und  erst  an  ihnen  halten  sich  wiederum  ge- 
wissermaßen diejenigen  mit  kürzeren  Zielen.  Jedoch  sind  sie  selbst 
als  solche  keineswegs  lebensfähig  und  es  sind  doch  die  beiden 
anderen  Gattungen,  welche  den  eigentlichen  Fortschritt  wirklich 
zurücklegen  und  realisieren,  nachdem  er  ihnen  gezeigt  ist.  Aber  not- 
wendig sind  sie  alle  miteinander  (der  kurzziehge  als  arbeitender  Aus- 
führer der  ihm  gesteckten  weiteren  Ziele  der  anderen).  Sie  alle  haben 
ihr  Recht,  ihre  Existensberechtigung,  ja  ihre  Existenznotwendigkeit. 
Sie  alle  sind  Arbeiter  an  der  Entwickelung,  jeder  an  seinem  Teil. 

94 


Typen  menschliche  rHandl  an  gen  und  Ziele 

Wir  sehen  also,  daß  jeder  in  seinem  Sinne  Erfolg  hat  und  haben 
kann,  der  nur  sein  Ziel  in  Richtung  der  allgemeinen  Umstände, 
der  allgemeinen  Entwickelungsrichtung  wählt.  Nur  darf  derjenige, 
der  sich  auf  der  Linie  der  allgemeinen  Entwickelung  sein  Ziel  in 
die  Ferne  steckt,  nicht  den  Erfolg  in  der  Nähe  erwarten.  Und  um- 
gekehrt, darf  derjenige,  der  sich  sein  Ziel  in  die  Nähe  steckt,  im 
allgemeinen  nicht  auf  einen  Erfolg  in  der  Ferne  sich  Hoffnung 
machen.  Dies  beides  wäre  gegen  die  Natur.  Aber,  wer  klug  genug 
ist,  die  Dinge  ihrem  wahren  Wesen  nach  zu  erkennen  und  einzu- 
schätzen und  für  sein  nahes  Ziel  auch  nur  einen  nahen  Erfolg  ver- 
langt oder  für  ein  weites  Ziel  auch  nur  einen  weiten  Erfolg  (der 
vielleicht  jenseits  seines  eigenen  Lebens  gelegen  ist)  der  hat  so 
unfehlbar  sicher  Erfolg,  wie  irgend  etwas  eintritt,  das  nach  natür- 
lichen Gesetzen  eintreten  muß,  wenn  er  nur  wirklich  dieses  Ziel 
hat,  es  festhält,  und  ihm  mit  allen  Kräften  längs  der  Linie  der  all- 
gemeinen Entwickelung  nachstrebt. 

Das  Leben  der  Menschen  innerhalb  eines  abgeschlossenen  Be- 
reiches und  das  auf  der  ganzen  Welt  bildet  in  einem  mechanischen 
Gleichnis,  wie  wir  sahen,  ein  Gleichgewichtssystem  von  Kräften. 
Der  einzelne  wird  demgemäß  am  leichtesten  sein  Ziel,  das  er  sich 
steckt,  erreichen,  wenn  es  auf  der  Linie  geringeren  Widerstandes, 
geringsten  Widerstandes  liegt.  Diese  Linie  ist  offenbar  gegeben 
durch  die  Linie  des  allgemeinen  Fortschrittes,  der  allgemeinen 
Entwickelung  der  betrachteten  Menschengruppe  —  immer  natür- 
lich unter  gebührender  Berücksichtigung  der  vorhandenen  außer- 
menschlichen Umstände,  sei  es  geologische  Beschaffenheit  des 
Landes,  Klima  usw.  In  dieses  Kräftespiel  aller  der  ihn  umgebenden 
Umstände  ist  nun  der  Mensch  mit  allen  Fasern  seines  Lebens 
hineinverwoben.  Setzt  er  sich  nun  irgendein  Ziel  und  versucht 
diejenigen  Maßnahmen  zu  ergreifen,  welche  dasselbe  erreichen 

95 


Typen  menschlicher  Handlangen  und  Ziele 

lassen,  so  wird  er  alsbald,  falls  dieses  Ziel  zu  sehr  den  Zielen  der 
ihn  umgebenden  Menschen  widersprechen  oder  hinderlich  sein 
sollte,  Widerstände  hervorrufen.  Diese  Widerstände  können  ge- 
gebenenfalls so  groß  werden,  daß  die  Erreichung  des  Zieles  un- 
möglich wird,  ja,  er  kann  bewirken,  daß  die  Gesellschaft  sich  um- 
gekehrt nunmehr  gegen  ihn  selbst  wendet  und,  falls  die  ihn  um- 
gebenden Menschen  sich  alle  gemeinsam  durch  sein  Vorgehen  in 
ihren  Zielen  und  vielleicht  in  ihrer  Existens  bedroht  sehen,  werden 
sie  ihn  vernichten.  Auf  jeden  Fall  sehen  wir,  daß  die  Verfolgung 
eines  Zieles,  das  ganz  oderteilweise  entgegengesetzt  zur  Richtung 
der  allgemeinen  Entwickelung  liegt,  auf  Widerstände  stoßen  kann, 
die  so  stark  sind,  daß  ein  Mißerfolg  eintritt.  Nun  wird  aber  unsere 
Begriffsbildung  durch  den  Umstand  erschwert,  daß  z.  B.  ein  lang- 
zieliger  Mensch,  der  sich  sein  Ziel  über  seine  eigene  Lebenszeit 
hinaussteckt,  ohne  es  zu  wissen,  und  der  auf  einen  Erfolg  inner- 
halb seiner  eigenen  Lebenszeit  rechnet,  offenbar  in  der  Erreichung 
seines  Zieles  Mißerfolg  hat,  ohne  doch  der  allgemeinen  Entwicke- 
lung entgegen  gehandelt  zu  haben.  Er  kann  aber  daraus  nicht 
schließen,  daß  sein  Ziel  an  sich  falsch  oder  schlecht  gewesen  sei 
—  in  der  Tat  aber  war  es  insofern  falsch,  als  er  es  auf  einen  falschen 
Zeitpunkt  verlegt  hatte.  Darin  hatte  er  Mißerfolg,  in  diesem 
Punkte  hatte  er  anders  gewollt  als  die  Entwickelung,  hierin  also 
war  ihm  der  Erfolg  versagt. 

Nun  sind  aber  keineswegs  alle  Handlungen  direkte  Zielhand- 
lungen, vielmehr  sind  vieleunsererHandlungen  einfacheReaktions- 
handlungen.  Aber  auch  bei  diesen  haben  wir  in  erster  Annäherung 
die  genannte  Zweiteilung.  Die  Reaktionshandlungen  sind  Äuße- 
rungen der  Sitte,  der  Gewohnheit,  und  haften  gleichzeitig  ganzen 
Menschengruppen  an.  Jede  Reaktionshandlung  ist  nun  aber  ein 
Baustein  zu  dem  Bilde,  das  unsere  Nebenmenschen  sich  von  uns 

96 


Typen  menschlicher  Handlungen  und  Ziele 

machen,  d.  h.  unseres  sogenannten  Charakters.  Liegt  nun  eine 
Reaktionshandlung  in  Richtung  der  allgemeinen  Entwickelungs- 
ziele,  d.  h.  widerspricht  sie  nicht  den  Prinzipien,  welche  sich  viel- 
fach unbewußt  aus  dem  Daseinskampf  der  Menschen  als  not- 
wendig heraus  entwickelt  haben,  dann  wird  sie  dazu  beitragen, 
das  genannte  Bild  von  uns  in  unseren  Nebenmenschen  in  normaler 
Weise  zu  ergänzen.  Ist  sie  dagegen  im  Gegensatz  zu  den  genann- 
ten Tendenzen,  so  wird  sie  dieses  Bild  in  ein  ungünstiges  verwan- 
deln, wir  werden  Widerstände  gegen  uns  hervorrufen  und  somit 
für  diese  Handlungen  bestraft  werden.  Liegt  die  Handlung  da- 
gegen sehr  auffällig  in  der  Richtung  derEntwickelungstendenzen, 
so  wird  unser  Bild  in  den  Nebenmenschen  ein  günstiges  werden, 
wir  werden  somit  für  diese  Handlung  belohnt  werden. 

Haben  wir  uns  im  Vorstehenden  verschiedene  Typen  mensch- 
licher Zielsetzungen  vergegenwärtigt,  so  ist  zu  bemerken,  daß  für 
die  ethische  Beurteilung  des  Einzelnen  die  Weite  seiner  Ziele  ganz 
belanglos  ist,  vorausgesetzt,  daß  er  sein  Zi^l  nach  bestem  Urteil 
von  innen  heraus  sich  setzt  und  von  innen  heraus  sein  Leben  führt. 
Dann  ist  jeder  für  die  überindividuellen  Gesamtheiten,  denen  er 
angehört,  wertvoll  als  klare  Kraft  und  sicheres  Glied,  aber  auch  für 
sich  selbst  leistet  er  dann  das  für  ihn  nach  seinen  Gaben  und  sei- 
nem Können  denkbar  beste. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  auch  unsere  dabei  gemach- 
ten Bemerkungen  über  den  jeweiligen  Erfolg  zu  beurteilen.  Nicht 
das  momentane  Glück,  nicht  das  größte  Glück  des  Einzelnen  ist 
das  Ziel  unserer  Handlungen^  sondern  die  Erfüllung  der  in  uns 
gelegenen  Aufgaben,  die  Auswirkung  des  von  denvergangenen 
Generationen  unserer  Vorfahren  und  dem  Leben  überhaupt  uns 
überkommenen  Auftrags  wie  er  einerseits  in  uns  selbst  liegt,  ande- 
rerseits von  außen  an  uns  herantritt  (die  sog.  „Pflicht"),  dies  ist 

97  7 


Typen    menschlicher  Handlungen    und   Ziele 

unser  Ziel.  Da,  wie  wir  sahen,  im  Ganzen  jene  wunderbare  Einheit 
der  inneren  und  äußeren  Lebensdränge  besteht,  so  muß  der  Ein- 
zelne eben  versuchen,  die  im  Einzelleben  etwa  vorhandenen  Wider- 
streite zwischen  beiden  mit  Vernunft  zu  schlichten  und  wird  es  in 
den  meisten  Fällen  auch  können.  Darum  darf  aber  nicht  die  Tat- 
sache, daß  ein  Ziel  in  der  Richtung  der  sichtbaren  Entwicklung 
liegt,  und  leicht  zu  erreichen  scheint,  allein  uns  bestimmen,  es  zu 
verfolgen.  Wenn  alle  nur  dies  tun  wollten,  so  würden  bald  keine 
großen  Entwickelungslinien  mehr  erkennbar  sein,  der  Versuch 
einer  vollkommenen  Anpassung  aller  an  alle  würde  das  Ende  jeden 
Fortschrittes  bedeuten.  Nicht  daß  ein  Ziel  in  Richtung  erkennbarer 
Fortschrittslinien  zu  liegen  scheint,  verbürgt  für  sich  allein  schon, 
daß  das  Ziel  im  Sinne  der  großen  Entwickelungsdränge,  im  Sinne 
Gottes  liegt,  vielmehr  ist  das  erste  Kriterium  hiefür,  daß  das  Ziel 
aus  Deinem  innersten  Verstehen  heraus  Dir  als  Dein  Ziel  sich  bie- 
tet, als  Ausfluß  Deines  besten  Willens  im  Sinne  Gottes  zu  handeln. 
Ob  dies  dann  zu  einem  äußeren  Erfolg  in  Geld  und  Ehren  führt, 
dies  ist  eine  zweite  Frage.  Doch  kann  man  das  eine  sagen,  daß 
ein  derart  geführtes  Leben  nie  ganz  ohne  Erfolg  und  nie  ganz  ohne 
tiefes  Glück  sein  kann.  Aber  einzige  und  Hauptziele  sollen  diese 
beiden  nicht  sein.  Nur  so  wird  die  wahre  Entwickelung  vorwärts 
getragen  von  uns  allen,  der  wahre  Fortschritt,  der  für  das  ober- 
flächliche Auge  den  gemeinsamen  Wegen  der  Menschen  manch- 
mal zunächst  zu  widersprechen  scheint. 


98 


§  7.  Ethische  Grundprobleme. 

Und  nunmehr  muß  es  unsere  Aufgabe  sein,  das  menschliche 
Handeln,  dessen  Zweiteilung  als  für  oder  gegen  das  »Gesetz", 
als  „gut  und  böse"  wir  in  großen  Linien  in  einer  durchschnittlichen 
Begriffsbildung  uns  gekennzeichnet  haben,  zu  betrachten  hinsicht- 
lich seiner  Folgen  für  den  einzelnen.  Wir  treten  damit  ein  in  die 
Diskussion  des  schwierigsten  Teiles  unseres  Problemes,  der  sich 
in  der  klassischen  Sprache  der  jüdischen  Religionsschöpfer  kon- 
zentriert um  die  Zuordnung  zwischen  den  Begriffspaaren  „gut  und 
böse"  und  „Lohn  und  Strafe". 

In  ein  paar  Worten  sei  es  unternommen,  die  Gesamtsituation 
nochmals  kurz  zu  überschauen.  Der  Mensch  ist  gezwungen  zu  han- 
deln, dadurch  lebt  er.  Die  Frage  ist,  wie  er  handeln  soll.  Die  Lö- 
sung des  Alten  Testamentes  ist  die:  Er  soll  nach  dem  Gesetze  des 
Herrn  handeln,  dann  handelt  er  gut  und  wird  belohnt,  andernfalls 
handelt  er  schlecht  und  wird  bestraft.  Auch  wir  haben  erkannt,  daß 
es  für  uns  ein  «Gesetz  des  Herrn"  gibt,  das  wir  zwar  nicht  im  ein- 
zelnen kennen,  aber  doch  irgendwie  „haben".  Wir  haben  zwar 
schon  mehrfach  angedeutet,  daß,  wenn  wir  nach  diesem  Gesetze 
handeln,  wir  gleichzeitig  auch  für  uns  am  vorteilhaftesten  handeln, 
wenn  wir  dagegen  handeln,  uns  schaden;  aber  wie  weit  diese 
Überlegung  in  die  einzelne  Handlung  eingeht,  inwieweit  wir  sie 
zur  Richtschnur  unseres  ganzen  täglichen  Lebens  und  Handelns 
machen  können,  dies  bleibt  uns  noch  zu  zeigen  übrig. 

Es  wird  die  von  der  ganzen  jüdischen  Ethik  stillschweigend 

99  7' 


Ethische    Grundprobleme 

und  zähe  durchgehends  festgehaltene  Hypothese,  daß  das  wahr- 
haft sittHche  Handeln  stets  auch  das  vorteilhafteste  Handeln  ist, 
auch  für  uns  zu  erweisen  sein. 

Das  wahrhaft  sittliche  Handeln  ist  das  Handeln  aus  dem  guten 
Willen.  „Guter  Wille"  ohne  Angabe  aber,  worauf  er  gerichtet  ist, 
ist,  wie  wenn  man  von  einem  guten  Schuß  spricht,  der  nicht  ab- 
gegeben wird.  So  liegt  also  in  dem  Begriffe  des  guten  Willens  an 
sich  ein  formaler  Widerspruch,  und  wo  in  der  Ethik  der  gute  Wille 
an  sich  verwendet  wird,  da  wird  entweder  von  etwas  gesprochen, 
das  es  nicht  gibt,  oder  aber  es  steckt  ein  phänomenologisch  erfaßter 
Begriff  dahinter,  der  nur  mit  der  Bezeichnung  „guter  Wille"  un- 
glücklich in  Sprachform  gefaßt  ist.  Wir  aber  haben  im  Vorstehen- 
den dasjenige,  was  hier  dann  und  wann  phänomenologisch  emp- 
funden wurde,  klar  herausgearbeitet:  „aus  gutem  Willen  handeln" 
hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  darunter  das  verstanden  wird,  was 
wir  oben  nannten:  von  innen  heraus  handeln,  mit  dem  Hinzu- 
fügen, daß  das,  woraus  wir  dabei  handeln,  das  Gesetz  in  und  um 
uns  „das  Gesetz  des  Herrn"  ist.  Betrachten  wir  die  Formel  des 
Kantschen  kategorischen  Imperativs :  Handle  so,  daß  die  Maxime 
deines  Willens  jederzeit  zugleich  als  Prinzip  einer  allgemeinen 
Gesetzgebung  gelten  könnte;  so  ist,  wenn  wir  diese  Formulierung 
mit  der  unsrigen  vergleichen,  zwar  einleuchtend,  daß  sie  sozusagen 
in  der  gleichen  Richtung  sich  bewegt,  auf  dem  richtigen  Wege  ist. 
Unsere  Formel  lautet,  handle  nach  dem  Gesetz  Gottes,  wobei  der 
Begriff  des  Gesetzes  Gottes  oben  näher  erläutert  wurde.  Nach  letz- 
terer Formel  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Maxime  meines  Han- 
delns stets  zugleich  als  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung 
dienen  kann,  denn  beide  fallen  ja  hier  völlig  zusammen,  ferner 
aber  sind  es  nicht  mehr  verschiedene  Maximen,  verschiedene  Prin- 
zipe  einer  allgemeinen  Gesetzgebung,  wie  sie  die  Kantsche  For- 

100 


Ethische      Grandprobleme 

mel  als  möglich  erscheinen  läßt,  sondern  nur  eine  einzige  große 
allgemeine  Maxime,  welche  das  einzige  Prinzip  einer  allgemeinen 
Gesetzgebung  darstellt:  das  Gesetz  Gottes.  Man  sieht,  die  alten 
Juden  waren  in  der  Ethik  um  ein  gut  Stück  weiter  bereits  als  Im- 
manuel Kant.  Die  Entwickelung  der  Ethik  in  der  neueren  Zeit  hat 
größtenteils  darin  bestanden,  daß  die  Unmöglichkeit  spezieller 
Gesetze  immer  mehr  eingesehen  v^erden  dürfte.  In  der  Kantschen 
Formulierung  steckte  noch  ein  Rest  von  solcher  Spezialisierung. 
Erst  in  unserer  Formel  ist  auch  das  Letzte  davon  in  Wegfall  ge- 
kommen: ein  einziges,  völlig  einheitliches  und  undifferenziertes, 
undifferenzierbares  Grundprinzip  bleibt  übrig. 

Diese  Einheit  des  Grundprinzips  aber  bewirkt  nun  auch  die  Gel- 
tung des  Grundsatzes,  daß  das  wahrhaft  sittliche  Handeln  stets  zu- 
gleich auch  das  vorteilhafteste  sei.  Dieser  Grundsatz  aber  hat  von 
Anbeginn  die  größten  Zweifel  auf  sich  gezogen. 

Offenbar  hat  die  endgültige  jüdische  Lehre,  welche  ganz  auf 
diesen  Grundsatz  aufgebaut  ist,  erst  durch  viele  Diskussionen, 
Überlegungen  und  Einwürfe  hindurch  sich  durchsetzen  müssen. 
In  der  Tat  gibt  es  auch  wohl  kaum  eine  Behauptung,  die  leichter 
zu  widerlegen  schiene.  Um  so  bemerkenswerter  ist  die  Tatsache, 
da  ß  sie  sich  durchsetzen  konnte.  Und  daß  sie  sich  nicht  als  „ Priester- 
betrug" oder  durch  Aufzwingung  von  selten  Mächtiger  durchge- 
setzt hat,  sondern  daß  sie  den  Frommen  in  dem  ganzen  Volk  zur 
innersten  Überzeugung  und  Lebensmaxime  wurde,  das  ist  jedem 
klar,  der  offenen  Blickes  zu  lesen  versteht.  Wie  groß  die  Wider- 
stände waren,  das  zeigt  der  Umstand,  daß  zwei  der  schönsten 
Schriften  des  Kanons  des  Alten  Testamentes  wenn  nicht  auf  einem 
entgegengesetzten  Standpunkte  stehen,  doch  mit  der  vorurteils- 
losesten Diskussion  dieses  Grundsatzes  sich  beschäftigen-Daß  diese 
beiden  Bücher  dort  aufgenommen  wurden,  zeugt  einmal  von  der 

101 


Ethische      Grundprobleme 

Bedeutung  des  Widerstandes,  jedoch  aber  auch  von  dem  Sicher- 
heitsgefühl, mit  dem  man  diesen  Zweifeln  gegenüberstand.  Einer- 
seits wurden  die  Zweifel  in  diesen  beiden  Büchern  selbst  schon  zu 
widerlegen  versucht,  andererseits  aber  vertraute  man  auf  die  über- 
zeugende Kraft  der  übrigen  Schriften.  . 

So  sagt  der  Prediger:  Denn  was  hat  ein  Weiser  mehr  als  ein 
Narr?  (6,  8).  Da  ist  ein  Gerechter  und  gehet  unter  in  seiner  Ge- 
rechtigkeit; und  ist  ein  Gottloser,  der  lange  lebt  in  seiner  Bosheit 
(7,  15).  Es  sind  Gerechte,  denen  gehet  es,  als  hätten  sie  Werke  der 
Gottlosen,  und  sind  Gottlose,  denen  gehet  es,  als  hätten  sie  Werke 
der  Gerechten.  Ich  sprach:  Das  ist  auch  eitel  (8,  14).  Es  begegnet 
dasselbe  einem  wie  dem  andern,  dem  Gerechten  wie  dem  Gott- 
losen, dem  Guten  und  Reinen  wie  dem  Unreinen,  dem,  der  opfert, 
wie  dem,  der  nicht  opfert.  Wie  es  dem  Guten  gehet,  so  gehet's  auch 
dem  Sünder.  Wie  es  dem,  der  schwört,  gehet,  so  gehet's  auch  dem, 
der  den  Eid  fürchtet.  Das  ist  ein  bös  Ding  unter  allem,  das  unter 
der  Sonne  geschieht,  daß  es  einem  geht  wie  dem  andern  (9,  2;  3). 

Ebenso  enthält  das  BuphHiob  Klagen,  daß  es  dem  Sünder  wohl- 
gehe und  er  keine  Strafe  erleide.  Man  lese  z.  B.  das  24.  Kapitel 
dieses  Buches,  das  allerdings  in  den  gewöhnlichen  Lutherschen 
Bibelübersetzungen  fast  unverständlich  ist^  Auch  sonst  enthält 
das  Buch  Hiob,  das  überhaupt  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  ein 
klassisches  Beispiel  für  die  Art  der  altjüdischen  Philosophie  und 
Ethik  darstellt,  eine  ganze  Reihe  wichtiger  Einwände  gegen  die 
spätere  siegreiche  Erkenntnis,  die  aber  alle  gleich  an  Ort  und  Stelle 
zu  widerlegen  versucht  werden.  Wir  werden  uns  mit  den  Wider- 
legungen dieser  und  der  obigen  Einwürfe  erst  weiterhin  beschäf- 

'  Klarere  Übersetzung  siehe  z.  B.  .Die  Heilige  Schrift.  Der  Urtext'  mit  Zugrunde- 
legung des  Philippsonschen  Bibelwerkes.  Herausgegeben  auf  Kosten  der  isr. 
Bibelanstalt.  Frankfurt  a.  M.,  J.  Kauffmann  1913. 

102 


Ethische      Gründprobleme 

tigen,  wo  wir  selbst  gegen  Einwürfe  uns  verteidigen  werden.  So 
liegt  z.  B.  eine  starke  ideale  Forderung  in  der  Frage  des  Teufels 
an  Gott  (Hiob  1,9):  „Meinst  du,  daß  Hiob  umsonst  Gott  fürchtet?" 
Sie  läßt  uns  erkennen,  daß  starke  Strömungen  einer  rein  utilitari- 
stischen Ethik  schon  damals  vorhanden  waren,  und  wir  entnehmen 
aus  dem  weiteren  des  Buches  Hiob,  daß  sie  erfolgreich  bekämpft 
wurden,  wenn  auch  manchmal  noch  mit  etwas  tastenden  Argu- 
menten. Ein  wichtiger  Punkt,  gegen  den  das  Buch  Hiob  kämpft,  ist 
die  Vorstellung  der  Ethik  als  einer  Art  Handelsgeschäft  zwischen 
Gott  und  dem  Menschen.  „Kann  denn  ein  Mann  Gott  etwas  nützen? 
Nur  sich  selbst  nützt  ein  Kluger"  so  sagt  Eliphas  (Hiob  22,  2).  Mit 
anderen  Worten,  es  ist  unmöglich,  sich  Gott  gegenüber  ein  Ver- 
dienst zu  erwerben,  auf  das  man  pochen  kann.  Dies  ist  schon 
deshalb  unmöglich,  weil  das  Gesetz  nicht  bekannt  ist.  Demgemäß 
wird  auch  dieser  letztere  Punkt  besonders  hervorgehoben  (Kap.  28), 
und  Hiob,  der  sich  gerne  auf  seine  formale  Gesetzeserfüllung  ver- 
steifen möchte,  jammert  über  die  dadurch  bedingte  Unsicherheit 
(Hiob,  Kap.  23),  die  er  aber  nur  empfindet,  weil  er  das  eigentliche 
Wesen  des  göttlichen  Gesetzes  noch  nicht  erkannt  hat.  Seine  Freunde 
geben  sich  beste  Mühe,  ihn  auf  den  rechten  Weg  zu  führen,  aber 
es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  es  ihnen  selbst  nicht  ganz  leicht  wird, 
den  Kern  dej;  Sache  gut  zu  formulieren.  In  den  Schlußreden  Hiobs 
endlich  steht  die  Lösung:  „Siehe,  die  Furcht  des  Herrn,  das  ist 
Weisheit"  (28,  Vers  28).  Aber  Stellung,  Inhalt  und  Fassung  machen 
es  mir  sehr  wahrscheinlich,  daß  hier  eine  spätere  Einschiebung 
vorliegt  durch  einen  priesterlichen  Schreiber,  der  den  Stolz,  daß  er 
selbst  die  richtige  Losung  kenne,  hier  nicht  zurückhalten  konnte. 
Zu  dem  Satze  selbst  ist  zu  sagen,  daß  „die  Furcht  des  Herrn"  nichts 
anderes  ist  als  die  seelische  Einstellung  („Gesinnung"),  welche 
wir  oben  als  „von  innen  heraus  handeln"  bezeichneten.  Und  zum 

103 


Ethische      Grundprob    lerne 

Begriff  „Weisheit"  ist  zu  bemerken,  daß  diese  mit  dem  Gehaben 
des  Gerechten  identisch  ist.  Ja,  in  der  Spruchliteratur  tritt  später- 
hin die  „Weisheit"  manchmal  völlig  an  Steile  des  religiösen  „Ge- 
rechtseins und  nach  dem  Gesetze  des  Herrn  Handelns",  (die  „Weis- 
heit" sogar  personifiziert,  vielleicht  unter  griechischem  Einfluß: 
Sprüche  Kap.  9),  so  daß  die  Idee  Gottes  als  Gesetzgebers  und  die 
Idee  des  göttlichen  Gesetzes  dagegen  manchmal  ganz  verschwin- 
det. Die  Wirkung  solchen  Vorgehens  ist  natürlich,  das  Verhältnis 
des  Menschen  zur  Welt  weniger  persönlich  zu  machen  und  so  die 
Idee  des  „Verdiensterwerbens"  noch  mehr  auszuschließen.  Denn 
einer  unpersönlichen  Weisheit  gegenüber  besteht  keinerlei  Ver- 
führung, auf  eine  Erfüllung  ihrer  Regeln  durch  mich  zu  pochen. 
Wenn  es  mir  schlecht  geht,  so  war  ich  eben  dann  nicht  genügend 
weise. 

Die  eigentliche  Lösung  im  Buche  Hiob,  die  als  solche  dort  ge- 
geben wird,  beruht  der  Hauptsache  nach  in  dem  Nachweise,  daß 
Gott  zu  mächtig  ist,  als  daß  der  Mensch  irgendwie  mit  ihm  rechten 
könnte.  Diese  Überzeugung,welche  in  den  grandiosen  Naturschilde- 
rungen gegen  Ende  des  Buches  zum  Ausdruck  kommt,  ist  verbun- 
den mit  dem  sicherenGlauben,  daß  Gott  dem  Menschen  vergilt,  „  dar- 
nach er  verdienet  hat"  und  das  Recht  nicht  beugt  (Kap.  34,  Vers  11, 
12).  Jedoch  erhebt  sich  die  Darstellung  später  nirgends  zu  dem  so- 
eben als  Einschiebung  bezeichneten  Satze,  und  die  „Gesinnungs- 
ethik" wird  höchstens  noch  angedeutet  in  Äußerungen  wie :  (Kap.  34, 
Vers  3 1,32)  „Zu  Gott  muß  man  sagen:...  Hab' ich's  nicht  getroffen, 
so  lehredumich'sbesserusw."In  einem  Worte:  Hiob  wirdzuletzt  doch 
hauptsächlich  durch  die  Macht  Gottes  überwältigt,  der  er  sich  ge- 
zwungen beugt,  ohne  daß  er  den  Kern  seines  Fehlers  vollkommen 
eingesehen  hat.  Wir  sehen,  daß  dieses  gewaltige  Dokument  aus 
der  Entwickelung  der  menschlichen  Sittenlehre,  so  wunderbar  tief 

104 


Ethische      Grundprobleme 

es  die  Probleme  faßt,  noch  nicht  völlig  sich  zu  der  religiösen  Höhe 
der  Psalmen  erhebt. 

Wie  aber  die  hier  angeregten  schwierigen  Probleme  weiterhin 
in  den  Psalmen  gelöst  wurden  und  wie  wir  sie  lösen,  dies  werden 
wir  nunmehr  zu  betrachten  haben.         • 


105 


§  8.  Die  Wurzeln  des  menschlichen  Handelns. 

Die  Lehre  von  dem  „Gesetze  des  Herrn",  das  wir  in  uns  tragen, 
und  das  in  wunderbarer  und  doch  so  selbstverständlicher  Weise 
übereinstimmt  mit  dem  Gesetze,  den  Entwickelungsdrängen,  die 
von  außen  an  uns  herantreten,  gründet  sich  auf  eine  Gruppe  von 
Erkenntnissen  über  den  Menschen  und  das  Leben  überhaupt.  Was 
die  Alten  nur  ahnten  oder  rein  gefühls-  und  erfahrungsmäßig  er- 
kannten, eben  die  Lehre  von  dem  großen  „Gesetz  des  Herrn",  das 
können  wir  heutzutage  nun  auch  verstehen  in  seinem  Grunde  und 
in  seiner  Wirksamkeit.  Um  aber  nun  auch  beurteilen  zu  können, 
inwieweit  die  alte  Lehre  von  dem  Zusammenfallen  des  wahrhaft 
sittlichen  mit  dem  wahrhaft  vorteilhaften  Handeln  hier  sich  be- 
währe, dazu  müssen  wir  noch  in  etwas  weitere  Betrachtungen  ein- 
treten. 

Aus  dem  Bisherigen  schon  hat  sich  gezeigt,  daß  die  jüdische 
Ethik  in  ihrer  höchsten  Vollendung  zu  einer  reinen  Gesinnungs- 
ethik sich  emporentwickelt  hat.  Wir  sollen  dem  Gesetze  des  Herrn 
folgen,  dies  aber  ist  niemand  völlig  bekannt,  vielmehr  ist  eine  Ge- 
samteinstellung, eine  Gesinnung,  nämlich  „die  Furcht  des  Herrn" 
die  letzte  Weisheit,  oder  auch  die  „Lust  zum  Gesetz  des  Herrn", 
wie  der  erste  Psalm  sagt.  Dem  aber,  der  diese  Lust  hat,  dem  wird 
es  auch,  wie  ebendort  gesagt  wird,  Wohlergehen.  Dieser  Zusammen- 
hang nun  war,  wie  wir  soeben  sahen,  schon  im  Altertum  der  Ge- 
genstand von  Kontroversen.  Dieses  Verhältnis  ist  natürlich  von 
selbst  gewährleistet,  wenn  ein  anthropomorpher  Gottesbegriff  zur 

106 


Die  Wurzeln    des   menschlichen    Handelns 

Seite  steht.  Es  ist  klar,  daß  bei  einem  Begriff  Gottes,  wo  dieser  ein 
persönliches  eifriges  Interesse  (wie  ein  gestrenger  Autokrat)  daran 
nimmt,  daß  die  Menschen  seine  spezialisierten  „Gebote"  halten, 
und  der  hauptsächlich  seiner  Autorität  wegen  jedes  Vergehen  gegen 
seine  Gebote  bestraft,  jedes  Halten  seiner  Gebote  belohnt,  das 
sittliche  Handeln  von  selbst  auch  immer  das  vorteilhafteste  ist. 
Aber  sowohl  der  jüdische  Gottesbegriff  als  auch  die  jüdische  Ethik 
standen  in  den  Äußerungen  ihrer  höchsten  Blüte  weit  über  dieser 
sehr  anthropomorphen  Anschauung,  wenn  auch  diese  letztere  im 
Alten  Testament  ihrer  leichteren  Verständhchkeit  halber  bei  weitem 
den  größeren  Raum  beansprucht.  Der  Punkt,  von  dem  aus  die  an- 
thropomorphe  Anschauung  bei  den  denkenderen  Geistern  ins 
Wanken  kam,  und  dem  höheren  Gottesbegriff  sich  zuzuneigen  be- 
gann, ist  sicherlich  der,  daß  der  Mensch  sündigen  kann,  ohne  es 
zu  wissen,  daß  das  Gesetz  nicht  völlig  bekannt  sein  kann.  Mit  dem 
Wanken  des  alten  anthropomorphen  Gottesbegriffes  aber  wird 
auch  die  Begründung  des  Verhältnisses  zwischen  ethischem  und 
vorteilhaftem  Handeln,  die  vorher  so  selbstverständlich  war,  un- 
sicher. Ist  es  wirklich  so,  fragt  die  Kritik,  daß  es  immer  auch  wahr- 
haft vorteilhaft  ist,  wenn  ich  nach  den  Geboten  handle? 

Und  hiermit  ist  nun  leicht  zu  sehen,  von  wo  aus  die  Kritik 
glauben  kann,  günstige  Angriffspunkte  zu  finden,  und  warum  diese 
Angriffspunkte  dennoch  immer  versagen  müssen.  Die  Kritik  näm- 
lich zieht  Fälle  heran,  wo  ein  Mensch  gegen  gewisse  Gebote  han- 
delt, und  dennoch  Erfolg  hat.  Offenbar  haben  wir  hier  noch  den 
alten  Begriff  des  „Gebotes",  wie  es  dem  anthropomorphen  Herr- 
scher-Gott entspricht.  Im  Sinne  von  unserem  allgemeinen  „Gesetze 
des  Herrn"  aber,  welches  sich  niemals  irgendwie  spezialisieren  läßt, 
müssen  wir  so  sagen:  Entspricht  das  erwähnte  „Gebot"  dem  „Ge- 
setze des  Herrn",  dann  ist  es  auch  letztlich  vorteilhaft  nach  ihm 

107 


Die    Wurzeln  des  menschlichen   Handelns 

zu  handeln,  und  schädlich  ihm  entgegenzuhandeln;  entspricht  es 
nicht,  so  ist  es  umgekehrt.  Dabei  muß  natürlich  jeder  einzelne  Fall 
einer  besonderen  Überlegung  unterworfen  werden.  Daß  nun  aber 
tatsächlich  das  Handeln  von  innen  heraus,  wie  wir  sagten,  d.  h. 
das  Befolgen  des  „Gesetzes  des  Herrn"  in  unserem  Sinne,  auch 
wahrhaft  vorteilhaft  ist,  dies  wollen  wir  uns  jetzt  überlegen. 

So  wie  heute  meist  der  Mensch  betrachtet  wird,  geht  sein  Han- 
deln theoretisch  in  derWeise  vorsieh,  daß  er  sich  die  ihm  bekann- 
ten Umstände  überlegt,  und  dann  nach  seinem  Vorteil,  wie  er  ihn 
versteht,  handelt.  Unsere  These  lautet  nun,  daß  in  zwei  sonst  glei- 
chen Fällen  derjenige  Mensch  auch  für  sich  vorteilhafter  handeln 
wird,  der  bei  seiner  Überlegung  das  Motiv  hinzunimmt,  daß  er 
„nach  dem  Gesetze  des  Herrn"  handeln  möchte,  d.  h.  im  Sinne  der 
in  und  um  ihn  festgelegten  Entwickelungslinien,  unter  Ausschlie- 
ßung kleinlicher,  abseits  liegender,  aus  dem  Trubel  des  Tages- 
getriebes stammender  Beweggründe. 

Zunächst  ist  zu  sagen,  daß  es  überaus  schwer  ist,  auf  diesem  Ge- 
biete größtmöglicher  Komplikation  eine  Ausdrucksweise  zu  finden, 
welche  die  wünschenswerte  Klarheit  mit  der  nötigen  Exaktheit  ver- 
bindet. Die  unübersehbare  Vielgestaltigkeit  des  Lebens  und  seiner 
Äußerungen  zwingt  uns,  um  überhaupt  handliche  Begriffe  zu  er- 
halten, und  überhaupt  von  den  Dingen  sprechen  zu  können,  wie 
schon  früher  ausgeführt,  zu  „Durchschnittsbegriffen"  zu  greifen, 
mit  denen  wir  allerdings  dann  eine  hinreichende  Exaktheit  auch 
zu  erreichen  vermögen. 

In  der  Tat  sind  wir  durch  das  materialistische  Zeitalter,  welches 
wir  durchschritten  haben,  und  welches  nichts  anderes  war,  als  die 
jugendliche  Freude  der  Kulturmenschheit  an  dem  wundervollen 
Instrumente  der  exakten  Wissenschaften,  das  sie  in  seiner  unge- 
heuren Bedeutung  zu  erkennen  begann,  dazu  gelangt,  eine  etwas 

108 


Die   Wurzeln    des  menschlichen    Handelns 

allzu  einfache  Vorstellung  uns  von  dem  Wesen  der  Dinge  zu  ma- 
chen. Schon  in  unserem  erkenntnistheoretischen  Exkurs  haben  wir 
auf  diesen  Umstand  hingewiesen,  und  berufen  uns  darauf.  Bereits 
die  einfachsten  Überlegungen  unserer  Wissenschaftslehre  zeigen 
uns,  daß  es  in  der  Differenziertheit  der  Dinge  nach  Richtung  der 
Kleinheit  hin  kein  Ende  gibt,  daß  der  Prozeß  der  Entdeckung  im- 
mer feinerer  Strukturen  mit  immer  neuen,  wunderbaren  Gesetz- 
mäßigkeiten, in  dem  wir  zurzeit  wieder  einen  bedeutenden  Fort- 
schritt zu  machen  im  Begriffe  sind  (Röntgenstrahlen,  Aufbau  der 
Atome  aus  Elektronen  usw.),  ein  immer  fortschreitender  ist.  Die  so 
überaus  bequeme  Vorstellung  von  „den"  Atomen  ist  damit  schon 
gerichtet.  Kein  Atom  kann  ein  letzter  Baustein  sein,  jedes  Atom 
muß  wieder  feinere  enthalten. 

Nehmen  wir  nun  die  Lebewesen  und  speziell  den  Menschen.  Es 
ist  eine  Errungenschaft  der  allerletzten  Zeit,  daß  wir  in  der  Lage 
sind  die  Zeitlänge  geologischer  Perioden  mit  einiger  Genauigkeit 
zu  berechnen  (durch  Atomzerfall  in  den  Gesteinen).  So  hat  man 
gefunden,  daß  seit  der  Kreidezeit  zirka  300  Millionen  Jahre  ver- 
flossen sind.  Diese  Zahl  erscheint  der  Größenordnung  nach  als 
absolutsicher^.  Nun  haben  wir  in  der  Kreide  schon  hochentwickelte 
Wirbeltiere,  welch  ungeheure  Zeiträume  müssen  wir  also  seit  den 
frühesten  Anfängen  des  Lebens  vergangen  denken!  Und  nun  die 
Konsequenz.  In  diesen  Jahrmilliarden  (denn  diese  Größenordnung 
kommt  hier  in  Betracht)  hat  sich  das  Leben  bis  zum  Menschen, 
bis  zu  uns  selbst  heraufentwickelt.  In  ungezählten  Schwierigkeiten 
hat  es  sich  erhalten,  sich  hindurch  gewunden  durch  Milliarden  von 
Möglichkeiten  des  Unterganges,  und  nicht  nur  dies,  sondern  sich 
gleichzeitig  triumphierend  heraufgehoben  zu  einem  Wesen,  das 

1  Siehe  z.  B.  den  Bericht  von  Lawson  in  ,Die  Naturwissenschaften"  V.  Heft 
26,  27.  (1917). 

109 


Die  Wurzeln    des    menschlichen   Handelns 

hoffen  darf,  einst  die  Mutter  Erde,  die  es  hervorgebracht  hat,  in 
noch  weit  höherem  Maße  zu  beherrschen  und  nach  seinen  Bedürf- 
nissen zu  modeln,  als  dies  jetzt  schon  geschieht.  Wir  wissen  nicht 
im  Detail,  wie  es  zugeht,  aber  dies  ist  sicher,  daß  jedes  Wesen  un- 
serer Vorfahrenreihe  Tag  und  Nacht  bloß  durch  sein  Dasein  und 
sein  Leben  nach  den  ihm  innewohnenden  Gesetzen  in  allen  Teilen 
seines  Körpers  ununterbrochen  arbeitete  an  sich  und  an  seinen 
Nachkommen,  und  daß  dies  bei  uns  selbst  ebenso  sich  verhält. 

Wir  stehen  in  der  Physiologie  erst  ganz  am  Rande  eines  großen 
und  wunderbaren  Forschungsgebietes,  das  uns  jetzt  schon  ein 
Ahnen  von  feinsten  Zusammenhängen  erlaubt,  die  in  unserer  Zeit 
vergessen  waren,  früher  aber  einmal  von  überaus  hochdifferen- 
zierten und  feinnervigen  Menschen  intuitiv  gewußt  wurden.  Es  ist 
das  Gebiet  der  sogenannten  Drüsen  im  menschlichen  Körper. 

Diese  Organe  produzieren  irgendwie  feinste  regulierende  Stoffe 
von  wunderbarer  Kraft  undWirkung,  welche  die  ganze  Ökonomie  des 
Gebäudes  unseres  Körpers  beherrschen.  Diese  Drüsen  aber  und  ihre 
Arbeit  hängen  wiederum  in  feinster,  noch  meist  unbekannterweise 
mit  dem  ganzen  Nervensystem  zusammen.  So  haben  wir  zum  ersten 
Male  einen  kleinen  physiologischen  Anhalt  und  Unterbau  für  die 
alte  Erkenntnis  des  innigen  Zusammenhanges  zwischen  meinem 
Geist  und  meinem  Körper.  Jeder  meiner  Gedanken,  jedes  meiner 
Gefühle  bringt  feine  unbekannte  Säfte  in  Bewegung,  die  in  mei- 
nem Körper  ihre  Wirkung  entfalten,  jeder  Gedanke  formt  an  mei- 
nem Körper^  Und  nun  können  wir  uns  überlegen,  welche  Fein- 
heiten im  Laufe  jener  Jahrmilliarden  unsere  Vorfahren  während 
ihres  Lebens  alle  in  sich  und  in  ihre  Nachkommen,  und  damit  zu- 

'  Bezüglich  des  erkenntnistheoretischen  Problems  des  Zusammenhangs  zwischen 
Geist  und  Körper,  das  wir  hier  natürlich  nicht  im  Detail  erörtern  können,  ver- 
weise ich  auf  meine  .Grundlagen  der  Naturphilosophie*,  Leipzig  1913. 

110 


Die    Wurzeln    des    menschlichen   Handelns 

letzt  in  uns  hineingeformt  haben  mögen.  Wie  gänzlich  unausdenk- 
bar und  unausschöpfbar  vielgestaltig  jene  heimlichen  Zusammen- 
hänge unseres  ganzen  Wesens  sind,  welche  die  materialistische 
Epoche  so  leicht  an  jenem  Apparat  von  Kraft  und  tanzenden 
Molekülen  einfachster  Art  vergessen  konnte,  als  welchen  sie  sich 
den  Menschen  dachte.  Natürlich  ist,  wie  wir  schon  sahen,  nach  und 
nach  jeder  Vorgang  auch  am  Menschen  chemisch -physikalisch, 
d.  h.  wissenschaftlich  erklärbar,  aber  die  Zahl  dieser  Vorgänge  ist 
eine  so  ungeheure,  daß  sie  praktisch  fast  als  unendlich  betrachtet 
werden  kann,  sicherlich  aber  unvergleichlich  viel  größer  als  sie 
das  vorige  Jahrhundert  sich  vorstellte.  Die  Erklärung  der  Wirklich- 
keit ist  auch  intensiv,  d.  h.  ins  Feine  hinein  ein  unendlicher  Pro- 
zeß, der  in  seinem  Verlaufe  immer  neue  und  wunderbare  Zusam- 
menhänge offenbart  —  während  der  Materialismus  immer  glaubte, 
mit  seinen  Atomen  oder  Elektronen  oder  was  es  sei  schon  am  Ende 
zu  sein.  Demgemäß  ist  das,  was  wir  bisher  kennen,  doch  immer 
nur  eine  dünne  äußere  Schale,  die  wir  durchdrungen  haben. 

So  ist  es  denn  nicht  wunderbar  mehr,  wenn  wir  behaupten,  daß 
unser  Wesen  in  seinen  tiefsten  Tiefen  das  Gesetz  des  Seins  am 
klarsten  enthält,  daß  jeder  Millimeter  und  jedes  Haar  unseres  Kör- 
pers eine  Resultante  des  Lebensgesetzes  ist,  dem  wir  unterstehend 
So  aber,  wie  ich  bin,  ist  auch  mein  Nebenmensch,  und  in  vielleicht 
etwas  verschieden  hohem  Grade  jedes  Lebewesen  unserer  Umwelt, 
ja  in  gewissem  Sinne  die  ganze  Wirklichkeit.  Dies  ist  der  Boden, 
in  den  meine  Wurzeln  gesenkt  sind,  dies  ist  das  Sein,  in  dem  sich 
mein  Leben  abspielt,  hier  liegen  die  Umstände,  aus  denen  uns 

'  Man  vergleiche  hierzu  die  Theorie  des  Lamarekismus,  die  ohne  Kenntnis  der 
neueren  physiologischen  Entdeckungen  ähnliche  Gedanken  faßte.  Bezüglich  der 
teleologischen  Betrachtungsweise  sei  auf  die  geistvolle  Schrift  P.  N.  Coßmanns 
.Empirische  Teleologie'  verwiesen. 

111 


Die  Wurzeln   des    menschlichen    Handelns 

Vor-  und  Nachteile  erwachsen,  dies  sind  die  Gegebenheiten,  welche 
die  Folgen  meiner  Handlungen  bestimmen. 

Und  nun  betrachten  wir  das  sogenannte  überlegte  Handeln.  Wie 
viele  Umstände  sind  es  denn,  die  ich  bewußt  in  Rechnung  ziehen 
kann,  woher  kommen  mir  denn  die  Gesichtspunkte,  nach  denen 
ich  diese  wenigen  Umstände  auswähle?  Es  ist  unmittelbar  klar,  daß 
die  bewußt  in  Rechnung  gezogenen  Umstände  beim  Handeln 
wenige  sind  im  Vergleich  zu  den  in  Betracht  kommenden  Anzahlen. 
Allerdings  sind  es  meist  die  offenliegendsten  Umstände,  welche  zur 
Begründung  von  Handlungen  herangezogen  werden.  Aber  wer 
kennt  das  Gewicht  all  der  kleineren  Umstände?  Haben  nicht  sie, 
die  wir  vernachlässigen  zu  dürfen  glaubten,  oft  einen  ausschlag- 
gebenden Einfluß?  Hier  nun  springen  die  Fähigkeiten  unseres 
Unbewußten  ein.  Du  liest  in  dem  Gesicht  deines  Nebenmenschen. 
Kannst  du  beschreiben,  was  da  im  einzelnen  vor  sich  ging?  Du 
kannst  es  nicht,  und  dennoch  weißt  du,  was  in  seiner  Seele  sich 
abspielte.  Du  fühlst  und  weißt  ungeheuer  viel  mehr,  als  du  denkend 
beherrschst.  Du  machst  eine  Bewegung  mit  der  Hand.  Dein  Gegen- 
über sieht  eine  ganze  Charakterskizze  deiner  Ansicht  darin.  Aber 
wenn  du  dies  bewußt  hättest  ausklügeln  wollen,  hättest  du  versagt. 
Ebenso,  wenn  du  etwa  über  ein  Seil  gehst. 

Es  sind  die  Künste  deiner  Vorfahren,  die  bei  diesen  Gelegen- 
heiten in  dir  zur  Wirkung  kommen,  Künste,  die  sich  viele  Gene- 
rationen in  heißem  Lebenskampfe  errungen  haben. 

Wir  werden  dieser  unserer  Fähigkeiten,  wie  man  sagt,  nur  phä- 
nomenologisch gewahr,  und  wir  rühren  damit  an  die  Tatsache,  daß 
man  von  beachtenswerter  Seite  in  der  modernen  Philosophie  wieder 
mehr  Gewicht  auf  diese  Dinge  legt,  als  man  vor  einiger  Zeit  leider 
getan  hat.  Es  ist  vor  allem  der  Philosoph  Husserl,  der  hier  zu 
nennen  ist. 

112 


§  9.  Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften 

Handelns. 

In  den  Zusammenhängen  nun,  welche  wir  am  Ende  des  vor- 
stehenden Abschnittes  bemerkt  haben,  liegt  die  Tatsache  begründet, 
welche  zuerst  die  alten  jüdischen  Religionsschöpfer  erkannt  haben, 
daß  das  wahrhaft  gerechte  Handeln  mit  dem  wahrhaft  vorteilhaften 
Handeln  zusammenfällt,  eine  Erkenntnis,  welche  in  immer  neuen 
Wendungen  der  wundervollsten  poetischen  Sprache  sie  nicht  müde 
wurden  zu  besingen. 

Alles  in  deiner  Welt  hängt  auf  eine  ungeheuer  feine  und  meist 
nicht  sofort  durchschaubare  Weise  zusammen.  Du  versuchst  offen- 
bare Tatsachen  zu  leugnen,  zu  übersehen,  eines  momentanen  Vor- 
teils willen.  Dies  wird  im  allgemeinen  sich  als  Sünde  herausstellen 
(die  Nebenumstände  können  sehr  mannigfaltig  sein),  die  Wirklich- 
keit, das  Gesetz  des  Seins  fordert  sein  Recht,  deine  Handlung  wird, 
wenn  sie  ungerecht  war,  zu  dir  zurückkehren  an  irgendeiner,  an 
vielen  Stellen,  sie  hat  dir  Vertrauen  geraubt,  sie  hindert,  daß  sonst 
mögliche  Vorteile  dich  erreichen.  Aber  gehe  geradeaus,  wenn  es 
auch  momentan  einen  gewissen  Nachteil  bringen  mag,  laß  den 
Dingen  ihr  Recht,  das  sie  sich  doch  nehmen,  wenn  sie  stark  genug 
sind,  und  das  sind  sie,  auch  wenn  du  es  ihnen  verweigerst,  gehe 
mit  den  Dingen,  mit  dem  Gesetze,  dem  du  unterstehst,  dem  Gesetze 
Gottes,  und  es  wird  tausendfältig  zu  dir  zurückkehren  im  Guten. 

Aber  die  Zusammenhänge  des  Daseins  wirken  sich  in  noch  viel 
größerer  Feinheit  aus,  wenn  wir  von  den  äußeren  Vorgängen  uns 

113  8 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

zu  den  inneren  wenden.  Wir  erinnern  uns,  was  wir  vorhin  darüber 
sagten,  daß  jeder  Gedanke,  jedes  Gefühl  in  uns  unerkannte  feine 
Säfte  in  Bewegung  setzt,  welche  weithin  in  unserem  Körper  ihre 
regulierenden  Einflüsse  geltend  machen.  Nun  nehmen  wir  an,  wir 
wollten  gerecht  sein  in  unserem  Sinne,  richteten  unser  ganzes  see- 
lisches Verhalten,  unseren  ganzen  seelischen  Zustand  möglichst 
dauernd  darauf  ein,  dem  Gesetze  des  Seins  sein  Recht  zu  geben, 
stellen  uns  darauf  ein,  dem  Gesetze  Gottes,  das  in  und  um  uns 
waltet,  gerecht  zu  werden,  dann  ist  unmittelbar  einzusehen,  wie 
vorteilhaft  dies  für  unser  ganzes  Sein  werden  muß.  Stürme  und 
Leidenschaften,  die  aus  df  m  Alltag  entspringen,  die  kommen  und 
gehen,  und  von  denen  die  Unweisen  sich  hin  und  herwerfen  lassen, 
wie  ein  führerloses  Schiff,  die  haben  keine  Macht  mehr  über  uns  — 
denn  was  wollen  diese  kleinen  Schwankungen  des  Daseins  sagen 
gegenüber  unserem  festen  Willen,  den  großen  Linien  zu  folgen, 
welche  die  Entwickelung  der  Dinge  von  innen  heraus  uns  vor- 
schreibt? Und  unsere  Nebenmenschen,  werden  sie  nicht  aus  unse- 
rem Wesen  herausfühlen,  daß  sie  einen  Menschen  vor  sich  haben, 
der  eine  vorgezeichnete  Marschroute  geht  ohne  sich  hin  und  her- 
wehen zu  lassen?  Sie  werden  die  Konsequenzen  daraus  ziehen  und 
einsehen,  daß  es  vergeblich  sein  wird,  diesen  Menschen  aus  seiner 
Bahn  werfen  zu  wollen,  und  andererseits,  wenn  sie  selbst  einmal 
in  unsicherer  Lage  Halt  brauchen,  bei  ihm  diesen  Halt  zu  gewinnen 
suchen.  Achtung  und  Vertrauen  werden  die  äußeren  Folgen  sein, 
Ausgeglichenheit,  Ruhe  und  Kraft  der  Seele  und  damit  Gesundheit 
die  Folge  im  Innern.  Dies  ist  das  Bild  des  Gerechten,  wie  wir  es  — 
natürlich  in  primitiveren  Formen,  aber  dem  Wesen  nach  ebenso  — 
in  den  Psalmen  geschildert  finden,  und  das  Geschick  seines  Gegen- 
bildes, des  „Sünders"  oder  des  „Narren",  brauchen  wir  darnach 
nicht  mehr  auszumalen. 

114 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

So  handelt  der  Gerechte,  indem  er  sich  vor  allem  innerlich  auf 
Erfüllung  des  „Gesetzes"  einstellt,  indem  er,  wie  wir  sagten,  von 
innen  heraus  handelt.  Dann  wird  ihm  das  übrige  alles  von  selbst 
zufallen.  Nun  kommt  aus  dieser  Einstellung,  bevor  sie  in  ihrer  gan- 
zen Tiefe  erfaßt  ist,  bei  Völkern  und  bei  Einzelnen  leicht  ein  ge- 
wisser Abweg  zustande.  Dieser  Abweg  besteht  in  der  „Spruch- 
weisheit", die  auch  gerade  beim  jüdischen  Volke,  das  alle  diese 
Probleme  wie  kein  zweites  auch  nur  annähernd  durchdacht  und 
durchlebt  hat,  eine  wichtige  Rolle  spielt.  Ich  erinnere  nur  an  die 
Sprüche  Salomonis,  das  Buch  des  Jesus  Sirach,  die  sogenannte 
Weisheit  Salomonis  und  auch  teilweise  den  Cohelet.  Sie  alle  stellen 
noch  hochwertige  religiöse  Literatur,  aber  doch  schon  zweiter  und 
dritter  Güte  dar.  Es  gibt  keinen  Weisheitsspruch,  keine  Lebens- 
regel, die  nicht  in  einigen  Situationen  versagen  und  direkt  zum 
Falschen  führen  würde.  Sicher  geht  nur  derjenige,  der  auf  alle 
solche  Krücken  verzichtet  und  lediglich  seinen  „Willen  zum  Gesetze 
Gottes"  dem  Leben  entgegenträgt.  Nur  das  ist  „Gerechtigkeit" 
in  der  höchsten  Auffassung.  Es  ist  die  alte  Tugend  der  „Frömmig- 
keit" im  innerlichsten  Sinne  verstanden,  da  ja  auch  dieser  Begriff 
im  Laufe  der  Zeit  entwertet  worden  ist,  indem  er  als  Bezeichnung 
gewisser  äußerer  Betätigungen  vielfach  gebraucht  wurde.  Für  den 
Gerechten  in  unserem  Sinne  gibt  es  kein  äußeres  Kennzeichen  in 
in  der  Art  seines  Handelns  in  bestimmten  Fällen.  Nur  die  sehr  in- 
time Kenntnis  des  Charakters  würde  erlauben,  von  einem  anderen 
ein  solches  Urteil  zu  fällen.  Das  ist  auch  nicht  nötig,  darüber  ist 
sich  jeder  nur  selbst  Rechenschaft  schuldig,  muß  er  doch  auch  die 
Folgen  seiner  Handlungen  auf  sich  nehmen. 

Es  ist  hier  vielleicht  der  Platz,  um  zu  bemerken,  wie  falsch  sich 
auf  Grund  unserer  Überlegungen  die  Stellungnahme  eines  Men- 
schen erweist,  welcher  an  einem  oder  mehreren  anderen  Verfeh- 

115  8- 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

lungen  gegen  das  Gesetz  Gottes  rächen  möchte.  Wohl  mag  der 
Staat  die  Erfüllung  seiner  festgelegten  Gesetze  erzwingen,  mag 
der  Erzieher  die  Unachtsamkeit  oder  Böswilligkeit  seines  Zöglings 
rügen,  mag  im  Kampfe  ums  Dasein  der  eine  dem  andern  Wunden 
schlagen,  aber  andere  wegen  Übertretungen  des  allgemeinen  Ge- 
setzes Gottes  strafen  zu  wollen  —  dies  heißt,  völlig  den  Sinn  die- 
ses unaussprechbaren  Gesetzes  verkennen,  dies  heißt,  sich  selbst 
an  die  Stelle  Gottes  setzen,  dies  selbst  also  ist  die  höchste  Sünde 
gegen  Gottes  Gesetz.  Es  gibt  gelegentlich  Menschen,  welche  die 
Worte  der  Bibel  so  verkennen,  daß  sie  glauben  und  davon  sprechen, 
andere  wegen  angeblicher  Verletzung  von  Gottes  Gesetz  bestrafen 
zu  müssen.  Hat  ein  Mensch  oder  ein  Volk  gegen  dieses  Gesetz  sich 
verfehlt,  so  können  wir  getrost  die  Strafe  dafür  dem  Schicksale 
überlassen,  sie  wird  kommen  mit  unfehlbarer  Gesetzmäßigkeit. 
Hat  er  sich  gegen  uns  verfehlt,  indem  er  uns  angriff,  so  wehren 
wir  uns  mit  allen  Mitteln,  bis  er  von  seinem  Vorhaben  absteht. 
Aber  wegen  einer  angeblichen  Verfehlung  gegen  das  Gesetz  Got- 
tes andere  verurteilen  und  strafen  zu  wollen,  dies  zeugt  von  einer 
Täuschung  über  die  Natur  dieses  Gesetzes  und  über  sich  selbst, 
die  mit  Notwendigkeit  früher  oder  später  an  dem  Verurteiler  selbst 
sich  bitter  wird  rächen  müssen. 

Nicht  einzelne  Lebensregeln,  wie  man  sich  in  den  und  den  Fällen 
verhalten  müsse,  um  erfolgreich  zu  sein,  können  uns  zum  wahr- 
haft Guten  und  zum  wahren  Vorteil  führen,  —  nur  eine  Gesamt- 
einstellung unseres  ganzen  Seins,  mit  anderen  Worten,  nur  eine 
Religion  kann  dies  leisten.  Wir  haben  in  unserer  Zeit  der  Reli- 
gionslosigkeit, wo  mit  den  alten  Dogmen  auch  der  in  ihnen  aller- 
dings oft  fast  unauffindbar  verborgene  Diamant  von  den  meisten 
weggeworfen  wurde,  eine  große  Literatur  in  dieser  Richtung. 
Schriften  mit  dem  Titel:  „Wie  werde  ich  erfolgreich",  „Wie  werde 

116 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

ich  energisch",  „Wie  werde  ich  ein  guter  Redner"  usw.,  dann  Bü- 
cher von  Carnegie  und  anderen,  dies  alles  sind  solche  Surrogate, 
die  sicherlich  viel  mehr  verderblich  wirken,  als  sie  nützen,  weil  sie 
ihrem  Adepten  vorreden,  daß  er  alles  aus  ihnen  erlernen  könnte. 
Dann  kommt  er  aber  leicht  in  den  Fall,  daß  er  in  einer  Situation 
bloß  nach  dem  jeweiligen  Rezept  (erfolgreich,  energisch  usw.)  han- 
delt, wesentliche  Umstände  außer  Betracht  läßt  und  elendiglich  für 
seine  Enge  büßen  muß.  Solches  kann  nur  und  allein  die  Gesamt- 
einstellung auf  das  immanente  Gesetz  des  Daseins,  kurz  auf  „Gott" 
vermeiden. 

Nachdem  wir  jetzt  aber  das  eigentliche  Wesen  des  „Gerecht- 
seins" erkannt  haben,  nun  fallen  alle  Einwürfe,  die  gemacht  wur- 
den und  werden  gegen  die  Identität  des  wahrhaft  sittlichen  und 
wahrhaft  vorteilhaften  Handelns  von  selbst  in  sich  zusammen.  Na- 
türlich kann  es  vorkommen,  daß  ein  „Gerechter"  (soweit  mensch- 
licher Unvollkommenheit  es  zu  sein  gelingt)  von  einem  bösen  Ge- 
schick überwältigt  wird.  Aber  dies  hätte  er  sicher  nicht  von  sich  ab- 
gewendet, wenn  er  gegen  das  Gesetz  der  Dinge  gehandelt  hätte. 
Im  Gegenteil.  Und  wenn  es  einem  Ungerechten  gut  geht,  so  ist 
erst  die  Frage:  Woher  weißt  du,  daß  er  ungerecht  ist?  Und  zwei- 
tens, angenommen,  er  wäre  es,  dann  geht  es  ihm  sicher  nicht  gut, 
weil  er  gegen  das  Gesetz  der  Dinge  handelt,  sondern  trotzdem, 
und  zuletzt  werden  die  geheimen  Widerstände  des  Weltganges 
diesem  Widerstreben  gegenüber  so  stark,  daß  der  Fehler  zutage 
kommt,  kommen  muß.  Und  schließlich:  vielleicht  geht  es  ihm  gar 
nicht  wirklich  gut. 

Natürlich  ist  mit  dem  „Gerechtsein"  keine  absolute  Garantie  ge- 
geben gegen  „Unglück";  wenn  eine  Stadt  verbrennt,  leiden  Ge- 
rechte und  Ungerechte  (das  Problem  berührt  I.  Mosis  18).  Aber 
unter  sonst  gleichen  Umständen  wird  der  Gerechte  immer  besser 

117 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

fahren  als  der  Ungerechte,  und  im  Laufe  der  Zeit  wird  sich  die 
schweigende  Hilfe,  die  ihm  die  treibende  Kraft  der  Dinge  leistet, 
immer  deutlicher  zu  seinen  Gunsten  bemerkbar  machen.  So  be- 
lohnt Gott  den  Gerechten  und  bestraft  den  Narren.  Natürlich  gibt 
es  im  Leben  „Sinnlosigkeiten",  welche,  wie  schon  der  Name  sagt, 
gänzlich  unverdient  und  ohne  Zusammenhang  über  einen  Men- 
schen hereinbrechen  können  (Naturereignisse,  wozu  auch  über- 
gesellschaftliche Ereignisse  in  der  Menschheit,  wie  Krieg,  gehören 
usw.),  aber  diese  treffen  Gerechte  wie  Ungerechte,  und  auch  hier 
wird  der  erstere  noch  mehr  Möglichkeiten  der  Rettung  finden, 
als  der  letztere.  Aber  gegen  unsere  These  sagen  diese  Ereignisse 
nichts. 

Derartige  Umstände  aber,  die  nicht  in  unserer  Gewalt  sind,  immer 
mehr  auszuschalten,  dies  ist  eines  der  Hauptziele  der  verschiedenen 
größeren  menschlichen  Gruppen,  der  Völker,  und  zuletzt  der 
Menschheit  selbst.  Auch  dies  ist  ein  auf  ein  Ideal  gerichtetes  Be- 
streben, welches  niemals  restlos  zum  Erfolge  führen  wird,  dessen 
Wirksamkeit  sich  aber  beständig  immer  mehr  ausbreitet  und  da- 
mit die  gewaltsamen  Störungen  unseres  Grundsatzes  verringert. 

Eine  Literatur,  welche  ähnliche  Wege  wandelt  wie  die  vorhin 
genannte  „Erfolgsliteratur",  schließt  sich  an  eine  hauptsächlich  in 
England  und  Amerika  blühende  religiöse  Richtung  an,  deren  ex- 
tremste Form  etwa  die  vielbesprochene  „Christian  science"  der 
Mrs.  Eddy  ist.  Hier  sind  zwar  mehr  religiöse  Momente  vorhanden 
als  bei  der  reinen  „Erfolgsliteratur",  doch  sind  sie  zumeist  unter 
einem  solchen  Wüste  von  Mystik  und  Pseudowissenschaft  verdeckt, 
daß  diese  Bestrebungen  mehr  dahin  wirken  dürften,  den  Blick  für 
die  Wirklichkeit  zu  verdunkeln,  als  ihn  aufzuhellen.  Jedem,  der 
sich  einmal  für  diese  Arten  von  Literatur  interessiert,  kann  es  nicht 
verborgen  bleiben,  welch  außerordentliche  Verbreitung  derselben 

118 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

zukommt,  auch  in  Deutschland.  Es  kommt  den  Lesern  solcher 
Werke  meist  nicht  zum  Bewußtsein,  daß  sie  das  wirklich  Wertvolle, 
was  es  in  diesen  gibt,  viel  besser  und  in  unvergleichlich  viel  edlerer 
und  klassisch  schöner  Form  in  der  altjüdischen  religiösen  Literatur 
vorfinden  könnten,  die  jedem  in  der  Bibel  leicht  zugänglich  ist  — 
wenn  man  sie  nur  richtig  zu  lesen  weiß.  Man  würde  damit  zugleich 
auch  die  betreffenden  Gedanken  direkt  aus  der  Quelle  schöpfen, 
aus  der  sie  doch  letzten  Endes  alle  hervorgegangen  sind.  — 

Als  eine  Bewegung,  welche  auf  ein  intensiveres  Berücksich- 
tigen der  inneren  seelischen  Vorgänge  in  der  Medizin  und  Wissen- 
schaft hinzielt,  sei  hier  noch  die  von  Freud  inaugurierte  genannt. 

Man  könnte  sagen,  daß  es  für  die  Gültigkeit  unseres  Begriffes 
„von  innen  heraus  handeln"  eine  Art  von  physiologischem  Beweise 
gibt.  Es  ist  das  die  Tatsache,  die  sich  in  dem  Worte  Andacht  aus- 
drückt. Es  bezeichnet  dieses  Wort  im  wesentlichen  eine  gewisse 
psychologische  Einstellung,  die  in  verschiedenen  Graden  aufzu- 
treten vermag,  wobei  die  geringeren  Grade  je  nach  Übung  willens- 
mäßig herstellbar  sind.  Das  Ideal  wäre  nach  dem  Gesagten,  ein 
Leben  fortwährender  Andacht,  d.  i.  einer  gewissen  konzentrierten, 
positiven  Einstellung  dem  Leben  gegenüber.  Hier  sind  nun  die 
Menschen  von  Natur  schon  sehr  verschieden.  Es  gibt  einzelne  Indi- 
viduen, welche  in  einer  beinahe  dauernden  Andacht  leben,  zu  die- 
sen gehören  zum  Teil  vielleicht  manche  der  religiösen  Lehrer,  aber 
wohl  mehr  noch  mancher  stete  und  stille  Arbeiter  in  seinem  Be- 
rufe. Andere  wieder  machen  hierin  Schwankungen  durch,  und  als 
Gegenmittel  hierfür  war  von  jeher  eine  Art  willkürlich  herbei- 
geführter Konzentration  des  Innenlebens,  meist  auch  als  „Gebet" 
bezeichnet,  bekannt,  deren  physiologische  Grundbedingungen  und 
Umstände  wir  noch  nicht  kennen.  Dieser  Zustand  kann  sich  bei  ge- 
wissen Individuen  sehr  steigern  bis  zu  hysterischen  Verzückungs- 

•    119 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  und  vorteilhaften  Handelns 

zuständen  bei  manchen  krankhaften,  psychisch  labilen  Personen. 
Der  Zustand  der  Andacht,  der  durchaus  nichts  krankhaftes  ent- 
hält, wird  üblicherweise  hergestellt  in  Verbindung  mit  religiösen 
Gedankengängen.  Doch  ist  dies  keineswegs  nötig.  Rein  physio- 
logisch kann  der  gleiche  Zustand  in  Verbindung  mit  irgendwelchen 
beliebigen  Gedanken  (z.B.  künstlerischen  usw.)  Zustandekommen. 
Jedoch  ist  offenbar  der  „ethische  Nutzen"  besonders  groß,  wenn 
die  Gedanken  sich  dabei  auf  die  allgemeinen  Lebensziele  richten. 
Jedoch  scheinen  auch  in  der  geschichtlichen  Entwickelung  sich 
hierVerschiedenheiten  zu  offenbaren.  So  haben  im  Mittelalter  wohl 
fast  alle  Erwachsenen  mit  wenigen  Ausnahmen  der  Gewohnheit 
des  Gebetes  gehuldigt,  während  die  neuere  Zeit  hier  ein  starkes 
Abflauen  zeigt.  Es  ist  nicht  sicher,  ob  nicht  auch  hierin  wieder 
Änderungen  eintreten  können. 

Sehen  wir  die  Dinge  der  Welt  in  den  Zusammenhängen,  die  wir 
oben  dargelegt  haben,  so  nennen  wir  diese  Art  des  Erlebens  der- 
selben „religiöses  Erleben",  und  es  ist  klar,  daß  unser  ganzes  Da- 
sein bis  zu  den  unscheinbarsten  Kleinigkeiten,  die  unserem  Geiste 
sich  nahen,  in  diesem  Sinne  religiös  erlebt  werden  könnte  und, 
wenn  wir  unseren  wahren  Vorteil  im  Auge  haben  und  wahrhaft 
sittlich  handeln  wollen,  auch  erlebt  werden  sollte.  Und  hier  tritt 
uns  nochmals  ganz  besonders  klar  jene  wundervolle  Harmonie  des 
obigen  Begriffsystems,  des  obigen  Gottesbegriffes  vor  Augen, 
welche  sich  in  der  Übereinstimmung  des  inneren  und  äußeren  gött- 
lichen Prinzips  kennzeichnet,  wie  wir  gesehen  haben.  Dieses  gött- 
liche Prinzip  aber,  das  zuerst  im  alten  Israel  voll  erkannt  wurde, 
ist  es,  das  uns  letzten  Endes  von  innen  und  außen  auf  den  großen 
Linien  der  Entwickelung  leitet,  ihm  dürfen  auch  wir  uns  im  Einzel- 
leben getrost  insofern  anvertrauen,  als  wir  sicher  sein  können,  daß 
die  Lebenskräfte,  die  unsere  Vorfahren  seit  vielen  Jahrmillionen 

120    » 


Die  Übereinstimmung  des  gerechten  and  vorteilhaften  Handelns 

aus  dem  Dunkel  der  Vorzeit  heraufgeführt  haben  durch  Myriaden 
von  ZufälHgkeiten  und  widrige  Umstände  hindurch,  daß  diese  auch 
uns  noch  eine  Spanne  Zeit  weiterführen  werden,  wenn  wir  nur 
selbst  kräftig  in  der  Richtung  der  allgemeinen  Entwickelung  vor- 
wärtsschreiten. Nicht  indische  Hingabe,  Passivität  und  Nirwana- 
sehnsucht lehrt  uns  dieser  letzte  Einblick  in  die  letzten  Ziele  unse- 
res Daseins,  sondern  Aktivität,  schöpferische  Tätigkeit  im  höchsten 
Sinne  des  Wortes,  —  denn  hier  liegt  das  Schwergewicht  im  Han- 
deln, und  indem  wir  den  vorgezeichneten  Entwickelungslinien 
folgend  vorwärtsschreiten,  schaffen  wir  diese  immer  wieder  erst 
selbst  und  immer  wieder  neue  hinzu. 


121 


§  10.  Weitere  Entwickelungen. 

Ich  habe  versucht,  nachzuweisen,  daß  die  Antwort,  die  uns  die 
modernste  Erkenntnistheorie  auf  die  letzten  Fragen  des  Daseins 
gibt,  und  daß  die  Direktiven,  die  wir  durch  sie  für  ein  Leben  unter 
ethischen  Gesetzen  erhalten,  in  großen  Zügen  mit  denjenigen 
übereinstimmen,  die  uns  aus  der  Religion  der  Psalmen  bekannt 
sind.  Das,  was  uns  die  Psalmen  geben,  ist  sicherlich  der  Nieder- 
schlag einer  langen  Entwicklung.  Eine  Reihe  von  hochstehenden 
Einzelindividuen,  Genies  müssen  im  Laufe  der  Zeit  sozusagen 
schichtweise  dieses  wundervolle  ethische  Begriffsystem,  das  in 
seiner  Einfachheit  und  Klarheit  seither  die  Welt  erobert  hat,  ge- 
schaffen haben.  Die  Art,  auf  welche  ihnen  ihre  Entdeckungen  ge- 
langen, war  wohl  keine  andere  als  nüchterne  denkende  Betrach- 
tung des  Daseins,  so  wie  sie  es  in  langen  Jahren  ihres  Lebens  als 
Glieder  eines  politisch  außerordentlich  exponierten,  geistig  über- 
aus regsamen  Volkes  teils  selbst  erlebt  hatten,  teils  bei  anderen 
Völkern  erfahren  haben.  Es  ist  mit  einem  Wort  die  empirische 
Methode,  welche,  wie  dies  am  Anfang  jeder  Wissenschaft  und 
jeden  geistigen  Systems  geschieht,  auch  hier  die  ersten  Schritte 
der  Entwicklung  bis  zu  einer  beträchtlich  hohen  Stufe  geführt 
hat.  Aber,  wenn  wir  nunmehr  den  eigentlichen  Kern  für  die 
Wahrheit  dieser  empirisch  gefundenen  Dinge  erkannt  haben,  wenn 
wir  jetzt  in  der  Lage  sind,  die  ganzen  einschlägigen  Umstände 
vollständig  und  systematisch  zu  überschauen,  dann  erkennen  wir, 
daß  das,  was  damals  gefunden  wurde,  bereits  die  Hauptlinien  des 

122 


Wettere    E    n    t    w    i    c    k    e    l    u    n    g    e    n 

gesamten  Gebäudes  in  wunderbarer  Klarheit  darstellt.  Es  ist  uns 
gelungen,  diese  Linien  als  durchaus  beweisbar  nachzuweisen  und 
in  ihrer  Herkunft  und  Bedeutung  zu  ergründen.  Aber  damit  ist 
noch  nicht  gesagt,  daß  nun  dieses  Gebäude  nicht  auch  noch  einen 
weiteren  Ausbau  finden  könnte. 

Wir  haben  oben  die  Tatsache  gestreift,  daß  die  alte  so  unend- 
lich tiefe  Auffassung  des  Dichters  der  Psalmen  vom  Begriff  des 
Gesetzes  im  weiteren  Verlaufe  der  Entwicklung  zum  mindesten 
in  der  praktischen  Anwendung  äußerst  verflachte  und  jene  aus- 
gezeichnete umfassende  Idee  von  dem  allgemeinen  Gesetz  des 
Herrn  überspringt  in  die  Vorstellung  von  einer  Sammlung  von 
Detailvorschriften  für  die  Art  und  Weise  des  täglichen  Lebens  und 
Verkehrs.  Die  Pendelschwankungen,  denen  die  Vorgänge  der 
Weltgeschichte  im  allgemeinen  ausgesetzt  sind,  machen  sich  auch 
hier  bemerkbar.  Zu  einer  Zeit,  die  dem  Anfang  unserer  Zeitrech- 
nung wohl  nicht  sehr  ferne. lag,  machten  sich  sektiererische  Strö- 
mungen im  jüdischen  Volke  geltend,  welche  diese  äußerliche  Auf- 
fassung des  Gesetzbegriffes  zu  bekämpfen  versuchten.  Offenbar 
waren  es  teilweise  diejenigen  Kreise,  mit  denen  das  Neuauftreten 
des  Christentums  in  Verbindung  stand,  und  wir  finden  in  den 
Schriften  des  Neuen  Testaments  Paulus  in  einem  heftigen  Kampf 
gegen  den  veräußerlichten  Gesetzesbegriff  stehend,  den  er  durch 
eine  bestimmte  seelische  Einstellung,  die  er  als  „Glauben-'  be- 
zeichnet, ersetzen  möchte.  So  schreibt  er  z.  B.  im  Brief  an  die  Römer 
(IV.  16)  nach  längeren  scharfsinnigen  Ausführungen:  „Derhalben 
muß  die  Gerechtigkeit  durch  den  Glauben  kommen."  Damit  ver- 
sucht Paulus  eine  Korrektur  der  Entwicklung  der  jüdischen  Re- 
ligion nach  Richtung  ihrer  ältesten  besten  und  klassischen  An- 
sätze. Es  ist  ganz  klar,  daß  die  ersten  genialen  Schöpfer  (z.  B.  der 
Dichter  der  ersten  ethischen  Psalmen  „David")  ihre  inneren  An- 

123 


Weitere     E    n    t    w    t    c    k    e    l    ii    n    g    e    n 

schauungen  noch  nicht  völlig  in  Worte  zu  kleiden  vermochten, 
bezw.  sie  nicht  so  eindeutig  in  Worte  fassen  konnten,  so  daß  für 
alle  Zeiten  ein  Zweifel,  eine  dem  Sinne  nach  abweichende  religiöse 
Interpretation  nicht  mehr  möglich  gewesen  wäre.  Sicherlich  war  bei 
ihnen  der  Begriff  des  „Gesetzes"  noch  nicht  entfernt  in  jener  ab- 
strakten Weise  vorhanden,  wie  wir  ihn  auf  Grund  moderner  Er- 
kenntnistheorie darzustellen  vermochten,  sicherlich  sprach  schon 
bei  ihnen  die  Vorstellung  von  priesterlichen  Lebens-  und  Kult- 
regeln ganz  wesentlich  bei  diesem  Begriff  mit.  Aber  ich  bin  per- 
sönlich felsenfest  überzeugt,  daß  sie  ebenso  sicher  noch  nicht  der 
Anschauung  waren,  unter  dem  Gesetz  bloß  und  ausschließlich 
Lebens-  und  Kultregeln  zu  verstehen,  wie  das  später  der  Fall 
war,  sondern  daß  sie  auf  eine  natürlich  unklare  und  undifferenzierte 
Weise  eine  starke  Vorstellung  vom  „Gesetz  des  Herrn"  in  jener 
allgemeinen  und  abstrakten  Form  hatten,  wie  ich  sie  als  die  rich- 
tige und  wirklich  begründbare  aufgezeigt  habe.  Der  Leser  wird 
sich  der  Konsequenz  erinnern,  daß  man  am  meisten  nach  dem 
Gesetze  handle,  je  mehr  man  von  innen  heraus  handelt.  Diese 
Regel  beruht  auf  dem  allgemeinen  Gesetzesbegriff,  wie  wir  ihn 
aufstellten,  und  wie  ihn  die  ersten  Schöpfer  der  jüdischen  Ethik 
mit  sicherem  Instinkt  innerlich  verstanden  hatten.  Es  ist  klar,  daß 
die  Reform  des  Paulus  wieder  in  dieser  Richtung  wirkt.  Was  er  als 
Glaube  bezeichnet,  ist  ja  nichts  als  eine  bestimmte  seelische  Ein- 
stellung und  zwar,  wie  wir  mit  Sicherheit  annehmen  dürfen,  gerade 
jene,  welche  zustande  kommt,  wenn  wir  „von  innen  heraus  han- 
deln". Daß  Paulus  dieses  Resultat  von  ganz  anderer  Seite  her  und 
auf  dem  Umweg  über  gewisse  mystische  Vorstellungen  erhält,  tut 
nichts  zur  Sache.  Der  Effekt  ist  jedenfalls  der  beschriebene.  Natür- 
lich ist  auch  Paulus  nicht  in  der  Lage,  seine  intuitiv  oder  phänome- 
nologisch erlebten  Erkenntnisse  irgendwie  erkenntnistheoretisch 

124 


Weitere     E   n    t    w    i    c    k    e    l    u    n   g,  e    n 

oder  psychologisch  zu  begründen.  Er  predigt  sie  eingekleidet  in 
eine  Terminologie,  die  er  selbst  teilweise  erst  geschaffen  haben 
muß,  wenn  sie  auch  größtenteils  schon  gelegentlich  früherer  Dis- 
putationen unter  den  jüdischen  Rabbis  sich  gebildet  haben  mag. 
Dabei  ist  für  die  Praxis  der  Lehre  der  Widerstreit  zwischen  Glaube 
allein  und  Glaube  in  Verbindung  mit  guten  Werken  völlig  irrele- 
vant. Denn  es  handelt  sich  um  „das  Handeln  von  innen  heraus" 
und  dies  bedeutet  eine  untrennbare  Vereinigung  von  beiden.  Es 
kann  also  Glaube  und  richtiges  Handeln  immer  nur  in  der  Ver- 
bindung einen  Sinn  haben.  Wie  man  diese  Regel  in  der  Lehr- 
praxis formuliert,  um  die  Gläubigen  zu  möglichst  gutem  Leben 
anzuhalten,  ist  eine  mehr  praktische  Frage.  Sicherlich  wird  es  sich 
dabei  nicht  umgehen  lassen,  ausführlich  das  Handeln  zu  betonen. 

Nun  wird  der  Religion  des  Alten  Testamentes  häufig  der  Vor- 
wurf gemacht,  daß  in  ihr  Gott  nur  als  zürnender  Rächer  auftrete. 
Dies  ist  zunächst  schon  einmal  objektiv  unrichtig.  Wir  brauchen 
bloß  an  die  Stellen  der  Psalmen  zu  denken,  wo  Gott  auch  als  Ver- 
gebender erscheint,  der  dem  reuigen  Sünder  hilft.  Es  ist  klar,  daß 
dies  auch  sich  so  verhält.  Denn  der  Mensch,  der  eines  falschen 
Schrittes  wegen  Mißerfolg  hatte,  der  aber  dadurch  aufmerksam 
gemacht,  nunmehr  seinen  Willen  auf  den  rechten  Weg  mit  dop- 
peltem Eifer  richtet,  wird,  wenn  sein  Wille  gerecht  ist,  wieder  Er- 
folg haben,  wieder  die  richtige  Einstellung  finden. 

Aber  es  gibt  einen  Begriff  im  Neuen  Testament,  von  dem  im 
Alten  wenig  oder  gar  nicht  die  Rede  ist.  Das  ist  die  „Liebe".  Sehen 
wir  genauer  zu,  so  finden  wir,  daß  auch  hier  ein  Wort  vorliegt  für 
eine  gewisse  seelische  Einstellung.  Und  zwar  ist  dies  Wort  Liebe 
hier  nicht  nur  in  dem  mehr  gewöhnlichen  Sinne  als  Art  einer  Be- 
ziehung zu  Mitmenschen  gemeint,  sondern  in  dem  Sinne  eines 
Gesamtgefühls,  eines  Gesamtverhaltens  dem  Leben  gegenüber. 

125 


Weitere    Entwickeln    n    g    e    n 

Dies  ist,  trotz  aller  Mißverständnisse,  wohl  der  eigentliche  Sinn 
dieses  Wortes.  Und  aus  dieser  Liebe,  aus  dieser  dem  Leben  zuge- 
wendeten Grundstimmung,  da  fließt  dann  alles  wie  von  selbst  — 
auch  die  Erkenntnis  und  Erfüllung  des  Gesetzes.  Daß  sich  dies 
natürhchhauptsächlich  auch  beim  Verkehr  mitden  Nebenmenschen 
auswirken  wird,  ist  selbstverständlich.  Dann  erhält  die  Liebe  in 
gewissen  Fällen  eben  den  spezielleren  Sinn  der  Menschenliebe.  Aber 
in  der  Tat  ist  mit  dem  Worte  „Liebe"  lediglich  ein  neuer  Terminus 
geschaffen,  der  die  Mitarbeit  der  seelischen  Grundeinstellung  her- 
vorheben soll  und  der  vielleicht  den  späteren  Menschen  etwas  ver- 
ständhcherwaraus  der  Zeitstimmung  heraus  als  die  Terminologie 
der  Schöpfer  des  jüdischen  Gesetzesbegriffes,  —  dem  Inhalte  nach 
ist  damit  nichts  gegeben,  was  nicht  im  Alten  Testamente  schon 
vorhanden  wäre,  und  was  sich  dem  tiefer  Denkenden  aus  den  alten 
Schriften  und  Formulierungen  schon  ergeben  muß.  Der  Kern  von 
allem  ist  immer  wieder  jener  allgemeine,  verinnerlichte  Gesetzes- 
begriff, wie  er  den  Schöpfern  der  jüdischen  Ethik  vorschwebte. 
Es  ist  klar,  daß  ein  derartig  abstrakter  und  schwer  darzulegender 
Begriff,  wenn  er  den  ersten  Prägern  auch  noch  so  klar  vor  der 
Seele  steht,  unendlich  schwer  in  Worte  derart  einzufangen  ist,  daß 
ein  Zweifel  darüber  niemals  mehr  entstehen  kann.  Es  ist  ferner 
klar,  daß  es  auf  absehbare  Zeit  fast  unmöglich  ist,  und  noch  mehr 
in  früheren  Zeiten  sein  mußte,  einen  derartig  abstrakten  Begriff 
zum  Allgemeingut  ganzer  Völker  zu  machen.  Immer  konnte  es  nur 
eine  ziemlich  dünne  Schicht  von  Denkenden  sein,  die  sich  zu 
seiner  vollen  Erkenntnis  durchrang;  andererseits  aber  mußte 
jede  Religion,  welche  sich  auf  diesem  Fundamentalbegriff  auf- 
baute, sobald  sie  aus  den  Händen  ihrer  Väter  an  die  Menge  über- 
ging und  zur  Volksreligion  wurde,  eben  deshalb  immer  mehr  jenen 
Mißverständnissen  ausgesetzt  sein  und  entgegengehen,  welche 

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Weitere     E    n    t    w    i    c    k    e    l    u    n-  g    e    n 

aus  der  Unmöglichkeit  diesen  Begriff  den  Massen  klar  zu  machen, 
hervorgehen  mußten.  Daher  aber  auch  waren  von  Zeit  zu  Zeit 
wiederum  jene  Erneuerungsbestrebungen  einiger  Geister  von 
tieferer  religiöser  Erkenntnis  verständlich  und  notwendig,  welche 
versuchten,  dem  alten  Begriff  wieder  in  seinem  eigentlichen  Sinne 
Geltung  zu  verschaffen  und  ihn  der  Verflachung  durch  das  Un- 
verständnis der  Menge  zu  entreißen.  Fast  alle  großen  Religions- 
umwälzungen der  Geschichte  lassen  sich  in  dieserWeise  verstehen. 

Man  könnte  nun  auch  für  die  weitere  Entwickelung  speziell  der 
christlichen  Ethik  und  ihrer  Begriffe  in  gleicher  Weise  den  An- 
schluß an  unsere  Überlegungen  suchen,  wie  wir  es  für  die  alt- 
jüdische Ethik  getan  haben,  und  würde  dabei  manch  klärendes 
Licht  vor  Augen  sehen.  Es  stellt  diese  Entwickelung  eine  unmittel- 
bare Fortsetzung  des  Behandelten  dar,  bestehend  in  eitlem  ver- 
tieften Eingehen  auf  die  Vorgänge  in  der  Seele  des  Individuums 
bei  seiner  Auseinandersetzung  mit  der  Welt,  d.h.  bei  seinem  Han- 
deln, jedoch  immer  nur  in  speziellerer  Ausführung  der  in  der 
jüdischen  Ethik  geschaffenen  allgemeingültigen  und  bereits  alle 
Hauptlinien  umfassenden  Grundlagen.  Eine  derartige  Analyse 
würde  uns  jedoch  hier  zu  weit  führen. 

Zuletzt  aber  muß  das  gesagt  werden,  daß  natürlich  auch  unsere 
Formulierung  „von  innen  heraus  handeln",  nur  Worte  sind  für  et- 
was eigentlich  Unaussprechbares,  die  sofort  preiszugeben  wären 
für  einen  verständlicheren,  eindringlicheren  Ausdruck.  Immer  wie- 
der von  neuem  muß  versucht  werden,  wenn  auch  jede  Formel  nach 
einiger  Zeit  durch  bessere  abgelöst  wird,  das  Unaussprechliche  in 
Worte  zu  fassen,  damit  wir  uns  alle  immer  klarer  und  bewußter 
darüber  werden,  auf  welcher  Linie  wir  unser  Leben  führen  sollen. 
Es  ist  ein  großes  Glück,  daß  sich  der  Sinn  des  Daseins  nicht  völlig 
in  eine  einzige,  aussprechbare  Formel  bringen  läßt,  es  ist  gerade 

127 


Weitere     E    n    t    w    i    c    k    e    l    u    n    g    e    n 

die  immer  bleibende  unausschöpfbare  Vielgestaltigkeit,  die  un- 
übersehbare Fülle  der  Möglichkeiten,  welche  bewirkt,  daß  Worte 
niemals  unserem  Lebenskerne  genug  tun  können  und  welche  uns 
so  vor  der  Öde  starrer  Formeln  bewahrt.  Und  dennoch  ist  es  unsere 
Aufgabe,  muß  es  die  Aufgabe  der  Dichter  und  Denker  sein,  dieses 
Unaussprechliche  immer  wieder  zwar  nicht  auszusprechen,  aber  in 
immer  neuen  Wendungen  zu  beleuchten  und  zu  spiegeln,  um  uns 
immer  fester,  sicherer  und  klarer  in  der  Verfolgung  des  wahren 
Weges  zu  machen. 

Aus  dieser  Erkenntnis  unseres  tiefsten  Lebenszieles  aber  fließen 
dann  alle  anderen  Lebenserkenntnisse  wie  von  selbst.  Sitten,  Ge- 
setze, Staatsverfassungen  und  Wirtschaftsformen  wechseln  mit  den 
Jahren  und  den  Generationen  (sie  sind  daher  auch  mehr  Gegen- 
stände der  Soziologie  als  der  Ethik),  unsere  Stellungnahme  zu 
ihnen  muß  folgen  aus  unserem  tiefsten  und  besten  Erkennen  und 
Fühlen  heraus,  hier  gibt  es  keine  allgemein  gültigen,  von  vorne- 
herein festgelegten  Regeln  und  Maximen.  Erst  durch  den  Kampf 
der  verschiedenen  Meinungen  wird  jeweils  das  Beste  und  Schönste 
sich  herauskämpfen  aus  der  Fülle  des  Möglichen.  Fest  allein  steht 
die  eine  und  einzige  Maxime  für  alle  Zeiten,  alle  Umstände  und 
alles  Lebende:  zu  handeln  nach  dem  Gesetze  Gottes,  das  in  und 
um  uns  waltet  und  aus  dem  alles  andere  von  selbst  fließt.  Auch  die 
Formulierungen  des  Christentums,  die,  zumal  in  den  immer  weite- 
ren Vertiefungen,  denen  es  fortdauernd  unterliegt,  sich  den  Ver- 
hältnissen unserer  Zeit  spezieller  angepaßt  haben,  sind  letztlich 
nur  Ausflüsse  dieses  allgemeinen  Gesetzes,  insoferne  sie  gewisse 
Spezialisierungen  desselben  darstellen,  die  sich  besonders  auf  das 
Verhaltengegen  die  Mitmenschen  beziehen.  Aber  auch  hiefür  gilt, 
was  wir  oben  über  Spezialisierungen  des  allgemeinen  Gesetzes 
überhaupt  gesagt  haben. 

128 


Weitere     Entwickelungen 

In  dem  Willen,  diesem  Gesetze  nachzuleben,  wird  nun  mancher 
die  Frage  aufwerfen:  Kann  ich  denn  aber  nach  dem  Gesetze  Got- 
tes handeln,  habe  ich  diese  Freiheit  des  Willens?  Da  ist  denn  zu 
antworten,  daß  ich  das  ebenso  kann,  wie  ich  irgendeinem  ande- 
ren Gesetze  nachhandeln  kann.  Kann  ich  das  letztere  auch  nicht, 
dann  allerdings  muß  ich  versagen,  denn  dann  bin  ich  krank.  Bin 
ich  aber  nicht  in  dieser  Weise  krank,  dann  kann  ich  auch  nach  der 
Richtschnur  handeln,  welche  ich  als  die  rechte  erkannt  habe.  Aber 
nicht  allein  das.  In  dem  Moment,  wo  ich  etwas  als  richtig  einsehe, 
ist  entweder  je  nach  meiner  Charakterveranlagung  dadurch  bereits 
ein  hinreichender  Anstoß,  hinreichende  Ursache  in  mir  gegeben, 
nach  meiner  Einsicht  zu  h'andeln  oder  nicht.  Ist  mein  Charakter 
so  beschaffen,  daß  die  einmahge  volle  Einsicht  als  ein  hinreichen- 
der Grund  für  meine  weiteren  Handlungen  nicht  genügt,  dann 
muß  ich  mich  als  so  veranlagt  kennen.  Dann  aber  bedarf  es  nur 
der  Tatkraft,  um  in  diesen  Zeiten  der  Einsicht  Maßnahmen  zu  er- 
greifen, um  mich  durch  äußere  Erinnerungsmittel  usw.  auch  in 
den  Zeiten  wo  ich  meiner  weniger  sicher  zu  sein  glaube,  dauernd 
an  das  Eingesehene  zu  erinnern,  solange,  bis  auch  hier  das  Rechte 
zur  Gewohnheit  wird.  Dies  ist  die  Begründung  der  Möglichkeit 
der  Selbsterziehung,  und  man  bemerkt,  daß  man  dabei  über  die 
Freiheit  des  Willens  gar  nichts  weiter  auszusagen  brauchte 

Wir  sind  heutzutage  vielfach  geneigt,  das,  was  die  Alten  als 
„Sünde",  als  Handlungsweise  des  Ungerechten  bezeichneten,  aus 
Krankheit  zu  erklären.  Die  Gegenüberstellung  des  Gerechten  und 
des  Narren  in  der  jüdischen  Ethik  hat  sich  in  den  gebildeten  Krei- 
sen der  Jetztzeit  teilweise  in  die  des  Gesunden  und  des  Kranken 
verschoben.  Der  Kern  dieser  Verschiebung  besteht  in  dem  Versuch 

'  Ich  verweise  wegen  dieses  Problems  auf  mein  bereits  genanntes  Buch  „Die 
Grundlagen  der  Naturphilosophie",  Leipzig  1913. 

129  9 


Weitere     Entwickelungen 

einer  Abwälzung  der  Schuldfrage.  Eben  darum  ist  es  lehrreich,  sich 
immer  wieder  die  objektive  Möglichkeit  der  „Selbsterziehung" 
vor  Augen  zu  halten,  und  sich  zu  erinnern,  daß  diese  wiederum 
letztlich  auf  der  nötigen  Einsicht  und  dem  nötigen  Willen  beruht, 
aus  dieser  Einsicht  die  Folgerungen  zu  ziehen.  Daß  natürlich  jeder 
durch  die  gegebenen  Umstände  bestimmt  wird,  soll  man  bei  der 
Beurteilung  anderer  nicht  aus  den  Augen  verlieren.  Sich  selbst 
gegenüber  aber  ist  es  nicht  gut,  sich  allzuviel  darauf  zu  berufen. 


130 


§11.  Beispiele  aus  dem  Alten  Testament.  ' 

Im  Vorstehenden  habe  ich  gezeigt,  daß  die  Begriffe  über  die 
letzten  Dinge  und  Ziele  des  Seins,  die  wir  uns  auf  Grund  der  mo- 
dernsten Forschungen  über  die  exakten  Wissenschaften  machen 
müssen,  in  ihren  großen  Linien  ihr  genaues  Gegenbild  haben  in 
den  uralten  Begriffsbildungen  der  altjüdischen  Ethik.  Ganz  wun- 
derbar haben  diese  alten  Werke,  die  uns  von  der  Jugendzeit  her 
so  vertraut  sind,  die  uns  aber  später  zeitweise  so  inhaltsleer  ge- 
worden waren,  sich  mit  einem  neuen  reichen,  unausschöpfbaren 
Inhalte  gefüllt  und  so  wieder  Kraft  gewonnen,  uns  auch  in  unserem 
von  klarem  kritischem  Verstände  beherrschten  nüchternen  Dasein 
und  Daseinskampf  wieder  zu  Erkenntnis-  und  Kraftquellen  werden 
zu  können.  Aber  diese  Begriffe  sind  dafür  nicht  undankbar,  nein 
dankbar  geben  sie  das  Licht  wieder  zurück,  das  die  Wissenschaft 
ihnen  von  neuem  in  so  reichem  Maße  gegeben  hat,  und  vergelten 
es,  indem  sie  es  in  Wärme  verwandelt,  wärmespendend  und  lebens- 
vermittelnd zurückstrahlen  lassen  auf  die  scheinbar  so  kalt  rationa- 
listischen Gedankengänge  der  exakten  Wissenschaft.  Unter  ihrer 
Einwirkung  gewinnen  diese  nüchternen  Gedankengruppen  Leben, 
tiefes  lebendiges  Leben,  und  geben  damit  das,  was  von  vielen  bis- 
her so  schmerzlich  an  dem  Leitstern  der  modernen  Zeit,  zu  dem 
die  Wissenschaft  sich  nun  einmal  aufgeschwungen  hat,  vermißt 
werden  mußte.  Die  heilige  Ehe  zwischen  Wissenschaft  und  Reli- 
gion zwischen  Verstand  und  Gemüt,  zwischen  Gehirn  und  Herz 
ist  geschlossen  und  niemand  soll  und  wird  sie  mehr  scheiden. 

131  ,  9* 


Beispiele     aus    dem     Alten    Testament 

Um  dies  aber  dem  Leser  noch  lebendiger  zu  machen,  als  es 
die  angeführten  Gedankengänge  bisher  vielleicht  schon  konn- 
ten, wollen  wir  in  diesem  Paragraphen  noch  kurz  einige  Pro- 
ben der  altjüdisch-ethischen  Literatur,  die  sich  auf  dem  Gottes- 
begriff und  dem  des  Gesetzes  aufbauen,  etwas  mehr  ins  Detail  hin- 
ein in  unserem  Sinne  behandeln  und  zeigen,  wie  sie  in  unseren 
Worten  die  tiefsten  ethischen  Probleme  behandeln  und  in  dem 
gleichen  Sinne  lösen,  der  sich  uns  als  letzte  Konsequenz  der  mo- 
dernen exakten  Wissenschaft  und  Philosophie  offenbart  hat. 

Es  ist  von  hohem  Interesse,  den  Versuch  zu  machen,  sich  die 
Entstehungsart  dieser  hohen  Errungenschaften  des  jüdischen 
Volkes  zu  vergegenwärtigen.  Wie  aus  vielen  Stellen  der  Bibel  her- 
vorgeht, sind  auch  die  Kinder  Israel  bezw.  ihre  Vorfahren  einst- 
mals Anhänger  der  alten  orientahschen  Gestirnreligion  in  irgend- 
einer speziellen  Form  gewesen,  welche  große  Reste  uralter  primi- 
tiver Naturreligion  enthielt.  Eine  Vielzahl  von  Göttern,  welche  teils 
in  Gestalt  von  Naturobjekten,  teils  wohl  auch  in  künstHchen  Bil- 
dern verehrt  worden  sein  werden,  war  vorhanden.  Und  nun  kam 
jener  geistige  Prozeß  klarer,  unbestechlicher,  kritischer  Durch- 
arbeitung dieser  Verhältnisse :  Man  bemerkte,  daß  diese  Götter  nach 
keinerlei  verständlichen  vernünftigen  Grundsätzen  handelten.  Man 
hatte  den  besten,  innigsten  Willen,  durch  peinlichste  Achtung  der 
göttlichen  Vorschriften  alles  möglichst  recht  zu  machen.  Glaubte 
man  einmal  eine  Willensäußerung  eines  Gottes  erkannt  zu  haben, 
so  versagte  er  das  nächstemal.  Also  mußte  es  ein  falscher  Götze 
sein,  und  wurde  abgeschafft.  Man  wandte  sich  zu  anderen,  auch 
diese  versagten^;  und  so  kam  es,  daß  schließlich  ein  schöpferischer 
Geist  die  Erfahrungen  von  Generationen  mag  zusammengefaßt 

*  Für  die  hiebei  hervortretenden  Gedankengänge  siehe  besonders  den  sog. 
Brief  des  Jeremias  im  Buche  Baruch  (in  den  sog.  Apokryphen). 

132 


Beispiele     aus     dem    Alten    Testament 

haben  in  der  Erkenntnis:  Kein  sinnliches  Ding  kann  ein  zuver- 
lässiger Gott  sein.  Nun  mag  daneben  eine  andere  Entwicklung 
analog  wie  im  Ägypten  der  18.  Dynastie  vor  sich  gegangen  sein, 
wo  aus  ähnlichen  Gründen  einige  erleuchtetere  Geister  ihre  reli- 
giösen Bedürfnisse  auf  eine  einzige  Gottheit  (die  Sonne  unter 
Amen-hotep  IV)  konzentrierten.  So  mögen  auch  die  Vorfahren  der 
Juden  zunächst  die  Sonne  als  einzigen  Gott  verehrt  haben  (der 
bekannte  Aronsche  Segen  „Der  Herr  segne  dich  und  behüte  dich 
usw."  läßt  seine  Abkunft  von  einem  alten  Sonnensegen  nicht  ver- 
kennen). Dann  mag  auch  die  Sonne  als  sichtbares  Objekt  als  Gott 
versagt  haben,  und  in  schöner  Synthese  hat  ein  unbekannter  reli- 
giöser Schöpfer  die  Lehre  von  dem  einen  unsichtbaren  Gotte  Israels 
geschaffen.  Auch  dieser  Begriff  machte  Wandlungen  durch,  welche 
aus  der  Tendenz,  sich  vom  ausgesprochenen  Nationalgott  (mit  dem 
die  Götter  anderer  Völker  anfangs  noch  direkt  konkurrieren  konn- 
ten) zum  „Weltgotte"  zu  entwickeln,  entsprangen. 

Parallel  hiermit  ging  die  Entwickelung  der  Ethik.  Ursprünglich 
war  sie  wohl  als  Gehorsam  gegenüber  den  Geboten  einer  despoti- 
schen Gottheit  entstanden.  Dabei  waren  diese  Gebote  wohl  zu- 
nächst lediglich  von  den  Priestern  ausgegebene  Kult-  und  Ver- 
haltungsgesetze. Nach  und  nach,  als  die  Befolgung  derselben  nicht 
vor  Ungemach  schützte,  entstand  die  wichtige  Erkenntnis,  daß  das 
wahre  Gesetz  des  Herrn  nie  ganz  erkannt  werden  könne.  Die  in- 
tuitive Vereinigung  einer  höchsten  Idee  des  göttlichen  Gesetzes 
mit  dem  höchsten  Gottesbegriff  ist  wohl  nur  ganz  wenigen  auf 
kurze  Strecken  gelungen.  Aber  vorhanden  war  sie,  und  es  war  der 
Höhepunkt  der  klassischen  Zeit  jüdischer  Religionsschöpfung  — 
wir  haben  die  unvergänglichen  Denkmale  dafür  in  vielen  Psalmen. 
Darnach  scheint  mit  dem  wieder  zunehmenden  politischen  Miß- 
geschick ein  allmähliches  Wiederherabsteigen   vom  klassischen 

133 


Beispiele     aus     dem     Alten    Testament 

Höhepunkt  stattgefunden  zu  haben.  Der  Begriff  des  Gesetzes  er- 
starrt wieder,  bis  er  zu  demjenigen  wurde,  den  in  wunderbarem 
Konservativismus  das  jüdische  Volk  durch  die  Jahrtausende  im 
wesentHchen  unverändert  hindurchgetragen  hat.  Die  Tiefe  und 
der  Ernst,  mit  der  jenes  Volk  die  ethischen  Probleme  angefaßt  hat, 
geht  vielleicht  am  schönsten  hervor  aus  der  Erzählung  vom  Baum 
der  Erkenntnis  des  Guten  und  Bösen  (2.  Mos.  17).  Daraus,  daß  der 
Dichter  die  ersten  Menschen  alles  aufs  Spiel  setzen  läßt,  um  nur 
das  eine  zu  erfahren :  was  gut  und  böse  sei,  läßt  sich  erkennen,  wie 
über  alles  andere  wichtig  ihm  selbst  dieses  Problem  geworden, 
aber  daß  es  ihm  auch  ein  Problem  geblieben  war. 

Die  Anschauungen,  wie  wir  sie  schließlich  in  reinster  Form  in 
den  Psalmen  des  Königs  David  und  in  den  lehrhaften  Partien  des 
Pentateuchs,  speziell  des  Deuteronomiums,  wiedergegeben  finden, 
sind  nicht  in  gerader  Linie  entstanden,  sondern  auch  diese  haben 
sich  durch  eine  Menge  widerstreitender  Meinungen  hindurchzu- 
ringen gehabt :  Unbeschreiblich  wertvolle  Reste  von  anderen  An- 
schauungen sind  uns  teilweise  im  Kanon  erhalten.  Die  beiden 
hauptsächlichsten  sind :  Das  Buch  Hiob  und  der  Prediger  Salomo- 
nis  (Cohelet).  Wir  wollen  zunächst  das  erste  etwas  betrachten. 

Man  lese  einmal  das  Buch  Hiob  unter  unseren  Gesichtspunkten. 
Der  alte  Hiob  ist  gerecht,  wie  er  glaubt,  er  tut  alles,  was  das  Ge- 
setz, wie  er  es  meint,  verlangt.  Und  dennoch  schlägt  ihn  Gott. 
Dieses  Tun  Gottes  ist  motiviert  durch  die  Aussage,  daß  Gott  „ihn 
versuchen  wollte".  Aber  Hiob  bleibt  lange  getreu.  Erst  als  ihm 
alles  genommen  ist,  und  er  in  tiefsten  körperlichen  und  seelischen 
Qualen  sich  auf  dem  Krankenlager  wälzt,  da  murrt  er  gegen  Gott 
und  fragt:  Warum?  und  verflucht  den  Tag,  da  er  geboren  ward. 
Und  dann  kommen  seine  Freunde,  und  es  hebt  jene  Diskussion 
an,  die  uns  anmutet  wie  die  ewige  Auseinandersetzung  des  Men- 

134 


Beispiele     aus     dem     Alten    Testament 

sehen  mit  dem  Geschick:  „Ich  werde  gestraft,  womit  habe  ich  ge- 
sündigt?" Eine  eigentHche  Lösung  des  Problems  wird  in  der  Schrift 
nicht  gegeben,  jedoch  kommt  immer  wieder  die  Auffassung  zum 
Durchbruch,  daß  Hiob  für  seine  Selbstgerechtigkeit  gestraft  wird, 
und  wenn  wir  natürlich  auch  eine  derartige  Häufung  schwerster, 
unberechenbarer  Unglücksfälle  auf  das  Haupt  eines  Menschen, 
wie  dies  von  Hiob  erzä*hlt  wird,  nicht  in  unserem  Sinne  als  selbst- 
verschuldet ansehen  können,  so  ist  doch  der  eine  Gedanke  nicht 
von  der  Hand  zu  weisen,  daß  die  seelischen  Leiden  —  und  diese 
sind  letztlich  doch  die  schmerzhaftesten  —  durch  eine  geringere 
Selbstgerechtigkeit  nicht  ganz  so  fühlbar  gewesen  wären. 

Es  ist  natürlich  stets  unrichtig,  ja,  wie  wir  wissen,  sinnlos,  wenn 
der  Mensch  dem  Schicksal  gegenüber  irgendein  Recht  zu  haben, 
oder  sich  erwerben  zu  können  glaubt.  Er  kann  immer  nur  sich 
möglichst  nahe  an  das  „Gesetz"  (in  unserem  Sinne)  halten,  so- 
weit er  es  versteht,  und  dann  zusehen,  ob  es  ihm  gelungen  ist, 
das  Schicksal  zu  meistern.  Ist's  ihm  nicht  gelungen,  so  hat  er  ent- 
weder Fehler  gemacht,  oder  das  Schicksal  war  stärker  als  er,  dann 
zeigt  es  ihm  seine  Schwäche.  Und  sein  einziger  Ausweg  kann  nur 
der  sein,  die  Fehler  zu  vermeiden,  seine  Schwäche  zu  stärken, 
Schutzmittel  zu  ersinnen  für  die  ungeschützteStelle,die  das  Schick- 
sal ihm  gezeigt  hat.  Dies  ist  die  wahre  Art,  dem  Gesetze  zu  ge- 
horchen: den  Kampf  mit  dem  Schicksal  unentwegt  aufzunehmen. 
Das  Schicksal  sucht  immer  neue  Blößen  des  Kämpfenden  zu  ent- 
decken, aber  unentwegt  wird  der  Mensch  neue  Schutzmittel  da- 
gegen finden.  Aber  ein  Recht  auf  Schonung,  auf  Nichtbenutzung 
irgendeiner  schwachen  Stelle  durch  das  angreifende  Schicksal 
hat  der  Mensch  nicht—  diese  können,  ja  müssen  sich  Menschen 
untereinander  gelegentlich  gewähren  —  aber  das  Schicksal  duldet 
keine  schwache  Stelle  in  unserem  Panzer,  ob  diese  nun  vom  ein- 

135 


Beispiele     aus     dem     Alten    Testament 

zelnen  Individuum  selbstverschuldet  ist  oder  nicht,  ob  sie  von  einer 
Menschengruppe  oder  der  Menschheit,  dem  Leben  selbstverschul- 
det ist  oder  nicht,  das  macht  keinerlei  Unterschied. 

Im  ganzen  aber  ist  das  Buch  Hiob  im  wesentHcheti  „Theorie", 
d.  h.  es  wird  ein  extremster  Fall  konstruiert  und  in  seine  Konse- 
quenzen durchzudiskutieren  unternommen,  eineMethode,  die  auch 
heute  noch  bei  allen  wissenschaftlichen  Diskussionen  mit  Erfolg 
geübt  wird.  Wir  haben  in  diesem  Werke  einen  schwerwiegenden 
Beweis  für  die  Tiefe  und  den  Ernst,  mit  dem  in  jenen  alten  Zeiten 
die  ethischen  Grundfragen  gerade  auch  nach  der  theoretischen 
Seite  hin  erwogen  wurden.  Diese  Erkenntnis  kann  nur  dazu  dienen, 
unsere  Hochachtung  für  das  Endresultat  dieser  Diskussionen,  das 
uns  in  der  Religion  und  Ethik  der  Psalmen  Davids  entgegentrat, 
zu  erhöhen,  indem  wir  einsehen,  daß  der  Werdeprozeß  dieses  Re- 
sultates keineswegs  ein  sozusagen  rein  instinktiver  Entwicklungs- 
prozeß war,  sondern  daß  wir  in  ihm  in  weitem  Maße  den  Effekt  be- 
wußten Nachdenkens  vor  uns  haben. 

Haben  wir  im  Buche  Hiob  den  theoretischen  Extremfall  einer 
Häufung  sozusagen  sinnloser  Unglücksfälle  auf  das  Haupt  emes 
einzelnen,  und  den  inbrünstigen  Versuch,  auch  diese  theoretisch 
zu  verstehen  und  zu  interpretieren,  so  haben  wir  im  Cohelet  eine 
andere  wichtige  Möglichkeit  aus  der  Diskussion  über  diese  ethische 
Interpretation  der  Menschenschicksale.  Dieses  Werk  negiert  über- 
haupt dasFundamentdieserganzenVersuche,esnegiert  die  ethische 
Einstellung  überhaupt,  indem  es  an  der  Möglichkeit  der  ethi- 
schen Wertung  und  des  ethischen  Verstehens  unserer  Geschicke 
verzweifelt  und  zwar  auf  Grund  des  gleichen  unrecht  verstandenen 
äußerlichen  „Gesetzesbegriffes"  wie  bei  Hiob.  Bei  seinem  Ver- 
fasser ist  die  den  Klassikern  des  Alten  Testamentes  so  natürliche 
ethische  Einstellung  in  einem  solchen  Übermaß  vorhanden,  er 

136 


Beispiele     aus     dem     Alten    Testament 

zeigt  eine  so  ins  Übermaß  gesteigerte  ethische  Sensibilität,  daß  die 
Tatsache  der  Unmöglichkeit  der  vollständigen  und  exakten  Beant- 
wortung der  Frage,  was  Gut  und  Böse  sei,  ihn  veranlaßt,  auf  einen 
Lösungsversuch  überhaupt  zu  verzichten  unter  der  Formulierung, 
daß  alle  Bemühungen  in  dieser  Richtung  „eitel"  seien.  Er  faßt 
seine  Lebenserfahrungen  dahin  zusammen,  daß  man  überhaupt 
nichts  sagen  könne:  er  habe  Gerechte  gesehen,  denen  es  schlecht 
ging,  und  Ungerechte,  denen  es  gut  ging.  Ihm  mangelt  jene  see- 
lische Elastizität,  welche  trotz  solcher  Erfahrung,  die  auch  in  den 
Psalmen  immer  wieder  vorkommen,  das  Vertrauen  auf  die  Wirkung 
des  ethischen  Prinzips  sich  nicht  entreißen  läßt.  Dieses  Vertrauen 
kann  eben,  wie  wir  sahen,  nur  durch  die  Erkenntnis  erhalten  wer- 
den, daß  das  Handeln  nach  dem  Gesetz  nicht  in  der  Befolgung 
irgend  welcher  äußerer  Gesetze  besteht,  sondern  daß  es  eine  innere 
Gesamthaltung  ist,  welche  den  Gerechten  vom  Ungerechten  unter- 
scheidet, und  wo  diese  vorhanden,  dies  läßt  sich  nicht  immer  nach 
äußeren  Umständen  eindeutig  entscheiden.  Es  ist  ein  überstarker 
Individualismus,  ein  Sichanklammern  an  einzelne  Fälle,  die  den 
Verfasser  dann  naturgemäß  zu  jenem  tragischen  Pessimismus  führt. 
Aber  welche  bewundernswerte  Vorurteilslosigkeit  und  welch  ge- 
waltiger, schwerer  Ernst,  welch  reine  menschliche  Tragik  spricht 
aus  diesem  Buche,  dessen  Autor  aus  offenbar  schwerstem  persön- 
lichem Erleben  heraus  mit  einem  unendlichen  ethischen  Willen 
seine  Erfahrungen  zu  deuten  sucht,  wenn  auch  in  unserem  Sinne 
erfolglos.  Und  doch  findet  auch  er  eine  Formel,  die  ihn  das  Leben 
weitertragen  läßt,  wenn  er  auch  darauf  verzichtet  hat,  in  ihm  eine 
Richtung  zu  erkennen.  „So  sah  ich  denn,  daß  nichts  besseres  ist, 
denn  daß  ein  Mensch  fröhlich  sei  in  seiner  Arbeit;  denn  das  ist 
sein  Teil.  Denn  wer  will  ihn  dahinbringen,  daß  er  sehe,  was  nach 
ihm  geschehen  wird?" 

137 


Beispiele     aus     dem    Alten    Testament 

Es  ist  vielleicht  hier  die  Stelle,  folgende  Bemerkung  zu  machen: 
Die  Geschichte  der  Philosophie  in  der  üblichen  Fassung  be- 
ginnt bei  den  jonischen  Philosophen,  Sie  hält  sich  dann  stets,  bis 
zum  Neuplatonismus  in  Griechenland.  Es  ist  im  allgemeinen  nicht 
üblich,  die  altjüdischen  Schriften  dabei  heranzuziehen.  Aus  un- 
seren Überlegungen  im  Verlaufe  dieser  Schrift  ergibt  sich,  daß  dies 
von  Grund  aus  falsch  ist.  W«s  den  einzigartigen  und  ganz  ihr  an- 
gehörigen  Kern  der  griechischen  Philosophie  ausmacht,  das  ist  die 
Entdeckung  der  theoretischen  Wissenschaft,  welche  sich  haupt- 
sächlich in  der  Entdeckung  der  Geometrie  und  der  aristotelischen 
Logik  dokumentiert.  Es  ist  die  Erfindung  der  synthetischen,  aprio- 
rischen Konstruktion,  welche  die  Haupterrungenschaft  der  grie- 
chischen Entdeckungen  ausmacht  und  die  Grundlage  der  moder- 
nen theoretischen  Wissenschaft  bildet.  Den  Juden  dagegen  gelang 
der  tiefste  Einblick  in  die  Mechanik  des  Daseins,  auch  sie  stellten 
eine  Theorie  auf,  die  Theorie  des  richtigen  Handelns  (des  „Ge- 
rechtseins") und  zwar  auf  Grund  tiefgehender  Erkenntnis  des 
Gesamtzusammenhangs  der  Dinge.  War  es  bei  den  Griechen  die 
Philosophie  der  Logik,  welche  sie  begründeten,  so  war  es  bei  den 
Juden  die  Philosophie  der  Wertungen,  Zielstrebigkeiten.  Beide 
Dinge  haben  zwar  zunächst  scheinbar  keinen  unmittelbar  sofort 
auf  der  Hand  liegenden  direkten  Zusammenhang,  doch  wenn  es 
sich  um  die  Geschichte  der  Philosophie  handelt,  ist  eines  so  wich- 
tig wie  das  andere,  und  wie  dennoch  ein  tiefster  Zusammenhang 
zwischen  beiden  besteht,  das  haben  wir  in  dieser  Schrift  zu  zeigen 
versucht.  Es  ist  im  wesentlichen  wohl  der  Umstand,  daß  die  alt- 
jüdische Literatur  durch  ihren  Zusammenhang  mit  der  Religion 
scheinbar  aus  dem  allgemeinen  menschlichen  Entwickelungsgang 
herausgehoben  und  herausgenommen  war,  welcher  bewirkte,  daß 
sie  zwar  einerseits  als  göttlich  verehrt  bei  der  Menge  des  Volkes, 

138 


Beispiele    aas    dem    Alten    Testament 

andererseits  aber  bei  den  wissenschaftlich  Gebildeten  der  heutigen 
Zeit  vielfach  unterschätzt  erscheint.  Eine  rein  wissenschaftliche 
Betrachtungsweise,  wie  wir  sie  hier  versuchten,  wird  erst  erreichen, 
auch  in  der  Geschichte  der  Philosophie  ihr  die  ihr  gebührende 
grundlegende  Stellung  anzuweisen. 
Wenden  wir  uns  zu  den  Psalmen. 

Wohl  das  grandioseste  Dokument  der  im  vorigen  geschilderten 
religiösen  Auffassung  in  der  ganzen  Weltliteratur  ist  der  erste  Psalm. 
Das  Extrakt  dieser  Anschauung  wird  hier  mit  klassischer  Kürze 
in  der  davidischen  Form  und  in  den  wundervollsten  Bildern  zum 
Ausdruck  gebracht.  Es  ist  dieEssenz  von  jahrtausendlangermensch- 
licher  religiöser  Entwickelung,  die  uns  hier  in  einem  wie  aus  Erz 
gegossenen  Denkmal  ältester  Menschenerfahrung  entgegentritt. 
Wenn  wir  versuchen,  diesen  Gesang  auf  Grund  unserer  Darlegung 
etwas  zu  analysieren,  so  können  wir  uns  direkt  der  Sprache  be- 
dienen, die  wir  für  diese  Dinge  gefunden  haben  und  schon  in  den 
vorhergehenden  Paragraphen  mit  der  alten  religiösen  Sprache  der 
Psalmen  verglichen  und  in  Einklang  gebracht  haben. 

Es  sind  im  wesentlichen  vier  Strophen,  je  zu  fünf,  vier,  vier  und 
zwei  Zeilen,in  die  wirden  Gesang  einteilen  können.  Das  Gedicht,  das 
eineZusammenfassung  derganzen  altjüdischen  ethischen  Erkennt- 
nis darstellt,  steht  wohl  deshalb  an  der  Spitze  der  ganzen  Samm- 
lung. Die  erste  Strophe  enthält  sozusagen  die  Definition  des  Ge- 
rechten. Sie  schildert,  in  zwei  Teile  zerfallend,  einerseits  was  der 
Gerechte  nicht  tut  und  dann  was  der  Gerechte  tut. 

„Wohl  dem,  der  nicht  wandelt  im  Rate  der  Gottlosen, 

Noch  tritt  auf  den  Weg  der  Sünder, 

Noch  sitzt,  da  die  Spötter  sitzen." 
Gerecht  also  ist,  heißt  mit  anderen  Worten,  wer  nicht  im  Rate  der 
Gottlosen  wandelt  usw.  Dies  alles  sind  Umschreibungen,  sind 

139 


Beispiele    ans     dem    Alten    Testament 

Ausdrücke  dafür,  daß  der  Gerechte  sein  Handeln  weder  entgegen 
dem  letzten  Ziel  einrichtet,  noch  auch  dasselbe  leichtfertig  und 
unter  Verachtung  dieser  letzten  Dinge  gestaltet.  Wie  er  dagegen  sein 
Handeln  einrichtet,  das  sagt  uns  der  zweite  Teil  der  ersten  Strophe : 
„Sondern  hat  Lust  zum  Gesetz  des  Herrn 
Und  redet  von  seinem  Gesetze  Tag  und  Nacht." 
Nicht  als  Gegner  der  göttlichen  Ziele,  auch  nicht  als  Verächter 
des  Gesetzes  des  Seins  handelt  also  der  Gerechte,  sondern  er  denkt 
unausgesetzt  an  dieses  und  handelt  unausgesetzt  nach  ihm,  aber 
er  handelt  nicht  nur  nach  ihm,  er  tut  dies  auch  „mit  Lust".  Sein 
ganzes  Inneres  ist  erfüllt  von  dem  Willen  und  der  frohen  Zuver- 
sicht, im  Sinne  Gottes  zu  handeln,  im  Sinne  dessen,  was  er 
seinem  Verstehen  gemäß  als  das  Gesetz  des  Daseins  einzusehen 
vermag. 

Und  nun  spricht  der  Psalmist  davon,  daß  dem,  der  in  dieser 
Weise  handelt,  wohl  sei.  Die  zweite  Strophe  enthält  in  einem 
wundervollen  Bild  die  Verheißung,  wodurch  er  belohnt  wird,  mit 
anderen  Worten,  in  welcher  Art  es  ihm  Wohlergehen  werde,  falls 
er  als  Gerechter  handelt: 

„Der  ist  wie  ein  Baum,  gepflanzt  an  den  Wasserbächen, 
Der  seine  Frucht  bringt  zu  seiner  Zeit,  und  seine  Blätter  verwelken 
Und  was  er  macht,  das  gerät  wohl."  [nicht, 

Blühen  und  Gedeihen  also  ist  es,  was  der  Psalmist  dem  Gerechten 
verheißt  und  Gelingen  seiner  Pläne,  Erfolg  seiner  Handlungen. 
Ferner  aber,  und  das  ist  wichtig  für  das  überindividuelle  Wohl- 
ergehen, auch  seine  Blätter  werden  nicht  verwelken,  d.  h.  seine 
Werke  und  sein  Stamm  werden  lebensfähig  und  lebenskräftig-sich 
erhalten. 

Nun  kommt  die  Betrachtung  des  Gegenteils.  Die  dritte  Strophe 
handelt  von  denen,  die  nicht  Gerechte  sind,  die  mit  einem  andern 

140 


Beispiele     aus    dem    Alten    Testament 

Worte,  wie  es  der  Psalmist  sagt,  gottlos  sind,  die  also  nicht  im 
Sinne  der  Lebensziele  oder  im  Sinne  des  Geschehens  überhaupt 
handeln  wollen  oder  können. 

„Aber  so  sind  die  Gottlosen  nicht. 
Sondern  wie  Spreu,  die  der  Wind  verwehet; 
Darum  bleiben  die  Gottlosen  nicht  im  Gericht 
Noch  der  Sünder  in  der  Gemeine  der  Gerechten." 
Es  ist  klar:  diejenigen,  welche  dem  Sinne  des  Geschehens  ent- 
gegenhandeln, müssen  daran  scheitern,  und  wenn  sie  sich  nicht 
belehren  lassen,  daran  brechen.  Wenn  also  sozusagen  eine  letzte 
Probe  gemacht  wird,  so  werden  sie  bei  dieser  nicht  bestehen. 

Die  vierte  und  letzte  Strophe  faßt  noch  einmal  in  zwei  Zeilen 
in  lapidaier  Weise  den  ungeheuren  Gegensatz  zusammen,  der  den 
Kern  dieser  Anschauung  bildet : 

„Der  Herr  aber  kennet  die  Wege  der  Gerechten, 
Aber  der  Gottlosen  Weg  vergehet." 
Es  sei  bemerkt,  daß  statt  der  lutherschen  Übersetzung  „kennet" 
andere  Übersetzer  ein  anderesWort  wählen,  so  schreibt  Landau: 
„liebt",  Zunz  schreibt  „merkt  auf". 

Der  ganze  Gesang  zeigt  die  dargelegte  Anschauungsweise  in 
kürzester,  prägnantester  und  darum  auch  vielleicht  etwas  schroffer 
Weise.  Natürlich  ist  die  Einteilung  der  Menschen  in  Gerechte  und 
Gottlose  nicht  in  dieser  Weise  wirklich  durchführbar,  nicht  jeder 
ist  und  bleibt  dauernd  etwa  der  einen  oder  anderen  Art  zugeteilt 
und  keiner  kann  darauf  pochen.  Was  jedoch  der  Psalmist  eigent- 
lich meint,  das  ist  die  Gesamteinstellung  des  einzelnen  dem  Leben 
gegenüber.  Hat  er  den  Willen,  dem  „Gesetze"  (in  unserem  Sinne) 
zu  folgen,  so  hat  er  die  seelische  Einstellung  des  „Gerechten"  und 
wird  irgendwie  Erfolg  haben  —  im  andern  Falle  nur  schwer.  Voll- 
kommen verfehlt  wäre  es  aber,  auf  Grund  dieser  Anschauung  über 

141 


Beispiele    aus     dem    Alten    Testament 

andre  urteilen  und  aburteilen  zu  wollen.  Ist  es  doch  schon  jedem 
einzelnen  sich  selbst  gegenüber  schwer  genug,  seinem  besten 
Willen  „gerecht"  zu  handeln,  genug  zu  tun,  und  zu  wissen,  was 
„gerecht",  was  „ungerecht"  ist.  Um  so  viel  schwerer  ist  es  daher 
bei  der  Handlung  eines  anderen,  dessen  innere  und  äußere  Um- 
stände man  nie  so  genau  kennen  kann  wie  die  eigenen,  ein  der- 
artiges Urteil  zu  fällen.  Besonders  wichtig  aber  ist  die  Überlegung, 
daß  bei  jeder  Handlung  sämtliche  Umstände  beachtet  werden 
müssen,  wodurch  das  Urteil  bedeutend  erschwert  wird,  ja,  daß  als 
einziges  Kriterium  letztlich  der  gute  Wille  zum  Gesetz  des  Seins 
und  das  Vorhandensein  und  die  volle  Wirksamkeit  der  ganzen 
seelischen  und  geistigen  Begabung  des  einzelnen  in  Frage  kom- 
men kann. 


142 


Anhang. 


Die  im  zweiten  Kapitel  gegebenen  wissenschaftstheoretischen 
Ausführungen  konnten  natürhch  noch  weiter  erkenntnistheoretisch 
unterbaut  werden.  Jedoch  ist  leicht  zu  sehen,  daß  für  die  eigent- 
liche Ethik  das  Gegebene  völlig  genügt.  Die  Ethik  ist  die  Lehre 
vorr  Handeln,  bezieht  sich  also  ausschließlich  auf  unsere  Bezie- 
hungen zu  der  gewohnten  Außenwelt  mit  ihren  vorhandenen  Be- 
dingungen. Diese  ganze,  bereits  näher  differenzierte  Umwelt  liegt 
also  der  Ethik  bereits  zugrunde,  nicht  die  undifferenzierte  Umwelt, 
mit  der  sich  die  Erkenntnistheorie  beschäftigen  muß,  sondern  die 
bereits  in  einem  Zustande  weitgehender  logischer  Verarbeitung  be- 
findliche Umwelt  des  täglichen  Lebens.  Damit  ist  unsere  obige 
These  bewiesen.  Ganz  ebenso  liegt  es,  wenn  wir  den  allgemeinen 
Gottesbegriff  betrachten,  mit  dem  wir  uns  im  Texte  beschäftigten. 
Auch  dieser  Begriff  setzt  zu  seiner  Bildung  bereits  eine  weitgehend 
durcharbeitete  Umwelt  voraus,  bedarf  also  nicht  der  unmittelbaren 
erkenntnistheoretischen  Fundierung,  welche  natüriich  dadurch  zu 
leisten  wäre,  daß  vom  logisch  völlig  Ungeformten  ausgegangen 
würd^Wir  können  diese  erkenntnistheoretische  Grundlegung, 
nachdem  sie  bis  zur  Welt  unseres  Alltagsdaseins  gediehen  ist,  ruhig 
als  geleistet  voraussetzen,  da  uns  hier  der  Raum  mangelt,  sie  im 
einzelnen  auszuführen.  Keinesfalls  kann  die  erkenntnistheoretische 
Grundlage  zu  dem  Gesagten  irgend  etwas  Wesentliches  hinzufügen 
oder  etwas  daran  ändern. 

143 


Anhang 

Der  Vollständigkeit  halber  sei  noch  angefügt,  daß  wir  an  einer 
Stelle  ein  Problem  streiften,  das  in  gewisser  Hinsicht  von  theore- 
tischer Bedeutung  für  unsere  Überlegungen  ist,  das  aber  eineerld- 
gültige  Lösung  noch  nicht  gefunden  hat.  Das  ist  das  auf  Seite  56 
unten  und  57  berührte  Problem  einer  „Entwickelung  des  Weltalls" . 
Auch  hier  wird  sich  auf  methodologischem  Wege  einst  eine  Lösung 
ergeben.  Einstweilen  sind  wir  jedoch  nicht  so  weit. 

Wer  sich  für  Literatur  zu  den  im  zweiten  Kapitel  gegebenen 
wissenschaftstheoretischen  Ausführungen  interessiert,  den  möchte 
ich  vor  allem  auf  meine  „Grundlagen  der  Naturphilosophie,  Leip- 
zig 1913"  verweisen,  für  speziellere  Zwecke  auf  meine  „Grund- 
lagen der  angewandten  Geometrie,  Leipzig  1911".  Zur  Religions- 
philosophie siehe  im  übrigen  die  vorzüglichen  Schriften  von  Kon- 
stantin Ostreich. 


144 


vom  gleichen    verf asser  sind  u.  a.  erschienen: 

Grenzen  und  Ziele 
der   \Vissenscnaft 

Leipzig    1910  /  JoKann   Amtrosius   Barth 

Die  Grundlagen 
der  angew^andten  Geometrie 

Eine  Untersucliung  über  Jen  Zusamitnennang 

ÄW^iecnen   Tn eorie   und   Erfanrung  in 

den   exakten  AÄ^issensdiaften 

Leipzig  1911    /  Akademisclie  Verlagsgesellöchaft  m.  b.  H- 


Die  Grundlagen 
der  Naturpnilosopnie 

Leipzig  1913  /  Verlag  Unesma  G.  m.  b.  H. 

Das  Prinzip 

der  logfiscnenUnatkängigKeit  i: 

der  Mathematik,  zugleich  als 

Einrührung  m  dieÄxiomatik 

München  1915   /  Theodor  Ackermann 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


BL      Dingler,  Hugo 

240       Die  Kultur  der  Juden 

D5