Dingler, Hugo
Die Kultur der Juden
Hugo Ding f er
Die Kultur der Juaen
Eine Ver sonnung
z-wiflclien Religion und ^^l ssenscLaft
Der Neue Geist Verlag / Leipzig
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/diekulturderjudeOOding
Die Kultur der Juden
Eine Versöhnung
zwischen Religion und Wissenschaft
Von
Dr. Hugo Dingler
1919
DER NEUE GEIST. VERLAG -LEIPZIG
06
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung 9
I. Kapitel: Die Geschichte,
§ 1. Die Vorzeit 15
§ 2. Das Altertum 22
§ 3. Das Mittelalter und die Neuzeit 27
IL Kapitel: Der wissenschaftliche Tatbestand.
§ 1. Das Problem 32
§ 2. Die Wissenschaft 37
§ 3. Entwickelung 42
III. Kapitel : Die religiöse Auswertung. Allgemeines.
§ l.Der Gottesbegriff 46
§ 2. Die kausale Seite des Gottesbegriffes 54
§ 3. Die ethische Seite des Gottesbegriffes 58
§ 4. Das Lebensziel .. .. 61
§ 5. Der Lebensdrang 64
rV. Kapitel: Speziellere religiöse Auswertung. Die altjüdische
Ethik.
§ 1. Der Gottesgedanke 70
§ 2. Die Wirksamkeit des Gottesbegriffes 74
§ 3. Ethische Begriffsbildung 78
§ 4. Die Zweiteilung der Handlungen 82
§ 5. Das Gesetz 85
§ 6. Typen menschlicher Ziele 90
§ 7. Ethische Grundprobleme 97
§ 8. Die Wurzeln des menschlichen Handelns 104
§ 9. Die Übereinstimmung des gerechten und vortejjl^aften Handelns 111
§ 10. Weitere Entwickelungen 121
§ 11. Beispiele aus dem Alten Testament 129
Motto: Tolle, lege.
Vorwort.
Dies Büchlein ist zwar im Kriege, fern dem gewohnten
Arbeitsplatz und abgeschnitten von jeder wissen-
schaftlichen Literatur entstanden. Sein Inhalt aber ist das
Resultat einer langen inneren Arbeit von Verstand und
Seele, die seit jeher eine Einheit zu erreichen strebten,
welche durch die vorhandenen Erkenntnisse und die For-
men, unter denen sie zugänglich waren, nicht von selbst
gewährleistet erschien. Bis es sich ergab, daß das Gold
dieser Einheit gerade in den ältesten Gruben tatsächlich
vorhanden und zu finden war, wenn man die Dinge nur
recht bedachte. —
Wenn die Schrift dem einen oder andern, der in glei-
chem innerem Zwiespalt steht und Wissen und Handeln,
wissenschaftliche und ethische Weltanschauung zu einem
vollen Akkord in sich zusammenklingen lassen möchte,
ein wenig Klärung und Förderung bringt, so ist ihr Zweck
völlig erreicht. Der Verfasser grüßt alle Suchenden,
Augsburg, im Sommer 1918. H. D.
Einleitung.
Man hat neuerdings begonnen, der altjüdischen heiligen Lite-
ratur, wie sie uns in dem Kanon der Bibel überliefert ist, ge-
wisse ästhetische Seiten abzugewinnen. Man hat wiederum ver-
sucht, jene unnachahmliche Gewalt der Sprache, die schon Her-
der nicht genug rühmen konnte, ohne Beziehung zum Religiösen,
rein als Volkspoesie oder Weltliteratur auf sich wirken zu lassen.
Und m^m war erstaunt über die immer wieder jugendneue Wirkung,
welche die alten Gesänge z. B. in der Interpretation einer Irene
Triesch auf uns ausübten. Dies aber war fast der einzige Gesichts-
punkt, unter dem für den modernen, ästhetisch gerichteten Men-
schen eine Beschäftigung mit diesen alten Werken möglich er-
schien. Eine Reihe von typographischen Ausgaben, welche das
gewohnte Bild des Bibeldruckes nach Möglichkeit fernhalten soll-
ten, gab dem verständlichen Bedürfnis Ausdruck, diesen Schöp-
fungen einer grauen Vorzeit gegenüber Distanz zu gewinnen,
ihnen nach Möglichkeit vorurteilslos, zum Mindesten aber außer-
halb des von der Kindheit und der Schule her^Dekannten und ge-
wohnten Weges gegenüberzutreten.
In der Tat, denken wir ein wenig nach, so kann es uns nicht
schwer fallen, die Vorgänge in der Seele des modernen Menschen,
die dessen Stellung der Bibel gegenüber bestimmen, zu verstehen.
Das Zentralproblem, das jene Stellung des modernen Gebildeten
zur Bibel bestimmt, ist das Problem seiner Stellung zur Religion.
9
Einleitung
Was ist Religion? Man kann auf diese Frage schwer eine befriedi-
gende Antwort bekommen, und insbesondere ist kaum abzusehen,
wo sie innerhalb des Weltbildes des naturwissenschaftlich gebil-
deten, kritisch denkenden Menschen von heute ihren Platz finden
sollte. Man hat diese Dinge seinerzeit in der Schule gelernt, man
ist manchmal damit übermäßig vielleicht geplagt worden. Dieses
Lernen geschah meist in unmittelbarem Zusammenhang mit der
Bibel, in welcher das ganze gelernte Religionsgebäude verankert
war. Diese Verankerung andererseits schien wiederum den Haupt-
zweck der Bibel auszumachen, sie schien neben einigen ästhetischen
Schönheiten die einzige Art zu sein, die allgemeine Verbreitung
und Verehrung dieses Buches zu erklären. Mit dem Älterwerden
aber überwand der Schüler diese angelernte Religion seiner Jugend-
und Schulzeit mehr oder weniger — mit der ReHgion aber auch
die Bibel. Je nach der einzelnen Individualität waren es schwerere
oder leichtere seelische Kämpfe vielleicht, welche die Ablösung
von dem Glauben der Kindheit, das Eindringen des kritischen,
skeptischen Verstandes in diese umhegten Gebiete der jugendlichen
Seele begleiteten. Vielfach und allzumeist wurde das erlernte Sy-
stem in seinen Grundlagen als ernster Kritik nicht standhaltend er-
kannt, und brach damit zusammen.
Später versuchte doch der eine oder andere sich einen Ersatz
für das Verlorne zu schaffen. Andere Anschauungen waren unter-
dessen an die Stelle der alten getreten. Naturwissenschaft und
Philosophie, beide je nach dem Entwicklungsgange des einzelnen
in verschiedenen Stufen, Teilen, Mischungen und Ausdehnung
traten auf den Plan und lieferten Bausteine zu einem neuen Bau,
der mehr oder weniger einfallsicher konstruiert, mehr oder weniger
ins einzelne ausgeführt war, oder auch nur gleichsam als ein un-
wirkliches Nebelbild der Seele von ferne vorschwebend zum Er-
10
Linleitung
Satz des alten, zusammengebrochenen Baues dienen mußte. Die
alten religiösen Schriften aber waren und blieben damit endgültig
über Bord geworfen und schienen gerichtet.
Es wäre überaus unbillig, dem einzelnen aus solchem Zustande
einen Vorwurf machen zu wollen. Im Gegenteil! Gerade die ern-
sten Geister, die tieferen Seelen sind es, die das Bedürfnis haben,
weiterzudenken und weiterzuforschen, ihren Verstand selbst und
kritisch zu gebrauchen, die selbst zu stehen versuchen, statt sich
auf ererbten Krücken, deren Festigkeit unbekannt ist, nur einen
Schein der Sicherheit des Feststehens zu verschaffen. Und wer
konnte vom einzelnen, der sich nur in einigen wenigen ruhigen
Stunden seines Lebens mit diesen Fragen beschäftigen durfte, ver-
langen, daß er in diesen das leiste, was der vereinten Wissenschaft
und Philosophie nicht oder nur langsam gelingen wollte, nämlich
ein nach beiden Seiten hin befriedigendes Gebäude zustande zu
bringen, in dem Herz und Gehirn, kritischer Verstand und füh-
lende, wollende Seele gleichermaßen ihr Genüge finden konnten?
Man bezeichnete vielfach allein jenes Lehrgebäude, welches man
in der Schule gelernt hatte, als Rehgion und verstand somit dar-
unter im wesentlichen eine Sammlung von Behauptungen, die
durch ihr Alter nicht sicherer in ihrer Begründung geworden waren.
Man rechnete zur Religion alle jene schönen und tiefen alten Sagen
von der Weltschöpfung, vom Sündenfall und der Sintflut usw.
Und wenn man erkannte, daß dies Sagen waren, d. h. ihrem wört-
lichen Sinne nach „nicht wahr", da war für viele Leute die Reli-
gion und damit die Bibel gerichtet und abgetan, und jene wunder-
vollen und unersetzlichen Geistesfrüchte des alten Israel erschienen
als überwundene und kindische Anschauungen, welche durch die
modernen Resultate der Wissenschaft längst überholt und als falsch
und abergläubisch nachgewiesen seien. So begannen viele das,
11
Einleitung
was vorher bei ihnen Religion in Anführungszeichen gewesen war,
nun durch eine ebensolche Wissenschaft zu ersetzen.
Die Wissenschaft ist nicht so leicht zu verderben, und es waren
wichtige Erkenntnisse, die auf diese Weise Gemeingut der gebil-
deten, ja weiter Kreise des Volkes wurden. Die so verbreiteten
Kenntnisse bieten immerhin ein gewisses Fundament, auf dem
weitergebaut werden kann. Aber sie selbst genügen noch nicht.
Während unter der Führung der Religion im alten Sinne der ein-
zelne sich sorgsam eingeordnet sah in ein Gewebe von Bezie-
hungen, welche ihn mit der Welt, vor allem mit seinen Mitmen-
schen verbanden, sich eingesponnen fand in ein Netz von Lehren,
welche ihm das Schwierigste und Verwickeltste des Lebens, die
Art seines Handelns und Denkens gegen seine Mitmenschen und
gegen sich selbst anzuraten und darzustellen hatten, war er nach
seinem Übergang zur Wissenschaft in einer gänzlich anderen Lage.
Zwar versuchten viele sich in dieser Hinsicht neue Direktiven
aus einer besonderen Wissenschaft, der „Ethik" oder „Moral" zu
entnehmen, jedoch war eine überzeugende und zwingende Begrün-
dung dieser Wissenschaft nicht einwandfrei zu erreichen — und
ohne eine solche hing sie völlig in der Luft; eine Begründung
aber konnte sie nur aus einer ganz allgemeinen „Weltanschauung"
heraus gewinnen, die selbst natürlich nichts anderes als Religion
bedeutet, aber aus jenen Erkenntnissen noch nicht entnommen
werden konnte. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, welche
Allgemeingut geworden sind, genügten hierfür nicht. In der Tat,
es wurde ein allgemeiner Wissensbesitz der Gebildeten, daß der
Mensch nicht geschaffen im eigentlichen Sinne sei, sondern als
letzter und höchster Sproß der Tierwelt sich entwickelt habe, daß
alles genau nach wissenschaftlichen Gesetzen und dem Kausalitäts-
prinzipe verlaufe und es außerhalb dieser Gesetze keine Wunder
12
Ein l e i t u n g
gebe. Dies alles ist sehr wichtig und grundlegend, aber wie konnte
hieraus der Mensch entnehmen, wie er gegen seine Mitmenschen
oder sich selbst handeln oder denken solle, wie er sich die letzten
Ziele zu denken habe? Viele versuchten zwar durch weitgehende
Schlüsse und Hypothesen sich auch hier mehr oder weniger luftige
Gebäude zu errichten, welche diese Fragen beantworten sollten.
Die mannigfachen und oft seltsamen Gebilde, die dabei zutage
traten, waren zwar als die ersten Versuche, aus den wissenschaft-
lichen Erkenntnissen unserer Zeit heraus Stellung zu nehmen zu
den ethischen Grundfragen des Lebens, als Versuche selbständig
und frei von den Fesseln der Überlieferung dem Leben ins Gesicht
zu sehen und ihm seine letzten und tiefsten Geheimnisse abzu-
lauschen und abzudringen, verehrungswert und beachtungswürdig,
aber eine wirkliche Klärung wollte nicht zustande kommen.
Und nun das Merkwürdige: der Stein, den die Bauleute verwor-
fen haben, er soll zum Eckstein werden. Die als völUg überholt,
als kindUch angesehenen Schriften der alten jüdischen Denker,
jene Anschauungen, die uns manche auch noch aus dem anderen
Grunde, daß sie artfremd seien, und daher in unsere Schulen nicht
paßten, verekeln wollen, diese enthalten bereits die völlige Er-
füllung der im Vorstehenden ausgesprochenen Wünsche, die volle
Lösung der dort gestellten Fragen. Wenn wir mit dem ganzen Rüst-
zeug der modernen Wissenschaft und Philosophie, mit aller Kritik
und Skepsis an sie herantreten und sie durchforschen, dann wer-
den wir mit wachsendem Erstaunen und Ehrfurcht gewahr, daß
jene alten Denker ohne eine Wissenschaft, ohne eine Philosophie
unter den Füßen zu haben, ohne alle geistige Rüstung dem all-
gewaltigen Leben gegenübergestellt, das Rechte, das allein Rechte
erschaut und es in der wundervollsten Sprache zum Ausdruck ge-
bracht haben. Nicht „Moses oder Darwin" heißt es mehr, wie der
13
Einleitung
frübere Züricher Botaniker Dodel-Port seine Arbeitervorträge seiner-
zeit überschrieben hat, sondern „Moses und Darwin" können wir
mit jedem Grade wissenschaftlicher Sicherheit nun als die Signatur
dessen aussprechen, was wir über die wichtigsten Fragen des Men-
schenlebens auszusagen haben.
Davon wollen wir uns im folgenden überzeugen.
14
I. Kapitel.
Die Geschichte.
§ 1 . Die Vorzeit.
Es gab in den Zeiten vor der Entwickelung der Kulturen, mit
denen wir unmittelbar zusammenhängen, eine Kultur und eine
Zeit, wo der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, wie
er in unserer Zeit vielfach herrscht, nicht vorhanden war. Die Ent-
deckungen aus dem Ende des 18. und dem 19. Jahrhundert über
die Keilschrift und die Hieroglyphen haben uns einen Einblick in
uralte Kulturen eröffnet, welcher sich Jahr für Jahr verschärft und
immer feinere und wichtigere Details erkennen läßt. Insbesondere
die Untersuchungen über die astronomischen Forschungen jener
alten Völker im Lande des Euphrat und Tigris, in Persien und
Kleinasien, sowie über ihre im engsten Zusammenhang damit
stehenden religiösen Vorstellungen haben unter den Händen von
Forschern wie Hugo Winkler, H. Hilprecht, Eduard Meyer, Fritz
Hommel und vielen anderen uns nach und nach sehr wertvolle
Aufschlüsse über das Denken dieser Völker gegeben. Wir wollen
das für uns Wesentliche hier kurz zu skizzieren versuchen.
Zunächst ist festzustellen, daß die ganzen Quellen durchaus den
Eindruck erwecken, daß wir hier eine Kultur vor uns haben, wel-
che eine außerordentliche Einheitlichkeit in allen ihren Äußerungen
aufweist. Es dürfte wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß diese
15
DieVorzeit
Kultur in ihren geistigen Äußerungen fast durchgehend auf uralten
astronomischen Beobachtungen beruht. Die Götter der altbabylo-
nischen Götterlehre stellen sich im wesentlichen als Gestirngott-
heiten dar, unter denen naturgemäß Sonne, Mond und Venus die
Hauptstellungen einnehmen. Es läßt sich wohl kaum anders den-
ken, als daß die späteren recht komplizierten Mythen und Sagen
hervorgegangen sind aus einer primitiven vorzeitlichen Sonnen-
und Gestirnverehrung. Es ist ja unmittelbar klar, welch gewaltigen
Eindruck das Sonnengestirn insbesondere in jenen Breiten auf die
primitiven Völker gemacht haben muß. Die auf der Hand liegende
Abhängigkeit der Tag- und Nachteinteilung von der Sonne sowie
deren einerseits lebenspendende, andererseits verdorrende und
tötende Kraft müssen Veranlassung gegeben haben, zu ihr als der
mächtigsten Gottheit emporzublicken, welche für die hauptsäch-
lichsten Umstände des damaligen einfachen und primitiven Lebens
die wirkende Ursache sein mußte. Man kann nachfühlen, wie jene
noch einfacheren Menschen, welche die ersten Grundlagen dieser
Kultur legten, an die Allmacht dieses Prinzips zu glauben began-
nen, und wie sie versuchten, durch Gebete und Opfer seine Gunst
für sich zu gewinnen.
Weiterhin mögen fortgesetzte astronomische Beobachtungen zu
erkennen gegeben haben, wie scheinbar alle Bewegungen der Ge-
stirne irgendwie mit der Bewegung der Sonne zusammenhängen.
So wurde diese zur Herrscherin über die Erscheinungen des Him-
melsgewölbes, und die übrigen auffallenden Gestirne, wie insbe-
sondere der Mond, die ja auch überirdischer und unerkennbarer
Natur waren, wurden zu anderen, kleineren Göttern neben ihr. Es
ergab sich von selbst, daß die Priester, welche die Verehrung des
Volkes für diese Götter leiteten, zugleich sich auch mit diesen
Göttern selbst mit allem Ernst und aller Hingabe beschäftigten, und
16
DieVorzeit
daß sie so auch die astronomische Erforschung des gestirnten
Himmels mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln betrieben.
Wir wissen aus der Geschichte der Astronomie, daß die Babylonier
schon ziemlich frühe in derLage waren, Finsternisse und sonstige
auffallende Himmelserscheinungen mit einiger Genauigkeit voraus-
zuberechnen. Derartige Berechnungen sind nur möglich auf Grund
einer durch sehr lange Zeiträume fortgesetzten messenden Be-
obachtung der Vorgänge am Himmel, die wir also schon sehr
frühe als in ständiger Ausübung begriffen voraussetzen dürfen.
Wir können uns etwa denken, daß schon ca. um 4000 v. Chr. an
gewissen heiligen Stätten Priesteransiedelungen vorhanden waren,
welche sich vielleicht um einen Tempel als Zentralheiligtum grup-
pierten, und in denen fast Tag für Tag messende Beobachtungen
des Sternenhimmels vorgenommen wurden und daß diese Mes-
sungen gewissermaßen zu den heiligen Handlungen der Priester
selbst gehörten. Auf diese Weise entstanden keilschriftlich auf Ton-
zylinder oder Tontafeln festgehaltene Beobachtungsreihen, aus
deren genauem Studium und auf deren genauer Durchrechnung
die späteren Voraussagungen usw. sich ermöglichen ließen. Wir
haben aus späterer Zeit eine ganze Menge solcher Reihen in Keil-
schrift.
Was uns dabei interessiert, ist der nicht nur innige, sondern bei-
nahe absoluteZusammenhang, der hier zwischen Wissenschaft
und Religion besteht. Die wissenschaftliche Beobachtung geschieht
durch den Priester und ist gleichzeitig heilige Handlung. Umge-
kehrt werden die Resultate dieser Beobachtungen sofort in ihren
Konsequenzen für das religiöse und ethische Leben ausgenützt.
So ergibt sich jene vollständige Durchdringung des ganzen Lebens
mit diesen Erkenntnissen über die Götterwelt des Sternenhimmels,
die sich in so vielem bis auf unsere Tage erhalten hat. Ich erinnere
17 2
DieVorzeit
nur an die sieben Tage der Woche, welche den sieben Planeten
heihg sind und nach ihnen benannt werden, an die sieben Farben
des Regenbogens, an die Einteilung des Jahres in Monate, an die
Einteilung der Eklyptik in die 12 Tierkreiszeichen, an das alt-
babylonische Zahlensystem, aufgebaut auf der Grundzahl 60, die
noch heute in einer Unzahl von Beziehungen aus der grauen Vor-
zeit zu uns herüber wirkt (man denke nur an die Einteilung des
Kreises in 360 Grad, an die Einteilung der Uhr in 12 Stunden usw.,
an die alten Maßeinheiten: das Dutzend, das Schock = 60, das
Groß = 144 = 12x12, die 12 Zoll des alten Fußmaßes und un-
gezählte andere Beispiele).
Es ist zu beachten, daß außer dieser Astronomie an eigentlicher
Wissenschaft so gut wie nichts existierte, daß also tatsächlich hier
wissenschaftliche Organisation und religiöse Organisation voll-
ständig sich deckten — nicht nur äußerlich, sondern bis in ihre
letzten Auswirkungen hinein. Denken wir uns ein wenig in das
Weltbild eines jener alten Schamaschpriester etwa um 1500 v. Chr.
hinein, so finden wir ein solches von einer wirklich ungeheuren
Größe und EinheitHchkeit, so unrichtig es auch nach unseren Vor-
stellungen sein mag. Alles, die ganze ihm zugängliche Welt, näm-
lich der Himmel, sein Land, seine staatliche Organisation, sein
eigenes Leben sind geordnet und geregelt nach dem Vorbilde der
ewigen Götter. Diese selbst offenbaren bei näherer Erforschung
immer tiefere und großzügigere Harmonie. Die Erkenntnisse über
die Götter erfüllen das irdische Leben bis in seine kleinsten Einzel-
heiten. Man beachte, und dies ist ein äußerst wichtiger Punkt, diese
Vorstellung ist weit erhaben über jenem primitiven Fetischismus,
wo wahllos irgendeine besondere Lebenserscheinung, die sich dem
Menschen angenehm oder unangenehm aufdrängt, mit dem nächst
besten äußerlichen Vorgang auf ganz willkürliche Weise in eine
18
Die\/orzeit
Kausalbeziehung gesetzt wird. Hier ist diese absolute Willkür im
einzelnen bereits ersetzt durch ein großes einheitliches System,
wo als logisches Hauptmoment die zahlenmäßige Analogie auf-
tritt, wo gewissermaßen die Götter das irdische Dasein leiten, in-
dem letzteres sich in einem möglichst scharfen, zahlenmäßigen
Abbild zu den Vorgängen am Himmel abspielt. Natürlich ist auch
dies noch nicht jene wissenschaftliche Kausalität, wie wir sie heut-
zutage bei derartigen Zusammenhängen verlangen, es ist keines-
wegs die Bewegung eines Planeten, die „wissenschaftliche Ur-
sache" in unserem Sinne von irgendeinem Vorgang, den der baby-
lonische Priester dazu in Analogie setzt, aber es leuchtet unmittel-
bar ein, daß dieses Weltbild des babylonischen Priesters sozusagen
eine Zwischenstufe, eine notwendige Entwicklungsstufe darstellt
zwischen jenem primitiven fetischistischen Kausalitätsbedürfnis des
Wilden und unserer strengen wissenschaftlichen Kausalität. Mit
letzterer hat sie insbesondere bereits die systematische Allgemein-
heit gemein, welche dem ganzen Weltbilde den Stempel einheit-
licher Systematik aufprägt.
Die so skizzierte Geisteskultur stellt den Höhepunkt der ganzen
Entwickelung der alten Weltkultur dar. Dieser Höhepunkt wurde,
wie es scheint, in dieser Form schon etwa zur Zeit des Chammu-
rabi um 2000 v. Chr. im Zweistromlande erreicht. Wenden wir uns
zu den sonstigen zu dieser Zeit wichtigen Kulturvölkern der alten
Welt, so kommt hier, nach dem, was wir wissen, hauptsächlich
noch Ägypten in Betracht. Hier war jedoch die Entwickelung eine
bei weitem nicht so durchgearbeitete. Wir haben in der ägyptischen
Götterlehre zwar auch einen ursprünglichen Gestirndienst vor uns,
der aus der gleichen Quelle stammt wie der babylonische, jedoch
war dieser bei weitem nicht derart systematisiert, wie der babylo-
nische, und vor allem fehlte jene Durchdringung der Umstände des
19 2"
DieVorzeit
täglichen Lebens mit den zalilenmäßigen Analogien zu den Him-
melsvorgängen, wie wir sie bei den Babyloniern getroffen haben.
Es herrscht in der allgemeinen ägyptischen Religion wesentlich
weniger systematische Durcharbeitung, vielmehr scheint es, daß
die sehr weit getriebenen astronomischen Untersuchungen der
alten Ägypter im wesentlichen eine Geheimwissenschaft gewisser
Kreise der Priester geblieben sind, und nicht so sehr in die allge-
meine Lebensführung hineingearbeitet wurden.
Die Geschichte der Mathematik, welche ja nichts anderes ist, als
die Geschichte des Anfanges exakter logischer Wissenschaft über-
haupt, zeigt uns nun noch eine Reihe interessanter Umstände,
welche wir hier noch kurz anführen wollen. Wir haben in Baby-
lonien eine sehr weitgehende Entwickelung des Rechnens auf
Grund eines sehr hochstehenden Zahlensystems. Die Babylonier
verstanden, wie uns eine Reihe von Tontafeln lehrt, mit sehr
großen ganzen Zahlen und ebenso mit gewissen Brüchen bereits
um diese Zeit gut zu rechnen. Eine Reihe von Umständen läßt
darauf schließen, daß sie bei diesen Zahlenrechnungen verschiedene
mystische Beziehungen auffanden und sie zu ihren religiösen und
Götter-Vorstellungen in Beziehung setzten. Die Ägypter waren
hingegen, wie uns der Papyrus Rhind aus der 18. Dynastie (ca.
1800 V. Chr.) im Britischen Museum lehrt, bereits in^ der Lösung
praktischer geometrischer und arithmetischer Aufgaben weit vor-
geschritten. Offenbar waren sie mehr auf praktische Zwecke in
ihrem Sinnen gerichtet als die Babylonier, hatten nicht so sehr das
Bedürfnis, ihre Erkenntnisse zu einer allgemeinen, umfassenden
Weltanschauung zu verwerten und auszubauen. Es ist interessant,
daß diese mehr praktische Neigung der Ägypter sich bis zum Ende
ihrer spezifischen Geisteskultur erhalten hat, sehen wir doch, daß
die Bücher des berühmten Mathematikers und Physikers Hero von
20
DieVorzeit
Alexandria (ca. 100 n. Chr.) noch in genau der gleichen auf das
rein Praktische gerichteten Darstellungsweise geschrieben sind,
wie das 2000 Jahre ältere Rechenbuch des Papyrus Rhind. Auch
die Inder haben, soweit sie schon in jener Zeit in Betracht kommen,
noch nicht diese Durchdringung des ganzen Daseins mit der glei-
chen Weltanschauung wie die Völker Babyloniens, und was die
übrigen Mittelmeervölker betrifft, so waren sie, hinsichtlich der
wissenschaftlichen und sozusagen philosophischen Kultur, nach
allem, was wir wissen, damals im wesentlichen auf jene wenigen
Ausläufer angewiesen, die von der großen Kulturzentrale in Baby-
lon oder aus Ägypten zu ihnen herüber drangen.
21
§ 2. Das Altertum.
Dies war der geistige Boden, in dem die großen kulturellen Fort-
schritte wurzelten, welche einige der Völker, die am Ufer des öst-
lichen Mittelmeerbeckens wohnten, etwa im letzten Jahrtausend
V. Chr. hervorbringen sollten. Sie alle wurzeln in ihrem geistigen
und seelischen Leben zunächst in jener uralten Kultur, welche sich
seit mehreren Jahrtausenden vorher im Zweistromlande entwickelt
hatte. Ihre großen Leistungen bestehen im wesentlichen in genialen
Weiterbildungen gewisser Seiten jener älteren Kultur.
So läßt sich, wie neuere Forschungen (von F. Boll, Bezold u. a.)
immer deutlicher erkennen lassen, die ganze griechische Ent-
wickelung nur verstehen auf dem Boden der altbabylonischen
Kultur. Die Hauptleistung, welche die Griechen in dem genannten
Zeiträume für die allgemeine geistige Entwickelung der Mensch-
heit vollbrachten, war die Erfindung dessen, was wir heute als
„exakte Wissenschaft" bezeichnen. Wir haben gesehen, wie die
alten Babylonier mit Hilfe von Zahlenmystik und logischer Ana»
logie ihre ganze Welt in einem einzigen großen Gedankengebäude
zu umfassen bestrebt waren — den Griechen erst jedoch gelanges,
aus jenem mehr unbewußten Drange die einfachen logischen Ele-
mentargesetze herauszulösen, und an Stelle der mystischen Ana-
logie die wesentlich exakteren Begriffe des logischen Beweises und
einer wissenschaftlichen Kausalität zu setzen. Mit diesen Hilfs-
mitteln waren sie dann in der Lage, aus den hauptsächlich für
praktischen und astronomischen Gebrauch zusammengetragenen
22
Das Altertum
geometrischen Kenntnissen ihrer Lehrer nach und nach jenen
wundervollen Kristall der reinen Geometrie, des exakten geome-
trischen Systems aufzubauen, wie wir es in dem bekannten Buche
des Euklid (ca. 300 v. Chr.) vor uns haben. Sie erfanden, um es
mit einem Wort zu sagen, die Methode, exakte Wissenschaft auf-
zustellen, sie erfanden die wissenschaftliche Methode.
Es wurde ihnen nämlich jene Methode, mittels der sie die Geo-
metrie aufgestellt und exakt gemacht hatten, zur wissenschaftlichen
Methode überhaupt, und in Plato haben wir jenen Philosophen,
der diese Erkenntnis und Erfindung der logischen Methode zu einer
ganzen Weltanschauung ausbaute. Wir können die griechische
Idee der Wissenschaft etwa so formulieren, daß der Grieche das
Ideal aufgestellt hat, es müsse alles wirkliche, genaue und beweis-
bare Wissen in einer Form dargestellt werden können, wie sie die
Geometrie des Euklid bietet: nämlich durch Aufstellung wissen-
schaftlicher Gebäude, in denen sämtliche Sätze aus Axiomen,
Forderungen und Definitionen mittels logischer Schlüsse abgeleitet
werden.
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, durch diese wenigen
Worte dem Leser einen kleinen Eindruck zu geben, in welch hohem
Maße die ganze griechische Entwickelung bedingt und förmlich
eine direkte Konsequenz ist von der altbabylonischen Weltauffas-
sung. Sie stellt eine Weiterentwickelung einer bestimmten wich-
tigen Seite der babylonischen Geisteskultur dar. Aber, und dies
ist ein wichtiger Punkt für uns, die alte, absolute Union zwischen
Wissenschaft und Religion ist damit bereits zu Ende. Dies zeigt
ein kurzer Blick auf die griechische Geschichte.
Schon zu den Zeiten des Pythagoras ist der Gelehrte und der
Priester nicht mehr dieselbe Person. Wohl ist der Meister der pytha-
goräischen Philosophenschule für seine Anhänger auch höchste
23
DasAltertum
Instanz in religiösen und politischen Dingen, aber nur für seine
Anhänger — eine zwar ausgebreitete, aber doch nicht das ganze
Volk umfassende Geheimgesellschaft. Das Volk hat seine eigenen
Priester, welche weit davon entfernt sind, die Autorität des Pytha-
goras anzuerkennen. Immermehr trennt sich im weiteren Verlauf
der Geschichte der Begriff vom Priester und Gelehrten bei den
Griechen und bald beginnt sogar ein Gegensatz hervorzutreten,
der sich bis zur gegenseitigen Kampfstellung verstärken sollte. In
Sokrates fällt das erste Opfer, welches dieser Kampf verlangte; mit
ihm richtet die Volkspriesterschaft den Philosophen, den Vertreter
der logischen Wissenschaft.
Um jedoch gerecht zu sein, dürfen wir nicht, wie es meist ge-
schieht, einseitig nur die Seite des Wissenschaftlers betrachten,
sondern wir müssen uns auch mit gleichem unbefangenen Sinn auf
die andere Seite zu stellen versuchen und fragen, was war denn
das, was gegen diese Wissenschaft zu Felde zog, was war denn
jene Religion, welche die Volkspriester verteidigten. Wir können
es mit einem Worte sagen: Es war das Weltbild der untergegange-
nen Urkultur, das gegen das neuaufkommende zunächst einmal
„wissenschaftlich" genannte Weltbild kämpfte. Die Ideen und Emp-
findungen der Urzeit begannen den Kampf gegen etwas Neuauf-
kommendes, in dem sie den eigenen Nachfolger witterten.
Leider ist es nicht sehr viel, was wir über die griechische Volks-
religion wissen. Und gerade diese Tatsache zeigt, daß die grie-
chische Volksreligion als Ethik nicht auf sehr großer Höhe gestan-
den haben kann, denn sonst würde auch die wissenschaftliche
griechische Literatur sie mehr beachtet haben. Es ist wohl im
wesentlichen das primitivste Spiel von Gehorsam und Strafe ge-
wesen, welches die Priester ihrem Volke als ethische Verhaltungs-
maßregeln gaben — abgesehen von jenen alten sozialen Gesetzen,
24
DasAltertum
wie etwa Verhinderung der Verwandten-Ehe usw., welche sich ja
bereits ziemlich weitgehend von der eigentlichen Religion abgelöst
hatten. BedeutendeDenkmälergriechischerEthik finden wir anderer-
seits in den griechischen Dramen. Jedoch auch hier ist der Ein-
druck ein äußerst unbefriedigender. Die Stellung des Einzelnen
zum Weltengrunde ist von einer geradezu fürchterlichen Proble-
matik, insofern als entweder eine sinnlos waltende Ananke, eine
starre Notwendigkeit angenommen wird, der die Schicksale der
Menschen Untertan sind, oder aber falls die Menschen größere
Schuld auf sich geladen haben, rächende Gottheiten erscheinen,
die sie verfolgen und rettungslos verderben. Irgendein tieferes,
systematischeres oder verständnisvolles Eindringen in das Verhält-
nis des Individuums zur Weltleitung ist, wenn wir von gewissen
Äußerungen Piatos usw. absehen, nirgends zu finden. Wir haben
im Griechentum eine grandiose, etwas einseitige Entwickelung des
rationalisierenden Intellekts vor uns, die in ihrer Richtung zu einer
wundervollen Blüte des menschlichen Geistes sich emporhob, in
ethisch-religiöser Richtung jedoch versagte.
Ein anderes Bild bot in dieser Hinsicht ein anderes Volk des
östlichen Mittelmeerbeckens, wenn wir nach einem intimeren Ver-
hältnis zum Weltengrunde und auf die Tiefe der ethischen Ein-
stellung des Individuums gegenüber seinem Nebenmenschen und
dem Weltganzen schauen. Dies andere Volk waren die Juden.
Eine ungeheure ethische Gewalt, ein tiefstes Eindringen in das
letzte Verhältnis der Seele zu ihrem „Gott", in die letzte Verant-
wortung des Einzelnen gegenüber der Weltleitung zeigen die reli-
giösen Schriften dieses Volkes — und andere als religiöse haben
sie kaum hinterlassen. Auch die Juden basierten auf der alten
Kultur des Zweistromlandes, in ihrer äußeren Kultur sind sie direkt
ein Zweig dieses riesigen Baumes — aber, wie haben sie die über-
25
DasAltertum
nommenen Mythen ethisch zu vertiefen gewußt, wie sind sie den
Dingen auf ihren letzen Grund gegangen. Eine Wissenschaft im
griechischen Sinne, eine Wissenschaft von der Außenwelt hatten
sie nicht, daher war hier auch für den genannten Zwiespalt mit der
Religion kein Platz. Dafür aber haben sie, wenn ich mich so aus-
drücken darf, die Wissenschaft von der Innenwelt erfunden, be-
gründet und bis zu fabelhafter Höhe ausgebaut.
Griechen und Juden haben die zwei Seiten der alten Kultur des
Zweistromlandes, die wissenschaftliche und die ethische, jedes Volk
die seine in glücklicher Einseitigkeit, soweit ausgebaut, daß sie
damit auf beiden Gebieten die bleibenden Fundamente aller
weiteren Entwicklung geschaffen haben.
26
§ 3. Das Mittelalter und die Neuzeit.
Wir haben gesehen, daß wohl die Griechen das einzige Volk
waren, bei dem im Altertum ein tiefer gehender Zwiespalt zwischen
Wissenschaft und Volksreligion sich auftat. Es ist ja auch dies ganz
selbstverständlich, da die Griechen lange Zeit die Einzigen waren,
die wirkliche Philosophie und Wissenschaft im eigentlichen Sinne
betrieben und zu treiben in der Lage waren. Hinzu kommt ein ge-
wisser Tiefstand der eigentlichen griechischen Volksreligion und
der sozialen Ethik im Vergleich mit derjenigen, die wir bei den
Völkern des älteren östlichen Kulturkreises, insbesondere den
Juden usw. fanden. Als dann zu den Zeiten des Höhepunktes des
römischen Kaiserreiches jene ungeheure Vermischung und Durch-
einanderwürfelung der orientalischen und griechischen Geistes-
kulturen stattfand, aus der das Christentum zum Teil erst hervor-
ging, da war die eigentliche griechische Wissenschaft bereits so
sehr von ihrer klassischen Höhe herabgesunken, die sie in einigen
wenigen ihrer Vertreter erreicht hatte, daß ein eigentlicher Gegen-
satz zwischen ihr und den neuen religiösen Bestrebungen inner-
halb der gebildeten Kreise nicht recht zutage treten konnte. Wir
finden allerdings eine heftige Stellungnahme der führenden Geister
des jungen Christentums gegen gewisse Formen der griechischen
Philosophie (Aufhebung der Akademie in Athen durch Kaiser Ju-
stinian ca. 500 n. Chr.), insbesondere auch auf ägyptischem Boden,
es war dies jedoch weniger ein Gegensatz zwischen Wissenschaft
und Religion im eigentlichen Sinn, als vielmehr ein Gegensatz
27
Das Mittelalter und die Neuzeit
zwischen verschiedenen philosophisch ziemlich gleichwertigen
Richtungen der damaligen Geistesbestrebungen. Und es ist ja be-
kannt, wie sehr die junge Kirche sich bemühte, gerade auch mit
der klassischen griechischen Philosophie sich auseinander zu
setzen und diese womöglich zu assimilieren. Das Evangelium Jo-
hannis ist ein klassischer Zeuge für dieses Streben, indem es nach
Möglichkeit die christlichen Heilslehren zum Teil durch die Be-
trachtungen der idealistischen griechischen Philosophie zu be-
gründen sucht. Auch Augustin, der selbst auf griechisch-organi-
sierten Hochschulen studiert hatte, wirkte in dieser Richtung wie
viele andere, und der Erfolg aller dieser Bestrebungen war derart,
daß die mittelalterliche Kirche direkt die Philosophie der Aristoteles
zur offiziellen, kirchlichen Philosophie erhob.
Aus diesem Tatbestand geht unmittelbar folgendes hervor: So-
lange nicht eine neue Wissenschaft, eine neue Philosophie auf-
stand, welche in merkbarer Weise über Aristoteles hinausgriff, war
es natürlich unmöglich, daß von neuem ein Gegensatz zwischen
Wissenschaft und Religion, wie sie damals verstanden wurde, ent-
stehen konnte. Und bis es dazu kam, mußten beinahe eineinhalb
Jahrtausende vergehen. Die Zwischenzeit gehörte anderen Auf-
gaben als derartigen rein geistig spekulativen Forschungen, es
mußten all jene neuen in den Gesichtskreis der bewußten Welt-
geschichte getretenen Völker, welche die Römer zum Teil nur
äußerlich unterworfen hatten, zivilisiert, kolonisiert, es mußten die
gewaltigen geistigen und seelischen Errungenschaften der alten
Kulturwelt von ihnen aufgenommen und verarbeitet werden. Diese
Kolonisationsarbeit war eine so ungeheure, die Notwendigkeit,
Organisationen zu schaffen, um alle jene neuen Volksmassen halb-
wegs zu der zivilisatorischen Höhe zu erziehen, welche das Alter-
tum unter den Griechen und Römern erreicht zu haben glaubte
28
Das Mittelalter und die Neuzeit
bezw. neue Formen hierfür zu entwickeln, um die neue soziale
Gliederung aller Völker auf Grund der neuen christlichen Ideen
durchzuführen, war eine so gewaltige, daß zunächst keine Zeit und
keine Kraft übrig blieb, um den letzten und feinsten Äußerungen
einer hohen geistigen Kultur des logischen Denkens sich von neuem
zuzuwenden.
Erst als diese Kolonisationsarbeit insoweit geleistet war, daß
so ziemlich ganz Westeuropa von Völkern relativ gleichförmiger
Kulturhöhe bewohnt war, da begannen da und dort wiederum die
äußeren Umstände für die Entstehung eines ausgreifenderen Den-
kens günstig zu werden. Gleichzeitig kamen dann die starken An-
stöße, welche die Wiederentdeckung der klassischen Schriften des
griechischen Altertums und deren Verbreitung durch die Erfindung
der Buchdruckerkunst gaben. Jetzt verbreitete sich wieder die Kennt-
nis jener höchsten Errungenschaften griechischer Geistesarbeit unter
den Gelehrten und gaben so einen Maßstab und einen Ausgangs-
punkt zu neuen Forschungen und neuen kühnen Gedankentaten.
Und mit diesen Umständen tritt automatisch wiederum der
Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, letztere verkörpert
in der Kirche, auf. Naturgemäß, denn die damalige Kirche hatte
sich festgelegt auf die Philosophie des griechischen Altertums, ins-
besondere auf Aristoteles. Somit war es notwendig, daß jeder
Denker, der irgendwie über Aristoteles hinaus wollte, in Konflikt
mit der Kirche kommen mußte. Wir wollen hier nicht untersuchen,
warum es historisch notwendig war, daß die Kirche sich auf die
aristotelische Ph.osophie festlegte, es leuchtet unmittelbar ein,
daß zu einer Zeit, wo es keine andere Philosophie gab, man nicht
verlangen konnte, daß man das spätere Auftreten anderer Philo-
sophien in Rechnung zog; — für uns ist nur wichtig die Tatsache,
daß es so geschah. Und nun folgt jener immer heftiger werdende
29
Das Mittelalter und die Neuzeit
Kampf der beiden Prinzipien, einerseits der in der Kirche verkör-
perten Religion, andererseits der in den kühnen vorwärtsstrebenden
Geistern der Gelehrten verkörperten Wissenschaft, ein Kampf, der
in immer steigender Schärfe und mit wechselndem Erfolg von
beiden Seiten bis auf unsere Zeit geführt wird, und der vielleicht in
seinem tiefsten Sinne ganz unnötig ist.
Betrachten wir die letzten Phasen dieses Gegensatzes seit dem
Wiederaufleben der Wissenschaften, also etwa seit 1400, noch kurz
etwas näher.
Auf Seite der Wissenschaft kam eine ununterbrochene Reihe
großer Entdeckungen zutage, welche vielfach mit den Anschau-
ungen der Alten in Widerspruch treten mußten. Angefangen von
den Entdeckungen des Kopernikus und Keppler, welche die Erde
als einen um die Sonne kreisenden Planeten erkennen ließen, die
Entdeckung der allgemeinen Schwerkraft, die Entdeckung der ver-
schiedenen Kräfte in der Physik, die Atomlehre Daltons, die Ent-
deckung der Zelle, die Forschungen über die geologischen Verhält-
nisse der Erde und über die ausgegrabenen Reste von Pflanzen
und Tieren, die moderne entwicklungsgeschichtliche Forschung
in Tier- und Pflanzenwelt, mit ihren Hunderten und Aberhunderten
von großen Geistestaten, sie alle bewirkten eine steigende Achtung
vor der Wissenschaft als solcher auch in den breiten Massen des
Volkes. Damit aber wurden auch immer neue Gegensätze ge-
schaffen, denn viele, ja die meisten dieser Entdeckungen, die im-
mer weniger in ihrer Richtigkeit angezweifelt werden konnten,
standen im Gegensatz zu den Kenntnissen des Aristoteles. Und
wie der Kampf stets die Stellungnahme der Gegner automatisch
immer mehr zu verschärfen bestrebt ist, so war es auch hier. Natur-
gemäß neigte die Kirche dazu, überhaupt die ganze neue Wissen-
schaft abzuweisen, während andererseits viele Forscher in der
30
Das Mittelalter and die Neuzeit
Siegesfreude ihrer wissenschaftlichen Triumphe auch jede Berech-
tigung der Kirche abzustreiten und auch vielfach aus Gründen
falsch verstandener intellektueller Konsequenz jeder eigentlich reli-
giösen Regung ihres Innern mit Mißtrauen gegenüber zu stehen
begannen. Es entstand mit einem Wort eine immer schärfere Tren-
nung der Geister. Auf der einen Seite die eigentlichen Gläubigen,
welche mit Willen die Lehren der Kirche annahmen, auch da, wo
diese mit anerkannten wissenschaftlichen Tatsachen in Widerspruch
standen. Andererseits viele Wissenschaftler, welche jegliche äußere
und innere Gemeinschaft mit den Gedankenkreisen der Kirche
völlig ablehnten und in sich unterdrückten. In beiden Lagern gab
es natürlich eine große Menge vorurteilsloser Individuen, denen es
zum Bewußtsein kam, daß sie sich in einer Zwangslage befanden,
jedoch gab es objektiv keine Möglichkeit, für Menschen, die über-
haupt zu derartigen Problemen eine ausgeprägte Stellung nehmen
wollten oder mußten, einen Zwischenweg einzuschlagen. In dem
mehr theoretisch veranlagten Deutschland wenigstens war jene
Möglichkeit, die manchen Vertretern der mehr praktisch denkenden
englischenNation nahezuliegen scheint,nämlich beide Standpunkte,
sozusagen zeitlich und räumlich getrennt in ihrem Gehirne gleich-
zeitig und dennoch glücklich zu bewahren, nicht so leicht einzu-
führen. (Ich erinnere an berühmte englische Forscher, wie Newton,
Faraday u. a.) Es scheint, daß die deutsche Seele nicht umhin
kann, eine gewisse Einheitlichkeit in ihrer Stellungnahme zu ver-
langen, und daß sie den Mangel solcher Einheitlichkeit, falls diese
durch irgendwelche Umstände nicht möglich sein sollte, schwer
empfindet und ihm auf alle mögliche Weisen abzuhelfen versucht.
Wie dem auch sei, Tatsache war und ist, daß dieser tiefe Zwiespalt
bei allen wirklich Denkenden besteht, und gar viele Versuche von
verschiedenen Seiten sind gemacht worden, ihn zu überbrücken.
31
II. Kapitel.
Der wissenschaftliche Tatbestand.
§ 1 . Das Problem.
Wir haben im vorigen Kapitel überlegt, wie sich der Zwiespalt
zwischen Wissenschaft und formulierter Religion, wie wir ihn noch
heute scharf unser ganzes Leben und Denken durchziehen sehen,
entwickelte. Wir haben uns erinnert, daß dieser Zwiespalt im wesent-
lichen begann zur Zeit des Wiederaufblühens der Wissenschaften.
Jedoch trat der Gegensatz nicht überall unmittelbar und allgemein
in seiner ganzen Tiefe, in Erscheinung, sondern wir sehen, wenn
wir die Schriften der Gelehrten verfolgen, immer wieder die ange-
strengtesten Versuche, die momentane Wissenschaft mit den reli-
giösen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Schon die Tatsache,
daß eine ganze Menge der bedeutendsten Gelehrten des 15., 16. und
17. Jahrhunderts Geistliche waren, zeigt, daß die Versuche, beide
Vorstellungskreise in Einklang zu bringen, vielfältige und lebhafte
gewesen sein müssen. Um nur einen der Großen herauszugreifen,
so sehen wir z. B. bei Leibniz, mit welcher GewaU er darum ringt,
seine religiösen und philosophischen Vorstellungen in Überein-
stimmung zu bringen. Das Resultat ist ein eigenartiges Produkt
dieses Strebens. Der Zwang der mathematischen und physikalischen
Vorstellungen, zu deren Ausbau er selbst so Bedeutendes beige-
tragen hat, war bereits ein so starker, daß wir bei ihm im wesent-
32
Das Problem
liehen schon ein mechanistisches Weltbild finden, in dem für die
Tätigkeit seines Gottes nur in seinen letzten Ausläufern Platz übrig-
bleibt. Er begabt seine Atome, die sogenannten Monaden, mit der
Vorstellung einer Art von Seele, deren Gesamtheit für ihn die Welt-
seele darstellt. Wir haben hier einen typischen Versuch vor uns,
das bereits sehr weitgediehene mechanische Weltbild nachträglich
mit der Vorstellung einer bereits ebenfalls sehr logisierten Welt-
seele zu behaften.
Noch viel schärfer ist dieser Gegensatz bei Kant geworden.
Seinem kritischen Geiste gelingt es nicht mehr, mit dem mecha-
nischen Weltbilde eine Gottesvorstellung der alten, überlieferten
Art in natürUche Beziehung zu setzen, und er greift, da ihm den-
noch eine solche pFaktisch als absolut nötig erscheint, zum Aus-
fluchtsmittel, diesen Gott gewissermiaßen seinem Weltbilde gewalt-
sam zu oktroyieren, ohne daß es ihm gelingt, sich in dieser Verbin-
dung irgendwie philosophisch tiefer zu rechtfertigen.
Durch die von den Erfolgen der exakten Wissenschaften ge-
wissermaßen forcierte Entwickelung des mechanistischen Welt-
bildes in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dann für viele Kreise
die Möglichkeit einer Vereinigung eines Gottesbegriffes mit dem
Weltbilde immer schwieriger und wir sehen den Erfolg dieses Vor-
ganges in der immer größer werdenden Vertiefung des Wider-
streites zwischen mechanistischen Wissenschaften und Religion,
wie wir ihr in der heftigsten Ausprägung insbesondere in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnen.
Es zeigte sich immer deutlicher, daß für einen Gottesbegriff der
aus den Kindheitstagen der Menschheit überlieferten, kritisch und
wissenschaftlich völlig ungeklärten Art eine Anknüpfung an das
rein mechanistische Weltbild nicht gefunden werden konnte. Aber
die damalige verbreitetste Form dieses Weltbildes, welche auf einer
33 3
Das Problem
rein materialistischen Erkenntnistheorie basierte, die sich allzu
naiv Atome und Kräfte als unmittelbar Letztes gegeben vorstellte,
ohne zu fragen, wie dann diese selbst wieder ihre Existenz recht-
fertigen könnten, zeigte sich bei der weiteren Entwickelung der
philosophischen Forschung wenigstens in ihren Grundlagen im-
mer weniger als stichhaltig. Zwar war in keiner Weise zu leugnen,
daß das, was der Materialismus als einziges für ein Weltbild bieten
konnte, die Hauptmasse des wissenschaftlich begründeten Welt-
bildes darstelle, doch eben die erste Begründung, die Fundierung
des ganzen Gebietes war eine derart naive und mangelhafte, daß
abschließende Resultate auf diesem Wege nicht erhalten werden
konnten. Und damit konnte auch nicht eine volle, sichere Klä-
rung jener Fragen, welche den Zusammenhang zwischen Wissen-
schaft und Religion berühren und welche doch immer wieder die
Seelen der Menschen beschäftigten, von dieser Seite her erwartet
werden.
Hier nun setzte, zum Teil wohl direkt von solchen Überlegungen
mit angeregt, eine ganz neue Entwickelung in Wissenschaft und
Philosophie ein, welcher es gelang, zunächst einmal das starre
Vorurteil, daß der Materialismus der Mitte des 19. Jahrhunderts
sämtliche Fragen bereits löse, in den denkenderen Geistern all-
mählich zu lockern, und so die Bahn für eine neue, unvoreinge-
nommenere Betrachtung frei zu machen. Die Wissenschaft begann
ihre tieferen Grundlagen einer neuen und intensiveren Durch-
forschung zu unterziehen — eine Bewegung, die in stetiger Aus-
breitung seit dem letzten halben Jahrhundert ständig begriffen ist,
immer neue und wunderbarere Resultate zeitigte, und von der noch
nicht abzusehen ist, wann sie ihren Höhepunkt überschreiten
wird. Die Philosophie wiederum schuf durch eine teilweise Rück-
kehr zu Kant sich die Möglichkeit, sozusagen von neuem anzu-
34
Das Problem
fangen, ohne sich von Vorurteilen eingeengt zu sehen, sie ergriff
mit Freuden die ihr von der ihre eigenen Grundlagen erforschenden
Wissenschaft gebotenen Anregungen, und versuchte mit vielfachem
und wachsendem Erfolge die dort erhaltenen Resultate für eine
allgemeine philosophische Weltbetrachtung zu verwerten und sich
so besser zu assimilieren.
Auf dieser Stufe angelangt nun kann man mit neuer Aussicht
auf einige Klärung sich wiederum die Frage nach dem Verhältnis
von Wissenschaft und Religion stellen. Man kann von neuem
fragen, ob denn nicht die religiösen Erfahrungen und ethischen
Formulierungen der Alten — in irgendeiner modifizierten Form
natürlich — wenigstens verständlich innerhalb des wissenschaft-
lichen Weltbildes erscheinen möchten. — Oder ob es tatsächlich
notwendig sei, diese gewaltige Seite menschlichen Innenlebens,
wie es vom Materialismus fast durchgehends geschah, lediglich
als eine kindische Verirrung der vergangenen Generationen zu
betrachten, und sich zu der Ansicht zu zwingen, daß die riesigsten
Konflikte und die einschneidendsten Meinungsstreite der Mensch-
heitsgeschichte nur durch abergläubische Beschränktheiten verur-
sacht worden seien, kurz, ob einer der wichtigsten Motoren der
menschlichen Entwickelung ein reines Phantom gewesen sei. Man
kann ferner wieder fragen, ob es denn notwendig sei, den tiefsten
ethischen Fragen, den letzten Wertungsproblemen, wie es der
Materialismus pflegte, fast völlig meinungslos und ohne jede Direk-
tive gegenüberzustehen, ob es tatsächlich dem wissenschaftlich Den-
kenden auferlegt sei, in diesen Fragen auf einer Stufe letzter Primi-
tivität zu verharren, sein Dasein und sein Streben als ein mehr oder
weniger sinnloses Kräftespiel zu betrachten, oder ob nicht auch
die Wissenschaft in der Lage sei, denen, die sich von ihrer Unum-
stößlichkeit überzeugt hatten, auch einen Aufschluß über die letzten
35 3*
Das Problem
Fragen des Menschenlebens zu gewähren, der dem Leben einen
Sinn und einen Inhalt bieten kann.
Um diesen Fragen nähertreten zu können, dazu ist es nötig, in
aller Kürze einige philosophische Überlegungen einzuflechten,
welche den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung
in diesen Fragen charakterisieren sollen. Und wenn wir dann im
folgenden Kapitel die Frage in Angriff nehmen, ob denn die Vor-
stellungen der überlieferten Religion und Ethik wirklich gar so
sinn- und grundlos gewesen seien, wie sie einer allzu schnell er-
rungenen naturwissenschaftlichen Bildung heute manchmal er-
scheinen möchten, dann werden wir finden, daß diese Vorstellungen,
wenn sie auch mit vielen Resten vorzeitlichen Aberglaubens be-
haftet waren, in ihrem wesentlichen Kerne ihr volles wissen-
schaftliches Gegenbild finden, und daß insbesondere die For-
mulierungen der alten jüdischen Denker, wie sie uns im Kanon
des Alten Testamentes entgegentreten, den wunderbarsten Ein-
blick in die tiefsten Wahr- und Wesenheiten des Daseins bieten,
der durch die kritischste wissenschaftliche Forschung niemals ver-
worfen, sondern immer nur von neuem bestätigt und um so tiefer
begründet werden kann.^)
*) Wem die beiden folgenden Paragraphen Schwierigkeiten des Verständnisses
bieten, der kann sie ohne besondere Störung überschlagen.
36
§ 2. Die Wissenschaft.
Wir sahen soeben, daß die rein materialistische Weltauffassung
sich bei näherer Erforschung nicht bestätigte. Es ergab sich viel-
mehr folgendes.
Schon seit altersher hatte die Mathematik, und mit ihr die Geo-
metrie und mathematische Mechanik als das Vorbild einer vollen-
deten Wissenschaft gegolten. An ihr also mußten sich die Ziele der
wissenschaftlichen Forschung und das Wesen der Naturgesetze
am besten erkennen und verstehen lassen. Schon die Erfinder der
theoretischen Geometrie, die alten Griechen, hatten auf diese Über-
legung eine ganze Philosophie gegründet. Nun bestätigte die
wissenschaftstheoretische Forschung bis jetzt immer mehr bis zur
unumstößlichen Gewißheit, daß wir in der Mathematik eine beson-
dere Form der Wissenschaft vor uns haben, eine besonders vollen-
dete Form, die wir als theoretische Wissenschaft bezeichnen
wollen. Es ergab sich ferner, daß alle Wissenschaften von irgend-
einem Gebiete des Wirklichen dieser vollendetsten Form zustreben,
viele (wie große Teile der Physik und Chemie) sind ihr schon sehr
nahe oder haben sie erreicht, andere Gebiete wieder stehen ihr
noch ferner (die unfertigen Teile von Physik und Chemie, die
Meteorologie usw.), wieder andere dürften erst in sehr ferner Zeit
in nennenswerter Weise sich ihr nähern, oder haben sie nur erst
ganz wenig gestreift (die größten Teile der Biologie und Physio-
logie usw.). Innerhalb dieser vollendetsten Art von Wissenschaft
nun, so fand man, werden die Naturgesetze nicht mehr im eigent-
37
Die Wissenschaft
liehen Sinne experimentell gefunden oder begründet, sondern sie
entstehen auf mehr logischem Wege, durch Bearbeitung der Wirk-
lichkeit mittels unseres logischen Verstandes. Die Hilfsmittel und
Betrachtungsarten, welche der logische Verstand hierbei zur An-
wendung bringt, werden formuliert in sogenannten Prinzipien, und
unter diesen Prinzipien steht in erster Linie das Prinzip der Öko-
nomie, welches besagt, daß in der theoretischen Wissenschaft in
allen Fällen das einfachste logisch mögliche Gesetz zur Anwen-
dung komme und als Gesetz gewählt werden müsse. So hatte sich
z. B. ergeben, daß rein logisch betrachtet nicht bloß eine Art von
Geometrie, etwa die unsrige, formuliert werden könne, sondern
daß man logisch unabsehbar, beliebig viele Arten von Geometrien
formulieren könne. Man fand aber, daß gerade die unsrige auf
Grund des Ökonomieprinzips als einfachste gefunden werden
müsse. Natürlich hatte man diese unsere Geometrie schon früher
gefunden gehabt, sozusagen experimentell, aber jetzt erst stellte
sich heraus, wie man dieses experimentelle Resultat in seinem
Vorhandensein verstehen könne. Man fand nämhch, daß man bei
der experimentellen Erforschung der Geometrie früher sozusagen
instinktiv schon die einfachsten Verhältnisse gewählt hatte. So ist
es denn nicht mehr merkwürdig, daß etwas, was früher rein objektiv
durch Experiment gefunden zu sein schien, neuerdings sich als das
Resultat einer zwar nicht willkürlichen, aber doch freiwilligen Wahl
darstellt.
Mit dieser kurzen Darlegung über die Geometrie haben wir den
wesentlichsten Punkt der modernen Entwicklung der Wissen-
schaftslehre, bzw. der Erkenntnistheorie schon festgelegt: es ist
eine völlige Verschiebung in der Auffassung der Naturgesetze zu-
stande gekommen, Waren früher die Naturgesetze irgendwelche
mystisch gegebene Dinge, welche von irgendeiner höheren Macht,
38
Die Wissenschaft
sei sie, welche sie sei, als gegeben erschienen, welche dem Weltall
auf eine nicht erklärbare Weise anhafteten, so zeigte sich jetzt, daß
diese Naturgesetze in den theoretischen Wissenschaften alle und
jede Mystik ablegten und sich einfach als freiwillig zur logischen
Bearbeitung der Wirklichkeit nach möglichst praktischen Gesichts-
punkten aufgestellte logische Schemata erwiesen. Die experimen-
tell gefundenen und bisher noch nicht theoretisch begründeten Ge-
setze fallen zwar zunächst aus diesem Rahmen heraus, es ist aber
klar, daß auch sie nur ein vorläufiges Stadium darstellen und in
irgendeiner Zeit ihre Einreihung in diejenigen Gesetze zu erwarten
haben, denen jede Mystik genommen ist.
Nach dieser Anschauung stellt sich aber das Gesamtbild der
wissenschaftlichen Erkenntnis etwa folgendermaßen dar. Gegeben
ist der Gesamtstrom der Wirklichkeit, des wirklichen Geschehens.
Ihn zu erklären und zu deuten — und dadurch dann auch mit der
Tat zu beherrschen — ist die Aufgabe der Wissenschaft. In rein-
ster Form tut dies die theoretische Wissenschaft. Sie zerlegt diese
Gesamtheit der wirklichen Erscheinungen nach gewissen beson-
ders praktischen logischen Prinzipien, indem sie auf diese Weise
die Naturgesetze sozusagen selbst herbeiführt, sie, die nach prak-
tischsten logischen Gesichtspunkten ausgewählt sind, in die Wirk-
lichkeit hineinträgt. Dieser Prozeß, der auf ein systematisches Ord-
nen der natürlichen Erscheinungen hinausläuft, ist ein stetig immer
weiter fortschreitender und ein sowohl ins Kleine wie ins Große,
d. h. intensiv und extensiv unendlicher. Mit anderen Worten, die
theoretische Wissenschaft stellt sozusagen ein stetig sich vergrößern-
des Gebäude dar, das immer weitere Gebiete der Wirklichkeit zu
umfassen strebt. Ein Bild wird dies vielleicht noch klarer machen.
Denken wir uns in einer Lösung, einer Mutterlauge einen kleinen
Kristall eingelegt des betreffenden Stoffes. Dann denken wir uns
39
Die Wissenschaft
bekanntlich die Moleküle im Kristall nach schärfsten mathema-
tischen Gesetzen orientiert, während die Moleküle in der Lösung
völlig ungeordnet und unorientiert sind. Der Kristall nun reißt
beim Wachsen die Moleküle seiner Umgebung an sich und ordnet
sie in sein eigenes genaues Gefüge ein. So können wir uns die
Gesamtheit der Wirklichkeit als die Mutterlauge vorstellen und die
theoretische Wissenschaft als den Kristallkern, de* immer mehr
und mehr von der Lösung sich anzuschließen und seiner Ordnung
einzufügen sucht.
An dieses Gebäude der theoretischen Wissenschaft schließen
sich dann die Gebiete an, welche noch nicht völlig oder noch kaum
„theoretisiert" sind. Zum Unterschiede wollen wir das Gebäude der
theoretischen Wissenschaft den „theoretischen Urbau" nennen
und konstatieren, daß dieser im Laufe der unendlichen Zeit die Ge-
samtheit der Wirklichkeit zu umfassen berufen ist. Damit ist aber ge-
sagt, daß es keinerlei Grenze gibt, welche der Urbau nicht zu über-
schreiten vermöchte, d. h. daß es keine Erscheinung der Wirklich-
keit gibt, welche nicht nach und nach in einer kürzeren oder länge-
ren, aber stets endlichen Zeitspanne der wissenschaftlichen Erfor-
schung und Erklärung ihrer Bedingungen und dann der Einordnung
in den theoretischen Urbau unterworfen würde. Dies ist ein Resultat
von überaus großer Tragweite, welches hier zwar nicht in allen De-
tails bewiesen werden (hierzu wären die modernen wissenschafts-
theoretischen Untersuchungen zu vergleichen), welches aber bereits
als sehr klare Folgerung aus dem bereits Gesagten eingesehen
werden kann. Denn offenbar ist für unser zerlegendes Herantreten
mittels der logischen Prinzipien an die Wirklichkeit irgendeine
Abhängigkeit davon, was dieser Operation unterworfen wird, in
keiner Weise gegeben, sondern es wird die vorgelegte Wirklichkeit
einfach nach diesen Regeln behandelt. Die Frage, ob irgendein
40
Die Wissenschaft
bestimmter Teil der Wirklichkeit nach diesen Regeln behandelt
werden kann (z. B. die Organismen) hat also gar keinen Sinn.
Irgendeine Unterscheidung verschiedener Teile der Wirklichkeit,
die nach diesen Regeln behandelt werden können oder nicht, ist
sinnlos. Sie werden eben alle darnach behandelt und zwar führt je
nach der Komplikation diese Behandlung langsamer oder schneller
zu einem gewissen Ziele.
Nun sind natürlich verschiedene Teile der Wirklichkeit in einem
bestimmten Sinne von verschiedenen Graden der Komplikation.
Ein Stück Kochsalz und eine Maus unterscheiden sich dadurch,
daß die Maus ein Gegenstand von unvergleichlich viel größerer
Mannigfaltigkeit der Reaktionen gegen die Bedingungen der Um-
gebung darstellt innerhalb des gleichen Genauigkeitsspielraumes,
als das Stück Kochsalz. Daher werden uns auch die Gesetze,
welche das Verhalten des Kochsalzes darstellen, viel leichter zu er-
forschen sein, wie die bei der Maus in Betracht kommenden. Aber
ein prinzipieller Grund, warum irgendein spezielles Verhalten der
Maus nicht auf Grund der allgemeinen wissenschaftlichen Regeln
sollte — wenn auch erst in vielleicht sehr ferner Zeit — erklärt
werden können, ist nicht vorhanden. So ist es klar, daß schließlich
auch der Mensch mit jeder einzelnen seiner Äußerungen theoretisch
völlig einmal in den Bereich des auf diese Weise Erforschbaren fallen
muß, insoferne, daß diese Äußerungen als Folgen bestimmter Be-
dingungen und in ihrer Abhängigkeit von diesen nach allgemeinen
Gesetzen erkannt werden. *
1 Die Gesamtheit der Wirklichkeit wird jedoch erst nach unendlich langer Zeit
restlos unter diese Erforschung gefallen sein. In endlicher Zeit wird daher niemals
alles erforscht sein und soweit man auch gekommen sein wird, immer wird noch
imendlich viel zu erforschen übrig bleiben. Aber irgendeine Abgrenzung oder
Kennzeichnung dessen oder von etwas Bestimmtem, das stets unerforscht bleiben
müßte, ist ebenfalls unmöglich.
41
§ 3. Entwickelung.
Mit der letzten Bemerkung des vorigen Paragraphen aber haben
wir das Gebiet berührt, welches uns für unseren vorliegenden
Zweck am meisten angeht von den Konsequenzen der Wissen-
schaftstheorie.
Es ergibt sich aus diesen Überlegungen zunächst, daß das, was
unserer wissenschaftlichen Erklärung unterworfen ist, wenn auch
erst vielleicht in beliebig ferner Zeit, schlechterdings keine Lücke
übrig läßt, die Platz ließe für etwas, das prinzipiell von dieser Er-
klärung ausgeschlossen wäre, sondern daß es die ganze Wirklich-
keit restlos und ohne Ausnahme umfaßt. Daß dies der Fall ist, geht
aus dem genauen Studium der Art hervor, wie wir derartige Er-
klärungen wirklicher Erscheinungen herstellen. Damit ist nun aber
auch gesagt, daß wir irgendwelche Fragen innerhalb des gegebe-
nen Rahmens beantworten müssen, daß wir keine Möglichkeiten
haben, Erscheinungen der Wirklichkeit auf andere Weise zu er-
klären.
Für unsere Interessen in der vorliegenden Schrift ist nun die
Konsequenz aus dem Gesagten von Wichtigkeit, daß wir selbst,
unsere Person mit allen ihren Äußerungen, ebenfalls in den Bereich
des durch die Wissenschaft in näherer oder fernerer Zeit Erklär-
baren völlig aufgenommen sind. Dieses Resultat ist allerdings für
die meisten Erscheinungen an unserer Person, wie wir sie im täg-
lichen Leben erleben, ein rein theoretisches. Denn gerade die
Lebensäußerungen, und besonders noch die des Menschen, sind
42
Entwickelung
von einem so hohen Grade von KompHkation, daß wir auf eine
wissenschaftlich genaue Erklärung in der am Ende des vorigen
Paragraphen geschilderten Weise in den meisten Fällen erst in
sehr ferner Zeit hoffen dürfen. Aber trotzdem ist das Resultat von
großer Tragweite.
Wenn ich daraufhin nämlich nach den Konsequenzen für das
tägliche Leben, für mein tägliches Handeln frage, so ergibt sich
als erste Folgerung: Ich muß mich in meinen Handlungen den ge-
fundenen Gesetzen der Wirklichkeit unterwerfen, denn diese Ge-
setze gelten für mich und meine Äußerungen in jeder Hinsicht.
Eine Opposition dagegen gibt es nicht.
Aber nicht alles, was das Leben bringt, läßt sich zurzeit durch
Gesetze der theoretischen Wissenschaft erklären. Vielmehr stellt
das so Erklärbare den geringeren Teil des Erlebens dar. Allzumeist
sind wir im täglichen Leben auf „Erfahrungsgesetze" angewiesen,
welche Vorläufer späterer theoretisch formulierter und ableitbarer
Gesetze sind. Diese Erfahrungsgesetze beruhen auf folgendem
Satze, welcher theoretisch durchaus begründbar ist: Unter Um-
ständen, welche nicht erkennbar verschieden oder nicht sehr stark
verschieden sind, findet auch so ziemlich das Gleiche statt. Dabei
genügt es meistens, auf die Beachtung der näher liegenden Um-
stände sich zu beschränken. Dieser Satz wird auf Vorgänge ange-
wandt, welche noch nicht genau erforscht sind, und deren Gesetze
noch nicht dem theoretischen Urbau angehören. Er führt in den
meisten Fällen zu richtigen Resultaten. Die Resultate sind also
nichtvölligsicher, sondern nur mehr oder wenigerwahrscheinlich, je
nachdem uns Umstände, welche für den Vorgang von Wichtigkeit
sind, entgangen sind oder nicht. Wir alle wissen tausende von Bei-
spielen aus unserem täglichen Leben, wo wir unsere Erwartungen
getäuscht sehen. Aber andererseits hat ein Mensch von einiger Er-
43
Entwickelung
fahrung auch sehr viel mehr Fälle aufzuweisen, wo seine Erwar-
tungen eintreffen. Denn in unsicheren Fällen vermeidet er es eben,
sich auf bestimmte Erwartungen festzulegen. Also auch diesen Er-
fahrungsgesetzen, soweit sie uns eben bekannt sind, müssen wir
folgen, so gut wir können. Auch da hilft keine Opposition.
Zu diesen Erfahrungsgesetzen gehört aber insbesondere das
Folgende : Wenn wir die geologischen Schichten der Erde durch-
forschen, dann finden wir, daß die Tierreste in ihnen derart ange-
ordnet sind, daß im allgemeinen je näher eine Schicht unserer
jetzigen Zeit liegt, je komplizierter sind die Lebensäußerungen
derjenigen lebenden Tiere, welche den betreffenden Tierresten am
ähnlichsten sind. Diese Bemerkung enthält die Aussage, daß in
dem Auftreten neuer Tierarten im Laufe der Erdgeschichte eine
gewisse Tendenz obgewaltet haben muß, eine gewisse Richtung.
Wir bezeichnen diese Veränderung in bestimmter Richtung als
Entwickelung, und nennen das Fortschreiten zu höherer Kompli-
kation der Lebensäußerungen Fortschritt. Die ganze Betrachtungs-
weise wird als Prinzip der Entwickelung bezeichnet.
Dieses Entwickelungsprinzip ist kein Gesetz der theoretischen
Wissenschaft, sondern ein Erfahrungsgesetz. Unsere Forschungen
zeigen uns, daß es im Vergleich zur Dauer eines Menschenlebens
überaus lange Zeiträume gewesen sein müssen, innerhalb deren
diese Entwickelung vor sich gegangen ist, und daß die während
dieser Zeiten herrschenden, allgemeinen Verhältnisse auf der Erde
keine mit den unsrigen völlig unvergleichbaren gewesen sein kön-
nen, wenn sie auch vielfach verschieden genug waren. Im ganzen
aber waren es in den langen Zeiträumen der Entwickelung Ver-
hältnisse, denen wir mit unseren modernen Anpassungsmethoden
wohl immerhin noch gewachsen wären. Wenden wir dann unseren
obigen Satz auf diese Umständean, so könnenwiretwasagen:Inner-
44
Entwickelung
halb des Spielraumes, in dem die Verhältnisse auf der Erde während
der Entwickelung der Tierwelt sich änderten, wird, nachdem diese
Periode eine so unübersehbar lange Zeit andauerte, und eine
größere Veränderung der Umstände des Universums in unserer
Umgebung nicht bemerkt oder erwartet werden kann, auch auf
sehr lange Zeit hinaus die Änderung der Umstände auf der Erde
sich erhalten. Damit aber ist auf diese Zeit hinaus die weitere Er-
haltung und auch der weitere Fortschritt des Menschengeschlechtes
äußerst wahrscheinlich. Nehmen wir hinzu, daß auch in der Be-
herrschung der Natur eine sogar neuerdings recht schnelle Ent-
wickelung im Sinne eines Fortschrittes konstatiert werden kann,
so ist zu hoffen, daß, wenn einmal dann nach sehr langer Zeit die
Umstände auf der Erde sich in erheblicherem Maße ändern sollten,
die Menschen auf Grund der dann gewonnenen Hilfsmittel in der
Lage sein werden, sich auch diesen veränderten Umständen anzu-
passen und sich zu erhaltend
Hieraus wollen wir versuchen einige weitere Schlüsse zu ziehen.
1 Vorausblicke in eine nähere Zukunft enthält die vor einem grandiosen ethischen
Hintergrund aufgebaute Schrift von Walter Rathenau .Von kommenden Din-
gen", mit deren Inhalt wir uns da und dort berühren.
45
III. Kapitel.
Die religiöse Auswertung. Allgemeines.
§ 1. Der Gotiesbegriff.
Aus den Uranfängen der Menschheit herauf sind uns Gedanken
überliefert, welche mit einer Gewalt wie keine anderen in die Ge-
schicke der Menschen eingegriffen haben und welche sich mit einer
unerhörten Kraft und Ausdauer erhalten und immer wieder durch-
gesetzt haben, derart, daß wenn sie einmal fallen gelassen zu sein
schienen, sie doch immer wieder aufgenommen und in vielleicht et-
was anderer Gestalt mit immer wieder neuer Kraft vorwärts getragen
wurden. Wir meinen diejenigen Gedanken,, welche man im allge-
meinen als „religiöse" bezeichnet. Bei allen Völkern, wo wir auch
auf der weiten Erde nachforschen, finden wir eine Vorstellungs-
gruppe, welcher die kausale Verantwortlichkeit für alle und insbe-
sondere die letzten Dinge des Daseins zugeschrieben wird, welche
dafür also ein „kausales Zentrum" bildet. Bei den primitivsten Völ-
kern sehen wir diesen Begriff der Weltleitung noch zersplittert, der-
art, daß irgendein besonders auffälliger Umstand der Außenwelt,
sei es ein auffallender Baum, ein auffallendes Tier, ein merkwürdig
geformter Stein, ja sogar mitunter ein farbiger Lappen als das kau-
sale Zentrum für irgendeine Gruppe von Geschehnissen betrachtet
wird, die den Betrachter irgendwie persönlich besonders berühren.
Wir haben im ersten Kapitel gesehen, daß eine wesentlich höhere
46
Der Gottes begriff
Stufe dieser Gedankengänge uns bei den Babyloniern entgegen-
tritt, wir sahen, daß diese Völker zur Zeit ihrer Blüte nicht mehr
irgendeinen beliebigen Gegenstand je nach Bedarf als Kausal-
zentrum für bestimmte Geschehnisse verwenden, d. h. daß sie nicht
mehr, wie man zu sagen pflegt, dem Fetischismus huldigen. Sicher-
lich war auch einst bei den ältesten Vorfahren jener Völker des
Zweistromlandes der Fetischismus zu Hause. Aber schon unsere
ältesten Quellen lassen erkennen, daß zu der Zeit, da sie geschaffen
wurden, eine sehr viel höhere Stufe der Weltdeutung erreicht war,
indem es ein für allemal bestimmte Gegenstände waren, welche
als Kausalzentren für das gesamte Geschehen betrachtet wurden.
Und zwar waren dies nicht irgenwelche naheliegende oder klein-
liche Gegenstände, sondern außerordentliche, eindrucksvolle, mäch-
tige und den kleinen Weltläuften unerreichbare Gegenstände, welche
zu diesem Zwecke herausgegriffen waren aus der Wirklichkeit —
es waren die großen Gestirne des Himmels. Es ist ohne weiteres
klar, daß zwischen der primitivsten fetischistischen Stufe und der
Form der Weltdeutung, wie wir sie bei den Babyloniern finden,
eine Zwischenstufe eingeschaltet gewesen sein muß, in der es eben-
falls nicht mehr dem Belieben des einzelnen überlassen war, seine
Kausalzentren selbst zu wählen, sondern wo die ganze soziale Ge-
samtheit, welche einer einheitlichen Kultur unterlag, bereits dazu
gelangt war, ein für allemal bestimmte Kausalzentren aufzustellen,
wenn auch diese noch nicht in jenen mächtigen und unerreichbaren
Gestirnen bestanden haben. Es werden hiefür wohl zunächst be-
stimmte eindrucksvolle Tiere, sogen, heilige Tiere, heilige Bäume,
schließlich auch heilige Berge gewählt worden sein, dazwischen
aber wohl immer wieder einmal eine besonders eindrucksvolle
menschliche Persönlichkeit.
Bei den Babyloniern finden wir also — in voller Reinheit natür-
47
Der Gottes begriff
lieh nur bei den Priestern und Gelehrten — die unerreichbarsten
Dinge der Wirklichkeit als Kausalzentren gewählt. Wir haben früher
schon gesehen, daß diese Wahl gerade den Vorzug hatte, auf Dinge
zu treffen, welche einer großartigen und relativ leicht zu durch-
schauenden Gesetzlichkeit gehorchten. Ob nun diese Gesetz-
lichkeit der Grund war, warum gerade die großen Gestirne zu
Kausalzentren gemacht wurden, oder ob man durch das Studium
der gewählten Kausalzentren erst zur Entdeckung jener feineren
Gesetzlichkeiten gelangte, oder ob drittens — was das wahrschein-
liche ist — beide Möglichkeiten abwechselnd eintraten und sich
auf diese Weise gegenseitig verstärkten, das ist nachträglich schwer
zu entscheiden. Sicher aber ist das eine, daß im Zusammenhang
mit der Wahl der großen Gestirne als Kausalzentren für alles Ge-
schehen der Anstoß gegeben war zur möglichsten Durchführung
einer analogen Gesetzlichkeit in den Dingen des täglichen Lebens
und des Staates, welche von der gewaltigsten Wirkung für die Kul-
turentwicklung wurde. — Wir wollen zunächst hier einhalten und
die Bedeutung des Begriffes des Kausalzentrums uns ein wenig
überlegen. Der primitivste Mensch stand den Erscheinungen seiner
Umgebung, welche in unübersehbarer Abwechselung und Zufällig-
keit auf ihn einstürmten, gedanklich zunächst völlig hilflos gegen-
über. Es passierte ihm, daß seine Kinder von einem wilden Tiere
zerrissen wurden, dann bekämpfte er dieses Tier und suchte es zu
vernichten. Solange er es bloß während der Tat selbst bekämpfte,
war es einfaches Abhalten. Aber mit der geistigen Höherentwicke-
lung kam dann ein geistiges Nachzeichnen der Vorgänge, auch
wenn sie vielleicht schon vergangen waren und dieselbe Kampfes-
wut, welche vorher das Untier nur während der Tat angriff, wurde
jetzt durch die Phantasievorstellung auch noch nach der Tat ausge-
löst— mit einem Wort, es trat die Idee der Strafe oder der Rache in
48
Der Gottes begriff
den Gesichtskreis der Menschen. Wir bemerken unmittelbar, daß
dies bereits eine kausale Verknüpfung bedeutet. Es ist nicht mehr
der unmittelbare, größtenteils instinktive Anreiz der momentanen
Wahrnehmung, sondern es entsteht bereits ein Handeln auf Grund
dieser Nachkonstruktion — eine typische Kausalverknüpfung. So
gewöhnte sich der Mensch allmählich, alle Vorgänge, welche ihm
persönlich nahetraten und daher für ihn Interesse hatten, in seiner
Phantasie auf irgendwelche Umstände zurückzuführen, welche er
zunächst wohl in Analogie zu jenem wilden Tiere dachte — er er-
weiterte seine Kausalbetrachtung. Und so kam es, daß bei irgend-
einem Vorgang, dessen Kausalzentrum er nicht kannte, er irgend-
einen naheliegenden Gegenstand als Kausalzentrum dafür annahm.
Nun wurde sicher bei der weiteren geistigen Höherentwickelung
des Menschen gar häufig die Beobachtung gemacht, daß ein sol-
ches vermeintliches Kausalzentrum nicht die Ursache von dem be-
treffenden Ereignis gewesen sein konnte. Der Schluß, der dabei
zur Anwendung kommt, ist die sogen. Differenzmethode nach John
Stuart Mill, indem ein nochmaliges Vorhandensein des Kausalzen-
trums nicht nocheinmal die gleiche Wirkung auslöste, so daß also
das vermeintliche Kausalzentrum „es nicht gewesen sein konnte".
Diese Methode der Kausalzentren hatte für die geistig erwachende
Menschheit etwas sehr Befriedigendes. Es war den Menschen ein
geistiger Zwang, derartige Kausalzentren aufzustellen, und so oft sie
auch sich getäuscht gesehen haben mögen, immer wieder versuchten
es lebhaftere Geister von neuem, die richtigen, wahren Kausalzen-
tren aufzufinden. Nun war es natürlich bei irdisch zugänglichen
Gegenständen sehr häufig möglich, die Probe auf das Exempel
zu machen. Und dabei mußte sich naturgemäß sehr häufig heraus-
stellen, daß es fälschlich gewählte Kausalzentren gewesen waren.
So ergibt sich ganz von selbst, daß die gewählten Kausalzentren
49 *
Der Gottes begriff
mit der fortschreitenden Entwickelung förmlich automatisch in im-
mer weitere Ferne rücken mußten. Und so haben wir bei den Ba-
byloniern jenen Zustand vorgefunden, der in einer gewissen Hin-
sicht einen Höhepunkt dieser Entwickelung darstellt, insofern als
die auffallendsten, aber auch zugleich unerreichbarsten Gegenstände
der äußeren Wahrnehmung die Kausalzentren für das gesamte
Weltgeschehen geworden waren.
Und nun erst kommen wir dazu, zu bemerken, daß man das-
jenige, was wir bisher als Kausalzentren bezeichnet haben, in der
Mythologie als Götter zu bezeichnen pflegt. Und eine kurze Über-
legung wird zeigen, daß der Begriff des Kausalzentrums tatsächlich
einen wesentlichen Teil des Gottesbegriffes dieser alten Völker dar-
stellt. Jedoch ist dieser Gottesbegriff damit keineswegs erschöpft.
In der Tat ist es nicht nur ein rein theoretisches Bedürfnis nach
irgendeinem kausalen Verständnis für die Geschehnisse ihres
Lebens und ihrer Umgebung, welches die alten Völker veranlaßte,
derartige Kausalzentren anzunehmen. Sicherlich war dieser sozu-
sagen mehr theoretische Gesichtspunkt überwiegend in den frühe-
sten Zeiten, wo reiner Fetischismus herrschte. Damals war es wohl
lediglich das Kausalbedürfnis (d. h. das Bedürfnis hinter einem
Geschehen das handelnde, mächtige Lebewesen, an das man vom
täglichen Leben mit Tieren und Menschen her gewohnt war, zu
entdecken), welches die Menschen zwang, ihnen nahegehende Er-
eignisse irgendeinem Kausalzentrum zuzuschreiben. Mit der seeli-
schen Höherentwickelung knüpfte sich hieran alsbald noch ein sehr
wichtiges zweites Moment, welches einen immer bedeutenderen
Einfluß auf die Entwickelung der Gottesvorstellung hatte. Sobald
nämlich die Vorstellung dieser Kausalzentren in Form irgendwel-
cher mächtiger Wesen, die etwa mit einem mächtigen Herrscher oder
König eines sozialen Gemeinwesens sich vergleichen ließen, ge-
50
Der Gottes begriff
Wonnen war, tauchte auch in Analogie hiezu der Gedanke auf, ob
sich diese göttlichen Wesen nicht gleich jenem Herrscher durch
Geschenke und Lobreden möchten beeinflussen lassen. Dies führte
dann immer mehr dazu, die gewählten Kausalzentren mit den
Eigenschaften mächtiger Menschen auszustatten, so daß sie nach
und nach immer mehr die Züge mächtiger menschlicher Persön-
lichkeiten annehmen mußten. Und nun ergab es sich von selbst,
daß man dazu überging, sie in der gleichen Weise zu behandeln
und ihnen in der gleichen Weise gegenüber zu treten, wie dies mit
den Fürsten dieser Welt geschah. Der Gedanke, daß man einen
Fürsten durchGeschenkezumWohlwollen veranlassen kann, führte
zur Sitte der Opfer, die Gewohnheit durch lobende Reden die
Mächtigen der Erde für sich zu gewinnen, führte zur Darbringung
von Lobgesängen und Preisreden für die Götter. Aber noch mehr!
War nicht der beste Weg, um sich das Wohlwollen eines Fürsten
zu verschaffen, der, daß man sich nach seinen Wünschen richtete
und nach seinen Geboten handelte? Man war gewöhnt, daß anderen
Falles Strafe oder Rache die Folge war. Hatte man nun einmal die
Götter sich als Personen vorzustellen begonnen, so war es nahe-
liegend, daß auch sie in gleicher Weise sich verhalten würden. Da
es aber vielfach nicht möglich war, sie direkt über ihre Gebote zu
befragen, so mußte man sich darauf beschränken, aus ihrem Ver-
halten Rückschlüsse zu ziehen, auf das, was sie wünschten und
wollten. Wenn man also unter dem Gesichtspunkte, im Sinne der
Götter zu handeln, etwas tat, etwas bezweckte, und alsbald traf
einem ein Unglück, oder der Zweck wurde nicht erreicht, was lag
da näher, als zu schließen, daß die Götter durch jenes Unglück,
durch jenen Mißerfolg zeigen wollten, daß die Handlung nicht in
ihrem Willen lag, gegen ihre Gebote verstieß? Sehr bald wurden
daher Handlungen und Verhaltungsweisen, welche erfahrungs-
51 . *•
Der Gottes begriff
gemäß von Mißerfolg und Unglück gefolgt waren, als solche
betrachtet, die gegen den Willen der Götter verstießen. Nun war
es natürlich zunächst die Tradition, welche derartige Erfahrungen
von Generation zu Generation weitergab. Bei der großen Wichtig-
keit derartiger Erfahrungen für die Selbsterhaltung des einzel-
nen oder eines Volkes war es klar, daß dieser Tradition große Be-
deutung beigemessen wurde, daß man alle Mittel verwandte, um
sie mit dem Empfinden der Verehrung und Scheu zu verknüpfen,
und sie so den jüngeren Gliedern der sozialen Gemeinschaft tiefer
einzuprägen. Sicher waren natürlich die ältesten Männer des Stam-
mes diejenigen, welche am meisten derartige Erfahrungen in ihrem
Gedächtnis aufgespeichert hatten, sie wurden daher die Ratgeber
für die Jüngeren, für die Schwächeren, Schwankenden, sie wurden
die Lehrer der Jugend. Unter den Jungen aber mag gar leicht der
eine oder der andere eine besondere Begabung bewiesen haben,
diese Dinge zu behalten, ihnen nachzuleben, und sie anderen in
eindrucksvoller Form weiterzugeben. Solche mögen dann die Alten
besonders herangezogen, ihnen ihre besondere Sorgfalt zugewendet
haben. So bekam die alte Weisheit junge Adepten, und wir finden
hier den Ursprung der Priestergemeinschaften, die durch Heran-
ziehung begabter jugendlicher Elemente sich stets neues Blut zu-
führten. In solchen Priestergemeinschaften wurden dann die alten
Erfahrungen des Stammes hochgehalte'n und weitergegeben. Die
ungeheure Wichtigkeit solcher Priesterpersönlichkeiten für die
Stammeserhaltung leuchtete auch dem Beschränkten so unmittel-
bar ein, daß es vielfach Sitte wurde, ihnen die Arbeit des eigenen
ökonomischen Lebenskampfes abzunehmen und sie von Stammes-
wegen zu erhalten. In diesen Priestergemeinschaften nun wurden
die ahen Göttervorstellungen weiter tradiert, man hatte eine Reihe
von Mitteln im Laufe der Erfahrung gewonnen, von denen man
52
Der Gottes begriff
überzeugt war, mit ihnen eine besonders günstige Wirkung auf die
Götter erzielen zu können, man hatte auf Grund der seit alten
Tagen gesammelten Stammeserfahrungen eine Vorstellung davon
bekommen, „was die Götter wollten", d. h. welches Verhalten den
Göttern angenehm war und welches von Unglück und Mißerfolg
gefolgt war.
So finden wir denn jene zweite Seite des Gottesbegriffes allmäh-
lich sich herausarbeiten, welche darin besteht, daß die Menschen
in bestimmten Handlungen Erfolg zu haben wünschen und Miß-
erfolg als Unglück betrachten, daß sie Schmerzen und Not zu
vermeiden wünschen, hingegen Glück und gutes Leben herbei-
zuführen suchen, und daß sie auf Grund des oben entwickelten
Gedankenganges das Angenehme als Belohnung der Götter,
das Unangenehme und Schmerzliche aber als Strafe von ihnen
ansehen.
Sicherlich spielten bei der Schaffung gewisser historischer For-
men des Gottesbegriffes sehr wesentlich auch mehr oder weniger
unbewußte Gemütsbedürfnisse mit (welche z. T. neuerdings Freud
und seine Schüler zum Gegenstande von Untersuchungen gemacht
haben). Doch sind diese für unsere vorliegende Überlegung ohne
Belang, denn wenn auch frühere Menschen sich durch solche Ge-
fühle bei der Schaffung ihres Gottesbegriffes leiten ließen, so kann
das niemals uns der Aufgabe entheben, auch denkend und unab-
hängig von allen Gefühlen uns mit dem tiefsten Grunde des Seins
und unserer Stellung zu ihm auseinanderzusetzen.
Wir wollen diese beiden konstituierenden Seiten des Gottesbe-
griffes einmal als die kausale, das anderemal als die ethische be-
zeichnen und auseinanderhalten, wenn auch die letztere nicht ohne
die erstere denkbar ist.
Einstweilen aber wollen wir uns von der geschichtlichen Betrach-
53
Der Gottes begriff
tung abwenden, und nachdem wir die wesentlichsten Seiten, welche
für den Gottesbegriff in Betracht kommen, uns klar gemacht haben,
uns der Auswertung der Überlegungen des vorigen Kapitels in
dieser Richtung zuwenden.
54
§ 2. Die kausale Seite des Gottesbegriffes.
Wir haben im vorigen Paragraphen zwei Seiten des Gottesbe-
griffes besonders hervorgehoben: die kausale und die ethische
Seite. Es sind dies diejenigen Seiten dieses Begriffes, die einerseits
dem Erkennen, andererseits dem Handeln gegenüber zur Wirksam-
keit kommen. Mit diesen beiden Seiten ist aber auch die Bedeutung
des Begriffes bereits voll gekennzeichnet, denn was konnte außer
dem Verstehen des Geschehens und dessen Einfluß auf seine Hand-
lungen für den Menschen von Wichtigkeit sein?
Haben wir aber vorhin uns mit der Rolle beschäftigt, die der
Gottesbegriff in seinen beiden Auswirkungen bei den Alten spielte,
so wollen wir jetzt umgekehrt auch fragen: Wie stehen denn wir
selbst zu jenen beiden Fragen : der Frage nach der kausalen Er-
klärung des Geschehens in unserer Welt und der Frage, wie wir
unser Handeln einrichten sollen. Haben auch wir die Möglichkeit,
die Antwort auf diese wichtigsten Fragen unseres Daseins mit
einem Worte zu geben, mit jenem unausschöpfbaren und unum-
schreibbaren Worte, mit dem unsere Vorfahren diese Fragen be-
antworteten, mit dem Worte „Gott"? Sicher ist, daß beide Fragen
auch uns noch Probleme bedeuten. Eine Antwort darauf zu finden,
wird das Bemühen des folgenden sein. Hier aber seien zunächst
lediglich für die Frage nach dem Kausalzentrum die philosophischen
Erkenntnisse zur Behandlung herangezogen, die wir im vorigen
Kapitel in ihren wichtigsten Linien umrissen haben.
Wir sahen dort, daß es jedesmal nur darauf ankommt, eine ge-
55
Die kausale Seite des Gottesbegr iff e s
nügende Spanne Zeit zur Verfügung zu stellen, um jedes konkrete
Problem, das sich auf irgendwelche Verhältnisse der Wirklichkeit
bezieht, zu lösen, jeden Vorgang der Wirklichkeit wissenschaftlich,
d. h. kausal zu erklären. Dies ist sozusagen die Theorie.
Aber wenn wir auch sicher sind, daß jeder Vorgang einmal seine
wissenschaftliche Erklärung finden wird, so kann dies uns doch
dann nur ein schwacher Trost sein, wenn wir gezwungen sind, uns
im praktischen Leben mit dem Vorgang auseinanderzusetzen. Die
Theorie kann warten, das praktische Leben aber wartet nicht. Hier
heißt es Entschlüsse fassen, handeln oder den Schaden tragen.
Und gerade aber das praktische Leben hat allzumeist mit Vor-
gängen zu tun, welche sehr weit davon entfernt sind, bereits
wissenschaftlich voll erklärbar und beherrschbar zu sein. Schon
der Verkehr mit unseren Nebenmenschen bringt uns fast fortwäh-
rend in die Lage, ohne exaktwissenschaftliche Gegenzeichnung
handeln zu müssen. Und wenn wir auch genau wissen, daß keiner-
lei Schranken existieren, welche der wissenschaftlichen Erklärbar-
keit gesetzt sind, so wissen wir doch ebenso genau, daß selbst un-
sere fernsten Enkel sich immer noch in der gleichen Lage mit uns
befinden werden, denn wenn auch die Wissenschaft fortschreitet,
so wird doch der Mensch und dessen Geistesleben insbesondere,
in weiterem Sinne auch alle Lebewesen, und sogar mit wachsender
Beobachtungsgenauigkeit jeder Gegenstand bis in alle Ewigkeit
wieder neue Vorgänge darbieten, welche noch nicht erklärbar sind.
Treten uns also im täghchen Leben solche Vorgänge entgegen,
welche nicht schon wissenschaftlich geklärt sind, und wir sahen
eben, daß dies in überreichem Maße der Fall ist, dann können
wir also nicht auf unsere wissenschaftlichen Kenntnisse und auf
bekannte wissenschaftliche Lehrsätze rekurrieren, sondern dann
sind wir auf andere Fähigkeiten angewiesen, auf Handlungsweisen,
56
Die kausale Seite des Gottesbegri ff e s
die noch nicht logisch zerghedert sind, auf „unmittelbares Han-
deln". Denken wir an unser Verhalten in einer schwierigen Situa-
tion, in einer Lage, wo von unserem Verhalten gegen einen anderen
Menschen vielleicht unser Leben abhängt. Da handeln wir nicht
aus wissenschaftlich-theoretischen Prinzipien, sondern aus der
Fülle unserer Innern, meist fast unbewußten Erfahrung heraus,
auf Grund vererbter, tiefst im Unbewußten liegender Fähigkeiten.
Zu einem wissenschaftlichen Überlegen gäbe es da gar nicht die
Zeit.
Hier aber, wo die wissenschaftliche detaillierte Kausalität noch
nicht durchgedrungen ist, da wissen wir dennoch, daß nur unsere
menschliche Begrenzung es ist, die uns noch nicht bis zu dieser
vollendeten Durchforschung hat durchdringen lassen, daß jedoch
irgendein absolutes Hindernis, welches die kausale Erklärung irgend
eines bestimmten Vorganges aus seinen Umständen unmöglich
machen würde, nicht existieren kann und nicht existiert.
Somit ergibt sich, daß an die Stelle des alten Kausal-
zentrums der Gottheit heute völlig der allgemeine Kau-
salitätsbegriff getreten ist, d. h. daß jedes Geschehen ledig-
lich aus seinen Umständen zu erklären versucht wird und — wenn
auch erst in späterer Zeit vielleicht — als erklärbar angenommen
werden muß.
Eine Frage wäre hier noch, ob nicht in einer allgemeinen Ziel-
strebigkeit, Entwicklungstendenz des Weltalls eine Kausalität ge-
legen wäre, die nicht unter das allgemeine Kausalgesetz fällt, son-
dern ein besonderes Kausalzentrum vielleicht doch voraussetzt.
Hier ist zu sagen, daß es ebensogut sein kann, daß das Geschehen
des Wehalls überhaupt darin besteht, unsäglich und unaussprech-
bar viele Möglichkeiten durchzumachen. Dies bleibt natürlich an
sich ein scheinbar sinnloses Spiel. Unter diesen Möglichkeiten
57
Die kausale Seite des Gottesbegriffes
werden aber an sich von Zeit zu Zeit immer höhere, kompliziertere
auftreten, als solche, die vorher da waren. Unter diesen vielleicht
einmal solche, welche von dem allgemeinen Geschehen sich so un-
abhängig zu machen verstehen, wie wir Menschen es von uns glau-
ben und hoffen. Und nun wird die Frage sein, wann zum ersten
Male solche Wesen auftreten, denen es gelingt, sich dem allgemei-
nen Weltgeschehen gegenüber zu erhalten. Diese werden dann für
ihren Bereich in steigendem Grade die Lenker des Geschehens
werden können. Doch ein Durchbrechen der allgemeinen Kausali-
tät ist auch damit nicht gegeben. Auch diese Vorgänge müssen
unter die gleiche Erklärungsart fallen, wie alles, was in unserer
Wirklichkeit sich begibt, und damit ist schon ausgesprochen, daß
auch sie nach unseren allgemeinen wissenschaftlichen Erklärungs-
regeln behandelt werden müssen, daß auch sie dem Kausalgesetz
unterworfen sind.
58
§ 3. Die ethische Seite des Gottesbegriffes.
Es ist klar, daß bei einer Höherentwickelung der Menschheit der
Gedanke, die angenommenen Kausalzentren irgendwie zu beein-
flussen, Platz greifen wird, daß der Mensch versuchen wird, auf
diese Weise unangenehme Erscheinungen zu verhindern, an-
genehme herbeizuführen, und damit kommen wir auf die ethische
Seite des Gottesbegriffes.
Mit der Verfeinerung der Kultur wurden natürlich die Wünsche
des einzelnen Menschen in bezug auf das, was ihm in seinem Le-
ben begegnen sollte oder konnte, immer mannigfacher, gingen
immer mehr ins kleine und einzelne, — so daß der Bereich von
Vorkommnissen, der dem Einflüsse der Götter Untertan erschien,
sich immer weiter ausbreitete und ausdehnte. Die Situation liegt
so: Der Mensch hat seine bestimmten Wünsche und Ziele und
versucht dieselben zu verwirklichen. Es ist ihm klar geworden,
daß dies nicht immer ohne weiteres geschehen kann, sondern daß
in sehr vielen Fällen Umstände in Betracht kommen, welche er
nicht unmittelbar in der Hand hat, von denen aber der Erfolg sei-
nes Strebens abhängt. Er kennt die Umstände teilweise nicht, und
wenn er sie kennt, er kennt nicht ihren Charakter, er kennt nicht
ihre Gesetze, denen sie gehorchen. So wäre er also in vielen Fäl-
len auf eine mehr oder weniger reine Passivität derartigen Um-
ständen gegenüber angewiesen. Aber, und hier hängt unsere Über-
legung mit derjenigen des vorigen Paragraphen zusammen : er
schreibt die seinem Vorhaben günstigen und ungünstigen Um-
59
Die ethische Seite des Gottesbegriffes
stände und ihre Wirkungen irgendwelchen Ursachen zu, und da er
diese Umstände nicht kennt, so schreibt er sie irgendwelchen an-
genommenen Kausalzentren zu. Von diesen nun nimmt er an,
daß sie Persönlichkeiten seien, Götter in irgendwelcher mensch-
licher Vorstellung. Diese nun versucht er in der gleichen Weise zu
behandeln, wie er dies bei mächtigen Mitmenschen gelernt hat.
Dieser Gedankengang ist wohl der Anfang aller Ethik.
Unter diesen Umständen steht also der Mensch vor dem Problem :
Wie muß ich leben, um mir die Gunst meiner Götter zu gewinnen,
so daß diese meinen Zielen kein Hindernis in den Weg legen, son-
dern im Gegenteil meine Ziele fördern? Hier nun entwickelt sich
das Achtgeben auf irgendwelche Vorzeichen, auf Eingebungen,
auf innere und äußere Stimmen usw., welche als Stimmen der Göt-
ter gedeutet werden und dem im unklaren Dunkel über den Willen
der Götter tappenden Menschen sich offenbaren.
Die Frage, wie soll ich handeln? hat natürlich nur dann einen
Sinn, wenn ich ein Ziel habe, welches ich durch mein Handeln er-
reichen will. Welches Ziel war es, welches der Mensch damals er-
strebte? Dies ist nun genau wie heute mit Worten eigentlich gar
nicht zu sagen. Es sind bloß einzelne Teile und einzelne Seiten
dieses Zieles, wenn wir etwa sagen, der Mensch wünschte Ange-
nehmes sich zuzuwenden. Unangenehmes von sich abzuwenden.
Er wünschte sich möglichst viel Glück, vor allem möglichst viel
„Kraft", andererseits möglichste Vermeidung des Unglücks. Ich
wiederhole, daß dies nicht das Endziel wiedergeben soll, sondern
nur gewisse Seiten der menschlichen Grundwünsche, Beispiele
von solchen. Wir wollen, um einen kurzen Ausdruck zu haben,
diese Summe von verschiedenen Wünschen und Strebungen,
welche letzthin das Handeln der Menschen bestimmen, als das
Lebensziel des Menschen bezeichnen, wobei keineswegs gesagt
60
Die ethische Seite des Gottesbegriffes
ist, daß diese irgendwie einheitlicli zu sein braucht. Alles nun, was
dieses Lebensziel förderte, mußte der Mensch als Glück, alles, was
es beeinträchtigte, als Unglück empfinden. Und da nun die Ge-
schehnisse seiner Umwelt, welche sein Lebensziel, sei es fördernd,
sei es störend, beeinflußten, den Göttern als Ursache zugeschrieben
wurden, so ergab sich für ihn ganz von selbst die Frage, wie muß
ich handeln, damit mein Lebensziel möglichst gefördert wird, im
speziellen, wie muß ich mich zu diesem Zweck zu den Göttern
verhalten.
Wir haben damit ganz kurz zu skizzieren versucht, wie wir uns
die historische Entwickelung der ethischen Seite des Gottesbegrif-
fes in ihren ersten Anfängen zu denken haben. Wir wollen die wei-
tere historische Entwickelung zunächst nicht verfolgen, sondern
uns dem Probleme zuwenden, welche Antwort auf Grund der im
vorigen Kapitel dargelegten Erkenntnisse wir selbst wohl auf diese
Frage: „wie sollen wir handeln?" zugeben haben. Offenbar haben
wir hier die Kernfrage aller wirklich religiösen Problemstellungen
vor uns, und damit wohl auch vielleicht die tiefste Frage des Men-
schenlebens überhaupt. Wir werden daher auch naturgemäß ziem-
lich weit ausholen müssen, um ausdrücken zu können, was wir auf
die Frage, wie sollen wir handeln, antworten können.
61
§ 4. Das Lebensziel.
Wir sahen soeben, daß die Frage „wie sollen wir handeln" nur
dann einen Sinn haben kann, wenn wir unserem Handeln einen
mehr oder weniger einheitlichen Zweck, ein Ziel, zuschreiben dürfen,
welches wir entweder uns selbst setzen oder das uns gesetzt wird.
Betrachten wir also die Frage einmal zunächst rein naturwissen-
schaftlich und fragen uns, welche Lebensziele, welches Lebensziel
hat denn der Mensch? Hier ist zunächst zu sagen, daß er dies
wohl im allgemeinen selbst nicht weiß. Wenn wir ganz unvorein-
genommen den Menschen betrachten, dann sehen wir, daß die
letzten Gründe seiner wichtigsten Handlungen unterhalb der Sphäre
der Überlegung liegen. Es wohnt dem Menschen inne ein instink-
tiver Trieb, sich einmal zunächst selbst zu erhalten, dann aber
auch seine Art zu erhalten. Der primitive Mensch macht sich dar-
über keine Gedanken, er lebt, weil es so in ihm liegt, weil es so in
ihn gelegt ist. Und diese Ziele stellt er sich nicht selbst, sondern sie
liegen in ihm, sie sind ihm gestellt. Nun wäre das alles sehr ein-
fach, wenn nicht die beiden genannten Hauptziele gelegentlich
und sogar ziemlich häufig miteinander in Konflikt gerieten. Neh-
men wir nur den Fall der Mutter, welche das Leben ihrer Kinder
bedroht sieht. Sie stellt das Lebensziel der Selbsterhaltung zurück
hinter dem der Arterhaltung und ist in vielen Fällen geneigt, sich
diesem zweiten Ziele zu opfern. Schon dieses einfache Beispiel
lehrt, daß man das Lebensziel des Menschen nicht mit wenigen
Worten aufzeigen kann. Nun sind die beiden genannten Ziele nur
62
Das Lebensziel
die ersten und primitivsten — - und es ist klar, daß bei fortschrei-
tender Komplikation der Kultur die Lebensziele selbst und auch
die Konflikte zwischen den verschiedenen Lebenszielen immer
mannigfaltiger werden, so daß es ganz unmöglich ist, das Lebens-
ziel des Menschen vollständig anzugeben.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist der, daß sehr häufig das große
Lebensziel des Menschen zurücktritt hinter kleineren momentanen
Zielen des täglichen Lebens. Es kann seinem Innern irgendein
Wunsch entspringen, der, sei es, daß er ihm nützlich ist oder daß
er ihm schadet, einmal da ist und vorherrscht. Die Erfüllung dieses
Wunsches wird dann für kürzere oder längere Zeit das Ziel, dem
er zustrebt. Aber es braucht nicht bloß ein Ziel zu sein, es können
gleichzeitig mehrere Ziele sein, die ein Individuum verfolgt, ja, es
wird vorkommen, daß sich ein Mensch gleichzeitig verschiedene
Ziele setzt, die sich einander widersprechen — es hängt das rein
von der ihm gewordenen Begabung und seinem Wissen ab, ob er
erkennt, daß diese Ziele gleichzeitig nicht verfolgbar sind — Haupt-
sache ist für uns, daß er sich diese Ziele setzt.
Wir haben bisher nur von den Zielen gesprochen, die der ein-
zelne sich selbst setzt. Nun kommt aber noch eine sehr wichtige
Quelle von anderen Zielen, nämlich solche Ziele, die dem Men-
schen von außen her gesetzt werden. Wir können sie teilweise auf
die ebengenannte Gruppe zurückführen, wenn wir uns über-
legen, daß, um den Menschen dazu zu bringen, diese Ziele wirk-
lich zu verfolgen, sie ihm so tief eingeprägt werden müssen, als
ob es eigene Ziele wären. Der Weg, um dies zu erreichen, ist die
Beeinflussung des Menschen in geeigneter Weise und wird in der
Pädagogik im weitesten Sinne behandelt. Dort wird gelehrt, wie
es der Gesellschaft gelingt, ihre Ziele dem einzelnen jüngeren
Individuum so einzuprägen, daß es sie für seine eigenen Ziele
63
Das Lebensziel
wählt und ihnen nachgeht, wie wenn sie in seinen eigenen Wün-
schen entstanden wären. Dies gelingt natürlich am besten durch
Anknüpfung an die eigenen inneren Ziele des Menschen.
So sehen wir denn, daß es fast unmöglich ist, bei irgendeimem
Einzelmenschen über ein mehr oder weniger geschlossenes Lebens-
ziel zunächst etwas auszusagen. Es ist klar, wir müssen erst etwas
tiefer dringen, um den Problemen, die sonst unübersehbar ver-
wickelt erscheinen, auf den Grund zu kommen.
64
§ 5. Der Lebensdrang.
Wir wollen uns zunächst einmal überlegen, wie denn wohl die
Lebensziele des Menschen in der Entwickelung historisch ent-
standen sind, und wollen daraus die Möglichkeit schöpfen, einiges
Weitere über dieselben auszusagen.
Wir alle wissen, daß sich im Verlaufe der Erdgeschichte das
Leben aus primitiven Anfängen heraus aufwärts entwickelt hat. Wo
die Anfänge liegen und wo sie zu denken sind, das wissen wir
nicht, es ist dies auch für unser momentanes Problem durchaus
belanglos. Sicher können wir jedoch das sagen, daß Tendenzen
vorhanden waren, welche bewirkten, daß vorhandene Formen des
Lebens immer mannigfaltiger wurden, daß sie in ihren Eigen-
schaften immer mehr Differenzierungen aufwiesen und daß inner-
halb gewisser, sei es engerer, sei es weiterer Gebiete heftige Kon-
kurrenzkämpfe um die Möglichkeit der Existenz stattfanden. Als
dann größere Gebiete der Erde, welche geographisch irgendwie
abgegrenzt waren, sich dichter mit Lebewesen zu bevölkern be-
gannen, da mußte notwendigerweise unter diesen der Kampf ums
Dasein ein immer heftigerer werden. Andererseits war es durchaus
möglich, daß innerhalb der innersten Konstitution der vorhandenen
Lebewesen Tendenzen bestimmter Entwickelungsrichtung vorhan-
den waren. So kommen wir denn zur Unterscheidung von zwei
Gruppen von Entwickelungstendenzen, die, wie man leicht sieht,
sich nach logischen Regeln derart ergänzen, daß sie die Gesamt-
heit aller überhaupt möglichen Fälle umfassen:
65 5
Der Lebens drang
1. Wir unterscheiden zunächst die im Innern der vorhandenen
Organismen liegenden Entwickelungstendenzen, welche sich aus-
zuwirken streben,
2. wir unterscheiden andererseits die äußeren Entwickelungs-
tendenzen, sowohl die, welche entstehen durch die an der be-
treffenden Stelle gegebenen äußeren geologischen und klimatolo-
gischen Umstände, als die, welche entstehen aus der Konkur-
renz unter Einwirkung der übrigen Lebewesen des betreffenden
Bereiches.
Da jede neue Generation von Lebewesen sich mit den beiden
genannten Gruppen von Umständen auseinanderzusetzen hat und
durch sie beeinflußt wird, so liegt deren Einwirkung auf die Ge-
staltung der Lebewesen auf der Hand. Wir brauchen, um das zu
sehen, nicht einmal auf die von der Wissenschaft wieder erschlos-
senen Vorgänge früherer Erdperioden zurückzugreifen, es genügt,
wenn wir die Menschheitsgeschichte der letzten tausend Jahre an
uns vorüberziehen lassen. Auch an dieser ist das Gesagte klar zu
erkennen.
Denken wir uns nun in unserer jetzigen Zeit die Erde dicht mit
Menschen bevölkert, welche den endgültigen Sieg über alle Lebe-
wesen im wesentlichen davongetragen haben, so werden sich die
Überlegungen, welche wir soeben auf Lebewesen früherer Erdperi-
oden anwandten, unmittelbar auf die Gesamtheit der Menschen an-
wenden lassen. Auch hier haben wir durch den Lebenskampf, das
gegenseitige Drängen und Stoßen den Zwang, bestimmte Eigen-
schaften zu fördern, andere zu unterdrücken, und haben so eine ge-
wisse Zielstrebigkeit der Entwickelung des Ganzen, sowie auch wie-
derum gewisser geographisch abgeschlossener Teilgebiete in sich.
In dieser Weise betrachtet, stellt die Gesamtmenschheit, oder
auch die eines Volkes oder abgeschlossenen Gebietes, eine Art
66
Der Lebens drang
von mechanischen Gleichgewichtssystems dar, wo sich die Kräfte
auszugleichen suchen, und irgendeine übermäßige Kraft sich so-
lange auswirkt, bis sie eine genügend starke Gegenkraft gefunden
hat, die das Gleichgewicht wiederum herstellt. Es ist klar, daß sich
aus diesem Zustande ganz bestimmte Möglichkeiten und Zwänge
für die einzelnen Teile eines solchen Systems ergeben, denen eben
ein solcher Teil mehr oder weniger ohnmächtig gegenübersteht,
denen er folgen muß, will er nicht irgendwie durch überragende
Kräfte zerstört werden. Diese Kräfte sind überpersönlicher Natur
und unterstehen somit im großen und ganzen nicht irgendwelcher
denkender und handelnder Kontrolle von Seiten bewußter Teile der
Menschheit. Sie machen sich also als aufgezwungene, nicht selbst-
gesetzte Ziele geltend, und wir wollen sie demgemäß nicht als Ziele,
sondern als „Dränge" bezeichnen. Es wird also verständlich sein,
wenn wir sagen, daß innerhalb der Gesamtmenschheit, ebenso wie
auch innerhalb.oder zwischen den Völkern und Staaten oder sonst-
wie abgeschlossenen Gruppen gewisse Entwickelungsdränge vor-
handen sind. Es ergibt sich auch, daß es fast unmöglich ist, die-
selben im einzelnen zu erkennen und auszusprechen, daß sie sich
erst nach längerer Zeit dem historisch zurückblickenden Beschauer
teilweise und in groben Zügen offenbaren.
Nunmehr werden wir auch verstanden werden, wenn wir sagen,
daß während der ganzen Entwickelung des Lebens auf der Welt
derartige Entwickelungsdränge vorhanden waren, nur daß sie den
damaligen Lebewesen, bei denen die gedankliche Nachbildung
der Tatsachen durch die Vernunft nur in einem verschwindend
kleinen Maße vorhanden war, um so viel weniger bekannt und be-
wußt wurden. Diese großen Linien der Entwickelungsrichtung, die
durch den allgemeinen Entwickelungsdrang des Lebens auf der
Erde dargestellt werden, haben sich nun naturgemäß auf das tiefste
67 5«
Der Lebens drang
den Lebewesen selbst eingeprägt. Sind doch diese selbst in ihrem
ganzen Handeln nichts anderes als die Resultanten dieser Ent-
wickelungsdränge, welche sich, wie wir gesehen haben, zusammen-
setzen aus den inneren Entwickelungsdrängen und den äußeren.
Die tiefsten und tiefstgreifenden unter diesen Drängen müssen
also auch im Allertiefsten und Allerletzten dieser Lebewesen und
somit auch der Menschen und der heutigen Menschen fundiert
sein. Sie müssen somit einerseits:
1. im Einzelnen liegen,
2. im Leben ganzer Völker sich geltend machen und
• 3. im Leben der gesamten Menschheit überhaupt. Und da der
Mensch auf der Erde unbestritten zurzeit das höchste und mäch-
tigste der Lebewesen ist, so können wir sagen, daß der Entwicke-
lungsdrang der Menschheit zusammenfällt mit dem derzeitigen
Entwickelungsdrang des Lebens auf der Erde überhaupt, kurz, dem
Lebensdrange auf der Erde.
Diese Lebensdränge im einzelnen, in den Völkern und in der
Menschheit überhaupt bestimmen nun die Lebensziele und Hand-
lungen der Menschen, Sie sind die letzten treibenden Ursachen all
der mannigfaltigen Lebenstätigkeiten, welche das Leben derMensch-
heit auf der Erde ausmachen. Sie sind, wie wir gesehen haben,,
allzumeist unbewußt im einzelnen, fast stets unbewußt in den Völ-
kern, gänzlich unbewußt in der Menschheit. Sie sind die tiefsten
Gründe, welche den Einzelnen, die Völker und die Gesamtheit zu
ihren Handlungen bestimmen.
Und nun gelangen wir zum letzten Schluß, den wir aus dem
Gesagten ziehen können. Wir bedenken folgendes: In all den Vor-
zeiten der Entwickelung haben die Geschehnisse und Bedingungen,
der äußere Entwickelungsdrang, die Individuen geformt, haben
ihnen bis in ihre letzten Tiefen hinein die letzten Tendenzen des
68
Der Lebens drang
Lebensdranges eingeprägtjhaben sie zuResultanten der jahrtausend-
langen Entwickelung werden lassen, so daß sie sozusagen nichts
sind als die Form gewordenen Erinnerungen jener Äonen von
Entwickelungszeiten, die ihre Vorfahren seit den Anfängen des
Lebens auf der Erde durchlaufen haben. Daraus ist klar, daß je
tiefer sie in das eigene Innere hineingreifen, desto näher gelangen
sie an die letzten und ausschlaggebenden Marschlinien der Ent-
wickelung, an die tiefsten Geheimnisse des Werdens und Wachsens
des Lebens, an die letzten Lebensdränge heran. Je weiter sie in
einer ruhigen Stunde das wechselvolle Hin und Her des Alltags
und des kleinen Daseins des Individuums hinter sich lassen, desto
mehr kommen sie den letzten großen Zielen der Art und des
Lebens überhaupt näher. Diese Dinge sind nicht rational faßbar,
nicht in Worten ist es auszusprechen, was da in diesen tiefsten
Lebensgefühlen erlebt wird, es ist das unmittelbare Erleben letzter
Lebensziele und Dränge überhaupt, es ist das Hineinblicken in den
Kampf der Vorväter und in den Drang der entschwundenen Gene-
rationen, deren direkter Nachkomme das Individuum ist. Wir wollen
in einem kurzen Wort diese Erkenntnis festhalten, indem wir sagen:
Je tiefer das Individuum in sein eigenes Innere greift, je weiter es
die kleinen Vorgänge seines individuellen Daseins von sich schiebt,
desto klarer erlebt es die letzten Lebensziele seiner Art und des
Lebens der Erde überhaupt (natürlich nicht in expliziten Vorstel-
lungen, sondern es erlebt Gefühle, welche besonders geeignet sein
müssen, es unbeeinflußt vom Tagesgetriebe auf das Wesentliche
seines Lebens hinzuführen).
Blicken wir jedoch jetzt nach außen! Blicken wir auf die Ent-
wickelung der Völker und der Menschheit im ganzen während
längerer Zeiträume, dann ist es klar, daß wir, je weiter wir diese
Zeiträume wählen, und je tiefer wir in die Geschichte der einzelnen
69
Der Lebens drang
Völker eindringen, daß wir dann desto klarer die tieferen Ent-
wickelungsdränge der Menschheit überhaupt erkennen. Und es ist
andererseits klar, daß diese letzten Endes im wesentlichen die
gleichen sein müssen, die ich in meiner eigenen Brust finde, wenn
ich ihnen in der vorher geschilderten Weise nachgehe. Je weiter
wir die Zeiträume spannen, die wir unserer Betrachtung unter-
werfen, desto tiefer werden die Lebensziele sein, die wir dann er-
kennen können, und wenn wir schUeßlich in der Lage wären, die
Geschichte des Lebens auf Erden von seinen ersten Anfängen ab
bis zu uns herauf in ihren Einzelheiten und ihrem Gang zu studie-
ren, dann würden uns die tiefstmöglichen Lebensdränge aufgehen,
die, wenn sie auch noch nicht die allerletzten sind und sein können,
doch als die markantesten Linien in der Entwickelung des Lebens
auf der Erde sich darstellen.
So haben wir denn jene wunderbare Tatsache der absoluten
Übereinstimmung der äußeren und inneren letzten Lebensdränge
in uns und um uns konstatiert. Wir haben uns damit eine Tatsache
ins Bewußtsein heraufgehoben, die vielen Denkenden, wohl seitdem
es Menschen gibt, unbewußt entgegentrat, die von vielen geahnt
und auszusprechen versucht wurde und die sie mit ehrfurchtsvollen
Schauern erfüllte. Es werden wichtige und tiefgehende Schlüsse
sein, die wir auf sie, nachdem wir sie einmal greifbar vor unseren
Augen und Händen liegen haben, bauen können. Doch davon im
nächsten Abschnitt!
70
IV. Kapitel.
Speziellere religiöse Auswertung.
Die altjüdische Ethik.
§ 1 . Der Gottesgedanke.
Was wir im vorigen Paragraphen aussprachen, das umfaßte die
letzten Gründe unseres Seins, die letzten Tiefen unseres Lebens.
Wir sind dort, wenn auch nur mit stammelnden Worten, vor-
gedrungen bis zu den letzten Kräften, die unser Dasein leiten, unse-
res, das der Völker und der Menschheit im ganzen. Wir sind den
letzten Gründen auf die Spur gekommen, welche die Linien ziehen,
denen wir und die Menschen überhaupt nachwandeln müssen, und
wir haben gefunden, daß wir auf dieses Tiefste und Letzte überall
da stoßen, wo wir zu den ersten Gründen vordringen, sei es außer
uns, sei es in unserer eigenen Brust. Es folgt aus dem, was wir fan-
den, daß, wenn ich nur tief genug in meine eigene Seele steige, ich
unmittelbar direkt diese letzten Gründe zu erleben vermag, die-
selben letzten Gründe, welche ich außer mir als Lenker allen Lebens
verehren muß.
Aber wir können noch weiter gehen. Denken wir daran, daß wir
doch bloß eine dünne lebende Hülle auf der Oberfläche eines Pla-
neten bilden, mit allem Leben auf Erden zusammen, und daß die-
ser Planet nur ein kleines Ding ist, wenn wir ihn betrachten in sei-
71
DerGottesgedanke
nem Zusammenhang mit anderen Welten des Weltenraums, dann
bemerken wir, daß selbst unsere letzten Lebensziele für das ganze
All genommen auch nur ein relativ kleines Teilziel sein können.
Wir müssen zugeben, daß es durchaus möglich ist, daß all dieses
Kämpfen und die Erfolge der Menschen auf Erden sozusagen nur
ein Versuch des Universums sei unter vielen ähnlichen, sich seiner
selbst bewußt zu werden, daß dieser Versuch dahinschwinden und
vergehen könnte, um nach weiteren Äonen besser und dauerhafter
erneuert zu werden. Es wäre schließlich doch möglich, — wenn
ich es auch gefühlsmäßig nicht glauben kann — daß diese ganze
dünne Lebenshülle der Erde vernichtet würde, bevor sie Zeit ge-
funden hätte, Wesen hervorzubringen, die stark und erfindungs-
reich genug sind, um allen irgendwie möglichen Katastrophen,
und seien es selbst Welt-Katastrophen, als Art standzuhalten, um
ihr Sein sogar auch unter Verlust des Planeten, der sie hervor-
gebracht hat, fortzuführen. Sicherlich wird, wenn wir es so aus-
sprechen dürfen, das Universum nicht ruhen, bis es Wesen her-
vorgebracht hat, die sich auch die Sternenwelt unterwerfen. Aber
abgesehen davon, wer sagt uns denn, ob nicht auch in Teilen des
Universums eine Art von Entwicklungstendenz vorhanden ist, ob
nicht einfach im Weltenraum selbst Entwickelungsdränge und Ent-
wickelungslinien vorhanden sind, welche in ähnlicher Weise wie die
Entwickelungslinien auf der Erde die Entwickelungsmöglichkeiten
im Universum vorzeichnen ? Manche neuere Errungenschaften der
anorganischen Chemie möchten solche Gedanken nahe legen. Wer
könnte sozusagen ein letztes Sehnen oder eine Entwickelung des
Seienden überhaupt als unmöglich bezeichnen? Und wenn es so
wäre, was durchaus möglich ist, dann müßten wir, die wir doch dem
Universum angehören, in unseren tiefsten Tiefen die Entwicke-
lungslinien spüren, und auch wir würden auf ihnen fortgerissen.
72
Der Gottes gedanke
So finden wir uns denn, wenn wir den Dingen auf den Grund
gehen, Tendenzen und inneren Erfahrungen gegenüber, vor de-
nen Generationen von Menschen nur sind wie die Glieder einer
langen Kette und wie Stufen einer Leiter, wie ein Gras, das doch
bald welk wird nach den Worten des Psalmisten; Tendenzen
und Erfahrungen, mit denen wir so untrennbar verknüpft sind,
daß wir sie nicht besser erleben können, als wenn wir in unser
eigenes tiefstes Innere hinabsteigen; Tendenzen und Erfah-
rungen, die auch von außen unwiderstehbar uns Lebensziele
setzen, und mit sanftem, aber unbeugsamen Zwange unsere Lebens-
straße uns in großen Linien vorzeichnen. Was ist das aber an-
deres, wie soll man es anders nennen in einem kurzen Wort als
„Gott"?
Es ist der gleiche „Gott", den unsere Vorväter auf intuitivem
Wege in ihrem Herzen fanden und den sie in dem Leben der Na-
tur zu erkennen glaubten, allerdings war es nur ein instinktives,
ein rein phänomenologisches Erkennen, ohne jede Möglichkeit
einer wissenschaftlichen Fundierung, trotz vieler Versuche, die in
dieser Richtung später gemacht wurden.
Es sind die gleichen inneren Erfahrungen, welchen unsere
Vorväter auf ihre Weise mit ihren noch unentwickelteren Erkennt-
nismitteln einen wissenschaftlich naiven und von mannigfachen
Resten früherer primitiverer Auffassungen vermischten Ausdruck
zu geben versucht haben, als sie ihre religiösen Erlebnisse auf-
zeichneten. Wir werden Gelegenheit haben, uns zu überzeugen,
daß gar vieles von dem, was sie niederschrieben und was gar
manchen jetzt als kindisch und längst überwunden erscheint, nichts
anderes ist als der naive Ausdruck für Dinge, welche wir bei tiefe-
rem Forschen mit unseren modernen wissenschaftlichen und
philosophischen Methoden, ihrem Wesen nach in ganz ähnlicher
7a
Der Gottes gedanke
Weise wiederfinden — nur daß wir sie jetzt in gereinigter und
wissenschaftlich begründeter Form vor uns sehen, wo sie zwar
jegliche Art von abergläubischer Mystik, die ihnen anhaftete, nichts
dagegen von ihrer Erhabenheit verloren haben. Wir würden aber
wohl vergebens versuchen, sie in der gleichen grandiosen Einfach-
heit und Ursprünglichk'eit der Empfindung darzustellen, wie es
denjenigen gelang, die sie zuerst gesehen, und in sich bewußt er-
lebt haben.
74
§ 2. Die Wirksamkeit des Gottesbegriffes.
Wie wirkt nun dieser „Gott", den wir zu ahnen versucht haben,
in unserem Leben? Er wirkt in uns und wirkt um uns. In unserem
Innern leitet er unsere tiefsten und letzten Entschließungen, wenn
wir ihm nur Gehör geben, denn im Innern leiten uns eben die tiefst-
liegenden Kräfte, unseres Volkes, der Menschheit und des Lebens,
und kommen da zur Wirkung, wo die denkende, rechnende Ver-
nunft aufhört. Im Äußern aber wirkt er durch die allgemeinen
Lebensdränge, denen wir alle unterliegen und die uns und alle auf
Bahnen führen, die wir nicht vorschreiben können.
Alle diese Dinge sind, wie immer wieder gesagt werden muß,
nicht in exaktwissenschaftlicher Form völlig ausdrückbar. Eben
weil sie sich mit den tiefsten Quellen des Daseins beschäftigen,
d. h. mit jenen Teilen unserer Gesamtwelt, welche die komplizier-
testen sind und in denen deshalb unser eigentlich praktisches Leben
verankert ist, während die erklärendeWissenschaft sozusagen vom
anderen Ende aus sich nachzuarbeiten bemüht. Wenn wir es trotz
dieser Schwierigkeiten unternehmen, etwas darüber zu sagen und
sogar Begriffe usw. zu bilden, so können wir dies nur aus der Er-
kenntnis heraus, daß diese verwickeltsten Probleme sozusagen
„Durchschnittsprobleme" sind. Betrachten wir diesen Aus-
druck näher. Wenn wir gesagt haben, daß die Lebensdränge der
Entwickelung des Lebens auf der Erde und der Menschheit gewisse
Entwickelungslinien vorschreiben, so sind diese Entwickelungs-
linien keineswegs leicht zu erkennen oder gar auf der Hand liegend.
75
D i eW i r k s a m k e i t des Gottesbegriffes
Ebenso, wie man aus einer spontanen Handlung eines Menschen
noch nicht dessen Lebensziel ableiten kann, so kann man nicht
aus dem Lebensgange eines Menschen oder auch nur einer Gene-
ration oder eines Volkes die Entwickelungslinien der Menschheit
ableiten.
Deshalb dürfen wir aber an der Bedeutung dieser Dinge für unser
persönliches Leben und für unsern Alltag nicht irre werden.
Wie sehr wir innerlich vom Tiefsten in uns bestimmt werden,
zeigt uns eine kleine Überlegung. Ein Mensch von scheinbar über-
großem ethischem Wollen, der sich vornähme, vor einer Handlung
sämtliche Umstände und Folgen in Betracht zu ziehen, käme über-
haupt nie zum Handeln. Solcher zu überlegender Umstände und
Folgen gibt es um so mehr, je sorgfältiger man sein v.äll. Will man
gar Vollständigkeit in dieser Hinsicht erstreben, so sind es ihrer un-
endlich viele, und die Zeit, die man nötig hätte, sie alle durch-
zudenken, wäre unendlich lang. Zu allem Überfluß bleibt die Welt
während meiner Überlegung nicht stehen, sondern produziert im-
mer neue Umstände, die in Erwägung gezogen werden müssen,
so daß nie ein Ende abzusehen wäre. Wir kommen also zu dem
Schluß, daß keine Handlung auf alle ihre Folgen hin überlegt wer-
den kann, irgendwo muß ich mit dieser Überlegung abbrechen,
wenn ich überhaupt handeln will, irgendwo also muß ich die Art
meiner Handlung meinem „Gefühl", meinem „Instinkt" überlassen.
Irgendwie wurzelt also jede, auch die scheinbar überlegteste Hand-
lung im Irrationalen (und wenn das Irrationale nur darin liegt,
welche Gründe die Seele als beachtbar wertet).
Damit aber zeigt sich, daß letzten Endes unsere Handlungen
ausschlaggebend aus dem sogenannten Unbewußten heraus bei
uns bestimmt werden. Irgendwie hängen sie alle zusammen mit
unseren letzten, innersten Lebenstendenzen, von denen die tiefsten
76
Die Wirksamkeit des Gottesbegriffes
nicht nur uns angeboren, sondern Erbgut von vielen Generationen,
zuletzt Erbgut des Menschengeschlechts und des Lebens überhaupt
sind. So ist es doch immer wieder das überpersönliche Prinzip, Gott
in und um uns, der unsre Handlungen und damit unser eignes
Leben lenkt.
Daraus aber ergibt sich als wichtige Konsequenz für unser Han-
deln, als ethisches Grundgesetz : Will ich im Sinne meiner tiefsten
Lebensziele, will ich also im Sinne Gottes handeln, so tue ich dies
um so mehr, je mehr ich von innen heraus handle, je mehr ich in
ruhiger Übereinstimmung bin und handle mit meinem innersten
Kerne.
Auch dies Gesetz hat jene charakteristische Note, welche wir aus-
drücken können mit dem Worte: auch dies ist ein „Durchschnitts-
gesetz". Wann bin ich in Übereinstimmung mit meinem innersten
Kern? Ich bin es einmal mehr und einmal weniger. Sicher aber
bin ich es nicht, wenn ich mich durch Erregungen und Leiden-
schaften auf Grund spontaner Erlebnisse bestimmen lasse. Zorn,
Haß, Neid und Eifersucht, diese können nicht meinen innersten
Kern bilden, denn sie alle sind oberflächliche Wogen der Seele,
von den Stürmen des Alltags aufgerührt. Nicht aber werden durch
sie jene Tiefen berührt, welche jenseits aller Tagesprobleme liegen
und welche sich die Generationen einander weiterreichen. Aus
diesen Tiefen aber soll unser Leben fließen, dann fließt es aus Gott,
den Zielen, die uns hieraus sich aufdrängen, sollen wir nachstreben,
dann arbeiten wir im Sinne Gottes.
Was das aber für Ziele seien, die so erlebt werden, dies ist im
einzelnen nicht möglich auszusprechen. Was die uns innewohnen-
den Lebensdränge wollen, das läßt sich in dürren Worten nicht
sagen. Es läßt sich „leben", aberjederVersuch einer Formulierung
bleibt unvollständig und einseitig. Natürlich muß es immer wieder
77
DieWirksamkelt des Gottesbegriffes
versucht werden, und jede Generation hat ihre Dichter und Führer,
welche versuchen es auszusprechen und welche auch den vielen,
welche keine Zeit und keine Kraft haben, über diese Dinge nach-
zudenken, zu einem bewußteren Leben und Streben verhelfen
wollen, — aber ausschöpfen läßt es sich nie. Jede Generation, je-
des Volk, ja jeder einzelne muß sich von neuem mit Gott aus-
einandersetzen und, so gut es eben geht, ihn seinem Bewußtsein
zu eigen zu machen und möglichst viel Kraft aus ihm zu schöpfen
suchen, aber dies kann niemals ein für allemal geschehen. Dieser
Gott in uns und um uns wird selbst erst im Laufe der Entwickelung
immer tiefer erkannt, lebt sich in sich selbst erst immer tiefer aus.
So ringen die Menschen, auch das Innerste ihres Seins in Worte
zu fassen, so versuchen sie in immer erneutem Streben, auch ihr
letztes Wollen zu formuheren. Dies ist der Sinn der geistigen Kul-
turgeschichte, dies ist deren niemals vollendete und immer wieder
sich neu gebärende hohe Aufgabe. Aber ethisch betrachtet sind
alle diese Bemühungen nur immer neue Schalen um einen inner-
sten Kern, den wir in unserem Sinne andeuten mit den Worten
„von innen heraus leben und handeln."
78
§ 3. Ethische Begriff sbildung.
Wenn man unseren ganzen bisherigen Gedankengang so über-
denkt, so erkennt man, daß es eigentlich letzten Endes in exakter
wissenschaftHcher Form fast noch unaussprechbare Dinge sind,
von denen wir reden. Dies ist auch unmittelbar verständlich, denn
nach den Darlegungen des ersten Kapitels bewegen wir uns ja ge-
rade in dem Gebiet, welches der exakten Wissenschaft im einzelnen
noch nicht zugänglich ist, und somit auch noch nicht im einzelnen
deren Begriffen. So sind wir denn darauf angewiesen, eine beson-
dere Begriffsbildung hier einzuführen, und es ist klar, daß es wieder-
um „Durchschnittsbegriffe" sein werden, zu denen wir hier greifen
müssen; so werden wir diejenige Sprache erhalten, die notwendig
ist, um uns einerseits verständlich zu machen, andererseits aber
doch diejenige Strenge des Denkens beizubehalten, die auf diesem
Gebiet besonders nötig ist.
Eine methodische Bemerkung sei es erlaubt hier einzuflechten.
Wenn wir sagen, wir wollen „Durchschnittsbegriffe" bilden, so ist
damit nicht gesagt, daß diese Begriffe deshalb irgendwie weniger
exakt und deshalb etwa weniger wert seien, als die Begriffe der
exakten Wissenschaften. Was wir vorstehend betonten, war nur,
daß wir die Begriffe der bestehenden exakten Wissenschaften nicht
selbst (also z. B. die Begriffe der Geometrie, theoretischen Physik
usw.) hier anwenden können, die Art unserer Begriffsbildung ist
jedoch eine durchaus exakte in dem Sinne, als sie die gleiche ist
wie in vielen wohldurchforschten Teilen der Naturwissenschaften.
79
Ethische Begriffsbildung
So wird z. B. die Erde als Kugel bezeichnet, trotz aller Erhebungen,
Vertiefungen und Abplattungen, diesie aufweist. In ihrer „durch-
schnittUchen" Form ist sie eben eine Kugel. Diese Art, eine große
Menge widersprechender Erscheinungen durch einen „durchschnitt-
lichen Begriff" in erster Annäherung einmal auf einen Ausdruck
zu bringen, nennt man auch Idealisierung. Durch Idealisierung
dieses Wirrwarrs von Erscheinungen also erhalten wir zunächst
einmal übersichtliche Verhältnisse und damit auch die Möglichkeit
zu ebensolchen Begriffsbildungen. Von dieser Art aber sind auch
die Begriffsbildungen, die wir im folgenden auf unserem besonders
komplizierten Gebiete vornehmen werden.
Geht man in dieser Weise vor, so bemerkt man etwas sehr Eigen-
artiges. Sucht man nach Worten für die Vorgänge und Einsichten,
die uns beschäftigen, so drängt sich einem immer wieder eine
Sprache, eine Begriffsbildung auf die Lippen, die uns in gewissem
Sinn von frühester Jugend auf bekannt und geläufig ist. Es sind die
uralten ethischen Begriffe, wie sie sich im Verlaufe einer sicherlich
vielhundertjährigen Entwicklung unter den Händen der altjüdischen
Priester und Propheten herausgebildet haben. Es sind diejenigen
Begriffe, welche mit am klarsten in jener klassischen Sammlung
alter religiöser Gesänge, die wir als die „Psalmen" zu bezeichnen
pflegen, zutage treten. Die nächste Aufgabe unserer weiteren Über-
legungen wird es sein müssen, dieses eigentümliche Verhältnis
eingehendst nachzuweisen und zu begründen, zugleich aber wer-
den wir damit von selbst Gelegenheit zur weiteren Vertiefung un-
serer Gedankengänge haben.
Es wird sich zeigen, daß die Resultate, welche die modernsten
erkenntnistheoretischen Forschungen unserer Zeit uns über die
letzten ethischen und religiösen Fragen auszusprechen erlauben,
sich unmittelbar aussprechen lassen in der alten ethischen Sprache,
80
Ethische Begriffsbtldang
die wir eben genannt haben. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß
den Schöpfern dieser Sprache die Dinge in der Weise durchsichtig
gewesen seien, wie sie es uns heute sind, und daß sie etwa auf Grund
dieser Kenntnisse diese Sprache gefunden hätten — nein, das Ver-
hältnis ist ein anderes und ein für beide Seiten viel ehrenvolleres.
Die alten Priester fanden ihre Sprache einfach aus einer tiefen
traditionellenLebenserkenntnis und Lebenserfahrung heraus,welche
in ethischer Beziehung offenbar tiefer war als bei irgendwelcher
anderenMenschengruppe und zwar sozusagen auf rein empirischem
Wege, ohne irgendwelche Theorie. Wir können uns hier nicht mit
der überaus reizvollen Aufgabe beschäftigen, die allmähliche Ent-
wickelung dieser ethischen Begriffe im Laufe der früheren vorzeit-
lichen und altgeschichtlichenMenschheitsentwicklungdarzustellen.
Wir benützen nur die Tatsache, die wir aus den Quellen entnehmen,
daß diese Sprache erfunden und geschaffen wurde. Wenn wir
heute in der Lage sind, festzustellen, daß unsere Einsichten in diese
ethischen Fragen sich zum mindesten in erster Annäherung genau
in jener alten Sprache aussprechen und darstellen lassen, so zeigt
das, mit welcher Schärfe die alten Schöpfer in die tatsächlichen
Verhältnisse rein empirisch auf Grund der Erfahrung von Gene-
rationen einen induktiven Einblick zu gewinnen vermochten. Natur-
gemäß sind es nur die Hauptlinien der Gesamtverhältnisse, welche
so dargestellt werden, aber diese werden es auch restlos und mit
völliger Genauigkeit. Wollen wir uns dazu bequemen, das ganze
Gebiet der Dinge, welche das praktische Leben beherrschen, welche
noch nicht von den exakten Wissenschaften erreicht werden konn-
ten, und welche ja allein den Gegenstand unserer jetzigen Über-
legungen bilden, als das Gebiet des Irrationalen zu bezeichnen, so
können wir aussprechen, daß die alten griechischen Weisen, die
Philosophie des Rationalen, die altjüdischen Priester, die Philo-
81 6
Ethische Begriffsbildung
Sophie des Irrationalen erfunden haben und daß es sich für den
Fortschritt der Menschen um eine Vereinigung beider Errungen-
schaften handeln muß.
In den Psalmen also finden wir die einfachsten und klarsten Be-
griffe, die sich auf das Handeln des Menschen, sich selbst und sei~-
nen Mitmenschen gegenüber, und zwar auf das verantwortliche
Handeln, das sogen, ethische Handeln beziehen und da diese Ge-
sänge in ihrem ältesten Kern sicher weit in vorexilische Zeiten
der jüdischen Geschichte, d. h. mindestens vor 600 v. Chr. zurück-
gehen, so sehen wir, welch uraltes Erkenntnisgut wir dabei vor
uns haben. Immer wieder haben religiöse Denker aller Kulturvölker
seit jenen Zeiten aus diesem Borne geschöpft, und bis heute sind
diese Begriffe auch im täglichen Leben, ohne daß wir es merken,
dauernd für uns maßgebend geblieben. Dabei ist es von hohem In-
teresse, wie bei den beiden schöpferischen Hauptvölkern des medi-
terranen Altertums, Juden und Griechen, ihre klassische Zeit unge-
fähr in der gleichen Epoche zustande kam.
82
§ 4. Die Zweiteilung der Handlangen.
Die Ethik der Psalmen ist aufgebaut auf einer grundlegenden
Unterscheidung : der zwischen Gut und Böse. Diese Zweiteilung der
Handlungen spiegelt sich wider in einer großen Menge von Pa-
rallelbegriffen hierzu. Der guten Handlung steht die böse Handlung,
die Sünde gegenüber. Die gute Handlung ist Gott wohlgefällig,
er fördert, wünscht und belohnt sie, die böse Handlung ist gegen
Gott gerichtet, es empfindet sie als feindlich, hemmt, verbietet und
bestraft sie. Der Ausüber der guten Handlung ist der Gerechte,
Gottes Knecht und Kind, der Verüber der bösen Handlung hingegen
ist der Ungerechte, der Sünder, der Feind Gottes, der „Narr", wie
Luther das hebräische Wort racha übersetzt.
Dieser Gegensatz, daß der Gerechte recht handelt, und er belohnt
wird, Erfolg ihm blüht, und daß der Ungerechte, der Narr sündigt,
bestraft wird, Mißerfolg erntet, er ist der Grundakkord, der uns
immer wieder aus den Psalmen entgegenklingt.
Eine ganz analoge Zweiteilung der Handlungen aber ergibt sich
aus den Übedegungen, die wir im Vorhergehenden angestellt
haben, und daß diese Zweiteilung zu derjenigen der Psalmen eine
nähere Verwandtschaft hat als die einer rein formalen Analogie,
daß vielmehr beide Einteilungen ihrem Sinne nach völlig überein-
stimmen, dies werden wir im weiteren zeigen. Wir können uns etwa
so ausdrücken: Wir sahen, daß der einzelne wie alles Lebendige
gewissen Lebensdrängen Untertan ist, welche ihm in gewissem
Sinne seinen Weg vorschreiben ; wir sahen daß diese Lebensdränge,
83 6*
Die Zweiteilung der Handlungen
deren Gesamtheit in und um uns wir als Gott bezeichneten, über-
aus gewaltig auf das Leben jedes Menschen wirken, so sehr, daß
wir mit all unserem Sein sozusagen nichts anderes sind, als das
formgewordene Resultat dieser Kräfte^ Und damit teilen sich un-
sere Handlungen in solche, die aus unseren innersten Tiefen her-
vorquellend in Richtung der allgemeinen Lebensdränge liegen, und
solche, die etwa aus oberflächlichen und momentanen Erregungen
geboren im Gegensatze zu diesen Lebensdrängen, zu Gott stehen.
Es ist klar, daß erstere, da sie die ganze Macht der Entwickelungs-
kräfte hinter sich haben, im allgemeinen die Wahrscheinlichkeit
des Erfolges ihr eigen nennen können. Andererseits werden Hand-
lungen letzterer Art, welche die große Gewalt jener unnennbaren
Kräfte gegen sich haben, die sich mit elementarer Wucht auf den
Bahnen der Entwickelung bewegen, zum Mißerfolg, zum Scheitern
verurteilt sein.
Es zeigt sich somit, daß wir hier eine genaue Analogie zu den
genannten ethischen Begriffen der Psalmen vor uns haben. Wie
dort die gute Handlung belohnt wird, so findet hier die Handlung,
die im Sinne der Lebensdränge geschieht, ihren Erfolg. Wie dort
die böse Handlung bestraft wird, so erntet die gegen den Sinn des
Lebens gerichtete Handlung den Mißerfolg. Wie dort liegt die gute
Handlung im Sinne Gottes und ist die böse Handlung gegen ihn
gerichtet.
Diese Formulierung ist aber, das sei sogleich festgehalten, eine
erste Annäherung, ein erster Überschlag über das Geschehen. Viele
neue Fragen tauchen alsbald auf. Gilt diese Einteilung meiner
Handlungen nur für die großen, entscheidenden, folgenreichen
Handlungen oder gilt sie auch für die kleinen, alltäglichen? Und
wie, sehen wir nicht oft im Leben eine gute Handlung von Miß-
' Die Lamarcksche Theorie hat dafür zuerst einiges Verständnis bewiesen.
84
Die Zweiteilung der Handlangen
erfolg und Unglück gefolgt, und umgekehrt die schlechte Handlung
mit Erfolg belohnt? Wie stimmt das mit dem obigen? Hier ist zu-
nächst zu wiederholen, daß die obigen Begriffe Durchschnittsbe-
griffe sind, aber wir wollen es bei dieser Ausflucht nicht beruhen
lassen. Wir wollen den Dingen noch näher auf den Grund gehen.
Hier zunächst nur die Bemerkung, daß auch den alten jüdischen
Priestern diese Fragen viel Nachdenkens bereiteten, worüber wir
gar schöne Zeugnisse besitzen. Wir werden darauf zurückkommen.
85
§ 5. Das Gesetz.
Bevor wir uns aber den wichtigen und schwierigen Problemen
zuwenden, mit welchen wir den vorigen Paragraphen beschlossen,
ist noch eine andere Frage zu beantworten. Wie haben die jüdi-
schen Religionsschöpfer ihre Begriffe von Gut und Böse definiert,
durch welche Kennzeichen haben sie diese Gegenbegriffe charak-
terisiert? „Wohl dem, der nicht . , . tritt auf den Weg der Sünder,
sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn und redet von seinem Ge-
setze Tag und Nacht", so beginnt der erste Psalm, und gibt uns
sogleich die gewünschte Definition. Derjenige, der dem Gesetz
des Herrn folgt, ist der Gerechte, der andere der Sünder. Was aber
ist das Gesetz des Herrn? Das ist die große, entscheidende Frage.
Sobald wir dieses Gesetz genau kennen würden, wäre alle Ethik
bloß eine Sache des guten Willens. Kennen wir es aber, glaubten
die alten Juden, daß sie es kennen?
Wir haben eine Reihe von Stellen, aus denen hervorgeht, daß
auch die Schöpfer der Psalmen nicht glaubten, das Gesetz des
Herrn vollständig zu kennen. „Wer kann merken wie oft er fehlet?
Verzeihe mir die verborgenen Fehler", so singt Psalm 19, Vers 13.
Aber der Herr kennt sein Gesetz, wenn auch wir es nicht kennen.
„Denn unsre Missetaten stellest du vor dich, unsre unerkannte
Sünde ins Licht vor deinem Angesicht" (Psalm 90. 8) ^ Es ist die
feinste Blüte altjüdischen Denkens, die wir hier vor uns haben. Es
ist dies eine Erkenntnis von einer Tiefe und Reinheit, daß wir be-
» Analogen Inhalts ist z. B. die Stelle Hiob 11, Vers 4 bis 7, ebenso Ps. 51, Vers 8.
86
Das G
z
wundernd vor ihr stehen, und es ist charakteristisch, daß sie auf
die Dauer sich im Volke nicht erhalten konnte, sondern in ihrem
tiefsten Sinne verloren ging. Später veräußerlichte sich der Begriff
des Gesetzes in der jüdischen Tradition immer mehr, so daß er
schließlich zusammenfiel mit der Gesamtheit der priesterlichen
Kultvorschriften, welch letztere eben auf Grund jener uralten Er-
kenntnis von der fundamentalen Wichtigkeit des göttlichen Gesetzes
derartige Ausdehnungen annahmen, daß der einzelne sich kaum
mehr frei bewegen konnte, und in fast allen seinen Handlungen
bis ins kleinste festgelegt war. Es ist ja durchaus verständlich, daß
unter dem Druck schwerster Geschicke eine derartige Versteine-
rung der alten Erkenntnisse stattfand, welche sich religionsgeschicht-
lich als ein Rückschritt gegenüber der klassischen Zeit darstellt.
Wenn wir nun versuchen, das, was nach den Resultaten, die wir
in den früheren Abschnitten erhalten haben, den hier genannten
alten Begriffen entspricht, auszusprechen, so finden wir, daß auch
wir es kaum mit besseren, sicher aber nicht mit schöneren Worten
sagen können, als es der Verfasser des ersten Psalmes getan hat.
Wir haben in etwas mehr erklärender Weise das, was die Alten als
das Gesetz des Herrn bezeichneten, vorhin als Entwicklungsdränge
kennen gelernt, und unmittelbar ergibt sich die Parallele zu den alten
Worten, daß wer dem Gesetze des Herrn folgt, daß der blühen
wird wie ein Palmbaum und wer ihm nicht folgt, der wird verdorren
und verweht werden wie Spreu im Winde. Doch wir wollen uns
die Sache nicht zu leicht machen und wollen versuchen, den
Dingen ein wenig ins Detail nachzugehen. Was ist das Gesetz, dem
ich zu gehorchen habe, damit es mir wohlergehe und dessen Ver-
letzung so hart an mir bestraft wird? Es ist das Gesetz des Seins;
aber auch dies ist nur ein Wort, es ist, wie wir gesehen haben, das
Gesetz, das unsere Vorfahren aus der Tiefe unserer Vergangenheit
87
Das Gesetz,
heraufgeführt hat bis auf. unsere Tage. Es ist das Gesetz, welches
das Leben von kleinsten Anfängen an sich hat entwickeln lassen,
bis die Nachkommen beginnen, stark genug zu sein und die Erde
in Luft und Wasser immer mehr zu beherrschen. Es ist das Gesetz,
welches aus brausenden Weltennebeln Körper hat hervorgehen
lassen,welche mannigfaltig genug waren in ihrer Zusammensetzung
und ihren Verhältnissen, um Wesen hervorzubringen, die sich da-
von loslösten und als selbständige Intelligenzen und Wi^lenszentren
in der Welt auftreten konnten. Dieses Gesetz ist unaussprechbar.
Es ist nicht ein Gesetz, welches sich in mathematische Formeln
fassen läßt, es ist ein Gesetz, welches sich nur dann in voller
Exaktheit aussprechen ließe, wenn uns das Weltall in allen Ein-
zelheiten so genau bekannt wäre, daß wir die ganze Zukunft
vorausberechnen könnten. Da aber dies nie sein wird, so können
wir nur sagen, daß ein Gesetz vorhanden ist; wie es lautet, dies
können wir nicht angeben, sondern nur nach dem, was von die-
sem Gesetze in uns selbst angeboren liegt, nach bestem Willen
und Wissen handeln. Wenn ich sage, daß ich diesem Gesetz unter-
stehe, so heißt das, daß ich letztlich die Resultante bin, sämt-
licher Umstände der jetzigen Welt und ihrer Vergangenheit seit
Anbeginn.
Worin besteht nun die Aufgabe, die ich diesem Gesetz gegen-
über habe? Diese Aufgabe ist überaus schwer aus zweierlei Grün-
den : der erste Grund ist der, daß wir das Gesetz nicht kennen,
wenigstens nicht so genau kennen, daß wir bis in die kleinsten
Details hinein seine Meinung verständen. Der zweite Grund ist
der, daß es dieses Gesetz für die Zukunft in gewissem Sinn noch
gar nicht gibt, oder wenigstens nicht vollständig gibt, insofern,
als auch ich selbst ein Stück der Welt bin, und somit ebenfalls
auf die weitere Gestaltung des Gesetzes Einfluß habe.
88
Das Gesetz
Die Situation, in der wir uns somit diesem „Gesetze" gegenüber
befinden, läßt sich kurz durch folgende Antithese darstellen : Wir
unterstehen alle einem großen Gesetze des Daseins, von dem Ab-
weichungen schwer bestraft werden, aber — wir kennen das Gesetz
nicht ganz. Die Antithese löst sich, wenn wir hinzufügen, daß wir
aber ein innerstes, oft unbewußtes Wissen von dem Gesetze in uns
haben, dem wir nur nachzuleben brauchen, um immerhin von un-
serer Seite aus das Beste für ein erträgliches Dasein zu tun. Das ist
es, was die alten Religionsschöpfer darunter verstanden, wenn sie
sagten, man solle dem Gesetze des Herrn folgen. Natürlich mein-
ten sie damit auch das Gesetz Mosis, aber die vorhin angeführten
Stellen, und das ganze Buch Hiob zeigen, daß sie genau wußten,
daß das geschriebene Gesetz nicht das einzige, ja nicht einmal die
Hauptsache sei.
Sind wir heute weiter? Nein, und wir können auch nicht weiter
sein, und unsere spätesten Enkel können ebenfalls niemals zur
letzten Erkenntnis des Gesetzes gelangt sein. Das Gesetz des Da-
seins für uns ist niemals aufschreibbar, dazu ist es zu mannigfaltig
und unübersehbar groß und verwickelt. Wir wissen nur, daß sein
Sinn die Erhaltung des Lebens und der Menschheit bis in mög-
lichste Fernen und die sieghafte Überwindung aller Widerstände
in und außer ihr durch sie sein muß. Sicherlich kann man daraus
versuchen, detailliertere Gesetze abzuleiten, aber wir müssen vor
der unerbittlichen Wahrheit die Augen nicht verschließen: absolut
geltende Gesetze werden wir dadurch niemals erhalten. Natürlich
sind die Forderungen, die Moses im Dekalog aufgestellt hat, ver-
bindlich für alle Völker, welche Anspruch auf Kultur machen wollen
und in erster Annäherung die wichtigsten Vorbedingungen für ein
soziales Leben, aber ausnahmslos gültig sind sie deshalb doch
nicht. Man kann etwa sagen, daß es eine gewisse Rangordnung
89
Das Gesetz
der moralischen Gesetze gebe, und daß die Gesetze des Dekalogs
vielleicht diejenigen sind, welche am letzten verletzt werden sollen,
aber vor dem Gesetze selbst müßten auch sie gegebenenfalls zurück-
stehen, da auch sie nur Folgerungen sind auf Grund eines zeitigen
Zustandes, der zwar beliebig lange dauern kann, der aber doch
nicht ewig zu dauern braucht — und wenn er sich ändert, dann
können auch die Folgerungen aus dem Gesetze des Daseins sich
ändern, denn dieses steht immer über allen Folgerungen, die aus
ihm auf Grund spezieller Umstände gezogen werden können. Die-
jenigen Folgerungen, welche mit fast unbeschränkter Dauer aus
dem Gesetze des Seins gezogen werden können, sind die, welche
sich auf die physische Natur des Menschen gründen (z. B, Gesetze
gegen Verwandtenehen usw.), aber auch hier könnte man theore-
tische Fälle konstruieren, wo die Frage, ob nicht ihre Durchbrechung
einmal für das Grundgesetz wichtiger sein kann als ihre Durch-
führung, zweifelhaft wird (das Problem berührt 1 . Mosis 1 9, Vers 30,
wohl eine Parallele zu 1. Mosis 9, Vers 20).
90
§ 6. Typen menschlicher Handlungen und Ziele.
So steht denn der einzelne im Kampfe der Umstände und muß
sich handelnd mit ihnen auseinandersetzen. Bevor wir aber seine
Handlungen nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, nach Lohn
und Strafe zu beurteilen versuchen, sei es erlaubt, uns einen all-
gemeineren Überblick über die Gesamtsituation des handelnden
Menschen zu verschaffen, und uns einige Hauptarten menschlicher
Handlungstypen zu vergegenwärtigen.
Zunächst wollen wir versuchen, einen Blick auf die gesamte
Situation des handelnden Menschen zu werfen. Ein naheliegendes
Bild läßt sie uns in kurzen Worten charakterisieren. Der einzelne
steckt einmal wie jeder andere Gegenstand der Welt innerhalb
seiner Umgebung und steht mit ihr in einer Gegenseitigkeits-
beziehung, insofern als er auf die Umgebung, diese auf ihn wirkt.
Er wird von ihr gedrückt und drückt sie wieder, kurz, es besteht
etwas, das wir wie oben als mechanisches Gleichgewichtsver-
hältnis bezeichnen können. Die Umgebung, das ist hauptsächlich
die umgebende Menschheit, sowie andererseits die umgebende
Natur, liefert Bedingungen, Forderungen usw,, welche dem Einzel-
menschen gewisse Lebensrichtungen vorschreiben. Der einzelne
kann nicht vollständig wie er will, er ist vielmehr abhängig von
seiner Umgebung und von dem eigenen Körper und sein Lebens-
weg wird ein fortgesetztes Kompromiß sein müssen zwischen den
verschiedenen Kräften, die auf ihn einwirken. Denken wir uns, der
Einzelmensch fasse einen Willen, indem er sich ein bestimmtes
91
Typen menschlicher Handlangen und Z le l e
Ziel setzt. Wenn er dann versucht, diejenigen Handlungen auszu-
führen, welche ihn dem Ziele näherbringen, dann wird er je nach
der Art dieser Handlungen und des Zieles kleinere oder größere
Widerstände und Schwierigkeiten zu überwinden haben.
So lebt in einem gegenseitigen Stoßen und Drängen mit ande-
ren Menschen und den äußeren Umständen der einzelne Mensch
dahin. Nun wäre es möglich, daß er, um schmerzhafte Stöße mög-
lichst zu vermeiden, auf die Idee käme, rein passiv zu bleiben und
sich einfach von den Umständen völlig treiben zu lassen. Ein der-
artiger Mensch wäre in einem gewissen Sinne wie ein toter Körper
anzusehen. Aber es würde ihm doch nichts helfen, denn die Um-
stände sind niemals derart gleich gegenseitig, daß er nicht, und
wenn er sich noch so passiv verhielte, gezwungen würde, irgend-
wie Stellung zu nehmen, selbst ausgleichend einzugreifen, damit
ihn die Umstände nicht zerstören. Diesen Zustand des mehr passiven
Verhaltens und Handelns ohne bestimmte weitere Ziele haben wir
je nach dem Charakter vielfach in kleinen Handlungen des täg-
lichen Lebens, in Handlungen, welche für die Erreichung unseres
eigentlichen Zieles nicht von Belang sind oder uns momentan zu
sein scheinen. Anders liegen die Verhältnisse, sobald ich mir ein
weiteres Ziel setze. Hier sind, wie sofort einzusehen, folgende Um-
stände ausschlaggebend. Es ist zu unterscheiden zwischen ferneren
und nahen Zielen, d. h. zwischen Zielen, die durch vielleicht viel-
jährige Zwischenräume von ihrer Erreichung entfernt sind, und
solchen, die durch ganz kurze Zeiträume von einigen Tagen oder
Wochen oder Monaten von ihrer Erreichung abstehen. Betrachten
wir zunächst die letzteren, die nahen Ziele. Hier haben wir dreier-
lei Möglichkeiten: Ich kann einmal ein solches Ziel wählen, wel-
ches derart in der Richtung der Bedingungen meiner Umgebung
liegt, daß ich es unter Anwendung normaler Anstrengungen und
92
Ty p e n menschlicher Handlungen und Ziele
zweckmäßiger Handlungen fast unmittelbar erreiche. Wähle ich
hingegen das nahe Ziel so, daß es mit den Bedingungen meiner
Umgebung unvereinbar ist, so werde ich dieses Ziel im allgemeinen
nicht erreichen. Dazwischen liegen jene vielen Fälle, in denen das
Risiko angibt, daß das Ziel zwar einerseits nicht unmittelbar in
Richtung der Bedingungen liegt, die mich umgeben, daß es aber
auch nicht andererseits außerhalb der Bedingungen, die mich im
weiteren Sinn umgeben, liegt: insofern, als es mir gelingt, diese
letzteren mir zunutze zu machen. Anders liegt die Sache bei den
weiteren, ferneren Zielen.
Sicher ist aus der Erfahrung der Geschichte das zu entnehmen,
daß derjenige, welcher zwar in Richtung des allgemeinen Ent-
wickelungszieles handelt, aber das Ziel seines Strebens sich sehr
weit in die Zukunft steckt, daß der innerhalb seiner momentanen
Sphäre keinen unmittelbaren Erfolg für sein eigenes Leben zu
haben braucht und auch vielfach nicht einmal den ideellen Erfolg
seiner Tätigkeit irgendwie zu sehen bekommt. Er trägt vielleicht
wichtiges bei zur Erreichung des fernen Zieles, aber Wohl-
stand und Glück zu seinen Lebzeiten ist nicht sicher verbürgt.
ImGegensatz zu diesem Menschen steht derjenige, welcher sich
ein zu kurzes Ziel steckt. Dies tut er, wenn er immer nur das-
jenige Ziel im Auge hat, welches aus den allernächsten Umständen
sich ihm aufdrängt. Dieser Mensch wird ebenfalls nicht viel äuße-
res Glück haben. Er wird zwar in den meisten Fällen dieses nächst-
gelegene Ziel erreichen, dabei jedoch immer wieder die heftigsten
Erschütterungen seiner Position in körperlicher und seelischer Be-
ziehung erleiden durch Überraschungen mannigfachster Art, die
plötzlich das Resultat seiner früheren kurzfristigen Zielstrebigkeiten
ihm zunichte machen. Er hätte einen großen Prozentsatz dieser
Überraschungen vermeiden können, wenn er nicht nur die aller-
93
Typ e n menschlicher Handlungen und Ziele
nächsten Ziele und nicht nur diejenigen Umstände, welche die
allernächsten Ziele bestimmen, im Auge gehabt hätte. So erkennen
wir, daß voraussichtlich derjenige Mensch für sein eigenes Leben
betrachtet am sichersten dieses Leben in einer schönen Linie von
Erfolgen, die er noch selbst erlebt, durchlaufen wird, der sich seine
Ziele weder zu weit noch zu kurz steckt, sondern etwa gerade so-
weit, als der durchschnittliche Mensch sie im Laufe seiner durch-
schnittlichen Lebenslänge zu erreichen vermag. Alle drei Sorten
von Menschen, die kurzzieligen, die normalzieligen und die lang-
zieligen sind an sich ethisch keineswegs zu verwerfen, sondern sie
stellen nur Typen verschiedener Lebensmöglichkeiten dar. Und
vielleicht sind alle drei Arten in gewissem Sinne notwendig und
geben erst in ihrer Vereinigung den vollen Effekt der menschlichen
Entwickelung, Sicherlich werden die kurzzieligen sehr bald in Ab-
hängigkeit von den beiden anderen geraten, dadurch, daß sie deren
Schutz vor Überraschungen aufsuchen werden. Jedoch ist das
bloße Vorhandensein von Vertretern der beiden ersten Gruppen
von kurzzieligen und normalzieligen vielleicht noch nicht ganz ge-
nügend, um einen gutgeleiteten Fortschritt der Menschheit zu be-
werkstelligen. Denn, wie aus der Sache selbst hervorgeht, sind
gerade die langzieligen es, welche die Linien vorzeichnen für die
Weiterentwickelung und erst an ihnen halten sich wiederum ge-
wissermaßen diejenigen mit kürzeren Zielen. Jedoch sind sie selbst
als solche keineswegs lebensfähig und es sind doch die beiden
anderen Gattungen, welche den eigentlichen Fortschritt wirklich
zurücklegen und realisieren, nachdem er ihnen gezeigt ist. Aber not-
wendig sind sie alle miteinander (der kurzziehge als arbeitender Aus-
führer der ihm gesteckten weiteren Ziele der anderen). Sie alle haben
ihr Recht, ihre Existensberechtigung, ja ihre Existenznotwendigkeit.
Sie alle sind Arbeiter an der Entwickelung, jeder an seinem Teil.
94
Typen menschliche rHandl an gen und Ziele
Wir sehen also, daß jeder in seinem Sinne Erfolg hat und haben
kann, der nur sein Ziel in Richtung der allgemeinen Umstände,
der allgemeinen Entwickelungsrichtung wählt. Nur darf derjenige,
der sich auf der Linie der allgemeinen Entwickelung sein Ziel in
die Ferne steckt, nicht den Erfolg in der Nähe erwarten. Und um-
gekehrt, darf derjenige, der sich sein Ziel in die Nähe steckt, im
allgemeinen nicht auf einen Erfolg in der Ferne sich Hoffnung
machen. Dies beides wäre gegen die Natur. Aber, wer klug genug
ist, die Dinge ihrem wahren Wesen nach zu erkennen und einzu-
schätzen und für sein nahes Ziel auch nur einen nahen Erfolg ver-
langt oder für ein weites Ziel auch nur einen weiten Erfolg (der
vielleicht jenseits seines eigenen Lebens gelegen ist) der hat so
unfehlbar sicher Erfolg, wie irgend etwas eintritt, das nach natür-
lichen Gesetzen eintreten muß, wenn er nur wirklich dieses Ziel
hat, es festhält, und ihm mit allen Kräften längs der Linie der all-
gemeinen Entwickelung nachstrebt.
Das Leben der Menschen innerhalb eines abgeschlossenen Be-
reiches und das auf der ganzen Welt bildet in einem mechanischen
Gleichnis, wie wir sahen, ein Gleichgewichtssystem von Kräften.
Der einzelne wird demgemäß am leichtesten sein Ziel, das er sich
steckt, erreichen, wenn es auf der Linie geringeren Widerstandes,
geringsten Widerstandes liegt. Diese Linie ist offenbar gegeben
durch die Linie des allgemeinen Fortschrittes, der allgemeinen
Entwickelung der betrachteten Menschengruppe — immer natür-
lich unter gebührender Berücksichtigung der vorhandenen außer-
menschlichen Umstände, sei es geologische Beschaffenheit des
Landes, Klima usw. In dieses Kräftespiel aller der ihn umgebenden
Umstände ist nun der Mensch mit allen Fasern seines Lebens
hineinverwoben. Setzt er sich nun irgendein Ziel und versucht
diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, welche dasselbe erreichen
95
Typen menschlicher Handlangen und Ziele
lassen, so wird er alsbald, falls dieses Ziel zu sehr den Zielen der
ihn umgebenden Menschen widersprechen oder hinderlich sein
sollte, Widerstände hervorrufen. Diese Widerstände können ge-
gebenenfalls so groß werden, daß die Erreichung des Zieles un-
möglich wird, ja, er kann bewirken, daß die Gesellschaft sich um-
gekehrt nunmehr gegen ihn selbst wendet und, falls die ihn um-
gebenden Menschen sich alle gemeinsam durch sein Vorgehen in
ihren Zielen und vielleicht in ihrer Existens bedroht sehen, werden
sie ihn vernichten. Auf jeden Fall sehen wir, daß die Verfolgung
eines Zieles, das ganz oderteilweise entgegengesetzt zur Richtung
der allgemeinen Entwickelung liegt, auf Widerstände stoßen kann,
die so stark sind, daß ein Mißerfolg eintritt. Nun wird aber unsere
Begriffsbildung durch den Umstand erschwert, daß z. B. ein lang-
zieliger Mensch, der sich sein Ziel über seine eigene Lebenszeit
hinaussteckt, ohne es zu wissen, und der auf einen Erfolg inner-
halb seiner eigenen Lebenszeit rechnet, offenbar in der Erreichung
seines Zieles Mißerfolg hat, ohne doch der allgemeinen Entwicke-
lung entgegen gehandelt zu haben. Er kann aber daraus nicht
schließen, daß sein Ziel an sich falsch oder schlecht gewesen sei
— in der Tat aber war es insofern falsch, als er es auf einen falschen
Zeitpunkt verlegt hatte. Darin hatte er Mißerfolg, in diesem
Punkte hatte er anders gewollt als die Entwickelung, hierin also
war ihm der Erfolg versagt.
Nun sind aber keineswegs alle Handlungen direkte Zielhand-
lungen, vielmehr sind vieleunsererHandlungen einfacheReaktions-
handlungen. Aber auch bei diesen haben wir in erster Annäherung
die genannte Zweiteilung. Die Reaktionshandlungen sind Äuße-
rungen der Sitte, der Gewohnheit, und haften gleichzeitig ganzen
Menschengruppen an. Jede Reaktionshandlung ist nun aber ein
Baustein zu dem Bilde, das unsere Nebenmenschen sich von uns
96
Typen menschlicher Handlungen und Ziele
machen, d. h. unseres sogenannten Charakters. Liegt nun eine
Reaktionshandlung in Richtung der allgemeinen Entwickelungs-
ziele, d. h. widerspricht sie nicht den Prinzipien, welche sich viel-
fach unbewußt aus dem Daseinskampf der Menschen als not-
wendig heraus entwickelt haben, dann wird sie dazu beitragen,
das genannte Bild von uns in unseren Nebenmenschen in normaler
Weise zu ergänzen. Ist sie dagegen im Gegensatz zu den genann-
ten Tendenzen, so wird sie dieses Bild in ein ungünstiges verwan-
deln, wir werden Widerstände gegen uns hervorrufen und somit
für diese Handlungen bestraft werden. Liegt die Handlung da-
gegen sehr auffällig in der Richtung derEntwickelungstendenzen,
so wird unser Bild in den Nebenmenschen ein günstiges werden,
wir werden somit für diese Handlung belohnt werden.
Haben wir uns im Vorstehenden verschiedene Typen mensch-
licher Zielsetzungen vergegenwärtigt, so ist zu bemerken, daß für
die ethische Beurteilung des Einzelnen die Weite seiner Ziele ganz
belanglos ist, vorausgesetzt, daß er sein Zi^l nach bestem Urteil
von innen heraus sich setzt und von innen heraus sein Leben führt.
Dann ist jeder für die überindividuellen Gesamtheiten, denen er
angehört, wertvoll als klare Kraft und sicheres Glied, aber auch für
sich selbst leistet er dann das für ihn nach seinen Gaben und sei-
nem Können denkbar beste.
Von diesem Gesichtspunkte aus sind auch unsere dabei gemach-
ten Bemerkungen über den jeweiligen Erfolg zu beurteilen. Nicht
das momentane Glück, nicht das größte Glück des Einzelnen ist
das Ziel unserer Handlungen^ sondern die Erfüllung der in uns
gelegenen Aufgaben, die Auswirkung des von denvergangenen
Generationen unserer Vorfahren und dem Leben überhaupt uns
überkommenen Auftrags wie er einerseits in uns selbst liegt, ande-
rerseits von außen an uns herantritt (die sog. „Pflicht"), dies ist
97 7
Typen menschlicher Handlungen und Ziele
unser Ziel. Da, wie wir sahen, im Ganzen jene wunderbare Einheit
der inneren und äußeren Lebensdränge besteht, so muß der Ein-
zelne eben versuchen, die im Einzelleben etwa vorhandenen Wider-
streite zwischen beiden mit Vernunft zu schlichten und wird es in
den meisten Fällen auch können. Darum darf aber nicht die Tat-
sache, daß ein Ziel in der Richtung der sichtbaren Entwicklung
liegt, und leicht zu erreichen scheint, allein uns bestimmen, es zu
verfolgen. Wenn alle nur dies tun wollten, so würden bald keine
großen Entwickelungslinien mehr erkennbar sein, der Versuch
einer vollkommenen Anpassung aller an alle würde das Ende jeden
Fortschrittes bedeuten. Nicht daß ein Ziel in Richtung erkennbarer
Fortschrittslinien zu liegen scheint, verbürgt für sich allein schon,
daß das Ziel im Sinne der großen Entwickelungsdränge, im Sinne
Gottes liegt, vielmehr ist das erste Kriterium hiefür, daß das Ziel
aus Deinem innersten Verstehen heraus Dir als Dein Ziel sich bie-
tet, als Ausfluß Deines besten Willens im Sinne Gottes zu handeln.
Ob dies dann zu einem äußeren Erfolg in Geld und Ehren führt,
dies ist eine zweite Frage. Doch kann man das eine sagen, daß
ein derart geführtes Leben nie ganz ohne Erfolg und nie ganz ohne
tiefes Glück sein kann. Aber einzige und Hauptziele sollen diese
beiden nicht sein. Nur so wird die wahre Entwickelung vorwärts
getragen von uns allen, der wahre Fortschritt, der für das ober-
flächliche Auge den gemeinsamen Wegen der Menschen manch-
mal zunächst zu widersprechen scheint.
98
§ 7. Ethische Grundprobleme.
Und nunmehr muß es unsere Aufgabe sein, das menschliche
Handeln, dessen Zweiteilung als für oder gegen das »Gesetz",
als „gut und böse" wir in großen Linien in einer durchschnittlichen
Begriffsbildung uns gekennzeichnet haben, zu betrachten hinsicht-
lich seiner Folgen für den einzelnen. Wir treten damit ein in die
Diskussion des schwierigsten Teiles unseres Problemes, der sich
in der klassischen Sprache der jüdischen Religionsschöpfer kon-
zentriert um die Zuordnung zwischen den Begriffspaaren „gut und
böse" und „Lohn und Strafe".
In ein paar Worten sei es unternommen, die Gesamtsituation
nochmals kurz zu überschauen. Der Mensch ist gezwungen zu han-
deln, dadurch lebt er. Die Frage ist, wie er handeln soll. Die Lö-
sung des Alten Testamentes ist die: Er soll nach dem Gesetze des
Herrn handeln, dann handelt er gut und wird belohnt, andernfalls
handelt er schlecht und wird bestraft. Auch wir haben erkannt, daß
es für uns ein «Gesetz des Herrn" gibt, das wir zwar nicht im ein-
zelnen kennen, aber doch irgendwie „haben". Wir haben zwar
schon mehrfach angedeutet, daß, wenn wir nach diesem Gesetze
handeln, wir gleichzeitig auch für uns am vorteilhaftesten handeln,
wenn wir dagegen handeln, uns schaden; aber wie weit diese
Überlegung in die einzelne Handlung eingeht, inwieweit wir sie
zur Richtschnur unseres ganzen täglichen Lebens und Handelns
machen können, dies bleibt uns noch zu zeigen übrig.
Es wird die von der ganzen jüdischen Ethik stillschweigend
99 7'
Ethische Grundprobleme
und zähe durchgehends festgehaltene Hypothese, daß das wahr-
haft sittHche Handeln stets auch das vorteilhafteste Handeln ist,
auch für uns zu erweisen sein.
Das wahrhaft sittliche Handeln ist das Handeln aus dem guten
Willen. „Guter Wille" ohne Angabe aber, worauf er gerichtet ist,
ist, wie wenn man von einem guten Schuß spricht, der nicht ab-
gegeben wird. So liegt also in dem Begriffe des guten Willens an
sich ein formaler Widerspruch, und wo in der Ethik der gute Wille
an sich verwendet wird, da wird entweder von etwas gesprochen,
das es nicht gibt, oder aber es steckt ein phänomenologisch erfaßter
Begriff dahinter, der nur mit der Bezeichnung „guter Wille" un-
glücklich in Sprachform gefaßt ist. Wir aber haben im Vorstehen-
den dasjenige, was hier dann und wann phänomenologisch emp-
funden wurde, klar herausgearbeitet: „aus gutem Willen handeln"
hat nur dann einen Sinn, wenn darunter das verstanden wird, was
wir oben nannten: von innen heraus handeln, mit dem Hinzu-
fügen, daß das, woraus wir dabei handeln, das Gesetz in und um
uns „das Gesetz des Herrn" ist. Betrachten wir die Formel des
Kantschen kategorischen Imperativs : Handle so, daß die Maxime
deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte; so ist, wenn wir diese Formulierung
mit der unsrigen vergleichen, zwar einleuchtend, daß sie sozusagen
in der gleichen Richtung sich bewegt, auf dem richtigen Wege ist.
Unsere Formel lautet, handle nach dem Gesetz Gottes, wobei der
Begriff des Gesetzes Gottes oben näher erläutert wurde. Nach letz-
terer Formel ist es selbstverständlich, daß die Maxime meines Han-
delns stets zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
dienen kann, denn beide fallen ja hier völlig zusammen, ferner
aber sind es nicht mehr verschiedene Maximen, verschiedene Prin-
zipe einer allgemeinen Gesetzgebung, wie sie die Kantsche For-
100
Ethische Grandprobleme
mel als möglich erscheinen läßt, sondern nur eine einzige große
allgemeine Maxime, welche das einzige Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung darstellt: das Gesetz Gottes. Man sieht, die alten
Juden waren in der Ethik um ein gut Stück weiter bereits als Im-
manuel Kant. Die Entwickelung der Ethik in der neueren Zeit hat
größtenteils darin bestanden, daß die Unmöglichkeit spezieller
Gesetze immer mehr eingesehen v^erden dürfte. In der Kantschen
Formulierung steckte noch ein Rest von solcher Spezialisierung.
Erst in unserer Formel ist auch das Letzte davon in Wegfall ge-
kommen: ein einziges, völlig einheitliches und undifferenziertes,
undifferenzierbares Grundprinzip bleibt übrig.
Diese Einheit des Grundprinzips aber bewirkt nun auch die Gel-
tung des Grundsatzes, daß das wahrhaft sittliche Handeln stets zu-
gleich auch das vorteilhafteste sei. Dieser Grundsatz aber hat von
Anbeginn die größten Zweifel auf sich gezogen.
Offenbar hat die endgültige jüdische Lehre, welche ganz auf
diesen Grundsatz aufgebaut ist, erst durch viele Diskussionen,
Überlegungen und Einwürfe hindurch sich durchsetzen müssen.
In der Tat gibt es auch wohl kaum eine Behauptung, die leichter
zu widerlegen schiene. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache,
da ß sie sich durchsetzen konnte. Und daß sie sich nicht als „ Priester-
betrug" oder durch Aufzwingung von selten Mächtiger durchge-
setzt hat, sondern daß sie den Frommen in dem ganzen Volk zur
innersten Überzeugung und Lebensmaxime wurde, das ist jedem
klar, der offenen Blickes zu lesen versteht. Wie groß die Wider-
stände waren, das zeigt der Umstand, daß zwei der schönsten
Schriften des Kanons des Alten Testamentes wenn nicht auf einem
entgegengesetzten Standpunkte stehen, doch mit der vorurteils-
losesten Diskussion dieses Grundsatzes sich beschäftigen-Daß diese
beiden Bücher dort aufgenommen wurden, zeugt einmal von der
101
Ethische Grundprobleme
Bedeutung des Widerstandes, jedoch aber auch von dem Sicher-
heitsgefühl, mit dem man diesen Zweifeln gegenüberstand. Einer-
seits wurden die Zweifel in diesen beiden Büchern selbst schon zu
widerlegen versucht, andererseits aber vertraute man auf die über-
zeugende Kraft der übrigen Schriften. .
So sagt der Prediger: Denn was hat ein Weiser mehr als ein
Narr? (6, 8). Da ist ein Gerechter und gehet unter in seiner Ge-
rechtigkeit; und ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit
(7, 15). Es sind Gerechte, denen gehet es, als hätten sie Werke der
Gottlosen, und sind Gottlose, denen gehet es, als hätten sie Werke
der Gerechten. Ich sprach: Das ist auch eitel (8, 14). Es begegnet
dasselbe einem wie dem andern, dem Gerechten wie dem Gott-
losen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert,
wie dem, der nicht opfert. Wie es dem Guten gehet, so gehet's auch
dem Sünder. Wie es dem, der schwört, gehet, so gehet's auch dem,
der den Eid fürchtet. Das ist ein bös Ding unter allem, das unter
der Sonne geschieht, daß es einem geht wie dem andern (9, 2; 3).
Ebenso enthält das BuphHiob Klagen, daß es dem Sünder wohl-
gehe und er keine Strafe erleide. Man lese z. B. das 24. Kapitel
dieses Buches, das allerdings in den gewöhnlichen Lutherschen
Bibelübersetzungen fast unverständlich ist^ Auch sonst enthält
das Buch Hiob, das überhaupt in seiner ganzen Ausdehnung ein
klassisches Beispiel für die Art der altjüdischen Philosophie und
Ethik darstellt, eine ganze Reihe wichtiger Einwände gegen die
spätere siegreiche Erkenntnis, die aber alle gleich an Ort und Stelle
zu widerlegen versucht werden. Wir werden uns mit den Wider-
legungen dieser und der obigen Einwürfe erst weiterhin beschäf-
' Klarere Übersetzung siehe z. B. .Die Heilige Schrift. Der Urtext' mit Zugrunde-
legung des Philippsonschen Bibelwerkes. Herausgegeben auf Kosten der isr.
Bibelanstalt. Frankfurt a. M., J. Kauffmann 1913.
102
Ethische Gründprobleme
tigen, wo wir selbst gegen Einwürfe uns verteidigen werden. So
liegt z. B. eine starke ideale Forderung in der Frage des Teufels
an Gott (Hiob 1,9): „Meinst du, daß Hiob umsonst Gott fürchtet?"
Sie läßt uns erkennen, daß starke Strömungen einer rein utilitari-
stischen Ethik schon damals vorhanden waren, und wir entnehmen
aus dem weiteren des Buches Hiob, daß sie erfolgreich bekämpft
wurden, wenn auch manchmal noch mit etwas tastenden Argu-
menten. Ein wichtiger Punkt, gegen den das Buch Hiob kämpft, ist
die Vorstellung der Ethik als einer Art Handelsgeschäft zwischen
Gott und dem Menschen. „Kann denn ein Mann Gott etwas nützen?
Nur sich selbst nützt ein Kluger" so sagt Eliphas (Hiob 22, 2). Mit
anderen Worten, es ist unmöglich, sich Gott gegenüber ein Ver-
dienst zu erwerben, auf das man pochen kann. Dies ist schon
deshalb unmöglich, weil das Gesetz nicht bekannt ist. Demgemäß
wird auch dieser letztere Punkt besonders hervorgehoben (Kap. 28),
und Hiob, der sich gerne auf seine formale Gesetzeserfüllung ver-
steifen möchte, jammert über die dadurch bedingte Unsicherheit
(Hiob, Kap. 23), die er aber nur empfindet, weil er das eigentliche
Wesen des göttlichen Gesetzes noch nicht erkannt hat. Seine Freunde
geben sich beste Mühe, ihn auf den rechten Weg zu führen, aber
es ist nicht zu leugnen, daß es ihnen selbst nicht ganz leicht wird,
den Kern dej; Sache gut zu formulieren. In den Schlußreden Hiobs
endlich steht die Lösung: „Siehe, die Furcht des Herrn, das ist
Weisheit" (28, Vers 28). Aber Stellung, Inhalt und Fassung machen
es mir sehr wahrscheinlich, daß hier eine spätere Einschiebung
vorliegt durch einen priesterlichen Schreiber, der den Stolz, daß er
selbst die richtige Losung kenne, hier nicht zurückhalten konnte.
Zu dem Satze selbst ist zu sagen, daß „die Furcht des Herrn" nichts
anderes ist als die seelische Einstellung („Gesinnung"), welche
wir oben als „von innen heraus handeln" bezeichneten. Und zum
103
Ethische Grundprob lerne
Begriff „Weisheit" ist zu bemerken, daß diese mit dem Gehaben
des Gerechten identisch ist. Ja, in der Spruchliteratur tritt später-
hin die „Weisheit" manchmal völlig an Steile des religiösen „Ge-
rechtseins und nach dem Gesetze des Herrn Handelns", (die „Weis-
heit" sogar personifiziert, vielleicht unter griechischem Einfluß:
Sprüche Kap. 9), so daß die Idee Gottes als Gesetzgebers und die
Idee des göttlichen Gesetzes dagegen manchmal ganz verschwin-
det. Die Wirkung solchen Vorgehens ist natürlich, das Verhältnis
des Menschen zur Welt weniger persönlich zu machen und so die
Idee des „Verdiensterwerbens" noch mehr auszuschließen. Denn
einer unpersönlichen Weisheit gegenüber besteht keinerlei Ver-
führung, auf eine Erfüllung ihrer Regeln durch mich zu pochen.
Wenn es mir schlecht geht, so war ich eben dann nicht genügend
weise.
Die eigentliche Lösung im Buche Hiob, die als solche dort ge-
geben wird, beruht der Hauptsache nach in dem Nachweise, daß
Gott zu mächtig ist, als daß der Mensch irgendwie mit ihm rechten
könnte. Diese Überzeugung,welche in den grandiosen Naturschilde-
rungen gegen Ende des Buches zum Ausdruck kommt, ist verbun-
den mit dem sicherenGlauben, daß Gott dem Menschen vergilt, „ dar-
nach er verdienet hat" und das Recht nicht beugt (Kap. 34, Vers 11,
12). Jedoch erhebt sich die Darstellung später nirgends zu dem so-
eben als Einschiebung bezeichneten Satze, und die „Gesinnungs-
ethik" wird höchstens noch angedeutet in Äußerungen wie : (Kap. 34,
Vers 3 1,32) „Zu Gott muß man sagen:... Hab' ich's nicht getroffen,
so lehredumich'sbesserusw."In einem Worte: Hiob wirdzuletzt doch
hauptsächlich durch die Macht Gottes überwältigt, der er sich ge-
zwungen beugt, ohne daß er den Kern seines Fehlers vollkommen
eingesehen hat. Wir sehen, daß dieses gewaltige Dokument aus
der Entwickelung der menschlichen Sittenlehre, so wunderbar tief
104
Ethische Grundprobleme
es die Probleme faßt, noch nicht völlig sich zu der religiösen Höhe
der Psalmen erhebt.
Wie aber die hier angeregten schwierigen Probleme weiterhin
in den Psalmen gelöst wurden und wie wir sie lösen, dies werden
wir nunmehr zu betrachten haben. •
105
§ 8. Die Wurzeln des menschlichen Handelns.
Die Lehre von dem „Gesetze des Herrn", das wir in uns tragen,
und das in wunderbarer und doch so selbstverständlicher Weise
übereinstimmt mit dem Gesetze, den Entwickelungsdrängen, die
von außen an uns herantreten, gründet sich auf eine Gruppe von
Erkenntnissen über den Menschen und das Leben überhaupt. Was
die Alten nur ahnten oder rein gefühls- und erfahrungsmäßig er-
kannten, eben die Lehre von dem großen „Gesetz des Herrn", das
können wir heutzutage nun auch verstehen in seinem Grunde und
in seiner Wirksamkeit. Um aber nun auch beurteilen zu können,
inwieweit die alte Lehre von dem Zusammenfallen des wahrhaft
sittlichen mit dem wahrhaft vorteilhaften Handeln hier sich be-
währe, dazu müssen wir noch in etwas weitere Betrachtungen ein-
treten.
Aus dem Bisherigen schon hat sich gezeigt, daß die jüdische
Ethik in ihrer höchsten Vollendung zu einer reinen Gesinnungs-
ethik sich emporentwickelt hat. Wir sollen dem Gesetze des Herrn
folgen, dies aber ist niemand völlig bekannt, vielmehr ist eine Ge-
samteinstellung, eine Gesinnung, nämlich „die Furcht des Herrn"
die letzte Weisheit, oder auch die „Lust zum Gesetz des Herrn",
wie der erste Psalm sagt. Dem aber, der diese Lust hat, dem wird
es auch, wie ebendort gesagt wird, Wohlergehen. Dieser Zusammen-
hang nun war, wie wir soeben sahen, schon im Altertum der Ge-
genstand von Kontroversen. Dieses Verhältnis ist natürlich von
selbst gewährleistet, wenn ein anthropomorpher Gottesbegriff zur
106
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
Seite steht. Es ist klar, daß bei einem Begriff Gottes, wo dieser ein
persönliches eifriges Interesse (wie ein gestrenger Autokrat) daran
nimmt, daß die Menschen seine spezialisierten „Gebote" halten,
und der hauptsächlich seiner Autorität wegen jedes Vergehen gegen
seine Gebote bestraft, jedes Halten seiner Gebote belohnt, das
sittliche Handeln von selbst auch immer das vorteilhafteste ist.
Aber sowohl der jüdische Gottesbegriff als auch die jüdische Ethik
standen in den Äußerungen ihrer höchsten Blüte weit über dieser
sehr anthropomorphen Anschauung, wenn auch diese letztere im
Alten Testament ihrer leichteren Verständhchkeit halber bei weitem
den größeren Raum beansprucht. Der Punkt, von dem aus die an-
thropomorphe Anschauung bei den denkenderen Geistern ins
Wanken kam, und dem höheren Gottesbegriff sich zuzuneigen be-
gann, ist sicherlich der, daß der Mensch sündigen kann, ohne es
zu wissen, daß das Gesetz nicht völlig bekannt sein kann. Mit dem
Wanken des alten anthropomorphen Gottesbegriffes aber wird
auch die Begründung des Verhältnisses zwischen ethischem und
vorteilhaftem Handeln, die vorher so selbstverständlich war, un-
sicher. Ist es wirklich so, fragt die Kritik, daß es immer auch wahr-
haft vorteilhaft ist, wenn ich nach den Geboten handle?
Und hiermit ist nun leicht zu sehen, von wo aus die Kritik
glauben kann, günstige Angriffspunkte zu finden, und warum diese
Angriffspunkte dennoch immer versagen müssen. Die Kritik näm-
lich zieht Fälle heran, wo ein Mensch gegen gewisse Gebote han-
delt, und dennoch Erfolg hat. Offenbar haben wir hier noch den
alten Begriff des „Gebotes", wie es dem anthropomorphen Herr-
scher-Gott entspricht. Im Sinne von unserem allgemeinen „Gesetze
des Herrn" aber, welches sich niemals irgendwie spezialisieren läßt,
müssen wir so sagen: Entspricht das erwähnte „Gebot" dem „Ge-
setze des Herrn", dann ist es auch letztlich vorteilhaft nach ihm
107
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
zu handeln, und schädlich ihm entgegenzuhandeln; entspricht es
nicht, so ist es umgekehrt. Dabei muß natürlich jeder einzelne Fall
einer besonderen Überlegung unterworfen werden. Daß nun aber
tatsächlich das Handeln von innen heraus, wie wir sagten, d. h.
das Befolgen des „Gesetzes des Herrn" in unserem Sinne, auch
wahrhaft vorteilhaft ist, dies wollen wir uns jetzt überlegen.
So wie heute meist der Mensch betrachtet wird, geht sein Han-
deln theoretisch in derWeise vorsieh, daß er sich die ihm bekann-
ten Umstände überlegt, und dann nach seinem Vorteil, wie er ihn
versteht, handelt. Unsere These lautet nun, daß in zwei sonst glei-
chen Fällen derjenige Mensch auch für sich vorteilhafter handeln
wird, der bei seiner Überlegung das Motiv hinzunimmt, daß er
„nach dem Gesetze des Herrn" handeln möchte, d. h. im Sinne der
in und um ihn festgelegten Entwickelungslinien, unter Ausschlie-
ßung kleinlicher, abseits liegender, aus dem Trubel des Tages-
getriebes stammender Beweggründe.
Zunächst ist zu sagen, daß es überaus schwer ist, auf diesem Ge-
biete größtmöglicher Komplikation eine Ausdrucksweise zu finden,
welche die wünschenswerte Klarheit mit der nötigen Exaktheit ver-
bindet. Die unübersehbare Vielgestaltigkeit des Lebens und seiner
Äußerungen zwingt uns, um überhaupt handliche Begriffe zu er-
halten, und überhaupt von den Dingen sprechen zu können, wie
schon früher ausgeführt, zu „Durchschnittsbegriffen" zu greifen,
mit denen wir allerdings dann eine hinreichende Exaktheit auch
zu erreichen vermögen.
In der Tat sind wir durch das materialistische Zeitalter, welches
wir durchschritten haben, und welches nichts anderes war, als die
jugendliche Freude der Kulturmenschheit an dem wundervollen
Instrumente der exakten Wissenschaften, das sie in seiner unge-
heuren Bedeutung zu erkennen begann, dazu gelangt, eine etwas
108
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
allzu einfache Vorstellung uns von dem Wesen der Dinge zu ma-
chen. Schon in unserem erkenntnistheoretischen Exkurs haben wir
auf diesen Umstand hingewiesen, und berufen uns darauf. Bereits
die einfachsten Überlegungen unserer Wissenschaftslehre zeigen
uns, daß es in der Differenziertheit der Dinge nach Richtung der
Kleinheit hin kein Ende gibt, daß der Prozeß der Entdeckung im-
mer feinerer Strukturen mit immer neuen, wunderbaren Gesetz-
mäßigkeiten, in dem wir zurzeit wieder einen bedeutenden Fort-
schritt zu machen im Begriffe sind (Röntgenstrahlen, Aufbau der
Atome aus Elektronen usw.), ein immer fortschreitender ist. Die so
überaus bequeme Vorstellung von „den" Atomen ist damit schon
gerichtet. Kein Atom kann ein letzter Baustein sein, jedes Atom
muß wieder feinere enthalten.
Nehmen wir nun die Lebewesen und speziell den Menschen. Es
ist eine Errungenschaft der allerletzten Zeit, daß wir in der Lage
sind die Zeitlänge geologischer Perioden mit einiger Genauigkeit
zu berechnen (durch Atomzerfall in den Gesteinen). So hat man
gefunden, daß seit der Kreidezeit zirka 300 Millionen Jahre ver-
flossen sind. Diese Zahl erscheint der Größenordnung nach als
absolutsicher^. Nun haben wir in der Kreide schon hochentwickelte
Wirbeltiere, welch ungeheure Zeiträume müssen wir also seit den
frühesten Anfängen des Lebens vergangen denken! Und nun die
Konsequenz. In diesen Jahrmilliarden (denn diese Größenordnung
kommt hier in Betracht) hat sich das Leben bis zum Menschen,
bis zu uns selbst heraufentwickelt. In ungezählten Schwierigkeiten
hat es sich erhalten, sich hindurch gewunden durch Milliarden von
Möglichkeiten des Unterganges, und nicht nur dies, sondern sich
gleichzeitig triumphierend heraufgehoben zu einem Wesen, das
1 Siehe z. B. den Bericht von Lawson in ,Die Naturwissenschaften" V. Heft
26, 27. (1917).
109
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
hoffen darf, einst die Mutter Erde, die es hervorgebracht hat, in
noch weit höherem Maße zu beherrschen und nach seinen Bedürf-
nissen zu modeln, als dies jetzt schon geschieht. Wir wissen nicht
im Detail, wie es zugeht, aber dies ist sicher, daß jedes Wesen un-
serer Vorfahrenreihe Tag und Nacht bloß durch sein Dasein und
sein Leben nach den ihm innewohnenden Gesetzen in allen Teilen
seines Körpers ununterbrochen arbeitete an sich und an seinen
Nachkommen, und daß dies bei uns selbst ebenso sich verhält.
Wir stehen in der Physiologie erst ganz am Rande eines großen
und wunderbaren Forschungsgebietes, das uns jetzt schon ein
Ahnen von feinsten Zusammenhängen erlaubt, die in unserer Zeit
vergessen waren, früher aber einmal von überaus hochdifferen-
zierten und feinnervigen Menschen intuitiv gewußt wurden. Es ist
das Gebiet der sogenannten Drüsen im menschlichen Körper.
Diese Organe produzieren irgendwie feinste regulierende Stoffe
von wunderbarer Kraft undWirkung, welche die ganze Ökonomie des
Gebäudes unseres Körpers beherrschen. Diese Drüsen aber und ihre
Arbeit hängen wiederum in feinster, noch meist unbekannterweise
mit dem ganzen Nervensystem zusammen. So haben wir zum ersten
Male einen kleinen physiologischen Anhalt und Unterbau für die
alte Erkenntnis des innigen Zusammenhanges zwischen meinem
Geist und meinem Körper. Jeder meiner Gedanken, jedes meiner
Gefühle bringt feine unbekannte Säfte in Bewegung, die in mei-
nem Körper ihre Wirkung entfalten, jeder Gedanke formt an mei-
nem Körper^ Und nun können wir uns überlegen, welche Fein-
heiten im Laufe jener Jahrmilliarden unsere Vorfahren während
ihres Lebens alle in sich und in ihre Nachkommen, und damit zu-
' Bezüglich des erkenntnistheoretischen Problems des Zusammenhangs zwischen
Geist und Körper, das wir hier natürlich nicht im Detail erörtern können, ver-
weise ich auf meine .Grundlagen der Naturphilosophie*, Leipzig 1913.
110
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
letzt in uns hineingeformt haben mögen. Wie gänzlich unausdenk-
bar und unausschöpfbar vielgestaltig jene heimlichen Zusammen-
hänge unseres ganzen Wesens sind, welche die materialistische
Epoche so leicht an jenem Apparat von Kraft und tanzenden
Molekülen einfachster Art vergessen konnte, als welchen sie sich
den Menschen dachte. Natürlich ist, wie wir schon sahen, nach und
nach jeder Vorgang auch am Menschen chemisch -physikalisch,
d. h. wissenschaftlich erklärbar, aber die Zahl dieser Vorgänge ist
eine so ungeheure, daß sie praktisch fast als unendlich betrachtet
werden kann, sicherlich aber unvergleichlich viel größer als sie
das vorige Jahrhundert sich vorstellte. Die Erklärung der Wirklich-
keit ist auch intensiv, d. h. ins Feine hinein ein unendlicher Pro-
zeß, der in seinem Verlaufe immer neue und wunderbare Zusam-
menhänge offenbart — während der Materialismus immer glaubte,
mit seinen Atomen oder Elektronen oder was es sei schon am Ende
zu sein. Demgemäß ist das, was wir bisher kennen, doch immer
nur eine dünne äußere Schale, die wir durchdrungen haben.
So ist es denn nicht wunderbar mehr, wenn wir behaupten, daß
unser Wesen in seinen tiefsten Tiefen das Gesetz des Seins am
klarsten enthält, daß jeder Millimeter und jedes Haar unseres Kör-
pers eine Resultante des Lebensgesetzes ist, dem wir unterstehend
So aber, wie ich bin, ist auch mein Nebenmensch, und in vielleicht
etwas verschieden hohem Grade jedes Lebewesen unserer Umwelt,
ja in gewissem Sinne die ganze Wirklichkeit. Dies ist der Boden,
in den meine Wurzeln gesenkt sind, dies ist das Sein, in dem sich
mein Leben abspielt, hier liegen die Umstände, aus denen uns
' Man vergleiche hierzu die Theorie des Lamarekismus, die ohne Kenntnis der
neueren physiologischen Entdeckungen ähnliche Gedanken faßte. Bezüglich der
teleologischen Betrachtungsweise sei auf die geistvolle Schrift P. N. Coßmanns
.Empirische Teleologie' verwiesen.
111
Die Wurzeln des menschlichen Handelns
Vor- und Nachteile erwachsen, dies sind die Gegebenheiten, welche
die Folgen meiner Handlungen bestimmen.
Und nun betrachten wir das sogenannte überlegte Handeln. Wie
viele Umstände sind es denn, die ich bewußt in Rechnung ziehen
kann, woher kommen mir denn die Gesichtspunkte, nach denen
ich diese wenigen Umstände auswähle? Es ist unmittelbar klar, daß
die bewußt in Rechnung gezogenen Umstände beim Handeln
wenige sind im Vergleich zu den in Betracht kommenden Anzahlen.
Allerdings sind es meist die offenliegendsten Umstände, welche zur
Begründung von Handlungen herangezogen werden. Aber wer
kennt das Gewicht all der kleineren Umstände? Haben nicht sie,
die wir vernachlässigen zu dürfen glaubten, oft einen ausschlag-
gebenden Einfluß? Hier nun springen die Fähigkeiten unseres
Unbewußten ein. Du liest in dem Gesicht deines Nebenmenschen.
Kannst du beschreiben, was da im einzelnen vor sich ging? Du
kannst es nicht, und dennoch weißt du, was in seiner Seele sich
abspielte. Du fühlst und weißt ungeheuer viel mehr, als du denkend
beherrschst. Du machst eine Bewegung mit der Hand. Dein Gegen-
über sieht eine ganze Charakterskizze deiner Ansicht darin. Aber
wenn du dies bewußt hättest ausklügeln wollen, hättest du versagt.
Ebenso, wenn du etwa über ein Seil gehst.
Es sind die Künste deiner Vorfahren, die bei diesen Gelegen-
heiten in dir zur Wirkung kommen, Künste, die sich viele Gene-
rationen in heißem Lebenskampfe errungen haben.
Wir werden dieser unserer Fähigkeiten, wie man sagt, nur phä-
nomenologisch gewahr, und wir rühren damit an die Tatsache, daß
man von beachtenswerter Seite in der modernen Philosophie wieder
mehr Gewicht auf diese Dinge legt, als man vor einiger Zeit leider
getan hat. Es ist vor allem der Philosoph Husserl, der hier zu
nennen ist.
112
§ 9. Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften
Handelns.
In den Zusammenhängen nun, welche wir am Ende des vor-
stehenden Abschnittes bemerkt haben, liegt die Tatsache begründet,
welche zuerst die alten jüdischen Religionsschöpfer erkannt haben,
daß das wahrhaft gerechte Handeln mit dem wahrhaft vorteilhaften
Handeln zusammenfällt, eine Erkenntnis, welche in immer neuen
Wendungen der wundervollsten poetischen Sprache sie nicht müde
wurden zu besingen.
Alles in deiner Welt hängt auf eine ungeheuer feine und meist
nicht sofort durchschaubare Weise zusammen. Du versuchst offen-
bare Tatsachen zu leugnen, zu übersehen, eines momentanen Vor-
teils willen. Dies wird im allgemeinen sich als Sünde herausstellen
(die Nebenumstände können sehr mannigfaltig sein), die Wirklich-
keit, das Gesetz des Seins fordert sein Recht, deine Handlung wird,
wenn sie ungerecht war, zu dir zurückkehren an irgendeiner, an
vielen Stellen, sie hat dir Vertrauen geraubt, sie hindert, daß sonst
mögliche Vorteile dich erreichen. Aber gehe geradeaus, wenn es
auch momentan einen gewissen Nachteil bringen mag, laß den
Dingen ihr Recht, das sie sich doch nehmen, wenn sie stark genug
sind, und das sind sie, auch wenn du es ihnen verweigerst, gehe
mit den Dingen, mit dem Gesetze, dem du unterstehst, dem Gesetze
Gottes, und es wird tausendfältig zu dir zurückkehren im Guten.
Aber die Zusammenhänge des Daseins wirken sich in noch viel
größerer Feinheit aus, wenn wir von den äußeren Vorgängen uns
113 8
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
zu den inneren wenden. Wir erinnern uns, was wir vorhin darüber
sagten, daß jeder Gedanke, jedes Gefühl in uns unerkannte feine
Säfte in Bewegung setzt, welche weithin in unserem Körper ihre
regulierenden Einflüsse geltend machen. Nun nehmen wir an, wir
wollten gerecht sein in unserem Sinne, richteten unser ganzes see-
lisches Verhalten, unseren ganzen seelischen Zustand möglichst
dauernd darauf ein, dem Gesetze des Seins sein Recht zu geben,
stellen uns darauf ein, dem Gesetze Gottes, das in und um uns
waltet, gerecht zu werden, dann ist unmittelbar einzusehen, wie
vorteilhaft dies für unser ganzes Sein werden muß. Stürme und
Leidenschaften, die aus df m Alltag entspringen, die kommen und
gehen, und von denen die Unweisen sich hin und herwerfen lassen,
wie ein führerloses Schiff, die haben keine Macht mehr über uns —
denn was wollen diese kleinen Schwankungen des Daseins sagen
gegenüber unserem festen Willen, den großen Linien zu folgen,
welche die Entwickelung der Dinge von innen heraus uns vor-
schreibt? Und unsere Nebenmenschen, werden sie nicht aus unse-
rem Wesen herausfühlen, daß sie einen Menschen vor sich haben,
der eine vorgezeichnete Marschroute geht ohne sich hin und her-
wehen zu lassen? Sie werden die Konsequenzen daraus ziehen und
einsehen, daß es vergeblich sein wird, diesen Menschen aus seiner
Bahn werfen zu wollen, und andererseits, wenn sie selbst einmal
in unsicherer Lage Halt brauchen, bei ihm diesen Halt zu gewinnen
suchen. Achtung und Vertrauen werden die äußeren Folgen sein,
Ausgeglichenheit, Ruhe und Kraft der Seele und damit Gesundheit
die Folge im Innern. Dies ist das Bild des Gerechten, wie wir es —
natürlich in primitiveren Formen, aber dem Wesen nach ebenso —
in den Psalmen geschildert finden, und das Geschick seines Gegen-
bildes, des „Sünders" oder des „Narren", brauchen wir darnach
nicht mehr auszumalen.
114
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
So handelt der Gerechte, indem er sich vor allem innerlich auf
Erfüllung des „Gesetzes" einstellt, indem er, wie wir sagten, von
innen heraus handelt. Dann wird ihm das übrige alles von selbst
zufallen. Nun kommt aus dieser Einstellung, bevor sie in ihrer gan-
zen Tiefe erfaßt ist, bei Völkern und bei Einzelnen leicht ein ge-
wisser Abweg zustande. Dieser Abweg besteht in der „Spruch-
weisheit", die auch gerade beim jüdischen Volke, das alle diese
Probleme wie kein zweites auch nur annähernd durchdacht und
durchlebt hat, eine wichtige Rolle spielt. Ich erinnere nur an die
Sprüche Salomonis, das Buch des Jesus Sirach, die sogenannte
Weisheit Salomonis und auch teilweise den Cohelet. Sie alle stellen
noch hochwertige religiöse Literatur, aber doch schon zweiter und
dritter Güte dar. Es gibt keinen Weisheitsspruch, keine Lebens-
regel, die nicht in einigen Situationen versagen und direkt zum
Falschen führen würde. Sicher geht nur derjenige, der auf alle
solche Krücken verzichtet und lediglich seinen „Willen zum Gesetze
Gottes" dem Leben entgegenträgt. Nur das ist „Gerechtigkeit"
in der höchsten Auffassung. Es ist die alte Tugend der „Frömmig-
keit" im innerlichsten Sinne verstanden, da ja auch dieser Begriff
im Laufe der Zeit entwertet worden ist, indem er als Bezeichnung
gewisser äußerer Betätigungen vielfach gebraucht wurde. Für den
Gerechten in unserem Sinne gibt es kein äußeres Kennzeichen in
in der Art seines Handelns in bestimmten Fällen. Nur die sehr in-
time Kenntnis des Charakters würde erlauben, von einem anderen
ein solches Urteil zu fällen. Das ist auch nicht nötig, darüber ist
sich jeder nur selbst Rechenschaft schuldig, muß er doch auch die
Folgen seiner Handlungen auf sich nehmen.
Es ist hier vielleicht der Platz, um zu bemerken, wie falsch sich
auf Grund unserer Überlegungen die Stellungnahme eines Men-
schen erweist, welcher an einem oder mehreren anderen Verfeh-
115 8-
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
lungen gegen das Gesetz Gottes rächen möchte. Wohl mag der
Staat die Erfüllung seiner festgelegten Gesetze erzwingen, mag
der Erzieher die Unachtsamkeit oder Böswilligkeit seines Zöglings
rügen, mag im Kampfe ums Dasein der eine dem andern Wunden
schlagen, aber andere wegen Übertretungen des allgemeinen Ge-
setzes Gottes strafen zu wollen — dies heißt, völlig den Sinn die-
ses unaussprechbaren Gesetzes verkennen, dies heißt, sich selbst
an die Stelle Gottes setzen, dies selbst also ist die höchste Sünde
gegen Gottes Gesetz. Es gibt gelegentlich Menschen, welche die
Worte der Bibel so verkennen, daß sie glauben und davon sprechen,
andere wegen angeblicher Verletzung von Gottes Gesetz bestrafen
zu müssen. Hat ein Mensch oder ein Volk gegen dieses Gesetz sich
verfehlt, so können wir getrost die Strafe dafür dem Schicksale
überlassen, sie wird kommen mit unfehlbarer Gesetzmäßigkeit.
Hat er sich gegen uns verfehlt, indem er uns angriff, so wehren
wir uns mit allen Mitteln, bis er von seinem Vorhaben absteht.
Aber wegen einer angeblichen Verfehlung gegen das Gesetz Got-
tes andere verurteilen und strafen zu wollen, dies zeugt von einer
Täuschung über die Natur dieses Gesetzes und über sich selbst,
die mit Notwendigkeit früher oder später an dem Verurteiler selbst
sich bitter wird rächen müssen.
Nicht einzelne Lebensregeln, wie man sich in den und den Fällen
verhalten müsse, um erfolgreich zu sein, können uns zum wahr-
haft Guten und zum wahren Vorteil führen, — nur eine Gesamt-
einstellung unseres ganzen Seins, mit anderen Worten, nur eine
Religion kann dies leisten. Wir haben in unserer Zeit der Reli-
gionslosigkeit, wo mit den alten Dogmen auch der in ihnen aller-
dings oft fast unauffindbar verborgene Diamant von den meisten
weggeworfen wurde, eine große Literatur in dieser Richtung.
Schriften mit dem Titel: „Wie werde ich erfolgreich", „Wie werde
116
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
ich energisch", „Wie werde ich ein guter Redner" usw., dann Bü-
cher von Carnegie und anderen, dies alles sind solche Surrogate,
die sicherlich viel mehr verderblich wirken, als sie nützen, weil sie
ihrem Adepten vorreden, daß er alles aus ihnen erlernen könnte.
Dann kommt er aber leicht in den Fall, daß er in einer Situation
bloß nach dem jeweiligen Rezept (erfolgreich, energisch usw.) han-
delt, wesentliche Umstände außer Betracht läßt und elendiglich für
seine Enge büßen muß. Solches kann nur und allein die Gesamt-
einstellung auf das immanente Gesetz des Daseins, kurz auf „Gott"
vermeiden.
Nachdem wir jetzt aber das eigentliche Wesen des „Gerecht-
seins" erkannt haben, nun fallen alle Einwürfe, die gemacht wur-
den und werden gegen die Identität des wahrhaft sittlichen und
wahrhaft vorteilhaften Handelns von selbst in sich zusammen. Na-
türlich kann es vorkommen, daß ein „Gerechter" (soweit mensch-
licher Unvollkommenheit es zu sein gelingt) von einem bösen Ge-
schick überwältigt wird. Aber dies hätte er sicher nicht von sich ab-
gewendet, wenn er gegen das Gesetz der Dinge gehandelt hätte.
Im Gegenteil. Und wenn es einem Ungerechten gut geht, so ist
erst die Frage: Woher weißt du, daß er ungerecht ist? Und zwei-
tens, angenommen, er wäre es, dann geht es ihm sicher nicht gut,
weil er gegen das Gesetz der Dinge handelt, sondern trotzdem,
und zuletzt werden die geheimen Widerstände des Weltganges
diesem Widerstreben gegenüber so stark, daß der Fehler zutage
kommt, kommen muß. Und schließlich: vielleicht geht es ihm gar
nicht wirklich gut.
Natürlich ist mit dem „Gerechtsein" keine absolute Garantie ge-
geben gegen „Unglück"; wenn eine Stadt verbrennt, leiden Ge-
rechte und Ungerechte (das Problem berührt I. Mosis 18). Aber
unter sonst gleichen Umständen wird der Gerechte immer besser
117
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
fahren als der Ungerechte, und im Laufe der Zeit wird sich die
schweigende Hilfe, die ihm die treibende Kraft der Dinge leistet,
immer deutlicher zu seinen Gunsten bemerkbar machen. So be-
lohnt Gott den Gerechten und bestraft den Narren. Natürlich gibt
es im Leben „Sinnlosigkeiten", welche, wie schon der Name sagt,
gänzlich unverdient und ohne Zusammenhang über einen Men-
schen hereinbrechen können (Naturereignisse, wozu auch über-
gesellschaftliche Ereignisse in der Menschheit, wie Krieg, gehören
usw.), aber diese treffen Gerechte wie Ungerechte, und auch hier
wird der erstere noch mehr Möglichkeiten der Rettung finden,
als der letztere. Aber gegen unsere These sagen diese Ereignisse
nichts.
Derartige Umstände aber, die nicht in unserer Gewalt sind, immer
mehr auszuschalten, dies ist eines der Hauptziele der verschiedenen
größeren menschlichen Gruppen, der Völker, und zuletzt der
Menschheit selbst. Auch dies ist ein auf ein Ideal gerichtetes Be-
streben, welches niemals restlos zum Erfolge führen wird, dessen
Wirksamkeit sich aber beständig immer mehr ausbreitet und da-
mit die gewaltsamen Störungen unseres Grundsatzes verringert.
Eine Literatur, welche ähnliche Wege wandelt wie die vorhin
genannte „Erfolgsliteratur", schließt sich an eine hauptsächlich in
England und Amerika blühende religiöse Richtung an, deren ex-
tremste Form etwa die vielbesprochene „Christian science" der
Mrs. Eddy ist. Hier sind zwar mehr religiöse Momente vorhanden
als bei der reinen „Erfolgsliteratur", doch sind sie zumeist unter
einem solchen Wüste von Mystik und Pseudowissenschaft verdeckt,
daß diese Bestrebungen mehr dahin wirken dürften, den Blick für
die Wirklichkeit zu verdunkeln, als ihn aufzuhellen. Jedem, der
sich einmal für diese Arten von Literatur interessiert, kann es nicht
verborgen bleiben, welch außerordentliche Verbreitung derselben
118
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
zukommt, auch in Deutschland. Es kommt den Lesern solcher
Werke meist nicht zum Bewußtsein, daß sie das wirklich Wertvolle,
was es in diesen gibt, viel besser und in unvergleichlich viel edlerer
und klassisch schöner Form in der altjüdischen religiösen Literatur
vorfinden könnten, die jedem in der Bibel leicht zugänglich ist —
wenn man sie nur richtig zu lesen weiß. Man würde damit zugleich
auch die betreffenden Gedanken direkt aus der Quelle schöpfen,
aus der sie doch letzten Endes alle hervorgegangen sind. —
Als eine Bewegung, welche auf ein intensiveres Berücksich-
tigen der inneren seelischen Vorgänge in der Medizin und Wissen-
schaft hinzielt, sei hier noch die von Freud inaugurierte genannt.
Man könnte sagen, daß es für die Gültigkeit unseres Begriffes
„von innen heraus handeln" eine Art von physiologischem Beweise
gibt. Es ist das die Tatsache, die sich in dem Worte Andacht aus-
drückt. Es bezeichnet dieses Wort im wesentlichen eine gewisse
psychologische Einstellung, die in verschiedenen Graden aufzu-
treten vermag, wobei die geringeren Grade je nach Übung willens-
mäßig herstellbar sind. Das Ideal wäre nach dem Gesagten, ein
Leben fortwährender Andacht, d. i. einer gewissen konzentrierten,
positiven Einstellung dem Leben gegenüber. Hier sind nun die
Menschen von Natur schon sehr verschieden. Es gibt einzelne Indi-
viduen, welche in einer beinahe dauernden Andacht leben, zu die-
sen gehören zum Teil vielleicht manche der religiösen Lehrer, aber
wohl mehr noch mancher stete und stille Arbeiter in seinem Be-
rufe. Andere wieder machen hierin Schwankungen durch, und als
Gegenmittel hierfür war von jeher eine Art willkürlich herbei-
geführter Konzentration des Innenlebens, meist auch als „Gebet"
bezeichnet, bekannt, deren physiologische Grundbedingungen und
Umstände wir noch nicht kennen. Dieser Zustand kann sich bei ge-
wissen Individuen sehr steigern bis zu hysterischen Verzückungs-
• 119
Die Übereinstimmung des gerechten und vorteilhaften Handelns
zuständen bei manchen krankhaften, psychisch labilen Personen.
Der Zustand der Andacht, der durchaus nichts krankhaftes ent-
hält, wird üblicherweise hergestellt in Verbindung mit religiösen
Gedankengängen. Doch ist dies keineswegs nötig. Rein physio-
logisch kann der gleiche Zustand in Verbindung mit irgendwelchen
beliebigen Gedanken (z.B. künstlerischen usw.) Zustandekommen.
Jedoch ist offenbar der „ethische Nutzen" besonders groß, wenn
die Gedanken sich dabei auf die allgemeinen Lebensziele richten.
Jedoch scheinen auch in der geschichtlichen Entwickelung sich
hierVerschiedenheiten zu offenbaren. So haben im Mittelalter wohl
fast alle Erwachsenen mit wenigen Ausnahmen der Gewohnheit
des Gebetes gehuldigt, während die neuere Zeit hier ein starkes
Abflauen zeigt. Es ist nicht sicher, ob nicht auch hierin wieder
Änderungen eintreten können.
Sehen wir die Dinge der Welt in den Zusammenhängen, die wir
oben dargelegt haben, so nennen wir diese Art des Erlebens der-
selben „religiöses Erleben", und es ist klar, daß unser ganzes Da-
sein bis zu den unscheinbarsten Kleinigkeiten, die unserem Geiste
sich nahen, in diesem Sinne religiös erlebt werden könnte und,
wenn wir unseren wahren Vorteil im Auge haben und wahrhaft
sittlich handeln wollen, auch erlebt werden sollte. Und hier tritt
uns nochmals ganz besonders klar jene wundervolle Harmonie des
obigen Begriffsystems, des obigen Gottesbegriffes vor Augen,
welche sich in der Übereinstimmung des inneren und äußeren gött-
lichen Prinzips kennzeichnet, wie wir gesehen haben. Dieses gött-
liche Prinzip aber, das zuerst im alten Israel voll erkannt wurde,
ist es, das uns letzten Endes von innen und außen auf den großen
Linien der Entwickelung leitet, ihm dürfen auch wir uns im Einzel-
leben getrost insofern anvertrauen, als wir sicher sein können, daß
die Lebenskräfte, die unsere Vorfahren seit vielen Jahrmillionen
120 »
Die Übereinstimmung des gerechten and vorteilhaften Handelns
aus dem Dunkel der Vorzeit heraufgeführt haben durch Myriaden
von ZufälHgkeiten und widrige Umstände hindurch, daß diese auch
uns noch eine Spanne Zeit weiterführen werden, wenn wir nur
selbst kräftig in der Richtung der allgemeinen Entwickelung vor-
wärtsschreiten. Nicht indische Hingabe, Passivität und Nirwana-
sehnsucht lehrt uns dieser letzte Einblick in die letzten Ziele unse-
res Daseins, sondern Aktivität, schöpferische Tätigkeit im höchsten
Sinne des Wortes, — denn hier liegt das Schwergewicht im Han-
deln, und indem wir den vorgezeichneten Entwickelungslinien
folgend vorwärtsschreiten, schaffen wir diese immer wieder erst
selbst und immer wieder neue hinzu.
121
§ 10. Weitere Entwickelungen.
Ich habe versucht, nachzuweisen, daß die Antwort, die uns die
modernste Erkenntnistheorie auf die letzten Fragen des Daseins
gibt, und daß die Direktiven, die wir durch sie für ein Leben unter
ethischen Gesetzen erhalten, in großen Zügen mit denjenigen
übereinstimmen, die uns aus der Religion der Psalmen bekannt
sind. Das, was uns die Psalmen geben, ist sicherlich der Nieder-
schlag einer langen Entwicklung. Eine Reihe von hochstehenden
Einzelindividuen, Genies müssen im Laufe der Zeit sozusagen
schichtweise dieses wundervolle ethische Begriffsystem, das in
seiner Einfachheit und Klarheit seither die Welt erobert hat, ge-
schaffen haben. Die Art, auf welche ihnen ihre Entdeckungen ge-
langen, war wohl keine andere als nüchterne denkende Betrach-
tung des Daseins, so wie sie es in langen Jahren ihres Lebens als
Glieder eines politisch außerordentlich exponierten, geistig über-
aus regsamen Volkes teils selbst erlebt hatten, teils bei anderen
Völkern erfahren haben. Es ist mit einem Wort die empirische
Methode, welche, wie dies am Anfang jeder Wissenschaft und
jeden geistigen Systems geschieht, auch hier die ersten Schritte
der Entwicklung bis zu einer beträchtlich hohen Stufe geführt
hat. Aber, wenn wir nunmehr den eigentlichen Kern für die
Wahrheit dieser empirisch gefundenen Dinge erkannt haben, wenn
wir jetzt in der Lage sind, die ganzen einschlägigen Umstände
vollständig und systematisch zu überschauen, dann erkennen wir,
daß das, was damals gefunden wurde, bereits die Hauptlinien des
122
Wettere E n t w i c k e l u n g e n
gesamten Gebäudes in wunderbarer Klarheit darstellt. Es ist uns
gelungen, diese Linien als durchaus beweisbar nachzuweisen und
in ihrer Herkunft und Bedeutung zu ergründen. Aber damit ist
noch nicht gesagt, daß nun dieses Gebäude nicht auch noch einen
weiteren Ausbau finden könnte.
Wir haben oben die Tatsache gestreift, daß die alte so unend-
lich tiefe Auffassung des Dichters der Psalmen vom Begriff des
Gesetzes im weiteren Verlaufe der Entwicklung zum mindesten
in der praktischen Anwendung äußerst verflachte und jene aus-
gezeichnete umfassende Idee von dem allgemeinen Gesetz des
Herrn überspringt in die Vorstellung von einer Sammlung von
Detailvorschriften für die Art und Weise des täglichen Lebens und
Verkehrs. Die Pendelschwankungen, denen die Vorgänge der
Weltgeschichte im allgemeinen ausgesetzt sind, machen sich auch
hier bemerkbar. Zu einer Zeit, die dem Anfang unserer Zeitrech-
nung wohl nicht sehr ferne. lag, machten sich sektiererische Strö-
mungen im jüdischen Volke geltend, welche diese äußerliche Auf-
fassung des Gesetzbegriffes zu bekämpfen versuchten. Offenbar
waren es teilweise diejenigen Kreise, mit denen das Neuauftreten
des Christentums in Verbindung stand, und wir finden in den
Schriften des Neuen Testaments Paulus in einem heftigen Kampf
gegen den veräußerlichten Gesetzesbegriff stehend, den er durch
eine bestimmte seelische Einstellung, die er als „Glauben-' be-
zeichnet, ersetzen möchte. So schreibt er z. B. im Brief an die Römer
(IV. 16) nach längeren scharfsinnigen Ausführungen: „Derhalben
muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen." Damit ver-
sucht Paulus eine Korrektur der Entwicklung der jüdischen Re-
ligion nach Richtung ihrer ältesten besten und klassischen An-
sätze. Es ist ganz klar, daß die ersten genialen Schöpfer (z. B. der
Dichter der ersten ethischen Psalmen „David") ihre inneren An-
123
Weitere E n t w t c k e l ii n g e n
schauungen noch nicht völlig in Worte zu kleiden vermochten,
bezw. sie nicht so eindeutig in Worte fassen konnten, so daß für
alle Zeiten ein Zweifel, eine dem Sinne nach abweichende religiöse
Interpretation nicht mehr möglich gewesen wäre. Sicherlich war bei
ihnen der Begriff des „Gesetzes" noch nicht entfernt in jener ab-
strakten Weise vorhanden, wie wir ihn auf Grund moderner Er-
kenntnistheorie darzustellen vermochten, sicherlich sprach schon
bei ihnen die Vorstellung von priesterlichen Lebens- und Kult-
regeln ganz wesentlich bei diesem Begriff mit. Aber ich bin per-
sönlich felsenfest überzeugt, daß sie ebenso sicher noch nicht der
Anschauung waren, unter dem Gesetz bloß und ausschließlich
Lebens- und Kultregeln zu verstehen, wie das später der Fall
war, sondern daß sie auf eine natürlich unklare und undifferenzierte
Weise eine starke Vorstellung vom „Gesetz des Herrn" in jener
allgemeinen und abstrakten Form hatten, wie ich sie als die rich-
tige und wirklich begründbare aufgezeigt habe. Der Leser wird
sich der Konsequenz erinnern, daß man am meisten nach dem
Gesetze handle, je mehr man von innen heraus handelt. Diese
Regel beruht auf dem allgemeinen Gesetzesbegriff, wie wir ihn
aufstellten, und wie ihn die ersten Schöpfer der jüdischen Ethik
mit sicherem Instinkt innerlich verstanden hatten. Es ist klar, daß
die Reform des Paulus wieder in dieser Richtung wirkt. Was er als
Glaube bezeichnet, ist ja nichts als eine bestimmte seelische Ein-
stellung und zwar, wie wir mit Sicherheit annehmen dürfen, gerade
jene, welche zustande kommt, wenn wir „von innen heraus han-
deln". Daß Paulus dieses Resultat von ganz anderer Seite her und
auf dem Umweg über gewisse mystische Vorstellungen erhält, tut
nichts zur Sache. Der Effekt ist jedenfalls der beschriebene. Natür-
lich ist auch Paulus nicht in der Lage, seine intuitiv oder phänome-
nologisch erlebten Erkenntnisse irgendwie erkenntnistheoretisch
124
Weitere E n t w i c k e l u n g, e n
oder psychologisch zu begründen. Er predigt sie eingekleidet in
eine Terminologie, die er selbst teilweise erst geschaffen haben
muß, wenn sie auch größtenteils schon gelegentlich früherer Dis-
putationen unter den jüdischen Rabbis sich gebildet haben mag.
Dabei ist für die Praxis der Lehre der Widerstreit zwischen Glaube
allein und Glaube in Verbindung mit guten Werken völlig irrele-
vant. Denn es handelt sich um „das Handeln von innen heraus"
und dies bedeutet eine untrennbare Vereinigung von beiden. Es
kann also Glaube und richtiges Handeln immer nur in der Ver-
bindung einen Sinn haben. Wie man diese Regel in der Lehr-
praxis formuliert, um die Gläubigen zu möglichst gutem Leben
anzuhalten, ist eine mehr praktische Frage. Sicherlich wird es sich
dabei nicht umgehen lassen, ausführlich das Handeln zu betonen.
Nun wird der Religion des Alten Testamentes häufig der Vor-
wurf gemacht, daß in ihr Gott nur als zürnender Rächer auftrete.
Dies ist zunächst schon einmal objektiv unrichtig. Wir brauchen
bloß an die Stellen der Psalmen zu denken, wo Gott auch als Ver-
gebender erscheint, der dem reuigen Sünder hilft. Es ist klar, daß
dies auch sich so verhält. Denn der Mensch, der eines falschen
Schrittes wegen Mißerfolg hatte, der aber dadurch aufmerksam
gemacht, nunmehr seinen Willen auf den rechten Weg mit dop-
peltem Eifer richtet, wird, wenn sein Wille gerecht ist, wieder Er-
folg haben, wieder die richtige Einstellung finden.
Aber es gibt einen Begriff im Neuen Testament, von dem im
Alten wenig oder gar nicht die Rede ist. Das ist die „Liebe". Sehen
wir genauer zu, so finden wir, daß auch hier ein Wort vorliegt für
eine gewisse seelische Einstellung. Und zwar ist dies Wort Liebe
hier nicht nur in dem mehr gewöhnlichen Sinne als Art einer Be-
ziehung zu Mitmenschen gemeint, sondern in dem Sinne eines
Gesamtgefühls, eines Gesamtverhaltens dem Leben gegenüber.
125
Weitere Entwickeln n g e n
Dies ist, trotz aller Mißverständnisse, wohl der eigentliche Sinn
dieses Wortes. Und aus dieser Liebe, aus dieser dem Leben zuge-
wendeten Grundstimmung, da fließt dann alles wie von selbst —
auch die Erkenntnis und Erfüllung des Gesetzes. Daß sich dies
natürhchhauptsächlich auch beim Verkehr mitden Nebenmenschen
auswirken wird, ist selbstverständlich. Dann erhält die Liebe in
gewissen Fällen eben den spezielleren Sinn der Menschenliebe. Aber
in der Tat ist mit dem Worte „Liebe" lediglich ein neuer Terminus
geschaffen, der die Mitarbeit der seelischen Grundeinstellung her-
vorheben soll und der vielleicht den späteren Menschen etwas ver-
ständhcherwaraus der Zeitstimmung heraus als die Terminologie
der Schöpfer des jüdischen Gesetzesbegriffes, — dem Inhalte nach
ist damit nichts gegeben, was nicht im Alten Testamente schon
vorhanden wäre, und was sich dem tiefer Denkenden aus den alten
Schriften und Formulierungen schon ergeben muß. Der Kern von
allem ist immer wieder jener allgemeine, verinnerlichte Gesetzes-
begriff, wie er den Schöpfern der jüdischen Ethik vorschwebte.
Es ist klar, daß ein derartig abstrakter und schwer darzulegender
Begriff, wenn er den ersten Prägern auch noch so klar vor der
Seele steht, unendlich schwer in Worte derart einzufangen ist, daß
ein Zweifel darüber niemals mehr entstehen kann. Es ist ferner
klar, daß es auf absehbare Zeit fast unmöglich ist, und noch mehr
in früheren Zeiten sein mußte, einen derartig abstrakten Begriff
zum Allgemeingut ganzer Völker zu machen. Immer konnte es nur
eine ziemlich dünne Schicht von Denkenden sein, die sich zu
seiner vollen Erkenntnis durchrang; andererseits aber mußte
jede Religion, welche sich auf diesem Fundamentalbegriff auf-
baute, sobald sie aus den Händen ihrer Väter an die Menge über-
ging und zur Volksreligion wurde, eben deshalb immer mehr jenen
Mißverständnissen ausgesetzt sein und entgegengehen, welche
126
Weitere E n t w i c k e l u n- g e n
aus der Unmöglichkeit diesen Begriff den Massen klar zu machen,
hervorgehen mußten. Daher aber auch waren von Zeit zu Zeit
wiederum jene Erneuerungsbestrebungen einiger Geister von
tieferer religiöser Erkenntnis verständlich und notwendig, welche
versuchten, dem alten Begriff wieder in seinem eigentlichen Sinne
Geltung zu verschaffen und ihn der Verflachung durch das Un-
verständnis der Menge zu entreißen. Fast alle großen Religions-
umwälzungen der Geschichte lassen sich in dieserWeise verstehen.
Man könnte nun auch für die weitere Entwickelung speziell der
christlichen Ethik und ihrer Begriffe in gleicher Weise den An-
schluß an unsere Überlegungen suchen, wie wir es für die alt-
jüdische Ethik getan haben, und würde dabei manch klärendes
Licht vor Augen sehen. Es stellt diese Entwickelung eine unmittel-
bare Fortsetzung des Behandelten dar, bestehend in eitlem ver-
tieften Eingehen auf die Vorgänge in der Seele des Individuums
bei seiner Auseinandersetzung mit der Welt, d.h. bei seinem Han-
deln, jedoch immer nur in speziellerer Ausführung der in der
jüdischen Ethik geschaffenen allgemeingültigen und bereits alle
Hauptlinien umfassenden Grundlagen. Eine derartige Analyse
würde uns jedoch hier zu weit führen.
Zuletzt aber muß das gesagt werden, daß natürlich auch unsere
Formulierung „von innen heraus handeln", nur Worte sind für et-
was eigentlich Unaussprechbares, die sofort preiszugeben wären
für einen verständlicheren, eindringlicheren Ausdruck. Immer wie-
der von neuem muß versucht werden, wenn auch jede Formel nach
einiger Zeit durch bessere abgelöst wird, das Unaussprechliche in
Worte zu fassen, damit wir uns alle immer klarer und bewußter
darüber werden, auf welcher Linie wir unser Leben führen sollen.
Es ist ein großes Glück, daß sich der Sinn des Daseins nicht völlig
in eine einzige, aussprechbare Formel bringen läßt, es ist gerade
127
Weitere E n t w i c k e l u n g e n
die immer bleibende unausschöpfbare Vielgestaltigkeit, die un-
übersehbare Fülle der Möglichkeiten, welche bewirkt, daß Worte
niemals unserem Lebenskerne genug tun können und welche uns
so vor der Öde starrer Formeln bewahrt. Und dennoch ist es unsere
Aufgabe, muß es die Aufgabe der Dichter und Denker sein, dieses
Unaussprechliche immer wieder zwar nicht auszusprechen, aber in
immer neuen Wendungen zu beleuchten und zu spiegeln, um uns
immer fester, sicherer und klarer in der Verfolgung des wahren
Weges zu machen.
Aus dieser Erkenntnis unseres tiefsten Lebenszieles aber fließen
dann alle anderen Lebenserkenntnisse wie von selbst. Sitten, Ge-
setze, Staatsverfassungen und Wirtschaftsformen wechseln mit den
Jahren und den Generationen (sie sind daher auch mehr Gegen-
stände der Soziologie als der Ethik), unsere Stellungnahme zu
ihnen muß folgen aus unserem tiefsten und besten Erkennen und
Fühlen heraus, hier gibt es keine allgemein gültigen, von vorne-
herein festgelegten Regeln und Maximen. Erst durch den Kampf
der verschiedenen Meinungen wird jeweils das Beste und Schönste
sich herauskämpfen aus der Fülle des Möglichen. Fest allein steht
die eine und einzige Maxime für alle Zeiten, alle Umstände und
alles Lebende: zu handeln nach dem Gesetze Gottes, das in und
um uns waltet und aus dem alles andere von selbst fließt. Auch die
Formulierungen des Christentums, die, zumal in den immer weite-
ren Vertiefungen, denen es fortdauernd unterliegt, sich den Ver-
hältnissen unserer Zeit spezieller angepaßt haben, sind letztlich
nur Ausflüsse dieses allgemeinen Gesetzes, insoferne sie gewisse
Spezialisierungen desselben darstellen, die sich besonders auf das
Verhaltengegen die Mitmenschen beziehen. Aber auch hiefür gilt,
was wir oben über Spezialisierungen des allgemeinen Gesetzes
überhaupt gesagt haben.
128
Weitere Entwickelungen
In dem Willen, diesem Gesetze nachzuleben, wird nun mancher
die Frage aufwerfen: Kann ich denn aber nach dem Gesetze Got-
tes handeln, habe ich diese Freiheit des Willens? Da ist denn zu
antworten, daß ich das ebenso kann, wie ich irgendeinem ande-
ren Gesetze nachhandeln kann. Kann ich das letztere auch nicht,
dann allerdings muß ich versagen, denn dann bin ich krank. Bin
ich aber nicht in dieser Weise krank, dann kann ich auch nach der
Richtschnur handeln, welche ich als die rechte erkannt habe. Aber
nicht allein das. In dem Moment, wo ich etwas als richtig einsehe,
ist entweder je nach meiner Charakterveranlagung dadurch bereits
ein hinreichender Anstoß, hinreichende Ursache in mir gegeben,
nach meiner Einsicht zu h'andeln oder nicht. Ist mein Charakter
so beschaffen, daß die einmahge volle Einsicht als ein hinreichen-
der Grund für meine weiteren Handlungen nicht genügt, dann
muß ich mich als so veranlagt kennen. Dann aber bedarf es nur
der Tatkraft, um in diesen Zeiten der Einsicht Maßnahmen zu er-
greifen, um mich durch äußere Erinnerungsmittel usw. auch in
den Zeiten wo ich meiner weniger sicher zu sein glaube, dauernd
an das Eingesehene zu erinnern, solange, bis auch hier das Rechte
zur Gewohnheit wird. Dies ist die Begründung der Möglichkeit
der Selbsterziehung, und man bemerkt, daß man dabei über die
Freiheit des Willens gar nichts weiter auszusagen brauchte
Wir sind heutzutage vielfach geneigt, das, was die Alten als
„Sünde", als Handlungsweise des Ungerechten bezeichneten, aus
Krankheit zu erklären. Die Gegenüberstellung des Gerechten und
des Narren in der jüdischen Ethik hat sich in den gebildeten Krei-
sen der Jetztzeit teilweise in die des Gesunden und des Kranken
verschoben. Der Kern dieser Verschiebung besteht in dem Versuch
' Ich verweise wegen dieses Problems auf mein bereits genanntes Buch „Die
Grundlagen der Naturphilosophie", Leipzig 1913.
129 9
Weitere Entwickelungen
einer Abwälzung der Schuldfrage. Eben darum ist es lehrreich, sich
immer wieder die objektive Möglichkeit der „Selbsterziehung"
vor Augen zu halten, und sich zu erinnern, daß diese wiederum
letztlich auf der nötigen Einsicht und dem nötigen Willen beruht,
aus dieser Einsicht die Folgerungen zu ziehen. Daß natürlich jeder
durch die gegebenen Umstände bestimmt wird, soll man bei der
Beurteilung anderer nicht aus den Augen verlieren. Sich selbst
gegenüber aber ist es nicht gut, sich allzuviel darauf zu berufen.
130
§11. Beispiele aus dem Alten Testament. '
Im Vorstehenden habe ich gezeigt, daß die Begriffe über die
letzten Dinge und Ziele des Seins, die wir uns auf Grund der mo-
dernsten Forschungen über die exakten Wissenschaften machen
müssen, in ihren großen Linien ihr genaues Gegenbild haben in
den uralten Begriffsbildungen der altjüdischen Ethik. Ganz wun-
derbar haben diese alten Werke, die uns von der Jugendzeit her
so vertraut sind, die uns aber später zeitweise so inhaltsleer ge-
worden waren, sich mit einem neuen reichen, unausschöpfbaren
Inhalte gefüllt und so wieder Kraft gewonnen, uns auch in unserem
von klarem kritischem Verstände beherrschten nüchternen Dasein
und Daseinskampf wieder zu Erkenntnis- und Kraftquellen werden
zu können. Aber diese Begriffe sind dafür nicht undankbar, nein
dankbar geben sie das Licht wieder zurück, das die Wissenschaft
ihnen von neuem in so reichem Maße gegeben hat, und vergelten
es, indem sie es in Wärme verwandelt, wärmespendend und lebens-
vermittelnd zurückstrahlen lassen auf die scheinbar so kalt rationa-
listischen Gedankengänge der exakten Wissenschaft. Unter ihrer
Einwirkung gewinnen diese nüchternen Gedankengruppen Leben,
tiefes lebendiges Leben, und geben damit das, was von vielen bis-
her so schmerzlich an dem Leitstern der modernen Zeit, zu dem
die Wissenschaft sich nun einmal aufgeschwungen hat, vermißt
werden mußte. Die heilige Ehe zwischen Wissenschaft und Reli-
gion zwischen Verstand und Gemüt, zwischen Gehirn und Herz
ist geschlossen und niemand soll und wird sie mehr scheiden.
131 , 9*
Beispiele aus dem Alten Testament
Um dies aber dem Leser noch lebendiger zu machen, als es
die angeführten Gedankengänge bisher vielleicht schon konn-
ten, wollen wir in diesem Paragraphen noch kurz einige Pro-
ben der altjüdisch-ethischen Literatur, die sich auf dem Gottes-
begriff und dem des Gesetzes aufbauen, etwas mehr ins Detail hin-
ein in unserem Sinne behandeln und zeigen, wie sie in unseren
Worten die tiefsten ethischen Probleme behandeln und in dem
gleichen Sinne lösen, der sich uns als letzte Konsequenz der mo-
dernen exakten Wissenschaft und Philosophie offenbart hat.
Es ist von hohem Interesse, den Versuch zu machen, sich die
Entstehungsart dieser hohen Errungenschaften des jüdischen
Volkes zu vergegenwärtigen. Wie aus vielen Stellen der Bibel her-
vorgeht, sind auch die Kinder Israel bezw. ihre Vorfahren einst-
mals Anhänger der alten orientahschen Gestirnreligion in irgend-
einer speziellen Form gewesen, welche große Reste uralter primi-
tiver Naturreligion enthielt. Eine Vielzahl von Göttern, welche teils
in Gestalt von Naturobjekten, teils wohl auch in künstHchen Bil-
dern verehrt worden sein werden, war vorhanden. Und nun kam
jener geistige Prozeß klarer, unbestechlicher, kritischer Durch-
arbeitung dieser Verhältnisse : Man bemerkte, daß diese Götter nach
keinerlei verständlichen vernünftigen Grundsätzen handelten. Man
hatte den besten, innigsten Willen, durch peinlichste Achtung der
göttlichen Vorschriften alles möglichst recht zu machen. Glaubte
man einmal eine Willensäußerung eines Gottes erkannt zu haben,
so versagte er das nächstemal. Also mußte es ein falscher Götze
sein, und wurde abgeschafft. Man wandte sich zu anderen, auch
diese versagten^; und so kam es, daß schließlich ein schöpferischer
Geist die Erfahrungen von Generationen mag zusammengefaßt
* Für die hiebei hervortretenden Gedankengänge siehe besonders den sog.
Brief des Jeremias im Buche Baruch (in den sog. Apokryphen).
132
Beispiele aus dem Alten Testament
haben in der Erkenntnis: Kein sinnliches Ding kann ein zuver-
lässiger Gott sein. Nun mag daneben eine andere Entwicklung
analog wie im Ägypten der 18. Dynastie vor sich gegangen sein,
wo aus ähnlichen Gründen einige erleuchtetere Geister ihre reli-
giösen Bedürfnisse auf eine einzige Gottheit (die Sonne unter
Amen-hotep IV) konzentrierten. So mögen auch die Vorfahren der
Juden zunächst die Sonne als einzigen Gott verehrt haben (der
bekannte Aronsche Segen „Der Herr segne dich und behüte dich
usw." läßt seine Abkunft von einem alten Sonnensegen nicht ver-
kennen). Dann mag auch die Sonne als sichtbares Objekt als Gott
versagt haben, und in schöner Synthese hat ein unbekannter reli-
giöser Schöpfer die Lehre von dem einen unsichtbaren Gotte Israels
geschaffen. Auch dieser Begriff machte Wandlungen durch, welche
aus der Tendenz, sich vom ausgesprochenen Nationalgott (mit dem
die Götter anderer Völker anfangs noch direkt konkurrieren konn-
ten) zum „Weltgotte" zu entwickeln, entsprangen.
Parallel hiermit ging die Entwickelung der Ethik. Ursprünglich
war sie wohl als Gehorsam gegenüber den Geboten einer despoti-
schen Gottheit entstanden. Dabei waren diese Gebote wohl zu-
nächst lediglich von den Priestern ausgegebene Kult- und Ver-
haltungsgesetze. Nach und nach, als die Befolgung derselben nicht
vor Ungemach schützte, entstand die wichtige Erkenntnis, daß das
wahre Gesetz des Herrn nie ganz erkannt werden könne. Die in-
tuitive Vereinigung einer höchsten Idee des göttlichen Gesetzes
mit dem höchsten Gottesbegriff ist wohl nur ganz wenigen auf
kurze Strecken gelungen. Aber vorhanden war sie, und es war der
Höhepunkt der klassischen Zeit jüdischer Religionsschöpfung —
wir haben die unvergänglichen Denkmale dafür in vielen Psalmen.
Darnach scheint mit dem wieder zunehmenden politischen Miß-
geschick ein allmähliches Wiederherabsteigen vom klassischen
133
Beispiele aus dem Alten Testament
Höhepunkt stattgefunden zu haben. Der Begriff des Gesetzes er-
starrt wieder, bis er zu demjenigen wurde, den in wunderbarem
Konservativismus das jüdische Volk durch die Jahrtausende im
wesentHchen unverändert hindurchgetragen hat. Die Tiefe und
der Ernst, mit der jenes Volk die ethischen Probleme angefaßt hat,
geht vielleicht am schönsten hervor aus der Erzählung vom Baum
der Erkenntnis des Guten und Bösen (2. Mos. 17). Daraus, daß der
Dichter die ersten Menschen alles aufs Spiel setzen läßt, um nur
das eine zu erfahren : was gut und böse sei, läßt sich erkennen, wie
über alles andere wichtig ihm selbst dieses Problem geworden,
aber daß es ihm auch ein Problem geblieben war.
Die Anschauungen, wie wir sie schließlich in reinster Form in
den Psalmen des Königs David und in den lehrhaften Partien des
Pentateuchs, speziell des Deuteronomiums, wiedergegeben finden,
sind nicht in gerader Linie entstanden, sondern auch diese haben
sich durch eine Menge widerstreitender Meinungen hindurchzu-
ringen gehabt : Unbeschreiblich wertvolle Reste von anderen An-
schauungen sind uns teilweise im Kanon erhalten. Die beiden
hauptsächlichsten sind : Das Buch Hiob und der Prediger Salomo-
nis (Cohelet). Wir wollen zunächst das erste etwas betrachten.
Man lese einmal das Buch Hiob unter unseren Gesichtspunkten.
Der alte Hiob ist gerecht, wie er glaubt, er tut alles, was das Ge-
setz, wie er es meint, verlangt. Und dennoch schlägt ihn Gott.
Dieses Tun Gottes ist motiviert durch die Aussage, daß Gott „ihn
versuchen wollte". Aber Hiob bleibt lange getreu. Erst als ihm
alles genommen ist, und er in tiefsten körperlichen und seelischen
Qualen sich auf dem Krankenlager wälzt, da murrt er gegen Gott
und fragt: Warum? und verflucht den Tag, da er geboren ward.
Und dann kommen seine Freunde, und es hebt jene Diskussion
an, die uns anmutet wie die ewige Auseinandersetzung des Men-
134
Beispiele aus dem Alten Testament
sehen mit dem Geschick: „Ich werde gestraft, womit habe ich ge-
sündigt?" Eine eigentHche Lösung des Problems wird in der Schrift
nicht gegeben, jedoch kommt immer wieder die Auffassung zum
Durchbruch, daß Hiob für seine Selbstgerechtigkeit gestraft wird,
und wenn wir natürlich auch eine derartige Häufung schwerster,
unberechenbarer Unglücksfälle auf das Haupt eines Menschen,
wie dies von Hiob erzä*hlt wird, nicht in unserem Sinne als selbst-
verschuldet ansehen können, so ist doch der eine Gedanke nicht
von der Hand zu weisen, daß die seelischen Leiden — und diese
sind letztlich doch die schmerzhaftesten — durch eine geringere
Selbstgerechtigkeit nicht ganz so fühlbar gewesen wären.
Es ist natürlich stets unrichtig, ja, wie wir wissen, sinnlos, wenn
der Mensch dem Schicksal gegenüber irgendein Recht zu haben,
oder sich erwerben zu können glaubt. Er kann immer nur sich
möglichst nahe an das „Gesetz" (in unserem Sinne) halten, so-
weit er es versteht, und dann zusehen, ob es ihm gelungen ist,
das Schicksal zu meistern. Ist's ihm nicht gelungen, so hat er ent-
weder Fehler gemacht, oder das Schicksal war stärker als er, dann
zeigt es ihm seine Schwäche. Und sein einziger Ausweg kann nur
der sein, die Fehler zu vermeiden, seine Schwäche zu stärken,
Schutzmittel zu ersinnen für die ungeschützteStelle,die das Schick-
sal ihm gezeigt hat. Dies ist die wahre Art, dem Gesetze zu ge-
horchen: den Kampf mit dem Schicksal unentwegt aufzunehmen.
Das Schicksal sucht immer neue Blößen des Kämpfenden zu ent-
decken, aber unentwegt wird der Mensch neue Schutzmittel da-
gegen finden. Aber ein Recht auf Schonung, auf Nichtbenutzung
irgendeiner schwachen Stelle durch das angreifende Schicksal
hat der Mensch nicht— diese können, ja müssen sich Menschen
untereinander gelegentlich gewähren — aber das Schicksal duldet
keine schwache Stelle in unserem Panzer, ob diese nun vom ein-
135
Beispiele aus dem Alten Testament
zelnen Individuum selbstverschuldet ist oder nicht, ob sie von einer
Menschengruppe oder der Menschheit, dem Leben selbstverschul-
det ist oder nicht, das macht keinerlei Unterschied.
Im ganzen aber ist das Buch Hiob im wesentHcheti „Theorie",
d. h. es wird ein extremster Fall konstruiert und in seine Konse-
quenzen durchzudiskutieren unternommen, eineMethode, die auch
heute noch bei allen wissenschaftlichen Diskussionen mit Erfolg
geübt wird. Wir haben in diesem Werke einen schwerwiegenden
Beweis für die Tiefe und den Ernst, mit dem in jenen alten Zeiten
die ethischen Grundfragen gerade auch nach der theoretischen
Seite hin erwogen wurden. Diese Erkenntnis kann nur dazu dienen,
unsere Hochachtung für das Endresultat dieser Diskussionen, das
uns in der Religion und Ethik der Psalmen Davids entgegentrat,
zu erhöhen, indem wir einsehen, daß der Werdeprozeß dieses Re-
sultates keineswegs ein sozusagen rein instinktiver Entwicklungs-
prozeß war, sondern daß wir in ihm in weitem Maße den Effekt be-
wußten Nachdenkens vor uns haben.
Haben wir im Buche Hiob den theoretischen Extremfall einer
Häufung sozusagen sinnloser Unglücksfälle auf das Haupt emes
einzelnen, und den inbrünstigen Versuch, auch diese theoretisch
zu verstehen und zu interpretieren, so haben wir im Cohelet eine
andere wichtige Möglichkeit aus der Diskussion über diese ethische
Interpretation der Menschenschicksale. Dieses Werk negiert über-
haupt dasFundamentdieserganzenVersuche,esnegiert die ethische
Einstellung überhaupt, indem es an der Möglichkeit der ethi-
schen Wertung und des ethischen Verstehens unserer Geschicke
verzweifelt und zwar auf Grund des gleichen unrecht verstandenen
äußerlichen „Gesetzesbegriffes" wie bei Hiob. Bei seinem Ver-
fasser ist die den Klassikern des Alten Testamentes so natürliche
ethische Einstellung in einem solchen Übermaß vorhanden, er
136
Beispiele aus dem Alten Testament
zeigt eine so ins Übermaß gesteigerte ethische Sensibilität, daß die
Tatsache der Unmöglichkeit der vollständigen und exakten Beant-
wortung der Frage, was Gut und Böse sei, ihn veranlaßt, auf einen
Lösungsversuch überhaupt zu verzichten unter der Formulierung,
daß alle Bemühungen in dieser Richtung „eitel" seien. Er faßt
seine Lebenserfahrungen dahin zusammen, daß man überhaupt
nichts sagen könne: er habe Gerechte gesehen, denen es schlecht
ging, und Ungerechte, denen es gut ging. Ihm mangelt jene see-
lische Elastizität, welche trotz solcher Erfahrung, die auch in den
Psalmen immer wieder vorkommen, das Vertrauen auf die Wirkung
des ethischen Prinzips sich nicht entreißen läßt. Dieses Vertrauen
kann eben, wie wir sahen, nur durch die Erkenntnis erhalten wer-
den, daß das Handeln nach dem Gesetz nicht in der Befolgung
irgend welcher äußerer Gesetze besteht, sondern daß es eine innere
Gesamthaltung ist, welche den Gerechten vom Ungerechten unter-
scheidet, und wo diese vorhanden, dies läßt sich nicht immer nach
äußeren Umständen eindeutig entscheiden. Es ist ein überstarker
Individualismus, ein Sichanklammern an einzelne Fälle, die den
Verfasser dann naturgemäß zu jenem tragischen Pessimismus führt.
Aber welche bewundernswerte Vorurteilslosigkeit und welch ge-
waltiger, schwerer Ernst, welch reine menschliche Tragik spricht
aus diesem Buche, dessen Autor aus offenbar schwerstem persön-
lichem Erleben heraus mit einem unendlichen ethischen Willen
seine Erfahrungen zu deuten sucht, wenn auch in unserem Sinne
erfolglos. Und doch findet auch er eine Formel, die ihn das Leben
weitertragen läßt, wenn er auch darauf verzichtet hat, in ihm eine
Richtung zu erkennen. „So sah ich denn, daß nichts besseres ist,
denn daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist
sein Teil. Denn wer will ihn dahinbringen, daß er sehe, was nach
ihm geschehen wird?"
137
Beispiele aus dem Alten Testament
Es ist vielleicht hier die Stelle, folgende Bemerkung zu machen:
Die Geschichte der Philosophie in der üblichen Fassung be-
ginnt bei den jonischen Philosophen, Sie hält sich dann stets, bis
zum Neuplatonismus in Griechenland. Es ist im allgemeinen nicht
üblich, die altjüdischen Schriften dabei heranzuziehen. Aus un-
seren Überlegungen im Verlaufe dieser Schrift ergibt sich, daß dies
von Grund aus falsch ist. W«s den einzigartigen und ganz ihr an-
gehörigen Kern der griechischen Philosophie ausmacht, das ist die
Entdeckung der theoretischen Wissenschaft, welche sich haupt-
sächlich in der Entdeckung der Geometrie und der aristotelischen
Logik dokumentiert. Es ist die Erfindung der synthetischen, aprio-
rischen Konstruktion, welche die Haupterrungenschaft der grie-
chischen Entdeckungen ausmacht und die Grundlage der moder-
nen theoretischen Wissenschaft bildet. Den Juden dagegen gelang
der tiefste Einblick in die Mechanik des Daseins, auch sie stellten
eine Theorie auf, die Theorie des richtigen Handelns (des „Ge-
rechtseins") und zwar auf Grund tiefgehender Erkenntnis des
Gesamtzusammenhangs der Dinge. War es bei den Griechen die
Philosophie der Logik, welche sie begründeten, so war es bei den
Juden die Philosophie der Wertungen, Zielstrebigkeiten. Beide
Dinge haben zwar zunächst scheinbar keinen unmittelbar sofort
auf der Hand liegenden direkten Zusammenhang, doch wenn es
sich um die Geschichte der Philosophie handelt, ist eines so wich-
tig wie das andere, und wie dennoch ein tiefster Zusammenhang
zwischen beiden besteht, das haben wir in dieser Schrift zu zeigen
versucht. Es ist im wesentlichen wohl der Umstand, daß die alt-
jüdische Literatur durch ihren Zusammenhang mit der Religion
scheinbar aus dem allgemeinen menschlichen Entwickelungsgang
herausgehoben und herausgenommen war, welcher bewirkte, daß
sie zwar einerseits als göttlich verehrt bei der Menge des Volkes,
138
Beispiele aas dem Alten Testament
andererseits aber bei den wissenschaftlich Gebildeten der heutigen
Zeit vielfach unterschätzt erscheint. Eine rein wissenschaftliche
Betrachtungsweise, wie wir sie hier versuchten, wird erst erreichen,
auch in der Geschichte der Philosophie ihr die ihr gebührende
grundlegende Stellung anzuweisen.
Wenden wir uns zu den Psalmen.
Wohl das grandioseste Dokument der im vorigen geschilderten
religiösen Auffassung in der ganzen Weltliteratur ist der erste Psalm.
Das Extrakt dieser Anschauung wird hier mit klassischer Kürze
in der davidischen Form und in den wundervollsten Bildern zum
Ausdruck gebracht. Es ist dieEssenz von jahrtausendlangermensch-
licher religiöser Entwickelung, die uns hier in einem wie aus Erz
gegossenen Denkmal ältester Menschenerfahrung entgegentritt.
Wenn wir versuchen, diesen Gesang auf Grund unserer Darlegung
etwas zu analysieren, so können wir uns direkt der Sprache be-
dienen, die wir für diese Dinge gefunden haben und schon in den
vorhergehenden Paragraphen mit der alten religiösen Sprache der
Psalmen verglichen und in Einklang gebracht haben.
Es sind im wesentlichen vier Strophen, je zu fünf, vier, vier und
zwei Zeilen,in die wirden Gesang einteilen können. Das Gedicht, das
eineZusammenfassung derganzen altjüdischen ethischen Erkennt-
nis darstellt, steht wohl deshalb an der Spitze der ganzen Samm-
lung. Die erste Strophe enthält sozusagen die Definition des Ge-
rechten. Sie schildert, in zwei Teile zerfallend, einerseits was der
Gerechte nicht tut und dann was der Gerechte tut.
„Wohl dem, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen,
Noch tritt auf den Weg der Sünder,
Noch sitzt, da die Spötter sitzen."
Gerecht also ist, heißt mit anderen Worten, wer nicht im Rate der
Gottlosen wandelt usw. Dies alles sind Umschreibungen, sind
139
Beispiele ans dem Alten Testament
Ausdrücke dafür, daß der Gerechte sein Handeln weder entgegen
dem letzten Ziel einrichtet, noch auch dasselbe leichtfertig und
unter Verachtung dieser letzten Dinge gestaltet. Wie er dagegen sein
Handeln einrichtet, das sagt uns der zweite Teil der ersten Strophe :
„Sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn
Und redet von seinem Gesetze Tag und Nacht."
Nicht als Gegner der göttlichen Ziele, auch nicht als Verächter
des Gesetzes des Seins handelt also der Gerechte, sondern er denkt
unausgesetzt an dieses und handelt unausgesetzt nach ihm, aber
er handelt nicht nur nach ihm, er tut dies auch „mit Lust". Sein
ganzes Inneres ist erfüllt von dem Willen und der frohen Zuver-
sicht, im Sinne Gottes zu handeln, im Sinne dessen, was er
seinem Verstehen gemäß als das Gesetz des Daseins einzusehen
vermag.
Und nun spricht der Psalmist davon, daß dem, der in dieser
Weise handelt, wohl sei. Die zweite Strophe enthält in einem
wundervollen Bild die Verheißung, wodurch er belohnt wird, mit
anderen Worten, in welcher Art es ihm Wohlergehen werde, falls
er als Gerechter handelt:
„Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen,
Der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken
Und was er macht, das gerät wohl." [nicht,
Blühen und Gedeihen also ist es, was der Psalmist dem Gerechten
verheißt und Gelingen seiner Pläne, Erfolg seiner Handlungen.
Ferner aber, und das ist wichtig für das überindividuelle Wohl-
ergehen, auch seine Blätter werden nicht verwelken, d. h. seine
Werke und sein Stamm werden lebensfähig und lebenskräftig-sich
erhalten.
Nun kommt die Betrachtung des Gegenteils. Die dritte Strophe
handelt von denen, die nicht Gerechte sind, die mit einem andern
140
Beispiele aus dem Alten Testament
Worte, wie es der Psalmist sagt, gottlos sind, die also nicht im
Sinne der Lebensziele oder im Sinne des Geschehens überhaupt
handeln wollen oder können.
„Aber so sind die Gottlosen nicht.
Sondern wie Spreu, die der Wind verwehet;
Darum bleiben die Gottlosen nicht im Gericht
Noch der Sünder in der Gemeine der Gerechten."
Es ist klar: diejenigen, welche dem Sinne des Geschehens ent-
gegenhandeln, müssen daran scheitern, und wenn sie sich nicht
belehren lassen, daran brechen. Wenn also sozusagen eine letzte
Probe gemacht wird, so werden sie bei dieser nicht bestehen.
Die vierte und letzte Strophe faßt noch einmal in zwei Zeilen
in lapidaier Weise den ungeheuren Gegensatz zusammen, der den
Kern dieser Anschauung bildet :
„Der Herr aber kennet die Wege der Gerechten,
Aber der Gottlosen Weg vergehet."
Es sei bemerkt, daß statt der lutherschen Übersetzung „kennet"
andere Übersetzer ein anderesWort wählen, so schreibt Landau:
„liebt", Zunz schreibt „merkt auf".
Der ganze Gesang zeigt die dargelegte Anschauungsweise in
kürzester, prägnantester und darum auch vielleicht etwas schroffer
Weise. Natürlich ist die Einteilung der Menschen in Gerechte und
Gottlose nicht in dieser Weise wirklich durchführbar, nicht jeder
ist und bleibt dauernd etwa der einen oder anderen Art zugeteilt
und keiner kann darauf pochen. Was jedoch der Psalmist eigent-
lich meint, das ist die Gesamteinstellung des einzelnen dem Leben
gegenüber. Hat er den Willen, dem „Gesetze" (in unserem Sinne)
zu folgen, so hat er die seelische Einstellung des „Gerechten" und
wird irgendwie Erfolg haben — im andern Falle nur schwer. Voll-
kommen verfehlt wäre es aber, auf Grund dieser Anschauung über
141
Beispiele aus dem Alten Testament
andre urteilen und aburteilen zu wollen. Ist es doch schon jedem
einzelnen sich selbst gegenüber schwer genug, seinem besten
Willen „gerecht" zu handeln, genug zu tun, und zu wissen, was
„gerecht", was „ungerecht" ist. Um so viel schwerer ist es daher
bei der Handlung eines anderen, dessen innere und äußere Um-
stände man nie so genau kennen kann wie die eigenen, ein der-
artiges Urteil zu fällen. Besonders wichtig aber ist die Überlegung,
daß bei jeder Handlung sämtliche Umstände beachtet werden
müssen, wodurch das Urteil bedeutend erschwert wird, ja, daß als
einziges Kriterium letztlich der gute Wille zum Gesetz des Seins
und das Vorhandensein und die volle Wirksamkeit der ganzen
seelischen und geistigen Begabung des einzelnen in Frage kom-
men kann.
142
Anhang.
Die im zweiten Kapitel gegebenen wissenschaftstheoretischen
Ausführungen konnten natürhch noch weiter erkenntnistheoretisch
unterbaut werden. Jedoch ist leicht zu sehen, daß für die eigent-
liche Ethik das Gegebene völlig genügt. Die Ethik ist die Lehre
vorr Handeln, bezieht sich also ausschließlich auf unsere Bezie-
hungen zu der gewohnten Außenwelt mit ihren vorhandenen Be-
dingungen. Diese ganze, bereits näher differenzierte Umwelt liegt
also der Ethik bereits zugrunde, nicht die undifferenzierte Umwelt,
mit der sich die Erkenntnistheorie beschäftigen muß, sondern die
bereits in einem Zustande weitgehender logischer Verarbeitung be-
findliche Umwelt des täglichen Lebens. Damit ist unsere obige
These bewiesen. Ganz ebenso liegt es, wenn wir den allgemeinen
Gottesbegriff betrachten, mit dem wir uns im Texte beschäftigten.
Auch dieser Begriff setzt zu seiner Bildung bereits eine weitgehend
durcharbeitete Umwelt voraus, bedarf also nicht der unmittelbaren
erkenntnistheoretischen Fundierung, welche natüriich dadurch zu
leisten wäre, daß vom logisch völlig Ungeformten ausgegangen
würd^Wir können diese erkenntnistheoretische Grundlegung,
nachdem sie bis zur Welt unseres Alltagsdaseins gediehen ist, ruhig
als geleistet voraussetzen, da uns hier der Raum mangelt, sie im
einzelnen auszuführen. Keinesfalls kann die erkenntnistheoretische
Grundlage zu dem Gesagten irgend etwas Wesentliches hinzufügen
oder etwas daran ändern.
143
Anhang
Der Vollständigkeit halber sei noch angefügt, daß wir an einer
Stelle ein Problem streiften, das in gewisser Hinsicht von theore-
tischer Bedeutung für unsere Überlegungen ist, das aber eineerld-
gültige Lösung noch nicht gefunden hat. Das ist das auf Seite 56
unten und 57 berührte Problem einer „Entwickelung des Weltalls" .
Auch hier wird sich auf methodologischem Wege einst eine Lösung
ergeben. Einstweilen sind wir jedoch nicht so weit.
Wer sich für Literatur zu den im zweiten Kapitel gegebenen
wissenschaftstheoretischen Ausführungen interessiert, den möchte
ich vor allem auf meine „Grundlagen der Naturphilosophie, Leip-
zig 1913" verweisen, für speziellere Zwecke auf meine „Grund-
lagen der angewandten Geometrie, Leipzig 1911". Zur Religions-
philosophie siehe im übrigen die vorzüglichen Schriften von Kon-
stantin Ostreich.
144
vom gleichen verf asser sind u. a. erschienen:
Grenzen und Ziele
der \Vissenscnaft
Leipzig 1910 / JoKann Amtrosius Barth
Die Grundlagen
der angew^andten Geometrie
Eine Untersucliung über Jen Zusamitnennang
ÄW^iecnen Tn eorie und Erfanrung in
den exakten AÄ^issensdiaften
Leipzig 1911 / Akademisclie Verlagsgesellöchaft m. b. H-
Die Grundlagen
der Naturpnilosopnie
Leipzig 1913 / Verlag Unesma G. m. b. H.
Das Prinzip
der logfiscnenUnatkängigKeit i:
der Mathematik, zugleich als
Einrührung m dieÄxiomatik
München 1915 / Theodor Ackermann
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BL Dingler, Hugo
240 Die Kultur der Juden
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