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Full text of "Die Kunst unserer Zeit; eine Chronik des modernen Kunstlebens"

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UNSERER 

ZEIT 

EINE  CHRONIK  DES      / 

äX/a^dernen  Künstlebens., 


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DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT 


EINE  CHRONIK 


DES 


MODERNEN  KUNSTLEBENS. 


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MÜNCHEN 
FRANZ  HANFSTAENGL 

ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


5 


KGL.  HOF-  UND  UNIVER8ITÄTS-BUCHDRCCKEREI  DR.  C.  WOLF  &  SOHN. 


Inhalts -Angabe. 


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1900.    II.  HALBBAND. 


Literarischer  Theil. 


Seite 


Heilnieyer,     Alexander.        Münchener    Jahres- 

Ausstellungen   1900 113 


.«elte 


Heil mey er,  Alexander.    Ueber  deutsche  Plastik     157 


Vollbilder. 


Seite 

Münchener  Jahres- Ausstellungen    1900. 

Bredt,  F.  M.     Eva  und  Maria 132 

Defregger,  F.  v.     Tiroler 120 

Eisenhut,  F.     Theetrinker  in  Samarkand     .     .  136 

Firle,  W.     Unter  blühenden  Blumen    ....  116 

Jvanovits,  P.     Furor  teutonicus 152 

Kaulbach,  F.  A,  v.     Das  Spielzeug    ....  120 

Lenbach,  F.  v.     Fräulein  Seh 128 

Löwith,  W.     Im  Vorzimmer  des  Ministers  .     .  136 

Müller-Kurzwelly,  K.     Fallende  Blätter    .     .  116 

Petersen,  H.     Auf  hoher  See     ......  148 

Rau,  E.     Nach  der  Pürsch 154 

Ritzberger,  A.     Abendklänge 152 

Rupprecht,  T.     Frauenbildniss 144 

Schmutzler,  L.     Quadrille      . 144 

Schuster-Woldan,  R.     Odi  profanum 128 

Seifert,  A.     Der  Hesperiden  goldene  Aepfel   .  132 

Stuck,  F.     Dionysos 154 

Thoma,  H.     Frühlingsmärchen 148 


Seite 
Ueber  deutsche  Plastik. 

Begas,  R.     Venus  und  Amor 208 

Flossmann,  J.     Beethoven 188 

Hähnel,  E.     Aus  dem  Bacchuszuge     ....  172 

Hildebrand,  A      Der  Kugelspieler      ....  180 

Klinger,  M.     Kauernde 216 

Maison,  R.     Statue  Otto  1 216 

Rauch,  Ch.     Viktoria ■  164 

Rietschel,  E.     Goethe  und  Schiller    ....  172 
Schadow,    G.      Grabmal    des    jungen    Grafen 

Alexander  v.  d.  Mark 164 

Schilling,  J.     Der  Morgen 176 

—  Die  Nacht 180 

Schwanthaler,  L.  v.     Brunnenfigur     ....  200 

Siemering,  R.     Germania-Denkmal  in  Leipzig  176 

Stuck,  F.     Die  Amazone 188 

Thorwaldsen,  B.     Adonis 160 

—  Tag  und  Nacht 160 

Wagmüller,  M.     Das   Grabmal   des   Künstlers  208 

Widnmann,  M.  v.     Antikes  Relief      ....  200 


Textbilder. 


Münchener  Jahres 

Seite 

Beggrow-Hartmann,  O.     Fische   .....  126 

Black,  Andrew.     Im  alten  Schottland  ....  140 

Bios,  Carl.     Schwarzwälderin 117 

Burger,  Anton.     Tuchgaden 132 

Diez,  Julius.     In  arte  libertas 153 

Eichler,  R.  M.     Gewitter  im  Frühling     .     .     .  121 

—     Heugeruch 135 

Erdtelt,  M.     Mädchenbildniss 131 

Erler,  Fritz,     Die  Pest   .........  134 

Exter,  Julius.     Eine  Ueberraschung      ....  127 

Fink,  August.     Novemberabend 125 

Georgi,  Walther.     Kartoffelernte 133 


-Ausstellungen  1900. 

Seite 

Hahn,  Hermann.     Christus 154 

Haider,  Karl.     Abendlandschaft  mit  heimkehr- 
endem Ritter 147 

Herterich,  Johann.     Der  Erlöser 130 

Heyden,  Hubert  von.     Kampf 146 

Hoch,  Franz.     Landstrasse 116 

Hofner,  J.  B.     Schafe 120 

Jank,  Angelo.     Heidi! 145 

Kaiser,  Richard.    Alter  Steinbruch  bei  Kuf stein  141 
Kaulbach,  F.  A.  v.     Prinzregent  Luitpold  von 

Bayern 115 

Keller,  F.    Bildniss  des  Grossherzogs  von  Baden  123 


Seite 

Klinger,  Max.     Schlafende 152 

—     Tänzerinnen 155 

Kunz,  Adam.     Stillleben 137 

Laing,  James.     Hafen  in  Dordrecht     ....  136 

Laurenti,  Cesare.     Hirtenleben 129 

Lucius,  Sebastian.     Römischer  Fries    .     .     .     .  113 

Marr,  Carl.     Dämmerung 120 

Messerschmitt,    P.    F".      Vor    dem    goldenen 

Löwen 128 

Münzer,  Adolf.     Arbeit  und  Luxus      .     .     .     .  124 

Netzer,  Hubert.     Orpheus-Brunnen       ....  150 

Oppler,  Alexander.     Porträtbüste 143 

Palazios,E.  Grabmal  einer  vornehmen  Spanierin  156 


Seite- 

Propheter,  Otto.     Bildniss  der  Frau  Junker    .  138 

Samberger,  L.     Bildnisstudie 148 

Schaefer,  Phil.   O.     Ständchen 119 

Schmitzberger,  J.     Aus  unseren  Bergen     .     .  126 

Schreuer,  Wilhelm.    Reconstruirte  Stadtansicht  128 

Schulz,  Helene      Damenbildniss 124 

Schuster- Wold an,   Raffael.      Porträt   I.    Höh. 

der  Herzogin  von  Mecklenburg.     .     ,     .  118 

Spence,  H.     Landschaft      ........  139 

Taschner.     Rauhbein 149 

Wirth,  Anna  Marie.     In  der  Apotheke    .     .     .  122 

Zerritsch,   F'ritz.     Bruckner-Denkmal        .     ,      .  151 

Zumbusch,  L,  v.     Greis  und  Kind      ....  146 


Ueber  deutsehe  Plastik. 


Antike  Plastiken:    Grabmal  (Doppelporträt)  .  157 

—  Das  Peristil  eines  pompejanischen  Hauses  158 

—  ZweiGrabmäler  vom  attischen  Friedhof  161  163 

—  Ansicht  aus  einem  pompejanischen  Hause 

mit  einer  Porträt-Herme 159 

—  Gräberstrasse  vom  attischen  Friedhofe  vor 
dem  Tipylon  in  Athen 160 

—  Römisches  Grabmal 164 

Begas,  R.     Merkur  und  Psyche 208 

—  Adolf  Menzel 209 

—  Schillerdenkmal  in  Berlin 210 

Brugger,  F.  Cheiron  lehrt  Achill  das  Saitenspiel  206 

Flossmann,  J.     Büste 197 

—  Zwei    Reliefs    vom    Bismarck-Thurm    am 
Starnbergersee 198 

—  Eine  Mutter 199 

Hautmann,  K.    Königin  Elisabeth  von  Böhmen  205 

Hähne  1,  E.     Aus  dem  Bacchuszuge    .     .     .     .  176 

—  Leukothea  lehrt  dem  kleinen  Bacchus  das 
Tanzen 177 

—  Entwurf  zu  einem  Standbilde  Raffaels      .  178 
Hildebrand,  A.     Hirtenknabe 187 

—  Der  Flötenspieler 188 

—  Porträt 190 

—  Trinkender  Knabe 191 

—  Kain  und  Abel 192 

—  Weibliche  Figur 193 

Hudler,  A.     Der  Schnitter 219 

—  Bildnissbüste 217  218 

—  Adam 218 

Kurz,    E.      Relief    zum    Geiger- Schauenburg- 

Denkmal  in  Lahr 194 

—  Bildniss 195 

—  Porträt 197 

Maison,R.  Herold  v.  Reichstagsgebäude  in  Berlin  211 

—  Brunnen  in  Fürth 212 

—  Brunnen  in  Bremen 213 

—  Der  Philosoph 214 

Netzer,  H.     Giebelfigur  am  Justizpalast  .     .     .  220 


Netzer,  H.     Brunnenfigur .  220 

—  Entwurf  für  ein   Denkmal 220 

Rauch,  Christian.     Max  Joseph-Denkmal      .      .  169 

—  Goethe  im  Hausrock 171 

—  Standbild  des  Philosophen  Immanuel  Kant  172 
Rietschel,  E.     Lessingstatue  ........  173 

—  Das  Standbild  Luthers 174 

—  Büste  des  Bildhauers  Rauch 175 

Seffner,  K.     Max  Klinger 214 

—  Königin  Carola  von  Sachsen 215 

—  Zwei  Bildnissbüsten 216 

Schadow,    Gottfried.     Studie    zu   einem   Relief 

am  Zietendenkmal 166 

—  Entwurf  zu  einem  Denkmal  Friedrich  des 
Grossen 167 

—  Standbild  des  General  Zieten       .     .     .     .  168 
Schilling,  J.     Der  Krieg.     Statue   am   Nieder- 
wald-Denkmal      183 

—  Kriegerdenkmal  in  Hamburg  (\'order-  und 
Rückansicht) 184  185 

—  Schwanenmädchen 186 

—  Relief  vom  Niederwald-Denkmal  .  .  .  189 
Schwanthaler,  L.  v.     Melusine 202 

—  Drei  Grazien 203 

—  Grabrelief 203 

—  Entwurf:  Johann  Wilhelm  1 204 

—  Entwurf:  Velasquez 204 

Siemering,  R.     Krieg 179 

—  Relief  zum  Einzug  der  siegreichen  Truppen 

in  Beriin 180 

—  Washington-Denkmal 181 

—  Relief  zum  Gräfe-Denkmal  in  Berlin  .  .  182 
Stuck,  Franz.     Verwundeter  Centaur  ....  200 

—  Der  Athlet.  (Vor-  und  Rückansicht)  .  .  201 
Thorwaldsen,  Bertel.  Aus  dem  Alexanderzuge  165 
Wagmüller,  M.     Barmherzigkeit 207 

—  Selbstporträt,  Oelgemälde 208 

Widnmann,  M.  v.     Stein  werf  ender  Krieger     .  206 

—  Grabrelief 206 


Seöasiian   J.ii 


Römischer  Fries 


ÜBER  DIE 


Münchener  Jahres-Ausstellungen  1900 


VON 


ALEXANDER  HEILMEYER 


Eigentlich  bieten  Ausstellungen,  wo  ein  Bild  neben  dem  andern  hängt  und  jedes  eine  andere  Art 
hat,  keinen  Genuss,  und  ein  so  feinfühliger  Künstler,  wie  Anselm  Feuerbach  war,  hatte  ein 
Recht  zu  sagen,  Ausstellungen  gleichen  Jahrmärkten,  worauf  Dutzende  von  Drehorgeln  spielen  und 
jede  eine  andere  Melodie.  Für  Werke,  die  eine  in  sich  ruhende  eigene  Welt  darstellen,  macht  sich 
dies  besonders  störend  geltend.  Man  hat  in  neuerer  Zeit  angefangen,  einen  anderen  Standpunkt 
einzunehmen  und  auf  eine  einigermassen  künstlerische  Umgebung  der  Bilder  Werth  zu  legen,  womit 
allerdings  noch  nicht  jener  ideale  Zustand  erreicht  ist,  dass  Jeder  eine  gerade  seiner  Kunst  angepasste 
Umgebung  bekommt,  ein  Verhältniss,  wie  es  sich  nur  einige  unabhängige  Künstler  Englands  geschaffen 
haben,  indem  sie  im  eigenen  Hause  ihre  Werke  ausstellten.  Bei  uns  sind  die  Ausstellungen 
nothwendige  Veranstaltungen,  deren  Ausfall  als  Kunstmarkt  für  die  Künstler  ein  empfindliches  Manquo 
bedeuten  müsste.  Sie  gleichen,  wie  Einer  treffend  sagte,  einer  Börse,  die  Künstler  und  Kunstliebhaber 
unterrichtet,  wie  die  künstlerischen  Strömungen  und  Werthe  stehen. 

Die  Münchener  Ausstellungen  erfreuen  sich  eines  besonderen  Zuspruchs,  sie  weisen  immer 
eine  Fülle  künstlerischer  Qualitäten  auf  und  selbst  im  heurigen  Jahre,  wo  die  Ausstellung  schlecht 
vom  Auslande  beschickt  wurde  und  viele  Heimischen  in  Paris  ausstellten,  kommt  dies  zur  Geltung. 
München  ist  immer  noch  die  künstlerische  Centrale  von  Deutschland.  Es  müssen  starke  Quellen 
der  Anregung  zum   künstlerischen  Schaffen   im   hiesigen  Boden  vorhanden    sein   und  das   gemüthliche 


II    16 


114  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Stillleben  muss  wohl  auch  dazu  beitragen,  dieses  Schaffen  zu  begünstigen  und  die  Künstler  festzuhalten. 
Denn  am  Strande  der  Spree  werden  grosse  Anstrengungen  gemacht,  die  politische  und  wirthschaftliche 
Metropole  des  Reiches  auch  zum  künstlerischen  Mittelpunkt  Deutschlands  emporzubrino-en ,  indem 
man  mit  Aufwand  glänzender  Mittel  der  modernen  Kunst  einen  Nährboden  bereiten  will. 

Eine  besondere  Eigenart  künstlerisch  individueller  Auffassung  äussert  sich  sowohl  in  alten  wie 
modernen  Werken.  Noch  sehr  beliebt  sind  Darstellungen,  wie  sie  sich  aus  dem  Zusammenleben  mit 
Land  und  Leuten  ergeben.  Von  der  einst  so  prunkenden  Höhe  des  Sittenbildes,  an  welche  Namen 
wie  Defregger,  Dietz,  Spitzweg  und  andere  erinnern,  ist  nur  noch  ein  matter  Abglanz  vorhanden, 
charakteristischer  Weise  hält  sich  die  Neigung  zu  solchen  Darstellungen  hier  bis  heute.  Auch  die 
Neigung  zu  altmeisterlichen  Reminiscenzen  hält  sich  hier  länger  als  anderswo,  und  als  Correktiv  stehen 
sie  in  unumschränkten  Ansehen,  was  jedoch  die  Münchener  Künstler  nie  gehindert  hat,  mit  seltenem 
Geschick  den  modernen  Bewegungen  zu  folgen  und  das  entwickeltere,  malerische  Gefühl  für  Licht 
und  Raum  auf  ihre  eigene  Kunst  zu  übertragen.  So  lässt  sich  beobachten,  wie  sich  des  öfteren 
urbayerische  Naturlaute  mit  verfeinerten  Symbolizismen  mischen,  und  überhaupt  begegnet  man 
nicht  selten  eigenthümlichen  Erscheinungen,  die  zum  materiellen,  schweren  Charakter  der  Münchener 
Kunst  eine  ungemein  vornehme  geistige  Note  hinzufügen. 

Die  heurige  Jahresausstellung  birgt  Kollektivausstellungen  Glasgower  Künstler,  der  Italiener, 
der  Karlsruher  Künstlergenossenschaft  und  des  Künstlerbundes,  ausserdem  sind  Werke  von  Mitgliedern 
der  Stuttgarter  Kunstgenossenschaft  vorhanden. 

Unter  den  einheimischen  Gruppen  fehlt  die  Secession,  die  im  eigenen  Hause  ausstellt,  dagegen 
ist  die  Luitpoldgruppe  und  die   «Scholle»   mit  interessanten  Werken  beschickt. 

Bei  Betrachtung  und  Besprechung  der  einzelnen  Kunstwerke  wollen  wir  von  dem  beliebten, 
aber  oft  einseitig  geübten  Einschachtelungsverfahren  nach  Historien,  Genre,  Sittenbildern  u.  s.  w. 
absehen,  desto  mehr  aber  der  Bedeutung  der  künstlerischen  Schöpfungen  nach  der  Art  und  Weise  ihrer 
besonderen  Empfindung  und  ihrer  besonderen  künstlerischen  Absichten  gerecht  zu  werden  versuchen. 

Der  Text  musste  rasch  geschrieben  werden,  und  es  ist  „daher  leicht  möglich,  dass  Manches 
übersehen  wurde,  wie  auf  einer  Eahrt  mit  dem  Schnellzuge  durch  ein  schönes  Stück  Land  mancher 
schöne  Punkt,  manches  idyllische  Plätzchen  übersehen  wird,  das  den  gemächlich  einherwandernden 
Beschauer  zum  Verweilen  einladet.  Wer  die  Ausstellung  selbst  besucht,  wird  darum  noch  manche 
Entdeckerfreude  ungeschmälert  geniessen. 

Die  Luitpoldgruppe  weist  immer  gute  künstlerische  Qualitäten  auf,  wenn  sie  auch  heuer  gegen 
das  Vorjahr  in  ihrer  Gesammterscheinung  weniger  hervortritt.  Wir  treffen  hier  Werke  an,  welche 
die  modernen  Errungenschaften  in  der  Malerei  dem  Publikum  mundgerechter  zu  machen  verstehen  als 
die  Secession,  Maler,  die  das  Plein-Air,  den  Impressionismus  und  Neuidealismus  und  den  malerischen 
Stil,  wie  er  von  England  ausging,  in  allgemein  giltige,  schöne  Form  zu  fassen  suchen.  Tüchtiges, 
geschultes  Können  und  innige  vertraute  Naturanschauung  zeigt  sich  in  den  meisten  Bildern  und  macht 
sie  für  den  Beschauer  genussreich,  lieb  und  werth.  Malerische  Experimente,  Studien  und  Materialien 
des    künstlerischen   Schaffens    sind   thunlichst    zurückgehalten,    dagegen    ist    das    Fertige,    Abgeklärte. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


115 


Reife  in  den  Vordergrund  gerückt.  Diesen  Zug  hat  überhaupt  die  ganze  Ausstellung  mit  der  Luitpold- 
gruppe  gemeinsam.  Und  wie  sich  in  Folge  der  vielfach  verschiedenen  Art  der  Maler  ein  weites, 
umfangreiches  Stoffgebiet  in  der  Darstellung  erschliesst,  so  zeigt  sich  andrerseits  gerade  in  den  ersten 
Werken  der  Ausstellung  eine  Kunst,  die  auf  das  engste  individuell  begrenzt  ist,  und  doch  in  ihrer 
idealen  Tendenz  den  breiten  und  weiten  Horizont  unserer  reifen  geistigen  Kultur  umschliesst,  die 
von  der  realen  Welt  wenig  mehr  als  die  animalen  Formen  entlehnt  und  den  seelischen,   eigentlichen 


Gehalt  der  Dinge 

wiederzugeben 
vermag. 

Wenn  man  von 
dem    jetzt    durch 

Vorhänge  so 
hübsch  getheilten 
Wandelgang  aus, 
der  die  linksseitige 
Hälfte  der  Aus- 
stellung durch- 
schneidet, durch 
die  Thüröffnung 
in   den   Mittelsaal 

der   Luitpold- 
gruppe   blickt,    in 

dem  Raffael 
Schuster-  Wol- 
dan's  Bild  «Odi 
profanum  volgus 
et  arceo»  Auf- 
stellung gefunden 
hat,  so  erscheint 
es  wie  eine  licht- 
umflossene  Apo- 
theose von  hoher 


Fritz  Aug.  V.   Kanlbach:  Prinzregent  Luitpold  von  Bayern 


malerischerSchön 

heit. 

Dieser  Maler  hat 

das  Bedürfniss, 

sich  seine  eigene 

Welt    7,urecht    zu 

machen ,    eine 

Welt,    die    ein 

Stockwerk     über 

der     realen     sich 

aufbaut.  Aus 
dieser  Anschau- 
untj  heraus  muss 
man  den  Kreis 
vornehmer  Men- 
schen, die  auf 
dem  Bilde  ver- 
sammelt sind,  zu 
verstehen  suchen. 
Das  Bild  stellt  eine 
Landschaft  dar,  in 

deren  Hinter- 
grund   man    eine 
brennende     Burg 
erblickt.      Spricht 
sich    hier   drama- 


tisch bewegtes  Leben  aus,  so  öffnet  sich  nach  der  rechten  Seite  hin  eine  beruhigende  Aussicht  in's 
Grüne.  Mitten  im  Bilde  ragt  ein  Krieger  in  Wehr  und  Waffen  über  zwei  Frauen.  Lieblich  sitzt 
die  Eine  in  kleidsamer  Tracht  in  der  Landschaft  und  ruhig  hingelagert  in  unverhüllter  Schönheit  die 
Andere,  die  eine  Harfe  umfasst  hält.  Wir  empfinden  das  Bild  in  dem  Sinne:  Der  Krieger  hält  von 
dem  zarten  Geschlechte  der  P'rauen  des  Lebens  feindliche  Gewalten  ab.  Es  ist  ein  Kreis  feinen 
Lebensgenusses  und  geselliger  geistiger  Kultur,  in  dem  er  ausruht,  wenn  er  einhält  im  Thatensturm. 

16* 


116 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Die  bekleidete  Dame  mit  den  sprechende  Gebärden  zeigt  sich  als  eine  Vertreterin  solch  feiner  Kultur 
während  man  die  nackte  Gestalt,  die  in  plastischer  Ruhe  und  Schönheit  dargestellt  ist  als  eine 
malerische  Verklärung  des  Ewigschönen  in  der  Natur  auffassen  kann. 

Natürlich  wird  es  nicht  an  Stimmen  fehlen,  die,  weil  das  Bild  einen  Hymnus  auf  die  Schönheit 
darstellt,  weil  es  schön  ist  in  des  Wortes  eigentlichster  Bedeutung,  einen  unverständigen  Lärm  erheben. 
Aber  wer  von  Natur  aus  eine  Empfindung  für  Rhythmus  und  Wohllaut,  wer  Geschmack  an  verfeinerten 


J^'ranz  Hoch:  Landstrasse 


Formen  und  Sitten,  überhaupt  an  reifer  abgeklärter  Kultur  mitbringt,  der  wird  den  persönlichen  Stil, 
der  daraus  spricht,  gewiss  nachfühlen.  Man  muss  sich  doch  allgemach  wieder  daran  gewöhnen,  die 
Kunst  nicht  nur  in  Formen  nüchterner  Wiedergabe  des  gewöhnlichen  Lebens,  sondern  als  Schmuck 
für  dies  Leben  zu  betrachten.  Das  Schöne  in  der  Natur  liegt  doch  tief  in  ihrem  ganzen  Sein  und 
Wesen  begründet,  wenn  es  sich  auch  nicht  dem  ersten  Blicke  zeigt,  so  dass  es  feine  Geister  und 
Gemüiher  immer  wieder  reizen  muss,  es  daraus  hervorzuholen  und  in  eigene  Fassung  zu  bringen, 


WalLllur  Flrie  piiix. 


C'opyri^t  1900  bj  Frani  llKiiraUeogl 


Unter  blühenden  Blumen 


K.  MQIIiT-Klirintllj  (.iiix. 


t'hol.   K.    H»ti(al«euKl,  Unuutiei 


Fallende  Blätter 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


117 


ein  Anspruch,  den  die  Naturalisten  mit  grosser 
Betonung  immer  für  sich  geltend  machen,  in 
anderer  Form  aber  nicht  gelten  lassen  wollen. 
Mir  Jenen,  der  die  Aufgabe  der  Kunst  darin 
sieht,  Dinge  aus  dem  Leben  in  eine  ideale 
Form  zu  übersetzen,  wer  einen  Kultus  der 
Schönheit  feiert,  für  den  hat  dieses  Bild  Zungen, 
die  ihm  viel  sagen,  der  erlebt  bei  seinem  Anblick 
innerlich  eine  grosse  Freudigkeit  und  es  ist  ihm 
so,  als  wenn  ihn  ein  Duft,  ein  Klang  berührte 
aus  einer  vertrauten  Welt.  Dieses  Bild  ist  wie 
Musik,   die  durch  das  Auge  geht. 

Was  für  eine  siegbewusste ,  strahlende 
Schönheit  geht  von  den  Frauen  im  Bilde  aus! 
Es  sind  adelige  Naturen ,  Aristokratinnen  des 
Lebens.  Aus  jeder  Haltung  und  Gebärde  spricht 
eine  schöne  Seele.  Was  für  ein  herrlich  Augen- 
paar schimmert  unter  dem  lichtbeschatteten  Hute 
der  sitzenden  Dame  hervor!  —  Gedämpfte,  ver- 
haltene Lebenslust  und  sinnige  Weltfreude,  eine 
sensible  Seele  verrathen  sie.  Weiche  schwellende 
Akkorde  tönen  durch  das  Bild,  mit  denen  sich 
ernstere  Klänge  mischen.  In  dieser  malerischen 
Vereinigung  von  Elementen  der  Natur  und 
Kultur  liegt  die  Poesie  des  Bildes,  wie  sie  freier,  eigenthümlicher  und  persönlicher  nur  noch 
auf    Böcklin'schen    und  Klinger'schen  Bildern  vorkommt. 

Ein  solches  Bild  kann  nur  unter  dem  Einflüsse  einer  reifen  Kultur  gemalt  werden.  Es  weist 
auf  Urahnen  wie  Rubens  und  die  grossen  Italiener  zurück,  in  deren  Schöpfungen  zum  ersten  Mal 
der  ganze  Gehalt  der  geistigen  Kultur  ihrer  Zeit  zum  Ausdruck  kommt.  In  der  Weise  einer  freien 
malerischen  Dichtung,  die  Kostümliches  und  Nacktes,  Naheliegendes  und  Fernes  mit  einander  verwebt, 
haben  solche  Darstellungen  in  Giorgone  ihren  Vorläufer.  Schon  bei  ihm  finden  wir  die  gleiche 
malerische  Ungezwungenheit  der  Anordnung,  durchsättigt  mit  durchgeistigter  malerischer  Empfindung. 
Wer  auch  mit  dem  Problem  und  dem  Inhalte,  den  der  Maler  auf  seine  eigene  Weise  in  das  Bild 
gelegt  und  in  edlen  Formen  gelöst  hat,  sich  nicht  auseinander  zu  setzen  vermag,  aber  im  Banne  der 
grossen  malerischen  Schönheiten  desselben  steht,  der  widerstrebe  ihnen  nicht  und  freue  sich  an  einer 
Schöpfung,  die  aus  der  Fülle  inneren  Lebens  heraus  geschaffen  und  gebildet  worden  ist. 

Derselbe  Maler,  der  die  weibliche  Psyche  so  zu  deuten  vermag,  ist  selbstverständlich  ein 
guter  Bildnissmaler  der  Frauen  und  Schilderer  ihrer  körperlichen  und  seelischen  Schönheiten.     Schon 


Carl  Bios:  Schwarzwälderin 


118 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


im  vorigen  Jahre  trat  er  hier  mit  einer  Anzahl  ausgezeichneter  Bildnisse  hervor.  Heuer  weist  das 
Bildniss  Ihrer  Hoheit  der  Herzogin  von  Mecklenburg  wieder  gleich  vorzügliche  malerische  und 
psychologische  Qualitäten  auf.  Solche  von  Natur  aus  vornehme  Erscheinungen  kommen  der  künst- 
lerischen Auffassung  des  Malers  von  selbst  entgegen.  Sie  erleichtern  und  gestatten  ihm  eine 
charakteristische  Wiedergabe  ihrer  Persönlichkeit.  So  gibt  das  Bild  ein  beseeltes  Repräsentations- 
bildniss,  beseelt  durch  die  vornehme  Erscheinung  der  Dargestellten,  die  in  der  Lebendigkeit  und 
Eigenart  ihres  Wesens  mit  malerischer  Noblesse  und  Freiheit  wiedergegeben  ist. 

Marr  zeigt  sich  in  seinen 
Bildnissen  und  Studien  als  eine 
durchaus  eigenartige  und  selbst- 
ständige Persönlichkeit.  Er  geht 
darin  immer  wieder  neuen 
malerischen  Problemen  nach, 
und  sucht  sie  in  der  Art  und 
Weise  der  englischen  Maler  zu 
lösen.  An  Fülle,  Kraft  und 
Reinheit  des  malerischen  Tones 
stehen  seine  Bilder  hoch  über 
der  Mittellinie  malerischer  Leist- 
ungen. Welche  Stimmung  er- 
zeupft  nicht  das  kleine  Bildchen 
«Dämmerung».  Es  ist  ein  rau- 
schender, koloristischer  Akkord 
von  grell-gelben,  grünen,  sanften 
verdämmernden  und  verschwe- 
benden Tönen.  Die  so  fein  in 
den  Raum  komponirte  Figur 
ist  der  bildliche  Ausdruck  in 
diesem  Farbenrhythmus  und 
Farbengedicht,  sie  klingt  mit 
ihren  fahlen  grauen  Tönen  herr- 
lich  zu    dem    Dämmerschein    in 


Raff.  Schuster- Woldan:  Porträt  I.  Höh.  d.  Herzogin  von  Mecklenburg 


der  Landschaft.  Man  muss  über  viel  malerisches  Wissen  und  Können  unbeschränkt  verfügen,  um  so 
viel  Stimmung  auf  einen  so  engen  Raum  zusammen  drängen  zu  können.  Eine  Studie,  eine  Porträt- 
zeichnung von  Marr  ist  immer  musterhaft,  korrekt,  richtig,  lebendig  in  der  Zeichnung  und  mit  emem 
sicheren  künstlerischen  Gefühl  für  Raumgestaltung  ausgeführt.  Wie  breitet  die  sitzende  Mädchenfigur 
sich  aus  und  wächst  im  Räume,  höchst  lebensvoll  und  völlig  ungezwungen  in  ihrer  natüriichen  Harmonie! 
Mit  ganz  wenig  Mitteln,  nur  mit  den  Hauptlinien  ist  das  Organische  des  Körpers  bezeichnet,  ist  das 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


119 


Phil.    Otto  Schaefer:  Ständchen 


Bild  auf  grauer  Pappe  fixirt,  ist  diese  wieder  als  Lokalton  benützt,  und  mit  Weiss  und  einigen 
Fleischtönen  gehöht,  so  dass  ein  lebendiger,  malerischer  Eindruck  entsteht. 

Marr  steht  mit  der  Natur  in  fortwährendem  innigen  Verkehr  und  naht  sich  ihren  Erscheinungen 
immer  auf  neuen  Wegen.  Nur  in  ihr  Inneres  ist  er  nicht  gedrungen,  ihre  Psyche  blieb  ihm 
fremd.  So  leicht  er  den  äusseren  Eindruck  eines  Objektes  aufs  Feinste  festzuhalten  weiss,  so  schwer 
wird  es  ihm,  dessen  individuelles  Leben  in  denselben  Eindruck  zu  bannen.  Er  schafft  von  Aussen  nach 
Innen,  nicht  von  Innen  nach  Aussen.  Seine  Arbeiten  nöthigen  Jedem  Achtung  ab  durch  die  Strenge 
und  Reinheit  ihres  Strebens,  durch  ihre  malerische  Fülle.  Er  bleibt  darin  nirgends  auf  halbem  Weg 
stehen,  jeder  Eindruck  ist  für  ihn  ein  Problem,  an  dem  er  festhält,  den  er  studirt,  bis  er  ihn  durch 
und  durch  kennt,  so  dass  er  künstlerisch  gelöst  als  fertiges  Bild  heraus  kommt.  Darum  muss  man 
seine  Bilder  verehren,  um  dieses  Ernstes  der  Arbeit  willen.  Marr  kennt  und  will  nichts  Halbes,  was 
er  uns  gibt,  ist  eine  volle,  reife  Frucht  seines  künstlerischen  Schaffens,  seiner  reichen  künstlerischen 
Erfahrung  und  Kenntnisse. 

Knirr,  der  ihm  im  malerischen  Streben  verwandt  ist,  beherrscht  das  malerische  Können  nicht 
mit  der  unumschränkten  Freiheit  und  vor  Allem  nicht  mit  dem  malerischen  Geschmack,  der  Marr 
auszeichnet.  Der  unangenehme,  abstossende  Eindruck  des  Porträts  eines  Herrn  mit  Degen  muss 
ganz  auf  Kosten  des  Malers  gesetzt  werden. 

Im  «Ständchen«,  einer  Schöpfung  von  Philipp  Otto  Schäfer,  kündigt  sich  ein  Maler  an, 
der  abseits  von  den  ausgetretenen  Wegen  einen  Gang  in's  Grüne  unternimmt,  um  dies  in  voll- 
kommen   freier    Weise    mit    den   Gestalten    seiner   Phantasie    zu    bevölkern.      Diese    Selbstständigkeit 


120 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Carl  Mary:  I^ämmerung 


verdient  um  so  grössere  Beachtung,  als  wir 
die  originalen  Talente  immer  schmerzlicher 
vermissen,  die  den  Muth  haben,  abseits  der 
grossen  Heerde  auf  einem  stillen  Eilande 
sich  häuslich  einzurichten  und  sich  selber 
zu  genügen.  Philipp  Otto  Schäfer  gehört, 
wenn  man  von  seinem  modernen  Farben- 
empfinden absieht,  in  die  Aera  Rottmann's, 
Genelli's,  er  sympathisirt  mit  Carstens 
und  Cornelius,  liebt  Schwind  und  Feuer- 
bach, ist  seiner  ganzen  Art  und  Weise  nach 
einer  der  Maler,  die  man  als  «Komponisten» 
zu  bezeichnen  pflegt  und  die  die  Generation 
von  1890  abzuthun  sich  vornahm.  Seither 
ward  man  diesen  Malern  wieder  gerechter, 
hat  sogar  schon  da  und  dort  wieder  ano;e- 
fangen,  sie  liebevoll  von  einem  künstlerischen 
Standpunkt  aus  betrachten  und  verstehen 
zu  lernen;  ein  grosser  Theil  rückt  natürlich 
nach  wie  vor  von  ihnen  ab,  wie  der  Hund  von  einem  Glas  Wein;  es  riecht  und  schmeckt  nicht  für 
ihn.  Der  Grund  hiezu  ist  sehr  natürlich  und  einleuchtend,  diese  Bilder  übersetzen  eben  die  realen 
Erscheinungen  des  Lebens  in  eine  künstlerische  Form.  Sie  zu  geniessen,  dazu  gehören  künstlerische 
Sinne,  wie  sie  Hildebrand  in  seinem  Problem  der  Form  herbei  wünscht.  Die  Freude  an  der 
sinnlichen  Erscheinung  der  Form,  die  Zartheit  und  Energie  der  Umrisse  spielt  in  Schaf  er 's 
Bildern  die  Hauptrolle,  oft  ent- 
steht ihretwegen   ein  wogender, 

schwebender ,  schwimmender, 
tanzender  Rhythmus  von  Linien. 
Wie  bei  oben  genannten 
Meistern  verbindet  sich  bei  ihm 
mit  dem  Gefühl  für  schöne  Linie 
und  Form  ein  geistiges  Element, 
eine  übersetzende,  künstlerische 
Anschauung  des  Lebens,  wie  jene 
Meister  tummelt  er  sich  mit 
Vorliebe  im  klassischen  Alter- 
thum.  Daran  erinnern  sein  «Pro- 
metheus«, sein  «Kampf«  u.  s.  w.  y.  ^.  jj,^,,,,  Schafe 


F.  vuD  Dglic^tf«r  ^iux 


l'boi,  b\   Haut«u«uicl,  Uuuoban 


Tiroler 


V.   A.  von   Kuiilhach  lAux 


Copj-rlgtat  1900  hj  Fratii    H*tira(««aitl 


Das  Spielzeug 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


121 


R,  M.  Eichler:  Gewitter  im  P'rühlins 


Er  bevölkert  seine  Bilder  mit  Centauren  und  Lapithen,  mit  Göttern  und  Helden,  mit  Liebes- 
göttern und  bacchantischem  Gesinde.  In  der  Farbe  wirken  seine  Bilder  ruhig  wie  Gobelins.  Der 
Maler  liebt  es,  feine,  silberne,  grau-blaue  und  violette  Töne  anzuschlagen.  In  hohen  Hallen, 
festlichen  Sälen  wären  seine  Bilder  ein  vornehmer  Schmuck  der  Wände.  In  einer  Zeit,  die  solchen 
Schmuck  verschmäht,  sieht  ein  Talent  seiner  Art  sich  genöthigt,  Bilder  grossen  Stiles  in  kleinem 
Format  auszugeben,  ein  Missstand,  für  den  es  leider  keine  Lösung  gibt,  so  lange  der  Ruf  «gebt  uns 
Wände!«  ungehört  verhallt.  Auf  poetischem  Gebiete  hat  diese  Kunst  ein  Analogon  in  Konrad 
Ferdinand  Meyer' s  Dichtungen,  wie  sie  ungefähr  in  solchen  Versen  hervortritt: 


«Aufsteigt  der  Strahl  und  fallend  giesst 
Er  voll  der  Marmorschale  Rund, 
Die,  sich  verschleiernd,   überfliesst 
In  einer  zweiten  Schale  Grund; 


Die  zweite  gibt,   sie  wird  zu  reich, 
Der  dritten  wallend  ihre  Fluth, 
Und  jede  nimmt  und  gibt  zugleich 
Und  strömt  und  ruht.» 


Fritz  August  v.   Kaulbach's   «F"rauenbildnisse»   sind   schön.      Er  versteht  es,   jenes   reizende 
Lächeln,    das  einen  rosigen  Mund  und  eine  schimmernde  Reihe  perlengleicher  Zähne  zeigt,    im  Bilde 


II  i; 


122 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


neu  zu  schaffen,  und  zwar  auf  malerisch  vorzügliche  Art,  mit  einem  Können,  wie  es  nur  Wenigen  für 
solch'  vergnügliche  Arbeit  zur  Verfügung  steht.  Er  weiss  seinen  Mädchen  und  Frauen  einen  neckischen 
Zug  in  den  Mundwinkel  zu  legen,  bald  übermüthig  herausfordernd,  bald  süss  schmollend,  bald  wieder 
voll  trotzigen  Ernstes.  Endlich  kann  er  feucht  schimmernde  Augen  mit  einem  Anflug  von  Melancholie 
malen,  der  unwiderstehlich  wirkt.  Die  ganze  Skala  von  Ausdrücken  verschiedener  Empfindungen 
beherrscht   er   und   bedient  sich    ihrer   mit   virtuoser  Meisterschaft.      Er  weiss   das  Weib   zu   schildern, 

dass  es  begehrlich  wirkt,  er  gar- 
nirt  es  mit  allem  graziösen  Tand, 
zeiet  es  in  aller  Nonchalance, 
deren  eine  Weltdame  fähig  ist  und 
durch  sie  sich  so  anziehend  macht. 
Er  malt  die  Damen  reizend,  die 
Kinder  als  steckten  Amoretten, 
von  alten  Meistern  -gemalt,  in 
modernen  Kostümen.  Aber  wenn 
seine  Frauen  und  Mädchen  auch 
hübsch,  graziös,  geschmeidig  und 
chic  sind,  überhaupt  immer  schön 
und  begehrenswerth  erscheinen,  so 
wird  ihr  Eindruck  doch  manchmal 
abgeschwächt  durch  allzu  geringe 
Betonung  des  Charakters;  alles 
konzentrirt  sich  auf  ihre  äussere 
Erscheinung,  und  so  sind  sie  gewiss 
im  Leben  nicht  immer,  vielleicht 
sind  sie  manchmal  so  in  der  Gesell- 
schaft oder  in  einem  momentanen 
Affekt. 

Fritz  August  v.  Kaulbach 
ist  ein  geistreicher  Maler,  er  weiss 
die  malerischen  Effekte  und  Mittel  genau  seinem  Objekte  anzupassen.  Aber  diese  Effekte  und 
Mittel  sehen   aus,  als  wären   sie  von  den  alten  Meistern  auch  schon  gebraucht  worden. 

Wir  sind  verwöhnt  darin,  wir  wollen  Mittel  und  Ausdruck  mit  jedem  Objekt  wechseln  sehen. 
Vielleicht  leitet  sich  diese  Anschauung  von  der  problematischen  Art  des  künstlerischen  Schaffens  her, 
die  die  Secession  so  sehr  in  Schwung  brachte.  Aber  man  kann  auf  den  Schultern  der  Alten  stehen 
und  die  Tradition  doch  in  freier  Weise  mit  Geschick  und  Geschmack  auf  die  Stoffe  der  Gegenwart 
anwenden,  und  erst  so  entsteht  der  grosse  Künstler.  «Der  Regent«  ist  ein  prächtiges  Bildniss,  die 
Dame   in  Weiss   mit   der   rothen   Schleife    entzückend,    der   Adlerjäger   ein   Muster   in   Zeichnung   und 


Anna-Marie    Wirt/t:  In  der  Apotheke 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


123 


Ton.  Die  ganze  Reihe  älterer  Sachen,  die  Kaulbach  gebracht  hat,  um  ein  möglichst  übersichtliches 
Bild  seines  Schaffens  zu  geben,  zeigt  durchwegs  seinen  feinen  und  gebildeten  Geschmack  und  sein 
grosses  Können.  Ja  Manches,  wie  der  Frauenkopf  im  runden  Medaillon,  vermag  um  seines 
stimmungsvollen  Ausdrucks  willen  dauernd  zu  fesseln.  Weniger  entspricht  es  der  künstlerischen  Art 
Kaulbach's,  wenn  er  als  Porträtist  einem  energischen  Männercharakter  gegenüber  steht.  Das  Bildniss 
des  Herrn  Possart  wird  Niemand  befriedigen,  der  das  Original  kennt,  der  in  dessen  lebendigen, 
energischen  Zügen  gelesen  hat.  Es  nützt  auch  nichts,  dass  der  Herr  gerade  in  einer  Rolle  agirt, 
die  ihm  sanft  zu  Gesichte  steht, 
der  Eindruck  bleibt  trotzdem  unsfe- 
nügend.  Gross  und  geschmackvoll, 
raffinirt,  kapriziös,  lebendig  und 
prickelnd  ist  Kaulbach  in  seinen 
Skizzen.  Er  hat  davon  zwei  Proben 
gesandt,  wovon  besonders  die  eine 
mit  den  tanzenden  nackten  Frauen- 
gestalten voll  sprühenden  Lebens 
und  spielender  Bewegung  ist,  sie 
steht  in  der  farbiofen  Haltung  und 
Komposition  einem  alten  Meister 
wirklich  nahe,  ohne  sich  an 
einen  bestimmten  anzulehnen.  In 
dieser  Hinsicht  in  solchem  Aus- 
druck ist  Kaulbach  o-anz  er  selbst. 

o 

Hier  können  wir  aufrichtig  sein 
reiches  Talent,  seinen  auserlesenen 
Geschmack,  seine  ausgezeichnete 
Geschicklichkeit  bewundern.  Leider 
wird  auch  dafür  keine  Gelegenheit 
geboten,  dass  er  diesen  Theil 
seiner  Begabung  im  Dienste  grös- 
serer Aufträge  bethäti^en  könnte. 


Ferdinand  Keller:  Uildniss  des   Grossherzogs  von  LJadci: 


Die  Akten  über  Lenbach's  Kunst  .sind  bereits  geschlossen,  sie  ruhen  wie  die  über  einen 
alten  Meister  zum  Theil  schon  in  kunstgeschichtlichen  Archiven.  Aber  der  Maler  lebt  und  schafft 
immer  noch  wie  einer  der  Allerjüngsten,  er  besitzt  in  hohem  Maasse  die  Fähigkeit,  in  seinen 
Schöpfungen  sich  jung  zu  erhalten,  und  stellt  sich  in  vielen  neuen  Bildern  immer  neue  malerische 
Probleme.  Lenbach  interessirt  immer.  Er  gewinnt  seinen  Objekten  stets  einen  lebendigen  Ausdruck 
ab;  die  Psyche  des  Menschen  ist  ja  so  vielgestaltig  und  unerschöpflich  an  verschiedenen  Erscheinungen. 
Die  Kunst  des  Porträtirens   ist  die  lebendigste,    die  allzeit  von  jedem  Formalismus   sich  am   freiesten 

17* 


124 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Adolf  Miimer:  Arbeit  und   Luxus 


hält,  die  beständig  von  der  Natur  genährt,  angeregt  und  fortgebildet  wird.  Die  Darstellung  neuer 
Menschen  ergibt  auch  für  den  Maler  jederzeit  neue  Probleme.  Neuerdings  versucht  Lenbach  Jedem 
in  seiner  eigenen  Art  gerecht  zu  werden;  er  stellt  nicht  nur  dar,  wie  der  Porträtirte  die  Welt 
anschaut,   er  sucht  ihn  auch  in  seiner  ganzen  charakteristischen  Haltung  festzuhalten. 

In  dem  köstlichen  Bilde  eines  alten  Herrn,  der  die  Linke  auf  die  Brust  gelegt  hält,  fand  dies 
Streben  beredten  Ausdruck.  Auch  in  der  Farbe  ist  das  Bild  frisch,  es  gibt  die  gesunde,  rosige 
Gesichtsfarbe  treffend  wieder;  die  Modellirung  des  Kopfes  scheint  kräftiger,  als  man  sie  sonst  von 
dem    Maler   zu    sehen    gewohnt   ist.      Koloristisch   wird   er   in   seinen   Bildern    immer   noch    vornehmer 


und  feinfühliger,  und  wenn 
er  in  ihnen  die  Farbenskala 

altmeisterlicher  Gallerie- 
töne     spielen     lässt,      so 
wirken    sie    in    ihrer    har- 
monischen    Abgeklärtheit 

immer    gehaltener   und 
stimmungsvoller    als    viele 
Versuche    der    Modernen, 

die  durch  Buntheit  und 
Unruhe  verletzen.  Ein 
Kenner  der  Farbe  und 
ihrer  positiven  Wirkungen 
versteht  er  es  wie  Wenige, 
mit  Wenigem  dem  Bilde 
eine  farbige  Haltung  zu 
geben.       Und     nicht     nur 


Helene  Schulz:  Damenbildniss 


durch  die  eminente  Kennt- 
niss  der  Alten  allein  kann 
diese  Kunst  erworben  sein, 
sie  wird  zum  cruten  Theil 

o 

auch  von  der  Beobachtung 
der  Natur,  des  Wechsels 
ihrer  Licht-  und  Farbener- 
scheinungen, derKenntniss 
ihrer  Werthe  für  die  ma- 
lerische Darstellung  her- 
rühren. Durch  seine  Art, 
die  Augen  in  verschiedener 
Beleuchtung  zu  malen,  so 
dass  sie  in  Farbe  und  Aus- 
druckverändert erscheinen, 
weiss  er  einen  ungewöhn- 
lich lebendigen  Effekt  her- 


vorzurufen,   in  fein  beachteten  Momenten  das  Spiegelbild  der  Seele  hervor  zu  zaubern.     Die  Model- 
lirung von  Augen  und  Mundpartien  ist  so  lebendig,  dass  man  meinen  könnte,   das  Leben  zucke  darin. 
An  dem  Porträt   einer  Dame   mit   reichem  Schmuck  im  Kleid,    mit  Geschmeide  um   den  Hals 
und  in   den  Haaren   mag  der  Maler   selber   seine  Freude   gehabt   haben,    diese    bunten,    schillernden. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


125 


flimmernden,  glitzernden  Dingerchen  zu  malen.  Aber  eine  so  vergnügliche  Aufgabe  dem  Maler  solche 
Schmuckstücke  bieten  müssen,  er  ordnet  sie  mit  diskretem  Geschmack  dem  malerischen  Haupteindruck, 
dem  Kopfe,  unter.  Die  Dame  mit  dem  dunklen  weichen  Haar,  das  sich  so  stimmungsvoll  von  dem 
trüben,  neutralen  Hintergrund  abhebt,  ist  mit  Liebe  und  einem  Aufwand  von  grossem  Können 
gemalt,  es  berührt  wie  ein  Gedicht  des  Malers  auf  diese  schönen  Haare.  Auch  das  Gesicht  ist  schön, 
eine  südliche,  subtile  Schönheit  mit  blassgelbem  Teint  zeigt  sich  darin.  Die  Augen  sind  wie  die  der 
Gazelle  und  von  tiefschwarzen,  weichen,  sammtenen  Wimpern  überschattet,   ein  feines  Köpfchen  baut 


sich     auf    leichtem 

geschmeidigen 
Halse  auf  wie  eine 
köstliche     Bekrön- 
ung  auf  schlankem 
Schafte.   Es  gelingt 

Lenbach  nicht 
immer,  das  spezi- 
fisch Weibliche 
einer  Erscheinung 
so  zu  treffen,  dies- 
mal hat  er  es  ver- 
mocht, ohne  Härte, 
ohne    Pose ,    ohne 

besonderen  Ac- 
cent ,      sanft      und 
weich,  graziös  und 

elegant  wie  die 
Erscheinung  selbst 
sein  muss.  Sehr 
interessiren  werden 
die  Gemälde,  durch 
die  der  Maler  uns 


in  seine  Familie 
hineinsehen  lässt. 
Fein  und  köstlich 
hat  er  sich  selbst 
als  Maler  charakter- 
isirt  auf  dem  Bilde 
mit  dem  Jüngsten 
auf  dem  Arm.    Das 

eine  Malerauge 
kneift  er  zu ,  wie  um 
den  allgemeinen 
Eindruck  eines  Ob- 
jektes zu  erfassen, 
das  andere  bohrt 
sich  scharf,  spitz, 
stechend  darin  ein, 
—  deutlich  ist  da- 
mit der  malerische 

Beobachter   und 
der  Psychologe  ge- 
kennzeichnet. 

Es  ist  nicht  leicht, 
mit  Bildnisarbeiten, 

wenn  sie  auch  noch  so  gute  malerische  Qualitäten  aufweisen,  direkt  neben  Lenbach  zu  stehen. 
Aber  trotzdem  thut  sich  noch  Einiges  hervor,  das  malerisch  sehr  anziehend  und  vor  Allem  in  der 
Charakteristik  interessant  und  erschöpfend  ist.  So  ist  ein  Studienkopf  «Tiroler»  von  Franz 
V.  Defregger  unter  die  Porträts,  die  eine  ganze  Rasse  kennzeichnen,  zu  rechnen.  Wir  haben  in 
letzter  Zeit  selten  eine  an  malerischen  Feinheiten  so  vorzügliche  Schöpfung  des  Meisters  gesehen. 
Warm,  satt,  leuchtend  in  prächtiger  Tonschönheit,  auch  in  den  Schattenpartien,  lebendig  in  der 
Zeichnung  und  kraftvoll  und  weich  in  der  Modellirung,  stellt  es  ein  individuell  tirolerisches  Stück 
Leben  dar.      Hier    ist    Defregger   ganz   der  grosse   Defregger,    der   mit    Liebe    das    Leben    eines 


Aug.  Fink:  Novemberabend 


126 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


y.   Sc/imiizberg-er:  Aus  unseren  Bergen 


kernigen    Volksthums    darstellt    und    dessen 
Name  damit   verknüpft  bleibt  für  immer. 

Die  Porträts,  die  der  Karlsruher  Otto 
Propheter  ausgestellt  hat,  entbehren  der 
eigenwüchsigen  Art  in  der  Auffassung  und 
P'arbengebung  und  stehen  auch  hinter  den 
vorjährigen  zurück.  Ein  Mädchenbildniss 
von  Tini  Rupprecht,  in  freudigen,  hellen, 
blonden  Tönen,  und  das  Bildniss  des  Malers 
R.  Seh.  W.  von  Helene  Schulz  .sind 
malerisch  anziehende  Leistungen,  besonders 
das  Letztere  ist  auch  in  der  Charakteristik 
sehr  gut.  Ein  Doppelbildniss  in  eigenthüm- 
Hchem  Stil,  aber  von  bewusstgr  Originalität 
und  Sinn  für  künstlerische  Wirkung  gibt 
Albert  Welti.  Er  hat  viel  Empfindung 
für  das  Liebe  und  Kleine,  und  es  hängen 
sich  ihm  bei  einer  ernsten  Naturbetrachtung 
tausend    kleine     Dinge    an,    die    alle    einen 


eigenen  Reiz  auf  sein  poetisches  Gemüth  ausüben.  Daran  muss  man  sich  erinnern,  wenn  man  das 
Doppelbildniss  in  einer  gemalten  Umrahmung  verstehen  will,  die  ähnlich  den  Krügen  und  Geschirren 
der  Biedermeierzeit  mit  allerlei  schnurrigem  Krimskrams  verziert  ist.  Der  Gedanke ,  die  Porträts  in 
einer  Architektur  mit  lieblicher  Aussicht  auf  ein  Stück  deutscher  Landschaft  zu  geben,  ist  vortrefflich, 
und  der  Maler  hat  es  verstanden,  durch  geschickte  Anordnung  der  Farbenwerte  das  Nahe  und  Ferne 
darin  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Der  Maler  zeichnet  eigentlich  mit  der  Farbe  und  bringt  durch  eine 
Art  Technik,  die  an  die  Emailmalerei  gemahnt,  grosse  und  farbige  Wirkungen  zu  Stande.  Man 
freut    sich   in  diesem  Werke  an  •  - 

der  Liebe  und  Innigkeit  der 
Naturbetrachtung,  freilich  äussert 
sich  der  Maler  darin  manchmal 
noch  kleinlich  und  verschnörkelt. 
Die  Art,  ein  Bildniss  mit  allen 
Details  in  einfacher  Anschauung 
und  strenger  Sachlicheit  wieder- 
zugeben, erinnert  an  Holbein, 
wie  Welti  auch  in  der  Art  und 
Weise  der  Komposition  an  alte 
Ueberlieferungen  sich  anschliesst.  o.  Beggro-iv-Hartma,.,,:  Fische 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


127 


In    der    Art,    Kunst    aus    dem    Eigenen    zu    schöpfen,    ist    Welti    wahlverwandt    mit    den    Kollegen 
der  «Scholle». 

Die  eanze  Reihe  von  Werken  von  Lenbach,  Kaulbach  bis  Schuster-Woldan  bilden  für 
sich  einen  geschlossenen  Ring.  Alle  diese  Werke  zeichnet  eine  Reife  in  der  künstlerischen  Auffassung 
und  Anschauung  aus,  diese  Maler  sehen  in  der  Harmonie  der  Farben,  Linien  und  Formen  die  künst- 
lerische Wirkung  eines  Bildes.  Der  in  künstlerische  Form  gebrachte  Wirklichkeitseindruck  gilt  ihnen 
als  Aufgabe,  die  sie  Kraft  ihrer  individuellen  Eigenart  auf  verschiedenen  Wegen  und  mit  verschiedenen 


yii/ii/s  Exler:  Eine  t'eberraschuiig 

Mitteln  zu  lösen  suchen.  Sie  stützen  sich  auf  die  Tradition  und  achten  sie,  ohne  jedoch  in  ihren 
Fesseln  zu  liegen.  Man  möchte  ihre  Werke,  ähnlich  denen  der  alten  Meister,  in  einem  prachtvollen 
Palaste  untergebracht  wissen,  in  einem  Palaste  mit  Gärten,  die  die  südliche  Sonne  liebkost  und  dunkle 
Cypressen  umschatten,  wo  in  lauschigen  Gängen  kühle,  hoheitsvolle  Marmorbilder  schimmern.  Und 
denkt  man  sich  dazu  einen  Ausblick  durch  der  Lauben  hochgewölbte  Bogen  in's  Freie,  in  die  belebte 
Landschaft,  auf  Landstrassen,  auf  der  eine  bunt  zusammengewürfelte  Gesellschaft  sich  tummelt,  so 
sind  wir  damit  unmittelbar  in  die  Welt  Exters  eingeführt.  In  seinen  Bildern  fluthet  das  gewöhnliche 
Leben  mit  seinem  tollen,    ungeschlachten  Humor,    den  Götter  und  Helden  fliehen,    und  wenn  Exter 


128 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


P.   F.   Messerschmitt:  Vor  dem  güldenen  Löwen 


versucht,  ein  Stück  Romantik  in  diese  Alltagswelt  zu  bringen,  so  geschieht  das  in  absichtlich  plumper 
Weise,  wie  das  Bild  «Eine  Ueberraschung»  zeigt,  wo  Nymphen  vor  Bauernlümmeln  erschreckt  fliehen. 
Auf  einem  andern  Bilde,  in  dem  Bauern  mit  übergeschulterten  Sensen  vom  Tagwerk  heimziehen, 
erzeugen  die  Farben  ein  Concert,  das  wie  Blechmusik  wirkt.  Es  ist  eine  glühend  sinnliche,  kraftvolle 
Malerei  voll  derber  Effekte.  Das  Malenkönnen  versteht  sich  bei  Exter  von  selbst,  er  ist  immer 
vollsaftig  in  der  Farbe,  und  manchmal  hat  sie  einen  Schmelz,  um  dessentwillen  man  die  psychische 
Ungeschlachtheit  in  den  Bildern  hinnimmt. 

Die   «Scholle»   nennt   sich  eine  Vereinigung  junger  Künstler,    deren   hervorragende  Kräfte   als 

Zeichner  in  der  «Jugend»  und 
im  «Simplicissimus»  bekannt  sind. 
Sie  streben  eine  Kunst  aus  dem 
Eigenen  an.  Gleich  der  erste 
Eintritt  in  den  Saal,  der  erste 
Rundblick  und  die  Musterung 
der  ausgestellten  W^erke  macht 
auf  uns  den  Eindruck,  sie  stehen 
auf  eigener  Scholle.  Die  Ar- 
beiten sind  auffällig  und  können 
ihre  Herkunft  von  der  dekora- 
tiven Illustrationskunst  nicht  ver- 

Wüh.   Schrcner:  Reconstruirte  Stadtansicht  leugnen.     Wie    ein    vergrÖSSertCr 


Franz  ron  Lenbach  (>lni. 


Phot.   K.  H«nf*taeQ^I,    Unnatieii 


Fräulein  Seh. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


129 


Oscar   Laurenii:  liirtenleben 


Ausschnitt  aus  der  «Jugend»  sieht  sich  Walther  Georgi's  «Kartoffelernte»  an,  wie  eine  zu 
einem  Gobelin  verarbeitete  Illustration  aus  dem  Simplicissimus  wirkt  Münz  er 's  dekorativer  Fries 
«Arbeit  und  Luxus».  Bemerkenswerth  ist  darin  der  künstlerische  Sinn  und  das  Streben  nach 
Raumeestaltuno-.  Dekorative  Grösse  hat  Erler's  «Pest».  Mit  wenig  Linien  wird  eine  weite  Räum- 
lichkeit  geschaffen  in  der  menschenleeren,  öden  Strasse,  durch  die  ein  Schwärm  Aasvögel  flattert  und 
die  Pest  schreitet.  Auch  die  beiden  Flügelbilder  entwickeln  sich  gut  in  architektonischem  Rahmen. 
Das  eine  stellt  den  Karneval  des  Lebens  dar,  in  der  sich  die  exaltirte  Lebenslust  einer  Zeit  äussert, 
in  der  ein  grosses  Sterben  herrscht,  das  andere  gibt  die  Kehrseite  dazu,  die  bis  zum  Fieberparoxismus 
erhitzte  religiöse  Phantasie,  die  so  erschreckenden  Ausdruck  in  den  Geisselbrüdem  gefunden  hat. 
Bei  solchen  Darstellungen  verlangen  wir  nach  der  psychologischen  Seite  hin  einen  vertieften  Ausdruck, 
diesen  aber  vermag  das  Bild  nicht  zu  geben.  So  gut  der  Eindruck  der  verödeten  Stadt  erreicht  ist, 
so  viel  Stimmung  davon  ausgeht,  die  Personifikation  der  Pest  wirkt  doch  zu  dekorativ,  wächst  in  ihrer 
phantastischen  Kostümirung  über  einen  bizarren  äusserlichen  Effekt  nicht  hinaus,  und  schafft  in  uns 
Erinnerungen  an  die  kindliche  Vorstellung  eines  Indianerhäupdings  auf  dem  Kriegspfad.  Wir  sollen 
ein  Bild  dieser  Gottesgeissel  sehen,  die  ungeheures  Grauen  umschwebt,  aber  das  Bild  ist  nicht  stark 

II  18 


130 


DIE  KUNST  UiNSERER  ZEIT 


genug,  diese  Empfindung  in  uns  zu  erzeugen. 
Bei  den  Büssern  ist  wieder  die  Stimmung 
vollkommen  gegeben,  in  dem  Idol,  das  vom 
Schimmer  der  Kerzen  umflirrt  ist,  aber  die 
büssenden  nackten  Kerle  im  Vordergrund 
scheinen  wieder  zu  wenig  charakterisirt.  So 
setzt  auch  in  dem  Karneval  eine  rauschende 
Farbenouvertüre  ein,  und  es  stören  den 
Gang;  des  leidenschaftlich  beflüorelten  Rhvth- 
mus'  plumpe  Unfertigkeiten.  Es  geht  ein 
grosser  Zug,  ein  Streben  nach  dekorativem 
Stil  wie  ein  leidenschaftlich'  Stammeln  durch 
das  Bild,  aber  es  fehlt  ein  Theil  jener 
geistigen  Kraft,  die  den  Stoff  .durchdringt, 
der  sich  eben  mit  malerischen  Mitteln  allein 
nicht  bewältigen  lässt.  Erler  ist  noch  mit 
zwei  Bildnissen  vertreten,  wovon  das  eines 
jüngeren  Herrn  mit  schwarzem  Hut  und 
hellem  Ueberzieher  auf  heller  Wandfläche 
durch  die  nüchterne  Wiedergabe  des  wahr- 
o-enommenen  Natureindruckes  auffällt.  Doch 
ist  es  in  seiner  monochromischen  I'^arben- 
gebung  wirkungsvoll.  Es  sind  nur  die 
charakteristischen  Hauptlinien  der  Person  festgehalten  und  durch  sie  die  Formen  gekennzeichnet  und 
modellirt.  Erler  besitzt  als  Porträtist  einen  Sinn  für  das  Charakteristische  einer  Persönlichkeit,  aber 
er  ist  auch  hier  kein  Psychologe.  Seine  Bildnisse  haben  sachlich  malerische  Werthe,  aber  durch 
die  Empfindung  gewinnt  man  keine  Beziehungen  zu  ihnen. 

Stimmungsmaler  ist  Eichler  in  seinen  Bildern  «Heugeruch»  und  «Gewitter  im  Frühling». 
Glücklich  hat  er  den  Stoff  seinem  Temperamente  angepasst,  hat  ein  Stück  Natur  herausgesucht,  mit 
deissen  Bearbeitung  sein  Empfinden  sich  deckt.  Mag  im  PVühling  der  Strand  am  Meere,  der  fellartig 
mit  üppigem  Pflanzenwuchs  überzogen  ist,  von  dem  sonderbare  blaue  Blumen  aufsprossen,  den  das 
Licht  liebkost  und  den  dunkle  Wolkenschatten  verdüstern,  Wahrheit  oder  Dichtung  sein,  es  ist  einerlei, 
es  wohnt  diesem  Bilde  die  Kraft  inne,  Sümmung  zu  erwecken,  und  das  ist  genug.  Das  schon  erwähnte 
Bild  von  Georgi  sollte  mehr  Erdgeruch  haben,  es  ist  zu  lyrisch  weich  und  für  eine  Kartoffelernte 
in  Arkadien  sind  die  Bauern  und  Gäule  darauf  doch  zu  Dachauerisch.  P2in  Element  von  Segantini  s 
Kunst  würde  es  köstlich  würzen  wie  eine  flaue  Suppe  etwas  Salz. 

Nach  diesen  Malern,  die  Farben-  und  Formgedanken  in  eigenem  grossen  Stil  auszusprechen 
suchen,    kommen  jene  des  Lebens,    der  umgebenden  realen  Welt.     Sie  suchen    in  ihren  Sujets,    die 


yoh.  Herierich:  Der  Erlöser 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


131 


sie  der  Gegenwart  oder  Vergangenheit  entnehmen,  die  modernen  Farbenprobleme  in  Anwendung 
zu  bringen.  Ihr  Gebiet  ist  ein  ungeheuer  weites  und  umfangreiches.  Einige,  wie  Eisenhut,  stellen 
das  Leben  im  Orient  dar,  als  wären  sie  geborene  Türken  oder  Araber,  Andere  bewegen  sich  in  der 
Vergangenheit,  als  hätten  sie  sich  lebenslänglich  darin  aufgehalten,  und  ziehen  die  artigsten  und 
interessantesten  Dinge  hervor.  Simm,  Löwith  und  Seiler,  unsere  Meissonier's,  sind  die  Haupt- 
vertreter dieser  Richtung.  Wieder  Andere,  wie  Schmutzler,  suchen  mit  Vorliebe  die  eleganten 
Salons  der  Empire-  und  Rokokozeit  auf  und  geben  beispielsweise  in  einer  Tanzprobe  ein  geistreiches, 
prickelndes  Farbenkonzert.  Wieder  Andere  schauen  sich  in  der  alltäglichen  Umgebung,  in  Haus  und 
Hof,  in  Garten,  Küche  und  Keller,  auf  der  Strasse,  in  der  Kirche,  im  Wirthshause,  in  den  Bibliotheken, 
Boudoirs,  Arbeitszimmern  und  Werkstätten  um  und  suchen  die  Menschen  in  ihrer  gemüthlichen  häus- 
lichen Ruhe,  bei  ihren  Geschäften,  in  Freud  und  Leid,  auf.  Unter  ihnen  finden  sich  die  Arbeiter  des 
Pinsels,  die  minutiös  und  präzis  ausgeführten  Bildchen  stellen  Wunderwerke  malerischen  Fleisses  dar. 
Unter  ihnen  finden  sich  auch  die  Poeten  des  Pinsels,  Schilderer  idyllischer  Verhältnisse  und  Zustände 
und  intimer  Stimmungen,  unter  denen  München  einst  an  Spitzweg  einen  klassischen  Vertreter  hatte. 
Einige  haben  eine  glückliche  Hand,  wenn  sie  alte  Zeiten  lebendig  heraufbeschwören,  wenn  ihnen  auch 
nicht  die  originelle  Empfindung  und  das  grosse 
malerische  Können  o-eo-eben  ist,  das  die  W^erke 
von  Dietz  auszeichnet  und  für  alle  Zeit 
schätzbar  macht.  Etwas  vom  Geiste  dieser 
Maler  ist  in  jeder  Münchener  Ausstellung 
vorhanden.  In  seiner  eigfenartigen  Bedeutuno- 
geschwächt  und  heruntergekommen  ist  das 
Bauembild,  wie  es  einst  in  DefresfSfer  und 
Leibl  seinen  Höhepunkt  erreichte. 

Den  vornehmen,  künstlerischen  Charakter, 
der  dem  Sittenbild,  wie  es  aus  dem  Umgang 
mit  Land  und  Leuten  erwuchs,  unter  den  Alt- 
münchener  Meistern  eigen  war,  hat  es  bei  den 
schwächlichen  Epigonen  eingebüsst.  Das  Malen 
nur  um  des  Malens  willen,  wie  es  die  Secession 
einführte,  hat  diesen  originellen  Charakter 
zersetzt  und  Viele  in  das  internationale 
Malvirtuosenthum  hineintredränoft.  Messer- 
Schmitt 's  Darstellungen  aus  dem  klein- 
städtsischen  Leben  der  Versfanofenheit  werden 
durch    seine    Art    der    malerischen    Stimmungf 


M.  Erdielt:  Mädchenbildniss 


verweichlicht     und     verlieren     dadurch     die     der    Natur     des     Dargestellten     eigenthümliche     W^ürze. 
Kempff's  Bild  «Belauschung»,  anziehend  durch  sein  Motiv  und  die  Delikatesse  der  malerischen 

18» 


132 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Anton  Burger:  Tucligaden 


Darstellung,  ist  doch  nicht  ganz  frei  von  Effekthascherei,  und  lediglich  der  malerische  Vortrag  hält  es 
über  das  Niveau  ähnlicher  Darstellungfen.  Anziehend  durch  ein  fein  grestimmtes  Interieur  mit  zwei 
hübschen  Mädchen   darin   sind  Ritzberger's    «Abendklänge». 

An  Lindenschmidt  und  seine  Schule  gemahnt  Gebhardt  mit  seinem  Bilde  «Hämon  ersticht 
sich  an  der  Leiche  der  Antigene».  Diese  Gattung  von  Historienbildern  ist  jetzt  nahezu  ausgestorben, 
in  der  Modelle  in  Theaterkostümen  antike  Helden  und  Könige,  Feldherrn  und  Krieger,  rauhe  Lands- 
knechte und  asketische  Mönche  je  nach  Bedarf  der  Historie  mit  mehr  oder  weniger  Geschick  agirten. 
Iwanowitz'  Bild  «Furor  teutonicus»  zeigt,  dass  trotzdem  an  eine  Wiederbelebung  dieses  Genre's 
gedacht  werden  kann,  wenn  nur  wie  hier  mit  Energie  der  Stoff  durchempfunden  und  ausreichend 
malerisches  Können  vorhanden  ist.  Das  Bild  stellt  einen  der  vielen  Kämpfe  zwischen  Germanen  und 
Römern  dar.  Beim  Frühroth,  das  durch  den  nebelumwogten  Tannenwald  scheint,  wo  auf  feuchten 
sumpfigen  Wegen  eine  römische  Kohorte  dahinzieht,  brechen  überraschend  wie  ein  Wetterstrahl  die 
Waldessöhne  hervor.  Der  unwiderstehliche  Anprall  gegen  die  festgestaute  Masse  der  Römer  ist 
klar  gestaltet.  Die  malerische  Stimmung  ist  dem  formalen  Ausdruck  untergeordnet  und  doch 
vereinigen  sich  beide  zu  einer  für  solchen  Stoff  günstigen  Wirkung.  Nicht  jeder  hätte  den  Muth, 
auf  einem  so  weit  zurückliegenden  historischen    Theater  Schlachten  grossen  Stiles  in  Scene  zu  setzen. 

Bios,  Hartmann  und  Firle  bilden  ein  modernes  Künstlertrio.  Ihnen  ist  der  Stoff,  das 
Gegenständliche  im  Bilde,  nur  eine  Unterlage  für  malerische  Probleme.  Liebenswürdig  wie  Firle 
mit  seinem  Mädchen  unter  blühenden  Blumen,   feinfühlend  wie   Hartmann  in    seiner  Frau  Aventiure, 


Der  Hesperiden  goldene  Aepfel 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


133 


der  kleinen  Strickerin  und  Schafhirtin,  emst  und  volltönig;  im  Kolorit  wie  Bios  mit  seiner  Schwarz- 
wälderin,  bilden  diese  drei  sehr  anziehende  Erscheinungen  in  selbständiger  malerischer  Haltung.  Sie 
beschränken  sich  thunlichst  auf  den  malerischen  Eindruck,  ohne  die  Frische  der  Erscheinung,  wie  sie 
uns  im  Leben  entzückt,  durch  malerische  Marotten  zu  entstellen,  die  uns  Matiegzeck's  Bilder 
vielfach  zeigen. 

Eisenhut  ist  zuviel  Maler,  um  im  Stoff  allein  aufzugehen.  Seine  Orientbilder  sind  gluth-  und 
stimmungsvolle  Farbensymphonien.  Die  Wollust  des  Malens  hat  ihn  zu  diesem  Stoffgebiet  gedrängt, 
darin  ihm  die  köstlichsten  malerischen  Offenbarungen  wurden.  Die  koloristische  Empfindung  bestimmt 
den  Inhalt  seiner  Bilder.  Er  greift  seine  Stoffe  auf,  wo  er  sie  gerade  findet,  wo  sein  Malerauge 
gereizt  wird,  sie  aufnimmt  und  sie  gestaltet.  «Die  Theegesellschaft  in  Samarkand»  und  «Sindon, 
Gefängniss  in  Bochara«   sind  dafür  charakteristisch. 

Muther  signalisirte  1892  die  Schotten  mit  poetischen  F"anfarenklängen ,  heute  hätte  er  dies 
nicht  mehr  nöthig,  sie  sind  Andere  geworden.  Ihre  einst  so  kühnen  und  glühenden  Farbenphantasien 
sind  verblasst,  ihre  Stimmungsmalerei  ist  nüchterner  geworden,  die  rauschenden  Farbentöne  von  ihnen 
sind  verklungen  und  nur  einen  schwachen  Abglanz  gibt  Spence  in  seinem  Bilde  «Nach  Sonnen- 
untercfanof».  Was  sie  in  hervorragendem  Masse  immer  noch  besitzen,  ist  die  Fähisjkeit,  mit  der  sie 
Luft  und  Wasser  malen.  Nicht  leicht  liegt  in  andern  Landschaften  so  viel  Stimmung  in  der  Luft, 
wogt  eine  solche  Atmosphäre.  Die  Bilder  geben  in  der  That  darin  den  Eindruck  wieder,  wie  Muther 
die   landschafdichen   Reize   Schottlands   schildert:    «Der   Himmel   ist   fast  immer   bewölkt,    die  Wolken 


Walther  Georffi:  Kartoffelernte 


134 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Fritz  Erler:  Die   Pest 


hängen  niedrig  an  den  Bergen,  und  was  zwischen  Erde  und  Aether  wogt,  erscheint  wie  von  weichem 
Schleier  umhüllt,  der  selbst  die  stärksten  Farbenspiele  durch  eine  F'üUe  zarter  Tonübergänge  verbindet. 
Während  im  Norden  die  klare  durchsichtige  Luft  in  fast  brutalem  Realismus  alle  Einzelheiten  in 
frischen  Farben  abzeichnet,  liegt  es  hier  wie  ein  grosses,  tiefes  Geheimniss  über  der  ganzen  Natur.« 
Alles  ist  Tonsymphonie,  Alles  Stimmung  und  Poesie  in  den  Stunden  der  Dämmerung,  wie  es  sich 
in  dem  Bilde  von  Downie  «An  der  Fürth»  ausspricht.  Alles  ist  helle,  duftige  Eleganz  in  der  Frühjahrs- 
landschaft von  Macnee,  aber  «die  schwellenden  Farbenakkorde,  voll,  tief  und  rund  wie  Orgelklang, 
mächtig  erregte  lyrische  Stimmungen  in  Farben«  finden  wir  bei  ihnen  nicht  mehr,  auf  den  gluthvollen 
sinnlichen  Farbenrausch  ist  grosse  Ernüchterung  gefolgt,  nach  den  Sonntagsfreuden  ist  Werktags- 
stimmung eingekehrt.  Nirgends  zeigt  sich  deutlicher  der  Verfall  als  in  Kay's  Bildern.  Die  Stimmung 
darauf  ist  eine   künstliche,  die  Malerei  schwer  und  roh,  die  Zeichnung  haltlos  und  lotterig. 

In  der  Luitpoldgruppe  hängen  ein  Paar  Landschaften  von  Baer,  der  die  früheren  Bestrebungen 
der  Schotten  aufgenommen  zu  haben  und  in  seiner  eigenen  Weise  fortzusetzen  scheint.  Seine  grosse 
Landschaft  gibt  eine  Stimmung  wieder,  wie  sie  im  Herbst  öfter  auf  unserer  Hochebene  beobachtet 
werden  kann,  wenn  Alles  in  Gluth  und  Farben  getaucht  ist,  wenn  Himmel  und  Erde  im  feurigen 
Wiederschein  der  untergehenden  Sonne  leuchten.  Es  ist  ein  Bild  von  rauschendem,  dekorativem 
Wohlklang,  dem  dieselbe  malerische  Empfindung  zu  Grunde  liegt,  die  Kunz  zum  Maler  von  Stillleben 
prunkender  Seide,  glänzender  Metallgefässe,  überhaupt  zum  Schilderer  aller  glänzenden,  schimmernden 
Gegenstände  macht. 

In  der  Gruppe  der  Venetianer  gibt  sich  ein  anderes  Streben  kund,  Fragiacomo  ist  der 
Modernste  unter  ihnen,  und  mit  grossem,  einfachem  Empfinden  ausgestattet.  Er  sucht  nicht,  wie 
die  meisten  seiner  Landsleute,  den  Leuten  zu  gefallen  und  aufzufallen,  sondern  malt  nur,  was  er 
schlicht  empfindet  und  künstlerisch  zum  Ausdruck  bringen  kann.  Seine  Frühlingslandschaft  mit 
grünenden  Wiesen,  blauen,  verschleierten  Lüften,  die  mit  dem  Duft  junger  blühender  Pfirsichbäume 
sich  verschmelzen,   ist  von   einer  süssen,   zarten,   bestrickenden  Harmonie.      Das  Motiv   ist  so   einfach 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


135 


wie  nur  denkbar,  eine  Wiese,  die  ein  schnurgerader  Bach  durchschneidet  und  die  mit  jungen  Stämmchen 
bepflanzt  ist. 

Laurent!  besingt  in  einem  Hilde  die  Poesie  des  Hirtenlebens,  sein  «Gleichniss«,  das  in 
duftenden,  zarten  Farben  gemah  ist,  lässt  in  dem  grossen  Format  das  starke  persönliche  Empfinden 
nicht  ganz  zur  Geltung  kommen.  Die  Poesie  des  Intimen  verflüchtet  sich  in  quadratmetergrossen 
Bildern  zu  sehr.  Pictor  ist  ein  echter  Italiener  mit  all'  den  Fehlern  und  Verkehrtheiten  und  dem 
romantischen  Schönheitsgefühl,  das  Talenten  seiner  Rasse  so  häufig  eigen  ist.  Mit  dem  Bilde  «Die 
verdorbene  Quelle»  zollt  er  der  Sensationsmalerei  seinen  Tribut,  wenngleich  die  Stimmung  darin  von 
künstlerischem  Empfinden   zeugt.      Er   hat  auch  für  die    beiden   anderen  Bilder    «Venedig  bei  Nacht» 


und       «orientalische 
Landschaft»    gleiche 

Stimmung,  der 
Mondschein  der  ita- 
lienischen Nacht, 
in  dem  Venedig  so 
romantisch  aussieht. 
Der  andere  italien- 
ische Saal  zeigt  seine 
gewöhnliche  Physio- 
gnomie,   Bilder,  wie 

sie  als  Verkaufs- 
waaren  für  die  Frem- 
den,   als   Erinner- 
ungen an  Italien,  ge- 
malt werden,  immer 

dieselben  Motive, 
und    man   würde    es 
nicht  einmal  merken, 


R.  M.  Ekhler:  Heusjeriicli 


wenn  die  Waaren  ein- 
mal auch  nicht  aus- 
gewechselt würden. 
Neuerdings  hat 
sich  Urban  auf  die 

italienische  Land- 
schaft verlegt  und  ihr 
wieder  etwas  von 
ihrem    grossen    Stil 
und    Charakter    ab- 
gewonnen.     Urban 

sollte  etwas  von 
Rottmann's  Kunst- 
charakter haben,  um 
dem  Stil  der  süd- 
lichen Landschaft 
grossen  Ausdruck 
zu  geben.  Maler- 
isch  vermag   er   sie 


stimmungsvoll  zu  interpretiren.  In  diesem  Bestreben  zeigt  er  sich  in  eigenthümlichem  Gegensatz  zu 
Fragiacomo,  der,  im  Sinne  der  Modernen  ein  Realist,  die  Poesie  öder,  einfacher  Gegenden  malt, 
während  hingegen  der  Deutsche  in  romantischem  Sinne  die  schöne  italienische  Landschaft  aufsucht 
und  darstellt. 

Ueber  die  Bestrebungen  der  Künstler  der  Landschaftsmalerei  zu  schreiben,  ist  nicht  leicht. 
Es  herrschen  darin  so  vielerlei  Standpunkte  und  spricht  so  Vielerlei  auf  unsere  Sinne  und  Empfindungen, 
ohne  dass  wir  uns  beim  ersten  Eindruck  klar  darüber  werden  und  nach  den  verschiedenen  Wirkungen 
zu  unterscheiden  vermögen,  in  welcher  Weise  eine  Schöpfung  zu  uns  spricht,  ob  ihr  Eindruck  ein 
nachhaltiger  ist  oder  nur  dem  flüchtigen  Beschauer  zu  genügen  vermag,  ohne  eine  dauernde  Betrachtung 
auszuhalten  und  unser  Empfinden  zu  nähren.     Das  Auge,  die  Sehstärke,  die  Empfindlichkeit  für  Ein- 


136 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


drücke  muss  bei  dem  Maler,  besonders  bei  dem  der  Landschaften,  wo  es  hauptsächlich  auf  Raum- 
gestaltung und  Reiz  der  P'arbe  ankommt,  eine  grosse  Rolle  spielen  und  seine  persönliche  Auffassung 
ungemein  beeinflussen.  Es  scheint  nun  doch  zu  weit  gegangen,  wenn  man  eine  Erscheinung  wie  die 
des  Impressionismus  mit  Kurzsichtigkeit  zusammenbringt.  Das  Streben  nach  Verdichtung  aller  Einzel- 
heiten zu  grossen  Massen,  die  Neigung  zur  Silhouette,  entspricht  doch  dem  Bedürfniss,  in  die  künst- 
lerische Darstellung  der  Landschaft  einen  grossen  Charakter,  etwas  Monumentales,  Grosszügiges  zu 
bringen,  und  dies  Bedürfnis  hängt  mit  dem  wieder  erwachten  Sinn  für  dekorative  Kunst  zusammen. 
Andrerseits  mag  freilich  eine  Besonderheit  des  künstlerischen  Sehens,  wie  das  stereoskopische  Sehen, 
dem  Laien  bei  Betrachtung  eines  solchen  Bildes  gar  nicht  auffallen,  wie  er  ja  auch  den  Positivismus, 
durch  den  Alles  wie  im  photographischen  Apparat  wiedergegeben  erscheint,  für  wahr  ansieht  und 
solche  Naturtreue  ohne  künstlerische  Uebersetzung  bewundert.  Die  Bilder  von  Müller-Kurzwelly 
sind  so  gemalt,  auch  Fink  und  Palmie 
lassen  sich  von  solchen  Eindrücken 
leiten,  die  sie  dann  nur  in  eine  dis- 
kretere, malerische  Stimmung  tauchen. 
Als  eine  eigene  Art  Stimmungs- 
landschaft hat  sich  die  frei  kompo- 
nirte,  wie  sie  in  Böcklin  ihren 
klassischen  Vertreter  hat,  entwickelt. 
Sie  beruht  auf  künstlerischen  Grund- 
prinzipien der  Raumgestaltung,  die 
aber  durch  das  persönliche  Empfinden 
in  freiester  Weise  erweitert  und  belebt 
werden.  In  F"erdinand  Keller's 
«Hain  des  Poseidon»,  in  Kanoldt's 
«Diana»,  Hollmann's  «Abschied» 
und  «Jungbrunnen»  spiegeln  sich 
diese  Bestrebungen  wieder,  nur  mit 
einem  theatralischen ,  pathetischen 
Ausdruck,  der  den  Mangel  vertieften 
Naturgefühls  nicht  zu  ersetzen  ver- 
mag. In  der  künstlerischen  Gestalt- 
ung eines  gewonnenen  Naturein- 
druckes sehen  die  Landschafter,  die 
dem  Karlsruher  Künstlerbund  ange- 
hören, ihre  Aufgabe.  Die  Erde, 
selbst  das  einfachste  Stück  Natur,  ist 
für    .sie    schön,    wenn    es    Stimmung  5^«;««  g.  z«,»^.- Hafen  in  Dordrecht 


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F.  Uaufstaengl,  UQaobeo 


Im  Vorzimmer  des  Ministers 


DIE  KUNvST  UNSERER  ZEIT 


137 


Adam  Knm:  Stillleben 


beseelt,  die  das  Gefühl  des 
Weiten ,  Räumlichen  erweckt. 
Eine  Ebene,  ein  paar  Bäume 
darauf,  eine  weiche,  wogende 
Atmosphäre  darüber,  räumlich 
klar  ausgedrückt,  so  dass  mit 
wenig  Orientirungslinien  das  Ge- 
fühl für's  Räumliche  erweckt 
wird.  Ein  Waldsaum,  mit 
grosser,  massiger  Silhouette  der 
Bäume ,  weite  Felder,  die  vom 
Horizont  begrenzt  werden,  gibt 
ihnen  Stoff  zu  ihren  Bildern. 
Die  Farbe  hilft  wie  in  der 
Natur  das  Räumliche  ausdrücken, 
sie  treibt  zurück,  sie  nähert  und 
modellirt  die  Gegenstände.  Sie 
erscheint  auf  den  Bildern  von 
Vo  1  k  m  a  n  n  «  Vorfrühlingstag  » 
und  «Waldsaum»  wirklich  als 
Aetherblau,  saftiges  Wiesengrrün 
und  in  duftigen  Fernen  wie  ein 
Hauch,  der  verschwebt.  Diese 
Maler  lieben  keine  Modellirung 
durch  starke  Kontraste  von  Licht 


und  Schatten ,  ihre  Bilder  sind  hell  wie  das  Tageslicht ,  das  draussen  die  Gegenstände  umfluthet, 
verschärft  und  verschleiert,  Licht  und  Luft  bewirken  die  feinsten  Unterschiede,  heben,  vertiefen,  weiten, 
modelliren  jede  Bewegung  der  Landschaft.  In  dieser  Hinsicht  bietet  Schönleber's  «Hochwasser  am 
Städtchen»  zarte  Effekte.  Die  üble  Seite  dieses  Strebens  zeigt  sich  in  Kampmann's  Versuchen.  Die 
obengenannten  Künstler  streben  auch  ein  Relief  der  Landschaft  an,  in  dem  der  Natureindruck  gefasst 
ist,  ebenso  wie  Strützel  mit  seinem  «Abend  am  Bach»  und  «Im  Hochmoor».  Nur  verleitet  ihn 
dieses  Streben  zu  stärkeren  Uebertreibungen.  Das  Suchen  nach  Vereinfachung  des  Natureindruckes 
hat  zu  einer  künstlerischen  Auffassung  geführt,  in  der  man  die  Landschaft  nicht  als  etwas  Räumliches 
fasste,  sondern  auf  den  Flächeneindruck  hinarbeitete  und  in  der  die  Farbe  ähnlich  wie  bei  Teppichen 
zur  Wirkung  kommt.  Manche  haben  das  Ornamentale  der  Landschaft  in  I'arbe  und  Linie  so  hervor- 
zuheben gesucht,  dass  die  Feinheit  des  Natureindruckes,  die  Atmosphäre  als  Stimmungsträger  in 
ihrer  eigenen  Weise  nicht  mehr  zur  Geltung  kommt.  Man  hat  mit  einer  gewissen  Gesichtsrohheit 
farbige  und   ornamentale   Eindrücke   zu   sehr  auf  dekorative  Wirkung  hin  g-esteig-ert.      Die   T'arbe  wirkt 

11    19 


138 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


dann  schwer  und  arbeitet  nicht  mehr  an  der  Klärung  der  räumlichen  Verhältnisse  mit.  Beispiele 
dafür  gibt  Franz  Hoch  in  seinen  heurigen  Landschaften.  Poetischer  Stimmungsausdruck  beseelt 
Bürgel's  «Abendlandschaft».  Die  Werke  der  Stuttgarter  decken  sich  in  ihrem  künstlerischen 
Bestreben  mit  dem  des  Karlsruher  Künstlerbundes.  Thoma,  der  mit  drei  Bildern  auftritt,  ist  auch 
in  allen  anderen  der  jungen  Karlsruher  Landschafter  gegenwärtig,  sein  Einfluss  ist  unverkennbar. 
Stimmung    erwecken     durch    schöne    Aussichten,     durch    räumliche    Darstellungen,    Stimmung 

schaffen  durch  ornamentale  Flächenbilder, 
Stimmung  überhaupt  heisst  die  Signatur,  unter 
der  die  moderne  Landschaftsmalerei  steht. 
Wir  haben  hier  noch  Einiges  anzuführen, 
das  sich  nach  Art  und  Charakter  mit  dem 
Vorausgeschickten  verknüpfen  lässt.  Von 
Petersen  ein  paar  Seestücke  mit  trefflich 
beobachteter  und  gemalter  Stimmung;  von 
Olga  Beggrow-Hartmann  ein  Stillleben 
und  von  Pirie-Glasgow  ein  prächtiges 
Hühnerpaar  mit  Küchlein.  Ferner  müssen 
wir  noch  auf  eine  Erscheinung  in  der  Stutt- 
garter Kunstgenossenschaft  hinweisen ,  die 
ihr  eine  eieenartio-e  künstlerische  Note  ver- 
leiht,  —  es  ist  Kalckreuth's  Kunst;  für 
seine  Eigenart  und  grosse  Auffassung  der 
Natur  spricht  neben  einer  Landschaft  am 
deutlichsten  das  Bild  einer  alten  Frau,  die 
ausruhend  und  nachdenklich  im  Freien  sitzt. 
Mit  den  einfachsten  Mitteln  ist  das  Einfachste 
und  Nothwendigste ,  der  ganze  innere  und 
äussere  Gehalt  der  Erscheinung  in  monu- 
mentalen Umrissen  und  F"ormengebung  ge- 
geben. Man  glaubt,  eine  plastische  Figur 
von  Meunier  in  ihrer  charakteristischen 
Silhouette   festgrehalten    zu  sehen.     Es    ist   an    dem   Bilde    maltechnisch   Nichts    zu   bewundem   —   als 


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Otto  Propheter:  Bildniss  der  Frau  Junker 


seine  grosse  Einfachheit,  die  sich  mit  dem  Empfindungsausdruck  deckt.  Das  Bild  erinnert  an  ein 
Fresco  im  Lapidarstil. 

Kalckreuth  hat  sonst  immer  in  der  Secession  ausgestellt,  er  würde  auch  heuer  unter  den 
lärmenden  Farbensymphonikern   durch  seine  herbe    Grösse  weit  mehr  wirken  und  auffallen. 

Auch  Keller  gehört  mit  seinem  Bilde  «Arbeiter  in  einem  Steinbruch»  hieher.  Es  ist  ein 
Freilichtbild  im  besten  Sinne:    Schwarze  Schatten  und  grelle  Lichter  fehlen  darin  ganz  und  doch  sind 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


139 


alle  Gegenstände  kräftig  modellirt.  Es  ist  Licht,  Luft  und  Raum  darin,  und  Nahes  und  Fernes  durch 
malerische  Töne  charakterisirt.  Ein  solches  Werk  setzt  viel  zielbewusstes,  zeichnerisches  und  maler- 
isches Können  voraus;  man  darf  es  nur  mit  andern  Bildern,  die  in  ähnlicher  Weise  einen  Vorgang 
im  Freien  darstellen,  die  aber  durch  das  Streben  nach  Stimmung  unwahr  und  manierirt  erscheinen, 
vergleichen,  um  den  treuen  Wirklichkeitssinn  und  die  feinen  Grade  malerischer  Wahrnehmung,  die 
Keller's  Bild  aufweisen,  schätzen  und  würdigen  zu  können. 


//.    Spence:   Liuidschaft 


Ein  eigenartiges  Schmuckstück  ist  der  Ausstellung  in  Herkomers  Prunkschild  mit  Email- 
malerei «Der  Triumph  der  Stunde»  einverleibt.  Was  das  Menschenherz  zu  jeder  Stunde  bewegen 
mag,  wird  hier  in  einem  Gleichniss  malerisch  ausgedrückt.  Es  wird  erzählt,  Herkomer  habe  diese 
Technik  der  Emailmalerei  neu  erfunden  und  gestaltet.  Wer  sich  mit  dieser  Art  der  Technik  nicht 
befreunden  kann,  wird  doch  der  künstlerischen  Geschicklichkeit,  die  daraus  spricht,  seine  Anerkennung 
nicht  versagen  können.  Die  Bilder  sind  von  einer  Klarheit  in  der  Zeichnung  und  Schönheit  der 
Farben ,    dass  sie  wirklich   als   Kleinodien ,    als    Edelsteine    im    Bild    erscheinen    und    einer    kostbaren 

19» 


140 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


A/idrezi'  Black:  Im  alten  Scliottland 


Fassung  auch  würdig  sind.  Nur  hat  Herkomer  die  Fassung  nicht  gleichwertig  mit  den  Bildern 
gestahet  und  das  ornamentale  Beiwerk  nicht  plastisch  klar  und  zierlich  genug  gebildet.  Es  ist  dies 
eine  Forderung,  die  schon  durch  die  Art  und  das  Wesen  des  Metalls  bedingt  wird.  Wir  Kultur- 
menschen können  uns  nicht  mit  der  Naivität  eines  Neuseeländers  an  ungebildeten  Massen  blinkenden 
Metalles  ergötzen. 

Die  Secessionen  sind  aus  der  Vereinigung  solcher  Elemente  der  Künstlerschaft  entstanden,  die 
erfolgreich  aus  einem  geistigen  Rassenkampf  hervorgingen  und  sich  kräftig  und  selbständig  genug 
zur  Gründung  neuer  Künstlerrepubliken  fühlten.  Sie  gewannen  die  Sympathie  und  Unterstützung  aller 
künstlerisch  Gebildeten  durch  die  grossen  und  breit  angelegten  Prinzipien,  auf  denen  sie  fussten.  Ihr 
Programm  durfte  nicht  mit  der  Parole  vom  Malen  um  des  Malens  willen  erledigt  sein,  sondern 
es  musste  darüber  hinaus  auf  ein  grösseres  Ziel  weisen,  auf  ein  Ziel,  das  die  Hebung  und  F'örderung 
allgemeiner  künsderischer  Bildung  in  sich  schloss.  An  die  Stelle  der  begrifflichen  und  abstrakten 
Anschauungen,  die  früher  alles  beherrschten,  sollen  Anschauungen  treten,  die  die  natürliche  Empfindung 
und  Vorstellung    des  Menschen   nähren    und    bilden.     Es    fragt"  sich    nun,    haben    die  Secessionen    bis 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


141 


heute  an  diesen  hohen  Prinzipien  festgehalten,  und  ist  es  ihnen  gelungen,  der-Pflege  der  künstlerischen 
Kultur  mit  Erfolg  obzuliegen,  und  wie  haben  sie  diese   Aufgabe  erfüllt? 

Um  die  Fahne  der  Secession  schaarte  sich  anfangs  Alles,  was  jung  und  kräftig  war  und  künst- 
lerischem Fortschritt  huldigte.  Ihre  republikanische  Verfassung  erlaubte  Jedem,  mit  seiner  eigenen 
Ansicht  und  mit  seinem  eigenen  Empfinden  hervorzutreten.  Das  Individuelle  galt  als  der  tiefe 
Born,  der  unerschöpflich  immer  neue  Lebenselemente  der  neuen  Kunst  zuführen  sollte.  Dabei 
zeigte  sich  aber,  dass  das  Individuelle  bei  allen  Menschen  nur  in  aufgespeicherten  Eindrücken 
und  der  Erfahrung  von  aussen,  in  der  Fähigkeit,  Ererbtes  und  Ueberkommenes  zu  übernehmen,  zu 
verarbeiten  und  weiterzubilden,  bestehe,  kurz,  dass  der  moderne  Mensch  nur  ein  Summe  des  von 
Ahnen,  Grossvätern  und  Vätern  Ererbten  sei.  Er  versucht  nun  mit  seinem  Empfinden  den  veränderten 
Anschauungen  der  Gegenwart  nachzukommen,  indem  er  es  in  ein  neues  Gewand  kleidet.  Aber  nur 
wenige  hervorragend  organisirte,  mit  tiefer  Empfindung  und  künstlerischer  Bildung  ausgestattete  Naturen 
machten  wirklich  einen  Schritt  vorwärts,  dem  grossen  Ziele  zu,  eine  moderne  Kunst  zu  schaffen,  in 
der  der  ganze  geistige  Gehalt  unserer  Zeit  zum  Ausdruck  kommt.  Wenn  man  gesagt  hat,  diese 
Kunst  erschlösse  das  Leben  in  viel  weiterem  und  tieferem  Umfang  als  jede  frühere  Periode  es  erschloss, 
so  bezieht  sich  das  nur  auf  die  Werke  derer,  die  ausserhalb  aller  X'ereinigung  auf  einsamer,    stolzer 


Riclianl  Kaiser:  .\lter  Steinbrucli  bei   Kiifstein 


142  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Höhe  allein  stehen.  Denn  das  Verhältniss  der  mitderen  Kräfte  zu  den  führenden  Geistern  kann  erst 
wieder  in  fruchtbringende  Wechselbeziehung  treten,  wenn  die  moderne  Kunst  eine  allgemeine  Form 
für  ihre  Anschauung  gefunden  hat,  in  welcher  die  persönHche  Kraft  des  Einzelnen  ausmündet.  Vorder- 
hand muss  man  das  Individuelle  eher  als  das  Element  betrachten,  das  die  schwächeren  Talente  in  die 
Aera  des  Malvirtuosenthums  hineintrieb.  Diese  Talente  verfallen  leicht  dem  Geiste  der  Nachahmung,  sie 
sehen  ihre  Aufgabe  darin,  sich  so  auszudrücken,  wie  es  anderswo  gerade  Mode  ist  und  wie  führende 
Meister  sich  äussern.  Sie  sollten  nur  nicht  so  überhandnehmen,  dass  sie  die  charakteristische  Erscheinung 
einer    Societät    ausmachen,    die    sich    die    Pflege    künstlerischer    Reinkulturen    zum    Ziel   gesetzt   hat. 

Die  Wollust  des  Malens  hat  Vielen  den  Kopf  genommen  und  das  Rückgrat  geschwächt,  ihre 
Farbenoffenbarungen  sind  diffuse  Träume  und  ihre  Zeichnung  ist  haltlos  und  schlotterig.  Talent  und 
Genialität  zeigt  sich  zwar  in  vielen  Werken,  aber  verbunden  mit  einer  künstlerischen  Unkultur  und 
Geschmacklosigkeit,  die  oft  brutal  wirkt.  Künstlerische  Kultur  und  Geschmack  sind  eben  Dinge, 
die  sich  nicht  erwerben  lassen,  wenn  man  sie  nicht  von  Haus  aus  hat.  Und  die  secessionistische 
Erziehung ,  die  auf  künstlerische  Bildung  hinarbeiten  sollte ,  ist  nicht  im  Stande ,  auf  -diese  Grund- 
elemente Werth  und  Nachdruck  zu  legen.  Auch  damit  wird  im  Prinzip  ihr  ernstes  Programm 
verletzt  und  geschädigt.  Anschauliche,  bildliche  Vorstellungen,  menschliche  Empfindungen  erweckt 
man  nicht  allein  mit  Farbenkonzerten,  Farbensymphonieen,  ohne  dass  nicht  der  Grund  des  Rhythmus, 
der  Wohllaut  der  einzelnen  Töne  tieferem  Empfinden  entspringt,  einen  Halt,  eine  Organisation  hat, 
die  nur  rein  geistiger  Natur  sein  kann.  Viele  Werke  aber  erfüllen  diese  Forderung  nicht,  sie  haben 
kein  Gefüge,  keine  Organisation,  weder  eine  räumliche,  noch  eine  geistige.  Die  malerische  Epidermis 
einer  Schöpfung-  kann  der  Anschauung  auf  die  Dauer  nicht  genügen,  die  dekorative  Wirkung  allein 
thut  es  nicht,  das  Plächenbild  vermag  nicht  so  anzuregen,  wie  eine  schöne  Aussicht,  an  die  sich 
menschliche  Empfindungen  anspinnen. 

Es  will  uns  scheinen,  dass  die  heurige  Ausstellung  nicht  zu  den  inhaltsvollsten  zählt,  und  dass 
das  eigentliche,  secessionisdsche  Prinzip  nicht  voll  darin  zum  Ausdruck  kommt.  Das  mit  Geschmack 
durchgeführte  Milieu  der  Säle,  in  denen  die  Bilder  mit  Rücksicht  auf  ihre  Färbung  eingeordnet  sind, 
so  dass  eine  vornehme,  geschlossene  Gesammthaltung  erzielt  wird,  verleiht  dieser  Ausstellung  ein 
einnehmenderes  Aussehen  als  der  des  Glaspalastes. 

Für  das  Figurenbild,  wie  es  uns  in  der  Secession  entgegentritt,  ist  die  malerische  Gestaltung 
massgebend.  Es  kommt  dabei  nur  auf  eine  Harmonie  der  F"arben,  selten  auf  die  der  linearen  An- 
ordnung an.  Wohl  kann  man  einen  malerischen  Eindruck,  das  Zusammenstellen  von  P""arbflecken  zu 
einem  Ganzen  zum  Ausgangspunkt  für  ein  Bild  machen  und  durch  neue  Motive,  neue  Akkorde  aus 
der  Natur  beständig  bereichern,  aber  diese  Eindrücke  sind  nur  malerische  Notizen,  Rohmaterialien,  aus 
denen  ein  Bild  erst  bereitet  werden  muss.  Es  befriedigt  beim  Figurenbild  nicht  und  ebensowenig  bei 
der  Landschaft,  wenn  wir  malerische  Tonwerthe  in  harmonischer  Skala  heruntergemalt  sehen.  Es 
genügt  nicht,  wenn  man  lediglich  einen  malerischen  Eindruck  festhält,  wir  wollen  vielmehr  auch  einen 
charakteristischen  Ausdruck  allgemein  menschlicher  Empfindungen  darin  ausgesprochen  finden. 
Charakteristisch  mit  all'  seinen  guten  und  schlechten  Eigenschaften  für  diese  Richtung  ist  Ribot's  Bild 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


143 


«Die  Sänger».  Nur  ist  dieses  Bild  mit  einem  Verständniss  für  Form  gemalt,  das  keines  der  übrigen 
annähernd  erreicht.  Ribot  könnte  darin  auch  Ribera  heissen.  Die  gleiche  Saftigkeit  und  Tiefe  des 
Tones,  die  gleiche  realistische  Kraft  wahrer  Darstellung!  Aber  durch  den  Mangel  einer  klaren 
Komposition  büsst  das  Bild  viel  von  seinen  altmeisterlichen  Vorzügen  ein.  Nicht  in  der  feinen  Ueber- 
einstimmung  der  Töne  allein  liegt  der  organische  Zusammenhang,  die  künstlerische  Gestaltung  eines 
Bildes,  sondern  vornehmlich  in  der  räumlichen  Einteilung.  Durch  diese  erhält  ein  Wirklichkeitseindruck 
für  unser  Auge  erst  seine  eigentliche  Fassung  und  Wirkung.  Uhde's  grosses  Bild  «Ruhepause  im 
Atelier»  ist  auf  reine  Farbenkomposition  angelegt.  Die  räumliche  Anordnung  bestimmen  lediglich 
r'arbenwerthe,    je  nachdem  der  Farbe  die  Eigenschaft  innewohnt,    nah  oder  ferne,    klärend  oder  ver- 


dichtend zu  wirken.  Jedoch 
dieses  malerische  Problem  ist 
nicht  einwandfrei  gelöst.  Die 
Farben  sind  allzu  grau  und 
verstaubt,  sie  wirken  und 
spielen  nicht  auf  die  ihm 
sonst  eigene,  feine  Weise  in- 
und  durcheinander.  Auch  als 
Schilderung  geht  diese  Modell- 
pause, wie  es  eigentlich  heissen 
sollte,  über  ähnliche  anekdo- 
tische Bilder  nicht  hinaus.  Da 
steht  ein  alter  Mann  mit  einem 
Ausdruck,  der  deutlich  sagt: 
für  heute  habe  ich  genug 
Modell  gestanden.  Eine  junge 
Frau,   mit  dem  Kind  auf  dem 


Alexander   Opplcr:  Portratbü.ste 


Arm,  betrachtet  neugierig  die 
Leinwand,  worauf  sie  gemalt 
ist.  Während  dessen  balgren 
sich  im  Hintergrunde  ein  paar 
weitere  Kinder,  die  vorher 
noch  als  Engel  agirten,  wie 
die  an  den  Kleidern  befes- 
tigten Papierflügel  zeigen.  Als 
malerischer  Vorwurf  ist  diese 
Scene  immerhin  reizvoll,  wenn 
auch  die  Malerei  diesmal  keine 
befriedigende  Lösung  ergibt. 
Slevogt's  Bild  vom  ver- 
lorenen Sohn  ist  ein  Werk, 
das  man  um  seiner  maler- 
ischen Vorzüge  willen  schätzen 
mag;     aber    die     malerischen 


QuaHtäten  allein  schaffen  auch  hier  kein  gutes  Bild,  besonders  wenn  ein  Stoff  gegeben  ist,  den 
menschliches  und  künstlerisches  Empfinden  einfach  und  gross  zu  gestalten  vermag,  wie  ihn  die  alten 
Meister  in  so  poetischer  Weise  gestaltet  haben. 

Habermann's  Bilder,  in  denen  die  gleiche  Dame  nun  schon  in  einem  Dutzend  Auflagen 
erschienen  ist,  bekommen,  wenn  sie  auch  auf  malerisch  geistreiche  Art  immer  neu  pointirt  sind,  nun 
doch  einen  unangenehmen  Beigeschmack.  Es  liegt  in  der  ganzen  Art  des  malerischen  Vortrags  etwas, 
das  dem  natürlichen  Geschmack  widerstrebt. 

Geschmack  ist  ja  bekanntlich  eine  höchst  persönliche  Sache.  Wir  möchten  hier  eine  kleine 
Geschichte  erzählen,  in  welcher  ein  besonderes  Geschmacksphänomen  auftritt,  das  vielleicht  mit  vielen 
hypermodernen  Erscheinungen  idendsch  ist.  Es  Hess  sich  einmal  ein  modemer  Literat  zur  Vesperzeit 
Häring  und  Kaffee  auftischen  und  behandelte  den  Fisch  als  Kaffeebrod,  mischte  ihn  stückweise  unter 
das  Getränke  und  löffelte  Beides  aus  einer  Schale. 


144  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Wenn  wir  Bilder  von  Habermann  sehen,  müssen  wir  uns  immer  dieser  Geschichte  erinnern. 
Und  doch  entwickelt  Habermann  einen  so  raffinirt  vornehmen  Geschmack,  dass  wir  ihn  am  liebsten 
in  Parallele  mit  Schuster-Woldan  setzen  möchten.  Der  Unterschied  liegt  nur  darin,  dass  bei  Letzterem 
natürliches  Feingefühl    und    feine  Empfindung  vorwaltet,    dagegen   bei  Ersterem   meist   nur  Haut-goüt. 

Als  eine  Mittellinie,  die  zwischen  beiden  hindurchführt,  lässt  sich  Klein's  Malerei  annehmen. 
Er  gibt  in  seinen  Damenporträts  die  reale  Erscheinung.  Es  geht  ein  gesunder,  sinnlicher  Zug  durch 
diese  Malerei,  der  von  Habermann's  Raffinement,  wie  von  Schuster-Woldan's  Sensibilität  gleich 
weit  absteht. 

Auf  englische  Art  schildert  Oppler  in  seinem  Bilde  «Musik»  die  vornehme  Gesellschaft 
Englands.  Eine  Dame  in  Weiss  und  ein  Kind  in  Weiss  heben  sich  von  einem  nur  in  gedämpfterem 
Lichte  scheinenden  Hintergrunde  ab.  Diese  Malerei  verräth  deutlich  englische  Einflüsse,  Aber 
Oppler  ist  dieser  Art  viel  näher  getreten  als  auf  den  Bildern  in  der  Ausstellung  1898.  Er 
o-elangte  in  dieser  Manier  zu  einem  sehr  selbständigem  A.usdruck.  Während  sich  damals  die  reale 
Erscheinung  in  seinen  Bildern  schemenhaft  verflüchtigte ,  hält  er  sie  in  den  jetzigen  Darstellungen 
trotz  aller  Zartheit  der  Modellirung  doch  plastisch  fest.  Gerade  in  dem  Kontrast  körperlich  bestimmt 
hervortretender  Formen  und  der  Gewandtheile ,  die  in  zarten  malerischen  Tönen  diese  überfliessen, 
liegt  ein  besonderer  Reiz  der  Darstellung.  Oppler  ist  noch  mit  einem  Bilde  vertreten,  das  ihn  auf 
einem  anderen  Gebiete  zeigt.  In  einen  alterthümlich ,  bürgerlich  behaglichen  Raum  mit  altem, 
g-rünem  Getäfel ,  das  in  den  Tiefen  warm  aufleuchtet ,  scheint  durch  ein  hohes ,  in  viele  kleine 
Scheiben  getheiltes  Fenster  die  Sonne  und  malt  bunte  Flecken  auf  den  Boden ,  streift  auch  eine 
Schüssel  rothwangiger  Aepfel,  die  eine  alte  würdige  Matrone,  am  Fenster  sitzend,  abschält.  Dabei 
steht  ein  junges  Mädchen,  von  weichem  Lichte  umfangen  und  von  ein  paar  Sonnenstrahlen  geliebkost 
und  angeglüht.  Das  Ganze  ist  so  warm  behaglich,  zeigt  eine  so  bürgerliche,  anheimelnde  Umgebung, 
dass  man  sich  ordentlich  wohl  darin  fühlen  kann.  Diese  Scene  gibt  in  ihrer  Art  ein  Genrebildchen, 
wie  Pieter  de  Hooch  sie  malte,  der  in  die  Sonnenstrahlen,  die  durch  solche  Scheiben  fielen,  verliebt 
war,  und  sie  athmet  die  ruhige,  glückliche  Atmosphäre,  die  Chardin  so  meisterhaft  wiederzugeben 
verstand.  Ist  er  malerisch  auch  nicht  auf  der  Höhe  dieser  Meister,  so  zeigt  sich  darin  doch  ein 
Talent,  das  auf  eine  selbständige  freie  Weise  jene  Wege  in  die  köstlich  stillen  Winkel  gefunden  hat, 
die  ein  Malerauge  immer  entzücken  werden.  Ja  durch  die  Kunst,  die  so  Gegensätzliches  umfasst, 
die  die  vornehme  Sphäre  des  Salons  in  so  diskreter  Weise  malt  und  zugleich  in  dem  schlichten  Still- 
leben aufzugehen  weiss,  unterscheidet  sich  dieser  Maler  von  vielen  modernen  Kollegen  auf  beachtens- 
werthe  Weise. 

Da  vorher  von  englischen  Einflüssen  die  Rede  war,  möchten  wir  hier  gleich  eines  Bildchens 
gedenken,  das  die  englische  Kunst,  wenn  auch  nur  im  Kleinen,  doch  gut  repräsentirt.  Es  i.st  dies 
«Die  Wahrsagerin»  von  Robert  Bell.  Diese  Maler  haben  nie  die  Schönheit  aus  den  Augen 
verloren,  immer  ist  sie  ihnen  als  ein  himmlisches  Mädchen  in  Wald  und  Flur,  im  Haus  und  in  der 
Gesellschaft  begegnet.  Wie  auch  in  Opplers  Bilder  etwas  von  jenem  vornehmen  Wesen  über- 
gegangen ist,  so  zeigt  es  sich  hier  in  einer  übersetzteren  romantischen  Weise.      Aber  es  ist  dieselbe 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


145 


Angela  yank:  Heidi! 


Rasse,  dieselbe  Diskretion  in  der  Haltung,  dieselbe  natürliche  Feinheit  in  der  Bewegung  und  im 
Ausdruck  der  Empfindungen  von  Gesicht  und  Händen.  Stets  das  Schöne  vor  Augen,  haben  diese 
Meister  immer  die  goldene  Mittellinie  eingehalten  und  in  ihren  grossen  Schöpfungen  sich  in  mystische 
Regionen  erhoben,  in  die  kein  Staub  der  grauen  Alltagswelt  dringt.  Es  ist  ein  Bild  von  Höcker 
hier,  das  auch  an  Mystizismus  streift,  aber  es  ist  keine  tiefe  Offenbarung  einer  verzückten  Seele 
darin,  sondern  nur  malerisch  raffinirtes  Empfinden. 

Eine  sinnliche  Malerphantasie,  die  im  Sehnen  und  Suchen  nach  neuer  Schönheit  .sich  verzehrt, 
kann  in  der  Produktion  leicht  negativen  Erfolg  haben.  Aber  je  mehr  gesunde  und  natürliche 
Vorstellungskraft  einem  innewohnt,  desto  weniger  wird  er  von  diesem  geistigen  Prozesse  angegriffen 
und  erschüttert  werden.  Stuck  hat  keine  Anlage  zu  solchem  Zehrfieber,  wenn  seine  Farben- 
symphonien auch  manchmal  diffus  erscheinen  und  ein  verschobenes  Bild  zeigen,  wie  die  heurige 
Wiederholung  des  «bösen  Gewissens».  Auch  unter  seinen  Porträts  verräth  nur  das  des  Afrika- 
reisenden Eugen  Wolff  die  feste  Hand  und  den  Farbensinn  des  Künstlers.  Vielleicht  lässt  er  sich 
doch  durch  den  Beifall  der  Menge  und  unkritischer  Schwarmgeister  zu  viel  aus  seinem  Schöpferfrieden 
aufjagen  und  gibt  Schöpfungen,  die  er  noch  nicht  au.sgereift  hat,  allzu  leicht  weg. 

Hierl-Deronco's  Kostümbildniss  ist  von  starker  dekorativer  Wirkung  und  schön  gemalt. 

Wenn  wir  von  Porträtkunst  sprechen,  so  bezeichnen  wir  damit  im  weitesten  Sinne  alle  Werke, 
in  denen  ein  Wirklichkeitseindruck  so  gewahrt  und  wiedergegeben  ist,  dass  wir  darin  jedes  Objekt 
nach  seiner  Herkunft  und  Rasse  zu  erkennen  vermögen.  Dieser  Zug  der  modernen  Kunst  erklärt 
sich  aus  dem  innigen  Anschluss  an  die  Natur.  Es  liegt  bereits  ein  wissenschafdicher  Zug  darin,  die 
Oberfläche  eines  Objekts  aufs  Getreueste  in  F"arbe  und  Form  wiederzugeben.  Diese  Richtung  hat 
einen  Positivismus  erzeugt,  der  auf  einen  sehr  engen  Darstellungskreis  sich  beschränkt.     Wenn  aller- 

11  20 


146 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


L.  V.  Zumbusch:  Greis  unu  Ki.ii 


clings  diese  Anschauung  in  liebevolle  Be- 
trachtung aufgeht,  wenn  das  Empfinden 
mit  der  Oberfläche  zugleich  das  Lebens- 
gefühl des  Ganzen  übermittelt,  dann  wird 
daraus  ein  Segen  für  die  künstlerische 
Produktion  erwachsen.  Dann  kommt  zu 
dem  gewissenhaften,  fleissigen  Abschreiben 
der  Natur  ein  Zug  von  menschlicher 
Grösse,  die  mit  gleicher  Liebe  alles  um- 
fasst.  Ein  solcher  Zug  der  Naturbetracht- 
unor    wohnte     Se^antini     inne.       Es     ist 

o  o 

rührend  zu  sehen,  mit  welcher  Liebe  er  eine  Ziege,  die  ihr  Junges  säugt,  gemalt  hat.  Seine  Kunst 
wächst  aus  der  Erde  und  ragt  in  die  reinen  Lüfte  wie  die  Berofe  auf  seinen  Bildern.  Sie  ist  eine 
Frucht,  so  goldeswerth  wie  das  Korn,  so  nahrhaft  wie  das  Brod,  das  daraus  gebacken  wird.  Es  ist 
eine  Kunst  der  Empfindung,  die  Samen  ausstreut,  mögen  herrliche  Blumen  und  Blüthen  oder  erden- 
schwere Früchte  daraus  hervorgehen.  Solche  Meister  sollen  wie  Patriarchen  und  Heilitje  in  den 
Secessionen  verehrt  werden. 

Ein  älteres  bekanntes  Bild  von  Liebermann  versetzt  uns  mitten  in  ein  Altmännerhaus,  in 
einen  Garten  mit  warmer  sonniger  Beleuchtung.  Die  alten  Leute  sonnen  sich,  und  in  jedem  Antlitz 
steht  seine  Geschichte.  Liebermann  hat  seitdem  wenig-  solche  Bilder  gemalt ,  das  Suchen  und 
Experimentiren  mit  malerischen  Wirkungen  hat  diese  treue  Bildnisskunst  in  seinen  späteren  Werken 
verdrängt.  Ein  Doppelbildniss  von  Anetsberger  stellt  einen  Pferdekopf  mit  seinem  Wärter  dar. 
Das  Bild  verräth  allzusehr  den  photographischen  Ausschnitt.  Mit  welch'  kühner  und  starker  Empfindung 
griff  einst  Velasquez  solche  Stoffe  in  ihrer  ganzen  Erscheinung  auf  und  übertrug  sie  auf  die  Bild- 
fläche, stellte  Ross  und  Reiter  ruhig  in  die  bewölkte 
Landschaft  oder  lebendig  bewegt  in  eine  stimmungs- 
volle silbergraue  Atmosphäre!  Aber  es  wäre  un- 
gerecht ,  vor  einem  solchen  Bilde  treuen  Arbeits- 
fleisses  und  Vertiefung  in  die  Natur  sich  solchen 
Reminiscenzen  zu  sehr  hinzugeben,  es  stecken  nur 
künstlerische  Qualitäten  darin,  die  dazu  verleiten,  sich 
kühnerer  und  grösserer  TÄSL<g^  zu  erinnern.  Man  ver- 
muthet,  Anetsberger  hätte  nach  dieser  Seite  hin 
mehr  auszugeben. 

Haben  wir    uns    durch    diese    Erscheinungen  ver- 

o 

leiten  lassen,  weiter  abzuschweifen  und  die  Bildniss- 
kunst als  ein  grosses  allgemeines  Gebiet  aufzufassen, 
so  führt  uns    Samberger  mit  seinen  Porträts  auf  ihr  Hubert  v.  Heyden:  Kampi 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


147 


vornehmstes  Gebiet,  die  Einzeldarstellung  des  Menschen,  zurück.  Man  kann  darin  einerseits  rein 
von  malerischen  Gesichtspunkten  ausgehen  und  mit  lebendiger  Empfindung  den  momentanen 
Eindruck  festhalten,  und  andererseits  kann  man  von  diesem  bis  zu  einem  gewissen  Grade  abstrahiren 
und  durch  das  Medium  der  Empfindung  in  das  Innere  einer  Erscheinung  einzudringen  versuchen, 
wie  dies  Lenbach  thut.  Erstere  Art  ist  die  Sambergers.  Schnell,  fast  gewaltthätig  reproducirt 
er  den  malerischen  Eindruck  auf  die  Bildfläche.  Indem  er  sich  müht,  das  flüchtige  Erscheinungs- 
bild festzuhalten,  mit  malerischer  Furie  dieses  auf  die  Leinwand  zu  bringen,  kommen  neben  grossen 
malerischen  Feinheiten,  wie  sie  nur  die  Stimmung  des  Augenblickes  ergibt,  auch  viel  Unruhe  und 
nervöse  Unsicherheiten  zum  Ausdruck.  Alles  ist  wie  auf  einen  Hieb  heruntergesäbelt,  sei  es  getroffen 
oder  gefehlt.  Damit  im  Zusammenhang  steht  auch  die  Klarheit,  Flüssigkeit  und  Leuchtkraft  der 
malerischen    Töne,    der    frische   lebendige   Eindruck,    den    wir   empfinden,    wenn   wir  auch    ein    plasti- 


scheres Gefüge,  eine 
feste  Organisation  in 
der  Gestaltung  ent- 
behren müssen. 

Bei  den  Land- 
schaften der  Seces- 
sion  treten  dieselben 
Prinzipien ,  die  wir 
schon  oben  bespro- 
chen haben,  in  Er- 
scheinung;Stimmung 
erwecken  durch  or- 
namentale Form  und 
Farbe  und  Stimmung- 


Karl  Haider:  Abendlandschaft  mit  heimkehrendem  Ritter 


geben  durch  schöne 
Aussichten!  Aus- 
schnitte aus  der 
Natur,  bei  denen 
die  Wirkung  nur  auf 
ein  paar  farbigen  Ac- 
centen  Hegt ,  die 
nach  Art  eines  Ta- 
peten-Musters an- 
regen, gibt  es  hier 
viele.  Sie  haben 
für  den  Maler  viel 
sachliches  Interesse, 
sie  bieten  malerische 


Werthe,  aber  wir  können  sie  nur  als  Stoffe  und  Materialien  auffassen,  denen  die  künstlerische 
Gestaltung,  die  Zubereitung  für  unsere  Sinne  fehlt.  Wir  lieben  schöne  Aussichten,  schöne  Punkte, 
idyllische  Plätzchen,  die  menschliche  Empfindungen  anregen.  Dem  Deutschen  erweckt  die  Landschaft 
Gefühl  und  Stimmung,  er  liebt  landschaftliche  Bilder,  die  seine  Brust  weiten,  die  ihn  zu  fröhlicher, 
andächtiger  Betrachtung  und  feierlicher  Erhebung  stimmen.  Er  verbindet  damit  ein  Stück  Romantik, 
uralt  sind  die  Vorstellungen,  die  Dichtung  und  Landschaft  mit  einander  verweben  und  diese  mit  Gestalten 
und  Fabelwesen  bevölkern.  Böcklin  vertritt  diesen  Zug  auf's  Ureigenste.  Die  Landschaft  als  orna- 
mentales Flächenbild  ist  ein  Ausdruck,  der  unserem  Empfinden  fem  liegt,  der  uns  nimmermehr  genügen 
kann.  Wir  wollen  Landschaften,  an  die  poetische  Betrachtung  und  Stimmung  sich  anknüpft,  Land- 
schaften, die  in  stiller  Beschaulichkeit  genossen  werden  können,  die  unsern  Schönheitssinn  anregen 
und  nähren.  Haider's  Abendlandschaft  besitzt  eine  Stimmung  in  diesem  Sinne.  Es  ist  eine  echt 
deutsche,  contemplative  Naturbetrachtung,  wie  sie  U bland  beseelte.  Ein  Abend  ist  es  in  den  Vor- 
-  feierlich  ernst  ragen  dunkle  Fichtenwälder  in  die  lichte  Atmosphäre,  und  der  Horizont  wird 


bergen 


20* 


148 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


vielzackig  besäumt  von  bläulich  schimmernder  Bergkette.  Die  Luft  ist  sanft  geröthet  und  alle 
Gegenstände  schimmern  in  hellem,  goldigen  Ton,  sind  von  einer  prächtigen  Klarheit,  Vornehmheit 
und  Reinheit.  Das  Motiv  ist  ein  ganz  einfaches,  ein  Stück  Wiese  und  Wald  mit  schöner  Fernsicht, 
und  um  auf  deutsche  Art  der  Stimmung  romantischeren  Ausdruck  zu  geben,  hat  der  Maler  darin 
einen  heimkehrenden  Kreuzzugritter,  dem  von  waldigen  Höhen  seine  Burg  entgegenschimmert, 
hineingemalt.  Ein  solches  Bild  mag  sehr  mühsam  und  nachdenklich  geschaffen  worden  sein,  mit 
fast    Holbein'scher   Schärfe    und    Sachlichkeit   sind    alle    Gegenstände    darin    behandelt. 

Die  landschaftliche  Stimmung 
auf  eine  reizende  Art  zu  beleben, 
indem  er  an  ein  köstlich  idyl- 
lisches Plätzchen  ein  naives  Liebes- 
pärchen setzt,  das  thut  Hengeler 
in  seinem  Bilde   «Auslug«. 

Nach  der  dekorativen  Seite 
hin  wirken  die  Landschaften  von 
Vinnen  und  Overbeck,  man 
kann  sie  wohl  in  prächtige,  vor- 
nehme Räume  denken.  Auch  wären 
Besie's  Bild  »Der  Dorfbach»  und 
Flad's  «Herbstabend»  stimmungs- 
volle Schmuckstücke  für  die  Wände 
eines  Wohnraumes.  Von  präch- 
tiger, englischer  Vornehmheit  ist 
die  Flusslandschaft  von  Cameron. 
Es  sind  Bilder,  die  eine  beständige 
Anziehungskraft  auf  unsere  Phan- 
tasie auszuüben  vermögen,  die 
man  wie  gute  Hausmusik  daheim 
immer  um  sich  haben  und  ge- 
messen möchte.  Feine  landschaft- 
liche Zeichnungen  gibt  Meyer- 
Basel  und  Angelo  Jank  in  den 
Ansichten  von  Rothenburg  an  der  Tauber.  Auf  grauem  Papier,  das  als  Lokalton  wirksam  mit  einigen 
Farben  gehöht  ist,  hat  er  mit  weichen,  breiten  Bleistrichen  diesen  Ansichten  einen  ungemein  male- 
rischen Ausdruck  zu  geben  gewusst.  Mit  merklicher  Liebe  und  Freude  ist  er  in  den  Charakter  des 
Ganzen  eingedrungen,  und  das  ist  so  goldechte  Poesie  und  verklärt  dies  alte  Nest  wie  die  Sonne,  die 
da  und  dort  in  einem  Fenster  spiegelt,  die  alte  Ziegeldächer  erglühen  lässt  und  einen  Thurmknopf 
festlich  funkeln  macht. 


Z..  Samberger:  Bildnissstudie 


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Frühlingsmärchen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


149 


Einem  plastischen  Werke  stehen  die  meisten  Betrachter  fremd  gegenüber,  es  erweckt  keine 
Empfindungen  in  ihnen.  So  sehr  unser  Auge  empfänglich  geworden  ist  für  malerische  Eindrücke,  so 
sehr  der  Sinn  für  malerische  Stimmung  geweckt  ist,  so  empfinden  wir  doch  nicht  die  Reize  der 
plastischen  Eorm.  Formgefühl  und  I-'ormempfindung  scheint  noch  gering  entwickelt.  Allerdings  fehlt 
es  in  der  Plastik  bei  uns  auch  an  Werken,  welche  beides  wirksam  anzuregen  und  zu  nähren  vermögen. 
Das  plastische  Werk,  wie  es  bei  uns  im  Allgemeinen  auftritt,  entbehrt  nicht  nur  der  künstlerischen 
Fassung  des  Natureindruckes,  sondern  ist  auch  im  Ausdruck  der  Empfindungen  gekünstelt.  Sehr 
bezeichnend  dafür  sind  die  Plastiken,  die  in  Stein,  Holz  oder  Bronze  gedacht,  immer  in  der 
Manier  der  .Stuck -Technik  ausgeführt  er- 
scheinen. Diese  Manier  gibt  jede  Form  in 
barbarischer  Weise  als  einen  rohen  Wirkungs- 
eindruck wieder.  Dass  das  Publikum  diese 
Dinge  immer  noch  als  Plastik  hinnimmt  und 
bewundert ,  beweist  ebenfalls  seine  Empfind- 
ungslosigkeit gegen  edlere  Erscheinungen. 
Vielleicht  ist  die  Plastik  in  solche  Aus- 
drucksformen verfallen,  weil  sie  so  lange 
vom  Leben  isolirt  war.  Erst  die  Werke  der 
Gegenwart  verrathen  wieder  einen  Anschluss 
an  gegebene  Situationen  und  bestimmte  Ver- 
hältnisse und  Oertlichkeiten.  Die  Plastik  war 
immer  eine  Kunst,  die  sich  im  Zusammen- 
hang mit  bedingten  Verhältnissen,  im  An- 
schluss an  architektonische  Werke  gross  und 
vielseitig  entwickelt  hat.  Nur  ein  Theil  der 
Bildnerei,  wie  die  Porträt-  und  Kleinplastik, 
ist  an  keine  bestimmten  Verhältnisse  gebunden, 
dagegen  ein  Grabmal  oder  Denkmal  erhält 
erst  Werth  und  Bedeutung-  im  Zusammenhang- 
mit  seiner  Umgebung.     So  vermögen  wir  uns 

kein  bestimmtes  Urtheil  über  eine  Erscheinung  zu  bilden,  wie  das  Brückner -Denkmal  von 
Zerritsch,  indem  hier  die  Hauptsache,  die  örtliche  Umgebung,  aus  der  das  Ganze  herauswachsen 
soll,  fehlt.  Wir  wissen  nicht,  ist  die  Schöpfung  darin  lebensfähig  und  ihre  Existenz  begründet 
oder  hat  der  Schöpfer  unter  Nichtachtung  der  gegebenen  Situation  nicht  der  räumlichen ,  sondern 
nur  der  künsderischen  Ausgestaltung  des  Stoffes  Ausdruck  gegeben,  indem  er  das  anmuthige 
Motiv  eines  den  Gefeierten  bekränzenden  Genius'  zu  einem  effectvollen  Dekorationsstück  verar- 
beitet hat.  Solche  Schöpfungen  lassen  uns  bedenken,  dass  sie  in  malerischer  Gestaltung  viel 
mehr  Stimmung  erregen    und  verbreiten   könnten.      In    der    Malerei    ist    es    eben    um   vieles    leichter, 


Taschner :   Rauhbein 


150 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Hubert  Hetzer:  Ürpheus-Hrunnen 


ein  solches  Motiv  auszudrücken  und  wenn  auch  nicht  tiefe,  so  doch  angenehme  Empfindungen  zu 
erwecken. 

Stimmung  erweckt  und  übermittelt  auf's  Beste  eine  andere  plastische  Schöpfung  der  Ausstellung, 
die  man  sich  allerdings  auch  in  bestimmten  örtlichen  Verhältnissen  zu  denken  hat.  Man  dürfte  den 
Orpheusbrunnen  von  Netzer  nur  ins  Freie  stellen  unter  eine  Gruppe  alter  Bäume  in  einem  stillen, 
lauschigen  Parke,  in  welcher  Umgebung  diese  idyllische  Welt  für  sich  uns  noch  deutlicher  fühlbar 
würde.  In  der  architektonisch-bildnerischen  Fassung  eines  Brunnens  ist  in  freier,  selbständiger  Weise 
dem  Motiv  des  lyraspielenden  Orpheus  inmitten  von  Thieren  des  Waldes  Ausdruck  gegeben.  Netzer 
entwickelt  in  solchen  Darstellungen  eine  besonders  reiche  Produktion.  Alle  diese  Gebilde  sind 
ursprünglich  empfunden,  mit  poetischer  Phantasie  und  männlicher  Schöpferkraft  gezeugt.  Dieser 
Brunnen  ist  schön  und  einnehmend  durch  seinen  freien  F"luss  der  Linien  und  stimmungsvoll  durch  den 
beseelten  Ausdruck  der  F'ormen,  wenn  auch  nicht  so  frei  in  dem  Rhythmus  der  Form  und  Bewegxing 
wie  die  Brunnenschöpfungen  der  Renaissance  und  des  Barock. 

Wenn  man  in  neuerer  Zeit  versucht  hat,  wie  in  den  alten  Vorbildern  das  architektonische  Element 
in  der  Conception  solcher  Schöpfungen  hervorzukehren,  so  darf  darum  die  freie  bildnerische  Gestaltung 
nicht  zurückgesetzt  werden.  Denn  diese  ist  es,  welche  in  jeder  Situation  nicht  nur  in  dekorativer 
Hinsicht  wirksam  wird,  sondern  ihr  erst  einen  tieferen  poetischen  Ausdruck  verleiht.  Dass  beides  ver- 
einigt so  selten  auftritt  und  so  selten  Werke  hervorgehen,  die  neben  den  alten  bestehen  können, 
hängt  mit  dem  Missstand  zusammen,  dass  Architekt  und  Bildhauer  getrennt  wirken.  Es  ist  das  eine 
Misere,  die  die  deutsche  Plasdk  schon  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  bei  allen  grösseren  Unter- 
nehmungen schwer  und  tief  geschädigt  hat.  Immer  scheiterten  die  Plastiker  bei  Lösung  solcher 
Probleme   an    dieser    Klippe.      Keiner   hat   dies   so    richtig   erkannt   wie    Hildebrand,    der    in    seinem 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


151 


«Problem  der  Form»  eine  Lösung  durch  Anschluss  an  die  Tradition  vorschlägt  und  anstrebt.  Ihre 
Formen,  mit  neuem  Geiste  gefüllt,  d.  h.  mit  unserem  Empfinden  durchdrungen,  müsste  das 
Programm  der  künftigen  Plastik  bilden. 

In  welcher  Weise  die  Plastik  als  eine  in's  räumlich  Grosse  gehende,  frei  schaffende  und  sich 
frei  bewegende  Kunst  durch  die  Ungunst  der  jeweiligen  Verhältnisse  in's  Kleine  beschränkt  und 
gedrückt  wird,  zeigen  die  sogenannten  Statuetten.  Manchmal  sind  freilich  solche  Statuetten  trotz 
ihrer  räumlichen  Beschränkung  grosse  Schöpfungen  und  lassen  erkennen,  dass  ihr  Schöpfer  eine  F"ülle 
des  Lebens  in  diesen  kleinen  F'iguren  zu  concentriren  vermag.  Sie  gelten  wie  Umsatzwerthe  eines 
grossen  Kapitals,  das  in  solcher  F'orm  mehr  Zinsen  trägt.  Heuer  finden  wir  zwar  keine  so  über- 
raschende kleine  Grössen,  aber  es  fallen  doch  kleine,  bescheidene  Arbeiten  durch  die  originelle 
Art  der  Erscheinung  auf,  wie  z.  B.  Taschners  «Rauhbein».  Auch  vieles  andere  ist  so  nett 
und  ansprechend  wie  Kurzwaaren,  die  im  Bazar 
dem  Vorübergehenden   so   orefällig-   erscheinen. 

Mit  der  Grabmalsplastik  ist  der  modernen 
Bildnerei  ein  weites  Arbeitsfeld  gegeben,  in 
dem  eine  F'ülle  künstlerisch  neuer  Momente 
der  Gestaltung  harrt.  Man  erinnere  sich,  in 
welch  feiner  Weise  die  Antike  hierin  schon 
die  Wege  und  Ziele  zu  einer  reichen  künst- 
lerischen Bethätigung  gewiesen  hat.  Die  Aus- 
stellung weist  nur  ein  paar  Erscheinungen  auf, 
die  zeigen,  dass  diese  Art  nur  hie  und  da 
von  Liebhabern  eine  Pflege  erfährt,  so  Christ's 
Gruppe  «Der  Trost»  und  Eloy  Palazios' 
Grabmal  einer  vornehmen  Spanierin;  dieses 
zeichnet  sich  aus  durch  seinen  freien  selbst- 
ständigen Charakter  in  der  Ausführung. 

Wie  das  individuelle  Empfinden,  wenn  es 
von  keinen  künstlerisch  tieferen  Absichten  ee- 
läutert  und  durchdrungen  ist,  unharmonisch, 
bizarr,  verschoben  wirkt,  zeigen  Gasteiger's 
Arbeiten.  Künstlerische  Erziehung  und  natür- 
licher Takt  bringen  geschmackvolle  Schöpf- 
ungen hervor,  und  man  wird  sich  ihnen  nicht 
verschliessen  können,  wenn  sie  auch  keine  be^ 
sonders  tiefe  Persönlichkeit  verrathen ,  so  gre- 
winnen  uns  die  Werke  von  Nachahmern  und 
Kopisten,  wie  sie  die  Renaissancezeit  viele  her-  j^ri^z  Zenitsch:  Bnukner-Denkmai 


152 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


vorgebracht  hat,  durch  künstlerische  Durchschnittsqualität,  Verständnis  der  Form  und  Beherrschung  aller 
lechnischen  Ausdrucksmittel  Achtung  ab.  Ja  selbst  die  Werke  des  Barock ,  wo  die  Willkür  und 
Unnatur  des  Empfindens  anfing  Herr  zu  werden  über  edle  Regungen  und  einfachen,  massvollen 
grossen  Ausdruck,  zeichnen  sich  immer  noch  durch  traditionelle  künstlerische  Fassung  aus,  welche 
selbst  gröbere  Ungezwungenheiten  veredelt  erscheinen  lässt.  Dadurch  wirkt  diese  barocke  Weise  doch 
nie  verletzend  auf  künstlerische  Sinne  wie  in  Gasteiger's  «Prometheus»,  bei  dessen  Anblick  wir  an 
eine    kleine    Bühne    erinnert    werden,    auf   der    ein    leidender  Heros    durch   einen    kleinlichen    brutalen 


Alax  Kliager:  Schlafende 


Charakter  karrikirt  wird.  Das  Erhabene  schlägt  in's  Lächerliche  um.  Durch  Humor  versucht 
Gas  teiger  zu  wirken  in  seiner  Brunnenfigur  «Wasserscheu».  Er  betritt  damit  neuerdings  einen 
Vergleichsweg,  den  er  schon  vor  Jahren  mit  seinem  Brunnenbuberl  eingeschlagen  hat,  um  damit  die 
Gunst  des  Publikums  zu  gewinnen.  Auch  diese  Absicht,  durch  Witz  die  P^merstehenden  und 
Gleichgiltigen  für  künstlerische  Produktion  zu  interessiren ,  wäre  im  Prinzip  nicht  von  der  Hand  zu 
weisen.  Inwiefern  ein  plastisches  Werk  sich  eignet,  diese  Rolle  zu  übernehmen,  das  kommt  lediglich 
auf  die  Art  der  künstlerischen  Gestaltung  an.     Künsderischem    Takt    und  Gefühl    steht    es   allein  zu, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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das  Mögliche    und  Unmögliche    durch   die  Art   der  Gestaltung    für   unsere  Vorstellung  angenehm  und 
wahrscheinlich  zu  machen. 

Es  kann  einem  gefallen,  auf  absonderliche  Art  alte  Probleme  durch  ein  neues  Darstellungs- 
verfahren zu  lösen  zu  versuchen.  Klinger  thut  dies  in  mehreren  Werken  und  auf  verschiedene  Weise. 
In  seiner  «Leda»  und  seinem  Relief  «Schlafend»  folgt  er  alten  Prinzipien  der  bildnerischen  Gestaltung, 
wie  sie  uns  auch  durch  Hildebrand  wieder  näher  gerückt  wurden,  nämlich  durch  den  Prozess  des 
aus  dem  Steine  Herausbildens,  ein  Bildwerk  auf  die  natürlichste  Art  wachsen  und  sich  entwickeln 
zu  sehen,  bis  der  ursprüngliche  Steinraum  aufgehoben  und  sozusagen  in  lebendige  Formen  auf- 
gegangen ist.  Dieses  stufenweise  Herausbilden  zeigt  sich  deutlich  in  dem  Relief  der  Schlafenden,  und 
weiter  vorgeschritten  in  dem  der  Leda.  Im  ersteren  schlafen  wirklich  die  Formen  noch  im  Steine 
gebunden,  im  letzteren  sind  sie  befreit  und  zu  vollem  Leben  entwickelt.  In  den  «Tänzerinnen» 
schafft  der  Künstler  nach  Art  altrömischer  kleiner  Bronzen  ein  zierliches  Schmuckstück  fürs  Haus. 
Die  Büste  «Assenjeff»,  die  aus  verschiedenfarbigem  Marmor  und  kostbaren  Steinen  zusammengesetzt 
ist,  ist  ein  Versuch,  nach  Art  der  Antike  durch  solche  Zusammensetzung  eine  erhöhte  dekorative 
Wirkung  zu  erreichen.  Es  kann  durch  solche  Kontraste ,  wenn  das  Objekt  an  bestimmte  Oertlich- 
keiten  gebunden  ist,  eine  harmonische  Gesammtwirkung  wohl  erzielt  werden,  vermag  aber  in  dieser 
Aufstellung,  trotz  einzelner  Schönheiten,  uns  nicht  anzusprechen.  Bei  der  so  eigenartigen  persönlichen 
Auffassung  des  Künstlers,  der  in  ganz  freier  Weise  über  das  Gewöhnliche  hinwegschreitet,  überrascht 
es  doch,  wenn  er  die  Fundamente  der  bildnerischen  Gestaltung  nicht  in  Acht  nimmt,  wo  diese 
unbedingt  beim  ganzen  Eindruck  mitsprechen  und  von  Bedeutung  sind.  Die  Existenz  der  kauernden 
Marmorfigur  beruht  auf  einem  Fundament,  das  in  einer  bestimmten  Form  zum  Ausdruck  kommen 
muss,  denn  das  Kauern  und  Niedergedrücktsein  findet  seinen  festen  Stand  und  Rückhalt  auf  der 
Erde.  Diese  muss  darum  in  einer  künstlerisch  orgranischen  Form,  in  einer  Plinthe ,  oregfeben  sein, 
und  als  solche  künstlerische  Form  sind  die  Messingkugeln,  die  die  Figur  stützen  und  in  ihrer  Lage 
erhalten,  nicht  hinzunehmen.     Die  Schönheit  einer  Arbeit  leitet  sich  von  dem  harmonischen  Zusammen- 

II  21 


154 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


klingen  aller  Theile  her,  und  so  gut  in  einem  musikalischen  Gefüge  kein  Misston  den  ganzen  Eindruck 
stört,  so  schädigt  eine  Missform  die  Schönheit  einer  solchen  Arbeit.  Man  muss  annehmen,  dass 
Klinger's  farbig  gehaltene  Werke  in  ein  bestimmtes  Milieu  hineingedacht  sind;  dass  sie  in  einer 
anderen  Umgebung  nur  schwer  zur  Wirkung  kommen,  sieht  man  an  der  gegenwärtigen  Aufstellung. 
In  gegebene  Verhältnisse,  in  eine  die  bildnerische  Auffassung  bestimmende  architektonische 
Umgebung  sind  die  beiden  Figuren  von  Kurz  «Weberei«  und  «Spinnerei«  gedacht.  Erinnert  auch  die 
ganze  Weise  der  Formengebung  und  Behandlung  an  antike  Vorbilder,  so  ermangeln  diese  Figuren  trotz 
dieser,  äusseren  weitläufigen  Verwandtschaft  nicht  des  selbständigen  eigenen  Ausdruckes,  der  modernem 
Schönheitsgefühl  durchaus  ent- 
spricht. Besonders  spricht  im 
Ausdruck  der  Köpfe  so  viel 
Zartes  und  Edles  uns  an,  und 
verräth  so  viel  Bildung  und 
edle  Herkunft,  dass  wir,  um 
ähnliche  Erscheinungen  zu  er- 
mitteln, weit  zurück  blicken 
müssen.  Sie  verrathen  neben 
feinem  künstlerischen  Ge- 
schmack eine  geschulte  und 
geübte  Hand  in  der  Bear- 
beitung des  Materials,  w^ie  sie 
sonst  selten  bei  uns  zu  finden 
ist.  Dieser  Künstler  empfing 
seine  Ausbildung  in  Italien  und 
ist  auch  sonst  mit  gross  und 
einfach  aufgefassten  plastisch 
durchgebildeten  Porträt  -  Re  - 
liefs  von  deutschen  Dichtern, 
Denkern  und  Künstlern  her- 
vorgetreten. 


Herrn.   Hahn:  Christus 


Eine  Arbeit,  die  durch 
gute,  plastische  Conception 
auffällt,  aber  durch  eine  Ge- 
schmacklosigkeit unästhetisch 
wirkt,  ist  «Der  schweigende 
Mann»  von  W'ildt.  Der 
Künstler  hat  durch  eine  Ma- 
rotte, indem  er  die  schöne 
Wirkung  des  Steines  durch 
einen  Ueberzug  von  Lack 
schädigte,  den  guten  Eindruck 
seiner    Arbeit    abgfeschwächt. 

Mangelnde  seelische  Em- 
pfindung und  Durchdrii.gung 
des  Stoffes  schädigt  auch 
die  formal  tüchtige  Arbeit 
«Christus«  von  Hahn.  Sie 
zeigt  auch  deutlich,  dass  die 
Anregung  von  Donatello 
herkommt,  ohne  dass  jedoch 
Hahn  wie  jener  durch  eine 
innere  Veranlassune  zu  solcher 


Darstellung  gedrängt  wurde.  Des  Künstlers  Stärke  liegt  auf  einem  ganz  andern  Schaffens  gebiet, 
das  auch  seinem  formalen  Empfinden  besser  zusagt.  Darauf  weisen  die  Plaketten  und  Medaillen 
hin,  die  er  brachte.  Sie  sind  in  Auffassung,  feiner  Durchbildung  und  verständnissvollem  Eingehen 
auf  den  Bronzecharakter  vorzüMich. 

Als  eine  formal  tüchtige  Leistung  ist  hinzunehmen  «Perseus»,  eine  Brunnenfigur  von  Gosen. 
Auch  Kiefer's  «Susanna»  ist  eine  Figur  von  entschieden  seltenen  plastischen  Qualitäten  hinsichtlich 
der  Conception  und  des   Ausdruckes. 

Wohl  die  künstlerisch  anregendste  und  feinste  Art  der  bildnerischen  Thätigkeit,  in  der  Kräfte 


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Krnni  Stuck   i'itix. 


Phot.  P.  HkoriuetiKl,  MOnob«!) 


Dyonisos 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


155 


der  Beobachtung  und  Empfindung  aufs  Beste  entfaltet  werden  können,  ist  die  Porträtplastik.  Aller- 
dines steht  sie  noch  weit  hinter  der  Porträtmalerei  zurück.  Selten  treffen  wir  in  öffentlichen  Anstalten 
oder  gar  Privaträumen  gute  Büsten  an.  Vielleicht  geniesst  diese  Art  der  Bildnerei  so  geringe  Aufmerk- 
samkeit und  Pflege,  weil  nur  durch  die  vielfach  todte  Art  der  Uebersetzung  Lebendiger  in  Gyps- 
Köpfe    kein  Zutrauen  zu   dieser  Darstellung   gefasst  wird.     Hierin    fehlt    es    aber   nur   an  Darstellern, 


die  die  zuckende  Lebendigkeit  und  Fülle   des  Lebens   auszudrücken  vermögen. 


Man   denke   nur   an 


Alax  Klimrer:  Tänzerinnen 


die  Porträts  eines  Donatello  und  man  wird  fühlen,  welche  Reize  einem  plastischen  Bildniss  inne 
wohnen  können.  Nur  eine  ähnliche  Erscheinung  braucht  aufzutreten,  um  auch  diesen  Zweig  der 
plastischen  Kunst  wieder  erblühen  zu  lassen.  Und  vielleicht  ist  eine  solche  schon  bereit  aufzutreten. 
Uns  sind  Bildnissbüsten  im  Albertinum  zu  Dresden  bekannt,  welche  die  Forderungen,  die  wir  an  das 
plastische  Porträt  stellen,  hinsichtlich  der  lebendigen  Auffassung  und  Durchbildung,  vollständig  erfüllen. 
Hier    in    beiden    Ausstellungen  vermögen  wir   ausser    Hildebrand    und    Roemer   keine    Erscheinung 

21* 


156 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Palazios:  Grabmal   einer  vornehmen   Spanerin 


aufzuzeichnen,  die  dem  Zuge  der  Zeit 
hierin  Folge  zu  leisten  und  ihren  Forder- 
ungen gerecht  zu  werden  vermöchte. 

Wenn  wir  auf  beide  Ausstellungen 
zurückschauen  und  ihr  Gesammtbild  in's 
Auge  fassen,  so  ergibt  sich  eine  Fülle 
von  Erscheinungen ,  unter  denen  Einige 
ganz  bestimmte  originale  7.ügQ  aufweisen. 
Mit  Stolz  erfüllt  es  uns,  auf  die  Höhe 
hinweisen  zu  können,  die  die  Bildniss- 
malerei in  Lenbach  und  Kaulbach 
erreicht  hat,  auf  die  hervorragende  malerische  Dichtung  Schuster-Woldans  «Odi  profanum  .  .  .». 
Femer  bieten  uns  eine  Anzahl  von  Werken  künstlerische  Werthe  von  fruchtbarer  allgemeiner  Bedeutung 
im  Sinne  einer  künstlerischen  Kultur.  Wir  haben  in  der  Ausstellung  der  Secession  in  einem  vornehm 
abgerundeten  Gesammtbild  einzelne  Schöpfungen  bedeutender  und  starker  Individualitäten,  —  neben 
viel  Licht  aber  auch  viel  Schatten. 

Alles  in  Allem  eine  Fülle  von  Früchten  künstlerischen  Fleisses  und  Genies,  eine  Fülle  nahr- 
hafter Stoffe  für  unsere  Phantasie,  und  als  Gegengewicht  gegen  das  Eindringen  der  abstrakten 
Geistesrichtung  in  unsere  Vorstellung,  als  Gegengewicht  gegen  die  so  allseitig  geübte  Verstandes- 
bildung bedarf  es  der  Fülle  an  Werken   der  Form  und  der  Empfindung.      Wir   möchten   mit  Konrad 

Ferdinand   Meyers  Worten  schliessen: 

„Das  Herz,  auch  es  bedarf  des  Ueberflusses, 
Genug  kann  nie  und  nimmermehr  genügen!" 


K^ 


R:  Akmsi  \\IS(  Kn^ilOilSMCVLÖ-^'  ANTLSl  JA 

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iOkva'. 


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Ueber  Deutsche  Plastik 


VON 


ALEXANDER  HEILMEYER 


Woran  mag  es  liegen,  dass  die  plastische  Kunst,  der  doch  ein  so  glücklich  beschränktes  Schaffens- 
gebiet angewiesen  ist,  die  so  eingehend,  wie  keine  andere,  sich  mit  der  Einzeldarstellung  des 
Menschen  und  den  vornehmen  Geschöpfen  der  Natur  sich  befasst,  —  dass  eine  solche  Kunst  in 
unserer  Zeit  so  wenig  Liebhaber  findet  und  so  wenig  Theilnahme  und  Verständniss  begegnet?  — 
Die  Werke  des  Bildhauers  erschliessen  sich  uncjleich  schwerer  dem  Aupfe  des  Beschauers,  als 
die  an  einschmeichelnden  Reizen  reicheren  Schöpfungen  des  Malers,  weil  sie  ein  viel  umfassenderes, 
allseitiges  Studium  erfordern,  bei  dem  allein  dem  noch  ungeübten  Blick  erst  das  Mitempfinden  und 
Verständniss  für  alle  ihre  Schönheiten  aufgeht.  Dazu  kommt,  dass  wir  Germanen  im  Allgemeinen 
auch  keinen  so  stark  ausgebildeten  Formensinn  besitzen,  wie  die  heutigen  Romanen  und  die  Kultur- 
völker des  Alterthums.  Um  so  mehr  sollten  wir  eben  darnach  streben,  diesen  Mangel  auszubleichen, 
indem  wir  auch  in  unsere  alltägliche  Umgebung  plastische  Kunstwerke  versetzen,  die  unser  Empfinden 
anregen  und  unseren  Geschmack  bilden;   das  heisst  eine  innigere  Verbindung  von  Kunst  und  Leben 

anstreben,  wie  solche  in  den  Zeiten  hoher  Kultur  im  Alterthum  und  der  Renaissance  bestanden  hat. 

u  22 


158 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Das  Peristil  eines  pompejanischen  Hauses 


Welch'  herrliches  Vorbild 
gibt  uns  da  die  geschmackvolle 
Ausschmückung  eines  alten  pom- 
pejanischen Hauses.  Vornehm- 
lich war  es  das  Peristil  des- 
selben, das  je  nach  Neigung 
und  Reichthum  des  Besitzers  mit 
Werken  der  plastischen  Kunst 
ausgeschmückt  war.  Zwischen 
den  marmornen  Säulen  des 
Wandelganges  und  im  Garten 
waren  Figuren,  Hermen  und  Büsten  aus  Stein  und  Bronze  aufgestellt.  Zumeist  waren  diese  Bronze- 
figuren Theile  eines  grossen  Wasserwerkes;  darauf  weisen  schon  Darstellungen,  wie  die  des  Faunes 
mit  dem  Schlauche,  dem  Wasser  entströmt,  der  Kinder  mit  allerlei  Geflügel,  aus  deren  Schnabel  ein 
Rohr  hervorragt,  hin.  Es  mag  von  der  Säulenhalle  aus  ein  ergötzlicher  Anblick  gewesen  sein,  dem 
Spiele  der  kühlenden  Wasser  zuzusehen,  und  prächtig  mag  im  Scheine  der  italienischen  Sonne  der 
leuchtende  Marmor  der  Säulen  und  Statuen ,  das  Grün  der  Ziergewächse  und  die  Gluth  der  bunten 
Blumen  gewirkt  haben. 

Die  Vorliebe  für  schmucke  Höfe  innerhalb  des  Hauses  mit  Garten  und  Blumen  hat  auch  das 
späte  Mittelalter,  hauptsächlich  dann  die  Renaissance  und  Barockzeit,  übernommen.  Auch  die  Neuzeit 
würde  gut  thun,  anstatt  mit  langweiligen  Monumenten,  durch  Anbringung  solcher  Anlagen  von  Brunnen 
und  Statuen  reizvolle  Strassenbilder  zu  schaffen. 

Ein  anderer  Zweig  der  plastischen  Kunst,  die  Porträtbildnerei ,  erfuhr  durch  die  Alten  gleich 
grosse  Pflege,  indem  sie  Hermen  mit  dem  Bildniss  des  Hausvaters  im  Atrium  ihrer  Häuser  aufstellen 
Hessen.  Eine  beigegebene  Abbildung  zeigt  eine  solche  Herme  am  Eingange  eines  Gemaches.  Diese 
schöne  Sitte  verdiente  erneuert  zu  werden;  denn  eine  Büste,  in  Marmor  oder  Bronze  ausgeführt,  bildet 
eine  dauernde  Erinnerung  und  einen  vornehmen  Schmuck  des  Raumes.  Unsere  Zeit  jedoch  versteht 
sich  nur  schwer  dazu;  das  beklagte  schon  Goethe  seiner  Zeit,  indem  er  schrieb:  Nicht  weniger  haben 
selbst  wohlhabende,  ja  reiche  Personen  Bedenken,  hundert  bis  zweihundert  Dukaten  an  eine  Marmor- 
büste  zu  wenden,  da  es  doch  das  Unschätzbarste  ist,  was  sie  ihrer  Nachkommenschaft  überliefern 
können.  Und  wenn  er  in  dem  Aufsatze,  «Vorschläge,  den  Künstlern  Arbeit  zu  verschaffen«,  den  Punkt 
anführt,  «Pflicht,  die  Bildhauerkunst  zu  erhalten,  welches  vorzüglich  durch's  Porträt  geschehen  kann«, 
so  hat  er  damit  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen.  Denn  durch  gute  Porträts  wird  die  Plastik  auf 
die  Höhe  in  ihrer  Ausübung  gebracht,  und  in  den  Zeiten,  in  welchen  gute  Porträts  gebildet  wurden, 
waren  auch  die  anderen  Leistungen  dieser  Kunst  hervorragende. 

Neben  solchen  Werken  der  hohen  Kunst  barg  das  pompejanlsche  Haus  auch  sonst  noch 
herrliche  Schaustücke  an  Kleinplastiken,  als  Gefässe,  Leuchter  und  Kandelaber.  Alles,  Möbel,  Geräthe, 
Geschirre,  Schmuck,  das  zum  Gebrauche  im  täglichen  Leben  diente,  veredelte  die  Kunst.     Ein  erhöhtes, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


159 


vornehmes  Lebensofefühl  kommt  hierin  zum  Ausdruck.  Welche  Beschränkunof,  selbst  Nüchternheit, 
tritt  in  unserer  täglichen  Umgebung  zu  Tage.  Gegenwärtig  macht  man  Anleihen  bei  allen  Kultur- 
nationen des  Alterthums  und  der  Neuzeit,  um  einen  neuen  Stil  in's  deutsche  Haus  zu  bringen. 
Manchmal  erwecken  diese  Gebilde  wahre  Stilbegriffsverwirrungen,  eine  Art  paranoia  aesthetica.  Unter 
den  vielen  Erscheinungen,  die  diese  Bewegung  zu  Tage  fördert,  tritt  besonders  eine  hervor,  in  welcher 
das  moderne  Empfinden  dem  antiken  sich  wieder  nähert,  nämlich  der  Todtenkult:  die  Sitte,  die 
Gräber  der  Abgeschiedenen  mit  aller  Kunst  zu  schmücken.  Vorläufig  vollzieht  sich  dieses  Streben, 
hierin  die  modernen  Empfindungen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  in  imposanten  architektonischen 
Entwürfen,  die  im  unbegrenzten  Räume  der  Gedanken  ungehindert  sich  ausbreiten  können,  die  aber 
in    Wirklichkeit    bei    der    Kostspieligkeit    der    Begräbnissstätten    noch    gute    Weile     zur    Ausführung 


haben  werden.  Um 
so  mehr  wird  durch 
das  Vorgehen  der 
A  rchitekten  der  Bild- 
hauer angeregt  wer- 
den, seine  schöpfer- 
ische Kraft  einem  Ge- 
biete zuzuwenden, 
auf  dem  seine  Kunst 
so  wie  keine  andere 
zu  wirken  im  Stande 
ist.  Eine  hier  bei- 
g-eo-ebene  Abbildung: 
zeigt  die  Gräber- 
strasse des  attischen 
Friedhofes  vor  dem 
Dipylon  in  Athen. 
Der    Reichthum    an 


Ansicht  aus  einem  pompejanischen  Hause  mit  einer  Porträt-Ker.ne 


mannigfaltigen  und 
originalen  Formen 
einzelner  Denkmale 
lässt  den  Mangel  an 
künstlerischer  Aus- 
gestaltung unserer 
Friedhöfe  stark  em- 
pfinden. In  den  bild- 
nerischen Darstell- 
ungen auf  diesen 
Malen,  es  sind  meist 
Scenen  aus  dem 
Leben  darauf  abge- 
bildet, zeigt  sich  wie- 
der das  sinnige,  dem 
Leben  zugewandte 
künstlerische  Em- 
pfinden derGriechen. 


Es  ist  dagegen  leicht  zu  bemerken,  wie  die  chrisdiche  Symbolik  grosse  Langweiligkeit  auf  unseren 
Friedhöfen  verbreitet  hat.  Wir  sehen  dies  an  der  geistlosen  Art,  in  der  immer  wieder  Symbole  als 
Anker,  Kreuz  und  Herzen,  Inschriften,  Bücher  und  Palmenzweige  wiederkehren.  Auch  in  den 
allegorischen  P'iguren  der  trauernden,  weinenden,  verheissenden ,  tröstenden  Genien  und  Kinder- 
gestalten offenbart  sich  ein  so  konventionelles  Empfinden,  dass  es  wirkliches  Empfinden  abstösst. 
Wie  feinfühlig  zeigt  sich  auch  hierin  der  Grieche,  der  selbst  in  den  einfachen  Malen  dieses  schlicht 
und  gross  mit  erhabener  Würde  gestaltet  hat.  Auch  bieten  sie  in  anderer  Hinsicht  starke 
Anregungen,  sie  zeigen  nämlich,  vrie  man  mit  den  anspruchlosesten  Mitteln  doch  monumentale 
Wirkungen   erzielen   kann.      Mit  wenigen    Formen,   aber  mit  grossem   Formgefühl    ist   der  Steinblock 

Gerade    in   dieser  Einfachheit 

22» 


ZU    einem    architektonischen    und    bildnerischen    Denkmale   zugferichtet 

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160 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


liegt  ein  bestrickender  Reiz  und  nicht  zum  wenigsten  das  Geheimniss  der  grossen  Wirkung. 
Bei  uns  wird  zumeist  der  Natur  des  Materials  wenig  nachgegeben,  mit  Zwang  und  Künstlichkeit 
der  Stein  gegliedert,  wodurch  er  immer  mehr  der  Würde  seiner  Bestimmung  entrückt  wird.  Wir 
begegnen  oft  wahren  Orgien  von  Geschmackslosigkeit,  die  das  Protzenthum  aufführen  lässt  und  die  die 
künstlerische  Unfähigkeit  nicht  zu  verdecken  verstehen.  Nach  den  vorhandenen  Ansichten  von  Denkmalen 
des  Alterthums  muss  man  sich  auch  bei  den  Malen,  die  handwerksmässig  wie  unsere  Grabsteine 
hergestellt  wurden,  den  Geschmack  des  Publikums  und  der  Künstler  so  geläutert  und  vollkommen 
denken,  als  man  heut  zu  Tage  überhaupt  ahnt.  Italien,  das  auf  eine  grosse  Tradition  sich  stützen 
kann,  hat  in  der  künstlerischen  Ausgestaltung  seiner  Friedhöfe  manches  Bedeutende  aufzuweisen.     In 


tiräberstrasse   vom   attischen   Friedhofe  vor  dem  Tvsvlori  in  Athen 


der  That  müsste  so  die  moderne  Plastik  ohne  die  hemmenden  Fesseln  und  beschränkten  Bestimmungen, 
die  sie  in  ihrer  Entfaltung  auf  dem  Gebiete  der  Monumentalbildnerei  hemmen ,  in  diesen  Aufgaben 
auf  die  freie  Höhe  der  Kunst  erhoben  werden.  Damit  würde  auch  den  sonst  trost-  und  brodlosen 
Idealplastikern  neue  Ziele  und  ein  ergiebiges  Arbeitsfeld  eröffnet.  Ihre  Kunst  fände  im  Anschluss 
an  die  Gestalten  des  wirklichen  Lebens  eine  I-^ülle  von  Beziehungen  und  könnte  wahrhaft  idealisiren, 
ohne  in  der  bisher  so  beliebten  Weise  sich  an  schematische  Abstraktionen  zu  halten.  In  der  Dar- 
stellung des  Menschen,  den  Gehalt  des  Menschen,  die  menschlichen  Empfindungen  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  wo  könnten  diese  herrlicher,  inniger  zur  Geltung  gebracht  werden,  als  in  den  Denk- 
malen der  Erinnerung  an  das  Leben. 

Wenn   wir  uns  jetzt  auch   wieder  an   die  Antike   anlehnen,    so   geschieht   es   doch    mit   einem 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


161 


Rückhalt  an  unser  eio^enes  Empfinden,  in  der  sachgemässen  Erkenntniss  und  Nutzbarmachung  der 
grossen  plastischen  Werthe,  die  in  ihren  Werken  liegen.  Das  Studium  der  Antike  hat  in  mancher 
Hinsicht  gute  I-'rüchte  gezeitigt,  aber  ein  lebensfähiges  Geschlecht  ist  aus  der  Verbindung,  die  das 
deutsche  Empfinden  mit  dem  klassischen  Geiste  einging,  noch  nicht  hervorgegangen.  Die  Darstellung 
des  Menschen,  als  das  vomehmste  Objekt  der  antiken  Kunst,  ist  in  der  klassizistischen  Zeit  rein 
formell  nach  antiken  Schematas  aufgefasst  worden;  nur  Wenige  versuchten  den  Gehalt  des  Menschen 
zu  charakterisiren.  Die  Liebe  zur  blossen  I'^orm,  zu  äusserlicher,  wohlgefälliger  Schönheit,  in  der 
man  das   klassische  Ideal   erblickte,   überwog  das   strenge  Streben,    in  vollkommener  Weise  wahr   zu 


sein,  Form  und  Charakter  über- 
einstimmend zu  bilden.  Man  hielt 
sich  an  eine  Uebersetzung  der 
Natur,  indem  man  sie  durch  die 
eriechische  Brille  anschaute,  statt 
an  die  Natur  selber.  Geisttödtender 
Formalismus,  unwahre  Empfindung 
waren  die  Folgen. 

Damals,  da  die  deutschen 
Plastiker  den  ersten  Einfluss  dieser 
ewig  jungen  Kunst  erfuhren,  war 
es  der  Griechen -Geist,  der  sie 
daraus  anwehte  und  dem  sie  willig 
sich  selbst  zum  Opfer  brachten. 
Der  erste  Priester,  der  ihm  opferte, 
war  der  vom  Geiste  des  Griechen- 
thums  erfüllte  Gelehrte  Winkel- 
mann. Heutzutage  wird  er  viel 
als  Sündenbock  für  die  Fehler 
seiner  Nachahmer  hingestellt.  Der 
von  poetischer  Begeisterung  Er- 
füllte übersah,  dass  nicht  auf  dem 


(jrabmal  vom  attischen  Friedhof 


Wege  der  Anempfindung  eines 
fremden  Geistes,  durch  blosse 
Nachahmung  seiner  W^erke,  unter 
Hintansetzung  des  eigenen  Em- 
pfindens und  der  Tradition  eine 
neue  Kunst  erblühen  könne;  er 
war  nicht  allein  diesem  Irrthume 
unterworfen,  die  besten  Geister 
der  Nation  haben  ihn  darin  be- 
stärkt. 

Manche  Rezepte,  die  Goethe 
den  bildenden  Künstlern  ver- 
schrieben hat,  sind  nicht  minder 
schädlich  gewesen;  wenn  man  über- 
haupt in  Hinsicht  auf  die  damalige, 
nur  auf  blosse  «Dekoration»  be- 
schränkte Kunst  von  einer  Schä- 
digung deutscher  Plastik  sprechen 
kann?  Dortmals  wie  heute  leisteten 
uns  die  Kenntniss  der  antiken 
Werke,  die  Erfahrungen,  die  wir 
aus   ihrem    plastischen    Stil   ziehen 


können,  gute  Dienste.  Und  diese  Lehren  in  die  That  umzusetzen  und  sie  somit  erst  eigentlich  aus- 
zudrücken, war  einem  Manne  beschieden,  der  ausschliesslich  durch  eigene  Empfindung  auf  die  sinnliche 
Schönheit  der  Form  «das  klassische  Ideal»  hingewiesen  wurde.  Bertel  Thorwaldsen  war  damit 
berufen,  den  unmittelbarsten  Ausdruck  für  das  künsderische  Streben  seiner  Zeit  zu  geben.  Er  lebte 
und  schuf  sozusagen  zeitlos  Bilder  einer  schönen  Sinnenwelt,  die  seinen  Zeitgenossen  als  Werke  des 
Griecheneeistes  erschienen.  Sein  Einfluss  war  unermesslich.  Dafür  ist  der  Eindruck,  den  Rauch  und 
Rietschel,  ersterer  noch  in  reiferen  Jahren,  empfingen,  bezeichnend.  In  einem  Briefe  Rauch's  an 
Rietschel,  wo  von  Thorwaldsen's  Schaffen  und  von  seinen  W^erken  in  Rom  die  Rede  ist,  kommen 


162 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


die  Worte  vor:  «Aus  dieser  kurzen  Andeutung  werden  Sie  sehen,  wie  es  um  den  Muth  des  Künstlers 
steht,  der  in  diesem  grossen,  vielseitig  erleuchteten  Spiegel  (nämlich  Thorwaldsen),  nur  seine  eigene 
Unzulänglichkeit  vergleichend,  sein  Nichts  erblickt.» 

Die  Antwort  Rietschel's  ist  sowohl  für  Thorwaldsen's  Charakteristik,  als  für  Rietschel's 
Empfindung  so  bezeichnend,  dass  wir  nicht  unterlassen  können,  sie  umständlich  hier  wiederzugeben; 
sie  lautet:  «Es  mag  wohl  ein  belehrender,  Bewunderung  erregender  Genuss  sein,  in  Thorwaldsen's 
Atelier  herum  zu  wandern,  und  man  mag  nicht  anders  als  mit  hoher  Verehrung  für  den  Meister 
dasselbe  verlassen.  Doch  —  wenn  auch  wie  dieser  mit  spielender  Leichtigkeit  und  jugendlicher 
Frische  die  schönsten,  mannigfaltigsten  Gestalten  und  Formen  hervor  zaubert,  welche  die  Sinne 
ergreifen,  die  Augen  entzücken,  wenn  er  allerdings  auf  die  höchste  geistige  Weise  —  ganz  Herr  — 
in  diesem  Gebiete  herrscht,  mögen  aber  doch  auch  andere  sein,  die,  wenn  auch  vielleicht  weniger 
mit   dieser   glänzenden  Leichtigkeit   begabt,    wohl   aber   mit   männlichem  Ernst,   gründlicher  Tiefe    und 

beharrlichem  Willen  die  höchste  Meisterschaft  erworben,  welche 
viele  Freuden  des  Lebens  hingeben,  um  Werke  zu  schaffen,  die 
mit  den  schönen  Formen  nicht  bloss  das  Kennerauge  ergötzen, 
sondern,  was  noch  weit  mehr  ist,  die  vom  Volke  begriffen  werden, 
es  erheben,  erfreuen,  versittlichen,  begeistern  —  und  nur  dadurch 
erhält  ein  Kunstwerk  die  wahre  Autorität!  Diese,  meine  ich,  mögen 
wohl  würdig  einem  Talente  wie  Thorwaldsen  zur  Seite  stehen,  ja 
sie  mögen  fast  —  ich  behaupte  es  —  vom  christlichen  und  sittlichen 
Standpunkte  aus  betrachtet,  noch  eine  Stufe  höher  stehen.  Möge 
meine  Ansicht  eine  unzulängliche  genannt  werden,  es  schreckt  mich 
nicht  ab,  ich  behaupte  dennoch,   sie  ist  eine  wahre.» 

Dieses  Bekenntniss  enthält  das  ganze  Programm  Rietschels 
und  bezeichnet  einen  Mangel  in  Thorwaldsen's  Kunst,  nämlich 
den  Mangel  an  Vertiefung  der  Empfindung  und  eigenthümlichem 
Charakter  überhaupt.  Eine  andere  als  die  sinnliche  Wahrnehmung, 
das  Gefühl  für  Form  lag  in  Thorwaldsen's  Kunst  nicht,  aber 
gerade  damit  hat  er  auch  das  Wesentlichste  für  seine  Zeit  geschaffen, 
denn  mit  der  Empfindung  konnte  er  das  Prinzip  eines  plastischen 
Stiles  nicht  so  konsequent  durchführen,  als  -er  es  mit  eminentem  , 
I'^ormensinn  begabt,  that.  Man  sieht  in  seinen  Statuen,  wie  in  dem 
Adonis  in  der  Münchener  Glyptothek,  das  Bestreben,  nach  Art  der 
Antiken  zu  wirken,  kein  Glied  zu  individualisiren;  so  erscheint  der 
Adonis  als  das  Urbild  eines  schönen,  weichen  Jünglingskörpers,  bei 
dem  der  Kopf  auch  nur  ein  schöner  Theil  des  Ganzen  ist.  Die 
Köpfe  seiner  Idealstatuen  weisen  alle  den  Ausdruck  schöner  Theil- 
Crabmai  vom  attischen  Friedhof  nahmslosigkeit  auf;  sie  erfüllen  in  vollstem  Maasse,  was  die  Wissen- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


163 


Schaft  des  Schönen  jedem  Kunstwerke  zu  Grunde  gele<^t  wissen  will,  ein  angenehmes  Gefühl  zu 
erwecken.  Ein  Reflex  dieser  Kunst  ist  noch  in  jenem  vagen  Schönheitsideal  wahrzunehmen,  das  in 
den  handwerksmässigen  Kunstwaaren  Jedermann  gefällig  erscheint. 

Es  wäre  dies  im  Sinne  der  künsderischen  Bildung  allerdings  eine  Errungenschaft.  Thorwaldsen's 


Grabmal  vom  attischen   Friedhof 


Rundbilder  von  Morgen  und  Nacht,  in  denen  die  plastische  Strenge  des  Reliefs  durch  die  Anmuth  der 
Formen  gemildert  erscheint,  sind  Gemeingut  aller  Nationen  geworden.  Als  ein  Meister  der  Plastik 
hat  er  die  Form  mit  I'ülle  vorgetragen,  aber  eng  begrenzt  erscheint  seine  Kunst,  sobald  sie  das 
Gebiet    zeitloser,   um   nicht    zu   sagen    charakterloser,    Idealdarstellungen   verlassen   muss.      Im  Porträt 


164 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


wie  in  den  Denkmalen  historischer  Persönlichkeiten  hat  er  wenig  Gutes  geleistet.  Nicht  einmal  das 
Beste  davon,  die  Reiterstatue  Maximilians  I.  in  München,  mag  uns  darüber  täuschen.  Wir  können 
davor  nicht  warm  werden,  es  bleiben  immer  nur  Schematas,  aus  denen  nichts  herauszulesen  ist. 
Der  Jubel  und  Enthusiasmus,  der  jede  Gabe  aus  seiner  Hand  begleitete,  ist  uns  Nachlebenden 
kaum  mehr  begreiflich.  Als  das  Grabmal  des  Herzogs  von  Leuchtenberg  in  der  Michaelskirche  zu 
München  aufgestellt  werden  sollte,  legte  König  Ludwig  I.  auf  die  Anwesenheit  des  Kün.stlers  einen 
solchen  Werth ,  dass  sein  Nichterscheinen  mit  8000  Gulden  Abzug  am  Honorar  geahndet  werden 
sollte.  Natürlich  zog  Thorwaldsen  vor,  selber  zu  erscheinen,  die  Reise  von  Rom  nach  München 
war  darum  lohnend  genug.  Wie  ein  Fürst  wurde  er  empfangen  und  geehrt.  Thorwaldsen's  Leben 
war  das  eines  glücklichen  Künstlers,  eine  Schaar  begeisterter  Schüler  umgab  ihn  und  trug  seinen 
Ruhm  durch  alle  Lande,  Könige  ehrten  ihn,  überhäuft  war  er  mit  Aufträgen,  als  ein  Glück  empfand 
man  es,  Werke  aus  seiner  Hand  zu  erlangen,  und  glücklich  war  auch  sein  Ende;  bei  einer  Vor- 
stellung im  k.   Hoftheater  in  Kopenhagen  ereilte  ihn  der  Tod  am   24.    März    1844. 


Wie  immer  der  einze 
seinen  Stempel  aufprägt,  wie 
es  dagegen  ist,  mit  einer 
anderen  als  der  herr- 
schenden Ansicht  hervor 
zu  treten,  das  bringt  uns 
Schadow's  Lebensgang 
in's  Bewusstsein.  Er  zeigt 
uns,  wie  ein  Geist,  der 
stark  und  original  genug 
erscheint,  wenn  ihm  erst 
aus  der  Enge  beschränkter 
Verhältnisse  heraus  eine 
völlig  neue  und  überwäl- 
tigende Anschauung  zu 
Theil  wird,  sich  gänzlich 
dieser  überlässt  und 
erst  später  wieder  dazu 
kommt,  sein  Selbst  zu 
begründen.  Schadow, 
der  sich  in  den  Jahren 
1785,  86  und  87  in  Ita- 
lien    aufhielt,     berichtet 


GOTTFRIED  SCHADOW    1764— 1850 

ne,  überlegene  Mann  in  jedem  Fache  menschlicher  Thätigkeit  seiner  Zeit 
durch  ihn  angereiht  ein  Heer  von  Nachahmern  entsteht  und  wie  schwer 

über  die  Eindrücke,  die 
er  dort  empfangen,  fol- 
gendermaassen :  «Als  ich 
in  Florenz  ankam  und 
dort  die  kolossalen  Werke 
von  Michel  Angelo  und 
Giovanni  di  Bologna  auf 
offenem  Platze  erblickte, 
überlief  mich  ein  eiskalter 
Schauer.  Dies  war  die 
erste  und  heftigste  Er- 
schütterung ,  welche  die 
Bewunderung  über  die 
Schönheiten  der  Kunst 
in  mir  erregte.  Beim  An- 
blick der  vielen  Antiken 
fühlte  ich  die  Entfer- 
nung, in  welcher  ich  da- 
von abstand,  aber  zu- 
gleich auch  die  reine 
Wollust,     die     mir     der 


i-IN.\W     VI';.,  ■■:'.     --',»,-,:     •  \  I,  ■  n  v\.t,. , ■,.,,:■  f:  ^t-i'lTV' 


I^J^i^S 


^-m 


Römisches  Grabmal 


ChrlNtltD  Rsuoh  soulp. 


Pbot.  y.  HanhtMDgl,  UaoeheD 


Victoria 


Qotirrled  Sebado«  loulp. 


Phot.  F.   HurauenKl,  UOnohM 


Grabmal  des  jungen  Grafen  Alexander  von  der  Mark 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


l(»5 


Weg-  dahin  zu  gelangen,  darbieten  müsse.»  In  der  ersten  Arbeit  Schadow's,  die  er,  aus  Italien 
zurückgekehrt,  übernahm,  in  dem  Denkmal  des  jung  verstorbenen  Grafen  von  der  Mark,  mischen 
sich  Züge  solch'  italienischen  und  antiken  Einflusses  mit  der  dem  vorigen  Jahrhundert  eigenen  Kunst- 
weise. Manches  in  der  Anordnung  verräth  deutlich  den  Zeitgeschmack,  der  abgeklärt  und  gross 
durch  eine  bedeutendere  Ansicht  gehoben  erscheint.  Frei  und  selbständig  hat  er  das  klassische 
Motiv,  die  Parzen,  darin  verwertet,  und  nicht  leicht  wird  uns  in  den  Werken  der  Klassizisten  eine 
lebhaftere  Auffassung  dieses  Vorwurfes  entgegentreten.  In  einem  Vortrage,  den  er  wahrscheinlich 
um  1792  nach  seiner  Reise  gehalten  hat,  die  er  nach  Stockholm  und  Petersburg  unternahm,  um  die 
Herstellung  grosser  Bildwerke  in  Erz  kennen  zu  lernen  (ein  Verfahren,  das  zu  Schadow's  Zeiten  in 
Deutschland  verloren  gegangen  war),  äussert  er  unter  Anderem  auch  seine  Kunstansicht  und  Auffassung 
über  solche  Denkmale  (es  handelte  sich  um  die  Herstellung  des  Denkmals  für  PViedrich  den  Grossen) 
folgendermaassen:  «Wenn  Ehrfurcht  und  Bewunderung  die  Beweggründe  sind,  warum  man  ein  Monument 
errichtet,  wenn  der  Held  selbst  gross  ist,  so  denkt  sich  ihn  der  Künstler  auch  gerade  als  ein  simples 
Porträt.  Es  bedarf  dann  keiner  fremden  Hülle,  um  ihn  gross  und  ehrwürdig  scheinen  zu  machen, 
und  das  Gewand,  welches  er  trug,  mochte  es  sein  wie  es  wollte,  wird  durch  den  Helden  geheiligt.» 


Bertel  Tlior-jjaldsen:  Aus  dem  Alexaiiderzuge 


Schadow  gibt  dieser  Anschauung  in  der  Figur  des  General  Zielen  Ausdruck.  Er  stellt  ihn  als 
Feldherrn  dar,  der  ruhig  überlegend  an  einem  Baumstamm  lehnt;  das  Kostüm  ist  naturgetreu  und 
gewissenhaft  ist  auf  alle  Einzelheiten  der  Uniform  und  Bewaffnung  eingegangen,  ohne  in  dem  Maasse 
unruhig  zu  wirken  wie  die  realistischen  Darstellungen  unserer  Tage.  Aber  am  Schönsten  zeigt  sich 
Schadow's  grosszügiger  Realismus,  man  wäre  versucht  zu  sagen  idealer  Realismus,  in  den  Reliefs, 
die  Szenen  aus  dem  Leben  Zieten's  darstellen.  In  den  Rötheizeichnungen,  die  er  wohl  als  Studium 
der  plastischen  Arbeit  zu  Grunde  legte,  überrascht  vor  Allem  die  malerische  Art  des  Vortrages,  die 
Kühnheit  der  Wiedergabe  des  individuellen  Lebens  von  Ross,  Reiter  und  Landschaft.  In  seinen 
Zeichnungen,  er  hat  deren  viele  (theils  als  Skizzen  zu  seinen  Werken,  theils  als  selbständige  Aus- 
führungen) angefertigt,  offenbart  sich  mehr  als  in  den  plastischen  Arbeiten  das  reiche  Talent  Schadow's. 
In  der  Art  der  Auffassung  mancher  Objekte,  in  der  geläufigen  malerischen  Technik  der  Ausführung 
hängt  er  auf's  Engste  noch  mit  der  Kunst  des  vorigen  Jahrhunderts  zusammen ,  deren  Anschauung 
und  Empfindung  auch  lebhaft   in  nebenstehendem  Entwurf  zu   einem  Denkmal  Friedrich  des  Grossen 

(1797     entstanden)     zum    Ausdruck    gelangt.       In     auffallend    grotesken    Formen    gehalten,     veran- 

u  23 


166 


DIE  .KUNST  UNSERER  ZEIT 


Gottfried  Schadoiv:  Studie  zu  einem  Relief  am  Zictendenkmal 
(Rötheizeichnung) 


schaulicht  es  deutlich  den  Geschmack  jener 
Zeit  an  spektakulirenden  Dekorationsstücken. 
In  der  stofflichen  Behandlung  erinnert  auch 
die  reizvolle  Porträtgruppe  der  beiden  lieb- 
reizenden Prinzessinen  aus  dem  Hause  Mecklen- 
burg (der  späteren  Königin  Louise  und  ihrer 
Schwester)  daran.  Als  eine  der  reifsten 
Arbeiten  jener  Zeit  ist  die  aus  dem  Schlafe 
erwachende  sogenannte  «Nymphe  Salamacis» 
anzusehen.  Seine  Absicht  war,  damit  das  Bild 
einer  Wollust  athmenden,  schön  gebildeten 
Sterblichen  zu  geben.  Trotz  allem  Naturalis- 
mus der  Darstellung  des  Körpers  ist  der  Kopf 
idealisirt   und  antiken  Vorbildern  nachgebildet. 


Dass  er  derartige  Arbeiten  als  die  dem  Künstler  förderlichsten  auffasste,  spricht  er  in  der 
Bemerkung  aus:  «solche  nicht  bestellte,  sondern  aus  innerem  Behagen  entsprungene  Arbeiten  sollten 
wohl  immer  den  Umfang  der  Fähigkeiten  eines  Künstlers  zeigen,  jedoch  müssen  hierzu  manche 
Begünstigungen  kommen:  ,, Gesundheit,  nicht  Broderwerb,  ein  gutes  Modell  und  häusliches  Glück".» 
Das  ist  die  Kundgebung  eines  Künstlers,  der  nach  freier  Ausbildung  strebte  und  seine  Kräfte  an  dem 
Ideal  aller  plastischen  Darstellung,  am  Nackten,  messen  wollte.  Die  Gelegenheit,  dieses  zu  beobachten 
und  darstellen  zu  können,  ist  freilich  in  einem  so  behosten  und  dazu  prüden  Zeitalter  wie  das  unsrige 
imtner  eine  Seltenheit.  Hören  wir  weiter,  was  er  über  Thorwaldsen  bei  der  Gelejjenheit  sajjt: 
«Durch  die  Natur  verführt,  wird  man  nicht,  wie  Thorwaldsen,  in  einer  Imitation  des  Idealstils  der 
Antike  verbleiben,  sondern  seine  Originalität  darbieten.»  Es  war  eine  eigenthümliche  Fügung,  die 
gerade  dem  so  eigenwilligen  Schadow  widerfuhr,  der  überall  darauf  bedacht  war,  in  seinen  Arbeiten 
seinen  Charakter  auszuprägen,  ein  Werk  herzustellen,  das  Eigenart  und  Charakter  ganz  verleugnet. 
Auch  Schadow  verfiel  in  eine  Art  Imitation  des  Idealstils  der  Antike,  und  der  ihn  dazu  verführte 
und  hinleitete,  war  Goethe. 

In  jeder  Phase  der  Entwicklung  des  Blücher-Denkmales  für  Rostock  sehen  wir  vor  dem 
übermächtigen  Einfluss  dieses  souveränen  Beherrschers  der  Geister  Schadow's  Ansichten  zurück- 
weichen, überall  zeigt  sich  gegen  besseres  Wissen  das  ängsdiche  Bestreben,  die  diktirte  dichterische 
Auffassung  einzuhalten.  So  entstand  der  Fürst  Blücher  als  Herakles,  so  steht  der  Marschall  Vorwärts, 
mit  der  Löwenhaut  und  dem  Chiton  angethan,  ausgestattet  mit  preussischem  Feldherrnstab  und  Husaren- 
säbel in  Mitten  einer  deutschen  Stadt.     Die  idealen  Neisfuno-en  Schadow's  im  Verein  mit  Goethe'schen 

o         o 

Kunstansichten  haben  ein  Werk  geschaffen ,  in  dem  die  klassizistischen  Forderungen  konsequent  gelöst 
erschienen.  Uns  erscheint  heut  zu  Tage  dieses  Werk  nicht  anders,  als  eine  Verirrung,  bei  der  wir  uns 
nur  ungern  des  Meisters,  des  Zieten  und  des  alten  Dessauers  erinnern  mögen. 

Wie   manche   bedeutende   Künstler   schon   vor   ihm,    wandte   auch    Schadow    sein    Augenmerk 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


167 


auf  die  Verhältnisse,  die  Proportionen  des  menschlichen  Körpers,  deren  Kenntniss  dem  Schaffen  des 
Künstlers  so  dienlich  ist.  Er  hat  darüber  ein  Werk,  «Polyclet»,  verfasst,  das  im  Jahre  1835  in 
Berlin  erschienen  ist.  Bei  den  Einsichten  des  Künstlers  und  Erfahrungen,  die  darin  niedergelegt  sind, 
bei  der  gründlichen  Bearbeitung,  die  sie  erfahren  haben,  ist  es  zu  verwundem,  dass  das  Buch 
in  Künstlerwerkstätten  so  selten  ist.  Mit  Zuhilfnahme  neuerer  P'orschungen  und  des  modernen 
Maasses  müsste  es  auch  heute  jederzeit  dienlich  und  brauchbar  sein.  Schadow  hat  sein  ganzes 
Leben  lang  Materialien  dazu  gesammelt,  und  es  umfasst  alle  Altersstufen  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  das  Wachsthum  des  Schädels  und  die  Nationalphysiognomien.  Dieser  Theil  dürfte  bei  dem 
jetzigen  Stande  der  Anthropologie  allerdings  überholt  sein.  In  diesen  schriftlichen  Werken,  zumal 
in  seinen  Vorträgen  und  Kunstansichten,  lernen  wir  in  ihm  einen  scharfen  Beobachter,  einen  klaren 
gesunden  Verstand ,  sein  künstlerisches  Empfinden  kennen ,  wobei  auch  interessante  Streiflichter  auf 
Kunst  und  Zeitgenossen  fallen.  Diese  Schriften  mit  ihrer  scharfen,  schlagenden  Charakteristik  bilden 
einen  werthvollen,  kunstgeschichtlichen  Bestand  und  einen  Uebergang  zu  ganz  modernen  Kunstansichten. 


CHRISTIAN  DANIEL  RAUCH    1777—1857 

Aus  dem  eigenartigen,  tief  in  der  Tradition  noch  wurzelnden  Schadow  vermochte  der 
Klassizismus  sich  keinen  Träger  zu  bilden.  Dazu  brauchte  es  einer  empfindsameren,  weicheren  Natur, 
deren  Konsistenz  geeignet  war,  diese  Vorstellung  aufzunehmen  und  der  Stammeseigenart  angemessen  zu 
verarbeiten.  Wir  haben  schon  Eingangs  bei  Thorwaldsen  darauf  hingewiesen,  mit  welchem 
Enthusiasmus  Rauch  diesen  verehrte,  —  man  kann  sagen  —  bis  zur  Selbstentäusserung.  Denn  der 
Meister  hatte  zu  jener  Zeit,  als  er  den  erwähnten  römischen  Brief  an  Rietschel  schrieb,  in  dem  er 
sich  gegen  Thorwaldsen  verkleinerte,  schon  in  den 
Statuen  der  Feldherrn  aus  dem  Befreiungskriege  das 
Reifste  und  Eigenthümlichste  geschaffen,  was  im  Sinne 
klassizistischer  Monumentalbildnerei  damals  hervorge- 
bracht wurde.  Der  Bildungsgang  dieses  Künstlers  ist 
für  die  Elastizität  und  die  Zähigkeit  im  Ausbilden 
künstlerischer  Fähigkeiten  ganz  besonders  bemerkens- 
werth.  Früh  in  einer  Bildhauerwerkstätte  sich  selbst 
überlassen,  in  der  nach  Art  des  vorigen  Jahrhunderts 
handwerksmässig  gearbeitet  wurde,  wurde  er  aus 
Familienrücksichten  Kammerdiener,  eine  Periode  und 
ein  Stand,  der  manchen  modernen  Kunstschriftstellern 
zu  taktlosen  Aeusserungen  Anlass  gab.  Während 
dieser  Zeit  benützte  Rauch  seine  Musestunden  eifrig 
zu  seiner  künstlerischen,  wie  allgemeinen  Ausbildung; 
wir  wissen,  dass  er  dortmals  die  Propyläen  hielt  und 
las.    Er  hat  also  schon  im  Anfang  seines  künsderischen 


Gottfried  Schadow:  Entwurf  zu  einem  Denkmal 
Friedrich  des  Grossen 


23* 


16S 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Strebens  mit  den  Kunstansichten  Goethe's  sympathisirt.  Geschadet  hat  ihm  das  nicht,  seine  künstlerischen 
Sinne  wuchsen  und  gediehen  vortrefflich  bei  der  Nahrung  mit  klassischer  Milch.  Man  vergleiche  nur, 
wie  er  später  in  dichterisch  allegorischer  Weise  die  Reliefbilder  am  Scharnhorst-  und  Bülow-Denkmal 
ausgestaltet  hat.  Nach  Vollendung  seines  ersten  Werkes,  der  Grabstatue  der  Königin  Louise  in  Charlotten- 
burg, in  dem  wir  zwar  heute  nicht  mehr  das  bedeutende  Kunstwerk  zu  erkennen  vermögen,  als  das  es 


den  Zeitgenossen  erschien, 
war  seine  künstlerische  Zu- 
kunft entschieden  und  ge- 
sichert. Er  wurde  nach  Berlin 
gerufen  und  bei  seinen  ohne- 
hin guten,  durch  das  mit  Bei- 
fall aufgenommene  Werk  be- 
stärkten Beziehungen  zum 
Hofe  gewann  er  bald  für  die 
Entwicklung  der  Kunst  in 
Berlin  die  orrossartig^e  Be- 
deutung,  in  der  er  uns  als 
der  Begründer  der  nord- 
deutschen Plastikerschule  er- 
scheint, einer  Schule,  deren 
Fundamente  so  breit  und 
sicher  angelegt  sind,  dass  ein 
stattlicher  Bau,  der  noch  nicht 
abgeschlossen  ist,  sich  darauf 
begründen  konnte.  An  Auf- 
trägen mangelte  es  damals 
nicht.  Die  Kriegszeiten  waren 
vorüber  und  damit  auch  die 
den  Künsten  des  Friedens 
feindliche  Gewalten  gebannt. 
Die  grossen  Heerführer  jener 
Zeit  sollten  verherrlicht,  ihr 
Geist   und  Bild  der  Nachwelt 


Goiifr.  Schado 


•  Standbild  des  General  Ziethen 


erhalten  werden.  Es  begann 
für  Rauch  eine  äusserst  frucht- 
bare Periode  des  Schaffens 
mit  der  Ausführung  dieser 
Denkmäler.  Bestrebt,  vor 
Allem  den  Geist,  den  sinnen- 
den ,  Thaten  vollbringenden, 
den  energischen  preussischen 
Soldatengeist  in  Scharnhorst, 
Bülow,  Gneisenau,  York  und 
Blücher  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  schuf  er  das  äussere 
Bild  von  innen  heraus;  und 
wenn  er  dem  Drange,  der 
Intuition  nachgebend,  den  Ge- 
stalten einen  Pathos  und 
patriotischen  Schwung  leiht, 
der  vielleicht  manchem  dieser 
Männer  im  wirklichen  nüch- 
ternen Leben  fem  gelegen  ist, 
so  sucht  er  damit  dem  gei- 
stigen Bild  jener  Helden  einer 
bewegten  Zeit  gerecht  zu 
werden.  In  der  Darstellung 
huldigt  er  mit  Takt  einem 
verfeinerten  Realismus,  der 
überall  die  tieferen  Absichten 
des  Künstlers  hervorhebt.    Mit 


diesen  Statuen  hat  er  einen  Denkmaltypus  für  unsere  monumentale  Bildnerei  geschaffen,  der  als  giltiger 
Canon  selbst  für  unsere  Zeit  noch  wirksam  besteht.  Als  eine  Weiterbildung  darüber  hinaus  sind  die 
zahlreichen  modernen  Denkmäler  nicht  zu  betrachten,  sie  lehnen  sich  in  ihrer  Konception  vollständig 
an  diese  Vorbilder  an,  und  ihr  oft  ungeläuterter,  durch  keine  künstlerisch  tiefere  Empfindung 
beseelter  Realismus  ist  nur  von  schlechterer  plastischer  Wirkung  als  Rauch's    klassischer.     Ein  ganz 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


169 


vorzügliches  Stilgefühl  entwickelte  Rauch  im  Zusammengehen  von  Figur  und  Sockel.  Indem  er 
diesen  bildnerisch  gestaltete,  die  Erzflächen  vielfach  belebte,  findet  er  nicht  nur  äusserlich  den  rechten 
Uebergang  zu  den  architektonischen  F'ormen,  sondern  setzt  auch  diese  Formen  zu  den  Dargestellten 
in  lebendige  Beziehungen.  Man  hat  nicht  Unrecht,  ihn  mit  Thorwaldsen  als  einen  Meister  des 
Reliefs  zu  verehren. 

Bei  der  Herstellung  so  vieler  Erzdenkmale  machte  sich  nun  ein  Uebelstand  bemerkbar,  der 
die  deutschen  Bildner  der  klassischen  Periode  oft  und  schwer  geschädigt  hat,  der  Mangel  an 
tüchtigen,  kenntnissvollen  Erzgiessern.  Schon  mit  der  Ausführung  des  Max  Joseph -Denkmales  für 
München  begann  für  Rauch  eine  Reihe  ununterbrochener  Sorgen,  Aergernisse  und  Qualen,  die 
ihm  oft  alle  Freude  beim  Anblick  der  arg  zerschundenen  und  misshandelten  Arbeit  nahmen.  Er 
wandte  all'  seinen  Einfluss  auf,  bessere  Erzgiesser  heran  zu  ziehen.      Auf  seine  Veranlassung  entstanden 


die  königliche  Erzgiesserei  und 
die  Ciseleurschule  in  Berlin.  Auch 
des  bekannten  Erzgiessers  Stigl- 
mayer,  der  durch  Rauch  haupt- 
sächlich zur  Weiterbildung  und 
Vervollkommnung  dieser  Technik 
veranlasst  wurde  und  unter  dessen 
Nefifen  Miller  die  Münchener  Erz- 
giesserei grossen  Aufschwung  ge- 
nommen hat,  ist  hier  zu  gedenken. 
Rauch's  Biograph,  Egger,  der 
in  fünf  Bänden  erschöpflich  und 
ausführlich  Rauch's  Persönlich- 
keit und  Lebenswerk  behandelte, 
dessen  Darstellungen  im  letzten 
polemischen     Theil     leider    nicht 


Christ.  Rauch:  Max  Joseph-Denkmal 


leidenschaftslos  gegenüber  der 
modernen  Kunst  geblieben  sind, 
dem  wir  viele  vorzügliche  An- 
regungen verdanken,  sagt  am 
Schlüsse  seiner  Ausführung-en 
über  diese  Bemühungen  des 
Meisters:  «Die  Geschichte  des 
Erzgusses  in  Deutschland  bleibt 
dauernd  mit  seinem  Namen  ver- 
bunden.» 

Es  dürfte  bekannt  sein,  dass 
im  Auftrage  König  Ludwig's  I. 
von  Bayern  Leo  von  Klenze  sich 
öfters  bemühte,  Rauch,  dieses 
glanzvolle  Gestirn  am  damaligen 
Kunsthimmel     Deutschlands ,     für 


München  Zugewinnen.  Aber  Rauch  war  für  den  goldigen  Käfig  nicht  zu  haben;  ausserdem  war  er 
Preusse  und  seine  Werkstatt  in  Berlin  —  seine  Heimat.  Schwer  entschloss  sich  König  Ludwigf  auf 
die  Bedingung  im  Vertrage  wegen  Rauch's  Lieferungen  von  Statuen  in  die  Walhalla,  auf  die  für  ihn 
härteste,  einzugehen,  die  ausdrückte,  dass  Rauch  diese  Arbeiten  auch  in  Berlin  anfertigen  könne. 
Die  Munificenz  des  grossen  Mäcenaten  hat  aber  damit  Rauch's  reifste  und  schönste  Schöpfungen  auf 
dem  Gebiete  der  Idealplastik  —  die  Viktorien,  ermöglicht.  Diese  Siegesgöttinnen,  die  antiken  Niken, 
welche  er  auf  Münzen  eifrig  und  nicht  ohne  Nutzen  studirt  hat,  sind  in  allen  Phasen  der  Empfindungen, 
des  Erwartens,  des  Begrüssens,  des  Entgegeneilens ,  der  Bekrönung  des  Kämpfers  und  der  nach- 
denkenden Ruhe  des  opfervollen  Sieges,  dargestellt.  Wohl  ist  in  diesen  Gestalten  eine  Eleganz  der 
Form,  eine  Freiheit  und  Anmuth  in  der  Bewegung  entfaltet,  wie  wir  sie  meist  nur  in  den  Werken 
unserer  westlichen  Nachbarn  zu  sehen  gewohnt  sind,  aber  vor  Allem  ist  darin  auch  eine  Feinheit  der 


170  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Empfindung,  ein  Formenadel,  der  sie  uns  als  die  reifste  Frucht  des  Klassizismus  erscheinen  lassen, 
wahlverwandt  mit  den  klassischen  Schöpfungen  Goethe's.  Wie  sehr  er  übrigens,  der  Künstler,  nach 
dem  Herzen  Goethe's  war,  zeigt  uns  der  ebenfalls  sorgfältig  und  übersichtlich  zusammengestellte 
Briefwechsel  von  Egger  —  Rauch  und  Goethe.  In  einer  kleinen  Statuette  «Goethe  im  Hausrock» 
besitzen  wir  von  der  Hand  Rauch's  eines  der  kostbarsten  Goethebildnisse.  Ein  eigenthümliches 
Geschick  waltete  aber  über  allen  seinen  Projekten  zur  Ausführung  einer  monumentalen  Statue;  wir 
haben  von  seiner  Hand  kein  Denkmal  des  Dichters,  an  dem  er  mit  so  viel  Liebe  und  Verehrung 
hing.  - —  In  klassischem  Sinne  hat  Rauch  die  zahlreichen  Grabdenkmale,  die  er  zu  allen  Zeiten  seines 
Schaffens  ausführte,  gestaltet.  Als  eine  interessante  Reminiscenz  an  die  Denkmale  vom  attischen 
Friedhofe,  vor  dem  Dipylon  in  Athen,  könnte  man  das  Grabmal  der  Gräfin  Itzenplitz  auffassen  und 
das  Relief  vom  Grabmal  Niebuhr  in  Bonn. 

Ganz  besonders  aber  sei  auf  die  Grabstatue  Friedrich  Wilhelm's  III.  in  Charlottenburg 
hingewiesen,  die  sowohl  in  der  Auffassung  wie  Ausführung  einen  bedeutenden  Fortschritt  gegenüber 
der  Luisenstatue  bezeichnet.  Das  ist  überhaupt  ein  Merkwürdiges  in  Rauch's  Bildung,  wie  er  immer 
aufwärts  steigt,  immer  fertiger  wird,  um  zuletzt  als  Greis  mit  der  kraftvollsten  That,  dem  Friedrich- 
Monument,  seine  Lebensarbeit  zu  krönen.  Und  noch  darüber  hinaus  in  seinem  Kant  ein  immer  junges 
Werk  zu  schaffen,  ein  Werk,   dessen  geistvoller  Realismus  das  Ziel  der  nächsten  Generationen  bildet. 

Die  Aufstellung  eines  Denkmales  für  Friedrich  den  Grossen  bildet  im  Programm  zweier 
preussischer  Könige  ein  ständiges  Projekt,  bis  es  unter  der  Regierung  Friedrich  Wilhelm's  IV.  zur 
Ausführung  gelangte.  Schon  Schadow's  Lehrmeister,  Tassaert,  machte  einen  Entwurf  im  Auftrage 
der  Armee.  Als  Friedrich  der  Grosse  davon  erfuhr,  war  seine  Ansicht:  «Dass  es  eine  schickliche 
Sitte  sei,  nicht  während  des  Lebens,  sondern  nach  dem  Tode,  dem  Feldherrn  ein  Denkmal  zu 
errichten.»  Unter  Friedrich  II.  wurde  die  Angelegenheit  wieder  aufgegriffen;  der  König  wollte 
das  Denkmal  seines  grossen  Ahnherrn  »auf  seine  Kosten  ausgeführt  wissen»  und  Schadow  die 
Angelegenheit  überlassen.  Der  machte  im  Auftrag  der  Regierung  zum  Studium  des  Erzgusses  die 
schon  erwähnte  Reise  nach  Stockholm  und  Petersburg,  eine  zweite  nach  Paris  musste  wegen  der  dort 
ausgebrochenen  Unruhen  unterbleiben.  Dann  kam  wieder  eine  Stockung  in  die  Sache;  mittlerweile 
starb  Friedrich  IL,  und  erst  unter  Friedrich  Wilhelm  III.  nahm  man  das  Projekt  mit  Eifer  wieder  auf, 
bis  sich,  wie  Schadow  erzählt,  «Begebenheiten  erreigneten,  wo  Kunstgegenstände  Nebendinge 
wurden»,  die  Freiheitskriege  begannen.  Im  Jahre  1830  erhielt  dann  der  Architekt  Schinkel  den 
Auftrag,  einen  Entwurf  für  das  Friedrichsdenkmal  einzureichen  und  an  Rauch  die  Weisung  ergehen 
zu  lassen,  Skizzen  dafür  anzufertigen.  Bis  1839  war  die  Wahl  des  Königs  noch  nicht  erfolgt,  endlich 
fand  ein  Projekt  seine  Genehmigung,  und  am  8.  Dezember  1839  bekam  Rauch  den  definitiven  Auftrag 
zur  Ausführung,  gewiss  eine  lange  Vorgeschichte.  Von  da  ab  beginnt  für  den  62jährigen  eine  Zeit 
voll  Anstrengung  und  Arbeit,  reich  an  Prüfungen  und  Mühseligkeiten  —  aber  auch  an  Erhebung  und 
freudigem  Bewusstsein.  In  seinem  Briefwechsel  mit  Riet  seh  el  spiegeln  sich  diese  wechselnden 
Stimmungen.  «Wie  dem  Geschäftsreisenden  —  schreibt  er  an  Rietschel  am  23.  Januar  1850  — 
gerade  die  letzte   Meile   ihm  das  Ziel  als   unerreichbar  vor  die   Seele   bringt,   so   ist  mir  zu  Muthe. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


171 


Ich  zähle  die  Stunden,  arbeite  auch.  Aber 
das  Nichterreichte  jedes  Abends  macht  mir 
unghickliche  Nächte.»  .... 

Aber  er  hat  das  Ziel  erreicht.  Am  iii. 
Jahrestage  der  Thronbesteigung  Friedrich  des 
Grossen,  am  31.  Mai  1851  wurde  das  Denkmal 
enthüllt.  «Ein  Glanzpunkt  —  wie  Alexander 
Humboldt  dem  Künstler  schreibt  —  in  dieser 
elenden,  schlaffen,  sumpfartigen,  frivolen, 
charakterlosen  Zeit,  das  Ihren  Namen  unsterb- 
lich macht.»  Es  haben  in  neuerer  Zeit  Rauch's 
Werke  von  Seiten  mancher  modernen  Kunst- 
schriftsteller manche  ungerechte  Beurtheilung 
erfahren.  Doch  wohl  nur  der  oberflächliche 
Beobachter  wird  sich  den  das  Streben  Rauch's 
verwerfenden  Urtheilen  anschliessen  können. 
Im  Sinne  des  Klassizismus  hat  er  die  Plastik 
auf  die  Höhe  monumentaler  Anschauung  er- 
hoben.  Erfüllt  von  dem  klassizistischen  Ideal 
«der  Antike»  vermochte  er  in  der  monu- 
mentalen Darstellung  des  modernen  Menschen 
sich  nicht  davon  zu  emanzipiren.  Gründlich 
verachtete  er  Hut,  Rock  und  Stiefel  als  nicht 
zu  solchen  Darstellungen  würdige  Objekte. 
Für  die  plastische  Auffassung  der  Persönlich- 
keit, wie  sie  im  Leben  geht  und  steht,  hatte 
er  Empfindung,  aber  er  war  nicht  unbefangen 
genug,  diese  durchzudrücken.  Wenn  es  Rauch 
gelang,  für  seine  Empfindungen  bündige  For- 
meln zu  schaffen,  seine  Kunst  in  ein  gewisses 
Verhältniss,  allerdings  kühler  Abstraktion,  zur 
Natur  zu  bringen,  so  verloren  sich  seine  Nach- 
ahmer gar   bald    in   einen  todten  Formalismus. 


Christian  Rauch:  Goethe  im  Hausrock 


ERNST  RIETSCHEL   1804— 186 1 

Grosse  Hoffnungen  setzte  Rauch  auf  den  begabten,  selbständigen  Rietschel.  Jung,  unver- 
dorben, weich  und  bildungsfähig  kam  dieses  Talent  in  seine  Hände.  Er  hoffte  in  ihm  eine  der 
stärksten  Säulen  seiner  künstlerischen  Tradition  heranzubilden.    Das  Experiment  gelang  nicht  vollständig 


172 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


in  Rietschel's  Natur  sass  tief  ein  spezifisch  deutsches  Element,  das  gemüthvolle  Empfinden,  dass  sich  in 
den  klassizistischen  Formeln  nur  schwerfällig  bewegen  lernte. 

Bedeutsam  im  Sinne  moderner  Empfindung  und  Kunstanschauung  »ind  seine  schüchternen 
Versuche,  vor  Allem  im  Porträt  eine  intimere  Naturanschauung  und  Auffassung  anzustreben.  Bei  all' 
dem  gelangt  doch  Rietschel  in  seinen  Hauptwerken,  Lessing  und  Luther,  über  Rauch  hinaus,  wohl 
zu  grrösserer  künstlerischer  Freiheit  der  Anordnuno-  aber  nicht  vollends  zu  freier  Entwicklung  seiner 
ganzen  Individualität.     Wenn  nicht  gerade  die  gewisse  Beschränkung,  die  in  seinen  Werken  zu  Tage 


tritt,  auch  auf  das  Engste  mit 
seiner  künstlerischen  Entwick- 
lung zusammenhängt.  Das 
Leben  eines  bedeutenden 
Künstlers  ist  ein  Stück  Kunst- 
geschichte. In  Rietschel's 
Kunst  ist  ein  religiöser  Zug, 
nicht  im  Sinne  der  modernen 
Auffassung,  sondern  in  der 
Weise  des  romantischen  Glau- 
bens- und  Kunstideals.  Daher 
seine  Neigung  zu  biblischen 
und  christlichen  Motiven.  Das 
hat  er  von  den  Nazarenern, 
die  auf  diesen  Hang  seines 
Gemüthes  von  demselben  Ein- 
fluss  waren,  wie  auf  j^udwig 
Richter.  Er  hat  überhaupt 
mit  diesem  Manches  ge- 
mein. Beide  entsprossen  dem 
gleichen  Boden,  haben  etwas 
Verwandtes  in  der  Erziehung, 
den  harten  Erfahrungen  der 
Jugendjahre,    in   Beiden   auch 


Chrisiian  liaucli: 
Standbild  des  Philosophen  Im.  Kant 


der  Zug  tiefer  Religiosität, 
ein  gewisses  Zusammenziehen 
und  Beschränken  auf  Ver- 
innerlichung.  Bei  Richter  die 
göttliche  Mitgift  eines  wunder- 
baren kindlichen  Humors,  der 
über  seine  Schöpfungen  eine 
warme,  behagliche  Stimmung 
breitet,  und  dessen  Ernst  in 
sinniger  Zartheit  zum  Aus- 
druck kam.  Rietschel,  in 
mancher  Hinsicht  ähnlich  ver- 
anlagt, wählte  die  Bildnerei 
zum  Lebenslauf,  die  damals 
noch  keineswegs  sich  in  Bahnen 
bewegte,  die  dem  deutschen 
Empfinden  ähnlichen  Ausdruck 
zu  verleihen  im  Stande  waren. 
Rietschel's  Empfinden  erfuhr 
darum  auch  zu  allererst  eine 
fast  krampfhafte  Umstülpung 
nach  der  klassischen  Mode. 
Man  weiss  aus  seinen  Jugend- 
erinnerungen,    dass     ihm    an- 


fänglich bei  Rauch  in  Berlin  gar  nicht  wohl  war.  Dass  er  viel  besser  nach  der  Natur  und  seiner  eigenen 
Eingebung  zeichnete,  als  nach  klassischem  Muster  modellirte.  Auch  dass  er  die  Antike  nicht  so  hoch 
schätzte,  als  sein  Meister,  dessen  Bestreben  war,  durch  diese  Brille  die  Natur  ansehen  zu  lernen. 
Rietschel  musste  entschieden  erst  einen  langjährigen,  oft  gewaltsamen  Umwandlungsprozess  durch- 
machen, ehe  er  der  formenstrenge  Plastiker  wurde,  als  den  wir  ihn  in  seinen  späteren  Werken 
kennen,  und  als  welcher  er  den  Stolz  und  die  Hoffnung  Rauch's  erweckte,  in  ihm  den  Wahrer  und 
Mehrer  seiner  Schule,  den  stärksten  Träger  ihrer  Tradition  zu  sehen. 


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Rrnst  RIeisOhel  ■oulp. 


Phot.  r.  HanfsuMgl,  UaDObeo 


Goethe-  und  Schiller-Denkmal  in  "Weimar 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


173 


In  der  That  ist  die  Freundschaft,  Fürsorge  und  Anhänglichkeit,  die  er  Rietschel  jeder  Zeit 
bezeugte,  ausserordentlich.  Rauch  scheint  an  dem  consequenten,  richtig  und  tief  empfindenden  Rietschel 
eine  starke  Stütze  und  Anregung  gehabt  zu  haben.  Die  öftere  Verschiedenartigkeit  ihrer  künstlerischen 
Ansichten  that  dem  guten  Verhältnisse  im  Einvernehmen  keinen  Abbruch.  Als  Rietschel's  erste 
bildnerische  That  wird  das  Standbild  des  Lessing  in  Braunschweig  bezeichnet.  «Ich  will  ihn  ohne 
Mantel  machen.  Lessing  suchte  im  Leben  nie  etwas  zu  bemänteln»,  mit  diesen  Worten  ging  Rietschel 
daran,  ein  unumgängliches  Garderobestück  der  Rauch'schen  Monumentalbildnerei  abzuthun.    Aesthetiker 


haben  in  dem  Streite 
für  und '  wider  viele 
Federn  stumpf  ge- 
schrieben. Heutzutage 
sehen  wir  an  vielen 
Standbildern,  dass  man 
ganz  gute  Wirkungen 
mit  und  ohne  Mantel 
erzielt  hat.  Auch 
die  Lessingstatue  von 
Rietschel  kann  man 
sich  nimmer  anders 
denken.  Im  Gegen- 
theil  ist  gerade  das 
Kostüm,  das  er  trägt, 
statuarisch  sehr  dank- 
bar und  von  bester 
Wirkung.  In  der  Büste 
wie  im  Standbilde  hat 
Rietschel  des  Mannes 
Geist  glücklich  ausge- 
prägt. Sein  Lessing 
und     R  a  u  c  h '  s     Kant 


M.  Hietsc.hel:  Lessingstatue 


sind  Leistungen ,  in 
denen  einem  mass- 
vollen Realismus  die 
Wege  gewiesen  sind. 
In  einer  anderen 
Aufgabe ,  die  beide 
grosse  Bildner  beschäf- 
tigte, bei  der  Rauch 
zur  Anwendung  des 
Zeitkostümes  sich  nicht 
entschliessen  konnte, 
wiewohl  er  es  des 
öfteren  glücklich  beim 
Friedrichsdenkmal  und 
so  prächtig  bei  seiner 
Kant -Statue  angewen- 
det hat,  ist  Rietschel 
erfolgfreich  mit  seinem 
Prinzip  durchgedrun- 
gen. Dieser  Goethe 
und  vor  Allem  Schiller, 
nach  Rietschel's  Auf- 
fassung ,     wird    Einem 


unter  den  zahlreichen  Statuen  der  beiden  Dichter  immer  sympathisch  erscheinen.  Beim  ersten 
Anblick  des  Doppeldenkmales  werden  wir  uns  sofort  der  Gegensätze  in  der  äusseren  und 
inneren  Erscheinung  der  Beiden  bewusst.  Die  geistige  Majestät  Goethe's  in  der  imponirenden, 
würdevollen  Haltung  des  Welt-  und  Hofmannes,  in  der  schon  ein  Stück  Geheimrath  im  ganzen 
Aeusseren  zur  Geltung  kommt,  und  daneben  die  schlichte  bürgerliche  Erscheinung  Schiller's  in  einem 
Moment,  in  dem  die  Kraft  künstlerischer  Intuition,  die  ihm  die  Brust  weitet  und  hebt,  kommt  hier 
plastisch  zum  Ausdruck.      Auch  der  ominöse  Westenknopf  fehlt  nicht,  der  schon  manchen  ästhetischen 


Polemiker  beschäftigte. 


II   24 


174 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Eine  Schöpfung,  in  welcher  der  ganze 
RIetschel  mit  all'  seiner  Empfindung  zum 
Durchbruch  kam,  ist  auch  seine  letzte  — -  die 
Bekrönung  seines  Lebenswerkes  gewesen! 
Das  Lutherdenkmal  in  Worms.  Ein  Werk, 
das  man  an  den  Anfang  seines  Schaffens 
gestellt  sehen  möchte,  wenn  man  bedenkt, 
was  bei  Rietschel's  Neigung  zu  wahr- 
haftiger Charakterisirung  für  die  Entwicklung 
deutscher  Plastik  hätte  folgen  müssen.  Dass 
er  sich  nicht  über  Hals  und  Kopf  in  einen 
radikalen  Naturalismus,  der  oft  noch  cha- 
rakterloser als  die  klassizistischen  Schemen 
wirkt,  hineingestürzt  hätte,  ist  dieser  Arbeiten 
nach  anzunehmen.  Das  Wormser  Denkmal 
fasst  die  Reformation  in  all'  ihren  geistigen 
Trägern  und  wehrhaften  Stützen  zusammen. 
Gleichsam  eine  Symphonie  in  Erz  und 
Steinen  gedichtet,  deren  Grundmodus  monu- 
mental  in  dem  gewaltigen  Träger  des  Refor- 
mationsgedankens, in  der  Gestalt  des  Luther, 
zum  Ausdruck  gelangt,  der  dasteht  fest  und 
unerschütterlich,  die  Faust  auf  der  Bibel,  als 

der  Mann  der  Ueberzeugung    und  der  That.     Von   Rietschel    selber  rührt   nur  noch   die  Hauptfigur 

her;   als   sie   im   Gipsguss   vollendet   war,    konnte    man   ihr   zu  Füssen   den    todten  Meister  aufbahren. 

Seine  Schüler   haben  das  Werk,    in  das  Rietschel  seine  ganze  Kraft  zu  setzen  gewillt  war,  vollends 

ausgebaut. 


B.  Rietschel:   Das  Standbild   Luthers 


ERNST  JULIUS  HÄHNEL  1811— 1891. 

,  ••  Man  könnte  der  Dresdener  Schule  ganz  gut  ein  Janusgesicht  zudenken,  in  dem  die  eine  Seite 
Rietschel's,  die  andere  Hähnel's  Typus  aufweist.  In  der  That  ist  von  vornherein  eine  gründliche 
Verschiedenheit  beider  Kunstcharaktere  wahrzunehmen.  In  Hähnel's  erster  grosser  Arbeit  kommt 
das  gleich  zum  Ausdruck.  Für  die  Attika  des  Dresdener  Hoftheaters  schuf  er  einen  Bacchuszug, 
eine  Folge  von  Scenen,  in  denen  alle  Grade  bacchischer  Lust  und  Trunkenheit  nicht  mit  ursprünglich 
genialer  Gewalt  (gleich  Ruben'scher  Naturanschauung),  sondern  in  wohlkomponirten  Reliefdarstell- 
ungen, in  dekorativ  wirksamen,  rhythmisch  bewegten  Gruppen  dargestellt  sind.  Oft  liegt  eine  malerische 
Unruhe  in  der  Häufung  der  Körper  und  in  den  Licht-  und  Schattenwirkungen,  die  dadurch  hervor- 
gerufen werden;  hingegen  erreichen  wieder  andere  Partien  des  umfangreichen  Werkes  die  vornehme 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


175 


plastische  Wirkung  des  antiken  Reliefstils.  Man  fühlt  förmlich  das  Anwachsen,  Ausbreiten  und  völlige 
Hineinleben  des  Künstlers  in  eine  Aufgabe,  die  seinem  Empfinden  wohl  am  nächsten  stand,  und  an 
der  er  am  unmittelbarsten  Theil  genommen  zu  haben  scheint.  Pur  die  charakteristische  Darstellung 
bedeutender  Persönlichkeiten,  wie  Michel  Angelo  in  den  biblischen  Gestalten  am  Museum  in  Dresden, 
fehlt  es  ihm  an  Tiefe  der  Auffassung,  an  Durchdringung  der  geistigen  Individualität.  Nicht  selten 
kokettirt  er  mit  einem  Anschein  von  Ernst  und  verfällt  dabei  in  Affektion  und  leere  Pose.  Am 
Besten  gelangen  ihm  Darstellungen  von  andken  Mythen  und  .Stoffe,  bei  denen  er  mit  seiner  lebhaft 
sinnlichen  Phantasie  sich  ganz  der  bildnerischen  Freude  an  der  körperlichen  Erscheinung  und  dem 
Spiele  der  Linien  hingeben  konnte.  So  hat  er,  trotzdem  er  zahlreiche  Schüler  und  Nachahmer 
gefunden  hat ,  einen  Ausdruck ,  einen  Stil ,  in  dem  er  seine  eigenen  Empfindungen  charakteristisch 
ausgesprochen  hätte,  nicht  geschaffen,  in  ihm  zeigt  sich  deutlich  die  Misere  der  deutschen  Plastik, 
die  sich  an  die  Stoff-  und  Formenwelt  aller  grossen  Kunstepochen  anlehnt  und  doch  selten  etwas 
Grosses,  Eigenes  schafft.  Auch  Hähnel  erweist  sich,  ohne  tiefere  Eigenart,  gewandt  darin,  Motive 
des  christlich  romantischen  und  des  klassischen  Kunstideals  in  einem  gefälligen,  sinnlichen  und  darum 
so  allgemein  verständlichen  Schönheitsideal  vorzutragen. 

Rietschel  und  Rauch  standen  in  engem  Verhältniss  zu  ihren  Schülern  und  übten  hauptsächlich 
durch  ihre  Thätigkeit  in  der  Werkstätte  einen  grossen  und  nachhaltigen  Einfluss  aus;  sie  erinnern  hierin 
an  die  Meister  des  Mittelalters.  Die  guten  Folgen  für  die  künstlerische  Bildung  sind  unverkennbar. 
Handwerkliche  Geschicklichkeit  und  künsderische  Tradition  bleibt  so  erhalten.  Mehr  wie  durch 
akademischen  Unterricht  entwickelt  sich  ein  inniges  Verhältniss  zwischen  Meister  und  Schüler  in  der 
Werkstätte.  Die  unmittelbare  Theilnahme  an  dessen 
Schaffen,  die  Uebernahme  eines  Theils  der  Verantwortung 
für  das  Gelintjen  eines  g-rossen  Ganzen,  die  künstlerische 
Freude,  einen  Theil  seines  Selbst  in  dieser  Arbeit  nieder- 
gelegt zu  haben,  erweckt  und  fördert  von  Anfang  an  all' 
die  Erfahrungen ,  Kenntnisse  und  Geschicklichkeiten ,  die 
die  Ausführung  eines  plastischen  Kunstwerkes  bedingen 
und  die  in  der  Schule  nie  erworben  werden  können.  Dem 
Plastiker  thut  Praxis  noth.  Man  kann  dagegen  einwenden, 
Talent  sei  die  Hauptsache  und  wer  künstlerische  Em- 
pfindung besässe,  wird  dieselbe  unter  allen  Umständen 
durchdrücken,  die  Technik  erlernen  und  sich  ihrer  nach 
der  Art  seiner  Empfindung  bedienen.  Wer  aber  weiss, 
dass  die  Bildhauerei  eine  Kunst  ist,  die  gerade  wegen  der 
handwerklichen  Vorbereitungen,  wie  Rauch  sagte,  mit 
Aerger  anfängt  und  mit  Verdruss  aufhört,  dem  sei  wohl- 
gerathen,  wenn  er,  eh'  er  sich  ihrer  bedient,  vorher  die  noth- 
wendigen  Handfertigkeiten    und   Sinn   für    den   praktischen 


E.  Rietschel:  Büste 


lli.. 


is  Rauch 


24* 


176 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Theil  in  einer  Werkstätte  erwirbt.  Mancher  Aufwand  von  Kraft  und  Geduld  ist  erforderlich,  ehe  der 
Plastiker  zur  Ausführung  eines  Werkes  schreiten  kann.  Hat  er  sich  zur  Auffassung  eines  Gegen- 
standes durchgerungen,  so  baut  er  gewöhnlich  nach  einer  kleinen  Skizze  desselben  das  Objekt  in 
beabsichtigter  Grösse  in  nasser  Erde  auf,  ein  Material,  das  wegen  der  Eisengerüste,  die  zum  Tragen 
der  Thonmassen  erforderlich  sind,  nicht  erhalten  werden  kann.  Es  muss  darum  die  Arbeit  in  Gips 
umgeformt  werden,  und  in  diesem  zerbrechlichen  Material,  das  zudem  die  Seele  des  Kunstwerkes  todt 
und  stumpf  erscheinen  lässt,  bleibt  es  zumeist,  wegen  der  Kostspieligkeit  der  Ausführung  grösserer 
plastischer  Werke  in  Stein  und  Bronze.  In  unserer  Zeit,  wem  nicht  gerade  ein  monumentaler  Auftrag 
zufällt,    müsste    eigentlich    die    erste    Sorge    des    unbegüterten    Künstlers    sein,    für    die    Ausführung 


-£.   Hähnel:  Aus  dem  Bacchuszuge 


seiner  Modelle  einen  Gönner  zu  suchen;  im  gewöhnlichen  Falle  beginnt  er  seine  Arbeit  mit  der 
Aussichtslosigkeit  des  Idealisten,  der  strebend  hofft  und  hoffend  strebt.  Trotzdem  produziren  die 
Akademien  fortwährend  junge  Künstler,  ja  unterstützen  vielfach  die  pure  Talentlosigkeit  und  schicken 
sie  anspruchsvoll  in's  Leben  hinaus.  Was  bietet  ihnen  dieses?  Zwar  will  das  Glück  Manchem  wohl, 
während  es  den  Meisten  bei  dem  durch  die  Schule  verschuldeten  Mangel  an  praktischer  Geschicklichkeit 
kaum  das  bescheidenste  Auskommen  gewährt.  Die  auffallende  Erscheinung,  dass  für  die  Ausführung 
künstlerischer  Arbeiten  in  Stein,  Holz  und  Bronze  tüchtige  Kräfte  selten  sind,  wird  wohl  auch  mit 
dieser  akademischen  Erziehung  zusammenhängen.  Schon  zu  Schadow 's  Zeiten  war  den  einheimischen 
Bildhauern  die  Kunst,  den  Stein  zu  formen,  abhanden  gekommen.  Rauch  musste  im  Anfange  seiner 
Thätigkeit  geeignete  Leute  hiefür  aus  Italien   mitbringen,   wie   auch  heute   noch    zumeist  Italiener  als 


^^ 


J.ilia.    SüliÜliiit;  .^culi). 


n...i.  K.  H.iiWsUuii^l,  Miui.l, 


Der  Morg  en 


It.  Sicniering  «ciiTp, 


G  1-'  r  M  1 


m  n  I    in    Le  i  i)z  i  ri 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


177 


am  unterrichtetsten  in  diesem  Fache  gelten.  Auch  dem  Kunsthandwerk  gehen  so  viele  Kräfte  verloren. 
Die  soziale  Stellung  solcher,  die  sich  zur  freien  Entfaltung  ihrer  Kräfte  nicht  durchzuringen  vermochten, 
ist  meist  eine  unglückliche.  Der  eben  erwähnte  Schadow  war  als  Akademiedirektor  bekannt  wegen 
der  strengen  Wahl  in  der  Aufnahme  von  Schülern;  für  gegenwärtige  Verhältnisse  wäre  eine  solche 
wieder  von  Vortheil  für  das  Ansehen  dieser  Kunst. 

Neben  Persönlichkeiten  von  allgemeiner  und  hoher  künstlerischer  Bildung  fehlt  es  unter  den 
Vertretern  der  Plastik  nicht  an  Erscheinungen  von  ärmlicher  Beschränktheit  und  Ignoranz  allen  anderen 
Gebieten  geistigen  Lebens  gegenüber.  Rohheit  der  künstlerischen  Empfindung  gilt  vielfach  als 
künstlerische  Freiheit.  Wirklich  bedeutende,  selbständige  Erscheinungen  sind  selten,  tiefere  Bedeutung, 
seelischen   Ausdruck   weisen   nur  wenige  Werke  auf.      Der    Tross    der  Nachahmer  erfüllt  zumeist  mit 


E,  Häknel:  Leukothea  lehrt  dem  kleinen  Bacchus  das  Tanzen 


ihrer  Waare  die  plastische  Abtheilung  der  Kunstausstellungen,    ihnen  das  sattsam  bekannte  Gepräge 

verleihend.      Diese   Erscheinungen   haben    es   zumeist   zu   Wege   gebracht,    dass   man    der   plastischen 

Kunst  von  heute  so  wenig  Achtung  entgegenbringt. 

Alt  und  Jung,  Gross  und  Klein, 

Grässliches  Gelichter: 

Niemand  will  ein  Schuster  sein, 

Jedermann  ein  Dichter. 

(Goethe) 

Die  unvergleichlichen  Meisterwerke  der  Antike  haben  auf  die  Plastiker  der  klassizistischen 
Periode  einen  unerhörten  Einfluss  ausgeübt.  Sie  begannen  mit  der  mechanischen  Nachahmung  der 
antiken  Formen  ohne  nach  der  Ursache  und  den  Bedingungen  dieser  Ausdrucksweise  zu  forschen 
und  selbe  in  sachlicher  Weise  sich  zurechtzulegen.  Nicht  weniger  als  die  Form  trug  der  gegen- 
ständliche Inhalt  des  Kunstwerkes  und  seine  allgemeine  Bedeutung,  die  es  durch  ihn  für  die  klassisch 


178 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Gebildeten  erhielt,  dazu  bei,  diese  Bewegung  zu  einer  so  umgestaltenden  zu  machen.  Gewiss 
verschuldete  diese  Auffassung  auch,  dass  der  Plastik  ihre  natürlichen  allgemeinen  Aufgaben,  nämlich  als 
eine  monumentale  Raumkunst  zu  wirken,  aus  dem  Gesichtskreis  schwand  und  man  sie  immer  mehr  in 
einsamen  Rundbildern  von  abstrakter  Idealität  verlor.  Die  Antike  wurde  in  dieser  Hinsicht  ganz 
missverstanden,  indem  man  gerade  ihre  Bezugnahme  auf  das  Allgemeine  verkannte,  ihre  Ausdrucks- 
weise nicht  als  eine  harmonische  Kunstanschauung  von  tieferer  Bedeutung  ansah;  denn  die  Antike 
wollte  doch  nichts  als  eine  künstlerische  Auffassung  der  Natur  mit  den  einfachsten  Mitteln  wieder- 
geben. Die  Klassizisten  aber  sahen  in  dieser  Darstellung  unkünstlerischer  Weise  nur  Mittel  zu  dem 
Zweck ,  klassischen  Motiven  Ausdruck  zu  verleihen ;  dass  die  Form  Selbstzweck  sei  und  als  solche 
an  sich  Vorstellungen  erwecke,  das  wurde  nur  Wenigen  aus  Anschauung  der  antiken  Werke  klar. 
Erst  in  unseren  Tagen  hat  Hildebrand  wieder  ausgesprochen:  mit  der  Form  als  Selbstzweck  sei 
eine  Einheit  für  die  künstlerische  Darstellung  gegeben ,  in  welcher  auch  das  persönliche  Empfinden 
ausmünden  und  so  Allgemeingut  werden  kann;  diese  Bedeutung  der  antiken  Kunst  kam  den 
Klassizisten  nur  unklar  zum  Bewusstsein. 

Doch  strebte  in  jener  Zeit  Rauch  im  Sinne  des  antiken  Ideals  die  Verallgemeinerung  indivi- 
dueller Züge  in's  Grosse  an;  er  neigte  daher  weniger  der  beob- 
achtenden, empfindsamen  Seite  seiner  Kunst  zu  als  der  nach 
schöpferischer  Gestaltung  strebenden,  in  der  das  persönliche 
Empfinden  in  monumentalen  Formen  aufgeht. 

Weniger  gross  angelegte  Talente,  die  als  Nachfolger  ängstlich 
beflissen  waren,  in  des  Meisters  Fusstapfen  zu  gehen,  ohne  sein 
Schrittmass  einhalten  zu  können,  seine  künstlerischen  Ideen  zu 
durchdringen  und  sie  neuen  Zielen  zuzuführen,  verfielen  darum 
bald  in  geistioser  Nachahmung  einem  schematischen  Formalismus. 
Besonders  übel  zeigt  sich  das  in  den  Porträts  jener  Zeit,  die  wie 
todtgeboren  erscheinen,  und  denen  wir  nicht  das  geringste  Inter- 
esse mehr  abzugewinnen  vermögen.  Man  wendet  sich  als  Künsder 
nicht  ungestraft  von  der  Natur  ab.  Diese  vornehmste  Seite  der 
modernen  plastischen  Kunst  wieder  zu  neuem  Leben  zu  erwecken 
und  darin  sich  wieder  der  Tradition  anzuschliessen,  war  späteren 
Künstlern  vorbehalten,  die  allerdings  dann  auch  durch  eine  mate- 
riell stoffliche,  sogenannte  «malerische»  Behandlung  unreine  Ele- 
mente in  die  plastische  Darstellung  brachten.  Starkes  individuelles 
Empfinden  bethätigte  auch  Schadow,  der  hierin  noch  ganz  in 
der  Tradition  wurzelte ,  in  anregendem  Verkehr  mit  der  Natur 
stand  und  damit  starkes  Talent  zur  Charakteristik  der  Erschein- 
ungen entwickelte.  In  dieser  Weise  steht  er  Rauchs  Kunst,  die 
Entwurf  zu  einem  Standbilde  Raffaeis  vorzüglich  in's  Grosse,   Allgemeine  geht,  gegenüber.      Auch  durch 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


179 


Rietschel  und  Hähnel  wurde  das  Inhalt- 
liche in  der  Darstellung  immer  mehr  her- 
ausgearbeitet, insbesondere  durch  ersteren, 
der  mit  starkem  Gefühl  für  den  seelischen 
Ausdruck ,  mit  sozusagen  religiösem  Em- 
pfinden begabt  war,  während  Hähnel  sinn- 
lich stoffliches  Empfinden  leitete,  jener  also 
mehr  im  Ausdruck ,  dieser  in  der  Form 
die  plastische  Kunst  weiterzubilden  sich  be- 
strebte; beide  aber  gingen  zu  sehr  in  der 
inhaltlichen  gegenständlichen  Vorstellung  auf, 
ohne  für  ihr  eigenstes  Empfinden  vollkom- 
menen Ausdruck  zu  finden.  So  trug  auch 
das  starke  Einzelempfinden  bei,  die  plastische 
Kunst  aus  ihrem  Zusammenhang  mit  der 
Tradition  zu  reissen,  ohne  sie  im  Sinne  der 
Antike  grossen  allgemeinen  Zielen  zuzu- 
führen. Das  Gefühl,  dass  die  bildnerisch 
monumentalen  Aufgaben  darin  ihre  Lösung 
suchen  müssten,  wenn  anders  sie  auf  die 
Vorstellung  gross  und  erhaben  wirken  sollen, 
leitete  auch  Rauch,  indem  er  sich  mühte, 
dafür  einen  bildnerischen  Ausdruck  zu  suchen, 
den  man  doch  nur  mit  Zuhilfenahme  raum- 
gewaltiger wirksamer  Darstellungsmittel,  mit 
Hilfe  der  Architektur ,  zustande  bringen 
kann.  Wir  bemerken  von  Anfang  an  das  Hereindringen  des  architektonischen  Elementes  in  die 
bildnerische  Gestaltung,  daraus  erwuchs  in  unserer  Zeit,  da  der  Bildhauer  ein  schlechter  Architekt 
und  dieser  ein  oft  mangelhafter  Formverständiger  ist,  ein  Kompromiss,  der  in  den  modernen  Denk- 
malen so  charakterlose  Früchte  zeitigt. 

Auch  die  Werke  der  Nachfolger  Rauch's,  Rietschel's  und  Hähnel's,  als  deren  hervor- 
ragendste Vertreter  in  unserer  Zeit  Siemering  und  Schilling  gelten,  leiden  unter  diesem  Missstand, 
für  den  es  keine  andere  Lösung  gibt,  als  dass  man  sich  die  universelle  Bildung  der  alten  Meister 
aneignet  und  die  reinen  plastischen  Stilgesetze  strikte  befolgt.  Wieder  einmal,  wie  schon  zu  Rauch's 
Zeiten,  wurde  der  Genius  der  vaterländischen  Künstler  durch  die  Thaten  der  Nation  beflügelt,  das 
vornehmste  Streben  Siemering's  und  Schilling's  ist  darauf  gerichtet,  dem  Geiste  jener  Thaten 
bildnerischen  Ausdruck  zu  verleihen;  ihre  stärkste  Triebfeder  ist  also  die  Empfindung,  sie  wollen 
die  idealen  Strömungen  der  Zeit  in  Formen  kleiden. 


R.   Siemeriii^i :  Krieg 


180 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Indem  sie  sich  der  Träger  der  wirklichen  wie  idealen  Stimmungen  im  bildnerischen  Ausdruck 
bemächtigten,  verliehen  sie  ihren  Werken  durch  die  Anziehungskraft  der  dargestellten  Objekte  eine 
Bedeutung,  die  ihnen  im  wirklichen  Falle,  als  künstlerische  Gestaltungen,  nicht  immer  zukommen  würde. 

Diese  Kraft  der  gegenständlichen  Anregung  ist  es  auch,  die  Siemering's  wie  Schilling's 
Darstellung  der  Germania  uns  so  nahe  bringt.  Bei  jenem  ist  es  ein  Heldenweib,  das  kühn  mit  dem 
über  die  Schulter  gelegten  Schwerte  einherschreitet,  voll  Hoheit  des  Geistes  und  weiblicher  Majestät. 
Bei  Schilling's  volksthümlicher  Darstellung  ist  es  das  Hervorheben  des  echt  Weiblichen  im  ganzen 
Ausdrucke  wie  in  jeglicher  Bewegung,  denn  so  wie  sie  mit  freudigem  Stolze  die  Krone,  den  köst- 
lichen Preis,  erhebt,  fraulich  anmuthig  und  stolz  zugleich,  zeigt  sich  darin  das  Ideal  der  deutschen 
Frau,  und  so  ist  diese  Erscheinung  schnell  volksthümlich  geworden  und  hat  in  unzähligen  Abbild- 
ungen ihren  Weg  in's  deutsche  Haus  gefunden. 

Der  Volksstimmung  in  bewegten  Zeiten  beredten  Ausdruck  zu  geben,  ist  auch  Siemering  in 
der  Darstellung  eines  Frieses,  der  den  Sockel  einer  Germania  umgab,  die  zu  Ehren  der  einziehenden 


Truppen  1871  in  Berlin 
aufgestellt  wurde,  ge- 
lungen. Bei  Betrachtung 
solcher  Werke,  in  denen 
die  künstlerische  Empfin- 
dung unmittelbaren  Aus- 
druck findet,  wird  man 
das  Inhaltliche  immer  als 
einen  bedeutenden  Fak- 
tor zur  Beseelung  der 
bildnerischen  Darstellung 
ansehen  müssen,  wie  bei 


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den  Reliefen  zum  Gräfe- 
denkmal  in  Berlin ,  die 
in  der  Art  und  Weise 
altitalienischer  farbig  gla- 
sirter    Terracotta   herge- 


/\   ■y^'^'~^'^£^L\i'\'^>^     stellt  wurden.    Sie  zeigen 
l^i  ■■■*"\  ■  'Ä  Wv-Tr     fr-**  einen  Zup-  von  Kranken. 


einen  Zug  von  Kranken, 
die    zu    dem    berühmten 
'..;J       Augenarzt    pilgern,    und 
einen  Zug  Geheilter,  die 


R.    Siemering  : 
Relief  zum  Einzug  der  siegreichen  Truppen  in  Berlin 


von  ihm  abziehen.  Es 
liegt  auch  ein  entschie- 
denes Verdienst  Siemering's  darin,  bei  der  Monotonie  in  der  Ausführung  unserer  Denkmäler  auf 
diese  wirksame  Technik  hingewiesen  zu  haben. 

Siemering  bewegt  sich  vielfach  in  der  plastisch  unreinen  Art  der  Nachklassizisten,  die  durch 
eine  freiere,  gegenständlich  stoffliche  Behandlung  die  klassizistische  Trockenheit  zu  beleben  suchten. 
Die  Eigenschaften  des  weichen  Thones ,  die  beim  Modelliren  zu  weicher  lockerer  Formbehandlung 
Anlass  geben,  werden  in  der  plastischen  Gestaltung  oft  in  einer  Weise  zum  Vortrag  benützt,  die, 
wie  in  der  Darstellung  eines  Kriegers,  direkt  an  die  Formengebung  des  Barock  erinnert.  Es  liegt 
hierin  eine  Erscheinung  vor,  die  durch  die  ganze  Zeit  geht  und  nicht  zum  wenigsten  durch  die 
Flüchtigkeit  der  Ausführung  in  meist  minderwerthigen  Materialien,  da  die  Werke  vorübergehenden 
dekorativen  Zwecken  dienen  sollen,  bedingt  wird.  Vielleicht  auch  dadurch  veranlasst,  drängt  das 
künstlerische  Empfinden  die  Darstellung  nach  der  stofflich  gegenständlichen  Behandlung  hin,  die  für 
das  Auge  gewisse  Reize  bietet,  oft  aber  eine  Belebung  des  Gegenstandes  auf  Kosten  der  plastischen 
Erscheinung  ist. 


3 

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■Ivtis.  8ohlUiiig  «oiii[>i 


Die  Nacht 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


181 


Auch  in  Schilling's  Werken  wird  uns  das  fühlbar.  In  vielen  seiner  Gruppen  tritt  die  Technik 
des  Modellirens  so  auf,  dass  wir  annehmen  könnten,  sie  wären  Terracotten.  Viel  trägt  zu  dieser 
Behandlung  auch  das  persönliche  Empfinden  bei.  Rhythmus  in  Form  und  Linie  und  ein  weiches 
lyrisches  Empfinden  bilden  die  Grundzüge.  Die  Formen  fliessen  weich  ineinander  und  die  Linien 
runden  sich  anmuthig  zum  Ganzen.  Voll  und  reif  sind  die  Körperformen ,  in  schöngeschwungenen 
Linien  umwallt  und  begrenzt  sie  der  Faltenwurf.  Nirgends  eine  Härte,  kein  eherner  Ausdruck,  alles 
ist  Anmuth,  Hingebung,  liebliches  Empfinden.  Ganz  von  selber  ergibt  sich  daraus  seine  Kunst,  die 
anmuthige,  beseelte  Weiblichkeit  und  holdselige  Kindlichkeit  zu  gestalten.  Gleich  in  seinen  ersten 
Arbeiten,  die  durch  das  Studium  klassischer  Werke  geläutert  und  herangereift  sind,  kommt  seine 
Eigenart    zum    Ausdruck.     Deutsch    romantisches   Fühlen    einigt   sich   mit    klassischer   Form.     In    den 


R.  Siemeriag:   Washington-Denkmal 

Gruppen  «Morgen  Tag,  Abend  Nacht»  ist  der  deutsche  weltweite  und  innige  Idealismus  in  verschiedenen 
Phasen  wiedergegeben. 

Offenbar  sind  diese  Gruppen  unter  starkem  Einflüsse  antiker  und  italienischer  Werke 
entstanden.  Und  wenn  man  heutzutage  so  oft  hört,  eine  Italienreise  sei  nur  mehr  ein  unter- 
geordneter Abschnitt  im  Leben  eines  Künstlers,  so  beweisen  diese  Arbeiten,  wenn  auch  schon  um 
1860  entstanden,  das  Gegentheil.  Trotz  der  inneren  Umkehr  zum  Germanismus  ward  der  Einfluss 
dieser  künstlerisch  befruchtenden  und  belebenden  Schönheitssonne  immer  fortwirken.  Nach  wie  vor 
werden  in  des  Nordländers  Seele,  die  von  ihren  Strahlen  getroffen  wird,  wundersame  Regungen 
erwachen,    werden  Formen    und  Gestalten   seine  Phantasie   bevölkern,    wie   sie   vordem   aus   Eigenem 

nimmermehr  ihm  entgegentraten.     Die  ursprüngliche  schaffende  Kraft   unserer  Phantasie    ergänzt  sich 

n  25 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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R.    Siemeriitff:  Relief  zum   Gräfe-Denkmal  ia  IJerlin 

aus  dieser  für  uns  idealen  Gestaltenwelt.  Der  deutsche  Bildner  hat  wenig  Anlage  und  Neigung,  aus 
den  antiken  Werken  Form  und  Stil  sich  nur  zu  Nutzen  zu  machen,  vielmehr  sind  es  innere 
Beziehungen,  die  ihn  mit  dieser  Welt  der  Schönheit  verknüpfen.  So  sehr  man  auch  von  einer  Seite 
darauf  ausgeht,  die  Wirkung  des  Kunstwerkes  auf  unser  Empfinden  nur  in  der  Harmonie  der  Raum- 
gestaltung anzunehmen,  so  liegt  es  doch  zu  sehr  in  unserer  Eigenart,  auch  darin  eine  Seele  zu 
suchen.  Wir  werden  uns  durch  das  Raumgebilde,  es  mag  formal  noch  so  einnehmend  und  wirkungsvoll 
sein,  nicht  ganz  befriedigt  fühlen,  empfinden  wir  doch  selbst  beim  Anblick  der  Antiken  eine  gewisse 
Kälte,  die  erst  weicht,  wenn  wir  ihre  Formen  mit  unserem  Empfinden  erfüllen. 

Die  plastischen ,  sachlichen  Werthe ,  die  in  diesen  Werken  liegen ,  in  ihrem  ganzen  Umfange 
und  Bedeutung  darzuthun  und  sie  neuerdings  nach  dieser  Seite  hin  wieder  aufzuschliessen,  vollbrachte 
Hildebrand.  Bei  einer  Thätigkeit,  wie  die  der  Bildhauerkunst,  die  gleicherweise  Kräfte  der  Wahr- 
nehmung- wie  Vorstellung:  erheischt,  an  welcher  darum  künstlerische  Intuition  und  sachliche  Ueber- 
legung  gleichen  Antheil  haben,  wird  der  denkende  Künstler,  geleitet  durch  Beobachtung  und 
Erfahrung,  erkennen,  dass  der  künstlerischen  Anschauung  gewisse  Gesetze  zu  Grunde  liegen.  Indem 
er  diesen  nachgeht,  entdeckt  er  zugleich  in  den  vorzüglichsten  Werken  •  alter  und  neuer  Zeit 
dieselben  Grundlagen  und  erkennt  diese  als  die  Ursachen  ihrer  wunderbaren  Wirkung.  Und 
wenn  er  auf  die  Alten  zurückgeht,  führt  er  uns  nicht  gleich  den  Klassizisten  in  den  engen  Kreis 
der  gegenständlichen  Vorstellung  zurück,  sondern  zeigt  uns,  dass  ihre  künstlerischen  Anschauungen 
immer  Giltigkeit  haben  werden,  dass  durch  sie  die  künstlerische  Gabe  für  uns  erst  zubereitet  und 
geniessbar  wird. 

Von  einer  Verwandtschaft  seiner  eigenen  Werke  mit  den  Antiken  und  den  Schöpfungen  der 
Renaissance  kann  nur  insofern  die  Rede  sein,  als  er  jene  in  ähnlicher  Art  wie  diese  künstlerisch 
gestaltet   hat.      Gleich    seinem  Vorgänger  Rauch    ist  ihm    die   Antike    ein   Korrektiv;    er  steht   aber 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


183 


in  einem  noch  innigeren  Verhältniss  zur  Natur  als  dieser  und  bereichert  seine  Kunst  mit  einer  Fülle 
neuer  Formen.  Wenn  jetzt  wieder,  angeregt  durch  diese  Zeitströmung,  Künstler,  wie  Hildebrand, 
sich  mit  erhöhtem  künstlerischen  Interesse  den  Werken  der  Antike  und  Renaissance  zuwenden,  so 
treten  sie  zu  dieser  Kunst  in  viel  nähere  und  lebensvollere  Beziehungen,  als  die  Nachahmer  zu 
Anfang  dieses  Jahrhunderts.  Dieser  Künstler  bringt  uns  in  einen  engeren  Zusammenhang  mit  jener 
Kunst  als  die  Klassizisten ,  und  entfernt  uns  davon  wieder,  indem  er  die  Grundlagen  aller  Kunst 
zeigt,  deren  Besitz  allein  zu  wahrer  Selbständigkeit  führt. 

Hildebrand  entwickelte  seine  Kunst  und  Kunstanschauungen,  die  ihn  in  bewussten  Gegensatz 
zu  den  vielfach  unklaren  modernen  Bestrebungen  bringen,  in  Italien  vorzugsweise  durch  das  Studium 
der   Antike    und   der   italienischen   Renaissance.     Jedenfalls    wurde    er  durch   den    grossen   plastischen 


Schaft    abzulegen 


Stil,  der  ihm  in  jenen 
Werken  entgegentrat,  an- 
geregt ,  sich  in  das  Pro- 
blem der  Form  zu  ver- 
tiefen, das  Prinzip  der 
künstlerischen  Gestaltung- 
jener  Werke  zu  erfor- 
schen und  sich  selber 
über  die  Natur  des  künst- 
lerischen Sehens  Rechen- 
Aus 

diesen  Studien  heraus  er- 
wuchs ihm  die  Anschau- 
ung, dass  das  künstler- 
ische Prinzip  auf  den  Kopf 
gestellt  worden  sei,  indem 
seine  Existenz  nicht  in 
der  künstlerischen  Fass- 
ung vom  Räume  ange- 
nommen werde,  sondern 
in  einem  persönlichen  In- 
halte, den  der  Künstler 
selbst  hineinlegt.  Nicht 
durch  formale  Gestalt- 
ung, nicht  durch  künstler- 


ische Zubereitung  sollen 
Empfindungen  und  Vor- 
stellungen im  Beschauer 
hervorgerufen ,  sondern 
durch  eine  möglichst  ge- 
treue Wiedergabe  einer 
natürlichen  Bewegung  und 
Ausdruckgeste  dieselben 
veranlasst  werden. 

Hildebrand  bemerkt, 
dass  die  werthvollste 
Eigenschaft  des  Kunst- 
werkes, seine  eigentliche 
bildende,  die  Phantasie 
anregende  Kraft,  die  ihm 
als  Darstellung  von  Raum 
und  Form  innewohnt, 
durch  das  Unterschieben 
persönlicher  Vorstellun- 
gen im  Ausdrucke  un- 
klar werde  und  den  Be- 
schauer, der  in  der 
Bildung  der  eigenen 
Vorstellung  beeinträch- 
tigt wird,  nicht  befriedigt. 
Hildebrand  vertritt  mit  dieser  Anschauung  nachdrücklich  den  Standpunkt,  den  die  Tradition 
und  der  natürliche  Wirkungskreis  den  Künsten  und  besonders  der  Plastik  anweisen,  nämlich  nach 
Art    der    antiken    Bildwerke    möglichst    einfache    klare    Wirkungen    hervorzubringen    und    damit    der 

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5^.  Sc/ii/liiii'- :  Der  Krieg.  Statue  am  Niederxvakl-Ucnkmal 


184 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Bethätigung  der  Phantasie ,  dem  Vorstellungsvermögen  auch  auf  die  einfachste  Art  und  Weise  zu 
genügen.  Er  fasst  die  Wirkung  des  Kunstwerkes  als  eine  Folge  seiner  künstlerischen  Fassung  vom 
Räume  auf  und  hält  die  Selbständigkeit  der  künstlerischen  Schöpfung,  als  eines  Gebildes,  das  nach 
organischen  Gesetzen  für  sich  besteht,  gegenüber  dem  Inhalte,  der  ihm  vom  Künstler  zugelegt  wird, 
aufrecht.  Nicht  das  Motiv  oder  die  Handlung  will  er  als  Quelle  der  ästhetischen  Anregung  angesehen 
wissen,  sondern  die  Form  als  künstlerische  Gestaltung  des  Raumes.  Daher  bezeichnet  er  diese  als 
Grundelement  der  bildnerischen  Darstellung,  und  die  Belebung  der  F"orm  durch  das  subjektive 
Empfinden  als  eine  später  daraus  erwachsene  Erweiterung  des  Darstellungsvermögens.  Dass  diese 
Prinzipien,  die  früher  durch  die  Tradition  von  Werkstätte  auf  Werkstätte  vererbt  wurden,  so  gänzlich 
vernachlässigt  und  sogar  theilweise  verloren  scheinen,    beklagt  er,    indem  er  sagt:     «Vergleichen  wir 

nach  all'  diesem  die  frühere  Zeit  mit  der  unserigen, 
so  ist  es  eine  zweifellose  Thatsache ,  dass  die 
Logik  der  anschaulichen  Vorstellungen  weit  höher 
entwickelt  war,  und  dass  darin  das  Uebergewicht 
der  früheren  Zeit  in  der  bildenden  Kunst  be- 
gründet ist.« 

Indem  er  in  seinem  Buche,  «Das  Problem 
der  Form»,  sich  bemüht,  die  Grundbegriffe  des 
künstlerischen  Sehens  festzustellen,  alle  die  ein- 
zelnen Faktoren  anzuführen,  die  die  künstlerischen 
Anschauungen  und  Vorstellungen  hervorrufen,  und 
indem  er  versucht,  das  Wesen  derselben  klarzu- 
legen, bleibt  sein  Blick  doch  immer  auf  das  Grosse, 
das  Ganze  oenchtet,  er  dozirt  nicht  wie  ein  über- 
eifrieer  Gelehrter,  der  vor  lauter  Bäumen  den 
Wald  nicht  sieht,  sondern  wie  ein  Mann,  der  die 
Sachlage  klar  vor  Äugten  hat  und  sie  darum  auch 
andern  klarmachen  will. 
Der  gedankenreiche  Inhalt  des  Büchleins  enthält  auch  ein  Kapitel  über  die  Form  als  Funktions- 
ausdruck, damit  bezeichnet  der  Verfasser  das  Vermögen,  durch  die  Form  körperliche  und  seeliche 
Empfindungen  auszudrücken,  und  da  diese  bei  ihm  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen,  nämlich 
wenn  die  persönliche  Empfindung  des  Künstlers  nicht  Selbstzweck  ist  und  sich  den  Gesetzen  der 
künstlerischen  Gestaltung  unterordnet,  so  wird  er  mit  diesem  Theil  seiner  Ausführungen  unter  den 
Künstlern,  die  von  starkem  persönlichen  Empfinden  beherrscht  werden,  Anstoss  und  Widerspruch 
erregen.  Diese  werden  ein  Kunstwerk  nicht  als  die  Folge  logischer  Vorstellungen  sich  denken 
können,  indem  man  es  nicht  wie  ein  wissenschaftliches  Werk  mit  dem  Verstände  untersucht  und 
begreift,  sondern  als  ein  Ganzes,  das  aus  innigem  Naturempfinden  heraus  entstanden,  mit  empfin- 
dender  Seele   wahrzunehmen   sei.     Sie    werden    auf   sein    eigenes    künstlerisches    Schaffen    hinweisen, 


y.  Schilling-:  Kriegerdenkmal  in  Hamburg 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


185 


auf  alle  jene  Werke,  in  denen  das  freie  künstlerische  Empfinden,  ja  selbst  sensible  Stimmungen  die 
prächtigsten  und  ausdrucksvollsten  Formen  angenommen  haben. 

Hildebrand  verkennt  auch  keineswegs  die  Berechtigung,  den  grossen  Antheil,  den  die  Em- 
pfindung am  Entstehen  des  Kunstwerkes  hat;  er  weiss  wohl,  dass  sie  es  ist,  die  die  Beziehungen 
zum  Leben  und  zur  Natur  vermittelt,  das  Kunstwerk  mit  reichem  Lebensgefühle  durchdringt  und 
ihm  erhöhten  Ausdruck  verleiht.  Er  erkennt  aber  auch  klar  in  dem  Vorherrschen  persönlicher 
Empfindungen,  in  der  subjektiven  Willkür  die  Gefahr,  welche  der  künstlerischen,  vorwegs  der 
plastischen  Darstellung  droht.  Der  Wahrheit,  der  nackten  Wirklichkeit,  stellt  er  die  höhere  Einheit 
des  geläuterten  Kunstwerkes  gegenüber.  Er  sucht,  von  objektiver  Anschauung  getragen,  das 
Bleibende,  das  wahrhaft  Bestehende  aus  der  flüchtigen  Erscheinung  der  Dinge  loszulösen  und  es  in 
idealer  Darstellung  zu  befestigen.  Je  mehr  es  dem 
Künstler  gelingt,  solche  Momente  aus  der  zeitlichen 
Erscheinung  herauszuarbeiten,  desto  grösseren  Werth 
wird  sein  Werk  besitzen,  es  sei  nun  aus  der  harmo- 
nischen Empfindung  herausgeschaffen  oder  mit  ziel- 
bewusstem  starken  Willen  zur  Darstellung  gebracht. 
Hildebrand  hat  versucht,  sein  Problem  der 
künstlerischen  Darstellung  aus  den  natürlichen  Ge- 
setzen der  Wahrnehmung  und  Vorstellung  abzuleiten 
und  diesen  Prozess  mit  der  Darstellung  selber,  mit 
der  bildnerischen  Thätigkeit  in  Stein,  aufs  Engste 
zu  verknüpfen.  Sein  Problem  der  Form  muss  als 
eine  sehr  werthvolle  Kundgebung  bezeichnet  werden, 
die  auf  der  Tradition  fusst  und  durch  eine  unbe- 
dingte Sachlichkeit  sich  auszeichnet,  wenngleich 
gerade  die  Gesetzmässigkeit  des  Aufbaues  dem 
Künsder  oft  befremdlich  scheint.  Wie  förderlich 
aber  auch    der  künstlerischen   Arbeit  das   logische 

künstlerische  Denken  sein  kann,  und  wie  die  feinste  künstlerische  Empfindung  sich  darum  unge- 
hindert an  der  Arbeit  betheiligt,  zeigen  viele  vortreffliche  Werke  dieses  Bildhauers,  den  die  engere 
Künstlergemeinde  für  den  Wolf  in  der  Heerdc  hält. 

Wir  müssen  uns  Hildebrand's  Kunst  als  eine,  die  in  der  Gestaltung  in's  räumlich  Grosse 
geht,  vorstellen,  die  monumentale  Wirkungen  hervorzubringen  sucht,  indem  sie  sich  aufs  Innigste  mit 
der  Architektur  verbindet,  und  als  eine  Kunst,  die  im  begrenzten  Räume,  im  plastischen  Bildwerk, 
eine  Fülle  des  Lebens  entfaltet  und  die  feinsten  Empfindungen  hervorzurufen  weiss.  Wenn  wir 
von  dieser  zu  jener  fortschreiten,  wird  uns  seine  künstlerische  Eigenart,  die  vielfachen  Beziehungen 
seiner  verschiedenen  Kräfte  zu  einander  vertrauter  werden.  Hildebrand,  der  Bildhauer,  verfolgt  in 
manchen  seiner  plastischen  Arbeiten  genau  die  Ziele,  die  er  in  seinem  Problem  der  Form  ausgesteckt 


y.  Sciilltng':  Kriegerdenkmal  in  Hamburg 


186 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


e^S 


hat,  so  dass  wir. eine  Darstellung  wie  «Der  Kugelspieler«  als  ein  Beispiel  und  Vorbild  dafür  annehmen 
können.  Es  zeigt  sich  hierin  auch  die  A^orliebe  des  Plastikers  für  die  Darstellung  des  nackten  Körpers, 
und  wie  die  antiken  Bildner  in  solcher  Darstellung  sich  nie  genug  thun  konnten,  so  sehen  wir  auch 
die  Plastiker  späterer  Zeiten  sich  begeistert  der  Darstellung  des  Nackten  zuwenden,  das  als  das 
erstrebenswertheste  Ziel,  als  Prüfstein  alles  künstlerischen  Könnens  immer  Geltung  haben  wird.  Mag 
hier  in  diesem  Falle  die  Beobachtung  eines  kugelwerfenden  Jünglings  die  Anregung  zu  der  Schöpfung 
gegeben  haben,  oder  das  Motiv  eine  freie  Erfindung  des  Künstlers  sein,  das  spielt  hier  weiters  keine 
Rolle.  Dem  Künstler  war  es  jedenfalls  darum  zu  thun,  uns  die  Schönheit  eines  nackten  jugendlichen 
Körpers  in  einem  für  das  Auge  wohlgeordneten  Bilde  darzustellen.  Sein  Anblick  gewährt  dem 
Schauenden  ähnliche  Freude,  wie  die  klare  ruhige  Schönheit  einer  griechischen  Statue.  Mit  plastischer 
Anschaulichkeit  ist  die  Bewegung  des  Körpers  festgehalten,  die  Figur  bietet  eine  bestimmte  Ansicht, 
wirkt  seitwärts  gesehen  von  der  P'erne  wie  ein  Hochrelief  und  erinnert  darin  im  Prinzip  an  die 
griechischen  Plastiken.  Deutlich  hilft  uns  diese  Figur  auch  den  Vorgang  des  freien  Herausbildens 
aus  dem  Stein  zu  ver- 
gegenwärtigen, so  wie  ihn 
der  Künstler  geschildert 
hat.  Er  geht  von  einer 
Bildvorstellung  aus  (wie 
er  auch  behauptet,  dass 
die  Plastik  aus  der  Zeich- 
nung entstanden  wäre),  er 
zeichnet  eine  klare  be- 
stimmte Ansicht  der  Figur, 
sagen  wir,  die  als  Haupt- 
ansicht zu  gelten  hat,  auf 


die  Steinfläche.    Nachdem 
er  diese  Fläche   bestimmt 


hat. 


unc 


zwar    so , 


dass 


'y.   Schilling:  Schwanenmädchen 


der  vorhandene  Block  nach 
jeder  Richtung  hin  mög- 
lichst ausgenützt  und  für 
die  Anlage  des  Bildes  ver- 
werthet  werde,  löst  er  das 
Bild  Schichte  um  Schichte 
vom  Steinraum  los,  dass 
alle  Punkte,  die  in  gleicher 
Fläche  liegen,  gleichmässig 

vom  Stein  auch  befreit  werden;  so  rückt  das  Bild  immer  als  ein  einheitliches  Flächenbild  etappen- 
weise vor,  und  es  ergibt  sich  so  ein  Darstellungsprozess ,  der  der  Vorstellung  ungemein  zusagt, 
diese  schreitet  sozusagen  immer  gleicherweise  mit  der  Arbeit  fort.  Ein  sehr  anschaulich  gedachtes 
Bild  davon  entwirft  Michel  Angelo,  er  sagt:  «Man  müsse  sich  das  Bild  (ein  plastisches  natürlich) 
wie  im  Wasser  Hegend  vorstellen,  welches  man  allmählich  immer  mehr  ablässt,  so  dass  die  Figur 
immer  mehr  an  die  Oberfläche  tritt,  bis  sie  eanz.  freilieet.» 

Auch  die  historische  Entwicklung  der  Plastik  lässt  auf  den  gleichen  Entstehungsprozess  schliessen, 
zeigen  doch  die  ägyptischen  Bildwerke,  der  Reliefanschauung  gemäss,  zuerst  nur  eine  vertiefte 
Zeichnung  und  dann  im  weiteren  Fortschreiten  und  Entwickeln  des  bildnerischen  Sinnes  alle  Phasen 
des  aus  dem  Steine  Herausbildens,  und  bis  zuletzt  haftet  ihnen  noch  sozusagen  die  letzte  Vorstellungs- 
schichte hinten  an,  gleich  einer  Schale,  in  der  das  noch  unentwickelte  Leben  der  Form  schlummert. 
Nach  Hildebrand's  Ansicht  ist  die  Thätigkeit  des  freien  Herausbildens  aus  dem  Stein  eine 
wahrhaft  bildnerische  und  zugleich  auch  die,    welche  der  künsderischen  Vorstellung,   weil   ihr  analog. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


187 


am  zusagendsten  ist;  die  künstlerische  Raumgestaltung  wird  hier  in  natürlichster  Weise  gleich  vor  ihre 
eigentliche  Aufgabe  gestellt,  und  das  künstlerische  Gebilde,  das  so  aus  dem  gegebenen  Räume,  dem 
Stein,  erwächst,  wird  uns  im  vollsten  Masse  auch  als  Raumgebilde  ästhetisch  befriedigen. 

Hildebrand  wirft,  indem  er  von  den  Vortheilen  dieser  Technik  spricht,  einen  missbilligenden 
Seitenblick  auf  das  Modelliren  in  Thon,  wenn  er  auch  zugibt,  dass  dasselbe  für  den  Lernenden,  «den 
Formensucher»,  das  tauglichste  Material  bleibe.  Er  sagt  unter  Anderem:  «Wenn  wir  bedenken,  dass 
unsere  Phantasie  mit  dem  Darstellungsakt  sich  formt,  so  lässt  sich  leicht  erkennen,  wie  verschieden  das 
freie  Aushauen  aus  dem  Stein  auf  die  Phantasie  wirken  muss,  im  Gegensatz  zum  Modelliren  in  Thon». 
Und  hauptsächlich  ist  ihm  dabei  wichtig,  dass  beim  Modelliren  kein  Anlass  zur  Raumvorstellung,  wie 
es  der  Steinkörper  biete,  vorhanden  ist.  Indem  man  ein  P2isengerüst  mit  Thon  bekleidet  und  so  nach 
und  nach  zu  einem  Bilde  ent- 
wickelt, gehe  man  nicht  von  einer 
im  allgemeinen  gegebenen  Raum- 
vorstellung aus,  sondern  von  einer 
nur  gegenständlichen,  sagen  wir, 
das  echt  bildnerische  Prinzip  der 
Raumgestaltung  kommt  dabei  we- 
niger  in  Betracht,  weil  keine  be- 
stimmende Anre*^uno-  dazu  pfe- 
geben  wird. 

Man  merkt  dieses  Fehlen  der 
Raumvorstellung  am  besten,  wenn 
modellirte  Gruppen  in  Stein  über- 
tragen werden,  der  Unterschied 
gegen  die,  welche  vom  Künstler  in 
Stein  gedacht  und  gedichtet  sind, 
ist  in  der  That  ein  auffallender. 
Die  Hildebrand 'sehen  Steinbilder 
erwecken  das  Gefühl ,  als  hätten 
sie  sich  im  Stein  entwickelt,  wären 
darin  gewachsen  und  hätten  sich  im 
vorhandenen   Räume   ausgebreitet. 

Es  ist  natürlich,  dass  es  nur 
eines  Hinweises  und  Vorbildes 
eines    solchen    Meisters    bedurfte, 

um  viele  Irrende  und  Lernbegierige  auf  einen  Weg  zu  führen,  an  dessen  Ende  als  erstrebenswerthes 
Ziel  die  hohe  Kunst  der  Alten  einladend  winkte.  Mit  Lust  und  Eifer  stürzten  sich  Viele  in  eine 
hastende    Thätigkeit;    den    Stein    zu  bearbeiten,    das   harte  Material   zu   bewältigen,    es   bildsam    und 


A.  lii/ilebrand:  Hiitenknabe 


188 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


gefügig  machen  zu  können,  galt  Vielen  als  eine  Hauptsache ,  und  es  wurde  anfänglich  gar  nicht 
darauf  geachtet,  dass  auch  hier  nur  die  Hand  am  besten  durch  ein  feines  Gefühl  für  Form  und 
Ausdruck  zu  guten  Werken  geleitet  werde. 

Der  Meister,  der  zu  solchem  Thun  und  Treiben  Anlass  gab,  hätte  allerdings  auch  hierin  am 
besten  zum  Vorbilde  pfenommen  werden   können. 

Ein  Künstler,  wie  Hildebrand,  der  vorwiegend  von  objektiven  künsderischen  Anschauungen 
geleitet  wird,  der  mit  Zielbewusstsein  ein  Bild  aus  der  Natur  künstlerisch  zu  gestalten  weiss,  der  wird 
jeden  Eindruck,  den  er  daraus  entnimmt,  diesem  künstlerischen  Gestaltungsprozesse  zuerst  unter- 
werfen und  in  grossen  Zügen  das  Geschaute  wiedergeben,  sein  Objekt  vor  Allem  auf  die  Werthe 
der  plastischen  Erscheinung  hin  prüfen    und  diese,    ohne  Rücksicht   auf  einen    besonderen  Ausdruck, 


zur  Darstellung  bringen.  Hilde- 
brand  neigt  mehr  nach  der 
schöpferisch  gestaltenden  Seite 
seiner  Kunst,  als  nach  der  beob- 
achtenden, Viele  seiner  Porträt- 
büsten sind  ähnlich  den  Antiken 
aufgefasst,  und  die  Auffassung  gibt 
wenig  Acht  auf  das  Besondere 
des  Persönlichen,  gibt  weniger  eine 
Charakteristik  des  Wesens  der 
Dargestellten  als  nur  eine  getreue 
typische  Wiedergabe  seiner  Züge. 
Bei  dieser  streng  sachlichen  Weise, 
die  vor  Allem  bestrebt  ist,  formal 
richtig  und  plastisch  wirksam  zu 
sein,  werden  aber  wieder  manche 
Merkmale  innerlichen  Lebens,  die 


als  pure  Form  nur  wenig  wirken, 
übergangen;  in  solchen  liegt  aber 
oft  wiederum  gerade  das  Leben- 
dige ,  Packende ,  Tiefcharakter- 
istische einer  Erscheinung.  Viele 
von  Hildebrand 's  Büsten  wirken 
darum  auch  völlig  objektiv  auf  den 
Beschauer.  Wir  verstehen  voll- 
kommen ihre  Bedeutung,  wenn  sie 
in  der  Verbindung  mit  architek- 
tonischen Gliedern,  als  Hermen  in 
einer  monumentalen  Gedächtniss- 
halle Aufstellung  finden  würden. 
Und  doch  ist  diese  Art  wieder 
nur  eine  Spielart  des  künstlerischen 
Schaffens  dieses  merkwürdigen 
Mannes;  wir  begegnen  auch  auf 
diesem  Gebiete  verblüffenden  Ausnahmen  und  sehen  ihn  in  einem  stets  wechselnden  Verhältnisse 
seiner  Auffassung  zur  Natur  stehen,  je  nachdem  er's  für  seinen  bestimmten  Zweck  angemessen 
erachtet.  So  zeigt  er  uns  in  der  Büste  einer  alten  Dame  eine  Feinheit  der  Naturauffassung,  ein  so 
lebendiges  Empfinden  und  Durchbilden  der  plastischen  Form,  dass  er  auch  hierin  unter  den  modernen 
Werken  nicht  viele  seinesgleichen  hat  und  den  Meistern  der  Renaissance  direkt  an  die  Seite  gestellt 
werden  darf.  In  den  Bildnissbüsten  jener  Zeit  strebte  auch  eine  solche  F"einheit  der  Beobachtung 
des  Lebens  und  ein  so  inniges  Formengefühl  nach  Ausdruck.  Die  Büste  der  alten  Dame,  die  ganz 
absichtslos,  wie  in  gewohnter  Bewegung  die  Hände  über  der  Taille  ineinandergefaltet  hält,  könnte  so 
wie  sie  sich  zeigt,  auch   ganz  gut  von  Donatello  herrühren. 

Mit  ebensolcher  Innigkeit  des  Ausdruckes   konzentrirter  Empfindung    hat  er  auch   die  Bronce- 
figur  eines  den  Saft  der  Traube  aus  einer  Schale  schlürfenden  Knaben  eebildet. 


A.  Hildebrand:  Der  Flötenspieler 


l'hot.  r.  HsafaUeugi,  UDnohcu 


Beethoven 


Kram  Stuck  HOtiI|i 


Die   A  in  ;  I  /  o  n  . 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


189 


Hier  zeigt  er  sich  der  letzten  und  höchsten  Ausdrucksniittel  seiner  Kunst,  einen  Moment 
reiner  Empfindungsthätigkeit  darzustellen,  vollkommen  mächtig,  er  versteht  es,  die  P'orm  als  Funktions- 
ausdruck, wie  er  es  nennt,  mit  kräftigem  Lebensgefühl  zu  durchdringen  und  plastisch  vollkommen  zu 
gestalten.  Der  Knabe,  der  aus  einer  Schale  den  Saft  der  Traube  schlürft,  während  er  eine  andere 
noch  begierig  an  sich  hält,  gibt  sich  ganz  der  köstlichen  Empfindung  der  Stillung  des  Durstes  hin;  von 
dieser  Empfindung  wird  die  ganze  Bewegung  des  jugendlichen  Körpers  beherrscht,  der  mit  all'  seinen 
charakteristischen  Merkmalen  aus  der  Natur  getreulich  wahrgenommen  und  gebildet  ist.  In  seiner 
Behandlung  als  Broncebild  ist  er  mustergriltig^. 

Mit  ähnlichen  künstlerischen  Sinnen  haben  die  Meister  der  Renaissance  die  Natur  erfasst,  hat 


y.   Schilling:  Relief  vom  Niederwald-Denkmal 


Donatello  in  verschiedenen  Darstellungen  des  jugendlichen  Johannes  ähnlich  ursprünglich  empfundene 
Bildwerke,  nur  noch  ursprünglicher  und  naiver  zum  Ausdruck  gebracht. 

Eine  köstliche  Idylle  hat  der  Meister  in  dem  Bilde  eines  schlafenden  Hirtenknaben  mit 
bildnerischer  Energie  aus  einem  Marmorblocke  erstehen  lassen.  Auf  seinem  erhöhten  Wächtersitze 
ist  er  eingeschlafen,  und  ungezwungen  ruhen  die  jugendlichen  Glieder  aus.  Es  ist  der  tiefe,  friedsame 
Schlaf,  wie  er  die  Jugend  umfängt,  und  das  Gesicht  des  Knaben  spiegelt  eine  heitere,  ruhige  Seele 
wieder,  ohne  jeglichen  Zwang  oder  Trübung. 

Auch  in  diesem  Bilde  ofi'enbart  sich  des  Künstlers  Vermögen,  feine  und  feinste  Empfindungen 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  und  wir  bemerken  nicht  ohne  Ueberraschung,  wie  der  Mann  des  strengen 
Willens  und  bildnerischer  Energie,  der  nach  den  tiefsten  Gesetzen  der  künstlerischen  Gestaltung 
eifrig  forscht,   der   künstlerische   Disziplinen  übt,  der  mit  dem  Senkblei  und  Richtscheit  in  der  Hand 

II  26 


190 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


prüfend  in  seiner  Werkstätte  einhergeht,  auf  dass  auch  alles  nach  der  rechten  Seite  gefügt  und 
geformt  werde,  wenn  derselbe  Mann  sich  mit  voller  Inbrunst  künstlerischen  Empfindungen  hingibt 
und  mit  Liebe  auch  das  Zartgefühlte  ausführt.  Und  der  denkende  Künstler,  der  so  fühlt,  erkennt 
die  grosse  Gefahr,  die  in  dem  Vorwalten  der  Empfindung  für  die  formale  künstlerische  Gestaltung 
liegt,  und  indem  er  sich  derselben  bewusst  ist,  mahnt  er,  das  dunkle  Gebiet  achtsam  zu  betreten  und 
sich  vor  allem  über  die  Darstellung  als  ein  künstlerisches  Gebilde  für  sich  Klarheit  zu  verschaffen, 
ehe  man  sich  dem  Ausdruck  der  Empfindung  überlässt. 

Mit  all'  der  Klarheit  und  Gründlichkeit,  die  Hildebrand's  Schaffen,  seine  theoretischen  Beob- 
achtungen und  Ausführungen  auszeichnen,  hat  er  auch  die  Grundlagen  des  Reliefs  klargelegt  und 
von  der  griechischen  Reliefdarstellung  abgeleitet.  Dieses  stellt  er  als  Grundform  dar,  gegenüber  den 
späteren  und  jetzigen  Bestrebungen,  die  seine  ursprüngliche  Gestalt  entstellen.  Der  gewöhnlichen 
Anschauunpf  ist  das  Wesen  des  Reliefs  von  Münzen  am  oreläufifjsten ,  und  eine  weitverbreitete  Vor- 
Stellung  sieht  im  Hochrelief  nur  einen  Durchschnitt  von  einem  runden  Körper.  Das  Relief  ist  aber 
etwas     ganz    anderes,  strebt    in  ^  der    Fläche 

es  ist  eine  Formel  des  ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^_  sich    auszubreiten   und 

Sehens  ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^|  zu  machen» 

uns  er-  ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^M  das 

das  ^^^^^^^^r^  ^^^^^^^^^^H  Einheit 

liehe  einheit-  ^^^^^^^T  ^^^^^^^H  lerische  Darstellung,  es 

liehen    Bildfläche    dar-  ^^^^^H  ^^^^^^H  ihr     harmonischer 

gestellt  zu  sehen;  das  ^^^^^^A      'TH0f0   %Mlht         ^^^^^^^|  Ausdruck.      «Es 

Auge  empfängt  hiemit  ^^^^^^^|  y       .  ^^^^^^^H  uns  sicheres 

die  Wohlthat   der   ge-  ^^^^^■1  ^%  ^^^^^^H  Verhältniss   als  Schau- 

einten     Wahrnehmung  ^^^^^^H  ■■         ^^^^^^^^ä  ende   zur  Natur.      Die 

der  Höhe,  Breite  und  ^^^^^^^^  ^^^^^^^^H  allgemeinen      Gesetze 

Tiefe.     Es  wirkt,    wie  ^^^^^  ^^^^^B  unseres     Verhältnisses 

Hildebrand    im    Bei-  ^H  "^^fe»,«^  ^^|  zum   sichtbaren   Raum 

spiel   anführt,   wie   ein  ^^|  ^^M  werden    durch    sie    in 

Körper,    der   zwischen  ^H  ^^1  der    Kunst    erst    fest- 

zwei    Glasplatten    sich  ^H  ^H  gehalten,     und     durch 

ausbreitet,      so      dass  ^H  ^H  sie  wird  die  Natur  erst 

man    von     ihm     einen  ^^|  ^^|  für     unsere     Gesichts- 

vollständigen    Bildein-  ^H  ^H  Vorstellung  geschaffen, 

druck   gewinnt.      «Die  ^H  ^H  So    formt   sich   gleich- 

sozusagen  ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^H  sam  Vorstell- 

^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^■^^^^^^^1  das  Gefäss, 

gleichem    Tiefen-  S^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^H^^H  das     der    Künsder 

masse,  und  jede  Form  A. //i/dedraad:  Porträt  gleichsam     die     Natur 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


191 


schöpft  und  fasst.»  — 
Die  Bedeutung  der 
Reliefauffassung  für  die 
künstlerische  Darstell- 
ung überhaupt  lässt  sich 
am  besten  mit  Hilde- 
brand's  Worten  im 
Folgenden  erläutern. 

«Wenn  wir  in  un- 
serer Zeit  so  häufiof  die 
Beobachtung  machen, 
dass  Vorstellungen  von 
Vorgängen  anstatt  in 
Reliefdarstellung  ihren 
natürlichen  Ausdruck 
zu  finden,  barbarischer 
Weise  als  Rundplastik 
zur  Darstellung  kom- 
men, so  hängt  das 
zum  Theil  damit  zu- 
sammen, dass  zu  Re- 
lief- Darstellungen  fast 
gar  keine  Gelegenheit 
mehr  gegeben  ist. 
Denken  wir  an  die 
vielen  Denkmäler,  an 
Kirchenwände  und  an- 
dere   Bauten    sich    an- 


A.  Hildebfand:  Trinkender  Knabe 


lehnend,  an  Tempel, 
Triumphbögen  etc.,  wie 
sie  frühere  Zeiten  zei- 
gen, so  ist  diese  Pla- 
stik viel  reicher  als 
die  freistehende  Rund- 
plastik. Heutzutage  ist 
diese  ganze  Plastik 
nahezu  ausgestorben, 
unter  Plastik  denkt  sich 
der  moderne  Mensch 
nur  noch  runde  Fi- 
guren, die  in  der 
Mitte  eines  Platzes 
stehen.  Diese  unglück- 
lichen Monumente  sind 
fast  die  einzige  Bühne, 
auf  der  der  Bildhauer 
seine  Phantasie  aus- 
leben darf,  und  indem 
er  seine  Idee  nicht 
opfern  will ,  kommt 
er  zu  einer  künstler- 
isch unmöglichen  Form. 
Dass  dem  so  ist,  ist 
wohl  dem  Umstände 
zuzuschreiben,  dass  die 
künstlerische  Form  für 


eine  solche  Aufgabe  von  Laien,  den  sogenannten  Comite's,  vorgeschrieben  wird,  anstatt  dass  gerade 
in  dieser  Gestaltung  die  wichtigste  Arbeit  des  Künstlers  gesehen  wird.  Es  ist  das  ein  unglaublicher 
Zustand.  Was  würde  man  sagen,  wenn  einem  Dichter  oder  Musiker  nur  eine  Form  für  die  künst- 
lerische Konzeption  vorgeschrieben  würde  und  man  ihm  nur  erlaubte,  in  die  vorgeschriebenen  Scenen 
sogenannte  Motive  einzufügen!  —  Welche  unsägliche  Armuth,  welch'  ewiges  Einerlei  zeigen  desshalb 
die  heutigen  Monumente!  Wenn  man  die  Anzahl  von  Standbildern,  die  in  den  letzten  20  Jahren 
in  Europa  erstanden  sind,  nebeneinander  stellen  würde,  —  welche  Masse  von  Plastik,  die  sich 
abmüht,  irgend  etwas  Neues  zu  geben,  und  sich  in  dem  Bann  der  isolirten  Rundplastik  unglücklich 
krümmt    und  windet,    weil  ihr  jeder  Anschluss  an  Architektur,  an  irgend  eine  Situation  verboten  ist. 

Das,   was  aber  der  Kunst  immer  neues 

26* 


wie    in   Einzelhaft   verbannt  —  die   reine  Sträflingsarbeit! 


192 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Leben  zuführt  und  sie  immer  freudig  macht,  ist  die  neue  Situation.  Die  gegebene  Natursituation 
zu  einer  künstlerischen  Gestalt  weiter  zu  formen ,  führt  immer  zu  Neuem  innerhalb  der  künstler- 
ischen Gesetze.» 

In  der  klassizistischen  Zeit  sind  da  und  dort  schüchterne  Versuche  gemacht  worden,  die 
Schönheit  des  Reliefstiles  an  Hausfagaden,  in  Darstellungen  des  betreffenden  Handels  oder  Gewerbes 
des  Hausvaters,  wieder  zur  Anwendung  und  Geltung  zu  bringen,  allein  die  moderne  Bauart  der 
Häuser,  die  fortwährende  Unterbrechung  der  Fagaden  durch  Fenster  hat  wohl  diesen  hoffnungsvollen 
Anfängen  ein  frühes  Ende  bereitet.  Doch  könnte,  abgesehen  von  den  Miethskasernen,  in  sonstigen 
privaten  Bauten    und   vor    Allem    den    öffentlichen   Staats-    und    Industriebauten    eine    Nutzanwendung 

daraus  gezogen  werden,  zu- 
dem wohlfeiles,  dauerhaftes  und 
schönes  Steinmaterial  nicht  er- 
mangelt. 

Damit  sind  wir  auf  dem  Ge- 
biete der  Architektur  angelangt. 
Architektur  und  Plastik  sind  zwei 
Künste,  die  von  Natur  aus  leicht 
ineinander  übergehen,  indem  sie 
ähnlichen  Prinzipien  der  Dar- 
stellung unterworfen  sind ,  sich 
aufs  Beste  gegenseitig  unter- 
stützen und  eine  der  anderen 
Wirkung  erhöht.  Im  Alterthum 
war  das  Verhältniss  zwischen 
Architektur  und  Plastik  ein 
durchaus  harmonisches.  In  allen 
Kunstepochen  bis  an  die  Schwelle 
des  neunzehnten  Jahrhunderts 
hat  die  Tradition  als  vornehmstes  Gesetz  aufgestellt,  die  bildnerische  Darstellung  von  der  gegebenen 
Situation,  von  der  Raumgestaltung  abhängig  zu  machen.  Hiemit  waren  die  Bedingungen  gegeben, 
auf  denen  eine  bisher  unerreichte  monumentale  Plastik,  eine  Raumkunst  grossen  Stils,  sich  ent- 
wickeln konnte. 

Hildebrand  besitzt  gleich  den  alten  Meistern  jenen  architektonischen  Sinn  im  hohen  Masse, 
und  als  ein  ausgezeichnetes  Beispiel  dafür  ist  seine  reifste  Schöpfung  nach  dieser  Seite  hin,  der 
Witteisbacher  Brunnen  in  München.  Er  ist  der  gegebenen  Situation  vorzüglich  angepasst;  durch 
diese  Gestaltung  erhält  der  Platz  erst  eine  eigendiche  Ansicht,  wir  empfinden  ihn  als  ein  Gesehenes, 
als  Bildeindruck,  durch  seine  Gestaltung  wird  in  unserer  Vorstellung  erst  die  räumliche  Beschaffenheit 
des  Platzes  erweckt  und  wir  vermögen  uns  darnach  zu  orientiren. 


A.  Hildebrand:  Kain  und  Abel 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


193 


Es  ist  ein  Werk,  hinter  dem  das  Persönliche  ganz  in  der  Grösse  des  monumentalen  Aus- 
druckes aufgeht  und  so  durch  die  Gestaltung  doch  machtvoll  zum  Bewusstsein  dringt.  Die  bildnerische 
Ausführung  erscheint  dem  architektonischen  Prinzip  der  Raumgestaltung  untergeordnet,  die  Glieder- 
ungen und  Einschnitte  sind  darnach  bedacht,  das  Terrain  erscheint  so  modellirt.  Und  doch  tritt  uns 
im  Einzelnen  eine  Fülle  von  Pormen,  ein  Reichthum  an  dekorativem  omamentalem  Beiwerk  entgegen, 
die  wirksam  an  der  Hauptvorstellung  mitarbeiten.  So  mannigfach  und  köstlich  ist  der  Schmuck  der 
Wandung  des  oberen  Bassins,  die  dasselbe  mit  dem  unteren  verbindet  und  mit  allerhand  schwim- 
mendem ,    kriechendem  Gethier  belebt  wird ;    von   unsagbarem    Reize    und  Stimmungsgehalt    sind   die 


herrlichen  Masken  am  Schaft  der 
grossen  Brunnenschale,  sie  er- 
innern an  Böcklinische  Phantasie- 
schöpfungen; eine  Fülle  von  Ener- 
gie und  Kraft  drängt  sich  in  der 
Gruppe  des  Felsblock  schleudern- 
den Reiters  auf  wildem  Rosse,  an 
antike  Formenfülle  und  ruhige 
plastische  Schönheit  gemahnt  die 
Gruppe  des  Stieres  mit  der  Jung- 
frau. Vielfach  wird  diese  künst- 
lerische Schöpfung  in  ihrer  räum- 
lichen Anlage  und  Zusammenge- 
hörigkeit, die  doch  so  deutlich 
ausgedrückt  ist,  missverstanden. 
Besonders  die  Massigkeit  der 
beiden  Gruppen,  welche  das  Ganze 
mit  Nachdruck  abschliessen,  geben 
zu  allerlei  Urtheil  und  verdrehten 
Meinungen  Anlass.  Da  man  sich 
den  eanzen  Orgranismus  des  Auf- 
baues  nicht  klar  werden  lässt,    so 


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A.  llildebrand:  Weibliche  Figur 


gelangt  man  auch  nicht  zum  Ver- 
ständniss  seiner  einzelnen  Glieder. 
Allerdings  ist  bei  den  »Vielzu- 
vielen»  ästhetisches  Gefühl  und 
Denken  nur  mangelhaft  entwickelt, 
und  schlechte  \  orbilder  sorgen  be- 
ständig dafür ,  dass  dieses  nach 
der  falschen  Seite  hin  verbildet 
wird;  so  kam  der  Schöpfer  des 
Brunnens ,  indem  er  sein  Werk 
von  künstlerischen  Gesichtspunkten 
aus  gestaltete,  in  die  seltsame 
Lage,  sich  in  einer  Weise  auszu- 
drücken, die  für  die  Vorstellung 
der  Meisten  ungewöhnlich  ist.  Und 
doch  kommt  Hildebrand's  Kunst 
dem  natürlichen  Bedürfniss  des 
Menschen  nach  dem  Schönen  in 
der  einfachsten  Weise  entgegen; 
gleich  den  alten ,  ewig  jungen 
Werken  der  Griechen  sucht  er 
das  Allgemeine,    das   Immergiltige 


in  jeder  Erscheinung  festzuhalten  und  ihm  plastischen  Ausdruck  zu  verleihen. 

In  Hildebrand  erstand  uns  ein  Künsder,  dessen  Schaffen  von  festem  Willen  zu  bestimmten 
Zielen  geleitet  wird,  der  das  bildnerische  Gestalten  dem  Chaos  der  Empfindungen  gegenüber  als  ein 
gesetzmässiges  auffasst,  als  eine  Form,  in  welche  die  Naturerscheinungen  gefasst  und  für  unser  Auge 
und  Vorstellung-  erst  oreniessbar  gemacht  werden.  Sein  «Problem  der  Form«  ist  in  diesem  Sinne 
eine  reformatorische  That,  und  wenn  er  darin  Disziplinen  aufstellt,  die  er  als  Grundelemente  der 
künstlerischen  Darstellung  erkennt,  so  geschieht  das  mit  klarer  Einsicht  in  das  Wesen  seiner  Kunst 
und  auf  der  Grundlage  der  Tradition,  die  die  künstlerischen  Erfahrungen  von  Jahrtausenden  in  ihren 


194 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


E.  Kurz:  Relief  zum  Geiger-Schauenburg-Denkmal  in  Lahr 


Resultaten  zusammenfasst.  Von  einer  Beschränkung  des  subjektiven  Vermögens  innerhalb  der  künst- 
lerischen Gestaltung  kann  darum  keine  Rede  sein;  sein  Vorwurf  richtet  sich  gegen  die  Willkür  der 
Gestaltung  persönlicher  Empfindungen,  die  im  Ausdruck  der  künstlerischen  Fassung  entbehren. 
Darum  dringt  er  darauf,  die  Darstellung  nicht  allein  von  dem  gegenständlichen  Inhalt  des  Objektes 
abhängig  zu  machen,  sondern  diese  vor  Allem  als  eine  räumliche  Erscheinung  in  bestimmten  Formen 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Aehnlich  wie  man  in  der  Malerei  angefangen  hat,  eine  Sache  rein  um 
des  malerischen  Ausdruckes  willen  darzustellen,  so  ist  auch  die  Plastik  um  der  rein  plastischen 
Erscheinung  willen  zu  betreiben.  Die  Wege  und  Ziele  zu  dieser  Kunst  hat  er  durch  das  Wort  und 
die  vorbildliche  That  gewiesen. 

Einer,  der  wohl  am  Engsten  in  seiner  Art  und  Weise  sich  an  die  künstlerischen  Prinzipien 
Hildebrand's  angeschlossen  hat,  ist  Erwin  Kurz,  ein  stillschaffender  thätiger  Künstler,  der  in  vor- 
nehmer Zurückhaltung  sich  wenig  um  die  jeweiligen  künstlerischen  Strömungen  des  Tages  zu  kümmern 
scheint.  Die  Porträtreliefs,  die  er  von  bedeutenden  Männern  geschaffen  hat,  haben  aber  den  Beifall 
der  Kenner  in  hohem  Masse  erworben.  Auch  dieser  Künstler  bildete  sich  zumeist  in  Italien,  dort 
lernte  er  Hildebrand  kennen,  an  dessen  künstlerischer  Thätigkeit  er  theilnahm  und  dessen  Anschau- 
ungen er  sich  anschloss;  gleich  diesem  empfing  er  von  der  Antike  und  der  italienischen  Renaissance 
starke  Anregungen,  gleich  diesem  unterwirft  er  sein  persönliches  Empfinden  der  Gesetzmässigkeit 
einer  strengen  künstlerischen  Gestaltung  und  bewegt  sich  darin  oft  mit  grosser  Anmuth,  wie  ein 
reizender  Fries  mit  Kindern    zeig-t. 

Vorzugsweise  liegt  aber  die  Stärke  seiner  künstlerischen  Begabung  auf  dem  Gebiete  des 
Porträtreliefs;  in  ihrer  Sachlichkeit  und  Treue  in  der  grossen  Formenwiedergabe  mischen  sich 
klassische  Elemente  mit  solchen,  die  ihre  Herkunft  in  Holbein' scher  Naturanschauung  finden  könnten. 
Die  plastische  Strenge  dieser  Reliefs  und  ihr  monumentaler  Charakter  eignen  sie  besonders  für  Grab- 
male,   und  als  eines  der  gelungensten,  die  der  Künsüer  ausführte,    mag  jenes  auf  einem  Münchener 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


195 


Friedhofe  gelten,  das  in  der  Form  einer  Stele  vom  attischen  Friedhofe  in  Athen  dem  berühmten 
Archäologen  Brunn  errichtet  wurde.  Einen  überaus  vornehmen,  von  feinster  Empfindung  getragenen 
Eindruck  hat  der  Künstler  in  dem  herrlichen  Relief  der  K.  v.  S.  erreicht.  Die  Bildnisse  des  Dichters 
Paul  Heyse,  des  Gelehrten  Helmholtz,  des  Musikdirektors  Levi,  sie  alle  finden  ihre  Bedeutung  in  der 
Klarheit  des  plastischen  Ausdruckes,  in  dem  schlichten  Eingehen  auf  die  Charakteristik  der  Dar- 
gestellten, die  in  massvoller  Weise  objektiv  begrenzt  wird  und  sich  darum  in  Verbindung  mit  der 
Architektur  für  öffentliche  Denkmale  so  vorzüglich  eignet.  Wir  möchten  sie  zusammen  mit  Hilde- 
brand's  Kunst  als  klassisch  bezeichnen.  Was  sie  jedoch  von  den  klassizistischen  Porträts  bedeutend 
unterscheidet ,  ist  die  Grösse  der  Naturanschauung  und  der  lebendige  Sinn ,  der  darin  anspricht. 
Des  Künstlers  abgeklärte  Anschauungen  und  reife  Begabung  zeigt  sich  auch  in  der  Darstellung 
eines  Werkes  zu  einem  Grabmale  für  Geiger-Schauenburg  in  Lahr.  Seine  Meisterschaft  in  der  Führung 
des  Meisseis,  seine  Erfahrung  und  Kenntnisse  in  der  Behandlung  des  Marmors  machen  ihn  zum 
geschätzten  Theilnehmer  an  Hildebrand's  grösseren  Arbeiten.  Gegenwärtig  kann  der  Künstler 
dieses  bei  uns  immer  noch  sehr  seltene  Können  im  Dienste  eines  öffentlichen  Auftrages  zur  besten 
Anwendung  bringen. 

Am  Stambergersee  wurde  dem  Andenken  des  grossen  deutschen  Kanzlers  Bismarck  ein 
Thurm  errichtet,  und  die,  die  dieses  Mal  errichteten  und  es  mit  prächtigem  Bildwerk  ausschmückten, 
stehen  mit  ihrer  künstlerischen  Gesinnung  im  Bereiche  von  Hildebrand's  Kunstanschauungen. 
Besonders  Flossmann  der  Bildhauer  hat  in  der  Ausschmückung  des  Thurmes  mit  Reliefen  diese  im 
Sinne  Hildebrand's  gestaltet.  Wir  bemerken,  wie  diese  vorbildliche  Thätigkeit  von  einem  sehr 
begabten  Künstler  erfasst  und  in  seiner  eigenen  Art  und  Weise  fortgebildet  wurde,  so  wie  es 
Verhältnisse  und  Umstände  erheischten.  In  solcher  Weise  konzentrirt  sich  in  diesen  Reliefen,  die 
ihrem  Inhalte  nach  alle  in  sinnige  Beziehungen  zu  dem 
Wahrzeichen  treten,  eine  Fülle  des  Lebens,  die  in  unge- 
bundener Weise  als  Gruppen  oder  Rundplastik  gar  nie 
so  anschaulich  hätte  zur  Wirkung  und  klarer  Vorstellung 
gelangen  können.  Reichlich  sprudelt  wie  aus  langver- 
haltener Quelle  eine  Fülle  von  Gestalten  und  künstler- 
ischen Formen,  die,  wenn  auch  oft  archaistisch  gröblich 
die  feinere  Durchbildung  und  Ausführung  vermissen  lassen, 
doch  im  Prinzip  als  ein  wertvoller  Beitrag  zu  der  im  Auf- 
schwung begriffenen  modernen  Bildhauerei  aufzufassen  sind. 
Ein  Zweig  echter  deutscher  plastischer  Kunst  setzt  hier 
frische  Knospen  an.  Die  ornamentale  Bildnerei,  das  werk- 
thätige  Leben  des  freien  Herausmeisselns,  wie  es  die 
Situation  gerade  bietet,  das  ist  seit  dem  Mittelalter  in 
tiefem  Schlaf  gelegen,  bis  in  der  rührigen  Gegenwart  jetzt 
da    und    dort    klingende    Hammerschläge    es    wieder    in's  ^-  ^«rz:  BUdniss 


196  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Leben  rufen,  um  das  Ehrenmal  eines  grossen  Mannes  schmücken  zu  helfen.  Schon  in  der  ersten 
Gruppe  des  jungen  Bildhauers,  die  sich  im  Besitze  des  bayerischen  Staates  in  der  Glyptothek,  zu 
München  befindet,  zeigt  dieses  gestaltungskräftige  Talent  Neigung  zu  strengem,  plastischem  Stil, 
nicht  in  der  Behandlung  der  Formen,  die  weich  und  flüssig  ist,  sondern  in  der  Art  der  Komposition, 
wie  sie  Hildebrand  liebt,  auf  möglichste  Ausnützung  des  Steinraumes,  zu  dringen.  Der  Erfolg,  den 
diese  Erstlingsarbeit  einbrachte,  gab  dem  Künstler  Veranlassung,  nach  dieser  Seite  hin  seinen 
plastischen  Sinn  weiter  auszubilden. 

Er  unternahm  mehrere  Reisen  nach  Italien  und  erwarb  sich  dort  in  dem  eingehenden  Studium 
der  Antiken  und  Renaissance -Werke  neue  Kenntnisse  vom  Wesen  der  plastischen  Form;  diese 
Studien  ergaben  auch  für  ihn  die  Veranlassung,  sich  weiter  in  Hildebrand 's  Probleme  zu  vertiefen 
und  dessen  künstlerische  Anschauungen  immer  mehr  seiner  Individualität  angemessen  und  zu  eigen  zu 
machen.  Mit  Zielbewusstsein  strebt  er  nach  immer  grösserer  Klarheit  der  P^orm ,  wofür  besonders 
seine  Porträtbüsten  Zeugniss  ablegen.  Ganz  besonders  versteht  er  es,  darin  dem  kindlichen  Wesen 
beredten  Ausdruck  abzugewinnen.  Der  Einfluss  der  frühen  Meister  der  Renaissance ,  besonders 
Donatello's,  ist  in  seinen  Arbeiten  nach  den  italienischen  Reisen  unverkennbar.  Wie  sehr  plastisch 
er  empfindet  und  gestaltet,  zeigt  sich  am  Besten  in  der  Büste  Beethovens  in  der  Nische,  zugleich 
erweckt  dieses  Bild  durch  die  Art  der  künstlerischen  Gestaltung  Stimmung  und  Empfindung  im 
Beschauer.  Aus  einem  Blocke  herausgemeisselt,  vertieft  sich  der  Stein  zu  beiden  Seiten  des 
mächtigen  Hauptes  zu  einer  Nische.  In  einer  Fläche  ist  das  Bild  festgehalten,  die  ganze  Anordnung 
zwingt  so  den  Beschauer,  seinen  Standpunkt  vorne  dem  Gesicht  gegenüber  einzunehmen,  unserer 
Vorstellung  bemächtiget  sich  so  der  ero-reifende  Eindruck  dieses  im  Tode  mit  erhabener  Ruhe 
wirkenden  Antlitzes.  Denn  ohne  jegliches  Dazuthun,  als  die  ornamental  bewegten  Haare,  hat  der 
Künstler  dieses  Werk  frei  nach  der  bekannten  Todtenmaske  gestaltet  und  durch  die  künstlerische 
Gestaltung  so  tiefe   Wirkungen  erreicht. 

Die  Bildhauer  können  jetzt  zu  ihrem  Erstaunen  oft  die  Wahrnehmung  machen,  dass  die 
plastischen  Werke,  die  aus  den  Händen  der  Maler  hervorgehen,  gerade  um  ihrer  plastischen  Eigen- 
schaften willen  den  schätzenswerthesten  Erzeugnissen  ihrer  Kunst  an  die  Seite  zu  stellen  sind.  Worin 
liegt  dieses  begründet?  Offenbar  in  dem  grösseren  Können  der  Maler,  in  der  durch  die  -Zeichnung 
erworbenen  Formenkenntniss!  Während  der  Maler  in  jahrelangem  Studium  sein  Verständniss  der 
Formen  beständig  durch  Zeichnen  bereichert,  gewährt  der  Studiengang,  den  der  Bildhauer  meist 
nimmt,  selten  in  so  reichem  Masse  jene  Anregungen,  die  ihn  in  einem  beständigen  unmittelbaren 
Verhältniss  zur  Natur  erhalten.  .'    ' 

Das  Erstaunen  wächst,  wenn  wir  die  Maler  nicht  nur  Reliefe,  die  ja  der  Art  und  Weise  seiner 
künstlerischen  Auffassung  am  nächsten  liegen,  formen  sehen,  sondern  auch  Rundplastik  mit  grösstem 
Verständiss  der  Form  von  ihnen  durchgeführt  werden. 

Letztere,  echt  bildnerische  Eigenschaften  besitzt  in  hohem  Grade  Franz  Stuck,  der  Maler. 
Klinger  werden  wir  unter  einem  anderen  Gesichtspunkte,  gleichfalls  später  in  der  Reihe  modemer 
Bildhauer  auf  eine  eigene  Art  thätig  sehen.     Wer  von  Stuck  je  eine  Zeichnung  gesehen  hat,  weiss, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


197 


wie  er  mit  grossem  Verständ- 
niss  die  Form  beherrscht,  wie 
er  diese  im  Raum  geschickt 
entfaltet  und  welche  Fülle  ro- 
busten Lebens  sich  darin  konzen- 
trirt.  Diese  bildnerische  Kraft 
in  ihm  hat  jedenfalls  durch  das 
Studium  der  Antike,  vielleicht 
nicht  zum  wenigsten  durch  pom- 
pejanische  Kleinplastik,  starke 
Anregungen  erhalten  und  bei 
seinem  lebendigen  Trieb  der 
Nachahmung  in  seiner  für  alles 
Kräftige,  Bewegte  leicht  erreg- 
baren Phantasie  ähnliche  Bilder 
und  Vorstellungen  wachgerufen. 
Diese  lebendige  Empfind- 
ung   für     alles     Bewegte ,    das 


E,  Kurz:  Porträt 


sich  in  einer  kräftigen  Formen- 
sprache ausspricht ,  verbindet 
sich  mit  einem  sicheren  deko- 
rativem Raum-  und  Stilgefühl 
am  schönsten  in  der  Kompo- 
sition der  Amazone.  Ross  und 
Reiterin  sind  gleichsam  ver- 
wachsen in  der  wilden  Lust 
der  Bewegung,  die  ihr  Lebens- 
element zu  sein  scheint.  Die 
bildnerische  Energie  spielt  so- 
zusagen darin  ein  graziöses 
Spiel,  in  dem  wir  aber  alle 
Aeusserungen  eines  ungewöhn- 
lichen Talents  vollauf  zu  be- 
wundern Gelegenheit  haben. 
In  dem  sicher  gelösten  Pr.oblem 
des  mit  grossem  Geschick  aus- 


geführten horizontalen  Aufbaues  von  Sockel  und  Gruppe,  in  der  Behandlung  als  Broncebild,  der 
strengen  und  doch  rhythmisch  bewegten  Komposition  darf  man  Anregungen  von  Hildebrand's  Kunst 
vermuthen.      Als  ein  Werk  von  äusserlich  ähnlicher  Komposition,    aber  nicht   in   solcher  Eleganz  des 


Aufbaues  und  weniger  flüssig 
in  dem  Rhythmus  der  Linien 
ist  «Der  verwundete  Centaur«, 
welcher  auch  trotz  des  gegen- 
ständlichen, packenden  Inhaltes 
nicht  die  gleiche  Anregung  auf 
unsere  Vorstellung  auszuüben 
vermag.  UmsomehrhatStuck's 
plastische  Erstlingsarbeit ,  mit 
der  er  an  die  Oeffentlichkeit 
trat,  «Der  Athlet»,  allgemeinen 
Beifall  bei  Kennern  und  Kunst- 
freudigen  hervorgerufen.  In  der 
Darstellung    gewaltiger    Kraft- 


y,   F'lossninnn:  Büste 


entfaltung  liegt  immer  etwas 
Bestrickendes,  die  Stärke  re- 
spektirt  man,  und  das  Kunst- 
werk, das  für  unsere  Vorstell- 
ung einen  solchen  Vorgang 
wirksam  verkörpert,  wird  da- 
rum anziehend;  die  Kunstleist- 
untr  wirkt  auf  naive  Gemüther 
als  ein  ähnliches  Meisterstück. 
Stuck  der  Maler  vollbringt  es, 
und  bei  seinem  P'ormengefühl 
und  Können  wird  er  uns  und 
die  Plastiker  noch  öfter  durch 
seine  Arbeiten  überraschen. 


Ehe  Hildebrand  mit  seinen  Bestrebungen  auftrat  und  unsere  Plastik  wieder  auf  den  Weg 
der  Tradition  führte,  war  diese  Kunst  unter  den  Händen  der  Nachahmer  Rauch,  Rietschel  und 
Hähnel  im  Absterben.      Eine  unendliche  Oede  und  Langeweile  geht  von  den  Werken  dieser  Periode 


n  27 


198 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


y.  Flossmann :    Relief  vom  Bismarck-Thurm  am  Starnbergersee 

des  Anschlusses  an  die  Antike  beigefügt ,  da  er 
eigentlich  das  Ziel,  das  den  Bildhauern  damals 
dunkel  vorschwebte,  erst  klar  erfasst  und  fest- 
gestellt hat.  Es  erscheint  uns  sein  Streben  als 
ein  Ende,  indem  er  als  der  letzte  grosse  Epigone 
der  nachklassischen  Zeit  die  Plastik  wieder  mit  der 
Antike  verknüpft,  und  als  ein  Anfang,  da  er  uns 
wieder  zur  Tradition  zurückführte,  die  nun  ihre  frucht- 
baren Wirkuno en  fort  und  fort  zu  äussern  beeinnt. 
Während  die  deutschen  Bildhauer  in  den 
Jahren     1860 — 70    von    den    romantischen     Höhen 


aus,  in  der  sich  die  Bildhauer  abquälten,  in 
abgelebten  Formen  etwas  Neues  zu  sasjen. 
Ursprünglich  hatten  auch  diese  Nachahmer  nur 
die  antike  Form  finden  wollen,  und  erst  später 
verloren  sie  sich  darin,  diese  zum  Ausdruck 
inhaltlicher  Vorstellungen  zu  machen ,  ein 
Streben,  das  auch  wieder  in  unserer  Zeit  im 
Neu-Idealismus  sich  bemerkbar  macht. 

Wir  haben  Hildebrand  und  seine  Richt- 
ung, ungeachtet  der  Entwicklungen,  die  die 
Plastik  dazwischen  durchmachte,  jener  Periode 


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y.   Plossmann : 
Relief  vom  Bismarck-TIiurin  am  Starnbergersee 


y.   Flossmann:    Eine  Mutter 


F.  Stuck:  Verwundeter  Centaur 


|j.   V.  Scbwiinthulcr  sanii' 


Brunnenfigur 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


201 


herunter  den  grossen  Sprung  mitten  hinein  in's 
naturalistische  Fahrwasser  machten,  durchlief  die 
französische  Plastik  in  natürlicher  Folge  nach  der 
Nachahmung  der  Antike  die  Nachahmung  der 
Renaissance.  Bald  machte  sich  dort  ein  leichtes 
Aufblühen  der  Plastik  bemerkbar. 

Nach  der  grossen  Erkältung,  die  sich  die 
deutsche  Plastik  bei  der  missverstandenen  An- 
näherung an  den  antiken  Pol  geholt  hatte,  wen- 
dete man  sich  wieder  mehr  den  Erscheinungen 
des  Lebens  zu.  An  der  Hand  der  Schwester 
Malerei  wurde  die  sieche  Plastik  zum  Urquell 
des  Lebendigschönen,  zur  Natur  zurückgeführt. 
Mit  der  Liebe  und  dem  Enthusiasmus  poetischer 
Pantheisten    verehrten     und    umschwärmten     die 


F.   Stuck:    Der  Athlet 

Maler  die  Natur  als  Führerin  und  Leiterin,  und  folgten 
ihr  auch  die  Begabteren  unter  den  Bildhauern,  Wag- 
müUer  in  München,  Tilgner  in  Wien  und  Begas 
in  Berlin.  Diese  sahen  die  Natur  mit  den  Augen 
der  Maler  an,  die  lebendige  Erscheinung,  die  strenge 
Form  von  Licht  und  Luft  umflossen.  Daher  bildeten 
sie  eine  Form  der  Darstellung  aus,  die  sozusagen 
eine  malerische  Wirkungsform  ist.     Sie  achteten  wenig 


/•■.   Stuck:  Der  Athlet 


202 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


darauf,  dass  die  Form  als  solche  sozusagen  räumliche  Funktionen  erfülle  und  dadurch  für  unsere 
Vorstellung  vom  Räume  nahrhafte  Anregungen  biete.  In  ihrem  Bestreben  nach  freierer  lockerer 
Durchbildung  der  Form ,  nach  malerischen  Wirkungen  hin  wurden  sie  unterstützt  in  der  retro- 
spektiven Richtung,   die    die  Zeit  nahm,   in   der   bereits    die  Werke  der  Spätrenaissance,    des  Barock 

anfingen,  die  Künstler  anzuregen.  Die 
Früchte  dieser  Entwicklung  können  wir 
noch  überall  in  dem  plastischen  dekorativen 
Schmuck  an  den  Hausfagaden  aus  jener 
Zeit  erkennen,  die  meist  aus  schlechtem 
billigen  Material  hergestellt  sind. 

Es  ist  dieser  Schmuck  eine  Art  Schau- 
gericht für  den  gewöhnlichen  Geschmack, 
und  unkünstlerische  Spekulanten,  die  Stucka- 
teure,  offerirten  ihn  der  künsderischen  Kultur 
—  aus  der  Volksküche.  Für  unsere  Phan- 
tasie haben  diese  Gerichte  keine  Nährwerthe, 
und  man  beginnt  jetzt  wieder  im  Sinne  der 
Alten  statt  dieser  klotzigen  Dekorationen 
die  Flächen  in  schönem  glatten  Verputz  aus- 
zuführen und  höchstens  mit  einem  tapeten- 
artigen Muster,  mit  Flachornamenten  zu 
schmücken. 

In  dieser  naturalistischen  Richtung  lagen 
von  Anfang  an  die  Keime  zu  extremen 
künstlerischen  Anschauungen  und  Bestreb- 
ungen, die  die  normalen  Wirkungen  der 
Form  im  Ausdrucke  zu  überbieten  und 
steigern  suchten.  Diese  Bestrebungen 
mussten  nicht  nur  eine  von  der  Tradition 
immer  weiter  abweichende  Richtung  er- 
geben, sondern  auch  sich  in  einem  künst- 
lerischen Positivismus  und  in  einer  idea- 
listisch symbolischen  Weise  äussern.  Bevor 
wir  jedoch  auf  alle  diese  Richtungen  eingehen  und  sie  verfolgen,  müssen  wir  noch  in  Betracht 
ziehen,  wie  sich  die  Plastik  in  München   äusserte. 

Man  spricht  im  Allgemeinen  von  einer  Münchener  Schule  auch  in  der  Plastik,  obwohl  das 
Wort  Schule  nur  für  die  Malerei  zutreffend  ist,  denn  die  Bildhauer  dortselbst  unterscheiden  sich  in 
ihren     Werken     keineswegs     von     den    übrigen     der    klassizistischen     und     romantischen    Periode    in 


L.  V.   Sch-ivanthaler:  Melusine 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


203 


Deutschland.  Der  bedeutendste  ist  hier  Ludwig  Schwanthaler,  1802  — 1848,  der  in  seinem  ganzen 
Streben  durchaus  Romantiker  war  und  dem  Mittelalter  zuneigte.  Seine  künstlerische  Schwungkraft 
erlahmte,   je    mehr    er    sich    dem    klassischen    Ideal,    der  Antike,    nähern   und    nach   dieser  Richtung 

Reliefe  schon  in  der 
Komposition  häufig 
schwülstig  und  un- 
ruhig, so  wirken 
sie  ausgeführt  durch 
nur  mangelhaft  ge- 
schulte Arbeiter,  die 
die  Intentionen  des 
Künstlers  oft  miss- 
verstanden, noch  viel 
roher.  Sie  zeigen 
uns  zugleich,  dass 
den  Bildhauern  jener 
Zeit  die  Bedeutung 
der  Antike  als  einer 


hin  empfinden  sollte. 
König  Ludwig  I. 
Hess  seine  Bauten 
mit  reichem  plasti- 
schen Schmuck  ver- 
sehen und  über- 
trug Schwanthaler 
diese  Arbeiten,  die 
bei  der  Ueberhast- 
ung  und  Müchtig- 
keit  der  Ausführung 
arge  Mängel  in  der 
Formengebung  auf- 
weisen. Erscheinen 
solche  Gruppen  und 


L.   V.    Sclfwanthaler :  Drei   (irazien 


raumgestaltenden  Kunst,  die  monumentale  Wirkungen  ausübt,  noch  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen 
war,  oder  dass  sie  diese  in  ihren  einfachen  Grundprinzipien  nicht  erkannt  und  auch  der  Form  nicht 
mächtig  gewesen  sind.     In    einer  Jugendarbeit    Schwanthalers,   dem    Herkulesschild,    den    er    nach 


einer  Beschreibung  Hesiods  bil- 
dete, kommt  sein  schöpferisches 
Talent  noch  klar  und  ungetrübt 
zum  Ausdruck:  wir  können  hier 
den  Reichthum  und  die  Gestalt- 
unofskraft  seiner  Phantasie  auf- 
richtig  bewundern  und  uns  an 
der  Schönheit  der  Ausführung, 
an  der  Liebe  und  Sorgfalt,  mit 
der  alle  Gegenstände,  Menschen, 
Thiere  und  Landschaft  abge- 
bildet sind,  ergötzen  und  er- 
freuen. Ganz  aus  dem  Eigenen 
schöpfte  er,  wenn  er  einen 
Humpen  formte  und  mit  irgend 
einem  Gebilde  aus  einer  alten 
Mär  und    Sage    schmückte.      In 


L.  V.  Schvjanthaler :  Grabrelief 


einem  Tafelaufsatz,  den  er  für 
König  Maximilian  II.  von  Bayern 
anfertigte,  hat  er  die  Nibelungen- 
sage zum  Gegenstand  seiner 
Darstellung  gemacht,  und  wir 
sehen  darauf  alle  Helden  des 
Liedes  und  manche  Episode 
daraus  plastisch  verdichtet  und 
gestaltet.  In  solchen  Dingen 
schuf  er  Bilder  in  einer  köst- 
lichen altdeutschen  Art.  Und 
mit  diesen  Arbeiten  hat  er  sicher 
auf  das  einheimische  Kunst- 
gewerbe einen  wohlthätigen  Ein- 
fluss  ausgeübt  und  manchem 
Meister  darin  starke  Anregung 
gegeben.      Bei    seiner    Vorliebe 


204 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


L.    V.    Sch-vanthaler' s  Entwurf: 
Velasquez 


für  das  Mittelalter  und  seinem  Sammeleifer  für  mittelalterliche  Gegen- 
stände hat  er  jedenfalls  auch  der  antiquarischen  Richtung  und  Neigung 
für  das  Altdeutsche  in  München,  die  sich  in  der  Ausstattung  vieler 
Bierstuben    dort  spiegelt,  Vorschub  geleistet. 

In  dem  Münchener  Schwanthaler-Museum  befindet  sich  eine 
Figur,  die  der  Katalog  als  «Elisabeth,  die  stolze  und  hochherzige 
Königin  von  Böhmen,  Gemahlin  Johanns  von  Luxemburg,  Mutter 
Karls  IV.»  bezeichnet.  Die  Statue  wurde  in  Erz  für  die  böhmische 
Ruhmeshalle  ausgeführt.  Die  Figur  stellt  eine  liebreizende  Frauen- 
erscheinung dar  und  ist  darin  etwas  von  dem  feinen  poetischen  Em- 
pfinden der  Romantik  verkörpert.  Ob  die  Anregung  oder  der  Entwurf 
hiezu  von  Schwanthal  er  herrührt,  ist  uns  nicht  bekannt,  ausge- 
führt wurde  sie  von  einem  Schüler  desselben,  von  Hautmann, 
der  in  Florenz  lebte  und  starb.  Es  sollen  gerade  die  besten  Figuren, 
die  sich  in  diesem  Museum  befinden,  meist  von  talentvollen  Schülern, 
wie  Brugger  und  Widnmann,  ausgeführt  sein.  Schwanthal  er 
selbst  lernen  wir  am  besten  in  seinen  Skizzen  kennen,  die  alle  Merk- 
male   seiner    reichen    Phantasie    und    seines    schöpferischen    bildsamen 

Empfindens  wiederspiegeln,  während  viele  der  ausgeführten  grossen  Arbeiten  Phase  um  Phase  diese 

Merkmale     abstreiften     und     zu     leeren    schematischen    Gestalten 

sich  verflüchtigten. 

Max  Widnmann,    1812  — 1895,  wird  auch  als  ein  Schüler 

Schwanthaler's  bezeichnet,  was  wohl  nur  für  die  erste  Periode 

seiner  Entwicklung  zutreffend  ist,  da  er  sich  später  in  Rom  weiter- 
bildete. Er  zeigt  uns  in  vielen  seiner  Gruppen  meist  mytho- 
logischen    Inhalts     mehr     Formvollendung,     aber     auch    falsches 

Pathos   und   gedrechselte  Posen.     So    macht   sich   in   der  Gruppe 

«Herakles  reicht  Psyche  den  Trank  der  Unsterblichkeit  dar»   die 

Vermischung   von   Formelementen    der    Antike    und    solchen,    die 

aus  der  Anschauung   der  Natur  gezogen  sind ,    in   unangenehmer 

Weise    geltend.     Es   scheint    damals   bei  allen,    die  antiker  Form 

sich  näherten,  das  Streben  vorgeherrscht  zu  haben,  durch  reich- 
liche aufgequollene  Muskulatur   bei   den  Männern   und   durch   die 

E'ülle    entsprechender    Weichtheile    bei    den    Frauen    angenehme 

Empfindungen   anzuregen    und   dabei   den    Formensinn   zu   nähren 

und  zu  stärken.    Es  ist  dieses  Streben  ein  durchaus  künstlerisches, 

nur  sollten  die  Eormen  feinfühliger  durchgebildet  und  mit  tieferer 

Empfindung    durchdrungen    sein.     Doch    ragen    auch    aus    dieser  Johann  wiiheim  i. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


205 


Zeit  einige  Gestalten  herüber,  die  von  plastischem 
Empfinden  eingegeben  wurden  und  die  jenen  ge- 
wissen steinernen  Charakter  aufweisen,  als  wären 
die  Züge  des  Lebens  unter  dem  Anhauch  des 
bildnerischen  Geistes  erstarrt  und  hätten  feste 
Form  angenommen.  Wir  erinnern  dabei  an  die 
vier  sitzenden  Figuren  auf  der  Freitreppe  zur 
Staatsbibliothek. 

Von  einer  ehrlichen  und  tiefen  Begeisterung 
für  das  klassische  Ideal  scheint  Friedrich 
Brugger,    1815  — 1870,   erfüllt  gewesen  zusein. 


K.   Hautmann: 
Königin   Elisabeth  von   Möhmeii 


M.    X'.    W'idnmanii :  Steiiiw  ofrcntlcr   Krieger 

Man  möchte  ihn  wegen  seiner  Vorliebe  für  Motive 
sozu.sagen  aus  einer  zeitlosen  idealen  Welt  und 
seiner  tüchtigen  verständnissvollen  Beherrschung 
des  nackten  Körpers  den  Genelli  unter  den  da- 
maligen  Bildhauern  nennen. 

Seine  grosse  Gruppe  «Dädalos  unterweist 
Ikaros  im  Fliegen»  fesselt  auch  neben  der  for- 
malen Durchbildung  durch  den  Ausdruck  inniger 
Empfindung. 

Als  ein  echt  plastisch  gedachtes,  anschauliches 

Bild    erscheint    die    Gruppe    «Cheiron   lehrt    Achill 

das  Saitenspiel». 

n  28 


206 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Johann  Halbig,    1814 — 1882,  genoss  einst   bei  seinen  Zeitgenossen  einigen  Ruhm  als  Thier- 
bildhauer,  aber  die  nachkommende  Generation   hat  ihn  schon  wieder    unbarmherzig    zerpflückt.     Sein 


bekanntestes  Werk 
ist  die  Siegesgöttin 
mit  dem  Löwenge- 
spann auf  dem  soge- 
nannten Siegesthor 
in  München.  Seine 
Löwen,  um  derent- 
willen er  berühmt 
war,  erscheinen  uns 
heutzutage  als  sehr 
zahme  hausbackene 
Pudel.  Nur  einem 
ungeschulten  Auge 
kann  der  Mangel  an 
Studium  des  thier- 
ischen  Charakters, 
die  Flüchtigkeit  der 
Beobachtung,  sowie 


M.    Wtdnmann:  Grabrelief 


das  mangelhafte  V^er- 
ständniss  für  den 
thierischen  Organis- 
mus, das  in  einer 
rohen  Formengeb- 
ung  sich  zeigt,  ganz 
verborgen     bleiben. 

Die  Werke  der 
Münchener  Plastiker 
leiden  zumeist  unter 
derselben  Schwäche, 
dem  Mangel  an  bild- 
nerischer Energie, 
feinem  Formenge- 
fühl und  Gewissen- 
haftigkeit der  Aus- 
führung. 

Konrad  Knoll, 


1829 — 1899,  erfreut  uns  in  seinem  Fischbrunnen  auf  dem  Marienplatze  zu  München  durch  eine 
volksthümliche  Schöpfung,  wie  sie  im  Mittelalter  häufig  war,  er  hat,  mit  verwandtem  Empfinden  aus- 
gestattet, das  Problem  frei  und 
selbständig-  zu  lösen  versucht. 
Auch  in  der  Durchbildung  zeigt 
sich  eine  individuelle  Formen- 
sprache ,  und  ist  bei  der  Behand- 
lung jeglichen  Details  auf  die  Aus- 
führung in  Bronze  Rücksicht  ge- 
nommen. 

Trotz  der  Fülle  von  Anreg- 
ungen, die  das  lebhafte  Kunst- 
schaffen  in  München  zur  Zeit 
Ludwig  L  bot,  erwiesen  sich  die 
Verhältnisse  für  einen  bedeutenden 
Künstler,  der  nach  freier  Ausge- 
staltung seiner  Kräfte  strebte,  als 

F.  Bruffger:  Cheiron  lehrt  Achill  das  Saitenspiel  Ungünstig;      eS     ist     bekannt,      dasS 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


207 


Rauch,  der  eine  klare  Einsicht  in  das  dortige  Treiben  hatte,  das  Anerbieten  König  Ludwigs  I., 
nach  München  überzusiedeln,  ausschlug.  Erst  nach  dieser  Periode  entwuchs  diesem  Boden  ein  Talent, 
das  die  Entwicklung  der  Plastik  weiter  förderte  und  in  neue  Bahnen  leitete. 

Michael  Wagmüller,  1829  —  81,  ein  Schüler  Widnmanns,  leitete  die  naturalistische 
Bewegung  ein.  Widnmann  soll  ihm  in  seiner  Eigenschaft  als  Professor  der  Akademie  der 
bildenden  Künste  die  Befähigung  zum  Bildhauer  abgesprochen  haben,  ein  Eall,  der  uns  bei  der 
Betrachtung  des  Lebenslaufes  einzelner  bedeutender  Künstler,  die  die  Tradition  durchbrachen  und 
das  Alte  stürzen  halfen,  öfter  entgegentritt. 
Wagmüller  hat  übrigens  während  .seiner 
akademischen  Studienjahre  die  Antike  eifrig 
studirt,  was  auch  aus  der  Betrachtung  seiner 
späteren  Werke  herauszulesen  ist;  doch 
stand  er  mit  seinem  eigenthümlichen  Natur- 
empfinden mehr  auf  der  Seite  der  naturali- 
stischen Richtung,  wie  sie  den  Malern  bereits 
geläufig  war.  Makart,  Lenbach,  Seitz  und 
Anderen  stand  er  nahe,  sie  waren  jeden- 
falls in  ihrer  Art  nicht  ohne  Einfluss  auf 
seine  künstlerischen  Anschauungen.  Wag- 
müller soll  auch  mehrere  Jahre  für  Kunst- 
händler Genrebildchen  gemalt  und  kurz  vor 
seinem  Tode  sich  noch  mit  dem  Gedanken, 
ein  grosses  Bild  zu  malen,  beschäftigt  haben. 
Das  hier  beieeeebene  Bildniss  ist  ein  Selbst- 
porträt  und  zeigt  ihn  in  seinen  thatkräftigsten 
Jahren.  Es  zeigt  auch  die  Art  wie  er  malte 
und  weist  denselben  lebensvollen  Zug  in  der 
Darstellung  auf,  der  seine  plastischen  Bild- 
nisse so  schätzbar  macht.  Diese  hat  er 
durch    seine    Auffassung-    so    wirksam   umge- 


M.    Wagmiiller :  Harmherzigkoit 


Staltet,  dass  gleich  seine  ersten  Arbeiten  berechtigtes  Aufsehen  erregten.  An  Stelle  der  bisher 
üblichen  ausdruckslosen  P^ormengebung  trat  nun  ein  plastisches  Bild,  das  durch  eine  malerische 
Auffassung  anziehend  erschien.  Die  weiche  flotte  Behandlung,  wie  sie  der  Thon  beim  Modelliren 
zulässt,  begünstigte  diesen  Ausdruck,  allerdings  oft  auch  auf  Kosten  der  Form.  Da  der  Künstler 
von  der  malerischen  Anschauung  ausging,  gab  er  mehr  eine  blosse  Wirkungsform,  die  er  durch 
lebhafte  Geberden  und  Gesten  noch  zu  steigern  suchte ,  wenn  auch  diese  Art  der  Darstellung  mit 
der  Natur  des  Objektes  nicht  immer  übereinstimmte.  Ebenso  wurde  durch  dieses  Hinarbeiten  auf 
einen  Effekt    die  Form    zu    sehr   zerpflückt   und    aufgelöst,    eine    Wahrnehmung,    die    wir   sehr  leicht 

28* 


208 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


M.    Wagmi'iller:    Sclbstporträt 


machen    können,    wenn   solche    Büsten   im  Freien    aufgestellt   sind,    wo    sie    dem   allgemeinen   Räume 
gegenüber  als  Raumgebilde    nicht    zur   Geltung  gelangen.      \\\    Innenräumen    erweisen   sie   sich  immer 

sehr  wirkungsvoll,  und  wir  gerathen  hier  leicht  in   den  Bann 
dieser  subjektiven  künstlerischen  Schöpfungen. 

Wagmüller  hat  zu  jeder  Zeit  seines  Schaffens,  da 
er  mit  Leichtigkeit  und  grosser  Geschicklichkeit  zu  arbeiten 
vermochte,  viele  dekorative  Figuren  geschaffen,  die  alle 
den  Stempel  seines  eigenthümlichen  Empfindens  tragen  und 
eine  ungemein  kecke  frische  Art  besonders  in  der  stofflichen 
Behandlung  von  Gewändern  und  Haaren  zeigen.  Er  muss 
bei  dieser  Gelegenheit  früh  die  Werke  der  Zopf-  und  der 
Barockbildhauer  wahrgenommen  und  studirt  haben,  wie  er 
solche  auch  hier  von  dem  kurfürstlichen  Hofstatuarius  Johann 
Anton  Boos  unter  den  Augen  hatte.  Für  des.sjsn  Porträt- 
Büste,  die  sein  Grabmal  auf  dem  alten  südlichen  Friedhof 
in  München  schmückt,  legte  er  eine  grosse  Verehrung  an 
den  Tag.  Gleich  den  Bildhauern  dieses  Stils  hatte  er  auch 
eine  besondere  Vorliebe  und  Empfindung  für  die  runden 
vollen  Kindergestalten,  eine  Neigung,  die  in  vielen  bekannten  Genre -Gruppen  Au.sdruck  gefunden 
hat.  Bei  all'  seiner  reichen  vielseitigen  Thätigkeit  reifte  in  der  Stille  ein  Werk  heran,  eine  Gruppe, 
die  als  Grabmal  gedacht  war.  Es  ist  anzunehmen,  dass  er  diese 
Arbeit  frei  für  sich  begonnen  hat,  um  seiner  Stimmung  und 
Empfindung  vollen  Ausdruck  zu  geben  und  im  vertrauten  liebe- 
vollen Umgang  mit  der  ■  Natur  seine  Kräfte  zu  mehren  und  zu 
stärken.  Die  Gruppe  stellt  eine  sitzende  mächtige  Frauengestalt 
dar  auf  einem  an  den  Ecken  von  beflügelten  Sphinxgestalten 
getragenen  Sarkophag,  der  rechte  Arm  hält  eine  aufgestützte 
Schrifttafel  und  die  Linke  legt  einen  Palmenzweig  auf  die  Deck- 
platte nieder.  Wie  eingenistet  im  faltigen  Gewände  unter  dem 
Arm,  der  die  Schrifttafel  hält,  zeigt  sich  ein  liebliches  Kind  in 
der  Fülle  der  ersten  Jugend,  sorglos  ruhend  wie  an  der  Brust 
der  Mutter  und  spielend  eine  Rose  entblätternd.  Von  tiefer 
Empfindung  ist  die  weibliche  Gestalt  beseelt  und  mit  feinem 
Gefühl  für  den  Rhythmus  der  P'ormen  dargestellt,  Die  Strenge 
der  Form  hat  hingebende  Anmuth  bezwungen:  —  es  liegt 
etwas  Weiches,  sozusagen  Melodisches,  l'ühliges  in  allen  Frauengestalten  Wagmüller's,  ganz 
besonders  aber  in  dieser.  Wagmüller  hat,  als  er  dieses  Werk  schuf,  schon  seine  Reisen  nach 
England  unternommen,    und  es  ist  anzunehmen,    dass  er  die  herrlichen  weiblichen  lagernden  Figuren 


R.  Begas:  Merkur  und  Psyche 


R.    Uegai«  Moulp. 


i'tioi.    K.   tlktifviactigi,   MiiDOhcD 


Venus  und  Amor 


Das  Grabmal  des  Künstlers 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


209 


vom  Parthenonfries  eingehend  studirt  hat.  Denn  dieses  Werk  setzt  eine  genaue  Bekanntschaft  mit 
jenen  Werken  voraus,  seine  Figur  erinnert  in  der  Art  der  Behandlung  der  Gewänder,  in  der  grossen 
einfachen  Formengebung,  die  auf  alle  naturalistischen  Effekte  verzichtet,  direkt  daran.  In  seinem 
sonstigen  Bestreben,  den  weichen  Schmelz  der  Haut  nachzubilden,  zu  dem  den  Kün.stler  sein 
malerisches  sinnliches  Empfinden  hinleitete  und  auch  der  weiche  geschmeidige  Modellirthon  bei  der 
Darstellung  weicher  Formen  verführt,  in  diesem  Streben  kommt  bereits  ein  Element  in  Wagmüller's 
Kunst  zum  Vorschein,  das  später  in  den  Werken  des  Franzosen  Rodin  so  charakteristisch  hervor- 
tritt. Am  schärfsten  zeigt  sich  unseres  Künstlers  Eigenart  am  Liebigdenkmal  in  München,  es  gibt 
ein  getreues  Bild  seines  Strebens  und  zeigt  bei 
allen  glänzenden  Vorzügen  auch  die  Mängel,  die 
der  ganzen  Richtung  anhaften. 

Wagmüller  war  eine  starke  und  lebhaft 
empfindende  Künstlernatur,  und  in  seinem  jähen 
Drange,  die  Plastik  nach  seiner  Art  umzubilden 
und  sich  oreg-en  Alles  rückhaltslos  zu  äussern, 
was  seinem  Empfinden  entgegenstrebte,  durch 
dieses  Streben  mag  sein  Auftreten  und  Durch- 
brechen für  ihn  mit  vielen  Wehen  verbunden 
gewesen  sein.  Die  alte  Thatsache  vom  Vorwärts- 
drängen  der  lebendigen  Kraft  und  dem  zähen 
Beharren  der  trägen  Masse  tritt  uns  öfter  bei 
Betrachtung  des  Lebenslaufes  eines  genialen 
Mannes  entgegen.  Wird  diese  Masse  aus  ihrem 
Sumpfe  aufgerüttelt  und  in  ihren  Interessen 
durch  eine  sachliche  aber  strenge  Kritik  ge- 
schädigft,  so  wird  sie  o-efährlich  wie  ein  Schwärm 
aufgejagter  Wespen,  die  blindwüthig  über  den 
Gegner    herfallen     und     ihn     durch     die     Unzahl 

ihrer  Stiche  töten.  Pecht  erzählt  in  seiner  Geschichte  der  Münchener  Kunst  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  dass  Wagmüller  durch  seine  Thätigkeit  als  Jury-Mitglied  der  Münchener  Jahres- 
ausstellung von  1879,  welchem  Amte  er  mit  mehr  Wahrhaftigkeit  als  Schonung  und  Klugheit 
vorstand,  sich  den  Grimm  und  Hass  der  Zurückgesetzten  derart  auf  sich  gezogen  habe,  dass  ihm 
die  gemeinsten  und  ehrenrührigsten  Beschuldigungen  nicht  erspart  blieben.  Das  nahm  er  sich  so  zu 
Herzen,  dass  ihn  ein  Leberleiden  vor  der  Zeit  dahinraffte. 

Ein  anderer  Münchener  Bildhauer,  Lorenz  Gedon,  1843 — 1883,  dessen  vielseitiges  Schaffen 
uns  deutlich  in  dem  Palais  und  der  Galerie  des  Grafen  Schack  entgegentritt,  die  er  erbaut  und  mit 
Skulpturen  geschmückt  hat,  gehört  auch  dieser  Richtung  an,  die  er  besonders  nach  der  Seite 
des    Kunstgewerbes    hin     gepflogen    und    ausgebildet    hat.      Das    Weiche ,    Schwammige    der    Form- 


/?.   Begas:  Adolf  Menzel 


210 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


ükB^ 


behandlung  tritt  in  seinen  plastischen  Werken  nocli 
auffallender  hervor,  aber  ebenso  eine  ursprüngliche 
lebendige  Gestaltungskraft  und  kecke,  flotte  Behand- 
lung. Es  muss  eine  fröhliche ,  anregende  Zeit  des 
künstlerischen  Schaffens  in  München  gewesen  sein, 
als  diese  Künstler  hier  so  vielseitig  thätig  waren,  und 
das  Kunstgewerbe  anfing  aufzublühen. 

Einen  ähnlichen  Entwicklungsgang  wie  in  München 
hat  die  Plastik  im  Norden,  in  Berlin,  genommen. 
Begas  hat  sie  dort  eingeleitet  und  weitergeführt. 
Dieser  Künstler  ging  aus  der  Rauch -Schule  hervor, 
in  der  er  jedoch  nur  kurze  Zeit  zubrachte,  um  sich 
bald  nach  Italien  zu  wenden,  wo  er  im  Umgang  mit 
bedeutenden  Malern,  wie  Böcklin,  Eeuerbach, 
Lenbach,  seine  Naturanschauung  bildete  ,  die  ähnlich 
der  Wagmüller's  von  der  malerischen  Beobachtung 
ausging.  Als  Maler  hat  er  auch  in  den  Porträts,  die 
er  zu  verschiedenen  Zeiten  seines  Schaffens  bemalt 
hat,  ein  innigeres  Naturgefühl,  als  in  manchen  seiner 
plastischen  Bildnisse  zum  Ausdruck  gebracht.  Denn 
oft  zeigt  der  Realismus,  der  hier  hervortritt,  eine 
starke  Neigung  zu  bedenklichen  Effekten ,  die  statt  der  lebendigen  Erscheinung  eine  leere ,  wenn 
auch  wirkungsvolle  Maske  wiedergeben.  Begas  hatte  das  Glück,  einer  Zeit  anzugehören,  die  die 
Künstler  reichlich  mit  Aufträgen  bedachte ,  da  eben  die  ersten  Früchte  des  vaterländischen 
Wohlstandes  heranreiften.  Und  er  hatte  auch  das  Glück ,  einem  Kreis  hervorragender  Menschen 
menschlich  nahe  treten  und  künstlerisch  erfassen  zu  können.  Von  diesen  Gestalten,  Bismarck,  Moltke, 
Kaiser  Wilhelm  und  Kaiser  F"riedrich,  hat  er  in  lebendiger  Weise,  mit  grosser  Treue  gegen  die  Natur, 
lebensvolle  Abbilder  geschaffen,  die  durch  die  gleichzeitigen  geistvollen  Bildnisse  Lenbach's  ergänzt 
und  vertieft  werden.  Als  seine  hervorragendste  Schöpfung  ist  die  Porträtbüste  von  Adolph  Menzel 
hinzunehmen.  Begas  ist  kein  Bildniss  mehr  so  gelungen  wie  dieses,  in  dem  das  ganze  Sein  und 
Wesen  eines  Mannes  in  so  vollendeter  künstlerischer  Weise  zum  Ausdruck  kommt.  Es  scheint,  als 
wären  unter  dem  Einfluss  der  kleinen  Excellenz  alle  Kräfte  des  Künsders  eewachsen,  so  dass  ihm 
gelang,   ein  bedeutendes  Bild  der  Natur  in  bedeutender  Weise  festzuhalten. 

Begas  hat  auch  in  der  Grabmalsplasdk  manches  treffliche  Werk  gebildet  und  dieses  Gebiet 
durch  mancherlei  Motive  bereichert.  Seine  schönste  Schöpfung  auf  diesem  Gebiet,  das  Modell  zum 
Strousberg' sehen  Grabmal,  vereinigt  klassische  Anmuth  und  Würde  mit  vollendeter  Form.  Frei  von 
allzu  malerischen  Momenten,  sind  die  einzelnen  Theile  mit  grossem  edlen  F'ormeng-efühl  durcheebildet, 
es  erscheint   uns   als    eine    kösdiche  Frucht   seines    römischen   Aufenthaltes.     Ein    ähnlicher   Rhythmus 


/i".   Bebras:  Schillerdenknial   in   Heilin 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


211 


beherrscht  auch  noch  einige  der  weiblichen  [""iguren  am  Schlossbrunnen,  obwohl  die  Komposition 
schon  an  arrangirte  Gruppen,  sogenannte  lebende  Bilder,  gemahnt.  Auch  das  Kaiser  Wilhelm-Denkmal 
mit  seiner  unerquicklichen  Häufung  von  allerlei  Motiven  erscheint  uns  wie  ein  Ausstattungsstück  mit 
Koulisseneffekten. 

Von  Anfang  an  tritt  in  Begas'   Empfinden  die  Neigung  zur  künstlerischen  Phrase  hervor  und 
bringt   manches  Werk   um   eine    würdige   einfache    monumentale   Wirkung.      Dazu    kommt    noch    der 


/?.  Maisott ;  1  lerold  vom  Reichstagsgebäude  in  Berlin 


Schlendrian  in  der  Ausführung,  die  sogenannte  malerische  Behandlung,  was  sein  Biograph  Alfred 
Gotthold  Meyer  so  schön  ausdrückt,  wenn  er  von  den  Löwengruppen  an  diesem  Denkmal  spricht, 
«Ihre  kunsthistorische  Eigenart  beruht  auf  ihrer  Naturwahrheit.» 

Man  wird  das  Lebenswerk,  wie  es  in  der  Monographie  vorliegt,  mit  gemischten  Gefühlen 
betrachten,  vereinzelte  Werke  leuchten  daraus  hervor,  wie  von  den  Strahlen  der  untergehenden 
antiken  Schönheitssonne  getroffen,  andere  berühren  uns  wenig  angenehm  und  überlassen  uns  unklare 
wogende,  miteinander  streitende  Empfindungen. 


212 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Begas  neigt  mehr  nach  der  beobachtenden  als  der  schöpferisch  gestaltenden  Seite  seiner 
Kunst  hin,  daher  in  Porträts  eine  gewisse  Stärke  liegt,  aber  offenbare  Mängel  und  Schwächen  zeigt, 
sobald  er  räumlich  grosse  monumentale  Wirkungen  hervorzubringen  bestrebt  ist.  Ein  Werk,  das 
Begas  schon  in  seiner  frühen  Zeit  geschaffen  hat,  zeigt  den  Charakter  ernster  Monumentalität  und 
den  Ausdruck  glücklich  nachempfundener  innerer  Grösse.  Wir  meinen  die  Schillerstatue,  die  1872 
in  Berlin  enthüllt  wurde. 

Begas  hat  zahlreiche  Schüler  herangezogen,  geleitet  und  gefördert,  welche  dann  später, 
nachdem  sie  selbstbewusst  und  selbständig  geworden,  meist  ihre  eigenen  Wege  gingen.  Kraus,  der 
lange  bei  Begas  arbeitete,  und  Felderhoff  sind  die  hervorragendsten. 


R,  Maison:   Brunnen  in  Fürth 


Merkwürdig  erscheint  es,  wie  die  Anhänger  der  Begas'schen  Richtung  in  neuerer  Zeit  von 
dem  entgegengesetzten  Pole  —  nämlich  Hildebrand  —  angezogen  werden.  Bei  näherem  Nachdenken 
wird  man  jedoch  für  diese  Erscheinung  die  inneren  Ursachen  finden.  Jene,  die  mit  Vorliebe  im 
Begas'schen  Kunstcharakter  sich  bewegten,  mausern  sich  jetzt  und  zeigen  Hildebrand'sche  Form- 
ansätze, sobald  sie  an  grössere  Aufgaben,  die  für  das  Freie  bestimmt  sind,  herantreten  müssen. 
Denn  für  die  ernste  Wirkung  im  Freien  reicht  die  blosse  Wirkungsform,  wie  sie  bei  künstlich  venti- 
lirter  Beleuchtung  im  Atelier  entsteht,  nicht  aus.  Diese  Form  stellt  selbst  schon  eine  vom  realen 
Ihatbestand   stark    abstrahirte   Wirkungsform    dar,    die    dem   allgemeinen   Räume   ^eg-enüber   als   ein 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


213 


eigenes  Raumbild  nicht  bestehen  kann  und  so  gleichsam  darin  zerfliesst  und  aufgelöst  wird.  Das 
Geheimniss  der  Wirkung  der  antiken  Plastik  in  jeder  Situation  beruht  zum  grössten  Theil  auf  der 
Fülle  thatsächlichen  P'ormenmaterials ,  das  darin  enthalten  ist,  und  auf  der  rechten  Würdigung  der 
besonderen  Umstände  und  Verhältnisse,  denen  ein  Bildwerk  im  Freien  ausgesetzt  ist. 

In  der  Richtung  Begas  und  Wagmüller  lag  auch  der  Anlass  zu  einem  anderen  Streben. 
Nämlich  sie  begünstigte  die  künstlerische  Anschauung,  die  von  der  Photographie  und  dem  Natur- 
abguss  geleitet  wird,  indem  sie  gleich  diesen,  die  Erscheinung  jedes  Objektes,  die  Struktur  der 
Oberfläche  genau  nachzubilden  bemüht  ist.      Es  durfte  nur  ein  Künstler  auftreten,  der  die  naturalistische 


Richtung  konsequent  bis 
zum  Endziel  verfolgte, 
wie  Maison  gethan  hat. 
Dieser  Künstler  hat  in 
seiner  Art,  sich  der  Natur 
anzuschliessen,  etwas  vom 
Geiste  Menzel's.  Gleich 
diesem  entwickelt  er  in 
seinen  Arbeiten  einen 
grossen  Reichthum  an 
Motiven  und  verfügt  in 
seinem  Fache  über  eine 
ähnliche  bewunderungs- 
würdige Geschicklichkeit, 
die  Natur  in  ihren  schnell- 
sten Bewegungen  zu  ver- 
folgen und  nachzubilden. 
So  hat  er  auch  viele 
neue  Bewegungsmotive 
daraus  hervorgeholt,  ob- 


/?.   Maison:  Brunnen  in  Bremen 


gleich  nur  wenige  sich 
für  die  plastische  Dar- 
stellung unbedingt  er- 
halten lassen.  Wir  ver- 
weisen damit  auf  seine 
bekanntesten  Werke  in 
dieser  Art:  auf  den 
Neger,  der  von  einem 
Tiger  überfallen  wird, 
und  auf  jene  Gruppe  im 
Münchener  Kunstverein, 
die  einen  Neger  darstellt, 
der  auf  einem  Esel 
reitet,  der  ihn  abzuwerfen 
sucht.  Mit  einer  unge- 
mein scharfen  Beobacht- 
ungsgabe ausgerüstet,  in 
allen  technischen  Fertig- 
keiten gewandt ,  wäre 
dieser  Bildner  im  Stande, 


Szenen  aus  dem  vielgestaltigen  zuckenden  Leben,  ähnlich  wie  Menzel  sie  malerisch  dargestellt  hat, 
auch  in  der  Plastik  auszuführen.  Ein  Streben,  das  zum  Unternehmen  von  plastischen  Panoramas  führen 
könnte.  Gegenwärtig  arbeitet  der  Künstler  an  einem  Denkmal  für  Kaiser  Friedrich,  das  in  Berlin 
aufgestellt  wird.  Er  nähert  sich  darin  einer  einfacheren  grösseren  Naturanschauung,  und  das  Modell 
lässt  auf  eine  ernste,  monumentale  Wirkung  schliessen.  Vielleicht  hat  der  Künstler  bei  seiner 
Neigung  zum  Naturalismus  in  positivistischer  Form  starke  Anregungen  von  den  modernen  Franzosen 
und  Belgiern  und  nicht  zum  wenigsten  von  dem  Wiener  Thierbildhauer  Strasser  erhalten,  mit  dem 
er  auch  die  Neigung  zur  Polychromie  gemein  hat. 

Ursprünglich    kam   die   Polychromie    sehr  häufig   bei  Statuen   für  Innenräume  zur   Anwendung. 

Die  assyrischen    und  egyptischen  Tempelbilder   waren   vielfach    bunt   bemalt,   besonders   die   aus  Holz 

n  29 


214 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


A'.   Miiisoii:  Der  I'liilosoph 


geschnitzten.  Bei  der  polychromen  Behandlung  von  Stein- 
figuren wird  man  auf  bestimmte  künstlerische  Absichten,  wie 
auf  das  Hervorheben  aus  der  Umgebung,  auf  die  Betonung 
und  Aufklärung  der  F'ormenwirkung  u.  a.  m.,  zu  schliessen 
haben.  Und  wir  sehen  ausserdem  bei  den  Griechen  neben 
farbig  gehaltenen  Bildwerken  solche  auftreten,  die  aus  ver- 
schiedenem Material,  wie  Holz,  Elfenbein  und  Gold,  oder 
Bronze,  Marmor  und  kostbaren  Steinen  zusammengesetzt 
waren.  Man  darf  auch  hier  annehmen ,  dass  diesem  Ver- 
fahren bestimmte  Absichten  zu  Grunde  lagen:  nämlich  die 
Reize  und  Eigenthümlichkeiten,  die  sich  aus  der  Beschaffenheit 
der  verschiedenen  Materialien  ergeben,  unter  künstlerischen 
Gesichtspunkten  in  einen  bestimmten  Zusammenhang  und 
Wirkung  zu  bringen.  Die  Anregung,  die  solche 'Bildwerke 
in  dem  mystischen  Halbdunkel  der  Tempel  auf  die  erregte 
Phantasie  ausübten,  mag 
eine  poetisch  sehr  wirk- 
same gewesen  sein.  In 
der  künstlerischen  Aus- 
gestaltung der  Kirchen 
im    Mittelalter   beo^egrnet 


uns  Aehnliches.  Die  Be- 
malung der  Holzstatuen  war  allgemein  üblich,  auch  bemalte  man 
sie  in  einem  naturalistischen  Sinne;  jedoch  vor  Allem  macht  sich 
die  Absicht  bemerklich,  die  Figuren  in  einen  Zusammenhang  mit 
ihrer  Umgebung  zu  bringen.  Auch  die  Bemalung  von  Stein- 
figuren kommt  vor.  Die  Farbe  tritt  in  einem  gewissen  Ver- 
hältniss  und  Abhängigkeit  zur  Umgebung  auf,  daher  meistens 
bei  Statuen  für  Innenräume;  selten  erstreckt  sie  sich  auf  Edel- 
material,  wie  Marmor,  Bronze  etc.  Wird  doch  selbst  die  schöne 
Struktur  des  Edelholzes,  wie  Eichen,  Nussbaum,  Ceder  etc.  im 
ursprünglichen  Charakter  zu  erhalten  gesucht.  Die  Farbe  ist  nie 
Selbstzweck,  wie  bei  Maison's  und  Strasser's  Figuren,  wo  sie 
als  naturgetreue  farbige  Bemalung  auftritt. 

Erscheint  doch  selbst  die  Farbe  in  der  Natur  meist  in 
einem  Zusammenhang  mit  einem  ähnlich  gestimmten  Milieu, 
und  einzelne  stark  farbige  Gegenstände  erscheinen  uns  auffällig 
und  unnatürlich,    wenn  sie  daraus  losgelöst  sind.     Aehnlich  wirkt 


A".   Seffncr:  Max    Klinger 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


215 


auch    eine    farbige    Plastik    auf  Ausstellungen  auf  uns;    wir    empfinden   sie    mit    einem  gewissen  Miss- 
behagfen  als  «jrobe  Täuschung^, 

Mehr  an  das  alte  Verfahren,  aus  verschiedenfarbigen  Materialien  ein  plastisches  Bild  zusammen- 
zufügen, lehnt  sich  Klinger  an.  Der  geniale  Radirer,  der  sich  mit  Lust  und  Eifer  in  der  Plastik 
versucht,  unternimmt  mit  seiner  nervösen  modernen  Seele  und  ganz  persönlichem  Geschmacke, 
Bildwerke  zu  gestalten,  in  denen  er  etwas  von  dem  Abglanz  des  farbigen  Lebens  erhaschen  und  einige 
Züee  dieses  ewig^  wechselvollen  Phänomen  in  Stein  bannen  will.  Schwebt  ihm  dabei  das  Bild  einer 
von  hoher  künsderischer  Kultur  beherrschten  Welt  vor,  ähnlich  jener,  die  er  in  seinem  Inneren  hegt 
und  trägt,  wo  solche  Bildwerke  inmitten  einer  seltsamen  Pracht  Aufstellung  finden  könnten.^  Wer 
weiss  es?  Uns  muthen  sie  an  wie  Probleme  einer  sehn- 
süchtitj  nach  Schönheit  strebenden  verofeistieten  Sinnen- 
weit.  Seltsam  mischen  sich  darin  Züge  scheinbaren 
Anschlusses  an  alte  Traditionen  mit  den  Neigungen 
und  Launen  eines  schrankenlosen  Individualismus.  Bald 
ringt  in  diesen  Schöpfungen  ein  leidenschaftlich'  Stammeln 
nach  Ausdruck  tiefer  persönlicher  Empfindungen,  bald 
bekundet  sich  darin  ein  bewusstes  Streben,  quellende 
Lebensformen  zu  Gebilden  von  hoher  Schönheit  zu 
gestalten,  bald  aber  auch  ein  Hinarbeiten  auf  möglichst 
eigenthümliche  Wirkungen,  die  sich  verlieren  in  tech- 
nischen Problemen.  Wir  mögen  an  vielen  seiner  Schöpf- 
ungen herrliche  Einzelformen  bewundern,  aber  ähnlich 
wie  bei  der  Betrachtunsf  von  Werken  Rodin's  befriedig-t 
uns  nicht  das  Ganze  als  ein  harmonisches  Gebilde ,  und 
selten  überkommt  uns  davor  die  Ruhe  der  Befriedigung, 
in  der  ein  Kunstwerk  ganz  in  eine  ruhige,  stille  Em- 
pfindung aufgeht.  Es  gibt  eine  Form  des  künstlerischen 
Sehens  und  getreuen  Nachbildens   der  Natur,    die   man 

mit  Positivismus  bezeichnete.     Diese  Art  Erscheinung  finden  wir  unter  den  Porträtisten  öfter,  die  im 
fortwährenden  Umgang  mit  der  Natur  stehen  und  sich  einer  objektiven  Auffassung  befleissigen. 

Seffner  sucht  in  seinen  Werken  den  Eindruck  möglichster  Naturwahrheit  zu  erreichen,  seine 
Bildnissbüsten  sind  von  ähnlicher  Wirkung  wie  eine  photographische  Wiedergabe.  Durch  eine 
geschickte  stoffliche  Behandlung  steigert  er  noch  den  lebendigen  Ausdruck,  der  ohne  künstlerische 
Uebersetzung  doch  jenes  gewisse  Etwas  in  der  Wiedergabe  des  Objektes  festhält,  was  mit  «sprechend 
ähnlich»  bezeichnet  wird.  Seine  Porträts  bestechen  den  Beschauer  durch  Treue  und  Ausführlichkeit 
in  der  Nachbildung  des  Lebens.  Er  erscheint  uns  in  seinem  ganzen  Streben  auch  als  einei  der 
modernen  Sucher  nach  einem  plastischen  Ideal. 

Das    Streben   nach   möglichster  Naturtreue    hat   auch   noch   eine   künstlerische    Form   der   Dar- 

29« 


A".   Seffner:  Königin  Carola   von  Sachsen 


216 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Stellung  gezeitigt,  bei  der 
der  Künstler  weniger  von 
dem  Problem  der  künstler- 
ischen Formgestaltung  aus- 
geht, als  von  seinem  per- 
sönlichen Empfinden,  von 
dem  Eindruck,  den  ihm 
dieses  übermittelt.  Wie  der 
Künstler  der  Form  ein  ent- 
stehendes Bildwerk  auf  die 
Anregfuncf  zur  Formvor- 
Stellung  hin  prüft,  so  der 
Künstler  der  Empfindung 
sein  Werk  auf  den  Gehalt 
zur  seelischen  Anregung 
hin.  Die  Form  an  und  für 
sich     ist    ihm    gleichgültig, 


K.   Seffner:  Bildnissbüste 


wenn     .sie     nicht    Empfind- 
ungen hervorruft. 

Die  I'orm,  als  ein  über- 
setztes Bild  aus  der  Natur, 
will  den  Beschauer  zu  räum- 
lichen Vorstellungen  an- 
regen und  durch  diese  Em- 
pfindungen erwecken,  unser 
Künstler  will  in  erster  Linie 
nur  durch  die  F"orm  seel- 
ische Schwingungen  über- 
mitteln. Er  unterwirft  das 
nüchterne  Erscheinunofsbild 
den  mannig-fachsten  Modu- 
lationen  und  Stimmungen. 
Wie  die  Sprache  im  Aus- 
druck sich  dem  Gefühl  an- 


passt,     so    der    Empfindung    die    Form.      Es    steht    somit    "diese    künsderische    Ausdrucksweise     im 
Gegensatze  zu  dem  Positivismus,  wie  er  in  Maison  und  Strasser   seine  Vertreter  hat,  und  sie  unter- 


scheidet sich  von  Hildebrand's 
Richtung  wie  Form  und  Em- 
pfindung unter  sich.  Dass 
dieses  Problem  der  Empfind- 
ung immer  Antheil  an  der  künst- 
lerischen  Gestaltung  nimmt  und 
diese  stark  beeinflusst,  erkennen 
wir  an  der  künstlerischen  Ström- 
ung der  Gegenwart. 

In  August  Hudler's  Wer- 
ken äussert  sich  diese  Richtung 
auf  eine  entschiedene  und  kräf- 
tige Weise.  Er  bildete  sich 
auf  der  Münchener  Akademie, 
die  aber  wenig  Antheil  an  seiner 


K.  Seffner:   Bildnissbüste 


Entwicklung  hat.  Aus  dieser 
Zeit  erhielt  sich  nur  eine  aller- 
dings sehr  merkwürdige  Arbeit. 
Der  Künstler  nannte  die  Figur 
«Ismael«.  Sein  eigenthümliches 
tiefes  Empfinden  drückt  sich 
hier  bereits  durch  und  äussert 
sich,  wenn  auch  noch  in 
unklarer  Weise.  Von  dem 
Professor  der  Bildhauerschule 
wurde  die  Arbeit  als  nicht 
plastisch  bezeichnet.  Hu  dl  er 
trat  zur  Malerei  über,  nicht 
dieses  Urtheils  wegen,  nicht 
auch,     weil     ihm     das    Selbst- 


vertrauen mangelte,  auf  dem  einmal  beschrittenen  Wege  weiter  zu  gehen,  sondern  in  der  Absicht, 
sein  Können  durch  Zeichnen  und  Malen  nach  der  Natur  noch  besser  zu  schulen.  Einige  Jahre  später 
waren  von  ihm  auf  der  Berliner  grossen  Kunstausstellung  zwei  Büsten  von  Münchener  Malern  zu 
sehen,    die    durch    ihre    lebendige    Wiedergabe    des    Persönlichen    in    der    Bestimmtheit    der    Charak- 


M     klms'i   soiilp. 


I'tioi  .    K     ilaiitttiaeiltcl,   UUii.:>it:ri 


Kauernde. 


H,   kInUoi)   RCulp 


V.   HKiifHtaeagr,  Unucheo 


Statue  O tto  I. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


217 


terisirung  und  durch  ihre  feine  Durchbildung  berechtigtes  Aufsehen  erregten.  Professor  G.  Treu 
hat  sie  für  das  l<gl.  Skulpturenmuseum  in  Dresden  erworben.  Indem  der  Künstler  in  die  Büste 
hineinlegt,  was  er  aus  dem  Objekt  herausfühlt,  kommt  ein  gewisser  realistischer  Zug  (wenn  man 
will  idealistisch)  in  fesselndster  Weise  zur  Wirkung.  Die  Behandlung  und  Auffassung  ergibt  eine 
Art  malerischer  Wirkungsform,  wie  sie  Wagmüller  anstrebte  und  wie  sie  Rodin  zum  Theil 
eiffenthümlich  ist. 

In  der  Bronzefigur  «Adam»   kommt  des  Künstlers  Streben  und  Empfinden  besonders  gut  zum 
Ausdruck.     Er  stellt  Adam  als  einen  Jüngling  dar,  der  mit  reger  Wissbegierde  eine  Blume  entfaltet. 


A.  Hudler:  Bildnissbüste 


Er  zeigt  sich  in  einem  Zustande  vollkommenen  Unberührtseins  von  aller  Bewusstheit,  wie  ein  grosses 
Kind,  das  staunend  in  die  Welt  tritt  und  sie  mit  jedem  neuen  Schritte  erst  entdeckt.  In  einer 
kindlich  wissbegierigen  Regung  gewinnt  er  Fühlung  mit  dem  Räthsel  der  ewig  schaffenden  schöpfer- 
ischen Natur,  das  ihm  in  der  Gestalt  einer  Blume  entgegentritt.  Diese  Figur  stellt  gleichsam  in 
rührendster  Weise  das  Streben  des  Künstlers,  das  Suchen  nach  Ausdruck  seiner  tiefsten  Gefühle 
dar.  Gleich  Adam  steht  er  auf  der  Erde,  in  köstlicher  Unbewusstheit,  inmitten  einer  unkünstlerischen 
Welt  löst  sich  all'   sein  Sinnen,  all'   sein  Denken  in  Gefühl  und  Empfindungen  auf 

Die  objektive  formale  Richtung  Hildebrand's  und  diese  ganz  subjektive  persönliche,  die  sich 


218 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


A.   Iludler:  Hildnissbüste 


in  Hudler's  Kunst  äussert,  werden  immer  die  zwei  Pole  sein,  nach  denen  das  künstlerische  Schaffen 

hinneigt  und  angezogen  wird.     Sie  sind  trotz  ihrer  Verschiedenheit  doch  unlöslich  miteinander  verknüpft 

durch  die  Folge  von  Elementen,  welche  die  künstlerische 
Wahrnehmung  und  Empfindung,  Anschauung  und  Vorstellung 
ausmachen.  Nur  in  der  Art  der  künstlerischen  Gestaltung 
äussern  sie  sich  verschieden,  ihre  Wirkung  bleibt  eine  ähn- 
liche. In  der  Plastik  der  Gegenwart  flutet  die  künstlerische 
Strömung  von  einem  Pol  zum  andern. 

Wir  müssen  hier  noch  einer  anderen  Thätigkeit  ge- 
denken, welche  in  bester  Weise  das  Interesse  und  Verständniss 
für  die  plastische  Kunst  zu  erwecken  im  Stande  ist,  weil 
sie  überall  einfach  und  liebenswürdig  auftritt,  auf  Strassen 
und  Plätzen ,  an  Bauten  und  Grabmalen.  Sie  kommt  dem 
natürlichen  Schönheitsgefühl  entgegen,  durch  anmuthige  oder 
kräftige    Fülle    der    Form    und    durch    den    Rhythmus    schön 

empfundener  Linien.     Sie  bildet  jederzeit  den  Genuss-  und  Au.sgangspunkt  der  Liebe  zu  den  schönen 

Künsten.     Sie  will  im  Grunde  dasselbe,   was    Hildebrand   gross 

und  bedeutend  in  massvolle  Strenge  einkleidet  und  anstrebt,   nur 

lässt  die  Art,  in  der  sie  Hubert  Netzer  vertritt,  den  individuellen 

Kräften  mehr  Spielraum. 

Netzer's  phantasievolle  Kunst  zeigt  sich  am  schönsten  in 

seinen  Brunnenschöpfungen,  in  der  Gruppe  auf  einem  Münchener 

Platz ,    wo   ein  Triton    mit   einer  Schlange  spielt ,    die  Wasser  auf 

ihn   herabspeit.     Femer    in    dem    herrlichen   Narziss-Brunnen ,    der 

vom    bayerischen    Staat   erworben,    im   Hofe   des  neuen  National- 
museums aufgestellt  ist.     Und  weiterhin  in  dem  Orpheus-Brunnen, 

der  die  heurige  Jahresausstellung  im  Glaspalast  schmückte.     Diese 

Brunnenschöpfungen  gemahnen  in  ihrer  poetischen  Erfindung  und 

in  den  reizvollen  Formen  an  köstliche  Brunnenbilder,  wie  wir   sie 

in  alten  prächtigen  .Städten  noch  überall  finden.      Dieser  Künstler 

hat  sich  auch  in  dekorativen  Gruppen  zum  Schmucke  für  Bauten 

hervorgethan.     In  dieser  Hinsicht  sind  von  Bedeutung  die  grosse 

Grupi)e  in  Stein  auf  der  Würzburger  Universität  «Prometheus  als 

Lirhtbringer» ,  ein  Motiv,  das  zu  geistvollen  Deutungen  über  die 

Reaktion    Anlass  uab    und    viel   besprochen  wurde.     Von    ausser- 

onlcntlirher  .Schönheit  sind  die  edlen  Frauengestalten  am  Münchener 

Jiisiizpalast.      Netzer    erweist    sich    in    all'    diesen     Schöpfungen   als   ein  originaler  Künstler;    in    der 

1-ülIe  der  Motive  äussert  sich  der  Reichthum  seiner  Phantasie  und  Gestaltungskraft,  den  er  in  kräftig 


A.   Hudler:  Adam 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


219 


anrecrenden  Gebilden  fort  und  fort  kundgibt.  Wir  nähern  uns  bei  der  Betrachtung  von  Netzer's 
Kunstcharakter  wieder  den  am  Eingang  ausgesprochenen  Wünschen  und  ausgesteckten  Zielen,  dass 
die  deutsche  Plastik  wie  die  antike  in's  Leben  treten  und  als  eine  monumentale  Raumkunst  im 
Freien,  wie  als  eine  schmückende  im  Hause  zur  Geltung  kommen  möge 

Wir  haben  ein  Stück  Entwicklungsgeschichte  unserer  Plastik  seit  Anfang  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  vorgeführt  und  konnten  bemerken,  wie  diese  Kunst  vom  Stamme  der  Tradition 
abzweigte  und  ihr  das  rechte  Gedeihen  ermangelte ;  wie  sie ,  ähnlich  einer  Treibhauspflanze ,  in  den 
Ateliers  der  Bildhauer  verkümmerte.  Wie  diese  in  kleinen  Statuetten  grosse  bildnerische  Vorstell- 
ungen und  Empfindungen  auszudrücken  sich  abmühten,  da  die  natürlichen  Bedingungen  für  die  Plastik, 


A.  Htidler:  Der  Schnitter 

im  räumlich  Grossen  sich  auszubreiten,  fehlten.  Wie  aber  trotzdem  durch  diese  Arbeiten  im  Stillen 
ein  Zug  inniger  Vertiefung  und  lebensvoller  Empfindung  in  diese  Kunst  kam ,  der  ihr  bisher  fremd 
gewesen,  oder  vielmehr  seit  der  Frührenaissance  abhanden  gekommen  war.  Jetzt,  da  sie  aus  der 
Enge  der  Ateliers  heraus  wieder  in's  Freie,  aus  kleinen  beschränkten  Darstellungen  ins  räumlich 
Grosse  gehen  kann ,  von  abstrakten  Anschauungen  zu  lebendigen  Vorstellungen  fortgeschritten  ist, 
jetzt  kommt  auch  der  künstlerischen  Darstellung  die  Vertiefung  des  Empfindens,  die  Bereicherung  der 
Form  zu  Gute.  Wo  könnten  alle  die  Schätze  herrlicher  zur  Anwendung  kommen,  als  in  den 
plastischen  Schöpfungen  im  Hause,  im  Freien,  auf  Strassen  und  Plätzen  und  unseren  Friedhöfen, 
überhaupt  im  engen  Anschluss  an  unsere  tägliche  Umgebung,  wie  es  im  Alterthum  der  Fall  war? 
Air   die  Kräfte ,    wie  wir    sie    einzeln    kennen  gelernt ,    in  Bewegung  zu  setzen ,    all'   die  tiefen 


220 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Quellen,  die  vorhanden  sind,  in's 
Leben  hinüber  zu  leiten,  dies  bildet 
die  Aufgabe  der  Kunstfreudigen, 
der  Förderer  und  Unterstützer  der 
Künste.  Ein  Füllhorn  schöner 
Gaben  ist  bereit,  auszuströmen 
und  unser  Leben  zu  schmücken. 
Unterstütze  und  fördere  man  die 
Künste  auf  die  rechte  Art,  ent- 
locke man  dem  Künstler  die 
edelsten  und  besten  Früchte  ohne 
Hebel  und  Schraubstöcke,  ohne 
Pressen  und  Blutegel   anzulegen,    auf  eine   vornehme    menschliche  Weise,    mit   wahrer  Antheilnahme 


//.   Netzer: 
Giebelfigur  am  Justizpalast 


//.  Netzer:  Brunnenfigur 


und  warmem  Mitempfinden 
an  seiner  stillschaffenden, 
schöpferisch  bildenden  Thä- 
tigkeit. 

Wir  sind  mit  unseren 
Betrachtungen  bis  mitten 
in  eine  fröhlich  schaffende 
Gegenwart  hineingerathen, 
da  am  alten  Stamme  der 
Tradition  manches  frische 
Reis  angeschoben  hat;  wir 
können  nicht  Allen  zumal 
unsere  Aufmerksamkeit  zu- 
wenden   und    haben    daher 


//.  Netzer:   Entwurf  für  ein  Denkmal 


gende,  an  dem  sich  der 
frische  Trieb  zu  äussern 
beginnt,  aufmerksam  ge- 
macht. Wir  gedenken 
später  in  weiterer  F"olge 
aus  der  jungen  Pflanz- 
schule deutscher  Plastik 
noch  mit  manchem  blüthen- 
vollen  Zweig  unsere  Blätter 
zu  schmücken. 

Flüchtig  traten  uns  im 
künstlerischen  Leben  der 
Gegenwart  Erscheinungen 
entofeg^en ,  in  denen  wir 
manche  Probleme ,  die  uns 


nur     auf    das    Zunächstlie- 

hier  beschäftigt,    in  harmonischer   Weise    gelöst   sahen   und    die   zu   mancher   Deutung   Anlass   geben 

können,  welche  Wege  die  deutsche  Plastik  noch  gehen  wird,  ehe  sie  sich  selbständig  zu  äussern  beginnt. 


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Die  Kunst  unserer  Zeit 


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