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Full text of "Die Kunst unserer Zeit; eine Chronik des modernen Kunstlebens"

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UNSERER 

ZEIT 

EINE  CHRONIK  DES 
\/A'^DERNEN   KUNSTLEBENS  v,,. 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY     V  AJ^i^M. 


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CANADA  COUNCIL  SPECIAL  GRANT 


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KUNST  UNSERER  ZEIT 


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DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT 


EINE    CHRONIK 


DES 


/MODERNEN   KUNSTLEBENS 


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MÜNCHEN 
FRANZ   HANFSTAENGL 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


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ü.  FRANZ'SCHE  H.  B.  HOF-BUCHDRUCKEREl  (G.EMIL  MAYER),  MÜNCHEN 


Inhalts-Angabe 


1903.    I.  HALBBAND 


Literarischer  Teil 


B  r  e  d  t ,  E.  W.    Der  Teufel  in  der  bildenden  Kunst 
Brosch,  L.     Cesare  Laurenti 


Seite 
1 

97 


Heilmeyer,  A.     Über  Kleinmalerei    .     . 
Ostini,  Fritz  von.     Anselm  Feuerbach 


Seite 

05 
21 


Vollbilder 


Bredt,  F.  M.     Sirenen 

Buchbinder,  S.  Ein  Grübler  .  .  .  . 
Diez,  Wilh.  von.  Excellenz  auf  Reisen 
Feuerbach,  Anselm.     St.  Antonius    .     . 

—  Ricordo  di  Tivoli        

—  Hafis 

—  Dante 

—  Madonna  

—  Pietä     


Seite 

17 

.  73 

.  89 
5 

.  24 

.  25 

.  28 

.  29 

.  36 

—  Im  Frühling 37 

—  Musizierende  Frauen       44 

—  Urteil  des  Paris 45 

—  Medea       48 

—  Ein  Traum 49 

—  Die  Amazonenschlacht 56 

—  Titanenkampf 57 

Grützner,  Ed.     Versuchung  des  Antonius     .  9 

Harburg  er,  Edm.     Ein  alter  Schäker        .     .  93 

Kem^ndy,  J.     Der  Feigling       88 


Klinger,  Max.  Christi  Höllenfahrt  .  .  .  . 
Kricheldorf,  H.  G.     Blumenzauber  .     .     .     . 

Kronberger,  C.     Der  Raucher 

Laurenti,  Cesare.     Studienkopf      .     .     .     . 

—  Erster  Zweifel 

—  Präludium 

—  Antike  Vision 

—  Nymphea       

—  Hirtenleben 

Löwith,  W.     Disputation 

Santi,  Raffaello,  und  Giulio  Romano. 

Der  Sündenfall 

Schleich,  Rob.  Aufsteigendes  Gewitter  .  . 
Schmitz,  Ernst.  Die  beiden  Alten  .  .  . 
Seiler,  C.     Im  Repli 

—  Münchhausen 

Simm,  Franz.  Besuch  in  der  Loge  .  .  . 
Teniers,   David,   der  Jüngere.      Versuchung 

des  heil.  Antonius 


Seite 

4 

69 

68 

100 

101 

104 

105 

112 

113 

80 

16 
92 
72 
81 
85 
84 

8 


Textbilder 


Buonarroti,  Michelangelo.  Der  Sünden- 
fäll    und   die  Austreibung   aus   dem   Paradies 

Callot,  Jacques.  Die  Versuchung  des  heil. 
Antonius 

Cranach,  Lucas,  der  Ältere  (Kopie  nach 
Hieronymus  Bosch).  Das  Paradies  (Teilstück 
eines  Flügelaltars) 

Cristus,  Petrus.  Teilstück  aus  „Das  jüngste 
Gericht" 

Feuerbach,  Anselm.  Geflügelter  Genius  . 
—     Selbstbildnis 


Seite 


20 
21 
23 


Spielende  Kinder 24 


Seite 

Feuerbach,  Anselm.     Handzeichnung      .     .  25 

—  Rückwärts  stürzende  Amazone  (Studie)  .  26 

—  Sterbende  Amazone  (Studie) 27 

—  Studienkopf  (Handzeichnung)      ....  27 

—  Kleine  Lautenspielerin  (Handzeichnung)  .  28 

—  Handzeichnungen 29 

—  Iphigenie 30 

—  Medea 31 

—  Medea  (Entwurf) 32 

—  Iphigenie  (Studie) 33 

—  Frühlingsidylle 34 

—  Tod  des  Pietro  Aretino 35 


Seite 

Feuerbach,    Anselm.     Melancholie,    Studie 

(später  in  „Medea's  Traum"  verwertet)  37 

—  Maria  mit  der  Leiche  Jesu  (Entwurf)  .     .  38 

—  Brunnenszene  (Skizze) 39 

—  Olceanide  (Studie) 41 

—  Prometheus  und  die  Nereiden     ....  43 

—  Nereus  und  Oi^eanide  (Studie)    ....  44 

—  Gefesseiter  Prometheus  (Studie)      ...  45 

—  Orpheus  und  Eurydike 47 

—  Maria  (Studie  zur  „Pietä") 49 

—  Skizze .  50 

—  Italienisches  Mädchen 51 

—  Jugendliches  Selbstbildnis 52 

—  Gaea 53 

—  Uranus 53 

—  Familienidylle 55 

—  Alkibiades  (Studie) 56 

—  Porto  d'  Anzio  (Meerstudie) 57 

—  Drei  Amazonen  im  Angriff  (Studie)     .     .  59 

—  Romeo  und  Julia 60 

—  Venus  im  Muschelwagen  (Studie)    ...  61 

—  Studienkopf    mit    Epheulaub    (Hand- 

zeichnung)    63 

—  Bestattung 64 

Goes,  Hugo  van  der.     Der  Sündenfall     .     .  3 
Götz,  Ferdinand.    Die  Versuchung  des  heil. 

Antonius 16 

Harburger,  E.     Vier  Skizzen 89,  90 

—  Vier  Skizzen  und  eine  Zeichnung  aus  den 

„Fliegenden  Blättern" 91 

—  Selbstbildnis 92 

—  Zwei  Zeichnungen   aus   den  „Fliegenden 

Blättern" 92,  93 

Klinger,  Max.    Adam  und  Eva  und  Tod  und 

Teufel 10 

—  Salome 11 

Kricheldorf,  H.  G.     Schmetterlinge      ...  67 

—  Tulpen 68 

—  Fruchtstück 69 

Kronberger,  C.   Zu  spät  entdeckter  Einbruch  70 

—  Politiker 71 

—  Ein  lustiger  Schwabe 72 

—  Überwiesen  (Aus  der  Zeit  der  Patrimonial- 

gerichte) 73 

Laurent!,  Cesare.     Liebesgeschichten      .     .  99 

^-     Auf  steinigem  Wege       100 

—  Die  Sünde 101 

—  Liebeleien  in  Chioggia 102 

~     Fallende  Blätter 102 

—  Nahendes  Gewitter 103 

—  Cal^ra  (Die  Keiferin) 104 


Seite 

Laurenti,  Cesare.     Notturno 105 

—  Knabenbildnis 106 

—  Bildnis  der  Frau  M 107 

—  Der  Sohn  Gabriele  d'Annunzio's     .     .     .  107 

—  Metamorphose 108 

—  Winternachtstraum 109 

—  Die  Parzen 110 

—  Neues  Blühen 111 

—  Enttäuschte  Seelen 112 

—  Finis 113 

—  Die  Lebensbrücke  (Jugend) U4 

—  Die  Lebensbrücke  (Alter) 115 

—  Der  Rosenstock 116 

Löwith,  W.     Skizze 74 

—  Reminiscenzen  (Bildanlage) 75 

—  Ein  interessantes  Blatt 76 

—  Der  Aufschneider 77 

—  Studie 78 

—  Skizze 79 

Meister   mit   dem    Zeichen  L  C  Z.      Die  Ver- 
suchung Christi 4 

Michelangelo,  siehe  Buonarroti. 
Rops,  F^licien.   La  femme  et  la  folie  dominant 

le  monde 17 

—  Les  diables  froids 19 

Schleich,  Rob.     Ölstudie 93 

—  Markt  in  Erding 94 

—  Markttag    in    einem    oberbayrischen    Ge- 

birgsdorf 95 

—  Vor  dem  Wirtshaus 95 

—  Ölstudie 96 

Schongauer,  Martin.     Die  Versuchung  des 

heil.  Antonius 5 

Seiler,  C.     Bibliothek 80 

—  Hirschpark  bei  Nymphenburg     ....  81 

—  Seitenaltar  in  Fürstenfeldbruck    ....  82 

—  Johanniskirche  in  München 83 

—  „Ein  Sperling  in  der  Hand  ist  besser  als 

zehn  Tauben  auf  dem  Dache"  ...  84 
Simm,    Franz.     Studie  zu   einer   Illustration 

für  die  „Fliegenden  Blätter" 65 

—  Bildnis  meiner  Jüngsten 85 

—  Studie    zu    einer    Illustration    für    die 

„Fliegenden   Blätter" 86 

—  Studie 87 

—  Studie  zu  dem  Bilde  „Musikpause"     .     .  87 

—  Porträtstudie 88 

Stuck,  Franz.     Die  Sünde 12 

—  Sirene 13 

Thoma,    Hans.     Versuchung    Christi    in    der 

Wüste 14 


G^'SS^^Ö^ 


Der  Teufel  in  der  bildenden  Kunst 

VON 

E.  W.  BREDT. 

11  |ie  Frage,  „Wie  die  Künstler  den  Teufel  dargestellt",  darf  zunächst  für  eine  höchst  müssige 
^^  gelten.  All'  die  hunderttausend  Teufel,  die  wir  von  Kindheit  an  gemalt  und  gemeisselt  vor 
uns  gesehen  haben  und  die  wir  immer  wieder  sehen  auf  Darstellungen  der  Hölle  und  der  Vor- 
hölle und  des  jüngsten  Gerichts,  haben  uns  des  Teufels  Bild  unauslöschlich  eingeprägt.  Der  Teufel 
mag  mit  oder  ohne  Flügel,  bärtig  oder  unbärtig,  fast  menschlich  oder  wie  ein  tierisches  Monstrum 
dargestellt    werden.  Alt    und  lung    kennt    ihn    doch    nach    all    den    heiligen    und    profanen   Bildern. 

Nicht  also  durch  bestimmte  Einzelheiten  ist  des  Teufels  Bild  uns  bekannt,  sondern  durch 
sein  ganzes  Aussehen.  Es  ist  uns  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen,  dass  dem  Teufel,  vom 
frühen  Mittelalter  ab  bis  heute,  wesentlich  zu  eigen  eine  möglichst  abschreckende,  naturwidrige, 
ja  oft  ekelerregende  Hässlichkeit. 

Da  uns  eingeprägt  worden  ist,  dass  alles  Böse  hässlich  sei,  so  finden  wir  sein  hässliches 
Äussere  selbstverständlich.  Doch  sobald  wir  uns  lebendig  vergegenwärtigen,  in  welch'  ver- 
führerisch-schönem Bilde  an  uns  das  Böse  im  Leben  herantritt,  berührt  uns  die  Thatsache, 
dass  die  Kunst  das  Böse  so  durchaus  hässlich  gebildet,  überraschend  und  widersinnig. 

Gewiss  würde  es  nicht  so  viel  Böses,  so  unzählige  Sünder  und  so  viel  schönere  Sünder- 
innen auf  Gottes  schöner  Welt  geben,  wenn  nicht  gerade  die  Sünde  für  diese  der  Inbegriff  allen 
Reizes  gewesen  wäre.  Hat  jener  grosse  Kirchenhistoriker  nicht  Recht,  der  da  sagte:  ,,Die  Welt- 
geschichte würde  langweilig  sein  ohne  die  Kämpfe,  welche  alle  die  Sünde  zum  Hintergrunde  haben. 
Grosse  Zeiten  und  Charaktere  sind  bedingt  durch  Sünde  und  Not."? 

Lockt  denn  etwa  den  gemeinsten  Verbrecher  etwas  anderes  als  gleissendes  Gold  oder 
irgend  ein  Schatz,  durch  den  er  sich  irgend  etwas  für  seine  Vorstellung  Begehrenswertes 
erwerben  kann?  Ganz  ähnlich  verlockend  ist  die  Vorstellung  von  all'  den  kleinen  Sünden  des 
alltäglichen  Lebens,  wie  von  den  völkermordenden  Sünden  gigantesker  Verbrecher.  Den  Einen 
lockt  der  perlende  Wein  im  Pokale,  um  Vergessenheit  und  wieder  Vergessenheit  zu  schlürfen, 
während  die  Ubergewaltig- Ehrgeizigen  aber  unter  den  Menschen  wie  den  Völkern  kalt  über 
Tausende  und  Abertausende  wegschreiten,  um  zu  dem  ihnen  hoch  erscheinenden  Ziele  zu  gelangen. 

XIV   1 


2  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Mag  den  Entarteten  immerhin  das  Widerliche  zur  Sünde  locicen  —  das  sind  Ausnahmen, 
und  in  merkwürdiger  Kongruenz  steht  also  nur  die  naturwidrige  Sünde  mit  der  naturwidrigen, 
aber  landläufigen  Gestalt  des  Teufels. 

Wo  anders  sonst  stimmt  unsere  Teufelsgestalt  mit  der  leibhaftigen  Sünde  überein? 

Wie  war  es  übrigens  beim  ersten  Sündenfall,  beim  Sündenfall  kurzweg? 

Zum  Reiz  des  Verbotenen  kam  noch  ein  Versprechen  der  Schlange,  wie  es,  für  Intellektuelle 
wenigstens,  verführerischer  nicht  gedacht  werden  kann.  ,,lhr  werdet  sein  wie  Gott."  Und  vom 
Baume  heisst  es:  ,,Eva  fand,  dass  der  Baum  lieblich  anzusehen,  dass  es  ein  lustiger  Baum  sei."  — 

Nicht  länger  ist  hier  ,, aller  Laster  Anfängen"  und  Bildern  nachzuspüren.  An  der  Thatsache 
lässt  sich  ja  doch  nichts  ändern,  dass  die  Kunst  Jahrhunderte  lang  das  Böse  so  hässlich  als 
möglich  dargestellt  hat. 

Wir  wären  ohne  Weiteres  nun  berechtigt,  diese  Thatsache  als  einen  ungeheuerlichen  Irrtum 
gerade  der  Künstler  aufzufassen,  —  wenn  wir  nur  nicht  etwas  sehr  Wichtiges  bei  dieser  Kritik 
vergessen  hätten. 

Es  ist  zu  erinnern,  dass  in  fast  allen  Bildern,  wo  der  Teufel  so  abschreckend,  so  wider- 
wärtig dargestellt  ist,  er  ein  ganz  anderes  Amt  ausübt  als  das  des  Versuchers.  Im  Verhältnis 
jedenfalls  zu  der  unzählbaren  Menge  von  Teufelsdarstellungen  im  Mittelalter  tritt  der  Teufel  nur 
ganz  selten  als  Versucher  auf,  häufiger  ist  er  dargestellt  als  das  Böse,  das  dem  Guten  unterliegt, 
am  allermeisten  aber  ist  der  Teufel  im  Mittelalter  Henker  und  Scherge  und  Nachrichter  der 
himmlischen  Justiz,  der  Kaiser  und  Papst,  Bürger,  Bauer  und  Edelmann  am  grossen  Seil  in  der 
Hölle  feuerspeienden  Rachen  treibt. 

Nichts  wäre  also  verkehrter,  als  des  strafenden  Teufels  hässliche  Gestalt  absurd  zu  nennen. 
Ganz  im  Gegenteil  darf  man  es  als  ein  glänzendes  Zeichen  mittelalterlicher  Kultur  bezeichnen, 
dass  deren  Künstler  die  Funktion  des  Höllenschergen  so  deutlich  auszudrücken  wussten.  Treff- 
licher wenigstens  ist  dies,  sein  besonderes  Amt,  vorher  wie  nachher  nicht  zum  Ausdruck  ge- 
kommen, denn  wir  sehen  es  ihm  an,  auch  wenn  er  nicht  mit  Enterhaken  und  Stacheln  bewaffnet 
ist  oder  die  Sünder  in  der  Hölle  rotflüssigem  Pfuhl  mit  Kröten  und  Schlangen  und  Skorpionen 
traktiert. 

Nur  deshalb  wohl  erfreuen  sich  des  Henkerteufels  lustige  Nachkommen  in  unsern  Witz- 
blättern derselben  Popularität  noch,  wie  seine  grimmigen  Vorfahren  kerngesunde,  volkstümliche 
Gestalten   waren. 

Des  Teufels  Bild  entsprach  übrigens  ganz  der  uns  nun  kindlich  anmutenden  Vorstellung, 
dass  des  höllischen  Nachrichters  Gestalt  ebensoviel  hässlicher  als  der  irdische  Henker  sein  müsse, 
der   in   der  That  und  Vorstellung  des  Mittelalters  stets  ein  Abscheu  erregendes   Individium  war. 

Wie  auch  immer  die  Entstehung  und  Ausbildung  der  Teufelsgestalt  zu  erklären  sein  mag: 
—  missverstandene  Fragmente  antiker  Kunst  mögen  seine  phantastische  Ausbildung  unterstützt 
haben  —  der  hässliche  und  ganz  besonders  der  als  Henker  charakterisierte  Teufe! 
ist  eine  ureigenste,  künstlerische  Schöpfung  des  Mittelalters. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Alle  Völker  des  Mittelalters  bildeten  ihn  so,  alle  Völker  behalten  diese  Gestalt  als  veränderlichen 
Typus  bei  —  wo  der  Teufel  eben  Strafer  sein  soll.  Nur  wurde  er  nirgends  so  gern  und  so 
massenhaft  dargestellt  wie  im   düsteren  Norden. 

Zwar  sind  gerade  von  Italiens  Künstlern  höllische  Darstellungen  von  monumentalem  Geiste  ge- 
schaffen, der  grossen  Dichtung  verwandt  oder  auch  folgend,  aber  es  ist  doch  bezeichnend,  dass 
die  grössten  italienischen  Meister  nicht  solche  höllischen  Versammlungen  darzustellen  versucht 
haben  wie  die  nordischen  Künstler,  die  des  Themas  nicht  müde  wurden.  Wohl  gibt  es  zu  denken, 
dass  gerade  die  Meister  der  grössten  italien- 
ischen Darstellungen  dieser  Art  —  im  Campo 
Santo  zu  Pisa  oder  im  Chiostro  verde  von 
Sta.  Maria  Novella  zu  Florenz  —  so  lange 
namenlos  geblieben  sind.  Unter  Italiens  grossen 
Künstlern  früherer  Jahrhunderte  würden  wir  viele 
nennen  können,  die  das  Thema  —  etwa  gar  das 
der  Apokalypse  —  niemals  dargestellt  haben, 
unter  den  nordischen  nur  sehr  wenige. 

Die  Italiener  hatten  eben  den  für  uns 
unerbringlichen  Vorteil,  Vollerben  antiker  Schön- 
heit und  Monumentalität  zu  sein.  So  mochte 
sich  wohl  von  Anfang  an  der  hässliche  Teufel 
leichter  im  Norden  heimisch  fühlen,  während 
Engel  und  Aphroditen  und  himmlisch  schöne 
Frauen  immer  noch  auf  Italiens  Fluren  lust- 
wandelten. 


Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  der  Dar- 
stellung der  Versuchung    in   der   mittelalter- 
lichen und  der  ihr  folgenden  Kunst.    Hier  zeigt  ""'"  '""  '''"'  """'■    ^''  Sündenfall. 
sich'  ein  grosses  Unvermögen,  die  Schwäche,  der 

absurde  Fehler  mittelalterlicher  Kultur  und  Kunst.  —  Wie  konnte  nur  der  Teufel  auch  als  Versucher 
fast  immer  ebenso  abschreckend  gestaltet  werden  wie  als  Henker?  Wenn  der  Text  mancher 
Legende  dazu  sehr  eindrucksvoll  aufforderte,  so  hätte  doch  gerade  der  Reichtum  an  legend- 
arischen und  biblischen  Versuchungsgeschichten  frühzeitig  zur  Darstellung  schöner  Versucher  und 
Versucherinnen  anregen  müssen,  zumal  in  vielen  Fällen  von  menschlich  anziehenden  Versuchungen 
der  Heiligen  die  Rede  ist.  Von  welch'  schönen  Schilderungen  sind  viele  der  Legenden  erfüllt, 
die  die  Versuchung  eines  Heiligen  erzählen.     In  welches  Heiligen  Leben  spielte  keine  Versuchung? 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT. 


Gottfried  Keller  schrieb  einmal:  „Wer  keine  bitteren  Erfahrungen  und  kein  Leid  kennt,  der 
hat  keine  Malice,  und  wer  keine  Malice  hat,  bekommt  nicht  den  Teufel  in  den  Leib,  und  wer  diesen 
nicht  hat,  kann  nichts  Kernhaftes  arbeiten".  —  Nicht  weit  davon  steht  die  Anschauung  jener 
Kirchenlehrer,  jener  Schriftsteller  und  Poeten,  die  die  Legenden  der  Heiligen  vor  vielen  hundert 
Jahren  verfassten.  Rückhaltslos  müssen  wir  es  bewundern,  dass  die  Kirche  gerade  dem  Leben  der 
am    meisten    verehrten    Heiligen    durch    des    Teufels   Anfechtungen    die    nötige    schwarze    Folie   zu 

geben  wusste.  Sicherlich  hätten  der 
/^li  heilige  Antonius,  der  heilige  Benedikt, 
der  heilige  Franziskus  und  so  viele 
andere  verehrungswürdige  Heilige  nicht 
diesen  Nimbus  auch  bei  den  grossen 
Volksmassen  erlangt,  wenn  ihr  ganzes 
Leben  einem  Wandern  durch  ein  ab- 
geschiedenes blumiges  Thal  des  Friedens 
gliche.  So  wurde  selbst  Christus  drei- 
mal versucht  und  auch  Gautama  Buddha 
hatte  unter  einem  Feigenbaume  Seeien- 
kämpfe  mit  Gestalten  dämonischer  Art 
zu  bestehen,  welche  Mara  der  Böse, 
der  Dämon  der  Leidenschaften,  gegen 
ihn  gesandt. 

Keines  Heiligen  Versuchungen 
hat  die  Kunst  bis  hinein  in  unsere 
Zeit  lieber  dargestellt  als  die  des 
heiligen  Antonius.  Das  mag  an  der 
phantasievollen  Schilderung  von  Ort 
und  Art  der  Versuchung  des  Heiligen 
liegen.  Da  wird  sehr  fesselnd  erzählt, 
wie  der  heilige  Antonius,  nachdem  er 
der  Welt  Eitelkeit  gesehen,  an  den 
Ufern    des  Nils   in    den  unterirdischen 


Meister  mit  dem  Zeichen  LCZ.    Die  Versuchung  Christi. 


Gelassen  eines  verfallenen  Schlosses  Ruhe  im  Gebet  suchte.  Der  dumpfige,  düstere  Ort  war  erfüllt 
von  Schlangen  und  allerlei  widrigem  Getier.  Da  nahte  sich  ihm  einst,  gerade  als  der  Sonne  Strahlen 
in  den  Keller  hinabfielen,  die  Göttin  des  Ruhms  und  der  Weltehre. 

Die  frühesten  Darstellungen  sehen  von  dieser  Handlung  und  Schilderung  ab  —  der  Heilige 
allein  und  der  Teufel,  die  genügten  den  Künstlern  anfangs  zur  Darstellung  der  Versuchung,  deren 
ausführliche  Wiedergabe  im  Bilde  ohnedies  ein  entwickelteres  künstlerisches  Können  voraussetzte. 
—  Das  wunderbarste  von  diesen  Antoniusbildern  ist  Martin  Schongauer's  Stich   mit   dem   heiligen 


jyik^i^r 


Max  Klinger  rad. 


I'llot.  F.  Hanfstacii)»!, 


Christi  Höllenfahrt 


A.  Feuerbach  pinx. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  Münclien 


St.  Antonius 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Antonius  in  den  Lüften.  Wie  packend  und  geistreich  ist  die  Komposition  des  Ganzen  —  was 
sind  das  für  lebensvolle  Teufelsgestalten !  Und  doch  sind  es  weder  Menschen  noch  Amphibien, 
nicht  Fische,  nicht  Säugetiere  und  nicht  Vögel.  Es  sind  Geschöpfe  einer  Welt  des  ewigen 
Hin   und   Her. 

Und  doch  ist  dieser  Stich  für  uns  keine  Versuchung  des  heiligen  Antonius.  —  So 
schlägt  und  erschrickt  uns  nicht, 
so  faucht  und  speit  uns  nicht 
die  Sünde  an,  der  wir  erst  unter- 
liegen sollen.  Wir  dürfen  den 
Stich  ruhig  die  Gewissens- 
qualen des  heiligen  Antonius 
nennen,  denn  das  ändert  nichts 
an  unserer  Bewunderung  für  diese 
künstlerische  Schöpfung,  die  nach 
dem  Namen  nichts  fragt,  der  ihr 
gegeben  oder  beigelegt  wird. 

Was  von  diesem  Versuch- 
ungsbilde gilt,  gilt  von  der  grossen 
Mehrzahl  aller  Versuchungsbilder. 
Der  hässliche  Teufel  ist  uns  kein 
Versucher. 

Es  ist  nun  merkwürdig, 
dass  trotz  dieses  für  uns  em- 
pfindlichen inneren  Widerspruchs 
in  Gestalt  und  Bedeutung  gerade 
der  weitere  Verfolg  dieser  Teufels- 
und Versuchungsbilder  von  gros- 
sem künstlerischem  und  kunst- 
historischem Reize  ist.  Der  mittel- 
alterliche Teufel  hat  zwar  recht 
lange'  und  oft  zu  recht  unpassen- 
der   Zeit    seine    alte    Gestalt   be- 


Martin  Schonganer.     Die  Versuchung  des  heil.  Antonius. 


wahrt,  aber  fast  er  allein  ist  von  seinen  Zeitgenossen  entwicklungsfähig  geblieben  und  auffallend 
frisch  und  lebensvoll  führt   gerade  er  uns  durch  Gefilde  der  Kunst,  die  uns  jetzt  gar  nahe  liegen. 

Sehr  bald  schleicht  sich  in  diese  Bilder  der  Versuchung  des  heiligen  Antonius  ein 
satirischer  Zug. 

Die  Bilder  des  Hieronymus  Bosch,  des  Jan  Mandijn  spotten  über  die  Narretei  weltlicher 
Lüste  und  machen  die  Gestalt  des  Teufels  selbst  lächerlich.     Es  ist  derselbe  geistige  Wandel,  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


sich  in  der  Metamorpiiose  von  der  i<irchiich  ernsten  Mysterie  zum  derben  Fastnachtssciiwank  voll- 
zog. Aber  während  dieser  literarische  Wandel  zur  plumpen,  klobigen  Bauernzote  fiJhrte,  führt 
die  Kunstgeschichte  der  Versuchungsbilder  nicht  nur  recht  eigentlich  zu  einer  neuen  Gattung 
von  Bildern  —  der  Landschaft,  die  durchaus  auf  Luft  und  Farbenwiedergabe  ausgeht  —  sondern 
auch  zu  ungewöhnlich  witzigen  und  geistvollen  Künstlern  wie  Callot,  die  noch  viel  grösser  zu 
achten  sind,  als  ihre  Radierungen  und  Bilder  uns  jetzt  noch  sind,  wenn  man  an  jene  stumpf- 
sinnigste Allegoristerei  denkt,   in  die  die  deutsche  Kunst  des   17.  Jahrhunderts  verfiel. 

Bosch,  ein  Zeitgenosse  des  Sebastian  Brant,  des  Thomas  Murner,  des  Geiler  von  Keisers- 
berg,  ist  zwar  noch  Moralist.  Sein  Heuwagen,  eine  wunderbar  herrliche  Allegorie  auf  das  Wort: 
,. Alles  Fleisch  ist  wie  Heu",  sein  Garten  der  Lüste,  seine  Versuchungsbilder  zeigen  alle  das  Wesen 
dieser  Welt  zwischen  Sündenfall  und  Hölle.  Bosch  liesse  sich  mit  den  grossen  Satirikern,  etwa 
Swift  und  Rabelais,  vergleichen;  sein  Spott  und  seine  Moral  ist  lustig-derb-grotesk,  aber  nicht 
schal   und   plump.     Spaniens   düsterer   König  Philipp  11.    war  ein    besonderer  Freund    von  Bosch's 

Bildern.  In  seinen  letzten  Stunden  noch  soll  er  vor  diesen  Aus- 
geburten eines  nordischen  Geistes  Zerstreuung  und  Erbauung  ge- 
funden haben. 

Auch  bei  den  Brueghel  und  Teniers  deuten  die  närrischsten 
Gebilde  von  tierischen,  menschlichen  und  unorganischen  Zusammen- 
setzungen die  Narrheit  der  Welt  und  der  Sünde  an,  die  der  Heilige 
im  Geiste  vor  sich  sehen  mochte,  als  ihm  die  Göttin  des  Weltruhms 
ihren  galligen  Becher  darbot.  Ob  nun  die  Schilderung  des  Ortes 
der  Versuchung  des  Heiligen,  oder  ob  nur  das  erweiterte  künstlerische 
Sehen  und  Vermögen  die  Maler  dazu  trieb,  aus  dem  reinfigürlichen 
Bilde  ein  wunderbar  belebtes  Landschaftsbild  zu  machen,  ist  gleich- 
gültig —  jedenfalls  waren  sie  es,  die  auf's  intensivste  die  Aufgabe  zu 
erfassen  wussten,  an  deren  Erfüllung  gerade  die  Kunst  unserer  Zeit 
arbeitet :   die  malerische  Erfassung  von   Luft  und  Farbe. 

Die  Bosch,  Brueghel,  Teniers,  Callot  verhelfen  überdies  durch 
eine  neue  Erfassung  der  Teufels-  und  Versuchungsbilder  der  künstler- 
ischen Befreiung  von  enger  Illustration  zum  vollen  Recht.  Der  Text 
der  Legende  wurde  rein  künstlerisch  möglichst  verwertet.  Der  Ge- 
danke  wurde  ein  anderer  —  die  Melodie  nur  blieb. 

Trotz  aller  Bewunderung  für  diese  grossen  Meister,  dürfen  wir 
lachen  über  den  tollen  Mummenschanz,  der  merkwürdiger  Weise  den 
Heiligen  immer  noch  ernsthaft  dreinschauen  lässt.  Diese  Schreck- 
gespenster mögen  uns  oft  berühren  wie  Maskenfeste  der  Hölle  oder  wie 

Lucas  Cranach  d.  A. 

(Kopie  nach  Hieronymus  Bosch)  „amerikanische  Exccntriqucs"  j  es  ist  wohl  richtiger,  als  dass  wir  an- 

Das  Paradies 

(Teilstück  eines  Fiiigeiaitars).         nehmen,   wie  einige   Gelehrte  bereits  versucht   haben:  jedes  närrische 


DIK  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Mühelangehi  Biionarroti.     Der  Siindenfall  und  die  Austreibung  aus  dem  Paradies. 


Phantasiegebild  bedeute  hier  eine  ganz  bestimmte  Sünde  oder  illustriere  ein  moralisches  Gedicht 
jener  Zeit.  So  schaffen  wirklich  nicht  Künstler  wie  Bosch  und  Brueghel  und  Callot,  die  durch 
eigene  Erfassung  eines  keineswegs  neuen  Themas  bewiesen,  wie  viel  Eigenes  sie  trotz  aller  mög- 
lichen Belesenheit  zu  geben  wussten.  Sie  waren  es  ja  gerade,  die  neue  geistige,  neue  künstler- 
ische Bahnen  eröffneten  —  der  alte  Teufel  hinderte  sie  nicht  daran.  Nur  kleine  Geister  illustrieren 
selbst  einen  grossen  Inhalt  knechtisch  und  kleinlich,  während  der  echte  Künstler  aus  einer  Hand 
voll  weggeworfenen   Lehms  eine  neue  Welt  zu  bilden  vermag. 

Die  Wiedergabe  von  Luft  und  Licht  und  Farbe,  das  war  das  künstlerisch  Neue  in  diesen 
Bildern.  Gewiss  war  auch  ebenso,  wie  der  nun  satirische  Inhalt  der  Spukgestalten,  deren  Gestaltung 
eine  neue,  denn  während  die  früheren  mehr  drolligste  Phantasien  eines  Naturforschers  aller  Reiche 
zu  sein  scheinen,  muten  uns  die  Teufel  und  Dämonen  und  Kobolde  von  Bosch  bis  Callot  wie  die 
Fieberphantasien  eines  verrückt  gewordenen  Ingenieurs  an.  Die  Zeit  war  ja  ganz  dazu  angethan, 
die  Geister  in  der  Erfindung  von  allerlei  Kriegsmaschinen  zu  überhitzen.  Doch  diese  Spukgestalten 
sagen  es  jedem  Unbefangenen,  dass  sie  trotz  der  neuen  und  schier  unglaublichen  Variation  nicht 
das  bemerkenswert  Neue  in  diesen  Versuchungsbildern  sind,  sondern  dass  sie  am  Ende  einer 
langen  Entwicklungsgeschichte  der  Fabelwesen  stehen. 

Thatsächlich  sind  sie  späte  Abkömmlinge,  in  Geist  und  Gestalt,  von  jenen  improvisierten, 
fratzenhaften  Randzeichnungen  in  Handschriften  schon  des  10.  Jahrhunderts  und  all  den  spuk- 
haften Phantasiegebilden  aus  Stein  und  Holz  in  und  an  unseren  Domen.  Alle  gehören  sie  der 
vielgearteten  Familie  des  Teufels  an.  Aber  was  ursprünglich  nur  ein  grotesker  Einfall,  eine 
Reminiszenz  des  Schreckens  war,  wurde  durch  die  Kirche  zum  Teufel  adoptiert,  um  dann  wieder 
zur  exzentrischen  Groteske  freiesten  Spotts  zu   werden. 

Es  ist,  als  ob  des  Teufels  Gestalt  selbst  zu  der  Zeit,  als  sie  ganz  in  den  Dienst  der  Kirche 
eingestellt    wurde,    nicht   ihre  Abstammung    aus    spontanen  Phantasiegebilden    des  Schreckens    ver- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


leugnen  konnte.  Jedenfalls  ist  es  auffallend,  dass  der  Teufel  nie  als  völlig  selbständiges  Kunstwerk, 
etwa  als  Statue  (es  müsste  denn  hiezu  die  Statue  der  Frau  Welt  gezählt  werden)  gebildet  wurde 
und  dass  recht  eigentlich  das  „Kunstgewerbe"  im  weitesten  Sinn  Hauptanteil  an  der  Schöpfung 
der  Teufelsgestalten  des  Mittelalters  hat.     Beim  modernen  Teufel  ist  auch  dieses  anders. 


Nach  Art,  Form  und  Vorkommen,  nach  Vorbild,  Inhalt  wie  Tendenz  grundverschieden  vom 
grässlichen,   mittelalterlichen  Teufel  ist  das  Bild  des  Bösen   im  frühen  Christentum. 

Das  reine  Christentum  wollte  nichts  wissen  von  Bildern  des  Todes  und  der  Sünde.  Es 
entlehnte  nicht  die  Gestalt  des  Paus,  um  ein  Bild  des  Schreckens  zu  schaffen.  Es  schuf  Symbole 
des  Erbarmens  und  der  Freiheit,  nicht  des  Verdammens  und  der  Furcht.  Wie  es  den  hässlichen 
Anblick  des  blutigen  Leichnams  am  Kreuze  Christi  scheute  und  statt  dessen  nur  über  dem  Kreuze 
das  Brustbild  Christi  erscheinen  Hess,  wie  es  Abstand  nahm,  die  Martyrien  seiner  ersten  An- 
hänger in  der  schlächterhaften  Weise  des  späteren  Mittelalters  darzustellen,  so  erinnerte  es  mild 
und  geistvoll  durch  ein  Alpha  und  Omega  oder  durch  das  Buch  des  Lebens  und  des  Todes,  das 
in  den  Händen  Gott  Vaters  ruht,  an  Tod  und  Sünde,  an  den  Tod  als  der  Sünde  Sold.  Wie  sehr 
unterscheiden  sich  gar  die  frühesten   Bilder  des   jüngsten    Gerichts    von    den    gleichen   Bildern    des 


Jacques  Callot.    Die  Versuchung  des  heil.  Antonius. 


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Ed.  Grützner  piiix. 


Copyright  18%  by  Franz  Hanfstaenf;! 


Versuchung   des  Antonius 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT.  9 

Mittelalters  und  der  späteren  Zeit.  Während  diese  fast  undenkbar  sind  ohne  ein  Abführen  und 
Verstössen  der  Verdammten  in  der  Hölle  brennenden  Rachen,  erinnert  auf  frühchristlichen  Dar- 
stellungen der  thronende  Gott  Vater  auf  dem  Regenbogen  an  das  Weltgericht.  Neben  ihm  sitzen 
die  Apostel  oder  die  Evangelisten.  Erde  und  Meer  liegen  in  der  von  der  Antike  her  bekannten 
Gestalt  ruhig  zu   seinen  Füssen.     Achtfach   beflügelte  Cherubim  stehen  ihm  zur  Seite. 

Oder  in  noch  ansprechenderer  Form  wird  das  grosse  Weltgericht  durch  des  Gleichnisses 
Bild  von  Christus,  der  die  Schafe  von  den  Böcken  trennt,  angedeutet,  oder  wohl  auch  durch  die 
reizende  Parabel  von  den  klugen  und  thörichten  Jungfrauen.  Keine  Vergeltung  wird  ausgesprochen, 
nichts  sollte  schrecken  und  strafen.  Man  möchte  fast  meinen,  es  könne  nicht  dieselbe  Kirche  sein, 
die  ursprünglich  so  zu  erheben  wusste  und  dann  Entarteten  wie  Geängstigten  beständig  mit  dem 
Teufel  drohte. 

Aber  auch  hier  schon  zeigt  sich,  wie  sehr  verschieden  der  Teufel  im  Buche  vom  Teufel 
in  der  Kunst  ist,  denn  im   Dogma  war    bereits    im  fünften  Jahrhundert  des  Teufels  Gestalt   fixiert. 

Bekannt  ist  ja,  dass  etwa  in  der  gleichen  Zeit  bei  Teufelsaustreibungen  das  Böse  als  kleine 
unbeflügelte  Gestalt  dargestellt  wurde  und  dass  die  byzantinische  Kunst  unsern  überaus  monströsen 
Teufel  nicht  kannte,  sondern  mehr  riesenhafte,  barbarische  Gestalten  dafür  wählte. 


Allen  Ländern,  Völkern,  Zeiten  und  Religionen  scheint  ein  Bild  des  Bösen  gemein  zu  sein 
—  es  ist  das  Bild  der  Schlange. 

Das  allerfrüheste  Symbol  des  Bösen  in  der  christlichen  Kunst  ist  die  Schlange.  Auf  christ- 
lichen Lampen  der  ersten  Jahrhunderte  finden  wir  häufig  ihr  Bild  in   diesem  Sinne. 

Freilich  ist  sofort  an  der  Schlange  zwiefache  Bedeutung  zu  erinnern,  in  fast  allen  Religionen 
ist  sie  —  oder  ihr  Bruder,  der  Drache  —  der  unnahbare  Wächter.  In  der  griechischen  Kunst 
ist  die  Schlange  der  geheimnisvolle  Kraftspender  aller  chthonischen  Gottheiten.  Und  wer  heute 
eine  Schlange  um  seinen  Finger  trägt,  wer  eine  Schlange  im  Wappen  führt,  dem  kann  sie  nichts 
Mächtigeres  bedeuten  als  die  Schlange  der  Gäa  oder  des  Aesculap  oder  des  Apollo  oder  der 
Athene  und  aller  Heroen,  und  sie  möge  ihn  schützen  wie  der  Meduse  schlangenumschlungenes  Haupt. 

Während  der  Drache  der  Wächter  der  heiligsten  Güter  der  Chinesen  ist,  wird  in  unserer 
heiligen  Schrift  Drache  und  Satan  für  denselben  Begriff  gebraucht  —  also  ist  es  ganz  selbst- 
verständlich gewesen,  in  der  Schlange  das  Böse  an  sich  zu  sehen.  Wir  dürfen  annehmen,  dass 
auch  hier  rein  seelische  Wirkungen  der  Natur  auf  den  Menschen,  die  durch  der  Künstler  Macht 
die  intensivste  Gestaltung  erfahren,  die  Ursache  sind,  dass  die  Schlange  als  das  universelle  und 
ewige  Bild  des  Bösen  gilt. 

Die  Kirche  sah  ja  auch  im  Löwen  das  Bild  der  Sünde,  gleichzeitig  aber  auch  das  Bild 
der  Kirche  selbst.  Daher  die  vielen  säulentragenden  Löwen  vor  den  Portalen  unserer 
romanischen  Kirchen.     Wem  sind  diese  Löwen  aber  als  Bild  der  Kirche  geläufig?   Muss  dagegen 

XIV  2 


10 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Max  KUnijer.     Adam  und  Eva  und  Tod  unil  Teufel. 


erst  trockene  Gelehrsamkeit  dem  Kinde  erklären,  dass  der  Drache  da  oder  die  Schlange  dort 
nichts  anderes  bedeuten  kann  als  die  unheimliche  Macht   des  Bösen  ? 

Es  muss  also  einen  tiefliegenden  Grund  haben,  dass  allen  die  Schlange  so  mächtig  erscheint, 
als  ein  so  mächtiges  Bild  der  Sünde.  Und  dieser  Grund  wird  wohl  nirgends  anders  zu  suchen 
sein  als  in  der  Schlange  selbst. 

Kein  Tier  hat  die  Menschen  je  so  fasziniert  wie  die  Schlange. 

Weshalb?  Erklären  können  wir  es  nicht,  aber  sehr  vieles  in  ihrer  Gestalt  und  Lebensweise 
macht  es  uns  verständlich. 

Ihr  Vorkommen  in  allen  Zonen,  die  Pole  ausgenommen,  macht  sie  schon  zum  universellen 
Tiere,  zumal   alles,  wodurch  sie  unser  Auge  fesselt,  in  allen  Familien  und  Arten  das  Gleiche  bleibt. 

Unheimlich  sind  ihre  schnellen  Bewegungen.  Spannend  wirkt  die  rätselhaft  sichere  Auf- 
lösung selbst  eines  ganzen  Knäuels  von  Schlangen.  Geräuschlos  ist  ihr  Kommen  wie  Verschwinden. 
Obwohl  sie  auf  dem  Bauche  kriecht  wie  der  elendeste  Wurm,  liegt  zweifellos  etwas  Vornehmes 
in  ihren  Bewegungen.  Sie  ist  die  Königin  der  Kriechtiere.  Still,  wie  ihre  Bewegungen,  geht 
scheinbar  ihr  Leben  dahin.  Zischen  ist  ihre  Sprache,  dem  Austreten  heisser  Dämpfe  vergleichbar. 
Der  Hals  fehlt  ihr  oder  er  verschwindet  im  Verhältnis  zum  langen  schlanken  Körper.  Und  doch, 
wie  stolz  trägt  sie  ihr  Haupt,  wenn  sie,  eleganter  als  jeder  Fisch,  über  des  Wassers  Spiegel  dahin- 
gleitet.    Wie  wenig  Phantasie  braucht  es,  ihr  ein  Krönchen  aufzusetzen. 

„Und  es  ist  kein  Kopf  so  listig  als  der  Schlangen  Kopf",  heisst  es  im  Buche  Sirach.  Das 
Auge  ist  wohl  das  Faszinierendste  in  ihrer  faszinierenden  Erscheinung.  Die  Griechen  nannten  die 
Schlange  nicht  anders  als  die  Sehende,  während  der  Römer  und  unsere  Bezeichnung  nur  das 
Erbärmlichste  an  ihr  trifft. 

Das  Auge  des  erdgeborendsten  Tieres,  der  Schlange,  ist  an  Schärfe  nur  dem  des  Adlers 
vergleichbar,    des  Königs  der  Lüfte.     Ihr  durchdringender  Blick  macht  sie,  wie   kein  anderes  Tier, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


11 


zum  Wächter  grosser  Schätze,  die  der  Erde  anvertraut,  ihrer  Mutter.  Ohne  ihren  Rachen  zu  öffnen, 
vermag  sie  ihre  gespaltene  Zunge  weit  hinausschiessen  zu  lassen.  Das  scheint  allein  den  Drachen- 
und  Teufelsbildnern    entgangen  zu  sein. 

Aber  wie  vieles  von  ihrer  Natur  hat  weiter  Seele  und  Phantasie  der  Menschen  und  Völker 
beschäftigt,  musste  sie  um  so  mehr  beschäftigen,  je  feinere  Empfinder  oder  Beobachter  sie  waren. 

Das  Abwerfen  der  Haut, 
das  wunderbarer  wirken  musste 
als  etwa  die  Befreiung  des  Schmet- 
terlings aus  seiner  Larve.  Das 
Verschlingen  der  Beute,  die  weit 
grösser  sein  kann  als  der  Umfang 
desKopfes  und  Leibes  derSchlange. 
Ihr  kaltes  Blut,  ihr  Winterschlaf, 
ihre  völlige  Erstarrung  im  trop- 
ischen Sommer  und  der  Begleit- 
zustand monatelanger  Bedürfnis- 
losigkeit !  Wie  muss  das  alles 
und  noch  manches  Andere,  was 
hier  nicht  erwähnt  werden  kann, 
dazu  geführt  haben,  in  ihr  ein 
Tier  zu  sehen  von  unheimlicher, 
übergewaltiger  Macht  —  ein  Tier, 
das  ausserhalb  oder  über  den 
Naturgesetzen  steht ! 

Und  wie  prächtig  erscheint 
selbst  die  schmuckloseste  Schlange 
nur  durch  ihre  Glätte.  Wie  wunder- 
bar ist  oft  ihre  Zeichnung  und 
Farbenpracht  und  sie  hat  doch 
nicht  des  Paradiesvogels  Gefieder. 

Je  länger  wir  uns  in  die 
Beobachtung  der  Schlange  ver- 
tiefen, um  so  erklärlicher  wird  uns 

ihre  symbolische  Bedeutung,  um  so  wahrscheinlicher  die  Annahme,  dass  die  seelischen  Wirkungen 
ihres  Anblickes  auf  alle  Menschen  sie  zur  Vertreterin  einer  fabelhaften,  geheimnisvollen  und  deshalb 
vorzugsweise  bösen  Macht  bildeten.  Denn  wenn  schon  im  8.  Jahrhundert  der  hl.  Johannes 
Damascenus  eine  Abhandlung  über  die  fliegenden  Drachen  schrieb,  so  bezeichnet  dies  doch  nur 
die  Anfänge   der   symbolischen    Ausbeutung   seitens    der    Kirche,    nicht   aber  erst  die  Anfänge  der 


Ma.r  Klii/fjer.     Saloine. 


12 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


fabelhaften  Wirkung  der  Schlange  auf  die  menschliche  Seele.  Und  wenn  andrerseits  vermutet 
werden  könnte,  dass  die  Schlange  deshalb  so  häufig  dargestellt  wird,  weil  ihre  Form  leichter  wieder- 
zugeben ist,  als  die  eines  jeden  anderen  Tieres,  so  widerspricht  dieser  Vermutung  die  ober- 
flächlichste wie  die  genaue  Übersicht  der  primitiven  Ornamentik.  Denn,  wo  die  Schlange  in 
diesen  geometrischen  und  zwar  oft  recht  komplizierten  Ornamenten  vorkommt,  scheint  man  deutlich 
an  sie  als  das  Symbol  einer  unheimlichen  Macht  gedacht  zu  haben. 

So  würde  das  Thema  von  der  Schlange  in  der  Kunst  nur  durch  eine  vollständige  Kunst- 
geschichte erschöpft  werden  können.  Wie  unzählig  ist  doch  schon  die  Verwendung  der  Schlange  in 
verschiedenem  Sinne  in  der  christlichen  Kunst. 

Beim  Ritter  St.  Georg  ist  der  Drache 
der  grimmige  Wächter  der  Königstochter 
wie  gleichzeitig  wohl  auch  das  Bild  des 
Heidentums.  St.  Michael  besiegt  in 
Gestalt  des  Drachens  das  Böse.  Die 
Zahl  der  Heiligen  aber,  zu  deren  „Attri- 
but" die  Schlange  geworden,  ist  gar 
nicht  so  leicht  festzustellen.  Selten 
fehlt  die  Schlange  unter  früheren  Kreuz- 
igungsbildern als  die  Schlange,  „der 
das  Weib  den  Kopf  zertreten".  Unter 
Maria's  Füssen  liegt  sie  deshalb  noch 
häufiger.  Graziös  erinnerte  an  dieses 
erste  Evangelium  die  Kunst  des  18.  Jahr- 
hunderts. Da  steht  das  Christkind  wie 
ein  Prinz  auf  der  Weltkugel,  um  die 
sich  die  Schlange  des  Paradieses  windet. 
Aber  noch  längst  nicht  ist  hiermit 
die  Erinnerung  an  all'  jene  christlichen 
Kunstwerke  mit  einer  symbolischen 
Schlange  erschöpft.  Als  Schlänglein 
entweicht  das  Gift,  das  die  Heiden  in 
den  Kelch  St.  Johannis  geschüttet  hatten. 
Auch  wäre  an  die  Bilder  der  schlangen- 
würgenden Prudentia  und  merkwürdiger 
Weise  an  Personifikationen  der  Tugenden 
wie  der  Laster  zu  erinnern.  Schliesslich 
hätte  man  aber  —  wie  einer,  der  den 
Franz  Stuck.    Die  Sünde.  Wald  vor  Bäumcn    nicht   sieht    —    die 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


13 


Schlange  am  Baume  des  Paradieses  vergessen.  Schon 
beim  flüchtigen  Überschauen  der  Bilder  des  Sünden- 
falles fällt  nun  eine  Erscheinung  merkwürdig  in's  Auge. 
Nur  beim  Sündenfall  zeigt  sich  ungemein  früh  und 
anhaltend  die  künstlerische  Tendenz,  der  Schlange  etwas 
Verführerisches,  Verlockendes  zu  geben,  was  wir  ja  bei 
allen  Versuchungsbildern  bisher  vermissten.  Ohne  einen 
zierlichen  Putz,  ein  Krönchen  oder  einen  Aufsatz  von 
Pfauenfedern  ist  die  Schlange  am  Baume  des  Paradieses 
selten.  Wie  Eva  schon  auf  frühchristlichen  Sarko- 
phagen und  anderen  Denkmälern,  bei  aller  Nacktheit 
im  übrigen,  modisch  und  reich  geschmückt  erscheint, 
so  ist  ihr  an  instinktiver  Kenntnis,  den  sinnlichen  Reiz 
zu  steigern,  die  Schlange  im  Baume  gewachsen.  Ver- 
lockend sind  beide  schon  auf  Gläsern  des  4.  Jahrhunderts 
dargestellt,  wo  häufig  die  Schlange  ihr  Haupt  ein- 
schmeichelnd an  Eva's  Hüfte  schmiegt.  Nur  wenige 
Künstler  bilden  die  Schlange  am  Baume  des  Lebens 
hässlich.  Hat  doch  selbst  das  vierfüssige,  wieselartige 
Schlangentier  bei  Hugo  van  der  Goes  einen  noch  ganz 
acceptablen  weiblichen  Kopf.  Besonders  reizvoll  sind 
jene  Sündenfallbilder,  auf  denen  die  Schlange  eines 
Weibes  unschuldig  dreinschauenden  Kopf  oder  einer 
Jungfrau  zarten  Oberkörper  erhalten  hat,  um  mit  ge- 
winnender Gebärde  den  Apfel  darzubieten. 

Zwischen  Frauenrechtlerinnen  und  Verteidigern 
der  Schönheit  der  Schlange  könnte  diese  auffallende 
künstlerische  Erscheinung  in  den  Sündenfallbildern 
Veranlassung  zu  lebhaften  Diskussionen  geben. 

Weshalb  hat  hier  den  meisten  Künstlern  nicht 
das    Bild    der    Schlange    genügt?      War    es    für    die 

Meisten  zu  schwierig,  der  Schlange  faszinierendes  Wesen  in  ihrer  natürlichen  Gestalt  wieder- 
zugeben ?  Das  Bewusstsein  hiervon  mag  immerhin  vorhanden  gewesen  sein,  stärker  und  ent- 
scheidend war  aber  sehr  wahrscheinlich  die  Empfindung  der  Künstler,  dass  die  Natur  des  Bösen 
nicht  so  einfach  sei,  als  dass  es  bei  diesem  entscheidendsten  aller  Sündenfälle  genüge,  nur  der 
Schlange  natürliches  Bild  herzunehmen. 

Das  Böse  ist  fabelhaft  und  nur  Zusammensetzungen  verschiedener  Organismen  zu  einem 
Lebewesen    sind   eigentlich    fabelhaft.     So    wurde    die   Schlange    hier    zum  Weib    mit   Schlangen- 


Fraiis  Stuck,     biiciu-. 


14 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Hans  Thoiiia.     Versuchung  Christi  in  der  Wüste. 


schweif  und  dort  zum  Drachen, 
wie  auch  der  menschliche  Teufel 
wenigstens  Fledermausflügel  be- 
kam, wenn  er  nicht  als  Kon- 
glomerat aller  Tiergattungen  er- 
scheint. Auf  diese  rein  mensch- 
liche Empfindung  darf  es  zurück- 
geführt werden,  dass  es  wohl 
keinen  Mythos,  keine  Religion  gibt, 
deren  rätselhafte  Mächte  nicht  auch 
fabelhaft  gedacht  oder  gebildet 
wurden. 

Der  Fabelwesen  phantast- 
ischer Reigen,  der  stumm  durch 
die  Jahrtausende  zieht,  zeigt  uns, 
dass    auch    unser   Teufel    um    so 


monströser  werden  musste,  je  mehr  die  Vorstellung  von  seiner  Macht,  der  Schrecken  vor  ihm 
sich  steigerte  oder  gesteigert  werden  sollte.  Die  Höllengestalten  aber  eines  Callot  deuten  be- 
reits einen  Umwandlungsprozess  zu  einfacherer  und  furchtloserer  Auffassung  an. 

Werden  und  Wandel  dieser  Anschauung  spielt  sich  in  jedes  kleinen  Menschen  nichtig  Dasein 
innerhalb  einiger  Jahre  ab,  während  er  der  Kunst  nur  von  Jahrhunderten  abzulesen  ist.  Das  Kind 
nennt  jedes  fremde,  wilde  Tier  ohne  weiteres  ein  böses.  Vor  jedem  vermummten,  ja  vor  jedem 
fremden  Menschen  fürchtet  es  sich  als  vor  einem  bösen. 

Dann  verlacht  der  junge  Mensch  den  Mummenschanz,  er  belustigt  und  erfreut  sich  an  den 
Karikaturen.  Schliesslich  sehen  wir  aber  das  Böse  in  jedem  alltäglichen  Gesicht  und  wir 
fürchten  das  Böse  in  dieser  Gestalt  erst  recht  und  bekämpfen  es  besser,  als  das  Kind  es  vermag 
in  jenen  ihm  rätselhaft  erscheinenden  Gestalten. 

Wenn  wir  nun  hier  in  der  Kunst  noch  kaum  dem  Teufel  begegnet  sind,  der  so  gebildet  ist,  wie 
ihn  das  gereiftere  Alter  tagtäglich  sieht,  dann  sind  wir  wohl  auch  noch  nicht  zu  einer  Entwicklungs- 
stufe der  Kunst  gekommen,  die  dem  Mannesalter  gliche.  — 

Wie  steht  es  nun  mit  dem  Teufel  in  unserer   heutigen  Kunst? 

Hören  wir  nicht  immer  und  sehen  wir  nicht  so  häufig,  wie  mannhaft  sich  unsere  Kunst 
von  allen  antiquarischen  Überlieferungen  freimacht,  wie  sie  die  Dinge  so  zu  bilden  sich  bemüht, 
wie  sie  die  Welt  und  das  Leben,  das  ihr  gehört,  anschaut?  Ist  das  keine  Phrase,  dann  muss 
sich  auch  auf  diesem  entlegenen  Gebiete,  wo  man  eine  Neuerung  zunächst  nicht  erwarten  wird, 
ein  grosser  Wandel  vollzogen  haben.     Wie  bilden  denn  die  Künstler  unserer  Zeit  das  Böse? 

Sie  bilden  es  —  von  einigen  knechtischen  Kleingeistern  abgesehen  —  nicht  mehr  monströs. 
Auch  den  Henkerteufel  werden  wir  ausser  in  witzigen  Karikaturen  kaum   mehr   finden.     Was  aber 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT.  15 

auffallender  als  dieses:  die  Künstler  unserer  Zeit  bilden  den  Teufel  häufiger,  wenn  nicht  ganz 
allein,  als  Weib,  denn  als  Mann.  Mithin  hat  in  unserer  Zeit  der  Teufel  Gestalt  wie  Beruf  wie 
Geschlecht  gewechselt. 

Die  grosse  Sünde,  die  Sünde,  die  die  Welt  beherrscht  und  dem  Tode  unserer  Welt  nur 
eine  kleine  Zeitspanne  vorausgehen  kann,  die  bilden  unsere  besten  Künstler  nicht  als  strafendes 
Monstrum,  sondern  wie  ein  verführerisches  Weib  von  ,, teuflischer"  Schöne.  Weshalb  denn  auch 
manche  Künstler  unserer  Zeit  in  der  trügerisch  lockenden  Sirene  den  Teufel  gemalt  haben. 

Freilich,  die  Zahl  der  Teufelsbilder  ist  in  unserer  Zeit  im  Vergleich  insbesondere  zur  Kunst 
des  Mittelalters  äusserst  gering.  Das  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  auffallender  Weise  nur  gerade 
solche  Künstler  dem  uralten  Bösen  eine  neue,  packende  Gestalt  zu  geben  wussten,  die  auch  sonst 
in  ganz  besonders  hohem  Rufe  stehen. 

Nur  an  drei  Künstler,  die  der  Sünde  ganze  Macht  in  völlig  neue  Bilder  zu  bannen  wussten, 
soll  hier  erinnert  werden :  Felicien  Rops,  Max  Klinger,  Franz  Stuck.  Lässt  schon  deren  Werk 
den  grossen  Wandel,  den  Wandel  zum  Grossen  in  der  Kunst  erkennen,  so  kann  wohl  nichts 
deutlicher  als  dieser  Künstler  Teufelsbilder  uns  vergegenwärtigen,  welch  eine  Welt  der  Vorstellung 
und  der  Gestaltung  zwischen  dem  Teufel  und  der  Kunst  des  Mittelalters  und  dem  Bösen  und  der 
Kunst  unserer  Zeit  liegt. 

Am  bekanntesten  sind  Stuck' s  düstere  und  doch  so  farbenleuchtende  Bilder  der  Sünde. 
Das  mag  daran  liegen,  dass  Stuck  der  sinnlich  kräftigste,  sinnlich  ansprechendste  Bildner  der 
Sünde  ist.  Vor  allen  Dingen  ist  der  Inhalt  seiner  Bilder  fast  für  Jedermann  plausibel,  was  viel 
weniger  von  Klinger's  Allegorien,  bei  weitem  nicht  von  Rops'  genialen  und  gefährlichen  Schöpfungen 
gilt.  Stuck  malt  das  böse  Gewissen  in  Furien,  die  einen  Mörder  verfolgen,  die  Sinnlichkeit  in 
der  tötenden  Umarmung  einer  Sphinx,  die  Sünde  oder  die  Wollust  oder  der  Leidenschaften  ganze 
Gewalt  als  Sirene  oder  als  nackendes  Weib,  das  uns  mit  den  Augen  blendet,  während  eine  mächtige 
kalte  Schlange  den  glühenden  Leib  fester  und  fester  umschlingt. 

Die  Schlange  spielt  in  Stuck's  Bildern  der  Sünde  eine  grosse  Rolle,  aber  sie  spielt  sie 
natürlich  und  tragisch  wie  Hamlet,  obwohl  ihr  Auge  hier  noch  mehr  leuchtet,  als  wenn  uns  die 
aus  dem  nassen  Element  und  der  Dunkelheit  sich  erhebende  Schlange  schreckt.  Stuck's  stark 
kontrastisch  wirkender  Kolorismus  macht  es  vielleicht  zum  ersten  Male  der  Kunst  möglich,  der 
Schlange  ohne  alle  unnatürlichen  Zuthaten,  mit  aller  Deutlichkeit,  den  ganzen  Reiz  des  furcht- 
baren Geheimnisses  einer  anderen  Macht  uns    zuflüstern    zu  lassen. 

Klinger  steht  zwischen  Stuck  und  Rops.  Zweifellos  ist  Klinger  herber  und  tiefer.  Stuck 
wirkt  malerischer.  Es  fragt  sich  überdies,  ob  so  bitterernste  Gedanken,  wie  Klinger  und  Rops  sie 
uns  offenbaren,  im  grossen  Bilde  nicht  unerträglich  auf  uns  wirken  müssten.  So  mag  es  dem 
Gepräge  dieser  beiden  Künstlerindividualitäten  besondere  Schärfe  und  Schönheit  verleihen,  dass 
der  Maler  Stuck  besser  den  Reiz  der  Sünde,  der  Griffelkünstler  und  Bildhauer  Klinger  aber  in 
gewaltigerer  Form  die  Sünde  selbst,  d.  h.  nicht  die  Wollust,  die  jetzt  die  Sünde  gebären  wird, 
sondern  die  ewig  den  Tod  gebärende  Sünde  zu  bilden  weiss. 


16 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


So  ein  Monument  der  Sünde  ist  Klinger's  Salome.  So  monumental  hat  noch  Niemand  die 
Sünde  in  eines  Weibes  schier  alltäglich  pikanten  Zügen  erfasst.  Das  ist  nicht  die  und  die  Sünde, 
nicht  die  Sünde  von  gestern  und  heute,  sondern  die  Macht,  die  die  Welt  angebetet  hat  und 
anbeten  wird,  um  immer  wieder  dem  Leben  einen  neuen  Reiz  abzugewinnen  für  einen  Preis  von 
Tausenden  von  Opfern.  — 

Dekadent  und  moros  sind  dieser  Salome  Züge,  ein  Bild  der  römischen  Gesellschaft,  in  der 
sie  lebte.  Wie  krystallisiert  und  in  monumentaler  Einfachheit  hat  Klinger  in  dieser  einen  zier- 
lichen Halbfigur  dasselbe  auszudrücken  gewusst  wie  Oskar  Wilde  in  seinem  figurenreichen  Drama. 
Es  ist  eine  Salome  voll  grausamster  Perversität  des  Lebens. 

Stuck  malte.  Klinger  meisselte  zum  ersten  Male  die  Sünde  in  einem  selbständigen  Kunst- 
werke. Rops  aber  hat  in  seinem  ganzen  Lebenswerke  alles  das  künstlerisch  zu  krystallisieren 
vermocht,  was  zum  mindesten  das  ganze  nordische  Geistes-  und  Empfindungsleben  unserer  Zeit 
vom  Bösen  und  seiner  Gestalt  hält.  Denn  Rops  steht  als  Flamländer  zu  sehr  zwischen  der 
romanischen  und  germanischen  Rasse,  als  dass  das  Urteil  der  Franzosen,  die  in  seinen  teuflischen 
Schöpfungen  einen  spezifisch  französischen,  lustigen,  galanten,  zu  Satire  und  Komik  geneigten 
Gehalt  rühmen,  ohne  weiteres  als  zutreffend  bezeichnet  werden  könnte.  Gewiss  mag  sehr  Vieles 
in  seinen  Bildern  voll  prickelnden  Humors  sein,  der  Grundcharakter  ist  doch  unwidersprechlich 
ein  tiefernster  und  moralischer.  Barbey  d'Aurevilly  sagt  in  der  Vorrede  zu  seinen  Romanen  „Les 
Diaboliques"  folgendes:  „Wie  schon  ihr  Titel  „Die  Teuflischen"  besagt,  erheben  sie  nicht  den 
Anspruch,  ein  Andachtsbuch,  eine  „Nachfolge  Christi"  zu  sein.  .  .  .  Und  dennoch  sind  sie  von 
einem  christlich  denkenden  Moralisten  geschrieben,  der  aber  seine  Ehre  dareinsetzt,  ehrliche,  wenn 
auch  sehr  kühne  Beobachtungen  wiederzugeben,  und  er  glaubt  —  das  ist  so  seine  Poetik  —  dass 
die  kraftvollen  Maler  alles  malen  kön- 
nen und  dass  ihre  Bilder  hinlänglich 
moralisch  sind,  wenn  sie  tragisch 
sind  und  Abscheu  erwecken  vor  den 
Dingen,  die  sie  darstellen.  Unmoral- 
isch sind  nur  die  Lauen  und  die  un- 
gläubigen Spötter.  —  Ich  glaube  kaum, 
dass  es  Jemanden  gibt,  der,  nachdem 
er  die  „Teuflischen"  gelesen,  Lust  hätte, 
es  ihnen  nachzuthun."   — 

Wer  die  „Teuflischen"  des  Rops 
sich  recht  anschaut,  der  wird  auch  ihn 
nicht  als  einen  Zeichner  des  galanten 
Paris,  sondern  als  einen  ganz  gran- 
diosen   Pessimisten    beurteilen.      Sein 

grosser     Landsmann     Karl     Huysmans  Ferdinand  Götz.     Die  Versuchung  des  heil.  Antonius. 


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F.  M.  Bredt  pinx. 


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Sirenen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


17 


gibt  dieser  Anschauung  recht.  Wie  grausam  ist  docii  Rops'  Phantastilc  in  seinen  Vignetten  und 
Illustrationen,  die  schon  deshalb  bewundernswerte  Kunstschöpfungen  sind,  weil  sie  nicht  illustrieren, 
sondern  Verwandtes  in  Eigenem  zu  krystallisieren  wissen.    Zu  Peladan's  „Vice  supreme",  zu  Hannon's 


Felicien  Rops.     La  femme  et  la  folie  dominant  le  monde. 

(Mit  Genehmigung  von  Gustave  Pellet,  fiditeur  d'estampes  in  Paris,  9  Quai  Voltaire.) 


„Rimes  de  joie",  zu  Verlaine's  Liedern,  zu  Mallarme's  „la  grande  Lyre",  zu  Uzanne's  „Son  altesse 
la  femme",  zu  Barbey  d'Aurevilly's  „Les  Diaboliques",  zu  Peladan's  „Initiation  sentimentale"  hat 
Rops  Bilder  der  Sünde  hinzugefügt,  wie  sie  in  diesem  Rahmen,  d.  h.  als  Illustrationen  oder  Titel, 
geistvoller  und  künstlerisch  werteigener  nicht  gedacht  werden  können. 

XIV  3 


18  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Wie  neu  ist  aber  auch  Rops  in  den  selbständigen  Bildern  der  Sünde.  Wie  neu  und  unserem 
Geiste  entsprechend  hat  er  das  alte  Thema  der  Versuchung  des  heiligen  Antonius  darzustellen 
gewusst  und  gewagt.  In  diesen  Bildern  ist  er  der  Alle  fesselnde  Künstler  und  Moralist.  Das  gilt 
gerade  von  Bildern,  die  gegenständlich  in  die  Rubrik  „Genre"  gehörten.  Wie  gierig-stupid,, 
heuchlerisch  schmunzelnd  stieren  seine  Trappisten  in  den  grossen  Folianten  von  „Sodom's  Zerstörung". 
Rops'  berühmtes  Bild  „Der  Klatsch"  würde  gegenständlich  in  das  Illustrationsgebiet  der  „Gartenlaube" 
passen.  Sechs  alte  und  junge  Klatschbasen  sitzen  da  beieinander,  die  ältere  erzählt  „die  alte 
Geschichte".  Sünde  ist  das  Thema.  Sechsmal  spiegelt  sich  die  immer  variierte  Lust  an  der  Sünde 
in  Gesicht  wie  Haltung  dieser  köstlichen  Banausen  ab.  Wie  knapp  ist  der  Witz,  wie  knapp 
erwogen  der  künstlerische  Ausdruck! 

Rops'  ganzes  Werk  fast  ist  eine  so  scharfe  und  witzige  Moralpredigt,  wie  sie  die  Welt  in 
moralisch  entarteten  Zeiten  zwar  schon  gehört,  aber  noch  nie  in  so  künstlerischer  Darstellung 
gesehen  hat.  Wie  künstlerisch  reif  und  vollhaltig,  von  welch  tiefem  Ernst  die  Teufelsbilder  eines 
Rops  erfüllt  sind,  das  zeigt  ein  Vergleich  mit  ähnlichen  Bildern  Sascha  Schneider's.  Wie  hohl  und 
theatralisch  müssen  den  modernen  Menschen  Schneider's  Sündenbilder  mit  ihrer  billigen,  aufdringlichen 
Allegoristik,  ihrer  verspäteten  Phantastik  berühren.  Rops,  der  zu  früh  Verstorbene,  war  ein  Mensch 
von  ungewöhnlichen  Kenntnissen,  ein  Künstler  ungewöhnlichen  Könnens  und  Empfindens.  Freilich, 
seine  Schöpfungen  sind  durchaus  nichts  für  Philister,  sie  sind  für  das  Volk  unbrauchbarer  als  Kaviar. 

Benno  Rüttenauer  hat  in  einem  sehr  feinsinnigen  Essai*)  an  Octave  Uzanne  erinnert,  der 
Rops  den  Enkel  Rabelais'  nennt.  Rüttenauer  vergleicht  überdies  mit  Recht  die  künstlerische  Sprache 
der  Rops'schen  Teufeleien  mit  der  Sprache  der  Apokalypse.  „An  ungeheuerlicher  und  schauerlicher 
Phantasie  stehen  sie  (die  Rops'schen  Bilder)  ihr  nicht  nach  und  in  rücksichtslosem  Cynismus  lassen 
sie  die  Bibel  weit  hinter  sich."  Zweifellos  ist  der  Geist  der  Rops'schen  Teufel  jenen  mächtigen 
alten  Phantasien  und  Dichtungen  verwandt. 

Um  so  auffallender  ist  nur,  dass  erst  die  Kunst  unserer  Zeit  eine  so  neue  und  schliess- 
lich so  gewaltig  einfache  Form  gefunden  hat,  die  der  uralt  bösen  Vorstellung   wirklich   entspricht. 

Diese  unleugbare  Thatsache  darf  uns  unsere  Zeit  wunderbar  und  ausserordentlich  vorkommen 
lassen.  Rops,  weit  mehr  als  Klinger  und  Stuck,  ist  ein  ganz  ausserordentlicher  Neugestalter 
gewesen.  Freilich  müssen  wir  vermuten  und  zugeben,  dass  dieser  grosse  Wandel  in  der  künstler- 
ischen Darstellung  des  Bösen  sich  nicht  auf  einmal  vollzogen  hat.  Vereinzelte  Vorläufer  dieser 
künstlerischen  Auffassung  finden  sich  schon  längst  in  der  Kunst. 

Also  nicht  auf  einmal  ist  der  Henkerteufel  ein  Verführer,  ist  aus  dem  tierischen  ein 
menschlicher  Teufel  geworden.  Doch  so  grausam  und  unerbittlich,  so  tief  und  herb,  wie  gerade 
bei  Rops,    ist   vor   diesem  noch  nie   die  Sünde  künstlerisch  gebildet  worden. 

Es  gehört  zweifellos  eine  grosse  Reife  des  Menschengeschlechtes  dazu,  eine  solche  Bildung 
zu  ermöglichen,  und  es  gehört  nicht   nur   grosser  Mut  dazu,    das  Böse   endlich    einmal  so  zu  ge- 


♦)  In  „Symbolische  Kunst"  Strassburg,  Heitz  1900,  siehe  auch  „La  Piume"  No.  172  vom  15.  Juni  18%  (Illustrierter  Katalog 
der  Werke  Rops). 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


19 


stalten,  wie  es  durch  die  Jahrtausende  nur  zu  erdenken  gewagt  wurde.  Es  setzt  überdies  ein 
grosses,  sehr  verfeinertes  künstlerisches  Darstellungsvermögen  voraus,  insbesondere  das  Vermögen 
dazu,  alles  Stoffliche,  alles  Seelische  ohne  weiteres  darstellen  zu  können.  Rops  und  Klinger  und 
Stuck  erheben  sich  keck  über  des  Dichters  Rezept:  „Male  die  Wollust,  doch  male  den 
Teufel  dazu".  Sie  malen  die  Wollust,  indem  sie  den  Tod,  und  sie  malen  den  Tod,  indem 
sie  die  Sünde  malen. 

Auffallend  nur,  dass  unsere 
heutige  Kunst  die  Sünde  fast  nur 
im  Weibe  sieht!  —  Spielt  da  gar 
die  Frauenfrage  herein  ?  —  Oder 
ist  es  die  Furcht  vor  dem  Weibe? 
Und  wie  kommt  es,  dass  die 
sexuelle  Frage  auch  beim  Thema 
Teufel  gegenwärtig  eine  so  herr- 
schende ist? 

Das  vermag  unsere  Zeit 
uns  nicht  zu  sagen.  Uns  genügt 
die  Thatsache,  dass  die  ethische 
Kraft  der  Verurteilung,  die  im 
neuen  Teufelsbilde  zum  Ausdruck 
kommt,  eine  grössere  ist  denn  je. 

Es  zeigt  sich,  dass  wir 
keinem  Jahrhundert  ferner  sind 
als  dem  unkünstlerischsten  sieb- 
zehnten Jahrhundert  mit  der 
schwerfälligen  und  stumpfsinn- 
igen Fülle  plattester,  ausgeklügel- 
ter, stummer  Symbolik, 


Felicien  Rops.     Les  diables  froids. 

(Mit  Genehmigung  von  Gustave  Pellet,  fiditeur  d'estampes  in  Paris,  9  Quai  Voltaire.) 


Jakob  Burckhardt  spricht  einmal  die  Vermutung  aus,  dass  der  Weg  vom  Schrecklichen 
durch  das  Komische  zuletzt   zum  Schönen  führe. 

Die  Kunstgeschichte  des  nordischen  Teufels  bestätigt  diese  Vermutung. 

Uns  erinnert  die  nun  menschlich  gebildete,  freilich  nicht  in  „reiner  Schönheit"  gebildete 
Sünde  an  den  menschlich  und  heiter  gebildeten  Pan  in  der  letzten  Phase  griechischer  Kunst  und 
hellenischen  Geistes.  Aber  es  ist  doch  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen  beiden  künstlerischen 
Verkörperungen.     Der   zierlich  gestaltete  Pan    mit   seinen  koketten   spitzen  Ohrchen  war  doch  zur 


20  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

fast  nichtssagenden,  beliebten  Genrefigur  geworden.  Es  war  nichts  mehr  von  einem  Halbgott  in 
ihm.  Freilich  auch  unser  Teufel  scheint  seine  alte  Religion  vergessen  zu  haben  —  er  ist  keine 
kirchliche  Figur  mehr,  sondern  er  ist  menschlich,  vielleicht  für  manchen  allzumenschlich  geworden. 
Daran  ist  nichts  zu  ändern,  was  diese  Menschwerdung  nun  auch  für  den  vollzogenen  Wandel 
religiöser  oder  geistiger  Anschauung  bedeuten  möge. 

Viel  bedeutet  sie  ganz  gewiss,  aber  ganz  etwas  anderes  als  der  schliesslich  menschlich 
gebildete  Pan  der  sinkenden  hellenischen  Kultur.  Der  letzte  Pan  war  frivol  und  gehaltlos  ge- 
worden, indem  er  zum  Menschen  wurde. 

Unsere  Künstler  aber  fassen  den  ganzen  mächtigen,  grausigen  Sinn  der  Sünde  fester  zu- 
sammen als  je  und  stellen  sie  in  schaudernder  Nacktheit  herber  und  packender  und  ernster  dar, 
als  sie  noch  die  Jahrtausende  zu  bilden  gewagt. 

So  steht  der  Teufel,  wie  ihn  die  Künstler  unserer  Tage  bilden,  nicht  am  Ende  einer 
Zivilisation  und  nicht  am  Ende  einer  Kunst.  Seine  Moral  ist  packender  denn  je  und  bildet  eine 
Höhe,  von  der  eine  neue  Welt  sich  zeigt.  — 


Petrus  Cristus.     Teilstück  aus 
„Das  jüngste  Gericht". 


Anselm  Feuerbach 


W 


VON 

FRITZ  VON  OSTINI. 

öher  gestrebt,  reiner  gewollt,  von  schönerer  Begeisterung  geglüht, 

.     .    als  Anselm    Feuerbach,    hat   kein  Maler  des    neunzehnten    lahr- 

y  /  hunderts !      In     unerschöpflicher    Fülle    quollen    die    Bilder    aus 

,  seiner  Phantasie,    mit    grosszügiger    Gestaltungskraft    bannte    er 

X^  sie   auf   seine  Leinwand,   reich  und   fruchtbar  im  Schaffen,  aber 

,  i  auch  voll    strenger  Selbstzucht,  nie  sich  genügend,  ein   Priester 

der  idealen  Schönheit  und  stark  im  persönlichen  Ausdruck  seiner 
Kunst  dabei.     So   vielgespalten    und    widersprechend    heute    in 
Sachen  der  Malerei  die  Meinungen  Derer  sich  gegenüberstehen, 
^'^^  welche  sachverständig  heissen  —   über  ihn  ist  nur  eine  Stimme 

N3tf^  hohen  Lobes,  die  ihn  unter  die  Höchsten  seiner  Zunft  einreiht. 

Und  doch  ist  Anselm  Feuerbach  für  das  deutsche  Volk  auch 
heute  nicht  viel  mehr  als  ein  wohlklingender,  achtunggebietender  Name,  mit  dem  auch  von  den 
Gebildeten  nur  einen  kleinen  Teil  innigere  geistige  Beziehungen,  tieferes  Verständnis  verbinden. 
Im  Grossen  und  Ganzen  ist  er  sein  Leben  lang  ein  Einsamer  gewesen  und  es  ward  ihm  nicht  ein- 
mal das  bittersüsse  Glück  posthumer  Anerkennung  im  verdienten  Masse.  Es  ward  ihm  immer  nur 
Achtung,  hohe,  bedingungslose  Achtung,  aber  keine  hingerissene  Bewunderung  zu  Teil.  Woran 
das  liegen  mag?  Die  Antwort  ist  nicht  ganz  leicht,  wenigstens  was  den  Anteil  der  Mitwelt  angeht. 
Was  Feuerbach  selbst  mit  dieser  Mitwelt  in  Zwiespalt  setzte,  liegt  freilich  klar  am  Tag;  über 
keines  anderen  grossen  Künstlers  Leben  und  innere  Entwicklung  vielleicht  liegt  so  wertvolles  und 
erschöpfendes  Material  vor  wie  über  das  seinige,  hat  er  uns  doch  in  seinem,  dann  pietätvoll  über- 
arbeiteten und  ergänzten  „Vermächtnis"  über  seine  Meinungen  und  Erlebnisse  reiche,  tiefgründige 
Aufschlüsse  gegeben.  Aber  was  hat  ihm  die  Gunst  des  Publikums  so  hartnäckig  ferngehalten?  Viel- 
leicht war  er  einer  von  den  grossen  Geistern,  deren  Unglück  es  ist,  nicht  in  ihre  Zeit,  vielleicht  auch 
nicht  in  ihr  Land  zu  passen.  Er  stand  zwischen  den  zwei  grossen  künstlerischen  Bewegungen 
des  Jahrhunderts,  der  klassizistischen  und  der  realistischen,  um  Worte  zu  gebrauchen,  welche 
das  Wesen  jener  Strömungen  zwar  nicht  decken,  aber  doch  andeuten.     Den  Kindern  der  Zeit,  die  ihn 

XIV  4 


22  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

gebar,  war  er  ein  ungestümer  Neuerer,  der  Epoche  der  färb-  und  lebenslosen  Nazarenermalerei  ein 
kühner,  allzu  üppiger  Kolorist  —  sie  verstanden  ihn  nicht.  Und  dann  vollzog  sich  der  grosse  Um- 
schwung in  der  deutschen  Malerei,  das  leidenschaftliche  Hindrängen  zur  Natur,  die  Abwendung  vom 
Pathetischen,  und  die  Zeit,  die  über  ihn  hinweggegangen  zu  sein  glaubte,  verstand  ihn  wieder 
nicht  —  zuerst  noch  nicht  und  dann  nicht  mehr!  Der  Sinn  für  das  Feierliche,  für  die  schöne 
Gebärde,  für  das  volltönige  Rauschen  grosser  Farbenharmonien  war  den  Deutschen  abhanden  ge- 
kommen. Und  der  düstere  Ernst,  der,  ein  Widerschein  von  des  Künstlers  wenig  glücklicher  Seele, 
in  seinen  Formen  und  Farben  war,  entsprach  auch  nicht  dem  Geschmacke  der  Zeit,  ebensowenig 
das  vornehme  Hellenentum  Feuerbach's ;  dass  er  neben  und  nach  so  vielen  unechten  Hellenen  in 
der  Kunst  ein  echter  war,  ist  nicht  so  leicht  zu  erkennen  gewesen.  Seine  Stoffwelt  trägt  wohl 
mit  die  grösste  Schuld  daran,  dass  er  nicht  voll  gewürdigt  wurde.  Die  deutsche  Kunst  war  ja  mit 
Antike  übersättigt,  übersättigt  durch  die  kalte  Monotonie  und  die  naturfremde  Farbenarmut  der 
Akademiker,  ob  sie  nun  malten  oder  den  Meissel  führten.  Bei  Feuerbach  war  nun  freilich  das 
heisses,  pulsierendes  Leben,  was  bei  jenen  überschminkter  Tod  gewesen  ist.  Aber  das,  was  man 
so  den  Geschmack  einer  Zeit  nennt,  fragt  nicht  nach  solchen  Unterschieden !  Warum  war  Anselm 
Feuerbach  auch  gerade  in  Deutschland  geboren !  Warum  nicht  in  England,  wo  er  neben  seinen  Zeit- 
genossen Gabriel  Charles  Dante  Rossetti  und  Burne-Jones,  die  er  an  Wucht  und  Temperament  der 
Begabung,  wenn  auch  nicht  an  verfeinertem  Geschmack  um  mehr  als  Haupteslänge  überragt,  wohl 
als  Stern  ersten  Ranges  wäre  gefeiert  worden ! 

Auch   rein  Menschliches    mag  seinen  Teil    haben  daran,    dass  er  äusserlich  nicht  den  Platz 
in  der   Kunstwelt   einnahm,  der   ihm    gebührte.     Der  Verbitterte   verbitterte   wieder.      Er   erkannte 
wenig  Fremdes   an,  vor  allem  wenig    in    der   deutschen  Kunst    und    glaubte    nur   einem  Dank  zu 
schulden,    dem  Franzosen  Couture,    in  dessen  Schule  er    seinen  Weg  gefunden.     Sein  Urteil  war, 
auch  wo  es  treffend  war,  hart  und  schroff.     So  ist  nun  freilich  das  Urteil  der  meisten,  nicht  hin- 
reichend  anerkannten    Künstler   von    stark    ausgesprochener    Persönlichkeit,    und    auch    unter    den 
Lebenden  und  Anerkannten  ist   eine  ganze  Anzahl  solcher,  die  meist   ebenso  sicher   über  das  Ziel 
hinaustreffen,    wie  einst  Feuerbach ;  man  denke   nur  an  Lenbach,  an  Begas,    an  Menzel.     Man   er- 
innere sich,  wie  unbarmherzig  ein  Böcklin  oft  die  Besten  abthat  und  dann  doch  wieder  gewandte 
Routiniers  lobte.     Es  ist  das  eben  ein  Künstlerrecht:    wer  an  sich  selber  glaubt,  lässt  das  so  leicht 
nicht  gelten,  was  ihm  zuwider  ist.     Und  alle  Härte  in  Anselm  Feuerbach's  Urteilen  und  alle  Schwer- 
mut, die  auf  seiner  Seele  lastete,  ist  begreiflich,  wenn  man  seine  innere  Entwicklung  mit  ihren  grossen 
Linien  und  mit  ihrer  herben  Tragik  verstehen  gelernt,  wenn  man  erkannt  hat,  mit  welch  titanischem 
Willen  er  emporgestrebt,  wie  ihm  das  Grösste  eben  gross  genug  und  er  dem  Grössten  dann  doch 
nicht  gewachsen  war.     Mit  Grausamkeit  und  Hohn  sieht  das  Publikum  zu,    wenn  sich  ein  Genius 
abquält  an  solchen  Dingen  und  erliegt,    mit  Wollust   legt  es  die  Finger  an  jene  Stellen,    wo  auch 
der  Gigant  verwundbar  gewesen,  und  mit  kindischer  Freude  rechnet  es  ihm  jedes  Misslingen  nach. 
Der  deutsche  Kunstphilister  kennt  kein  ruhiges  Ablehnen  einer  Sache,    die  ihm  nicht  gefällig  und 
geläufig  ist,  er  kennt  hier  nur  Hass  und  Hohn.     Was  mag  da  im  Busen  eines  Grossen  vorgehen,  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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sein  Bestes  gethan  hat,  und  dem  jener  Hass  und  Hohn  entgegengrinst,  wo  er  jauchzenden  Beifall 
erwarten  durfte.  Ein  Feuerbach  war  auch  da  gross,  wo  seinem  Wollen  kein  volles  Gelingen  ent- 
sprach. Gegen  seine  „Amazonenschlacht"  lässt  sich  gewiss  manches  sagen,  aber  wer  sie  tadelt, 
tadle  sie  mit  dem  Hut  in  der  Hand.  Und  wie  hat  man  sie  damals  empfangen,  diese  Amazonen- 
schlacht,   als   er   sie    nach  fünfzehnjährigem    heissem  Ringen  vollendet   hatte,  wie  hat    man    sie   in 


Anselm  Feuerbach.     Selbstbildnis. 


Wien  empfangen  und  anderswo !  Ich  kann  das  Vestibül  des  Münchener  Glaspalastes  kaum  betreten, 
ohne  mit  dem  Blick  hoch  oben  im  Eisengerüst  der  Mittelhalle  die  Stelle  zu  suchen,  wo  man  das 
Bild  1876  totgehängt  hatte  —  noch  einmal:  das  Bild,  in  dem  ein  Feuerbach  sein  Bestes  zu 
geben  geglaubt.  Über  die  Wiener  Aufnahme  möge  er  selber  reden.  Er  hatte  das  Bild  und 
etliche  Wochen  später  die  zweite  Version  des  Gastmahls  des  Plato  im  Wiener  Künstlerhaus  aus- 
gestellt.    Und  nun  schreibt  er: 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


AiiNcliu  Feiicrhaili.     Spielende  Kinder. 


,,Es  brach  ein  Sturm  über  mich  los,  der  mich  wenigstens  über  die  Bedeutung  der  Bilder 
beruhigen  konnte.  Ich  setzte  mich  nicht  zu  Tische,  ohne  Spott-  und  Hohn-Kritiken,  ohne  Kari- 
katuren —  leider  waren  sie  immer  schlecht!  —  neben  meinem  Couvert  zu  finden,  und  ich  legte 
mich  nicht  zu  Bett,  ohne  von  den  Dachtraufen  meine  Niederlagen  erzählen  zu  hören.  —  Man 
sagte  mir,  dass  vom  Professor  bis  zum  Hausknecht  herab  sich  alle  über  mein  schlechtes  Bild  lustig 
machten!"  In  München  hatten  sie  ihm,  als  er  1876  die  Amazonenschlacht  und  das  erwähnte 
„Symposion"  ausgestellt,  sogar  die  grosse  goldene  Medaille  verliehen,  aber  nicht  für  eines  der 
grossen  Bilder,  sondern  für  einen  zehn  oder  mehr  Jahre  alten  Studienkopf,  der  mit  ausgestellt  worden 
war.  Der  Schlag  ist  vielleicht  bitterer  vom  Künstler  empfunden  worden,  als  jede  andere  banausische 
Rohheit,  die  er  erfuhr.  Es  gibt  etwas,  das  für  den  Genius  noch  grausamer  sein  kann,  als  der  Pöbel 
—  das  ist  eine  perfide  Koterie  von  Berufsgenossen. 

Mit  jedem  grossen  Werke,  das  sich  von  seiner  Seele  losrang  —  denn  Geister,  wie  der 
Anselm  Feuerbach's  bringen  ihre  Kinder  mit  Schmerzen  zur  Welt!  —  hatte  sich  das  gleiche  Spiel 
wiederholt,  mit  wenig  Variationen.  Er  brachte  immer  anderes,  als  man  von  ihm  erwartete  oder 
wünschte,  Kompromisse  kannte  er  nicht  —  Ablehnung  und  Kränkung  war  meist  die  Antwort.  So 
hatte  ihn  grollende  Schwermut  nie  verlassen,  ein  Ding,  das  er  schon  mit  dem  Sinn  für  das  Schöne 
vom  Vater  ererbt,  der  auch  eine  schwermütige  Natur  gewesen  ist.  Und  dieser  melancholische 
Grundzug  seines  Wesens  geht  durch  sein  Schaffen,  spricht  aus  der  dunklen  Harmonie  seiner  Farben, 
aus  den  Mienen  der  Menschen,  die  er  schildert.  Richard  Muther  charakterisiert  ihn  meisterlich, 
wenn  er  schreibt:  „Diese  müde  Resignation  scheint  dann  auch  aus  seinen  Bildern  zu  sprechen. 
Keiner  von  den  Alten  hatte   diese   moderne  Melancholie,    diesen  Hauch  von  Schwermut,    der    über 


Aiiscim  l*'o«erbacli  piiix. 


Phot.  F.  Hanfstaciigl,  Miiiichcii 


Ricordo   di  Tivoli 


CO 


Dii£  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


25 


Feuerbach's  Arbeiten  brütet.  Schon  die  jungen  Frauen  um  Dante  sind  von  jener  Trauer  erfüllt, 
die  mitunter  am  Abend  schwüler  Sommertage  die  Jugend  überkommt,  wenn  eine  Vorausahnung 
der  Vergänglichkeit  der  Dinge  sie  anfliegt.  Es  ist,  als  würden  diese  Gestalten  alle  einst  in's  Kloster 
gehen,  oder  wie  Iphigenie  einsam  am  Ufer  eines  Meeres  sitzen,  über  das  keine  Schiffe  für  sie 
heranfahren.  Und  es  ist  gewiss  kein  Zufall,  dass  gerade  Iphigenie  sich  des  Künstlers  so  bemächtigte, 
dass  er  immer  von  neuem  ansetzte,  ihr  Gestalt  zu  geben,  und  dass  neben  sie  später  Medea  trat 
als  Verkörperung  noch  höherer  Verlassenheit,  die  des  Künstlers  Seele  erfüllte.  Die  Kolchierin,  die 
fröstelnd  am  Ufer  des  Meeres  sitzt,  von  den  Gefühlen  der  Verlassenheit  durchschauert;  des  Agamemnon 
Tochter,  die  das  Land  der  Griechen  mit  der  Seele  sucht,  vor  ihr  ein  endloses  Meer,  weit  und 
grau,  wie  die  Sehnsucht  —  das  ist  der  vereinsamte  Feuerbach  selbst,  der  gleich  Hölderlin,  dem 
Werther  Griechenlands,  in  ein  traumhaftes  Hellas  wie  in  glückliche  Gestade  flüchtet,  um  Ruhe  zu 
finden  für  die  kranke  Seele.  Sein  Gastmahl  des  Plato  hat  nicht  jene  übermütige  Sinnlichkeit,  die 
Mischung  von  Esprit  und  Üppigkeit,  von  Mass  und  Unmass,  die  das  athenische  Leben  unter 
Perikles  kennzeichnet,  auch  nicht  die  olympische  Heiterkeit,  mit  der  Raffael  den  Stoff  geschildert 
hätte.  Ein  Hauch  mönchischer  Askese  liegt,  jede  Freude  dämpfend,  darüber.  Diese  Griechen  haben 
die  Schmerzen  gekostet,  die  das  Christentum   in   die  Welt  gebracht!" 

Das  Wort  ist  trefflich,  und  der  Zwie- 
spalt von  Hellenentum  und  Nazarener- 
strenge,  der  durch  Feuerbach's  Kunst  sich 
verfolgen  lässt,  mag  nicht  nur  ihm  selber 
so  manche  tiefe  Wirrnis  gebracht  haben, 
sondern  auch  daran  mit  eine  Hauptschuld 
tragen,  dass  ihn  seine  Mitwelt  nicht  ver- 
stand und  vielleicht  seine  Nachwelt  ihn  nie 
verstehen  wird.  Auch  der  Hellene  Böcklin 
ist  lange  unerkannt  geblieben;  aber  endlich 
musste  die  sonnige  Heiterkeit  und  Freiheit 
seines  künstlerischen  Wesens  auch  die  Leute 
aus  Philisterland  gewinnen,  die  olympische 
Ruhe  und  Stetigkeit,  mit  der  er  seinen  Weg 
ging,  allen  Widerstand  der  stumpfen  Welt 
besiegen.  Feuerbach's  Kunst  war  nicht 
heiter,  im  ganzen  war  sie  ernst,  wie  sein 
Leben,  das  Leben  eines  Mannes,  der 
Schweres  erfuhr  und  alles  doppelt  schwer 
nahm,  der  das  ihm  gethane  Unrecht  nicht 
mit  kühler  Überlegenheit  sieghaft  abschüt- 
telte, sondern   mit    brennenden    Schmerzen  Ausc/w  Fcm-ibdiii.    Hanctzcicimung 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


bis  auf  die  Neige  durchkostete.  Es  war  ihm  freilich  ein  ungeheuerliches  Mass  von  Unrecht  zu- 
gemessen worden  und  alle  luden  sie  ihr  Teil  auf  seine  gefolterte  Seele  ab,  Schaupöbel  und 
Kollegen,  Mäcene  und  Widersacher  vom  Schlage  des  Herrn  Karl  Friedrich  Lessing,  Kunstmalers 
und  Galeriedirektors  in  Karlsruhe  I 

Warum  sich  die  Nachwelt  immer  noch  so  kühl  zu  Anselm  Feuerbach  verhält?  Als  er  1880 
starb,  war  eine  Kunstanschauung  allgemein  geworden,  die  sich  der  seinigen  fast  diametral  gegenüber 
stellte.  Er  war  einst  ein  wagemutiger  Neuerer  als  Kolorist  gewesen  —  nun  nannte  man  das  kaum 
mehr  Farbe,  was  seine  Zeitgenossen  einst  als  tollkühne  Ausschweifungen  des  Kolorits  betrachtet 
hatten.  Seine  feierliche  Art,  sein  heroischer,  an  der  Antike,  wie  an  den  Meistern  der  Renaissance 
gebildeter  Stil  passte  schlecht  in  das  Zeitalter  des  Pleinair  und  des  Paysage  intime.    Die  Reaktion  gegen 

die  alte  Gedanken-,  Geschichts- 
und Anekdotenmalerei  war  ein- 
getreten und  man  hatte  kein 
Organ  mehr  für  den  stark 
literarischen  dramatischen  Zug, 
der  wohl  ein  Hauptkennzeichen 
des  Feuerbach'schen  Stils  bildet. 
Er  war  ein  grosser  Maler, 
gewiss,  aber,  und  zwar  in 
des  Wortes  vollster  Bedeutung, 
auch  ein  grosser  Poet,  und  an 
der  Schönheitsfreude  in  seinem 
Schaffen  hat  der  Poet  vielleicht 
oft  mehr  Anteil  als  der  Maler. 
Den  Eindruck  empfängt  man 
unmittelbar  vor  seinen  Bildern, 
liest  man  aber  das,  was  er 
selber  über  ihr  Entstehen,  über 
die  Erlebnisse  seiner  Seele  in 
Schaffenswehen  schreibt ,  so 
findet  man  erst  recht,  wie  sehr 
in  ihm  die  Idee  übermächtig 
war,  die  dichterische  Idee  und 
nicht  der  malerische,  nicht  der 
farbige  Gedanke,  wie  zum  Bei- 
spiel bei  Böcklin.  Das  sei  nicht 
als  Vorhalt  gegen  seine  Kunst 

Anselm  Feuerbach.     Rückwärts  stürzende  Amazone  (Studie).  gesagt,    Sondern     nur     als     eine 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


27 


Ansehii  Feiteibacli .    Sterbende  Amazone  (Studie). 

Sie  erschlösse  ihm  Schätze   an  Schön- 


Ericlärung  für  das  Verhalten  seiner  Zeit  gegen  ihn.  Was 
der  Maler  nicht  unmittelbar  nach  den  lebendigen  Ein- 
drücken der  Natur  empfunden,  das  wirkt  als  Gemälde 
nicht  unmittelbar  auf  den  Beschauer,  namentlich  nicht 
in  einer  Zeit,  die  verlernt  hat,  in  Bildern  tiefere  Ge- 
danken zu  suchen.  Die  Gegenwart,  die,  allen  Seiten- 
sprüngen der  Mode  zum  Trotz,  eine  Zeit  des  Neuidealis- 
mus in  der  Kunst  ist,  würde  einem  Feuerbach  zweifellos 
eher  gerecht  werden,  und  wenn  man  jetzt,  eventuell  in 
zwei  Jahren  an  seinem  fünfundsiebzigsten  Geburtstag, 
eine  umfassende  Ausstellung  Feuerbach'scher  Gemälde 
aus  allen  Schaffensperioden  zu  stände  brächte,  sie 
würde  einen  glänzenden  Erfolg  haben  und  bedeutete 
nicht  nur  einen  Akt  der  Gerechtigkeit,  sondern  auch 
einen  enormen  kulturellen  Gewinn  für  das  deutsche  Volk 
heit,  die  man  fast  neue  heissen  könnte,  und  lehrte  es,  in  einem  grossen  Künstler  auch  einen 
grossen  Menschen  bewundern  und  ehren.  Und  jeder  grosse  Mensch,  jeder  Vertreter  einer  reinen 
und  idealen  Gesinnung  ist  schon  durch  sich  selber,  von  seinem  Wert  als  Schöpfer  ganz  ab- 
gesehen, ein  Glück  für  seine  Nation! 

Es  ist  uns  vergönnt,  Feuerbach's  Lebensschicksale  und  den  Gang  seiner  inneren  Entwicklung 
aus  zwei  Büchern  kennen  zu  lernen,  die  da  über  jede  Frage  den  sichersten  und  gründlichsten 
Aufschluss  geben :  aus  seinen  eigenen  Aufzeichnungen,  die  er  gegen  Ende  der  siebziger  Jahre  des 

19.  Jahrhunderts  gemacht  hat  und  die,  wie  erwähnt, 
unter  dem  Titel  „Ein  Vermächtnis"  bekannt  sind,  und 
aus  dem  Buche  des  Julius  Allgeyer:  „Anselm 
Feuerbach.  Sein  Leben  und  seine  Kunst". 
Allgeyer  hat  die  schweren  römischen  Sturmjahre  Feuer- 
bach's als  teilnehmender  und  thatkräftiger  Freund  mit 
diesem  durchlebt  und  das  künstlerische  Wollen  und 
Werden  des  Malers  mit  einer  Liebe  und  Sorgfalt  ver- 
folgt, wie  sie  so  oft  noch  kein  Biograph  an  die  Ge- 
schichte seines  Helden  gewendet  hat.  Im  Verein  mit 
Henriette  Feuerbach,  der  grossherzigen  opfermutigen 
Stiefmutter  des  Künstlers,  welcher  dieser  Unendliches 
verdankt,  hat  Allgeyer  aus  Briefen  und  anderem  das 
Material  in  vollkommenster  Weise  ergänzt  und  seinem 
erschöpfenden  Buche  ist  in  der  Hauptsache  alles  that- 
Anschii  FcHcrhKch.   Studienkopf  (Handzeichnung).  sachliche  Material  für  das  Folgende  entnommen. 


28 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Ansclm  Feiicrhdrh.     Kleine  Latitcnspielerin  (Handzeichnung). 


Anselm  Feuerbach  stammt  aus 
einer  Familie,  die  sich  seit  Generationen 
schon  durch  hervorragende  Leistungen 
auf  allen  Gebieten  des  Geisteslebens  aus- 
gezeichnet hatte.  Der  Grossvater  Paul 
Johann  Anselm  Ritter  von  Feuerbach 
(geb.  1 775)  war  ein  berijhmter  Rechts- 
gelehrter und  bayerischer  Staatsmann ; 
der  Vater,  Anselm  Feuerbach,  Archäo- 
loge von  Ruf,  Verfasser  des  einst  viel- 
genannten „Vatikanischen  Apoll",  dessen 
Brüder  Karl  als  Mathematiker,  Ludwig 
als  Philosoph,  Eduard  als  Jurist  und 
Friedrich  als  Philologe  und  Orientalist 
ausgezeichnet.  Anselm  Feuerbach,  der 
Vater,  war  eine  vornehme  Gelehrten- 
natur, stark  dichterisch  veranlagt,  em- 
pfindlich und  phantasiereich,  ein  Mensch, 
geboren,  um  unglücklich  zu  sein.  Er 
hatte  erst  Theologe  werden  wollen,  sich 
von  dieser  Idee  nach  schweren  Kämpfen 
wieder  losgemacht  und  dann  den  klass- 
ischen Wissenschaften  zugewendet.  Er 
heiratete  eine  Frau,  die  er  leidenschaft- 
lich liebte  und  bald  nach  Anselm's  Geburt 


wieder  verlor.  In  Henriette  Heydenreich,  der  zweiten  Gemahlin  des  Vaters,  erhielt  Anselm  dann 
eine  Stiefmutter,  welche  ihm  die  echte  Mutter  vollkommen  ersetzte,  ja  weit  über  ihre  Pflicht  hinaus 
in  hingebender  selbstloser  Liebe  sein  ganzes  Leben  und  Geschick  begleitet  hat.  Der  Vater  war 
erst  Gymnasiallehrer  in  Speyer,  1836  kam  er  als  Professor  der  Philologie  und  Altertumskunde  an 
die  Universität  nach  Freiburg  i.  B.  Ein  paar  Jahre  später  ward  sein  Lebenswunsch  erfüllt,  eine 
Reise  nach  Italien,  der  heissersehnten  Stätte  klassischer  Kunst,  ward  ihm  ermöglicht,  aber  er  kam 
zurück  „als  ein  ziemlich  stiller  Mann",  mit  reicher  Ausbeute  an  Erinnerungen,  Kenntnissen  und 
Eindrücken  zwar,  aber  nicht  mit  starkem  Aufschwung  der  Energie  und  dem  Mut  zu  neuen  Flügen. 
Im  Hause  Feuerbach  war  ein  schönes  Familienleben,  an  vielseitigen  Eindrücken  für  die  Kinder 
reich.  Es  wurde  viel  gute  Musik  gemacht,  was  dauernd  in  des  Künstlers  Wesen  seine  Spuren 
hinterliess,  und  der  Knabe  empfing  von  des  Vaters  Sammlungen  an  Münzen,  Abgüssen  und  Stichen 
die  ersten  Offenbarungen  der  Kunst.  Er  selbst  stellt  fest,  dass  durch  diese  Sammlungen  „das 
Fundament   für   seine  spätere   künstlerische  Richtung   gelegt   wurde."     Trotz   aller   Liebe   zwischen 


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Anseliii  l-'^ierbacli  pinx. 


Phot.  V.  HantstaettKl.  München 


Madonna 


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30 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Eltern  und  Kindern  war  aber  nicht  eitel  Glück 
im  Hause.  Des  Vaters  Nervenverstimmung 
lag  stets  als  drohende  Wolke  über  allen  und 
in  diesem  Zustand  in  der  Kinderzeit  mögen 
auch  wohl  die  Wurzeln  von  Anselm  Feuer- 
bach's  Neigung  zur  Schwermut  zu  suchen 
sein.  Früh  zeichnete  er  „auf  alle  irgend  hab- 
haften weissen,  grauen,  blauen  oder  gelben 
Papierstücke  mit  Kreide  oder  Kohle"  und  hatte 
„den  Kopf  voller  Bilder".  Mit  zwölf  Jahren 
etwa  entwarf  er  mit  „unnennbarer  Wonne" 
einen  lebensgrossen  schlafenden  Barbarossa, 
auch  modellierte  er  auf's  kühnste,  und  alle 
Schränke  im  Elternhause  waren  mit  seinen 
gelben  Lehmgeschöpfen  gekrönt.  Er  besuchte 
das  Gymnasium  —  nicht  eben  mit  Lust.  Der 
Zeichnungsprofessor  sprach  ihm  rundweg 
alles  und  jedes  Talent  ab ;  nach  Vorlagen 
schulmässig  zu  arbeiten,  machte  ihm  natür- 
lich auch  keine  Freude.  Fünf  Jahre  lang  ging 
es  mit  dem  Studieren  noch  an,  dann  meldete 
sich  der  Beruf  des  Künstlers  mit  Macht.  Ein 
Gutachten  Schadow's  in  Düsseldorf  lautete: 
„Der  junge  Feuerbach  könne  nichts  anderes 
werden  als  Maler  und  möge  sofort  kommen"  und  der  Jüngling  wusste  es  bei  seinem  Vater 
endlich  durchzusetzen,  dass  er,  noch  nicht  sechzehn  Jahre  alt,  an  die  Düsseldorfer  Akademie 
geschickt  wurde. 

In  der  rheinischen  Kunststadt  blieb  Anselm  Feuerbach  von  1845 — 1848.  Schadow  hatte 
ihm  seine  Gunst  zugewandt  und  offenbarte  sie  mit  mehr  guter  Meinung  als  pädagogischer  Einsicht 
dadurch,  dass  er  den  Schüler  zunächst  in  seinem  eigenen  Atelier  hielt  und  Handlangerdienste 
thun,  Pinsel  waschen  und  Farben  kaufen  Hess.  Das  war  noch  schlimmer  als  der  Antikensaal. 
im  Winter  auf  das  Jahr  1846  machte  er  seine  ersten  Malversuche  und  durfte  Nebendinge  in 
Schadow'schen  Gemälden  ausführen,  die  Orden  im  Bildnisse  eines  Generals  u.  s.  w.  Da  war  nicht 
eben  viel  zu  lernen  und  vor  allem  nichts,  was  die  Begeisterung  eines  schaffenslustigen  jungen 
Mannes  anfeuern  konnte.  Trotz  alledem  war  er  „in  dieser  akademischen  Zeit  grenzenlos  fleissig 
und  von  einer  unbehaglichen  Gewissenhaftigkeit".  Manche  tiefe  Verstimmung  kam  über  ihn,  die 
in  seinen  Briefen  Ausdruck  fand,  aber  sein  Glaube  an  die  Kunst  blieb  unverrückt.  Und  an  manchen 
Guten    schloss   er  sich  an:    mit  Knaus   teilte  er   zuletzt  ein  Atelier,    mit  Rethel  war  er  befreundet. 


Anncliit  Fenerbach.     Iphigenie. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


31 


Die  unfruchtbare  Arbeit  an  der  Akademie 
Hess  ihm  dabei  doch  noch  reichlich  Zeit,  sich 
in  gestaltenreichen  Kompositionen  auszuleben. 
Sein  Biograph  verzeichnet  eine  Serie  von 
zwölf  Bleistiftzeichnungen  zu  Shakespeare's 
„Sturm"  und  noch  etliche  Porträts,  Selbst- 
bildnisse und  kleine  Bildchen,  die  in  seiner 
Düsseldorfer  Studienzeit  entstanden  sind. 

Nach  drei  Jahren  hatte  er  Düsseldorf 
gründlich  satt  und  wäre  am  liebsten  nach 
Antwerpen  oder  Paris  gefahren,  um  weiter 
zu  studieren,  aber  die  Düsseldorfer  Aka- 
demiker, Lessing  voran,  waren  dagegen  und 
der  Vater,  durch  seines  Sohnes  bisherige 
Erfolge  nicht  befriedigt,  stimmte  ihnen  bei. 
So  wurde  der  Jüngling  nach  München  ge- 
schickt, das  er  im  „tollen  Jahr"  betrat.  Es 
war  nicht  eben  ein  glücklicher  Gedanke.  Der 
kalte  Klassizismus  der  Cornelianischen  Schule, 
der  bei  den  Nachfolgern  des  grossen  Cor- 
nelius immer  mehr  in  Manieriertheit  und 
falsches  Pathos  ausgeartet  war,  sagte  Feuer- 
bach durchaus  nicht  zu.  Ihm  war  es  um 
das  Malen  zu  thun,  und  das  Malen  hielt 
man  damals  in  München  nahezu  für  etwas  Unanständiges.  So  war  er  nur  dem  Namen 
nach  Schüler  der  Akademie,  die  er  kaum  mit  Augen  sah.  Fleissig  war  er  auf  eigene  Faust, 
komponierte,  kopierte  Rubens  und  begann  einen  lebensgrossen  „Bacchus",  ein  Bild,  das  ihm 
lange  schon  als  Quälgeist  im  Kopf  gespukt.  Aber,  mit  so  grosser  Freude  er  an  die  Arbeit  ging, 
Enttäuschung  und  Missstimmung  kamen  hinterher.  In  der  Zeit,  da  der  werdende  Künstler  am 
nötigsten  weisen  Rat  und  sachkundige  Führung  gebraucht  hätte,  fehlten  ihm  diese  so  gut  wie 
ganz.  Das  Handwerk  war  ihm  nicht  gelehrt.  Entmutigt  schreibt  er:  „Das  Arbeiten  wird  mir 
doch  schwerer,  als  ich  geglaubt  habe.  —  Es  ist  doch  ein  grosser  Schritt  vom  Denken  und  Vor- 
stellen bis  zum  Machen  mit  den  Händen!"  Und  einmal,  von  einer  schönen  Gebirgstour  zurück- 
gekommen, sah  er  seinen  Bacchus  wieder,  erschrak  förmlich  über  ihn,  riss  das  Bild  von  der 
Leinwand  und  zerschnitt  es.  Dann  begann  er,  schnell  wieder  zu  neuem  Schaffen  munter,  eine 
Gruppe  lebensgrosser  Amoretten,  welche  den  kleinen  Pan  entführen.  Aber  immer  mehr  sah  er 
ein,  dass  in  München  für  ihn  nichts  zu  holen  war;  Cornelius  hatte  ihn  bitter  enttäuscht;  Schorn 
fand  er  „über  die  Massen  hässlich",    angezogen    hat   ihn  im    neuen  Athen  Ludwigs  1.   keiner.     Mit 


Anscliu  Fe II e ihm h.     Medea. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


allen  Kräften  strebte  er  wieder  fort  nach  Paris  oder  Antwerpen,  und  nach  letzter  Stadt  verzog  er 
denn  auch  im  Frühjahr  1850.  Hier,  in  Belgien,  wo  Louis  Gallait  damals  sein  berühmtes  Bild 
„Die  Brüsseler  Schützengilde  an  den  Leichen  Egmont's  und  Horn's"  schuf  und  überhaupt  das 
vorhanden  war,  was  Feuerbach  in  Düsseldorf  und  München  vergeblich  gesucht  hatte,  malerische 
Tradition,  ging  er  mit  gefestigtem  Mute  an  die  Arbeit,  studierte  streng  nach  der  Natur  und  kam 
vorwärts.  Die  frische  und  befreiende  Luft  einer  grossen  Kunstströmung  wehte  freilich  auch  dort 
nicht,  und  er  schrieb:  „Es  wurden  keine  aussergewöhnlichen  Leistungen  hervorgebracht,  nur 
war  es  ein  reges,  praktisches  Naturstreben,  entfernt  von  allem  Schwindel,  welches  wohlthätig 
wirkte;  für  mich  eine  Brücke,  die  mir  von  leichtsinniger  Phantasterei  zu  wirklichem  Studium  den 
Weg  zeigte,  die  richtige  Vorbereitung  für  Paris".  Er  malte  einen  „Betenden  Mönch",  eine 
„Junge  Hexe  auf  dem  Wege  zum  Scheiterhaufen",  ein  Bild  „Die  Kirchenräuber",  das 
verschollen  ist.  Feuerbach  hat  sein  Antwerpener  Jahr  nüchtern  und  praktisch  als  notwendige 
Lehrzeit  betrachtet,  eine  tiefergehende  Sehnsucht  hat  es  nicht  in  ihm  gestillt,  die  strebte  eben  nach 
Paris  hin.  Und  im  Frühjahr  1851  reiste  er  nach  der  Stadt  der  ewigen  Jugend  ab,  unter  trüben 
Umständen.  Der  Vater,  zu  dessen  Gemütsleiden  sich  unheilbares  körperliches  Siechtum  gesellt 
hatte,  lag  schwer  krank  zu  Hause.  Anselm  fand  starke  und  fruchtbare  Anregung  hier  auf  allen 
Wegen;    vor   der   göttlichen  Frau    von  Milo   geriet   er  „in  Erschütterung,    wie   noch  nie  in  seinem 

Leben",  er  sah  mit  Bewunderung  die  Werke 
der  Troyon,  Rousseau,  Delacroix,  Decamps, 
die  besten  seiner  Antwerpener  Freunde  fand 
er  in  Paris  wieder.  Im  September  traf  ihn 
ein  schwerer  Schlag  —  er  verlor  seinen 
Vater.  Trotz  allen  Kummers  und  Heim- 
wehs war  sein  Schaffensdrang  lebendiger 
als  je,  und  er  begann  im  Herbst  noch, 
seinen  „Hafis  in  der  Schenke"  zu 
malen,  das  erste  Bild,  das  seine  volle  Be- 
deutung offenbaren  sollte.  Das  Bild  schildert 
er  selber  in  einem  Weihnachtsbrief  dieses 
Jahres,  den  er  an  die  Mutter  schickte: 
„Mein  Hafis  in  orientalischem  Kostüm 
lächelt  selig  von  Liebe  und  Wein  und 
schreibt  eine  Ghaselen  an  die  Mauer.  Er 
ist  rührend  arm,  denn  seine  Kleider  sind 
abgetragen  und  zerrissen,  aber  zu  jedem 
genialen  Loch  sieht  der  echte  Dichter 
heraus.  Die  Zuhörer  in  Entzückung, 
Aiusdm  Fcncibaih.    Medea  (Entwurf).  Üppiges  Blumen-  Und  Rankenwerk  und  die 


AiiseUn  Feueibarh.     Ipiiigenie  (Studie). 


34 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Aiiselin  FeHerbach.     Frühlingsidylle. 


ganze  Glut  der  sinkenden  Sonne!"  Einen 
Erfolg  brachte  das  Bild  freilich  nicht  und 
die  akademischen  Kreise  wie  das  deutsche, 
an  süssliche  Romantik  gewöhnte  Publikum 
lehnten  es  ab.  Es  ist  24  Jahre  in  der  Welt 
herumgefahren,  bis  es  einen  Käufer  fand. 
In  künstlerischer  Beziehung  sah  Feuer- 
bach an  der  Seine  alle  seine  Träume  er- 
füllt, er  hielt  diesen  Aufenthalt  selbst  für 
den  Wendepunkt  seines  Künstlerlebens,  das 
Fundament  seiner  künstlerischen  Bildung. 
Aber  seine  äusseren  Lebensumstände  waren 
wenig  erfreulich  geworden,  die  Mittel  reichten 
kaum  zum  Nötigsten  trotz  des  Opfermutes 
der  Mutter.  Er  studierte  wohl  fleissig  bei 
Couture,  dessen  „Römer  der  Verfallzeit" 
ihn  begeistert  hatten,  aber  die  Mittel  zu 
selbständiger  Thätigkeit,  zur  Realisierung 
seiner  künstlerischen  Pläne  waren  knapp. 
Zuletzt   führte    der   Unstern    ein   Wesen    in 


seinen  Gesichtskreis,  dessen  bestrickendem  Einfluss  er  widerstandslos  verfiel.  Er  sah  selbst,  dass 
er  in  den  Netzen  dieses  Weibes  zu  Grunde  gehen  müsse,  und  rettete  sich  durch  die  Flucht  in 
die  Arme  der  Mutter.  Sie  hatte,  wie  immer,  für  ihn  Trost  und  Verständnis  und  keine  Vorwürfe, 
dafür  aber  die  Frage:  „Anselm,  was  gedenkst  Du  zu  beginnen?"  So  zog  er  denn  1854  nach 
Karlsruhe,  mietete  sich  einen  grossen  Gartensaal  und  schuf  ihn  in  ein  Atelier  um,  in  welchem  er 
bald  mit  unheimlicher  Produktivität  zu  schaffen  anhub,  die  Studien  der  Couture-Schule  verwertend. 
Er  malte  einen  Kinderfries  für  das  Grossherzogliche  Schloss,  eine  „Versuchung  des  Antonius" 
—  sehr  kühn  für  Zeit  und  Ort!  —  und  seinen  „Tod  des  Pietro  Aretino".  Die  „Versuchung"  sollte 
nach  Paris  zur  Ausstellung  geschickt  werden,  aber  man  „nahm  Anstand,  des  Gegenstandes  wegen". 
In  seinem  Unmut  überschmierte  es_der  Maler  und  zerriss  es  dann  in  tausend  Stücke.  Der  „Tod 
des  Pietro  Aretino"  sollte  für  die  Galerie  angekauft  werden,  aber  Missgunst  und  Unverständnis 
hintertrieben  dies,  trotz  des  Wohlwollens  des  Akademiedirektors  Schirmer.  Immer  wieder  haftete 
sich  mit  seltsamer  Beharrlichkeit  solcherlei  Missgeschick  an  Feuerbach's  Schaffen.  Endlich  schien 
es  aber  ein  wenig  heller  werden  zu  wollen  um  ihn :  Der  Grossherzog  schickte  ihn  nach  Venedig, 
um  die  ,,Assunta"  des  Tizian  zu  kopieren,  und  mit  Viktor  von  Scheffel,  der  ihm  indessen  zum 
Freunde  —  und  Leidensgenossen  in  der  Philisteratmosphäre  von  Karlsruhe!  —  geworden,  reiste 
er  am  4.  Juni  1855  nach  Venedig  ab.  Im  übrigen  hatte  er  in  Karlsruhe  eine  ganze  Anzahl  von 
Bildern  fertig  gebracht  —  28  Ölbilder  in  diesem  einen  Jahr,   wie  sein  Biograph  Allgeyer  feststellt. 


Anseim  FcueibuvU.     Tod  des  Piciro  Aretiiio. 


36  DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT. 

darunter  eine  Grablegung,  eine  Schenkenszene,  zwei  Zigeunerinnen,  Gartenszenen  ver- 
schiedener Art,  badende  Nymphen,  eine  Bacchantin,  ein  Blumenmädchen,  Mädchen  mit 
einem  toten  Vogel  und  etliche  Bildnisse. 

Begeistert  von  der  Kunst  der  grossen  Venetianer,  die  er  nun  kennen  lernte,  und  mit  wahrem 
Feuereifer  warf  sich  der  Maler  in  Venedig  auf  seine  Aufgabe  und  kopierte  Tizian's  Meisterwerk  in 
viel  grösserem  Formate,  als  von  ihm  verlangt  worden  war,  unbekümmert  um  die  kleinliche,  infam 
bureaukratische  Art,  mit  der  man  ihn  behofmeisterte  und  kontrollierte.  Die  Kopie  fand  zwar 
ungeteilte  Bewunderung,  aber  man  behandelte  den  jungen  Künstler  von  oben  herab  immer  noch 
mit  geheim-  und  hofrätlicher  Arroganz.  Die  Hoffnung  auf  ein  Stipendium  zerschlug  sich  und  die 
Widmung  eines  Bildes  „Poesie",  das  er  aus  Dankbarkeit  für  den  Grossherzog  gemalt,  wurde  in 
beleidigendster  Weise  entgegengenommen.  Mit  dem  Gesicht  gegen  die  Mauer  stellte  man  das  Bild 
in  eine  dunkle  Requisitenkammer  der  Residenz  und  erklärte,  die  Arbeit  beweise  Rückschritte  des 
Künstlers.  Sie  war  freilich  nicht  einwandfrei,  aber  wohl  immer  noch  besser  als  eine  Menge  aner- 
kannter und  respektabel  honorierter  Hofmalerei. 

Feuerbach  beschloss  nun,  auf  eigene  Faust  in  Italien  zu  bleiben,  und  ging  zunächst,  arm 
wie  eine  Kirchenmaus,  nach  Florenz  (Mai  1856).  Zur  Rückkehr  fehlten  ihm  ohnedies  die  Mittel. 
Neue,  herrliche  Anregungen  schenkte  ihm  die  Kunst  der  italienischen  Meister  und  ein  neuer  Wende- 
punkt seines  Lebens  war  da.  Über  seinen  ersten  Besuch  in  dem  Juwel  der  Uffizien,  der  Tribuna, 
möge  er  selbst  wieder  das  Wort  haben.  Er  schreibt  in  dem  merkwürdig  klaren,  knappen  und 
plastischen  Stil,  der  seinen  Aufzeichnungen  so  hohen  dichterischen  Wert  leiht:  „In  später  Nach- 
mittagsstunde betrat  ich  die  Tribuna.  Da  war  eine  Empfindung  über  mich  gekommen,  die  man 
in  der  Bibel  mit  dem  Wort  Offenbarung  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  Vergangenheit  war  ausgelöscht, 
die  modernen  Franzosen  wurden  Spachtelmaler  und  mein  künftiger  Weg  stand  klar  und  sonnig  vor 
mir".  In  Florenz  war  er  von  Mai  bis  September  und  hat  dort  nur  Eindrücke  aufgenommen,  kein 
Bild  vollendet.  Die  Blumenstadt  am  Arno  war  für  ihn  nur  eine  Übergangsstation  für  Rom,  wohin 
es  ihn  mächtig  drängte.  Er  durchlebte  auch  da  eine  Zeit  bitterer  Not  und  schwerer  Enttäuschungen, 
aber  es  ward  ihm  doch  auch  das  Glück  zu  schaffen,  Bildern  Gestalt  zu  geben,  die  längst  in  seiner 
Seele  feststanden,  und  sich  zu  berauschen  am  Born  jener  Herrlichkeiten  von  Natur  und  Kunst, 
nach  welchen  seine  schönheitstrunkene  Seele  dürstete.  Wäre  es  Feuerbach  vergönnt  gewesen,  in 
Rom  ohne  Sorgen,  innen  und  aussen  frei,  sich  zu  entfalten,  so  hätte  sein  Wesen  wohl  sich  so 
gestaltet,  dass  ihm  sein  Volk  heute  jubelnde  Anerkennung  zollen  würde,  statt  der  etwas  kühlen 
Hochachtung,  die  ihm  geworden  ist.  Aber  der  Schatten,  der  vom  ersten  Anfang  über  seinem 
Schicksal  lag,  blieb  ihm  verzweifelt  treu. 

Ober  des  Malers  ersten  römischen  Aufenthalt  berichtet  der  Kupferstecher  Hermann  Allgeyer, 
der  sich  ihm  dort  in  Freundschaft  anschloss,  Ausführliches.  Feuerbach  malte  diesen  und  Reinhold 
Begas  und  wurde  mit  Böcklin  befreundet.  Böcklin,  Begas,  Feuerbach  und  Allgeyer  bildeten 
zusammen  ein  Gesangsquartett  und  hatten  fröhlichen  geselligen  Verkehr.  Meister  Arnold  hat  grossen 
Eindruck  auf  Feuerbach  gemacht.     „Ich  muss  von  vorne  beginnen!"  rief  dieser  nach   dem    ersten 


-CO 

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03 

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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


37 


Aiise/iii  Fcucrhcich.    Melancholie,  Studie 

(Später  in  „Medea's  Traum"  verwertet). 


Besuch  in  Böcklin's  Studio  aus.  „Und  dieser 
Künstler  lebt  seit  vielen  Jahren  hier  in  Rom, 
in  tiefer  Not,  wie  ich  höre.  Niemand  weiss 
oder  spricht  von  ihm  und  erst  nach 
Monaten  meines  Hierseins  erfuhr  ich  von 
seiner  Existenz!  Darf  ich  unter  solchen 
Umständen  für  mich  etwas  Besseres  er- 
warten?" —  Dass  Feuerbach  trotz  dieser 
leidenschaftlichen  Bewunderung  für  den 
Meister  und  trotz  des  Verkehrs  mit  diesem 
und  trotz  so  mancher  Berührungspunkte  der 
beiderseitigen  Kunstanschauung  und  Stoff- 
welt nicht  auch  als  Maler  stärker  unter  den 
Einfluss  Böcklin's  geraten  ist,  mag  merk- 
würdig sein,  spricht  aber  sehr  für  die  starke 
Selbständigkeit  und  tiefgegründete  Eigenart 
unseres  Künstlers.  Als  Böcklin  bald  darauf 
aus  Rom  schied,  sagte  er  zu  Feuerbach : 
„Sie  werden's  in  Rom  nicht  durchfechten; 
denken  Sie  an  mich!"  —  Er  hat  Recht 
behalten. 


Feuerbach  war  bald  mitten  im  fruchtbarsten  Schaffen  und  sein  kleines  Atelier  füllte  sich  mit 
Entwürfen  und  Bildern.  Sein  erstes  bedeutendes  Werk  war  sein  „Dante,  mit  edlen  Frauen 
lustwandelnd",  der  jetzt  die  Gemäldegalerie  in  Karlsruhe  schmückt  und  das  Bild  fand  in  der 
römischen  Kunstwelt  grosse  Anerkennung,  wenn  auch  zunächst  keinen  Käufer.  Aber  es  verschaffte 
ihm  wenigstens  einen  Auftrag.  Herr  Wedekind  aus  Hannover  bestellte  nach  der  Skizze,  die  er 
im  Atelier  gesehen,  ein  „Kinderständchen",  und  der  Ertrag  dieses  Bildes  kam  dem  armen  Maler 
sehr  gelegen.  Den  „Dante"  kaufte  erst,  nachdem  das  Bild  1859  in  Paris  gewesen  und  hoffnungslos 
totgehängt  worden  war,  der  Grossherzog  von  Baden  für  seine  Privatgemächer.  Die  Karlsruher 
Galeriekommission  hatte  auf  das  Veto  Lessing's  hin  den  Ankauf  einstimmig  abgelehnt,  und 
Feuerbach  war  durch  die  Mitteilung  dieses  Beschlusses  geradezu  niedergeschmettert  worden.  Um 
so  mehr  erhob  ihn  die  andere  Nachricht  vom  Ankauf  des  Dantebildes  durch  den  Grossherzog. 
„Nun  haben  mir  die  guten  Frauen  meines  Dante  mit  ihren  Schleppen  doch  den  Weg  reingekehrt," 
sagte  er  zu  einem  Freunde. 

Ein  paar  seiner  schönsten  Bilder  entstanden  nun,  vor  allem  die  beiden  Kinderfriese,  eine 
Wiederholung  des  „Ständchens"  nämlich  und  die  „Balgenden  Buben",  Werke  voll  Anmut, 
voll  weichen  Liebreizes  und  farbig  dekorativer  Pracht.  Auch  der  Humor,  sonst  wohl  kein  treuer 
Gefährte  Feuerbach's,  kam   hier  zu  seinem  Recht.     1860  malte  er  die  Madonna  mit  dem  Christus- 

XIV  6 


38 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


kinde,  von  musizierenden  Engeln  umgeben  (in  der  Dresdener  Galerie).  1862  erst  war  die  Pietä 
vollendet,  das  reifste  und  edelste  Werk  aus  Feuerbach's  römischer  Zeit;  der  Entwurf  zu  diesem 
Bilde  war  aber  schon  ein  paar  Jahre  früher  gemacht  worden.  Feuerbach  sah  auf  den  Stufen  der 
Peterskirche  eine  Frau  vom  Lande  liegen,  schlafend  oder  weinend,  und  sofort  erwuchs  ihm  das 
Motiv  zu  einem  Bilde.  Er  zeichnete  das  Weib  und  den  Leichnam  Christi  und  später  auch  noch 
die  drei  anderen  Frauen  dazu.  So  entstand  das  Gemälde,  das  später  eine  Perle  der  Schackgalerie 
wurde.     Graf  Schack  meint:    „Schwerlich  hat   unsere  Zeit   noch  ein   anderes  Bild   hervorgebracht, 


Auselm  Feuerhaih.    Maria  mit  der  Leiclie  Jesu  (Entwurf). 


"aus  dem  die  Sonne  der  grossen  italienischen  Kunst  so  rein  zurückstrahlt."  Auch  die  erste  Skizze 
zur  „Amazonenschlacht"  und  zum  „Gastmahl  des  Plato"  stammt  aus  jener  Zeit,  dem 
Frühling  des  Jahres  1860.  Dann  ward  die  erste  der  Iphigenien  gemalt,  eine  Gestalt,  in  der 
Feuerbach  so  recht  das  eigentlichste  Wesen  seiner  Seele,  trauernde  Sehnsucht,  zu  verkörpern  sucht : 
„Es  war  ein  Moment  der  Anschauung  und  das  Bild  war  geboren,"  schreibt  er,  „nicht  Euripideisch, 
auch  nicht  Goetheisch,  sondern  einfach  Iphigenie  am  Meeresstrande  sitzend  und  allerdings  das  Land 
der  Griechen  mit  der  Seele  suchend.  Was  sollte  sie  auch  anderes  thun?"  —  Bei  einem  Besuche 
in  der  Heimat  fand  Feuerbach  seine   Karlsruher  Gegner  wieder    rüstig  an   der    Arbeit.     Der  An- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


39 


kauf  der  „Madonna"  ward  hintertrieben,  wie  so  manches  andere,  und  auch  in  Weimar,  wo  Begas 
und  Böci<lin  ihr  mögliches  für  ihn  thaten,  scheiterte  der  Ankauf  der  Kinderfriese.  Wohl  zog 
ihn  die  Heimat  stark  an  und  die  Liebe  zu  Mutter  und  Schwester  hielt  ihn  fest,  aber  er  fühlte  sich 
als  Künstler  hier  doch  allzuwenig  wohl.  Noch  einmal  versuchte  er  es  mit  München,  fand  aber 
hier  kein  passendes  Atelier  und  so  sah  ihn  der  Schluss  des  Jahres  1860  wieder  in  Rom.  Mit 
schmalen  Mitteln  kehrte  er  zurück.  Er  konnte  vorderhand  aber  doch  nur  hier  leben,  obwohl  sein 
langer  römischer  Aufenthalt  eine  Zeit  fortwährenden  passiven  Widerstandes  gegen  moderne  Ober- 


Aiiselin  Ft'ucihach.     Brunnenszene  (Skizze). 


flächlichkeit  und  Existenzsorgen  für  ihn  gewesen  ist.  Damals  trat  er  der  schönen  Nanna  näher, 
die  sieben  Jahre  lang  in  seiner  Kunst  wie  in  seinem  Leben  eine  ernste  und  bedeutsame  Rolle 
gespielt  hat.  Ihr  Gesicht  kehrt  auf  vielen  seiner  Bilder  wieder  und  er  scheint  sich,  wie  Schack 
schreibt,  die  Schönheit  lange  nicht  anders  als  mit  diesen  Zügen  gedacht  haben  zu  können.  Der 
Maler  liebte  die  Römerin  heiss  und  leidenschaftlich  und  würde  sich  für  immer  mit  ihr  verbunden 
haben,  wäre  damals  in  Rom  eine  Scheidung  und  Wiedervereinigung —  Nanna  war  verheiratet!  — 
möglich  gewesen.  Das  Verhältnis  wurde  schliesslich  zum  grossen  Schmerze  des  Künstlers  durch 
die  Schuld  der  Frau  gelöst,  die  nicht  selbstlos  genug  war,  auf  äusseren  Glanz  und  Ehrgeiz  zu 
Gunsten    einer    Liebe    zu    verzichten.     Auch    das    Modell    zur    „Iphigenie"    war    Nanna    und    der 


40  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Umstand  hatte  ebenfalls  Anteil  an  den  Misserfolgen  des  edlen,  gehaltvollen  Werkes ;  man  verübelte 
dem  Maler  sein  Verhältnis  zu  jener  Frau. 

Das  Iphigenienmotiv  hatte  den  Künstler  schon  lange  beschäftigt ,  in  mannigfacher  Weise 
hatte  er  das  Problem  schon  angefasst  und  vielerlei  Entwürfe  gefertigt.  Von  jener  ersten  „Iphigenie", 
die  er  in  edler  Ruhe,  am  Meeresstrand  sitzend,  das  Haupt  dunkel  beschattet  auf  lichterem  Himmel, 
darstellte,  war  er  selbst  vollauf  befriedigt.  Er  nannte  das  Bild  das  grösste  und  beste,  das  er  je  gemalt 
hatte,  und  sagte  mit  gutem  Recht  in  Bezug  auf  diese  Arbeit:  „Meine  Kunst  ist  ohne  Sentimentalität!" 
Auch  die  Vollendung  der  „Pietä",  dieses  eigenartig  tiefen  und  abgeklärten  Werkes,  gewährte  ihm 
volle  innere  Befriedigung  und  mit  dem  von  der  Bescheidenheit  der  Kleinen  freien  Selbstbewusst- 
sein,  das,  ein  Korrelat  seines  hohen  und  reinen  Strebens,  in  seiner  Seele  war,  schrieb  er  darüber: 
„Die  Pietä  ist  ein  schönes  Werk.  Meine  über  den  Christus  hingeworfene  Madonna  ergreift  mich 
selbst".  Dass  Feuerbach,  der  im  Schaffen  und  Werden  wahrlich  Selbstzucht  genug  gezeigt  hat, 
auch  einem  schwer  und  heiss  erkämpften  Gelingen  gegenüber  die  Fähigkeit  besass,  sich  seiner 
Schöpfung  zu  freuen,  das  hat  vielleicht  sein  bestes  Glück  bedeutet  und  ihn  einigermassen  für  die 
Stumpfheit  seiner  Zeitgenossen  entschädigt.  Im  übrigen  begann  er  gerade  um  die  Entstehungs- 
zeit der  „Pietä"  doch  auch  Anerkennung  in  etwas  breiteren  Kreisen  zu  finden,  und  namentlich  wandte 
sich  ihm  ein  Mäcen  zu,  dessen  Hilfe  ja  wohl  nicht  von  verschwenderischer  Liberalität,  aber  frucht- 
bar und  ausreichend  war,  Graf  —  damals  allerdings  noch  Baron  —  von  Schack!  Auf  einer  Aus- 
stellung in  Köln  sah  dieser  den  „Dante"  Feuerbach's  und  war  von  des  Künstlers  Werk  in  so 
hohem  Grade  hingerissen,  dass  er  für  die  übrige  Ausstellung  kaum  noch  Sinn  hatte.  Das  Bild 
war  schon  verkauft,  sonst  hätte  er  es  erworben.  Er  erkundigte  sich  nach  dem  Künstler,  dessen 
Name  ihm  vollständig  unbekannt  war,  und  erfuhr,  dass  dieser  in  gedrücktester  Lage  in  Rom 
lebte.  So  wurde,  wie  er  in  seinem  Buche  „Meine  Gemäldesammlung"  erzählt,  sein  Wunsch, 
Bilder  des  jungen  Malers  zu  erwerben,  zunächst  in  den  schöneren  Wunsch  verwandelt,  ihn 
mit  neuer  Schaffensfreudigkeit  zu  erfüllen  und  ihm  zu  verdienter  Anerkennung  zu  verhelfen. 
Schack  kaufte  zunächst  die  beiden  zuletzt  vollendeten  und  nach  Deutschland  gesandten  Bilder 
Feuerbach's,  den  „Garten  des  Ariost"  und  das  „Porträt  einer  Römerin",  der  Nanna, 
und  hierauf  die  „Pietä".  Damit  waren  die  Verhältnisse  des  Malers  natürlich  sofort  auch 
wesentlich  gebessert,  und  mit  Begeisterung  machte  er  sich  an  neues  Schaffen  und  seine  nächsten 
Jahre  wurden  eminent  fruchtbar  an  bedeutenden  Werken.  Vier  Jahre  dauerten  seine  Bezieh- 
ungen zu  Schack,  der  nach  und  nach  zwölf  seiner  Bilder  erwarb.  Gleichzeitig  mit  der  „Pietä", 
welche  der  Baron  übrigens  erst  auf  die  eindringliche  Verwendung  von  Feuerbach's  Stiefmutter 
kaufte,  sandte  ihm  dieser  eine  Anzahl  von  Entwürfen  zu  und  Schack  „bezeichnete",  wie  er  sich 
etwas  vorsichtig  ausdrückt,  „die  schönsten  darunter  als  ihm  zur  Ausführung  erwünscht".  Be- 
stimmte Bestellungen  scheint  er  also    nicht  gewagt   zu  haben! 

K 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


41 


Aiiseliii  Feuerbach.     Okeanide  (Studie). 

Schack  kam  im  Frühjahr  1864  selbst  nach  Rom,  um  dem  Künstler  nälier  zu  treten,  brachte 
täglich  genussreiche  Stunden  zu  in  dessen  Atelier  an  der  Via  So.  Claudio,  sah  jene  Bilder  der 
Vollendung  entgegen  reifen  und  Hess  sich  von  Feuerbach's  widrigen  Schicksalen  und  der  Minier- 
arbeit der  akademischen  Banausen  in  der  deutschen  Heimat  erzählen.  Zunächst  wurde  unter 
Schack's  Augen  neben  anderen  schönen  Werken,  wie  dem  später  nach  München  verkauften  Bilde 
„Romeo  und  Julia",  die  „Francesca  von  Rimini"  fertig,  eine  Darstellung  der  Szene,  wo 
Francesca  und  Paolo  Malatesta  zusammen  in  dem  Buche  von  Lanzelot  und  Ginevra  lesen  und 
bis  zu  dem  Moment  gelangt  sind,  von  dem  Francesca  im  Inferno  zu  Dante  sagt:  „An  jenem  Tage 
lasen  wir  nicht  weiter".  Schack,  der  die  Komposition  dieses  Bildes  besonders  lobt  und  eindring- 
lich gegen  den  Vorwurf  verteidigt,  diese  Francesca  sei  nicht  temperamentvoll  genug,  erliielt  ein 
paar  Monate  später  dann  die  „Gruppe  musizierender  Kinder,  von  einer  Nymphe 
belauscht"  und  dann  die  „Badenden  Kinder",  an  welchen  der  Besitzer  das  kalte  bläuliche 
Kolorit  rügt,  dabei  Feuerbach's  Virtuosität  in  der  Auffassung  der  Kindernatur  rückhaltslos  an- 
erkennend. „Er  hat  ihr  das  sorgfältigste  Studium  gewidmet  und  erzählte  mir  selbst,  wie  jahrelang 
sein  Atelier  fast  täglich  mit  solchen  Kleinen  bevölkert  gewesen  sei."  Eine  „Madonna  mit  dem 
Kinde",  Wiederholung  des  Dresdener  Bildes,  befriedigte  Schack  wegen  des  Kopfes  der  Gottes- 
mutter, die  ihm  in  der  Zeichnung  viel  besser  gefallen  hatte,  weit  weniger.  Dann  kam  die  „Laura 
in  der  Kirche  zu  Avignon"  an  die  Reihe,  die  Schack  ebenfalls  erwarb  —  eine  „Laura  im 
Park",  im  gleichen  Jahre  gemalt,  fand  einen  anderen  Besitzer.  Das  erstere  Laurabild  hat  den 
Künstler  von  allen  Gemälden  der  Schackgalerie  am  meisten  Zeit  und  Mühe  gekostet.  Es  schildert 
den  Moment,  da  Petrarca  in  der  Kirche  zum  ersten  Male  seine  künftige  Herzenskönigin  erblickt. 
Im    Winter    1866   fand    Schack   den    Maler    in    Rom    mit    dem    Entwürfe   zur    „Amazonenschlacht" 


XIV  7 


42  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

bereits   eingehend    beschäftigt,    und   Feuerbach    hatte    wohl    gehofft,    sein    Mäcen    werde    ihm    zur 
Realisierung  seines  Lieblingstrauins,  zur  Ausführung  dieses  Kolossalgemäldes    durch    die  Bestellung 
dieses  Bildes    helfen.     Dieser   aber   lehnte    ab    und   bestellte  dafür  eine  Anzahl  kleinerer  Gemälde, 
äderen  Entwürfe  er  in  des  Künstlers  Mappen  vorfand.     Ein  wenig  schulmeisterlich   führt  Schack  in 
seinem  Buche  die  Gründe  aus,  warum  er  Feuerbach's  Streben    nach  Bethätigung    in  Monumental- 
kunst nicht  unterstützt,  und  ein  wenig  schulmeisterlich,  wie  er  sich  in  seinem  ganzen  Mäcenaten- 
tum  gezeigt   hat,  mag  er   diese  Gründe   auch    dem   Künstler    dargelegt    haben,    denn    „sie   fanden 
keinen    Eingang   bei    ihm".     Die    kleineren    Aufträge    lehnte    der    Künstler    freilich    nicht   ab,    wie 
man    begreifen    wird,    und    malte    zunächst    den    „Hafis    am    Brunnen",    der    seinen    Besteller 
vollauf    entzückte.      Unserem    heutigen    Empfinden    dürfte    der    „Hafis    in    der   Schenke",    der 
herber,    freudiger    und    realistischer    ist,    vielleicht    näher    liegen.     Der  Hafis    des    zweiten    Bildes 
könnte  wohl  auch  einen  anderen  Poeten  der  Vorzeit  darstellen    und  auf  einer  kleinen  Wiederholung 
des  Bildes  ist  er  auch   „Märchenerzähler"   getauft.     Jener  erste   Hafis   aber  ist  die  Gestalt,    wie  sie 
uns   nach  den  Daumer'schen    Nachdichtungen    in    der  Phantasie    vorschwebt.     Ein  Werk    des   vor- 
nehmsten   und    grössten     Feuerbach'schen    Stils     ist     die     „Römische    Fa  m  i  1  i  e  n  sze  n  e",    die 
Schack  gleichfalls  im  Jahre    1866  erwarb:    eine  stolze,  stattliche  Römerin   mit  vier  kleinen  Kindern 
am  Rande   eines  antiken,    bildgeschmückten  Brunnens   oder  Denksteines   sitzend.     Der  landschaft- 
liche Rahmen    des  Bildes    ist    eminent    reich    und  bedeutungsvoll,  die  Stimmung  des    Ganzen  echt 
Feuerbachisch  ernst,  eine  Stimmung  der  Sehnsucht.     Die  Sehnsucht    ist  ja  überhaupt  die  Seele 
der  ganzen  Feuerbach'schen  Kunst.     Das    letzte   der  Bilder,  welche    der  Meister   für  Schack    1868 
gemalt,  die   „Idylle  von  Tivoli",  wie  es  dieser,    „Ricordo  di   Tivoli",  wie  es   der  Autor  genannt 
hat,    ist    eigentlich    nur    eine    Kopie    eines    Gemäldes,    das    im    Jahre    vorher    vollendet    und    von 
Dr.  C.   Fiedler  f    in  München    erworben  wurde.     Allgeyer    stellt    fest,    dass    die    Kopie    an   Feinheit 
der    Durchbildung    und    Reiz   des    Ausdruckes   das  Original   nicht    erreichte.     Man    kann,  nebenbei 
gesagt,  nur  finden,  dass  in  solchen   Fällen  den   Bestellern   Recht   geschieht,    wie    auch   den  Leuten 
Recht   geschah,     die   bei    einem    Böcklin  Wiederholungen    der   „Toteninsel",    des    „Schweigens    im 
Walde"    und    der    „Villa  am  Meere"   bestellten    und    nicht  Gleichwertiges   bekamen!     Solches  Ver- 
langen heisst  immer  Frevel  an  einem  Talent,  wenn  es  fruchtbar  genug  ist,    wieder    neues   hervor- 
zubringen in    unversiegbarer  Fülle,    wie  ein   Böcklin  oder  Feuerbach !     Die  Kleinen   schreiben  sich 
ja  ohnehin  selbst  immer  wieder  ab! 

In  der  letzten  Zeit  des  Verkehrs  von  Schack  und  Feuerbach  mag  dieser  unter  dem  Zwange 
schon  stark  gelitten  haben,  den  die  Wünsche  und  Meinungen  des  ersteren  auf  ihn  ausübten.  Schack 
selbst  erzählt  nichts  davon,  und  der  Maler  spricht  in  seinen  Briefen  mit  Achtung  von  dem  Baron, 
mit  Befriedigung  von  den  gestellten  Aufgaben.  Aber  es  drängte  ihn  immer  mehr  zur  Gestaltung 
eines  Projektes  grossen  Stils,  das  seine  Seele  beschäftigte,  seines  „Gastmahls  des  Plato".  Die 
Idee  war  folgende:  In  Plato's  Hause  sind,  den  Sieg  seines  Freundes,  des  Tragödiendichters  Agathon 
zu  feiern,  die  Freunde  versammelt,  darunter  Sokrates,  Aristoteles,  Eryximachus,  Phädrus  und  Glaukon. 
Während  sie  nach  dem  Mahl  in  sinnvollen  und  heiteren  Wechselreden  sich  ergehen  über  die  Natur 


44 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


des  mächtigsten  und  herrlichsten  der  Götter,  des  Eros,  erscheint,  von  nächtlichem  Gelage  heim- 
kehrend, mit  bacchischem  Gefolge  der  wein-  und  lustberauschte  Alkibiades.  Er  kommt,  den  Dichter 
zu  bekränzen,  der  ihm  gastlichen  Willkomm  bietet.  Feuerbach  hätte  das  Bild  gern  für  Schack 
gemalt  und  bot  es  ihm  in  einem  Briefe  an;  ohne  Erfolg!  Da  entschloss  sich  Feuerbach  trotz  seiner 
nicht  weniger  als  glänzenden  Lage  —  Schack'sche  Künstlerhonorare  waren  nicht  allzu  üppig,  wie 
man  weiss  !  —  das  grosse  Werk  auf  eigene  Faust  durchzuführen  und  sich  gleichzeitig  seine  künstlerische 
Freiheit   zu    retten.     Denn  Schack,   der  seinem  Schützling   die    Kraft,    grosse,    figurenreiche    Kom- 


Aiiseliii  Feucrhcu-h.     Nereus  und  Okeanide  (Studie). 


Positionen  durchzuführen,  nicht  zutraute,  wollte  ihn  durch  seine  Aufträge  gewaltsam  in  dem  enger 
umgrenzten  Gebiete  lyrisch-poetischer  Stoffe  zurückhalten,  die  er  dem  Talente  des  Malers  ent- 
sprechender glaubte  und  bei  der  Zusammenstellung  seiner  Galerie  bevorzugte.  Vielleicht  war  er 
damit  sogar  nicht  im  Unrecht.  In  den  grossen  Kompositionen  Feuerbach's  ist  das  Wollen  mächtiger 
als  das  Vollbringen.  Hält  man  z.  B.  gegen  seine  „Amazonenschlacht"  die  kleine  Rubens'sche  Be- 
arbeitung des  gleichen  Stoffes,  die  in  der  Münchener  Pinakothek  hängt,  so  erscheint  das  moderne 
Werk  unendlich  ärmer  an  wahrem  Leben  und  Bewegung,  so  sehen  wir  hier  Gedankenarbeit  und 
abgewogene  Komposition,  wo  dort  ein  unmittelbares  Temperament,  hinreissender  Rhythmus  die  Ge- 


Aiiscini  Keiiorbath  piiix. 


Plint.  F.  liaiifstaLMi^l.  Miinciuti 


Musizierende    Frauen 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


45 


stalten  bewegt.  Aber  das  Immerhöherstreben  war  tief  in  Feuerbach's  künstlerischer  Natur  begründet 
und  wer  sein  wahrer  Mäcen  sein  wollte,  durfte  ihn  nicht  darin  aufhalten,  sondern  musste  ihn,  war's 
auch  gegen  die  eigene  Überzeugung,  fördern.  Nun  konnte  freilich  Schack  ebensowenig  aus  seiner 
eigenen  Haut  heraus  als  sein  Maler  und  wenn  seine  Beziehungen  zu  diesem  nun  auch  ein  Ende 
fanden,  sein  Verdienst,  ihn  aus  der  schlimmsten  Bedrängnis  befreit  zu  haben,  bleibt  darum  doch 
bestehen,  ebenso  wie  sein  Verdienst  um  Böcklin  und  um  Lenbach.  Schack  hat  auch  nach  der 
Entfremdung  mit  Anselm  Feuerbach  seine  Meinung  über  diesen   nicht  modifiziert   und    ihn    bis  zu 


Anselm  Feuerbach.     Gefesselter  Prometheus  (Studie). 


dessen  Tode  verehrt.  Bitter  beklagt  er  den  Mangel  an  Anerkennung,  welchen  dieser  Genius  er- 
fahren, bitter  ruft  er  aus,  nachdem  er  das  Atelier  des  Hingeschiedenen  noch  einmal  betreten : 
„Wie  viel  herrliche  Früchte  würde  dieses  reiche  Talent  noch  seinem  Vaterlande  getragen  haben, 
wenn  letzteres  ihm  das  günstige  Terrain  zu  seinem  vollen  Gedeihen  gewährt  hätte!" 

Im  Mai  1867  begann  der  Maler  mit  der  Aufzeichnung  des  „Gastmahls  des  Plato"  — 
das  „Symposion"  nennt  er  es  in  seinem  Briefe  — ,  im  Oktober  bezog  er  sein  neues  Atelier  und 
begann  zu  malen,  am  2.  Dezember  war  die  Untermalung,  am  10.  April  1869  das  Bild  vollendet, 
eine  Riesenleinwand,   2,20  Meter   hoch    und    6  "2  Meter  breit.     Die   achtzehn  Gestalten    des    Bildes 


46  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

sind  überlebensgross.  In  scharfem,  packendem  Gegensatz  stehen  die  beiden  Gruppen  zu  einander, 
die  lebensfrohe,  sinnenwarme,  bewegte  Schar  der  Bacchanten  und  die  auch  an  der  Festtafel  ruhig 
und  nüchtern  gebliebene  Gesellschaft  der  Philosophen,  deren  gemessene  Würde  auch  in  Linien 
und  Farbe  ihren  Ausdruck  findet.  Genau  im  Mittelpunkt  des  Bildes  steht  der  Dichter  Agathon, 
dem  trunkenen  Alkibiades  die  Schale  bietend.  Die  Mehrzahl  der  Philosophen  hat  von  den  frohen 
Eindringlingen  überhaupt  noch  keine  Notiz  genommen,  ganz  besonders  der  prächtig  charakterisierte 
Sokrates  kehrt  ihnen  nichtachtend  den  Rücken  zu.  So  stellt  der  Künstler  der  genussfrohen  Sinnen- 
welt des  klassischen  Altertums  den  strengen  Ernst  ihrer  Geisteshelden  gegenüber  und  verleiht 
damit  dem  weltbewegenden  Gegensatz  von  Sinnen-  und  Geistesleben  der  Menschheit  überhaupt 
künstlerisch  monumentalen  Ausdruck.  Das  Bild  wurde  in  München  ausgestellt,  erntete  aber  weit 
mehr  Widerspruch  als  Anerkennung,  namentlich  um  seiner  Farbe  willen.  Man  fand  den  kühlgrauen 
Ton,  auf  den  es  gestimmt  war,  fahl  und  manieriert,  und  bezeichnend  genug  ist  es,  dass  man  es 
in  der  Abteilung  für  —  Kartons  unterbrachte.  Dafür  fand  es  aber  schnell  eine  Käuferin.  Ein 
Fräulein  Rohrs  aus  Hannover,  selbst  Malerin,  erwarb  es.  In  Hannover  freilich  war  es  vergessen 
und  begraben,  bis  es  im  Jahre  1890  um  45,000  Mark  für  die  Karlsruher  Galerie  gekauft  wurde. 
Noch  mehr  die  Wirkung  eines  Kartons  hat  die  zweite  Darstellung  des  „Symposion"  aus  dem 
Jahre  1873,  die  von  einem  gemalten  Rahmen  umzogen  und  überhaupt  mehr  dekorativ  gedacht  ist. 
Sie  würde  sich  trefflich  als  Vorbild  für  einen  Gobelin  eignen  und  ist  noch  strenger,  klassizistischer, 
wenn  man  so  sagen  darf,  in  ihren  Linien,  aber  auch  voller  und  reicher  in  der  Komposition  und 
Farbe.  Das  Ganze  ist  sozusagen  „weiter  getrieben"  —  zu  weit  getrieben  vielleicht,  zu  sehr  durch- 
dacht und  abgeklärt,  zu  reich  an  schöner  Gebärde.  War  Feuerbach  vier  Jahre  nach  Vollendung 
der  ersten  Version  nicht  mehr  völlig  mit  dieser  einverstanden  —  sein  Biograph  Allgeyer  verneint 
dies  entschieden  — ,  oder  drückte  es  ihn,  dass  das  Werk  in  dem  weltentlegenen  Hannover  so  ganz 
den  Augen  der  Mitwelt  entrückt  war?  Es  gehörte  ein  horrender  Wagemut  dazu,  dies  Bild  zum 
zweiten  Male  zu  malen  und  eine  Arbeitsfreudigkeit  ohne  gleichen.  Fünf  Mappen  Handzeichnungen, 
200  Blatt,  hatte  er  im  Februar  1870  fertig,  als  er  das  Bild  begann,  und  als  er  an's  Malen  ging 
schrieb  er:  „Ich  brenne  vor  lichter  Begeisterung".  Sie  ist  fast  ein  psychologisches  Rätsel,  die 
Begeisterung  dieser  künstlerischen  Vollnatur  angesichts  einer  solchen,  schon  einmal  mit  gewaltiger 
Anstrengung  bewältigten  Aufgabe.  Dazu  malte  er  gleichzeitig  an  seiner  „Amazonenschlacht"  und 
anderen  Bildern.  Sieht  man  dem  Ringen  dieses  Mannes  zu,  so  möchte  man  manchmal  sich  zu 
dem  Paradoxon  versucht  fühlen:  Der  Künstler  Feuerbach  war  noch  grösser  als  sein  Werk. 

Im  Jahre  1868  hatte  er  mit  der  Reihe  seiner  Medea-Darstellungen  begonnen  und  eine 
„Medea  auf  der  Flucht"  geschaffen,  die,  wie  das  zweite  Symposion,  heute  die  Berliner  Nationalgalerie 
schmückt.  Seine  bedeutendste  „Medea"  ist  wohl  die,  welche  Ludwig  II.  für  die  Münchener 
Pinakothek  ankaufte.  Man  sagt,  der  Anblick  von  Ristori  als  Medea  habe  den  Gedanken  zu  dem 
Medea-Cyklus  in  ihm  wachgerufen ;  von  Theatralik  hat  er  sich  in  seiner  Ausführung  freilich  auf's 
glücklichste  freigehalten,  und  er  gestaltete  das  Bild  dieses  gewaltigen  Frauentypus  durchaus  auf 
seine  selbständige  Weise,    ruhevoll   und   monumental,    auch   in  Schmerz   und    Leidenschaft.     Seine 


Aiischii  Fi'iicihavh.     Orpheus  und  Eiiryciike. 


48  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

verschiedenen  Darstellungen  der  Medea  sind  nicht  als  ebensoviele  Einzelversuche  zur  malerischen 
Bewältigung  dieser  Gestalt  anzusehen,  er  hat  vielmehr  von  Anfang  an  daran  gedacht,  das  Schicksal 
von  Jason's  verlassener  Geliebten  als  Folge  von  Bildern  darzustellen.  1869  schreibt  er:  „Medea 
vor  der  That,  Medea  nach  der  That,  Medea  auf  der  Flucht  am  nächtlichen  Meeresstrande,  Medea 
als  liebende  Mutter,  als  mörderische  Furie,  im  Schlaf,  im  Wachen,  in  Reue  und  Leid!  Das  ist 
nun  wieder  ein  Gegenstand,  in  den  ich  mich  sozusagen  verbissen  habe,  von  dem  ich  nicht  los- 
komme." So  entstand  jene  „Medea  auf  der  Flucht",  die  „Medea  am  Meeresstrande"  (1870). 
die  „Medea  mit  dem  Dolche"  (1871),  „Medea  an  der  Urne"  (1872).  Eine  Reihe  von  Entwürfen 
zeigt  Medea  in  anderen  Stellungen,  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schosse,  schlafend,  stehend,  beim 
Kindermord,  Medea  flüchtend  in  Nacht  und  Sturm  am  Meeresufer.  Das  Münchener  Bild  der  Medea 
ist  vielleicht  Feuerbach's  populärstes  Bild  geworden  und  so  wohlbekannt,  dass  hier  nicht  viel  mehr 
darüber  zu  sagen  ist.  An  Schwung  und  Reinheit  der  Linie  wird  es  von  keinem  anderen  Werke 
des  Meisters  in  Schatten  gestellt  und  es  atmet  mehr  als  irgend  ein  Werk  jener  früheren,  vorfeuer- 
bachischen,  durch  ihr  Streben  nach  klassischem  Formenadel  gekennzeichneten  Epoche  wahrhaft 
den  Geist  klassischer  Kunst. 

In  der  Zeit  nach  seinem  Bruche  mit  Schack  —  wenn  man  anders  dieses  stillschweigende 
Auseinandergehen  einen  Bruch  nennen  kann  —  hat  der  Maler  übrigens  neben  den  grossen  Werken 
noch  eine  ganze  Reihe  kleinerer  Bilder  hervorgebracht,  die  nicht  übersehen  werden  dürfen.  Aus 
dem  Jahre  1867  stammt  die  schöne  Familienszene,  die  unter  dem  Namen  „Der  Mandoline- 
spieler"  bekannt  ist:  ein  junges  Weib  mit  ihrem  Säugling  auf  dem  Schoss,  das  dem  Liede  eines 
Lautenspielers  zuhört.  Das  Kind  hat  ziemlich  genau  die  Stellung  des  Kindes,  das  die  Frau  der 
„Römischen  Familienszene"  auf  dem  Schosse  hält  und  auch  die  Mutter  gleicht  jener  andern  Gestalt, 
nur  ist  die  Figur  beim  Knie  vom  Rahmen  abgeschnitten.  Der  Lautenspieler  ist  Feuerbach  selbst 
und  die  Frau  ist  Nanna,  die  er  damals  immer  wieder  malte.  Fls  ist  höchst  kennzeichnend  für  die 
Idealität  von  Feuerbach's  künstlerischer  Gesinnung,  dass  allen  diesen  Bildern  seiner  Geliebten,  ob 
er  sie  nun  als  Iphigenie  oder  einfach  als  Studienkopf,  als  „Poesie",  als  „Lucrezia",  als  „Virginia", 
als  „Francesca",  „Julia"  und  „Laura"  malte,  kein  besonderer  sinnlicher  Liebreiz  gegeben  ist,  kein 
Zeichen,  dass  der  Maler  in  der  schönen  Frau  anderes  sah  als  ein  Modell  von  klassisch  edlem 
Profil.  Sie  ist  immer  ernst,  würdig,  feierlich,  kalt  sogar  —  nur  die  Lauscherin  auf  dem  Bilde 
„Der  Mandolinenspieler"  blickt  ein  wenig  freundlicher.  Von  1860—1867  hat  er,  wenn  er  Frauen 
malte,  fast  nur  die  Nanna  gemalt.  Da  Feuerbach  überdies  besonders  das  Profil  bevorzugte  bei 
diesen  Darstellungen,  kann  eine  gewisse  Monotonie  dieser  Köpfe  nicht  geleugnet  werden.  Mit  dem 
Jahre  1867  verschwand  die  schöne  Römerin  aus  seinem  Leben  und  von  da  ab  hiess  zunächst,  wie 
Allgeyer  berichtet,  sein  Lieblingsmodell  Lucia  Brunacci. 

Der  Bilderkatalog  Feuerbach'scher  Werke  nennt  aus  dem  Jahre  1867  neben  jenem  „Mandolinen- 
spieler", der  „Familienszene"  und  dem  schon  erwähnten  „Ricordo  di  Tivoli"  auch  noch  ein  „Mädchen 
mit  Kind  am  Meeresstrand"  —  es  ist  der  Strand  von  Porto  d'  Anzio,  der  auch  für  die  Münchener 
Medea   den  Hintergrund   gegeben.     Später   behandelte   der  Maler   das  Bild    in    grösserem  Formate 


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Anselni  |-cuüri);icli   pmx. 


[-•iiot.  l' .  riiini>iaLMij,'i.  Miiiancii 


Ein  Traum 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


49 


Anselm  Fetierhaili.     Maria  (Studie  zur  „Pletä"). 


und  veränderte  noch  einmal  und  verwandelte  dabei 
das  von  vorne  gesehene  Mädchen  in  eine  hohe 
schlanke  Frauengestalt  von  der  stolzen  Haltung 
einer  Romagnolin.  Sie  balanciert  ein  Wasser- 
gefäss  in  Schulterhöhe  auf  der  Linken  und  blickt 
freundlich  auf  das  nackte  Kind  nieder,  das,  im 
Sande  kauernd,  eine  Muschel  gefunden  hat.  Das 
Bild  ist  licht  und  freudig,  wie  nur  wenige  Werke 
Anselm  Feuerbach's.  Die  in  der  Öffentlichkeit 
so  gut  wie  gar  nicht  bekannt  gewordene  erste 
Version  des  Motives  hat  diesem  übrigens  eine 
wenigstens  in  seiner  Lebensgeschichte  einzig 
dastehende  Genugthuung  gebracht.  Der  Besteller 
bezahlte  ihn,  über  das  Werk  entzückt,  mit  einem 
weit  über  das  Ausbedungene  hinausgehenden 
Betrag.     Das  Jahr    1868    war  wieder  besonders 

fruchtbar,  brachte  es  doch  neben  der  „Idylle  von  Tivoli"  für  Schack  das  schöne  ernste  Bild  der 
„Bianca  Capello",  die  „Lesbia  mit  dem  Vogel",  zu  welcher  er  durch  seines  Freundes  Theodor 
Heyse  Catullübersetzung  angeregt  worden  sein  mag,  die  „Zwei  Damen  im  Grünen",  die  heute 
Professor  Reinhold  Begas  in  Berlin  gehören,  ein  „Ständchen",  das  im  gleichen  Besitz  ist, 
„Amazonen  auf  der  Wolfsjagd"  (Besitzer  Herr  von  Heyl  in  Darmstadt),  und  die  beiden  heiteren 
Gartenszenen  „Im  Frühling"  und  „Frühlingsbild".  Gleichzeitig  malte  er  sein  erstes  Symposion 
—  eine  Produktionskraft,  die  schon  an's  Rätselhafte  grenzt.  Dabei  waren  Feuerbach's  Formate 
meist  sehr  stattlich.  In  den  beiden  letztgenannten  Werken  hat  er  —  dort  vier,  hier  sechs  — 
Frauen  in  leichten  Gewändern  aus  seiner  Zeit  musizierend  in  heitere  Gartenlandschaft  zusammen- 
gebracht, von  denen  jede  auf  ihre  eigene  Art  an  der  musikalischen  Unterhaltung  Teil  nimmt. 
Der  Ausdruck  gedankenverlorenen  Träumens,  der  Sehnsucht,  überwiegt  auch  hier  auf  den 
Gesichtern.  Mit  dem  letzteren  Bilde  hatte  Feuerbach  wiederum  wenig  Glück.  Es  war  so  ganz 
anders,  wie  alles,  was  er  bisher  gebracht  und  man  wusste  wieder  einmal  in  der  Heimat  nicht 
recht,  was  man  aus  ihm  machen  sollte.  Der  deutsche  Philister  verzeiht  bekanntlich  dem  Künstler 
alles,  Nichtskönnen,  Verlogenheit,  Intriguen  und  Streberei,  alles,  alles  eher  als  eine  Originalität,  der 
er  nicht  zu  folgen  vermag.  Er,  der  sonst  der  Kunst  gegenüber  so  kalt  und  reserviert  bleibt, 
weiss  dann,  wenn  man  ihm  mit  solchen  Dingen  kommt,  zu  hassen  —  und  wie!  Im  Jahre  des 
„Symposion"  1869  wurde  ausser  diesem  Werke,  wie  sich  begreifen  lässt,  nur  ein  grösseres  Bild 
noch  fertig,  dessen  der  Künstler  schon  in  einem  Briefe  1867  Erwähnung  thut,  „Orpheus  und 
Eurydike  in  der  Unterwelt".  Bei  einer  Privataufführung  von  Gluck's  „Orpheus"  konzipierte  er 
die  Gruppe,  ein  Werk  von  sehr  strengem  Stil  und  absichtlicher  Ausserachtlassung  der  Farbe. 
Riesengross,  fast  den   ganzen  Rahmen    füllend,  schreiten    die   beiden  Figuren    dahin,  Orpheus,    die 

XIV  8 


50 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Leier  im  Arm,  mit  fast  hastigem  Drängen,  Eurydiice  traumwandelnd  und  schwer,  wie  im  magnet- 
ischen Schlaf.  Hell  ergiesst  sich  über  die  Gestalten  schon  das  Licht  der  Oberwelt,  der  sie 
entgegenschreiten.  Hat  der  Beschauer  den  etwas  befremdlichen  Eindruck  der  grossen  Masse 
lichter  Gewänder  überwunden,  welche  den  Hauptteil  der  Fläche  ausfüllt,  so  findet  er  in  der 
Bewegung  der  beiden  und  im  Ausdruck  ihrer  Gesichter  tiefen  Gehalt  und  erkennt,  dass  auch  dieses 
Bild  nichts  weniger  als  leer  ist!  Die  Seele  dieses  Werkes  ist  Rhythmus,  ist  Musik,  alles  Kleine  und 
Zufällige  ist  daraus  verbannt.  Während  des  Schaffens  schrieb  der  Maler  nach  Hause:  „Der 
Orpheus  wird  seiner  musikalischen  Erzeugung  hoffentlich  Ehre  machen!" 

Feuerbach  sass  übrigens  während  dieser  Jahre  nicht  ausschliesslich  in  Rom  fest,  er  fuhr 
wiederholt  zwischen  Heidelberg,  wo  jetzt  die  Mutter  lebte,  und  der  ewigen  Stadt  hin  und  her. 
Seine  Verhältnisse  gestatteten  ihm  dies  nun  schon  eher.  1866  kam  es  zu  einer  kleinen  Rundreise 
durch  Norddeutschland,  mächtig  aufgeregt  im  Innern  durch  den  Sieg  Preussens  in  diesem  Jahre. 
Er  erhoffte,  dass  das  erstarkte  Preussen  auch  in  der  Kunst  nun  eine  Führerrolle  übernehmen  werde, 
ja  er  dachte,  umsomehr  als  ihm  Reinhold  Begas  mit  offenen  Armen  entgegenkam,  allen  Ernstes 
an  eine  Übersiedelung  nach  Berlin.  Der  Gedanke  scheiterte  zunächst  wieder  einmal  an  der 
Unmöglichkeit,  ein  passendes  Atelier  aufzutreiben.  Dann  sah  er  Dresden  und  dessen  reiche  Kunst- 
schätze und  kam  nach  München,    um   seine  Werke   bei  Schack   wieder   zu    sehen    und    womöglich 


Anselm  Feuerbach .     Skizze. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


51 


sein  Verhältnis  zu  diesem  wieder  in  irgend  einer  Weise  in's  reine  zu  bringen.  Dabei  war  wohl 
die  Hoffnung  im  Spiel,  Schack  werde  nun  doch  das  „Gastmahl"  bestellen.  Die  kleineren  Werke 
bei  Schack  befriedigten  ihn  nicht,  eine  „würdigere  Aufgabe  sollte  ihm  helfen,  aus  dieser  Genre- 
manier heraus  zu  kommen".     Jene  Hoffnung  zerschlug  sich  und  er  kehrte  nach  Rom  zurück,  um 


Ansehii  Feuerbach.     Italienisches  Mädchen. 


hier  jene  Reihe  grosser  Werke  zu  schaffen,  die  so  recht  eigentlich  seinen  Ruhm  begründet  hat, 
die  Medeen,  das  „Gastmahl",  das  „Urteil  des  Paris".  Das  letztere  Bild,  so  wenig  Beziehungen  es 
gegenständlich  zur  Medeatragödie  hat,  hängt  in  seinem  Entstehen  innig  mit  dem  Werden  der 
Münchener  Medea  zusammen  und  hat  überdies  auch  ein  ganz  ähnliches  Format.  Mit  dem  Medeen- 
cyklus  hatte   er  sich    an  ein  seltsames,    in  seiner  ästhetischen  Existenzberechtigung  vielleicht  nicht 


52 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


einmal  ganz  unfragliches  Unternehmen  gewagt,  und  es  mochten  wohl  schwere  und  aufreibende 
Kämpfe  in  ihm  getobt  haben,  bis  er  sich  sagen  konnte,  dass  die  „abgeklärte,  die  wirkliche,  grosse 
Medea  jetzt   auf   der  Leinwand   stand".     Am    „Urteil    des  Paris"  malte   er   sich    die   Seele   wieder 


Auschii  FciK'ihdch.     jugendliches  Selbstbildnis. 


gesund,  fast  mühelos  schaffend,  heiterer  als  je.  Lassen  wir  ihn  über  das  Werden  dieses  Bildes 
wieder  selbst  sprechen:  „Das  heiterste  Bild,  welches  ich  in  meinem  Leben  gemalt  habe,  ist  das 
Seiten-  oder  Gegenstück  zur  Medea.  Woher  —  wohin  —  weiss  ich  nicht  recht  zu  sagen.  Aus 
der  Pistole  geschossen,  ein  plötzlicher  Einfall,  geschichtslos,  absichtslos,  ohne  mühseliges  Studium, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


53 


aus  meinem  Kopfe  auf  die  Leinwand  geflossen,  ein  sanfter,  warmer  Strom,  unmittelbar  und 
ungesucht.  Ich  hatte  mich  über  die  Aufnahme  meiner  Medea  in  Baden  gegrämt;  daraus  ist  in 
gesundem  Rücicschlag  das  Urteil  des  Paris  entstanden,  welches  meine  gute  Laune  so  gründlich 
hergestellt  hat,  dass  ich  auf  lange  Zeit  gefeit  bin.  Mir  will  es  vorkommen,  als  sei  das  Bild 
unwiderstehlich;  andere  werden  es  unausstehlich  finden".  —  Ahnungsvolles  Gemüt!  Auf  der 
Berliner  Ausstellung  „Letzter  Saal,  oberstes  Stockwerk"  hängte  man  ihm  die  „Medea",  wie  das  „Urteil 


Aiisa/iii  Fctteilimli.     Gaea. 


Aii.seliJi  Feiierhdch.     Uranus. 


des  Paris"  wieder  einmal  tot.  Grenzenlose  Müdigkeit,  unüberwindlichen  Ekel  meldet  der  Künstler 
in  einem  Briefe  an  seine  Mutter,  in  welchem  er  ihr  das  Schicksal  seiner  Bilder  mitteilt.  Er  hatte 
in  dem  Parisurteil  in  mehr  als  einem  Sinne  Neues  gewagt,  üppigere  Gestaltenfülle,  reichere  und 
freudigere  Komposition  als  je,  und  zum  ersten  Male  seit  jener  Versuchung  des  Antonius  die  Dar- 
stellung nackter  Frauenschönheit.  Das  liebe  Vaterland  fiel  nun  gerade  wegen  seiner  Darstellung 
des  Nackten  über  ihn  her,  so  keusch  und  hoheitsvoll  er  die  edlen  Leiber  der  Aphrodite  und  Hera 
auch  gebildet  hat.  Es  war  ihm  nun  einmal  in  der  Wiege  gesungen,  dass  seine  Zeit  nicht  mit 
ihm  Schritt  halten  und  ihn  gerade  da  am  schwersten  verkennen  sollte,  wo  er  stolz  und  freudig 
sein   Bestes  that ! 


54  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Im  gleichen  Jahre  mit  dem  Parisurteil  hatte  er  seine  zweite  Iphigenie  begonnen,  die 
1871  fertig  wurde.  Er  hatte  sich  von  dem  Bilde  viel  versprochen  und  schreibt  darüber  in  Aus- 
drücken schwärmerischer  Vaterzärtlichkeit  nach  Hause.  Nach  unserem  heutigen  Empfinden  ist  das 
Bild  vielleicht  mehr  gemalt,  als  irgend  ein  anderes  Werk  Feuerbach's  vorher  —  damals  erschreckte 
seine  „Farbarmut"  selbst  die  Freunde,  als  es  in  der  Heimat  ankam.  Sein  Biograph  Allgeyer  meint^ 
was  aus  dem  neuen  Bilde  sprach,  sei  nicht  verklärte  Sehnsucht,  nicht  das  reine,  die  Seele  befreiende 
und  erhebende  Werk  der  Kunst,  sondern  der  herzbeängstigende  bildliche  Ausdruck  seines  eigenen 
Heimwehs  gewesen,  das  sich  bei  ihm  zu  verzehrender  Krankhaftigkeit  gesteigert  hatte.  Eine  Hoff- 
nung, als  Lehrer  an  die  Karlsruher  Kunstschule  berufen  zu  werden,  wurde  gerade  im  Augen- 
blicke der  Vollendung  dieser  Iphigenie  wieder  einmal  zu  Wasser.  Die  Hoffnung  hatte  ihn  heiss 
erregt  und  die  Enttäuschung  war  doppelt  schwer,  da  er  gleichzeitig  mit  den  Nachrichten,  dass 
nichts  aus  ihr  werden  sollte,  auch  noch  erfuhr,  dass  man  in  Karlsruhe  einstimmig  den  Ankauf 
seiner  Medea  abgelehnt  habe.  Vielleicht  half  die  leidenschaftliche  Anteilnahme  an  den  Geschicken 
des  Vaterlandes  ihm  über  die  Schwere  dieser  neuen  Erfahrungen  weg.  Er  blieb  damals  in  Deutsch- 
land, bis  der  Tag  von  Sedan  den  Krieg  so  gut  wie  entschieden  hatte,  und  kehrte  erst  dann  nach 
Rom  zurück.  Zwei  Monate,  nachdem  er  auch  noch  die  Bitternisse  seiner  Aufnahme  in  Berlin  ver- 
wunden hatte,  war  er  mitten  in  Arbeiten  grössten  Stiles  begriffen  —  er  hatte  sein  zweites  „Gast- 
mahl" und  die  „Amazonenschlacht"  begonnen.  Feuerbach  besass,  von  vorübergehenden  Stimm- 
ungen abgesehen,  einen  unverwüstlichen  Glauben  an  seine  Kunst;  das  will  aber  bei  ihm  durchaus 
nicht  eine  kritiklose  Affenliebe  für  das  Geschaffene  bedeuten.  Im  Gegenteil!  War  ein  Misserfolg 
verwunden,  so  suchte  er  ihn  stets  aus  Unzulänglichkeiten  des  betreffenden  Werkes  zu  erklären. 
Aber  er  begann  mit  frohem  Mut  und  stolzer  Zuversicht  Neues  oder  das  Alte  von  vorne.  Glaubte 
er,  Schweres   nicht  bewältigt  zu  haben,  so  machte  er  sich  ruhig  an  noch  Schwereres! 

Vom  zweiten  „Gastmahl"  war  schon  die  Rede  und  der  knappe  Raum  dieses  Heftes  gestattet 
leider  ein  tieferes  Eingehen  auf  die  interessante  Genesis  dieses  Werkes  nicht,  die  eines  der  fesselnd- 
sten Kapitel  der  „Psychologie  des  künstlerischen  Schaffens"  bedeutet.  Das  „Gastmahl"  ist  bekannt- 
lich heute  eine  der  Zierden  der  Berliner  Nationalgalerie.  Wie  wir  sahen,  war  der  Gedanke  an 
die  „Amazonenschlacht"  in  Feuerbach  schon  ziemlich  früh  lebendig  geworden,  ein  Gedanke,  der 
gerade  gross  genug  für  den  himmelstürmenden  Drang  des  genialen  Idealisten  war,  anderseits  aber 
doch  in  manchem  über  die  Grenze  seines  Vermögens  hinausreichte.  Erst  1870,  zehn  Jahre  nach 
dem  ersten  Entwurf,  machte  er  sich  an  die  Ausführung  der  gewaltigen  Aufgabe,  gewaltig  auch  in 
den  räumlichen  Ausmassen.  Das  Bild  ist  sieben  Meter  breit  und  fast  vier  Meter  hoch.  Mit  der  Schaffens- 
kraft, welche  die  wahrhaft  grosse  Begeisterung  verleiht,  stürzte  er  sich  in  die  Arbeit  und  brauchte,  um 
die  ziemlich  weltgehende  Untermalung  fertig  zu  stellen,  nicht  mehr  als  vierzig  Tage.     Am  Schluss 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


55 


dieser  Leistung  fühlte  er  sich,  wie  er  selber  sagt,  so  frisch  wie  am  Tage  des  Beginnes.  Bis  die 
letzten  Retouchen  fertig  waren,  neigte  allerdings  das  Jahr  1873  schon  seinem  Ende  zu.  Als  die 
dem  Bilde  zu  Grunde  liegende,  künstlerische  Absicht  bezeichnet  Feuerbach  selber  das  Streben  nach 
dem  Ausdruck  der  höchsten  plastischen  Formenschönheit   und    dies  Streben   wird    dem  Beschauer 


Anseltn  Feuerbach.    Familienidylle. 


beim  ersten  Blick  auf  das  Gemälde  deutlich.  Sogar  zu  sehr!  Damit  erklärt  sich  vielleicht  der 
ganze  Misserfolg  des  Bildes,  dass  es  eben  nicht  in  erster  Linie  malerisch  gedacht  ist.  Es  ist  eine 
Komposition  aus  durchaus  schönen  plastischen  Posen,  eine  Komposition,  die  mit  mächtigem  Schwung 
der  Linien  und  grossartigem  Rhythmus  durchgeführt  ist,  aber  bis  zu  einem  gewissen  Grade  doch 
immer  eine  Vereinigung  bedeutsamer  Einzelmomente  bleibt.  Darum  ist  trotz  dieses  Linienschwunges 


56 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Anselm  Feuerbach.     Alkibiades  (Sludie). 


keine  wahre  Bewegung  in  Feuerbach's  „Amazonen- 
schlacht", die  Gruppen  wiri<en,  als  seien  sie  mitten 
in  wildester  Aktion  erstarrt.  Das  war  in  der  Zeit 
des  beginnenden  Realismus  ein  Fehler,  den  man 
nicht  mehr  verzieh  —  dreissig  Jahre  früher  hätte  die 
Welt  vielleicht  staunend  vor  einem  Werke  gestanden, 
das  so  viel  klassische  Formenschönheit  aufwies  — 
freilich  hätte  sie  sich  damals  gleichzeitig  vor  dieser 
Fülle  nackter  Menschenleiber  entsetzt.  Feuerbach 
hatte  wieder  einmal  das  Unglück,  mit  seiner  Zeit 
nicht  eins  zu  sein.  Er  hatte  sich  in  Rom  allzusehr 
an  den  Werken  der  grossen  Italiener  berauscht, 
Michelangelo  war  der  Pate  seiner  „Amazonen- 
schlacht." Der  Einfluss  dieses  Grössten  geht  in 
Feuerbach's  Bild  bis  zu  direkten  Reminiszenzen. 
Die  nackte  Amazone,  die  in  der  Mitte  des  Bildes 
mit  aufgezogenem  Bein  auf  ihren  Tüchern  liegt  — 
seltsam,  diese  wohlgeordneten  Draperien  im  Getümmel  einer  Schlacht!  —  hat  genau  die  Pose 
von  Buonarroti's  „Nacht  am  Grabmal  des  Giuliano".  Überhaupt  hatte  Feuerbach  eine  besondere 
Vorliebe  für  diese  vier  Figuren  aus  dem  Medizäergrabmal  mit  ihren  aufgezogenen  Schenkeln. 
Sie  kehren  auch  in  den  Zwickelfiguren  der  kleinen  Münchener  Titanomachie  wieder,  wo  die  mähn- 
lichen Figuren   ,,Der  Tag"   und   ,,Der  Abend"   unverkennbar  verwendet  sind. 

Angesichts  der  Gestalten  von  Feuerbach's  „Amazonenschlacht"  möchte  man  sich  fragen,  ob 
der  Künstler  nicht  überhaupt  mehr  zum  Plastiker  als  zum  Maler  geboren  war.  Man  könnte  die 
ganze  Komposition  —  von  den  Hintergrundfiguren  abgesehen,  die  weit  malerischer  empfunden 
sind  —  unmittelbar  in's  Relief  übersetzen  und  es  würden  Gruppen  von  prachtvoller  Plastik  ent- 
stehen. Die  grossen  Werke  Feuerbach's  sind,  wie  gesagt,  überhaupt  meist  nicht  aus  der  farbigen 
Impression  heraus  geboren,  sondern  Kinder  des  Stils  in  der  Reflexion.  Er  besass  koloristisches  Talent 
genug,  um  den  Kompositionen  ein  harmonisches  Kolorit  zu  verleihen,  aber  die  Harmonie  der  Farbe 
besteht  für  sich. 

Die  Harmonie  der  Farbe  mit  der  Form,  die  das  Wesen  des  wahrhaft  Malerischen  bedingt, 
bestand  für  ihn  nur  in  untergeordnetem  Masse.  Irgendwie  hat  das  Feuerbach  sehr  wohl  selbst 
gefühlt,  wie  man  aus  folgendem  Satze  seines  „Vermächtnisses"  trotz  der  Bitterkeit  gegen  den 
herrschenden  Geschmack,  die  durchklingt,  wohl  herausfühlen  mag:  „In  meiner  Kunst  war  ich 
bis  jetzt  zu  einfach,  wie  ich  jetzt  wohl  einsehe.  Daran  ist  die  fortwährende  Stilübung  Schuld, 
das  Unwesentliche  fortzulassen ;  dann  die  Einsamkeit  in  Italien,  wo  Himmel  und  Meer  glänzen 
und  die  Seidenmanufakturen  erst  in  zweiter  Linie  stehen;  endlich  die  Gegenstände  meiner  Bilder 
selbst,    bei   welchen    die   menschliche  Form    wichtiger   erschien,    als    die   besten  Schneiderkünste." 


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Anselni  heiiurbach  piiix.  ['hot.  I-.  HaiifstaeiiKl,  Münclicii 

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XIV  9 


58  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Man  sieht:  hier  ist  ziemlich  genau  gesagt,   was  Feuerbach    von  seiner  Zeit  trennte.     Schlimm    für 
die  Zeit!  Aber  alle  Schuld  hatte  nicht  sie  allein! 

Wer  übrigens  eingehender  sich  darüber  unterrichten  will,  bis  zu  welchem  Grade  Feuerbach 
die  Form  beherrschte,  der  betrachte  seine  Handzeichnungen,  von  denen  eine  prächtige  Auswahl 
im  Franz  Hanfstaengl'schen  Verlage  erschienen  ist  und  zwar  in  Facsimilereproduktionen,  die 
kaum  das  kundigste  Auge  vom  Original  wegzuerkennen  vermag.  Es  sind  Akte  und  Studien- 
köpfe darunter  —  auch  in  diesem  Heft  finden  sich  zahlreiche  reproduziert  — ,  die  vollkommen 
ebenbürtig  neben  den  Handzeichnungen  der  grössten  Alten  stehen,  Blätter  von  einer  Wucht  und 
herben  Kraft  der  Linie,  die  mehr  als  irgend  etwas,  was  Feuerbach  gemalt  hat,  den  Anteil  des 
deutschen  Blutes  an  diesem  Künstlertemperament  verraten.  Die  Handzeichnung  ist  ja  überhaupt 
die  unmittelbarste,  intimste  Arbeit,  die  der  Maler  schafft,  bei  ihr  ist  „der  Weg  vom  Auge  zur  Hand" 
immer  noch  der  kürzeste,  während  beim  Malen  stets  noch  allerlei  technische  Überlegungen  da- 
zwischen liegen.  Manche  der  Feuerbach'schen  Zeichnungen  stempeln  ihn  für  sich  allein  schon 
zum  grossen  Künstler. 

Die  „Amazonenschlacht"  und  das  zweite  „Gastmahl"  wurden  zunächst  im  Wiener  Künstlerhause 
—  aber  nicht  gleichzeitig!  —  ausgestellt.  Feuerbach  hatte  1872  eine  Professur  an  der  dortigen 
Akademie  erhalten,  hatte  sich  ein  Jahr  Frist  ausbedungen  zur  Vollendung  seiner  grossen  Arbeiten 
und  war  dann  1873,  im  Jahr  der  Weltausstellung,  in  die  Donaustadt  übergesiedelt,  die  Brust  neu 
von  Hoffnungen  geschwellt.  Die  Aufnahme,  die  er  fand,  war  verhältnismässig  kühl.  Nur  Sem  per, 
Hansen  und  Zumbusch  und  Johannes  Brahms  waren  ihm  mit  Freundschaft  und  Verständnis 
entgegengekommen.  Der  Erfolg  der  „Amazonenschlacht"  im  Künstlerhause,  wo  kurz  vorher  Makart's 
„Catarina  Cornaro"  Triumphe  gefeiert,  war  —  Hohn  und  Spott  ohne  Mass!  Zum  offenen  Miss- 
erfolg kamen  heimliche  Kabalen  von  selten  verschiedener  künstlerischer  Cliquen,  die  auf  Makart, 
Rahl  und  Canon  schworen!  Trotz  alledem  hielt  man  an  amtlicher  Stelle  treu  zu  ihm;  die  hohe 
künstlerische  Kultur,  die  er  im  Gegensatze  zu  manchen  Grössen  des  Tages  zeigte,  bewirkte,  dass 
man  trotz  jenes  Fiasko  den  Glauben  an  ihn  behielt.  Auch  seine  Schüler  hielten  treu  zu  ihm  und  seine 
Lehrthätigkeit  machte  ihm  viel  Freude.  Jene  beglückten  ihn  durch  eine  Vertrauenskundgebung, 
als  die  grosse  Hetze  gegen  ihn  losgebrochen  war,  und  darin  fand  er  einen  starken  moralischen 
Rückhalt.  Nicht  ganz  so  feindselig,  wie  die  „Amazonenschlacht",  nahm  man  das  „Gastmahl"  auf.  Die 
Erfolge  seiner  Schüler  entschuldigten  ihn  für  vieles;  die  Klasse  Feuerbach  hatte  auf  der  Akademie 
den  Sieg  über  alle  anderen  Klassen  davongetragen,  was  seine  Stellung  sehr  befestigte.  Er  erhielt 
nun  auch  einen  Monumentalauftrag,  um  den  er  sich  eifrig  beworben  —  allerdings  musste  er  ihn 
etwa  um  die  Hälfte  des  geforderten  Honorars  ausführen.  Es  handelte  sich  um  die  Deckengemälde 
im  glyptischen  Saal  der  Wiener  Akademie.  Er  ging  an  diese  Arbeit  unter  schweren  materiellen  Wider- 
wärtigkeiten, musste  er  doch  fast  alles,  was  er  einnahm,  wieder  hergeben  zur  Abzahlung  erhaltener 
Vorschüsse,  die  ihm  die  Fertigstellung  der  letzten  grossen  Werke  in  Rom  ermöglicht  hatten.  Dazu 
warf  ihn  1876  ein  Gelenkrheumatismus  und  eine  schwere  Lungenentzündung,  die  er  sich  beim 
Begräbnis  Führich's  zugezogen,  auf's  Krankenlager,  todkrank  fuhr  er  nach  Heidelberg  zur  Mutter, 


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Anseliit  Feiierhaili.     Drei  Amazonen  im  y\ngriif  (Studie). 


60 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  da  die  Ärzte  das  Wiener  Klima  als  höchst   gefährlich  für  ihn  erklärten,  musste   er  seine  Ent- 
hebung von  seinem  Amte  nachsuchen    und  kam    nicht   wieder   in    die  Kaiserstadt   an  der  schönen 


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Ansehn  Feuerbach.     Romeo  und  Julia. 


blauen  Donau  zurück,  trotzdem  er  seine  Deckenbilder,  auf  die  er  schon  Vorschüsse  empfangen, 
in  der  Hauptsache  erst  noch  zu  vollenden  hatte.  Er  siedelte  im  Sommer  1876  nach  Nürn- 
berg über,    eine  Professur   an    der  Kunstschule   zu    übernehmen ;  ehe  es   zu  letzterem  kam,  unter- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


61 


nahm  er  aber  noch  eine  letzte  Romfahrt  und  Hess  sich  dann  vorübergehend  in  Venedig  nieder. 
Hier  malte  er  zunächst  sein  „Kaiser  Ludwig-Bild",  d.  h.  die  Szene,  wie  Kaiser  Ludwig  der 
Bayer  den  Nürnberger  Kaufherren  Privilegien  erteilt.  Das  Bild,  zur  Ausschmückung  eines  Sitzungs- 
saales im  Justizpalast  bestimmt  und  dort,  wenn  auch  in  wenig  günstiger  Umgebung  aufgestellt,  ist 
friesartig,  8  Meter  lang  und  2,40  Meter  hoch,  das  einzige  richtige  Historienbild,  das  unter 
Feuerbach's  Pinsel  entstand,  und  das  einzige  seiner  grösseren  Werke,  das  einem  strikten  Auftrag 
entsprach.  Trotz  der  Trivialität  und  Beschränktheit  des  Auftrages,  gab  er  auch  hier,  was  er  hatte, 
und  lieh  der  Komposition  wahre  monumentale  Grösse.  Dass  trotzdem  das  Bild  in  der  Reihe 
Feuerbach'scher  Werke  keine  erste  Rolle  spielen  kann,  versteht  sich  wohl  von  selbst.  In  Venedig 
entstand  auch  ferner  „Das  Konzert",  die  auch  in  diesem  Heft  wiedergegebene  Gruppe  musizierender 
Frauen ;  das  Bild  ist  nicht  ganz  vollendet.  Die  unglückliche  Musikergesellschaft,  sechs  Personen, 
die  ihm  als  Modelle  gedient  hatten,  ertranken  —  Mann  und  Weib  —  bei  einer  Fahrt  nach  dem 
Lido,  und  der  erschütterte  Künstler  vermochte  es  nicht  über  sich,  an  dem  Bilde  weiter  zu  arbeiten. 
Nach  einer  kurzen  Sommerruhe  in  Bassano  machte  er  sich  an  die  Ausführung  des  grossen  „Titanen- 
sturzes" als  Deckenbild  für  jenen  Saal  der  Akademie  in  Wien.  Vier  kleinere  Gemälde  für  diesen 
Zweck,  Prometheus,  Venus  Anadyomene,  Uranus  und  Gaea,  Gestalten  von  grossem,  michelangeleskem 
Stil  hatte  er  schon    1875  begonnen.     Auch  der   „Titanensturz"   entstand    unter  grossen  materiellen 


Aitselm  Feueihuch.    Venus  im  Muschelwagen  (Studie). 


62  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 

Schwierigkeiten.  Er  brauchte  einen  dreissig  Fuss  hohen  Raum,  den  er  nur  unter  grossen  Opfern, 
durch  Herausnahme  eines  Plafonds  und  Verbindung  zweier  Stockwerke,  herstellen  konnte.  Aber 
mit  unverwüstlichem  Mute  machte  er  sich  an  die  Arbeit  und  mit  dem  Optimismus  seines  nie  er- 
schütterten Selbstvertrauens  schrieb  er  schon  im  Herbst  —  im  Frühjahr  hatte  er  begonnen  — ,  er 
habe  „einen  direkten  Sprung  in's  Paradies  gethan",  es  gehe  rapid  und  ausgezeichnet,  alle  An- 
strengung werde  durch  das  eminente  Gelingen  und  die  Freude  an  der  Sache  reichlich  gelohnt. 
Die  Mitwelt  lohnte  ihm  die  Anstrengung  allerdings  wieder  in  der  gewohnten  Weise.  In  Wien 
wurde  das  Werk  an  der  niedrigen  Decke  eines  Musiksaales  ungünstig  angebracht,  da  der  Bau  der 
Akademie  noch  nicht  weit  genug  vorgeschritten  war,  und  so  dem  Urteil  der  Menge  preisgegeben. 
Auch  in  München,  wo  Feuerbach's  Bilder  1876  so  kunstreich  im  Glaspalast  zu  Schanden  gehängt 
worden  waren,  wurde  der  ,, Titanensturz"  gleichzeitig  mit  der  ,,Medea"  in  einem  Separatraum  auf- 
gestellt, aber  vertikal,  nicht  als  Deckengemälde,  als  welches  er  erst  seine  volle  Wirkung  gezeigt 
hätte.  Trotzdem  fand  das  Werk  wenigstens  in  kleinem  Kreise  grossen  Erfolg,  und  seine  Verehrer 
schickten  ihm  eine  Sendung  Lorbeerkränze,  was  in  so  überraschte  und  rührte,  dass  er  sich  der 
Thränen  nicht  erwehren  konnte. 

Inzwischen  gab  Feuerbach's  von  Natur  an  schwache  Gesundheit  immer  mehr  zu  Besorgnissen 
Anlass.  Er  flüchtete  im  Herbst  1879  vor  der  Kälte  wieder  nach  dem  Süden,  nach  Venedig,  und 
mietete  sich  ein  kleines  Atelier.  Lebensmut  und  Arbeitslust  waren  ihm  fast  vergangen,  schwere 
Schuldenlast  drückte  ihn.  Er  hatte  fast  20,000  Mark  Schulden  in  einem  Jahre  bezahlt.  Einen 
letzten  Lichtblick  bildete  der  Ankauf  des  Medeabildes  durch  König  Ludwig  11.,  den  die  Mutter 
durchgesetzt   hatte. 

Dem  König  von  Bayern  verdankte  Feuerbach  überhaupt  so  manche  Aufmunterung;  auch 
einen  Orden  hatte  ihm  jener  zugesandt,  zwei  Jahre  vorher.  Feuerbach  trug  ihn  freilich  nie,  nahm 
ihn  aber  doch  als  freundliches  Wahrzeichen  freudig  auf. 

Ein  Brief  des  Künstlers  an  seine  Mutter  vom  27.  November  1879  sagt  zwar  noch  nichts 
von  neuer  Arbeit,  aber  er  spricht  doch  wieder  von  der  Zukunft.  Den  für  Wien  mit  Uranus,  Venus 
und  Gaea  angefangenen,  aber  wieder  abbestellten  Prometheus  hoffte  er  zu  einem  mächtigen  Galerie- 
stück auszugestalten.  Es  kam  anders.  Am  4.  Januar  1880  fand  man  ihn  tot  in  seinem  Bette  — 
ein  Herzschlag  hatte  seinem  Wirken  ein  Ziel  gesetzt  —  seinem  Wirken  und  seinen  Enttäuschungen. 
Denn  eine  lückenlose  Kette  von  solchen  war  sein  Leben.  Man  sprach  irrtümlich  davon,  er  hätte 
sich  selbst  den  Tod  gegeben.  Zu  begreifen  wäre  es  freilich  gewesen !  Aber  die  Autopsie  durch 
die  Ärzte  stellte  den  Herzschlag  fest. 

Und  damit  der  Tragik  dieses  Künstlerlebens  nicht  die  letzte  tragikomische  Pointe  fehle, 
gestaltete  man  sein  Leichenbegängnis  —  die  sterblichen  Reste  Feuerbach's  wurden  nach  der  Heimat 
überführt  —  in  Nürnberg  zu  einem  Triumph  des  Toten.  Tausende  wallfahrteten  nach  dem  Sankt 
Johannis-Friedhofe  hinaus,  wo  man  ihm,  nahe  an  Dürer's  Ruhestätte,  sein  Grab  gegraben.  Musik, 
Reden  und  Kränze  in  Mengen,  Abordnungen  aller  Akademien,  Leute,  die  Banner,  Palmen  und  Fackeln 
trugen!    Die  beiden  Bürgermeister  fehlten  nicht.    Poetische  Grüsse  wurden  ihm  nachgerufen,  über 


Kai! 


Ansehn  Fcnerhmli .     Studienkopf  mit  Epheuiaub  (Handzeichnung). 


64 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


dem  Grab  erhob  sich  ein  barocker  Baldachin  von  Pflanzengrün.     Und  zuletzt  sangen  sie  ihm  einen 
Scheidegruss,  der  mit  den  Worten  anhebt: 

„Über  den  Sternen,  da  wird  es  einst  tagen, 
Da  wird  Dein  Hoffen,  Dein  Sefinen  gestillt!" 

Ein  später  Trost!  —  —  —  — 

Feuerbach  hatte   sich  früher  einmal  ein  Grab  auf  der   schönen  kleinen    Insel  Isea  geträumt 
und  sich  selber  die  Grabschrift  verfasst: 

Hier  liegt  Anselm  Feuerbach, 
Der  im  Leben  manches  malte. 
Fern  vom  Vaterlande  —  ach  — 
Das  ihn  immer  schlecht  bezahlte! 


Aiiscliii  Fencrbuclt.     Bestattung. 


ÜBER  Kleinmalerei 


VON 


A.  HEILMEYER. 


Ber  Impressionismus  hat  auf  dem  Gebiete  der  Malerei  grosse  ""\r^r 
Umwandlungen  hervorgerufen;  ganz  neue  und  eigenartige 
Phänomene  in  Licht  und  Luft  wurden  entdeckt,  insbesondere 
durch  die  Landschaftsmalerei  eine  Menge  Probleme  erschlossen. 
Wie  nunmehr  die  Bilder  immer  heller  und  heller  wurden  und 
leuchtende  frische  Farben  an  Stelle  der  schwärzlichen  brandigen 
Töne  traten,  ward  mit  der  veränderten  Anschauung  auch  die 
Ausdrucksweise,  die  Technik  vielfach  eine  andere.  Die  moderne 
Kunst  gründete  sich  vorzugsweise  auf  das  Experimentieren  mit 
Farben.  Die  Maler  arbeiteten  zumeist  im  Freien,  um  die  immer 
wechselnden  Licht-  und  Lufteindrücke  zu  den  verschiedenen  Tages- 
zeiten festzuhalten.  Diese  Methode  bedurfte  keiner  langen  Vor- 
bereitungen wie  die  Arbeitsweise  im  Atelier;  es  handelte  sich 
hier  vor  allem  darum,  mit  schnellem  Blick  und  geübter  Hand 
das  Gesehene  zu  fixieren.  Von  malerischer  Kultur  war  aller- 
dings in  diesen  Studien  wenig  zu  verspüren.  Ganz  anders  war 
es  aber  um  die  Kleinmalerei  bestellt,  die  technische  Virtuosität, 

lange  Erfahrung  und  Übung,  sowie  die  richtige  Anwendung  bestimmter  künstlerischer  Prinzipien 
zur  Voraussetzung  hat.  Auf  diesem  Gebiete  konnten  also  die  neuen  Anschauungen  nur  bedingt 
zur  Geltung  kommen,  und  da  sie  der  Natur  der  Sache  nach  hier  ganz  langsam  durchdrangen,  kam 
die  Kleinmalerei  in  den  Verruf  eines  rückständigen  und  abgelebten  Kunstzweiges.  Man  that  ihr 
bitter  Unrecht,  denn  die  Moderne  hatte  als  ihren  vornehmsten  Grundsatz  festgelegt,  das  Malen  um 
des  Malens  willen  zu  betreiben.  Zwar  schätzte  man  wegen  ihrer  Auffassung  und  Technik  die 
Werke  eines  Meissonier,  in  Fortuny's  Bildern  bewunderte  man  das  erstaunliche  Können,  das 
Publikum  verstand  die  holbeinische  Art  Leibl's,  respektierte   die  Schärfe  der  Beobachtung  und  die 

XIV  10 


Franz  Shmn.    Studie  zu  einer  Illustration 
für  die  „Fliegenden  Blätter" 


66  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Exaktheit  der  Arbeit  in  Menzel's  Schöpfungen  und  zollte  der  Virtuosität  eines  Trübner  Anerkennung. 
Sie  alle  hatten  ja  die  Probleme  der  modernen  Malerei  vorbereitet  oder  selber  bereits  zu  lösen 
versucht.  Die  heutigen  Kleinmaler  wissen  die  neuesten  Resultate  innerhalb  der  Grenzen,  welche 
ihrer  Kunst  gesteckt  sind,  wohl  zu  verwerten,  obgleich  die  Übertragung  mancher  Anschauungen, 
z.  B.  des  Pleinairismus,  auf  ihr  Gebiet  mit  nicht  geringen  Schwierigkeiten  verknüpft  ist.  Denn 
die  Ausdrucksmittel,  deren  sich  der  Grossmaler  zur  Erreichung  gewisser  koloristischer  Wirkungen 
bedient,  müssen  hier  wesentlich  modifiziert  werden.  Jener  rechnet  mit  Wirkungen,  die  erst  bei 
einem  gewissen  Abstand  vom  Bilde  zur  Geltung  kommen ;  dieser  muss  für  die  Nahbetrachtung 
alles  auf  einen  möglichst  beschränkten  Raum  konzentrieren,  er  muss  mehr  auf  den  Ausdruck  als 
auf  den  Eindruck  hinarbeiten.  Ihre  Beobachtung  ist  in  erster  Linie  auf  eine  genaue  charakteristische 
Wiedergabe  der  Objekte  gerichtet;  sie  nimmt  noch  die  Lupe  zu  Hilfe,  um  in  alle  Details  einzu- 
dringen. Dieses  Streben  birgt  in  sich  eine  Klippe,  an  der  viele  scheitern,  nämlich  die,  ausführlich 
und  peinlich  in  der  Darstellung  bis  in  das  kleinste  hinein  zu  sein,  ohne  kleinlich  zu  werden.  Ein 
Werk  der  Kleinmalerei  soll  von  den  Vorzügen,  welche  die  Schönheit  eines  Budes  im  grossen  Mass- 
stabe ausmachen,  nichts  entbehren.  Die  Bilder  eines  Mieris,  Ter  Borch,  Wouwerman,  Brouwer  wurden 
in  kunstliebenden  Zeiten  nicht  weniger  geschätzt  als  die  eines  Tizian  und  Rubens.  Soll  der  Geist 
der  Malerei  ein  anderer  sein,  wenn  er  aus  den  Fingerspitzen  eines  Kleinmalers  quillt  oder  wenn 
er  die  Hand  eines  Grossmalers  führt?  Das  Stoffgebiet  der  Kleinmalerei  ist  ein  fast  unbeschränktes, 
es  umfasst  so  ziemlich  alle  Gattungen,  nämlich  Porträt,  Genre,  Geschichtsbild,  Landschaft  und 
Stilleben.  Die  folgende  Schilderung  wird  sich  auf  eine  Gruppe  meist  einheimischer  Maler  beziehen, 
die  diese  Arten  alle  vertreten. 

Zunächst  zeigt  sich  in  diesem  Zw^eige  der  Malerei  eine  entschiedene  Neigung  zur  Dar- 
stellung intimen  Kleinlebens  in  der  Natur.  Ein  Bildchen  in  der  vorjährigen  Glaspalastausstellung 
war  dafür  bezeichnend.  Man  sah  einen  Gnomen,  der  mitten  im  Grünen  seine  Staffelei  aufgestellt 
hatte  und  einen  Frosch,  der  auf  einem  grossen  Pilz  sass,  porträtierte.  Ringsum  zeigt  sich  viel- 
gestaltiges Leben  und  Weben.  Die  Sonne  sendet  ihre  glühenden  Pfeile  in  diese  dämmerige  Welt 
und  streift  da  eine  Blume,  dort  ein  vergilbtes  Blatt,  macht  einen  Tautropfen  funkeln  und  lässt 
die  Flügel  eines  Insekts  erglänzen.  In  diesen  Mikrokosmus  versenkt  sich  ein  Malerauge  wie  das 
KRlCHELDORF's  mit  Vorliebe.     Seine  Blumenstücke  sind  zarten  lyrischen  Gedichten  zu  vergleichen. 

Ein  anderer  ist  KRONBERGER.  Er  malt  Charakterköpfe  auf  eine  Fläche,  gewöhnlich  13  17, 
mit  der  naiven  Freude  an  der  farbigen  Erscheinung,  mit  dem  Realitätsgefühl  und  dem  Fleisse  der 
Ausführung,  die  auch  die  Werke  altdeutscher  Meister  auszeichnen.  Sowohl  in  der  Wahl  der  Stoffe 
als  auch  in  der  Art  der  Ausführung  ist  ihm   ERNST  SCHMITZ  verwandt. 

Kapriziösere  und  ausgesuchte  malerische  Pikanterien  bieten  das  Trio  SIMM,  SEILER, 
LÖWITH.  Es  ist  die  Welt  des  Rokoko  mit  seiner  prunkvollen  Entfaltung  von  Glanz  und  Pracht, 
die  ihr  malerisches  Empfinden  anregt  und  befruchtet.  In  ihren  Bildern  schimmert  und  funkelt 
es  von  Lüstern,  von  geschliffenem  Glas,  Geschmeide,  Waffen,  Uniformen,  von  vergoldeten  Möbeln, 
schillernder  Seide  und  anderen  Stoffen  mit  tiefen,  satten  Farben.    Einige  dieser  Künstler  sind  auch 


DIK  KUNST  UNSERER  ZEIT 


67 


als  Illustratoren  thätig  und  neigen  daher  gerne  zur  Wiedergabe  pointierter  Schilderungen.  Sie  lieben 
Sujets,  in  denen  sich  ein  Stück  Kultur-  und  Sittengeschichte  wiederspiegelt.  Mit  Vorliebe  behandeln 
sie  Episoden  aus  dem  Leben  berühmter  Staatsmänner,  Feldherren,  Philosophen  und  Dichter, 
Nicht  selten  verbinden  sie  mit  der  Gabe  glänzender  malerischer  Darstellung  die  Behandlung  einiger 


//.  0.  Kl  irhchhii  f.     Sclimetti,'rlinji;e 


interessanter  psychologischer  Momente.  Besonders  BUCHBINDER  scheint  seine  Stoffe  so  zu  wählen, 
dass  mit  einer  prunkenden  Erscheinung  auch  immer  ein  gegenständlich  anziehendes  Motiv  verbunden 
ist.  Hinsichtlich  der  koloristischen  Ausführung  ist  all  diesen  ein  Zug  gemeinsam:  sie  suchen 
vor    allem    nach    Originalität    im  Ausseren,    die    im    Kostüm    oder  auch    in   Geste    und   Bewegung 


68 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


//.  6f.  Kricheldorf.     Tulpen 


irgendwie  hervortritt.  Koloristisch  arbeiten 
sie  die  Strui<tur  der  Gegenstände  so  be- 
stimmt wie  möglich  heraus,  selbst  bis 
zu  einer  gewissen  Härte  auf  Kosten  der 
Gesamtstimmung.  Es  blieb  WILHELM 
von  DIEZ  und  HARBURGER  vorbehalten, 
in  ihren  Bildern  das  rein  Malerische  der 
Erscheinungen  zum  Ausgangspunkt  ihrer 
Gestaltung  zu  machen.  Indem  sie  auf 
niederländische  Vorbilder  zurückgingen 
und  diese  fleissig  studierten,  fanden  sie 
auch  bald  eine  eigene  Ausdrucksweise. 
Harburger,  der  feine  Zeichner,  hat  sich 
ganz  im  Anschlüsse  an  die  Tradition  ent- 
wickelt, obwohl  er  in  seiner  Art  durchaus 
neu  und  eigenartig  ist.  Seine  Bilder  sind 
durch  ihre  tonig  und  saftig  klare  Farb- 
gebung den  alten  Meistern  ähnlich.  Da- 
durch unterscheidet  er  sich  wesentlich  von  den  übrigen.  Auf  ROBERT  SCHLEICH  hat  das 
Pleinairmalen  einen  gewissen  Einfluss  ausgeübt.  In  seinen  Miniaturlandschaften  weht  freie  Luft 
und  flutet  helles  sonniges  Tageslicht. 

Manchem  Besucher  der  zweiten  Münchener  Jahresausstellung  von  1890  mag  ein  Bildchen 
aufgefallen  sein,  das  Schmetterlinge  auf  dem  Deckel  einer  Zigarrenschachtel  aufgespiesst  darstellte. 
Ein  alter  Witz,  hiess  es  in  einer  Kritik,  aber  vorzüglich  gemalt.  KRICHELDORF  hatte  in  der  That 
mit  ausserordentlichem  Geschick  das  Ganze  komponiert  und  im  Detail  bis  auf  das  feinste  ausgeführt, 
sodass  ein  Entomologe  mit  der  Lupe  die  Genauigkeit  der  Wiedergabe  hätte  prüfen  können.  Mit 
dem  Auge  des  Naturforschers  hatte  der  Maler  die  Besonderheiten  in  Bildung  und  Struktur  der 
Tiere  beobachtet  und  studiert.  Diese  positivistische  Anschauung,  die  sich  auf  einen  kleinen  Kreis 
der  Nachachmung  beschränkt,  muss  in  der  Darstellung  doch  auf  eine  harmonische  Gesamtwirkung 
hinarbeiten,  weil  sich  das  Auge  sonst  in  der  Fülle  der  Einzelheiten  verlieren  würde.  Durch  ein 
geschicktes  Arrangement  der  Farben  soll  diese  Einheit  erzielt  werden.  Der  Künstler  muss  aus  der 
Natur  die  einzelnen  Eindrücke  sammeln,  das  weithin  Zerstreute  zusammenlesen,  auswählen  und 
ordnen,  auf  die  Art  etwa,  wie  man  einen  Blumenstrauss  bindet.  Wir  fühlen  dabei  auf's  neue  das 
Treffende  des  Vergleiches  in  Schiller's  Versen : 

„Die  Auswahl  einer  Biumenflur 

Mit  weiser  Zahl  in  einen  Strauss  gebunden  — 

So  trat  die  erste  Kunst  aus  der  Natur; 

Jetzt  wurden  Sträusse  schon  in  einen  Kranz  gewunden." 


C.  Kronberj^cr  pinx. 


riiot.  1".  liuiifstaengl,  München 


Der  Ra uch er 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


69 


Aber  nicht  allein  Geschmaclc  und  Geschick  sind  notwendig  zu  solchen  Aufgaben,  alle  die 
künstlerischen  Fähigkeiten,  die  das  Übertragen  der  Eindrücke  auf  die  Bildfläche  erfordern,  müssen 
dabei  in  angestrengter  Arbeit  bethätigt  werden.  Bei  einer  Darstellung  wie  dem  Blumenstück  muss 
der  Künstler  stets  in  innigem  Kontakt  mit  der  Natur  stehen ;  es  gehört  eine  grosse  Beobachtungs- 
gabe und  Artenkenntnis  dazu,  von  so  vielen  an  Farben  und  Formen  verschiedenen  Pflanzen  das 
Typische  wiederzugeben  und  dabei  doch  das  Besondere  nicht  über  die  allgemeine  Erscheinung 
hervorzuheben.  Wiesenblumen,  Gräser  und  Pensees  hat  er  zu  einem  farbensprühenden  Bouquet 
vereinigt,  dessen  koloristischer  Reiz  noch  erhöht  wird  durch  die  perlenden  Tautropfen,  die 
schillernden  Falter  und  die  in  prächtigen  Farben  leuchtenden  winzigen  Käfer.  Das  Auge  des 
naiven  Beschauers  wird  durch  diese  Harmonie  entzückt  und  durch  die  Ausführung  selbst  der 
Botaniker  befriedigt.  Kricheldorf  hatte  1897  in  Wiesbaden  mehrere  Werke  dieser  Art  ausgestellt. 
Eine  Kritik  sagt  darüber:  „Von  Kricheldorf  in  München  sind  einige  Blumen-  und  Fruchtstilleben 
mit  Insekten  zu  sehen,  Bilder  von  ausnehmender  Feinheit.  Zwar  muten  sie  den  Kenner  anfangs 
etwas  kleinlich,  etwas  ausgepinxelt  an,  und  jede  kecke,  sichere  Breite  der  Pinselführung  mangelt 
ihnen,  aber  sie  sind,  wie  bei  manchen  altniederländischen  Kleinmeistern  des  Stillebens,  mit  einer 
so  eingehenden  Liebe  durchgeführt,  dass  man  Ursache  hat,  diese  liebevolle  Versenkung  in  die 
Natur  zugleich  mit  dem  Fleiss  des  Künstlers  zu  bewundern.  Dabei  wirken  die  dargestellten  Blumen 
und  Früchte  äusserst  stofflich.  Die  Tautropfen  auf  den  Blättern  glaubt  man  fortwischen  zu  können, 
und  die  Farben,  zumal  bei  dem  Bilde  mit  den  sammetartigen  Stiefmütterchen,  sind  von  einem  ausser- 
ordentlichen Schmelz  und  eminenter  Leuchtkraft  ..." 

Ein  anderer  Kritiker  vergleicht  die  Werke  Kricheldorf's  mit  denen  des  berühmten  fran- 
zösischen Meisters  Antoine 
Vollon.  In  einem  einheit- 
lichen, warmen  goldigen  Tone 
ist  ein  kleines  Fruchtstilleben 
hingezaubert.  Dieses  volle 
Zusammenklingen  der  Farben 
haben  hauptsächlich  seine  in 
letzter  Zeit  entstandenen  grös- 
seren- Bilder.  Es  sind  meist 
Arrangements  von  altertüm- 
lichen kostbaren  Gefässen, 
Gläsern,  Krügen,  Schüsseln, 
Platten  u.  s.  w.  im  Verein  mit 
köstlichen  Tafelfreuden.  Die 
Ausführung,  obwohl  genau 
und  eingehend,  ist  immer 
fliessend   und   malerisch,  die  //  g.  KrichcMinf.    Fruchtstück 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Wirkung  prächtig  und  dekorativ.     Seine  Gemälde  sind  wie  Gobelins  als  vornehme  Zier  in  festlich 
geschmückten  Räumen  zu  denken. 

Kleinmaler  sind  aber  häufig  auch  Feinmaler.  Bei  ihrem  Streben,  die  Objekte  möglichst  getreu 
und  präzis  wiederzugeben,  eignen  sie  sich  meist  eine  sorgfältige,  saubere  Maltechnik  an.  Eine 
gewisse  Glätte  des  Vortrages  ist  die  natürliche  Folge.  Die  Kabinettstücke  eines  Balthasar 
Denner  sind  darum  berühmt  geworden.  Bekannt  sind  ja  die  Bildnisse  der  beiden  Alten  in  der 
Münchener  Pinakothek.  Wie  ist  hier  das  Stoffliche  des  Pelzes  und  Sammets,  die  Struktur  der 
weichen  rosigen  Haut,  die  eingehende  Detaillierung  bis  auf  den  Bartflaum  im  Gesichte  des  alten 
Mannes  durchgebildet!  Die  ganze  Ausführung  zeugt  von  einer  ausserordentlichen  Subtilität  und 
einer  virtuosen  Pinselführung.  Dabei  ist  der  Eindruck  doch  gross  gesehen  und  durchaus  malerisch 
gefühlt.  Das  Geschlecht  der  Denner  ist  noch  nicht  ausgestorben,  es  blüht  heute  noch.  Kronberger, 
Kricheldorf  und  Schmitz  gehören  zu  diesem  Stamme.  Ihre  Art  und  Weise  erhält  sich,  weil  eine 
bestimmte  Naturanschauung  dahinter  steckt.  Aber  welche  Modifikationen  erlitt  sie  bis  jetzt?  Unsere 
Zeit  vermochte  ja  keine  künstlerische  Tradition  rein  zu  erhalten. 

KRONBERGER  hat  früher  Genrebilder  gemalt,  wie  sie  eben  in  der  Zeit  von  1874  bis  1880 

in  München  vielfach  entstanden.  Friedrich 
Recht  in  seiner  Geschichte  der  Münchener 
Kunst  zählt  ihn  einfach  unter  die  Humoristen 
—  ein  weites  Fach  !  Seinen  früheren  Bildern 
liegt  meist  ein  novellistisches  Sujet  ,  zu 
Grunde,  das  er  mit  fein  beobachteten 
Zügen  auszuschmücken  verstand.  Auch 
ist  das  Milieu,  in  dem  sich  der  Vorgang 
abspielt,  meist  so  glücklich  gewählt,  dass 
seinen  Bildern  nicht  selten  ein  Reiz  inne- 
wohnt, wie  wir  ihn  sonst  nur  bei  Spitz- 
weg gewohnt  sind.  Ein  Bildchen  dieser 
Art,  „Der  zu  spät  entdeckte  Einbruch", 
gibt  die  Schilderung  eines  nächtlicher- 
weile dem  Laden  einer  Putzmamsell  ab- 
gestatteten Besuches.  Ein  anderes  Werk 
stellt  eine  Gerichtsszene  aus  der  Zeit  der 
Patrimonialgerichtsbarkeit  dar.  Es  ist  ein 
altertümlicher  Raum  mit  mächtigem  Ofen, 
davor  die  Anklagebank,  im  Vordergrunde 
das  Auditorium,  hinter  den  Schranken  der 
hohe  Gerichtshof.  Eben  ist  der  Hauptzeuge 
c.  Kn„i/wri/,'r.    Zu  spät  eiitdecktur  Finbnich  aufgerufen  worden,  ein  Moment  der  höchsten 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


71 


C.  Kniiihcim-r.     Politiker 


Spannung  ist  eingetreten,  indem 

derselbe  das  vorgewiesene  cor- 
pus delicti,  einen  derben  Stock, 

als  dem  Angeklagten  zugehörig 

erkennt.  Damit  ist  der  Delin- 
quent,   der  zerknirscht   auf   der 

Ofenbank     neben     dem    Büttel 

sitzt,    überwiesen.      Neben    der 

treffenden  Charakteristik  in  den 

verschiedenen    Typen    und   der 

Komposition  im  ganzen,  welche 

an     die    Sittenbilder     von     En- 

huber    erinnert,    war    es    hier 

bereits     die     äusserst    fleissige 

Durchbildung    des    Details,   die 

auffiel.      Man     erkannte     darin 

schon  den  künftigen  Kleinmaler. 

Die  Schärfe  der  Beobachtung,    die   Realität    in    der  Wiedergabe    des    Stofflichen    und   ein    gewisses 

Zuspitzen    der    Eigentümlichkeiten    der    äusseren    Erscheinung,    alle    diese    Eigenschaften    zeigten 

sich  hier  entwickelt.  Dazu  kam  noch  eine  sichere  exakte  Zeichnung,  sublime  Farbgebung  und 
das  Bestreben  möglichster  Konzentration  der  malerischen  Wirkung.  Alle  Faktoren ,  welche 
die  Kunst  des  Kleinmalers  ausmachen,  waren  somit  gegeben.  Als  Autodidakt  suchte  er  sich  seinen 
Weg  selber  und  durch  unermüdliche  Ausdauer  und  genaue  Einsicht  in  das  künstlerische  Wesen 
seines  Faches  gewann  er  alle  die  wertvollen  Erfahrungen  der  Technik,  die  wir  in  seinen  Bildern 
bewundern.  Er  malt  mit  Vorliebe  auf  kleine  Holztäfelchen,  lässt  sie  jahrelang  lagern,  wie  der 
Liebhaber  Wein  und  Zigarren,  und  präpariert  dann  den  Malgrund  sehr  sorgfältig.  Auch  seine 
Farben  reibt  er  selber  und  versetzt  sie  mit  eigenen  Malmitteln.  Mit  derselben  Gründlichkeit,  mit 
der  er  seine  Vorbereitungen  trifft  und  das  Ganze  fertigstellt,  sucht  er  auch  bei  der  Ausführung  die 
möglichste  Realität  der  Erscheinung  zu  erreichen.  Er  malt  keinen  Strich  ohne  Modell.  Besonders 
liebt  er  schöne  Kostüme,  und  an  diesen  ist  ihm  schlechterdings  alles  interessant,  vom  Hosenknopf 
bis  zur  schöngemusterten  Halsbinde  aus  Seide.  Er  behandelt  mit  demselben  eingehenden  Interesse 
das  Gewebe  eines  Stoffes,  wie  die  Bildung  und  den  Ausdruck  des  Gesichtes.  Seine  Bildchen  geben 
daher  im  wahrsten  Sinne  Charaktertypen,  Bildnisse  von  ganz  bestimmten  Personen,  mit  deren  Art 
er  gut  vertraut  ist.  Meist  gehören  sie  kleinbürgerlichen  oder  bäuerischen  Verhältnissen  an ;  man 
trifft  solche  Gesichter,  wie  sie  Kronberger  malt,  am  häufigsten  in  kleinen  Provinzstädten.  Da  ist 
ein  wohlsituierter  alter  Bauer,  der  behäbig  seinen  Schoppen  trinkt  und  oft  von  Witz  und  Laune 
sprüht,  dort  sieht  man  den  Wirt  zum  „goldenen  Stern"  oder  zum  ,, roten  Ochsen",  der  seine  Pfeife 
schmaucht,  oder  auch  Hochwürden   im  Sammetkäpplein  auf  dem    ergrauten   Haar,   ganz    der   gute 


72 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Hirte  seiner  Gemeinde.  Weil 
diese  glatte  saubere  Malerei 
dem  Auge  so  wohlgefällig  er- 
scheint und  das  Sujet  jeder- 
mann anzieht,  ist  es  wohl  be- 
greiflich, dass  dieses  Fach  viele 
Anhänger  zählt. 

Die    Genremaler    suchen 
das   Leben   von  der  sonnigsten 
Seite  zu  zeigen ;  bei  ihnen  sind 
die  Menschen   zumeist  gesellig, 
liebenswürdig  und  aufgelegt  zu 
harmlosen  Scherzen.  Junge  Bur- 
schen  mit  frischem  keckem  Ge- 
sicht,   schmucke    Mädchen    im 
Sonntagsstaat,   schäkernde  Lie- 
bespaare und    muntere  Kinder- 
gestalten bilden  die  Gesellschaft, 
in    der  sich  ERNST  SCHMITZ 
am  liebsten  bewegt.    Das  Leben 
muss    ihn     in    die    glücklichste 
Laune   versetzen,    denn  er   teilt 
seinen  Bildern  etwas  von  seiner 
eigenen      Stimmung     mit.      Er 
ging   einen    ähnlichen  Weg  wie 
Kronberger  und  malte  Genrebilder  nach  der  bekannten  Münchener  Art;  jetzt  ist  er  fast  ausschliesslich 
als  Kleinmaler  thätig.  In  der  vorjährigen  Glaspalastausstellung  konnte  man  von  ihm  ein  Bildchen  sehen, 
das   eine  muntere  frische  Alte   darstellt   im  Begriff,  ihre  Kaffeeschale  zu  leeren.    Das  Motiv  ist  ein 
wenig  konventionell,  aber  in  seiner  Art   gut  vorgetragen.     Auch  war  es  dem  Maler   nicht    so  sehr 
um    dieses   ansprechende  liebe  Gesicht   zu  thun,    als  um    die  überaus  kostbare  buntfarbige  Tracht. 
Selbst  wenn  er  dem  Ausdruck  des  Gesichtes  alle  Sorgfalt  zuwandte,  konnte  er  doch  seine  Fertigkeit 
daran    nicht  so  hervortreten    lassen,    als   wenn    er  sich    in  der  Ausführung  z.  B.  der  goldgestickten 
Haube  erging.     Diese  hat  er  gleichsam  zu  dem  glänzenden  Mittelpunkte  seiner  Darstellung  gemacht. 
Jeden  Faden  kann  das  mit  der  Lupe  bewaffnete  Auge   verfolgen;    die  Edelsteine,   womit  die  Gold- 
haube besetzt  ist,  sind    in   einen  Kranz  winziger  Perlen  gefasst   und  doch  funkeln    und  schimmern 
sie   in    aller   Pracht.     Ich   glaube,  der  Künstler  ist  wochenlang  bei  der  Ausführung  dieses  Stückes 
thätig  gewesen.     Mit  nicht   geringerem  Fleisse    ist  das    übrige  behandelt,    der  kostbare  Seidenstoff 
des  Mieders  mit  den  herrlichsten  Farben  und  die  schwarzen  Bänder  der  Haube.     Was  ist  mehr  zu 


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C.  K/o)ibcii/cr.     Ein  lustiger  Schwabe 


Ernst  Schmitz  piiix. 


Pliot.  F.  Hjiilstaciigl,  Miiiiclicii 


Die  beiden  Alten 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


73 


bewundern,  die  Kunstfertigkeit  des  Malers  oder  der  täuschende  Anblick,  den  er  durch  seine  Arbeit 
bietet?  Welche  Mühe,  Farbteilchen  um  Farbteilchen  mit  sicherem  Pinsel  auf  die  Leinwand  zu 
setzen!     Die  Hand  muss  dabei  mit  dem  Auge  gehen  wie  bei  einem  guten  Schützen. 

Indem  die  Kleinmaler  so  in  ständigem  Verkehr  mit  der  Natur  ihre  Beobachtungsgabe 
schärften,  mussten  sie  doch  bei  dem  Streben,  dem  Wirklichen  der  Erscheinung  möglichst  nahe 
zu  kommen,    in    der  Form    zugleich    den  Ausdruck    eines    lebendigen  Organismus    empfinden    und 


C.  Kitiiibcijjcr.     Überwiesen  (Aus  der  Zeit  der  Patrinionialgerichte) 


daher  der  formellen  Ausgestaltung  immer  grössere  Sorgfalt  zuwenden;  in  BUCHBlNDER's  Gemälde 
„Ein  Grübler"  spricht  nicht  allein  das  Motiv  als  solches,  vielmehr  ist  es  die  koloristische 
Behandlung  des  ganzen  Raumes,  welche  die  Stimmung  erweckt,  in  die  wir  den  jungen  Gelehrten 
versunken  sehen.  Er  erreicht  dadurch  eine  Wirkung,  die  das  Auge  befriedigt  und  zugleich  die 
Vorstellung  lebhaft  anregt.  Diese  Anschauung  kann  man  als  einen  Übergang  zu  künstlerischer 
Behandlung  von  novellistisch  belebten  Szenen  und  Vorgängen  betrachten,  wie  sie  LÖWITH,  SEILER 

XIV  II 


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und  SIMM,  jeder  in  einer  anderen  Weise,  geben.    Sie  sind  ihrem  Empfinden  nach  Kulturhistorikern 
zu  vergleichen. 

Schauen  wir  uns  einmal  im  Atelier  eines  solchen  Künstlers  um.  Die  Wände  sind  mit  alter- 
tümlicher Vertäfelung  bekleidet,  ein  kostbarer  Gobelin,  Spiegel  in  reichgeschnitzten  vergoldeten 
Rahmen,  ein  prächtiger  Kamin,  Fenster  mit  lichten  runden  Scheiben  vervollständigen  den  reichen 
Eindruck.  Das  Mobiliar  besteht  aus  schmalen  Sophas  mit  geschweiften  Lehnen,  krummbeinigen 
Stühlen  mit  kostbaren  Seidenstoffen  überzogen,  zierlichen  Schränkchen  mit  eingelegter  Arbeit  aus 
Silber  und  Schildpatt  und  Pfeilertischchen  mit  Intarsien.  Darauf  stehen  allerhand  Nippsachen, 
wertvolles  Porzellan  aus  Sevres  und  Meissen,  ein  Planetarium,  Globen  und  Bücher  mit  reich 
verzierten  Einbänden.  Unter  den  Bildern  finden  wir  einige  interessante  alte  Kupfer  oder  gar  einen 
wertvollen  Potter  oder  Watteau.  Ein  Kleinmaler,  der  eine  bestimmte  Epoche  kultiviert,  ist  gewöhnlich 
reich  eingerichtet  und  hat  meist  mehrere  ineinandergehende  Räume  mit  wechselndem  Licht  und 
verschiedener  Ausstattung.  Je  nachdem  er  einen  Vorgang  darstellen  will,  wird  er  gezwungen,  bald 
einfachere,  bald  reichere  Staffage  zu  verwenden.  Er  muss  vor  allem  dem  Studium  des  Interieurs 
die  grösste  Aufmerksamkeit  zuwenden.    Sein  Atelier  gleicht  einer  Bühne,  die  er  wie  ein  geschickter 

Regisseur  nach  Bedürfnis  verändert.  Noch 
schwieriger  ist  es,  die  Räume  mit  Gestalten  zu  er- 
füllen, die  ganz  nach  der  Sitte  und  Mode  eines 
längstvergangenen  Zeitalters  sich  bewegen,  handeln, 
leiden  und  lieben.  Doch  das  allgemein  Mensch- 
liche bleibt  in  allen  Nuancen  des  Ausdrucks  im 
wesentlichen  gleich;  ein  Künstler  mit  starkem 
Empfinden  wird  jeder  Epoche  das  Gepräge  seines 
individuellen  Fühlens  und  Denkens  geben.  Daher 
wird  ihm  auch  eine  vertiefte  Bildung,  ein  weiterer 
Gesichtskreis  zu  gute  kommen.  Er  lebt  gewisser- 
massen  in  einer  aus  den  Resten  einer  längst  ver- 
gangenen Zeit  aufgebauten  Welt.  Wie  der  Ge- 
lehrte in  seiner  Bibliothek  muss  er  die  eingehend- 
sten Detailstudien  machen.  Das  Kostüm,  in  dem 
sich  unsere  Vorfahren  bewegten,  war  nicht  weniger 
reich  und  mannigfaltig  ausstaffiert  als  der  Hausrat. 
Das  Studium  des  Kostüms  ist  für  die  künstler- 
ische Darstellung  eines  längst  entschwundenen 
Zeitalters  unerlässlich,  denn  das  rein  Malerische 
der  Erscheinung  ist  damit  eng  verknüpft.  Die 
reiche  bunte  Tracht  der  früheren  Geschlechter, 
ir.  iMirith.    Skizze  welche  jedem  Individuum  ein   originelles  Gepräge 


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verlieh,  ist  gerade  der  Hauptfaktor,  der  die  Maler  bestimmt,  sich  dieser  oder  jener  Epoche  zuzu- 
wenden. Neben  dem  altmodischen  Hausrat  besitzt  daher  der  Kieinmaler  gewöhnlich  auch  noch 
eine  Kostümsammlung,  die  nicht  minder  merkwürdig  ist. 

Möbel  und  Kleider  haben  ihre  Schicksale;  sie  erzählen  dem  Eingeweihten  ein  Stück  Geschichte. 
In  hohen  Glasschränken  werden  die  Reste  einstiger  stolzer  Pracht  verwahrt.  Hier  das  Prunkgewand 
eines  Höflings  aus  kostbarer  Seide,  dort  das  scharlachrote  Kleid  eines  Kardinals,  dann  das  zoll- 
dicke Lederwams  aus  Elenhaut,  das  einst  ein  schwedischer  Kriegsmann  getragen,  weiter  Uniformen 
einer  bunt  zusammengewürfelten  Soldateska  des   17.  Jahrhunderts,    Hüte,    Kappen,  Stiefel,  Schuhe, 


U'.  Liiwith.    Rcniiniscenzen  (Bildanlage) 


vom  zierlichen  bestickten  Pantoffel  einer  Courtisane  bis  zu  den  schweren  rindsledernen  Kanonen 
eines  Kuriers,  daneben  noch  Strümpfe,  Bänder,  Handschuhe,  Fächer,  Stöcke  u.  s.  w.,  im  ganzen 
ein  kunterbuntes  Durcheinander,  mit  grosser  Mühe  und  vielen  Kosten  aus  aller  Herren  Länder 
zusammengetragen.  Das  meiste  stammt  aus  den  grossen  Weltstädten,  wo  im  mächtigen  Strudel 
des  Lebens  die  merkwürdigsten  Dinge  längst  versunkener  Geschlechter  wieder  an  die  Oberfläche 
emporgetrieben  werden. 

Von  unseren  Künstlern  bewegen  sich  Löwith  und  Seiler,  mit  grösster  Detailkenntnis  ausge- 
rüstet, in  der  Periode  des  Rokoko,  Simm  mit  Anmut  und  Grazie  in  der  Epoche  des  Direktoriums 
und  des  Empire,  ohne  jedoch  ausschliesslich  dieses  Feld  zu  bebauen.    Simm  und  besonders  Seiler 


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nehmen  das  malerisch  Anziehende  überall  auf,  wo  es  sich  findet,  in  der  Gesellschaft,  im  Ballsaale, 
in  Cafes  und  Restaurants.  Sie  wissen  auch  dem  modernen  Menschen  im  Zusammenhange  mit 
stimmungsvollen  Interieurs  malerische  Reize  abzugewinnen. 

LOWITH  ist  vor  allem  in  dem  an  originellen  Erscheinungen  so  reichen  18.  Jahrhundert 
zu  Hause  und  hat  sich  in  diese  Ära  vollständig  eingelebt.  Bald  gibt  er  eine  Gruppe  aus  der 
distinguierten  Gesellschaft,  bald  das  diplomatische  Korps  im  Vorzimmer  eines  allmächtigen  Ministers, 
oder  er  führt  uns  auf  die  Amtsstube  eines  Richters  oder  Advokaten    und  schildert  das  behagliche 

Leben  der  Kleinbürger  in  der  Kneipe.  Besonders 
figurenreiche  Kompositionen  gibt  er  nicht,  mit 
Vorliebe  macht  er  eine  Gruppe,  die  sich  für  irgend 
etwas  lebhaft  interessiert,  zum  Mittelpunkt  des 
Bildes  und  stattet  das  einzelne  mit  fein  beobachte- 
ten, treffenden  Charakterzügen  aus.  Die  Modelle, 
die  er  zu  seinen  Bildern  benützt,  sind  mehr  als 
Statisten ,  mit  ausgewählten  Garderobestücken 
umhängt,  sie  dienen  ihm  nicht  allein  als  Korrektiv, 
er  sucht  mit  feinem  Verständnis  in  ihnen  Typen 
zu  entdecken,  welche  schon  in  ihrer  ganzen  Er- 
scheinung sich  dem  Milieu  anzupassen  vermögen, 
in  das  er  sie  hineinstellt.  Darum  kommen  einem 
auch  seine  Darstellungen  durchaus  natürlich  und 
überzeugend  vor.  Wir  glauben  Menschen  des 
18.  Jahrhunderts  vor  uns  zu  sehen.  „Neue  Send- 
ung" ist  ein  Bildchen  betitelt,  das  Löwith  Ver- 
anlassung gab,  eine  Menge  malerischer  Antiqui- 
täten zu  einem  hübschen  Motiv  zu  arrangieren. 
Da  ist  eine  Kiste  voll  Raritäten  angekommen, 
Harnische,  Vasen,  ziselierte  Platten  und  Prunk- 
gefässe  und  als  das  kostbarste  Stück  die  Marmor- 
statue einer  koketten  Venus.  Die  Liebhaber  und 
Kenner  in  Perücke  und  Kniehose  sind  um  dieses  Werk  versammelt  und  prüfen  und  bewundern 
es  von  allen  Seiten.  „Das  Liebhaberkonzert"  zeigt  uns  in  glücklichster  Weise  die  Stimmung  der 
Zeit,  die  den  Dilettantismus  in  der  Musik  aufblühen  sah.  „Disputation"  heisst  ein  anderes  Werk, 
das  einen  Kardinal  in  seiner  prächtigen  roten  Kleidung  zeigt,  wie  er  mit  gelehrten  Herren  eine 
subtile  Streitfrage  abwickelt.  Auch  hier  ist  der  Vorgang  lebhaft  und  anregend  geschildert  und 
alles  und  jedes  Detail  mit  grosser  Hingebung  und  malerischer  Delikatesse  ausgeführt,  die  Komposition 
wie  bei  einem  grossen  Historienbilde  behandelt;  die  Figuren  sind  geschickt  in  den  Raum  gestellt,  man 
sieht,  dass  die  Luft  dazwischen  spielt.    Die  Verteilung  von  Licht  und  Schatten  ist  im  malerischen 


W.  Löivitti.     Ein  interessantes  Blatt 


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Sinne  sorgfältig  abgewogen,  die  Zeichnung  überaus  bestimmt  und  exakt.  Bei  all  der  liebevollen 
und  eingehenden  Behandlung  des  Details  darf  dieses  doch  nie  störend  hervortreten,  sondern  die 
Eindrücke  müssen  sich  zu  einem  harmonischen  Ganzen  vereinigen.  Löwith's  Bildchen  zeigen  eine 
klare  prächtige  Tonfülle,  und  er  erreicht  mit  seiner  Zusammenstellung  der  Farben  immer  einen 
vollen  Akkord.  Im  kleinen  Rahmen  entfaltet  sich  eine  glänzende  bunte  Welt.  Manchmal  weiss  er 
mit  ein  paar  Tönen,  die  in  reicher  Nuancierung  abgestimmt  sind,  exquisite  koloristische  Wirkungen 
zu  erzielen.  Besonders  pikant  wirken  seine  Skizzen  und  Interieurstudien.  Darin  erkennen  wir  vor- 
züglich den  geschmackvollen  Künstler  und 
brillanten  Techniker.  Bei  solchen  Eigen- 
schaften erscheint  es  uns  ganz  natürlich, 
dass  er  hauptsächlich  die  an  schillernden 
und  glänzenden  Kontrasten  so  reiche  Welt 
des  Rokoko  zu  seiner  Domäne  erwählt  hat. 
Es  ist  sicher  nicht  der  Stoff  allein, 
der  die  Aufmerksamkeit  der  modernen 
Maler  zuerst  auf  die  Periode  des  Rokoko 
lenkte,  wenngleich  bei  Menzel  die  Vorliebe 
für  dieses  Milieu  durch  das  patriotische 
Interesse  an  der  Ära  Friedrichs  des  Grossen 
geweckt  und  durch  die  historische  Richtung 
der  ganzen  Zeit  der  malerische  Esprit 
angeregt  wurde.  Die  Objektivität  und  Zu- 
verlässigkeit seiner  Naturanschauung  über- 
traf an  Sachlichkeit  und  Treue  der  Wieder- 
gabe alles  auf  diesem  Gebiete  bisher  Ge- 
botene. Nicht  zum  wenigsten  ist  es  der 
Nachwirkung  dieser  Methode  zuzuschreiben, 
dass  sich  die  Künstler  in  einer  früheren 
Epoche  so  richtig  und  sicher  bewegen 
lernten  wie  in  der  gegenwärtigen.   Menzel's 

Naturanschauung  ist  in  ihrer  Schärfe  und  ihrem  eindringenden  Studium  des  Details  auch  für  die 
deutsche  Kleinmalerei  von  grossem  Einfluss  gewesen ;  er  hat  den  Blick  für  das  Ansprechende  in 
unserer  nächsten  Umgebung  geschärft  und  dadurch  auch  auf  das  moderne  Leben  hingewiesen. 
Seine  beispiellose  Vielseitigkeit  Hess  ihn  überall,  auf  Schritt  und  Tritt  neue  Motive  finden.  Die 
bürgerliche  Gesellschaft,  das  Militär,  prunkvolle  Feste,  feierliche  Aufzüge,  das  Volk  bei  seiner  Müsse 
und  bei  seiner  Arbeit,  die  Darstellung  von  allerlei  Räumlichkeiten,  die  weiten  Hallen  moderner 
Fabriken  und  die  duftigen  Interieurs  reizvoller  Barockkirchen,  alles  und  jedes  interessiert  ihn  und 
hat   in   ihm  einen  gewandten  Darsteller   gefunden.     Es  ist  klar,    dass   die    mächtigen  Anregungen, 


W.  JJiwil//.     Der  Aufschneider 


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die  von  diesem  Meister  auf  fast  alle  Gebiete  der  Malerei  ausgingen,  vielfach  auf  fruchtbaren  Boden 
fielen   und  ihm  überall  Nachfolger  erstanden. 

Auch  in  der  Kleinmalerei  findet  sich  für  diese  Richtung  ein  Interpret  in  KARL  SEILER. 
Nicht  dass  Menzel  als  solcher  für  ihn  irgendwie  vorbildlich  gewesen  wäre,  Seiler  folgte  dem  all- 
gemeinen Zuge,  den  die  Moderne  nach  dieser  Richtung  nahm.  Doch  lassen  sich  bei  genauerer 
Betrachtung  auch  manche  verwandte  Züge  entdecken,  vor  allem  in  dem  Streben  nach  möglichster 
Objektivität  und  Realität.  Seiler  möchte  die  Erscheinungen  im  Räume  möglichst  präzis  und 
naturgetreu  wiedergeben ;  er  gibt  sich  nicht  mit  blossen  malerischen  Effekten,  die  oft  nur  durch 
zufällige  technische  Manipulationen  entstehen,  zufrieden.  Ausserdem  pflegt  er  auch  nicht  wie  so 
viele  andere  ein  Steckenpferd  zu  reiten  und  ein  beliebtes  Sujet  zu  einer  einträglichen  Domäne 
zu  machen,  sondern  er  ist  so  vielseitig  als  möglich  thätig.  So  ist  es  zu  verstehen,  dass  er  nach 
und  nach  von  Schilderungen  aus  der  Zeit  des  dreissigjährigen  Krieges  zum  Rokoko  und  schliesslich 
zum  modernen  Leben  kam.     Mit  Menzel  teilt  er  auch  die  Vorliebe  für  Friedrich  den  Grossen  und 

er  hat  versucht,  neben  seinem  grossen  Vorgänger 
den  alten  Fritz  mit  seiner  nächsten  Umgebung  in 
einigen  Werken  zu  behandeln,  wie  er  auch  gegen- 
wärtig wieder  mit  einer  Episode  aus  dem  sieben- 
jährigen Kriege  beschäftigt  ist.  Aus  diesem  Be- 
streben heraus  erwuchsen  Bilder  wie:  Friedrich 
der  Grosse  auf  Reisen,  Friedrich  der  Grosse  im 
Walde  von  Parchwitz  u.  s.  w. 

Es  scheint,  dass  man  sich  in  Deutschland 
das  18.  Jahrhundert  ohne  diese  so  bedeutungs- 
volle Figur  nicht  denken  kann.  In  Malerei,  Poesie 
und  Geschichte,  überall  tritt  sie  uns  entgegen. 
Diesem  Kreise  gehören  ausserdem  noch  Schöpf- 
ungen wie  „Episode  aus  der  Verhaftung  Voltaire's 
zu  Frankfurt  a.  M."  und  der  „Vertrag  im  Haag" 
an.  Die  an  interessanten  historischen  Persönlich- 
keiten und  Vorgängen  so  reiche  Zeit  bietet  in 
allen  Schichten  prächtige  Originale.  Was  hat 
z.  B.  nicht  Chodowiecki  alles  geschildert!  Auch 
Seiler  wendet  sich  gern  ähnlichen  Kreisen  zu, 
betreten  wir  mit  ihm  die  Offizin  einer  Apotheke, 
wo  sich  die  kleinbürgerliche  Hautevolee  amüsiert, 
oder  eine  jener  behaglichen  Kneipen,  in  deren 
Atmosphäre  immer  einige  wunderliche  Käuze  ge- 
w.Löwitir    Studie  deihen. 


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Besondere  Sorgfalt  verwendet 
Seiler  auf  die  Behandlung  des  Innen- 
raumes. Die  dämmerigen  Werkstätten 
in  ihrer  malerischen  Stimmung,  die 
modernen  Restaurants  u.  s.  w.  haben  in 
ihm  einen  exakten  Schilderer  gefunden. 
Besonders  scheint  ihn  aber  das  Spiel 
des  Lichtes,  der  Reiz,  der  den  prächtigen 
Räumen  der  Barock-  und  Rokokokirchen 
eigen  ist,  anzuziehen.  Auch  hierin  ist 
er  Menzel  ähnlich.  Mit  eigener  Gründ- 
lichkeit hat  er  dazu  eingehende  architek- 
tonische Studien  gemacht;  zahllos  sind 
die  Farbenskizzen,  die  er  nach  der  Natur 
aufnahm.  Bald  erscheinen  darin  diese 
Räumlichkeiten  sonnig  und  licht,  hell  und 
freundlich,  bald  dämmerig  leuchtend  in 
Glanz  und  Pracht.  Das  Interieur  im 
nächsten  Heft  gibt  eine  Ansicht  aus 
der  Johanniskirche  in  München. 

Schon  bei  seinen  Bildern  aus 
der   Zeit    des    dreissigjährigen     Krieges 

bevorzugt  Seiler  das  Soldatenleben.  Auch  seine  Schilderungen  aus  dem  Leben  Friedrichs  des 
Grossen  gehören  in  dieses  Gebiet.  Und  selbst  in  der  Wiedergabe  des  modernen  Lebens  wird 
Seiler's  Schaffen  am  nachhaltigsten  davon  angeregt.  So  gelang  ihm  mit  dem  Bilde  „Gefährliche 
Situation"  ein  prächtiger  malerischer  Wurf.  Hier  wie  nicht  minder  in  dem  sorgfältig  ausgeführten 
„Im  Repli"  sehen  wir  den  Künstler  auch  mit  den  Problemen  der  Freilichtmalerei  vollkommen  ver- 
traut. Seine  Darstellung  verliert  dabei  nichts  an  Schärfe  und  Deutlichkeit,  er  ist  den  Gefahren  des 
Pleinairismus  entgangen,  sein  Kolorit  ist  nie  kreidig  und  farblos  geworden.  Eine  von  diesen 
seinen  bekanntesten  Leistungen  ist  das  Reiterbildnis  des  Prinzen  Arnulf,  das  auf  der  internationalen 
Ausstellung  1890  im  Glaspalast  mit  der  zweiten  Medaille  ausgezeichnet  wurde.  „Das  Ganze  ist 
seiner  Bestimmung  entsprechend  durch  und  durch  militärisch  gehalten,  die  Einzelheiten  der  Uniform 
sind  mit  unbeschreiblicher  Genauigkeit  studiert  und  ausgeführt.  Und  dabei  fehlt  es  doch  wahrlich 
nicht  an  Luft  in  dem  Bilde;  die  dunkel  gegen  den  lichten  Himmel  abstechende  Reiterfigur  steht 
merkwürdig  plastisch  in  der  feuchtgrauen  Atmosphäre,  die  für  unser  München  und  damit  auch  für 
den  Exerzierplatz  ganz  charakteristisch  ist."  So  urteilt  ein  damaliger  Berichterstatter  über  das 
Werk.  Was  er  hierin  hervorhebt,  die  feine  Behandlung  von  Licht  und  Luft,  ist  auch  heute  noch 
in    Seiler's    Bildern    eine   überaus    schätzenswerte    Eigenschaft.     Er    ist    nie    in    den    gewöhnlichen 


W.  LiiwHli.    Skizze 


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Fehler  der  Kleinmaler  verfallen,  nämlich  durch  die  allzu  tüftelige  Ausführung  des  Details  trocken 
und  hart  zu  werden.  Er  wird  nicht  müde,  gerade  den  atmosphärischen  Erscheinungen  im  Räume 
in  ihrem  Einflüsse  auf  die  Farbgebung  seine  stete  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Ein  jedes  Bild 
zeigt  ihn  mit  neuen  malerischen  Problemen  beschäftigt. 

Wie  sich  Löwith  und  Seiler  in  die  Epoche  des  Rokoko  eingelebt  haben  und  das  längst 
Entschwundene  als  gegenwärtig  vorstellen,  dass  wir  das  Motiv  selbst  lebhaft  mitempfinden,  so  hat 
uns  SIMM  durch  seine  Bilder  das  Empire  wieder  näher  gebracht.  Was  sich  aber  davon  in  all 
seinen  Schöpfungen  wiederspiegelt,  ist  ein  Stück  seiner  persönlichen  liebenswürdigen  Natur.  Keinem 
der  anderen  ist  solche  Anmut  des  Ausdruckes  eigen ;  es  fehlt  nämlich  den  Werken  aller  anderen  die 
Schilderung  des  Weiblichen,  ein  Element,  das  Simm's  Kunst  einen  besonderen  Zauber  verleiht.  All 
den  Werken  wie  „Die  Musikpause",  „Ungelegener  Besuch",  „Unterm  Lindenbaum",  „Besuch  in  der 
Loge"  haftet  der  gleiche  Reiz  an.  Auch  der  radikalste  Gegner  des  Gegenständlichen  wird  zugeben 
müssen,  die  Frauen  und  Mädchen,  wie  sie  Simm  malt,  verdienen  um  ihrer  selbst  willen  dargestellt 
zu  werden. 

Ernst  ist  das  Leben,  heiter  die  Kunst.  Eine  angeborene  Freudigkeit  scheint  das  Schaffen 
des  Künstlers  zu  beseelen;  die  Grazie,  welche  seinen  Bildern  anhaftet,  wirkt  als  der  natürliche 
Ausdruck.  Wer  sein  Atelier  betritt,  weiss  augenblicklich,  hier  hat  die  Wiege  so  vieler  Bilder 
gestanden,  aus  denen  das  gesellschaftliche  und  familiäre  Leben  des  Empire  spricht.  Wohin  der 
Blick  streift,  begegnet  er  bekannten  Dingen,  so  einem  Spinett  mit  eingelegter  Arbeit,  Stühlen  mit 
steifen  oder   geschwungenen    Lehnen;    auf    einem  Tischchen    steht    eine    Pendule   mit    Säulen    von 

Alabaster  oder  auch  eine  Statuette  ä  la  grecque  u.  s.  w. 
Noch  manche  Kästen  sind  mit  Urväterhausrat  voll- 
gestopft. All  diese  mannigfachen  Gegenstände  ge- 
winnen Leben  und  Bedeutung  unter  seinen  Händen. 
Was  vom  Alter  längst  mit  Staub  bedeckt  ist,  lebt 
durch  seinen  Pinsel  zu  neuer  Pracht  auf. 

Simm  versteht  sich  gleich  den  alten  niederländ- 
ischen Kleinmeistern  auf  das  malerische  Arrangement 
des  Interieurs;  er  weiss  die  Lichtquellen  des  Bildes  so 
geschickt  anzubringen,  dass  lebhafte  Kontraste  von  Licht 
und  Schatten  entstehen,  wobei  Möbel,  Stoffe  etc.  in 
Farbe  und  Form  äusserst  ansprechend  wirken.  Zuweilen 
ist  ein  solcher  Gegenstand,  wie  auf  dem  Bilde  „Un- 
gelegener Besuch"  die  seidene  Decke  auf  dem  Schosse 
der  Schönen,  das  Grundmotiv  für  die  farbige  Haltung 
der  ganzen  Umgebung.  In  der  malerischen  Wieder- 
gabe und  Behandlung  von  Stoffen,  besonders  der  in 
c.  Seiler.    Bibliothek  mattem  Glänze  schimmernden  Seide,  ist  Simm  Meister. 


3 

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Auch  bei  dem  „Besuch  in  der  Loge"  ist  der  l<oloristische  Reiz  des  im  Lampenlicht  fest- 
lich erstrahlenden  Raumes  und  der  reichen  Toiletten  für  den  Maler  der  Ausgangspunkt.  Dass  er 
das  Motiv  im  gegenständlichen  Sinne  durch  einen  Vorgang  zu  beleben  wusste,  ist  ein  Ver- 
dienst für  sich. 

Der  Beschauer  wird  auf  diese  Weise  gefesselt  und  angezogen ;  der  malerische  Ausdruck 
muss  sich  aber  immer  mit  dem  Gegenständlichen  decken.  In  Simm's  Bildern  erscheint  das  Ver- 
gangene als  eine  neubeseelte,  lebendig  anmutende  Gegenwart.  Diese  ist  uns  so  vertraut  und 
bekannt,  da  die  Stoffe  zumeist  dem  alltäglichen  Kreise  des  häuslichen  Lebens  entnommen  sind. 
Nicht  selten  führt  er  uns  aber  auch  in  grössere  Gesellschaft,  in  die  Salons  des  Direktoriums  oder  in 


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C.  >iciler.    Hirschpark  bei  N)'iTipiicnburjr 


eine  Soiree  vornehmer  Musikliebhaber.  Das  glänzende  heitere  Bild  einer  solchen,  in  vielfache 
Gruppen  geteilten  Versammlung  bietet  ihm  reichliche  Gelegenheit,  seine  Kunst  in  bestem  Lichte  zu 
zeigen.  Simm  beherrscht  jeden  Stoff  und  jedes  Motiv,  gleichviel,  ob  er  den  Raum  nur  mit  einigen 
Figuren  belebt  und  ein  paar  Töne  aus  der  ganzen  Skala  auswählt,  oder  ob  er  Gestalt  an  Gestalt  zu 
rhythmisch  bewegten  Gruppen  häuft  und  Glanz  und  Fülle  an  Tönen  und  Farben  aus  seiner  Palette 
hervorzaubert.  Sein  Vortrag  ist  leicht  und  fliessend,  seine  Komposition  räumlich  wohl  abgemessen 
und  überlegt  in  allen  Teilen,  das  Spiel  von  Licht  und  Schatten  sorgfältig  abgewogen,  die  Farb- 
gebung zart,  doch  frisch  und  immer  harmonisch.  Trotz  der  Durchbildung  im  kleinen  und  kleinsten 
bleibt  sein  Blick  doch  stets  auf  das  grosse  Ganze  gerichtet,  er  verliert  sich  nicht  in's  Mikroskopische, 
sondern  strebt  immer  auf  breiter  Basis  eine  volle  koloristische  Gesamtstimmung  an.    Die  eingehende 

XIV  12 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Behandlung  des  Details  entspricht  nicht  allein  seiner  malerischen  Auffassung,  es  steckt  vielmehr 
auch  noch  eine  spezielle  zeichnerische  Begabung  dahinter.  Eine  Zeichnung  von  Simm  ist  etvt'as 
ungemein  reizvolles.  Der  scharfe  bestimmte  Strich,  feingefühlte  Umrisse  und  die  satte  Tiefe  und 
Breite  der  Schatten  lassen  den  Stoff  und  die  Farbe  der  Gegenstände  empfinden.  Wenn  man  seine 
sichere  eingehende  Charakteristik,  welche  allen  Gegenständen  die  gleiche  Aufmerksamkeit  zuwendet, 
den  Fleiss  und  die  Geduld  der  Ausführung  in  Betracht  zieht,  dann  ist  er  wohl  den  Kleinmalern 
zuzurechnen;  sonst  aber  hat  er  mit  der  blossen  Emsigkeit  eines  modernen  Gerard  Dou  und  der 
Ausführlichkeit  der  Abkömmlinge  eines  Balthasar  Denner  nicht  viel  gemein,  denn  Simm  hat 
früher  auch  sehr  grosse  Bilder  gemalt.  Seine  frische  thätige  Gestaltungskraft,  die  Beweglichkeit 
seiner  Phantasie  und  die  Leichtigkeit  seiner  kunstgeübten  Hand  befähigten  ihn  in  erster  Linie  für 
eine  Spezialität  moderner  Kunstgattung,  nämlich  zur  Ausführung  eines  Dioramas,  worin  das  Leben 
und  Treiben  in  einem  Harem  geschildert  wurde.  Sein  Aufenthalt  in  Tiflis  im  Kaukasus  bot  ihm 
reichlich  Stoff  zu  derartigen  Studien  und  Skizzen.  Auch  in  diesen  bewundern  wir  vor  allem  die 
Schärfe  und  Feinheit  der  Beobachtung  und  die  Bestimmtheit  und  Sicherheit  in  der  Wiedergabe 
eines  Eindruckes.  Wir  sehen,  dass  er  sich  vermöge  seiner  natürlichen  Anpassungsfähigkeit  auf 
allen  möglichen  Gebieten  der  Malerei  bewegt  hat;  er  ist  im  besten  Sinne  des  Wortes  ein  moderner 

Künstler  und  doch  immer  im  Grunde 
derselbe,  eine  schaffensfreudige  liebens- 
würdige Frohnatur.  Ein  Hauch  davon  ist 
auch  auf  alle  seine  Schöpfungen  über- 
gegangen ;  von  ihnen  strahlt  Licht  und 
Wärme  eines  sonnigen  Daseins  aus  und 
sie  erfreuen  uns  als  vornehmer  Schmuck 
in  harmonischer  Umgebung. 

Mit  einem  Hinweis  auf  KEMENDY's 
Bild  „Der  Feigling",  das  stofflich  dem 
Kreise  der  Kleinmaler  Löwith,  Seiler,  Simm 
angehört,  sei  diese  Richtung  verlassen. 
Sie  wurde  vielfach  ein  Tummelplatz  für 
malerische  Akrobaten  oder  für  unfähige 
Nachtreter,  die  den  Mangel  an  maler- 
ischem Können  vergebens  durch  ein  ge- 
fälliges Sujet  zu  verdecken  suchten.  Nicht 
zum  wenigsten  wurde  dadurch  die  An- 
schauung hervorgerufen,  die  Kleinmalerei 
sei  eine  Kunst,  darin  weniger  malerisches 
Ingenium    als   Sesshaftigkeit    und    Hand- 

C.  Seiler.    Seitenaltar  in  Fürstenteldbruck  werksfleiss    ZUm    Ziele    führen. 


DIt:  KUNST  UNSERER  ZEIT 


83 


Ein  Maler  von  heutzutage 
kann  selten  ganz  in  der  Welt 
seiner  Vorstellung  aufgehen,  er 
muss  sich  mit  seiner  Produktion 
an  ein  grosses  internationales  Pub- 
likum wenden.  Die  Kenner  spüren 
nach  Spezialitäten  und  wissen  sie 
auch  zu  finden;  im  allgemeinen 
hat  aber  ein  Künstler  wenig  Aus- 
sicht, entdeckt  zu  werden,  wenn 
er  nicht  durch  irgend  eine  Eigen- 
heit die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
zu  lenken  weiss.  Daher  ist  der 
Stoff,  das  Motiv  für  die  Ent- 
wicklung der  modernen  Malerei 
von  grosser  Bedeutung  geworden. 
Ein  Kunstsalon  macht  immer  den 
Eindruck  eines  Treibhauses,  in 
dem  aus  verschiedenen  Spezies 
wiederum  neue  Spielarten  ge- 
züchtet werden.  Was  Wunder, 
wenn  die  neuen  Triebe  nach  und 
nach  schwächlicher  und  kraftloser 
werden !  Die  Malerei  früherer 
Zeiten  ist  dagegen  ein  ursprüng- 
liches, üppig  wucherndes  Gewächs.  Sie  erfuhr  nicht  immer  diese  aufmerksame  Pflege  und  Über- 
wachung, man  überliess  sie  ihren  Trieben ;  sie  wuchs  in  voller  Freiheit  auf.  Bildung  und  raffinierte 
Kultur  hatten  sie  noch  nicht  so  verfeinert,  dass  nicht  Natur  in  all  ihren  Regungen  darin  zu  ver- 
spüren wäre.  Eine  gewisse  zudringliche  Stärke  der  Empfindung  spricht  aus  jedem  Bilde  und  jeder 
Eindruck  ist  voll  und  sinnlich.  Das  lyrische  Element  fehlt  durchaus  nicht,  aber  es  beherrscht 
nicht  die  Produktion  in  dem  Masse  wie  heute.  Jeder  Gegenstand  im  Bilde  spricht  durch  Farbe 
und  Form  in  seiner  ganzen  eigentümlichen  Ausdrucksstärke.  Was  für  eine  getreue,  sichere,  deut- 
liche Gegenwart  steht  in  den  Schöpfungen  der  alten  Meister  vor  uns  da!  Sie  sahen  den  Himmel 
in  strahlender  Bläue  erglänzen,  die  Erde  ergrünen  und  blühen ;  mit  echter  Malerfreude  schilderten 
sie  unsere  Vorfahren  in  ihren  farbenprächtigen  Kostümen.  Wenn  wir  auf  unsere  Kleidung  und  das 
gleichförmige  öffentliche  Leben  und  Treiben  sehen,  begreifen  wir  wohl,  warum  so  viele  in  fern- 
abgelegene  Zeiten  fliehen  und  dort  ihre  Stoffe  holen.  Unendlich  viel  haben  die  gelernt,  welche 
verständig   genug   waren,    bei  den    alten  Meistern    in   die  Schule    zu    gehen.     Es   ist   nicht  zu  viel 


C.  Seiler.     Johanniskirche  in  .Münclien 


84 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


behauptet,  wenn  man  sagt,  dass  jeder 
eigenartig  bedeutende  Künstler,  der  zur 
Natur  in  ein  persönliches  Verhältnis  ge- 
treten ist,  diese  durch  die  Brille  der  Alten 
sehen  lernte.  Gerade  in  der  Kleinmalerei 
war  stets  ein  gewisser  Zusammenhang  mit 
der  Tradition  vorhanden,  da  der  Technik 
des  Malens  immer  besondere  Aufmerksam- 
keit zugewendet  werden  musste.  WILHELM 
von  DIEZ  und  EDMUND  HARBURGER 
stehen  auf  den  Schultern  der  Alten  und 
fühlen  doch  lebendig  mit  der  Gegenwart, 
da  sie  wie  wenige  in  ihrem  Ausdrucke 
individuell  sind.  Besonders  ist  Diez  durch- 
aus subjektiv,  kapriziös  und  geistreich  in 
jedem  Pinselstrich.  Er  weiss  allem,  auch 
den  unscheinbarsten  Dingen  malerische 
Qualitäten  abzugewinnen.  Wie  er  aus 
vielen,  unendlich  vielen  Farbflecken  einen 
prächtigen  harmonischen  Gesamteindruck 
entwickelt,  daran  erkennen  wir  am  besten 
seinen  angeborenen  malerischen  Sinn.  Das 
ist  kein  mühsam  zusammengetragenes  Werk, 
wobei  etwa  das  Gegenständliche  das  Ganze 
wie  ein  Reif  das  Fass  zusammenhalten  muss, 
alles  ist  vielmehr  aus  einer  Anschauung 
heraus  entstanden.  Das  Motiv  dient  ihm 
nur  dazu,  seine  koloristischen  Empfindungen  in  allen  Nuancen  spielen  zu  lassen.  Wie  Leibl 
sich  der  Darstellung  des  Landvolkes  zuwandte,  da  er  hier  in  der  Schilderung  ihrer  malerischen 
Tracht  und  Umgebung  den  Reichtum  seiner  Palette  entfalten  konnte,  so  behandelt  Diez  aus  ähn- 
lichem Bedürfnis  heraus  das  Mittelalter.  Bekannt  sind  ja  seine  fahrenden  Gesellen,  Strauchdiebe. 
Marodeure  und  sein  Bettelvolk  aller  Art,  nicht  minder  aber  auch  seine  so  ausgezeichnet  be- 
handelten Pferde.  Hierin  ist  Diez  Spezialist.  Er  malt  das  Pferd  um  der  malerischen  Erscheinung 
willen,  schlecht  und  recht  mit  ausgesprochenen  individuellen  Zügen.  Durch  seine  Kunst  erhalten 
sie  aber  doch  ein  überaus  prächtiges  und  vornehmes  Gepräge.  Wie  Sammet  schimmert  die 
Haut  im  weichen  Glanz  und  Spiel  des  Lichtes.  Diese  Wirkung  ist  eine  Folge  der  technischen 
Feinheit  seiner  Malerei,  die  äusserst  angenehm  auf  das  Auge  wirkt  und  dadurch  sympathische 
Empfindungen  erregt. 


C.  Seiler.     „Ein  Sperling  in  der  Hand  ist  besser 
als  zelin  Tauigen  auf  dem  Dache" 


l'l.ui/,   ^.iinui   jjuix. 


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Besuch  in  der  Loge 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


85 


Diez  hat  auf  dem  Gebiete    der  Kleinmalerei    sicher   anregend   gewirkt,    trotzdem    seine   An- 
schauungen  das  Resultat   einer  eigenartigen   individuellen  Anlage  sind. 

Die  alten  niederländischen  Kleinmeister  malten  mitunter  eine  wenig  distinguierte  Gesellschaft 
in  sehr  obskuren  Räumlichkeiten,  aber  sie  verstanden  es,  aus  diesem  Milieu  heraus  pikante  und  reizvolle 
Stücke  für  das  Auge  des  Liebhabers  zu  schaffen.  Ob  ein  Maler  in  seinen  Motiven  in  abstrakter 
Idealität  sich  ergeht  oder  ob  er  die  Dinge  der  realen  Welt  zum  Vorwurfe  nimmt,  ist  einerlei, 
wenn  er  nur  den  Stoff  dazu  benützt,  reizvolle  Bilder  zu  schaffen.  Der  Gegenstand,  welcher  Art  er  auch 
immer  ist,  wird  durch  die  künstlerische  Gestaltung  geläutert.  Durch  den  Arbeitsprozess  wird  er 
von  allem  nebensächlichen  Beiwerk  und  jeder  Art  von  Zusätzen  befreit  und  in  die  Sphäre  rein 
sachlicher  Anschauung  emporgehoben.  Denn  in  der  Natur  der  Gegenstände  liegt  weder  der  Begriff 
rein  oder  unrein,  schön  oder  hässlich,  anmutig  und  liebenswürdig,  abstossend  und  schrecklich,  erst 
unsere  Empfindung  und  Vorstellung  macht  sie  so  scheinen.  Es  fehlt  in  der  bildenden  Kunst  nicht 
an  Obscönitäten  und  Seltsamkeiten  —  und  doch  lässt  sie  eine  entsprechende  Darstellung  uns  nicht 
in  diesem  Sinne  empfinden,  so  wenig  als  vollkommene  Schönheit  und  seelischer  Reiz  des  Aus- 
druckes beim  ruhigen  Beschauer  eine  andere  als  objektive  Teilnahme  erregt.  Wilhelm  Bode 
erzählt  in  seinem  Buche  „Goethe's  Ästhetik"  eine  charakteristische  Geschichte:  „An  einem  kalten 
Wintermorgen  1803  trat  ein  schöner  und  liebenswürdiger  Jüngling  in  die  weimarische  Samm- 
lung, noch  ehe  die  Zimmer  geheizt  waren.  Von  allen 
Bildern  zog  ihn  die  Caritas  von  Lionardo  da  Vinci 
in  einer  vortrefflichen  Kopie  von  Riepenhausen  am 
stärksten  an.  Die  süsse  Traurigkeit  des  Mundes,  das 
Schmachtende  der  Augen,  die  sanfte,  gleichsam  bittende 
Neigung  des  Hauptes  sprachen  zu  ihm.  Der  Jüngling 
schaute  sich  um:  er  war  allein  mit  dem  Bilde!  Und 
da  konnte  er  sich  nicht  enthalten,  einen  Kuss  auf  das 
Glas  des  Rahmens  zu  drücken,  gerade  über  den  süssen 
Mund  der  Caritas!     Es  sah  ja  niemand!" 

Das  Gegenständliche  soll  uns  anziehen  und  in- 
teressieren, aber  nicht  irritieren  und  Illusionen  erwecken, 
die  von  der  realen  künstlerischen  Erscheinung  des  Ge- 
mäldes, von  seinen  Farbharmonien  und  sonstigen  Vor- 
zügen ablenken.  Zeigt  sich  eine  vertraute  bekannte 
Welt  im  Bilde,  so  ist  das  ein  grosser  Vorteil,  weil  sich 
der  Beschauer  viel  rascher  in  das  Kunstwerk  einfühlt. 
Darin  waren  besonders  die  Niederländer  Meister,  bei 
denen  wir  auch  viel  Derbes   und  Alltägliches    finden. 

Vor  allem  verstand  es  Adriaen  Brouwer,  aus 
dem    Leben    des    niederen    Volkes ,    wie    es    sich    in  Franz  Sinmi.    Bildnis  meiner  jüngsten 


86 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


öffentlichen  Schenken  und  Herbergen  abspielte,  viel  ergötzliche  Motive  für  die  Malerei  heraus- 
zugreifen. Aber  obwohl  er,  eine  subjektiv  empfindende  temperamentvolle  Natur,  an  den  Vorgängen 
selbst  Anteil  genommen  zu  haben  scheint,  lässt  er  doch  die  Trivialität  derselben  vollständig  ver- 
gessen durch  seine  malerisch  so  ausserordentlich  geistreiche  Schilderung.  Sein  Genie  gestaltet 
selbst  Szenen  wie  jene,  da  der  Vater  sich  um  sein  Kind  bemüht  in  Geschäften,  die  man  sonst  willig 
Kinderfrauen  und  Mägden  überlässt,  zu  einem  malerischen  Sujet  ersten  Ranges.  Groteske  Gestalten 
sind  in  seinen  Bildern  genug  enthalten,  und  doch  vermitteln  sie  immer  die  reinen  Freuden,  die 
einem    aus    der   beschaulichen  Betrachtung  von  Kunstwerken  erstehen.     Wir  fühlen  augenblicklich, 

welche  Lust  am  Malen  ihn  erfüllt  hat,  wie  sein  un- 
gewöhnliches Genie  sofort  das  Künstlerische  in  jedem 
Vorwurfe  hervortreten  lässt.  Sehen,  Vorstellen  und 
Gestalten  ist  bei  ihm  ein  einheitlicher  Prozess,  daher 
wirken  seine  Bilder  so  unmittelbar.  Brouwer  ist 
der  freieste  Künstler  im  rein  malerischen  Ausdrucke. 
Es  ist  ganz  natürlich,  dass  man  in  der  Zeit,  wo 
die  Malerei  sich  mit  Eifer  koloristischen  Bestreb- 
ungen zuwandte,  auf  diesen  Meister  wie  überhaupt 
auf  die   Niederländer  zurückging. 

Auch  EDMUND  HARBURGER  hat  sie  fleissig 
studiert.  Das  Milieu,  das  er  in  seinen  Darstell- 
ungen bevorzugt,  ist  ein  ähnliches.  Allein  er 
empfindet  als  ein  moderner  Mensch  mit  kühler 
Objektivität  und  sachlicher  Schärfe  der  Beobachtung. 
„Wenn  man  die  Wirtshausbilder,  die  Raufer,  Trinker 
und  Würfler,  die  Bauerntänze  und  Schlägereien 
Brouwer's,  Ostade's  und  Teniers'  betrachtet,  wird 
man  das  Gefühl  nicht  los,  dass  ihre  Maler  auch 
zugleich  mitzechende  und  mitwirkende  Personen  in 
diesen  burlesken  Szenen  gewesen  sind,  und  die 
Chronisten  der  holländischen  Kunst  haben  auch  diese  Empfindung  zum  Nachteil  ihrer  malenden 
Helden  weidlich  ausgebeutet.  Vor  ähnlichen  Bildern  Harburger's  hingegen,  vor  seinen  einsamen 
und  Gesellschaftstrinkern,  vor  seinen  Rauchern  und  Kartenspielern,  vor  seinen  Bierverzapfern  und 
Weinschenken  nimmt  man  wahr,  dass  der  Maler  mit  kühler  Gelassenheit  und  mit  unbeeinflusster 
Aufnahmefähigkeit  über  seinen  Modellen  stand.  Wenn  ihn  bei  seinen  Studien  eine  Leidenschaft 
beseelt  hat,  so  war  es  die,  alle  Linien,  Fältchen,  Runzeln  und  Warzen  der  Haut,  welche  durch 
das  jeweilige  Mienenspiel  seiner  Originale  in  Bewegung  gesetzt  werden,  mit  peinlicher  Sorgfalt  auch 
auf  die  gemalten  Abbilder  zu  übertragen.  In  diesem  Bestreben  spitzt  sich  sein  Pinsel  fast  zu  der 
Feinheit  des  Zeichenstiftes  zu,   und  hier  kam  ihm  die  grosse  Übung  zu  statten,   welche  er  sich  im 


Franz  Siiinii.     Studie  zu  einer  Illustration 
für  die  „Fliegenden  Blätter* 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


87 


^ 


x': 


Franz  St'iini/.     Studie 


Zeichnen  angeeignet  hatte."  Der  Zeichner  Harburger  ist  nicht 
zum  wenigsten  durch  die  grosse  Verbreitung  der  „Fliegenden 
Blätter"  weitum  bekannt  geworden.  Man  kennt  seinen  Strich, 
seinen  scharfen  Blick  für  das  Charakteristische  einer  Erscheinung. 
Er  gibt  den  malerischen  Eindruck  mit  aller  Frische  wieder;  das 
Detail  ist  ungemein  stofflich  gefühlt  und  die  eigenartige  Struktur 
der  Haut,  Haare  und  Gewandung  sind  trefflich  behandelt.  Man 
sehe  daraufhin  nur  den  Studienkopf  des  alten  Mannes  mit  dem 
Cylinder  an,  oder  die  beiden  Arbeiter,  von  denen  der  eine  heftig 
auf  den  anderen  einredet.  Er  führt  solche  Zeichnungen  meist 
mit  Kohle  aus.  Dieses  Verfahren  entspricht  am  besten  seiner 
Anschauung,  die  im  Grund  immer  die  malerische  Erscheinung 
festhält.  Gewandt  und  sicher  zeichnet  er  das  Wesentliche  schon 
durch  einen  leichten  Umriss.  Die  Studie  eines  Mannes,  der  auf- 
merksam durch  seine  Brille  äugt,  lässt  die  Lebendigkeit  seiner  Beobachtung  und  die  Treffsicherheit 
seiner  Hand  bewundern.  In  der  feingefühlten  Kontur  zeigt  sich  auch  sein  entwickeltes  Formgefühl. 
Als  erfahrener  Zeichner  weiss  er,  welche  Bedeutung  der  Umrisslinie  zukommt,  da  sie  allein 
einen  lebensvollen  Eindruck  vermittelt.  Harburger  begnügt  sich 
oft  mit  einfachen  Notizen,  versteht  aber  trefflich,  alle  Besonder- 
heiten in  Haar-  und  Barttracht,  Schnitt  der  Kleidung  und  Art 
der  Kopfbedeckung  anzudeuten.  Dabei  betont  er  das  Originelle 
der  äusseren  Erscheinung  ziemlich  stark,  und  durch  dieses  be- 
stimmte Hervorheben  eigentümlicher  Züge  erreicht  er  jene  Wirk- 
ung, die  wir  eine  humoristische  nennen.  Vergleichsweise  sehe 
man  daraufhin  nur  die  beiden  Zeichnungen  mit  den  scheltenden 
Bauern  und  den  disputierenden  Arbeitern  an.  Die  Schärfe  der 
Beobachtung  ist  in  seinen  Ölbildern,  die  in   rascher  Folge  neben  / 

seinen  Zeichnungen  entstehen,  zu  einem  fast  lyrischen  Ausdruck 
gemildert.     Der    Künstler,  der    so    pointiert    zu    charakterisieren 
versteht,  liebt  es,   in  feingefühlten  Stimmungsbildern  sich  zu  er- y 
gehen,  in   „Sorgenvoll"  und   „Stilles  Glück"   dient  ihm  die  Dar- 
stellung des  Raumes  als  Ausdruck  seiner  Empfindungen. 

Wir  glauben,  die  Stube  der  alten  Frau,  die  in  Leid  ver- 
sunken in  ihrem  Sorgenstuhl  sitzt,  habe  Anteil  an  ihrer  Betrübnis 
und  ihrem  Kummer.  Fahles  Licht  durchzittert  das  kahle  nüch- 
terne Gemach.  Ganz  andere  Gefühle  erweckt  das  Spiel  von 
Licht  und  Schatten  in  dem  „Stilles  Glück"  benannten  Gemälde.  Fmiiz  Siinw.    Studie  zu  dem  Bilde 

, Musikpause' 

In  diesen  beiden  Stücken  erweist  sich  Harburger  als  ein  Meister  (Veriag  von  Kranz  Hanistacngi,  München) 


88 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


in  der  Schilderung  dämmeriger  Innenräume. 
Das  Licht  dringt  nur  durch  kleine  niedrige 
Fenster  herein,  wird  durch  den  verschieden- 
artig abgeteilten  Raum  vielfach  gebrochen 
und  umwebt  jeden  Gegenstand  wie  ein 
feiner  duftiger  Schleier.  Lichtschwingungen 
in  allen  Abstufungen  und  Nuancen  von  fast 
farblosen  kühlen  grauen  Tönen  bis  zu  den 
intensiven  Färbungen  des  Helldunkels  lässt 
er  in  seinen  Bildern  spielen.  Kein  greller 
Lichtstrahl,  keine  undurchsichtigen  dunklen 
Schatten ,  keine  gleissenden  prangenden 
Farben,  überhaupt  keine  starken  Kontraste 
und  effektvollen  Wirkungen,  immer  nur  ein 
weicher  angenehmer  Akkord  von  zart  ab- 
gestimmten Tönen  umschmeichelt  das  Auge. 
Eine  behagliche  wohlige  Atmosphäre 
durchweht  die  Kneipen,  Keller  und  Wirt- 
schaften, in  denen  die  bekannten  Gestalten 
öfters  auftauchen.  Da  sitzt  z.  B.  in  einem 
dumpfen  Keller,  eingekeilt  zwischen  zwei 
mächtigen  Fässern,  ein  feister  Mann,  dem  stillen  Suff  ergeben.  Hier  ist  alles  vertreten,  was  einem 
bayerischen  Bierkeller  seine  ausgesprochene,  eigenartige  Physiognomie  gibt.  Ebenso  vertraut  ist 
Harburger  mit  dem  gesamten  Inventar.  Er  schildert  mit  Vorliebe  Räumlichkeiten  mit  primitiver 
Ausstattung,  so  die  bekannten  langen  Bänke,  auf  denen  die  ziemlich  Angeheiterten  immer  näher 
der  Ecke  zu  rücken.  Es  finden  sich  auch  die  massiven  eichenen  Tische,  mit  breiten  Fussleisten 
versehen,  und  die  charakteristischen  dreibeinigen  Stühle,  die  bei  schweren  Raufereien  oft  eine 
bedeutsame  Rolle  spielen.  Das  ist  im  allgemeinen  der  immer  wiederkehrende  Hintergrund,  die  Bühne, 
auf  der  die  dicken  Wirte,  beschaulich  veranlagte  Schenkkellner,  dralle  Kellnerinnen,  die  stillen  und 
lauten  Zecher,  politisierende  Handwerker  oder  Bauern  in  bunter  Abwechslung  auftreten. 

Neben  dem  rein  Koloristischen  interessiert  dabei  auch  das  Gegenständliche;  es  erscheint 
als  das  Medium,  durch  das  der  malerische  Eindruck  spricht.  In  Harburger's  Schöpfungen  ist  es  nicht 
gerade  die  Unmittelbarkeit  des  Ausdruckes,  wie  sie  geradezu  packend  in  Brouwer's  Bildern  hervor- 
tritt, so  dass  auf  den  naiven  Beschauer  der  Inhalt  stärker  wirkt  als  die  Form,  sondern  hier  ist  es 
das  feinentwickelte  malerische  Problem,  in  dem  der  Inhalt  ohne  Rest  aufgeht.  Der  Stoff  durch- 
dringt das  Ganze,  geradeso  wie  ein  Stück  Zucker  ein  Glas  Wasser.  Es  ist  eine  Harmonie,  eine 
Einheit,  was  sich  dem  Auge  darstellt:  ein  behaglicher  Schlemmer  beim  vollen  Kruge,  ein  alter 
Schäker  und  eine  lustige  Dirne,  ein   verkommenes  Subjekt,    morsch  und  mürbe  in  seinem  ganzen 


Franz  Slinui.     Porträtstudie 


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DIE  KUNST  UNSERl-R  ZEIT 


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K.  Harhiirijcr.     Skizze 


Äussern,  ein  Schankwirt  neben  dem  Fasse  u.  s.  w.  Man 
hat  bei  Harburger  in  einzelnen  Besprechungen  auch  vorzüg- 
licli  auf  das  psychologische  Moment  in  seinen  Darstellungen 
hingewiesen  und  gesagt,  er  wäre  ein  Humorist.  Georg 
Fuchs  hat  darüber  in  der  allgemeinen  Kunstchronik  in 
einem  Aufsatz  ausgeführt:  „Von  den  drei  grossen  Humoristen 
der  Gegenwart  ist  Harburger  bei  weitem  der  ernsteste. 
Rascher  wie  bei  Wilhelm  Busch  und  Oberländer  folgt  bei 
der  Betrachtung  seiner  Produktion  auf  die  überraschende 
Heiterkeit  des  ersten  Eindruckes  eine  seltsam  ernste  Be- 
wegtheit. Wohl  sind  sie  alle  komisch,  diese  dummpfiffigen 
Bauernschädel,  diese  Protzenfratzen  und  verschmissenen  Bier- 
studenten, diese  seichten  Modefexen  und  frechen  Stromer, 
diese  sarkastischen  „Pfälzer  Krischer"  und  diese  gemüt- 
lichen „Weinschnutten"  ;  wohl  geben  sie  uns  Grund  zum 
Lachen,  wenn  der  Künstler  sie  in  ihrer  Wahrheit  aus  dem 
Strome  der  raschflutenden  Erscheinung  emporhebt.  Sie 
wirken  komisch,  weil  wir  sie  für  sich  erblicken,  ausgelöst 
aus  der  Verkettung  der  bedingenden  Kräfte  und  ihrer  Weiterwirkungen,  weil  sie  uns  unvermittelt, 
plötzlich,  ganz  ohne  verwischenden  Kommentar,  ohne  ablenkende  Umgebung  vor  Augen  stehen." 
Fuchs  sucht  an  der  Hand  der  Schopenhauer'schen  Definition  des  Humors  den  Nachweis 
zu  bringen,  dass  auch  Harburger's 
Humor  einer  tiefernsten  Betrachtung 
entspringe.  Damit  lässt  sich  wohl  das 
subjektive  Element  bei  ihm  erklären, 
nicht  aber  das  objektive  der  künstler- 
ischen  Darstellung. 

Um  darauf  hinzuweisen,  muss 
man  den  Zeichner  Harburger  mit  Ober- 
länder und  Steub  vergleichen.  Man 
wird  dann,  wenn  es  überhaupt  möglich 
ist,  zu  einem  viel  eingehenderen  Ver- 
ständnisse des  Humors  in  der  bildenden 
Kunst  gelangen. 

Kehren  wir  zu  dem  Maler  Har- 
burger zurück,  der  in  seinem  Schaffen 
Schenken  und  allerhand  obskure  Räume 
bevorzugt ,     da    er    hier     die     seinem  K-  Unihnni,,-.   Skizze 


XIV  13 


90 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


E.  Harhii I- jie r .     Skizze 


Geschmacke  zusagenden  malerischen  Qualitäten  findet.  Und 
wenn  auch  in  seinen  Bildern  vielfach  ähnliche  Sujets  wieder- 
kehren, wie  sie  die  alten  Niederländer  zur  Darstellung  an- 
geregt haben ,  die  es  vorzüglich  verstanden,  aus  dem 
Kompost  einer  faulen  Gesellschaft  die  delikatesten  Spargeln 
für  die  Gourmands  zu  ziehen,  so  erscheint  bei  ihm  doch 
alles  von  einem  ganz  anderen  Standpunkt  aus  betrachtet. 
Technisch  sind  seine  Bilder  bis  aufs  äusserste  vollendet ; 
nirgends  zeigt  sich  dem  Auge  ein  toter  Punkt,  die  ganze 
Malfläche  ist  durch  das  Spiel  von  Licht  und  Schatten  und 
den  zarten  Reiz  der  Farbe  belebt.  Nirgends  wirkt  sie 
materiell  und  schwer;  es  ist  vielmehr  eine  mit  feinfühliger 
Empfindung  durchgeführte  Harmonie  von  Tönen  in  allen 
Nuancen  und  Abstufungen.  Er  ist  ein  Meister  in  der  Ver- 
wendung von  kühlem  Grau,  gebrochenem  Weiss  und 
leuchtendem  durchsättigtem  Schwarz;  seine  Skala  ist  nicht 
reich,  aber  immer  vornehm  und  er  versteht  sie  trefflich  zu 
spielen.  Ebenso  ist  der  Schauplatz,  auf  dem  Harburger  seine 
bekannten  Gestalten  vorführt,  ein  kleines  Stück  Welt  aus  dem  gewöhnlichen  Leben,  allein  er  weiss 
jede  Situation  anziehend  und  frisch  zu  gestalten,  das  triviale  Alltägliche  ersteht  in  seiner  Kunst 
zu  immer  neuem  und  verjüngtem  Dasein. 

Es  lässt  sich  leicht  nachweisen,  dass  die  Kleinmalerei  im  grossen  Ganzen  stofflich  und 
inhaltlich  nicht  allzuweit  über  die  durch  die  Tradition  gewiesenen  Wege  hinausgegangen  ist; 
vielleicht  am  ehesten  ist  sie  in  den  kleinen  Kabinettstücken  der  Landschaftsmalerei  an  neuere 
Probleme  herangetreten.  Zwar  hat  schon  Wouwerman  Ansichten  des  flachen  Landes  gemalt  und 
sie  mit  allerlei  koloristisch  reizvollen  Staffagen  belebt.  Auch 
hier  sehen  wir  zuweilen  einen  Kriegsmann  vor  der  Schenke, 
Fuhrleute,  Pferde  u.  s.  w.  Und  was  hat  auf  diesem  Gebiete 
nicht  auch  schon  der  alte  Pieter  Brueghel  gemalt! 

ROBERT  SCHLEICH  ist,  angeregt  durch  Wilhelm  von 
Diez,  im  Verlaufe  seiner  malerischen  Entwicklung  folgerichtig 
von  den  alten  Niederländern  ausgegangen ;  er  hat  sich 
aber  auch  ebenso  gut  die  Resultate  der  modernen  Freilicht- 
malerei zu  Nutzen  gemacht.  Allein  er  hat  nicht  bloss 
experimentiert,  was  viele  für  die  Hauptsache  halten,  sondern 
wenn  er  als  ein  begabter  Landschaftsmaler  den  atmos- 
phärischen Erscheinungen  gespannte  Aufmerksamkeit  zu- 
wendet,    so    thut    er    dies    mit    dem    geübten    Auge    des 


"Sj 


K.  Ilciihidner.     Skizze 


E.  Harbxrgcr.     Vier  Skizzen  und  eine  Zeiciiniing  aus  den  .Fliegenden  Blättern" 


92 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT 


E.  Jliirliitruer.     Selbstbikinis 


erfahrenen  Künstlers,  der  fleissig  Ein- 
drücke in  der  Natur  sammelt,  um  sich 
mit  um  so  grösserer  Freiheit  dennoch 
von  seiner  eigenen  Vorstellung  leiten  zu 
lassen;  er  benützt  die  Natur  nur  als 
Korrektiv.  Im  übrigen  erfindet  er  seine 
Landschaften  oder  reproduziert  und  ge- 
staltet vielmehr  das  irgendwo  gesehene 
und  empfangene  Eindrucksbild.  Trotz- 
dem ist  in  seinen  Bildchen,  die  so  frisch 
und  unmittelbar  wirken,  vielleicht  kein 
Strich  im  Freien  gemalt  und  dennoch 
z.  B.  der  Charakter  der  Hochebene  mit 
ihren  eigentümlichen  Luftströmungen  und 
Wolkenbildungen,  sowie  das  Terrain  und 
die  Vegetation  durchaus  richtig  be- 
obachtet und  geschildert.  Es  liegen  eben 
diesem  Schaffen  sorgfältige  Studien  und 
stets  erneute  Beobachtungen  zu  Grunde. 
Man  merkt  es  seinen  Arbeiten  an,  dass 
der  Maler  stets  Fühlung  mit  der  Natur 
behält.  In  der  That  durchzieht  er  als 
Jäger  bei  Wind  und  Wetter,  bei  Regen 
und  Sonnenschein  das  Land.  Einer 
seiner    bekanntesten  Vorwürfe  zeigt  eine 


Ebene;  weit  schweift  der  Blick  über  die  im  bläulichen  Duft 
verschwimmende  Ferne.  Am  Horizont  sieht  man  den  auf- 
ragenden Kirchturm  oder  etliche  weissgetünchte  Giebel  einer 
Ortschaft.  Sengende  Hitze  brütet  über  der  weiten  Fläche. 
Es  ist  die  Zeit  der  Heuernte,  fleissige  Hände  rühren  sich. 
Hoch  beladen  steht  der  Wagen.  Unterdessen  haben  sich 
bleifarbene  Wolken  am  Horizont  aufgetürmt,  ein  Gewitter 
ist  im  Anzug.  Schleich  ist  durch  dieses  Motiv  bekannt  ge- 
worden und  er  hat  es  ungezählte  Male  in  immer  neuen 
Variationen  gemalt.  Seine  leichte ,  geübte  Hand  lassen  be- 
sonders die  beiden  hier  als  Illustration  beigegebenen  01- 
studien  erkennen;   sie  wirken  wie  geistreiche  Improvisationen. 

*         ^         * 


K.  Jfii  rhu  liier.     Aus  den  .Fliegenden  Blättern" 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


93 


Resümieren  wir  zum  Schluss  die  An- 
schauungsweise der  Kleinmalerei  nochmals 
kurz,  so  finden  wir,  dass  sie  sich  in  ihren 
konsequenten  Vertretern  zu  einer  positiv- 
istischen Wiedergabe  der  Eindrücke  bekennt. 
Sie  will  die  Natur  so  getreu  wie  möglich 
darstellen ,  überhaupt  den  Anschein  des 
Wirklichen  erwecken;  reine  Nachahm- 
ung ist  ihr  Ziel.  An  der  Hand  der  Objekte 
sucht  der  Maler  den  Gegenstand  mit  aller 
Ausführlichkeit  wiederzugeben  —  er  imitiert 
ihn  sozusagen.  Vorzugsweise  beschäftigen 
ihn  Vorwürfe  der  unbelebten  Natur;  er  stellt 
Geräte,  Gefässe  u.  a.  m.  zu  Stilleben  zu- 
sammen. Ist  es  der  Reiz  der  malerischen 
Erscheinung,  die  ihn  dabei  fesselt,  so  sind 
es  nicht  weniger  auch  die  interessanten 
Details,  die  seinen  Fleiss  zu  möglichster 
Naturtreue  anspornen.  Das  gewissenhafte 
Eingehen  auf  das  Kleine  und  Kleinste  ent- 
springt der    Nahbetrachtung,    die   auf    jede 

Impression  verzichtet;  der  Kleinmaler  sieht  scharf  und  betont  die  Einzelheiten,  er  beabsichtigt 
mehr  sein  Objekt  zu  beschreiben,  als  einen  allgemeinen  malerischen  Eindruck  davon  zu  geben. 
Nicht  selten  sehen  wir,  dass  er  es  mit  stereoskopischer  Schärfe  und  Genauigkeit  darstellt.  Bei  solch 
intensiver  Beobachtung  und  solch  fleissigem  Studium  entwickelt  sich  naturgemäss  eine  künstler- 
ische Anschauung,  welche  darauf  ausgeht,  die  eigentümlichen  Merkmale  jeder  Erscheinung  in  ihrer 

vollen  optischen  Stärke  festzuhalten.  Wenn  sich  diese 
Betrachtungsweise  vorzüglich  der  Darstellung  des 
Menschen  in  allen  möglichen  Situationen  und  Zu- 
ständen zuwendet,  so  entwickelt  sich  im  Maler  der 
Charakteristiker.  Kronberger's  Kunst  bietet  ein 
Beispiel  hiefür.  Die  Darstellung  kann  sich  darauf 
beschränken,  gewisse  Äusserüchkeiten,  originale  Züge, 
z.  B.  in  der  Bewegung  und  in  der  Formbildung  des 
Individuums  oder  auch  in  der  Kleidung  festzuhalten. 
Ist  der  Künstler  nur  nach  dieser  Seite  hin  veranlagt, 
so  besteht  die  Gefahr  für  ihn,  sich  in  seinen  Motiven 
/•;.  iiarimriivr.    Aus  den  „Fliegenden  Blättern"  ZU  wiederholen  Und  in  Manier  zu  verfallen.     Bei  aus- 


lioh.  Schleich.     Ülstudie 


94 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


gedehnterem  Beobachtungsgebiet  und  bei  tiefer  gehender  Charakterisierung  wird  sich  der  Kleinmaler 
nicht  nur  auf  vereinzelte  Erscheinungen  beschränken,  sondern  sein  Interesse  einem  grösseren  Kreise 
zuwenden  und  in  der  Schilderung  des  gesellschaftlichen  und  öffentlichen  Lehens  seiner  eigenen 
Zeit  oder  auch  einer  entfernteren  Periode  Stoff  zu  neuen  Aufgaben  finden.  Beim  Studium  eines 
reicheren  Milieus  ergibt  sich  leicht  Anlass  zur  Erfindung  koloristisch  reizvoller  Szenerien,  in  denen 
sich  bei  umfassender  Welt-  und  Menschenkenntnis  zugleich  eine  Menge  feinpointierter  hervor- 
stechender Züge    anbringen    lässt.     Auf    diese  Weise  entsteht  das    novellistische  Genre. 

Simm,  Seiler  und  Löwith  bewegen  sich  darin  mit  Grazie  und  Anmut.  Mit  Kenntnis  und 
Geschick  weiss  der  künstlerische  Esprit  interessante  und  anziehende  Sujets  koloristisch  einnehmend 
und    fesselnd    zu    gestalten.      Wieviel    nach    dieser    Richtung   hin    Einflüsse    auswärtiger   berühmter 


Roh.  Schleich.     Markt  in  Erding 


Maler,  wie  Meissonier  u.  a.  m.,  und  von  den  einheimischen  Spitzweg  und  Wilhelm  von  Diez  ver- 
mittelt haben,  ist  gar  nicht  abzusehen.  Aber  auch  den  obengenannten  gebührt  das  entschiedene 
Verdienst,  das  Stoffgebiet  der  Kleinmalerei  um  neue  originale  Züge  bereichert  zu  haben. 

Wenn  nun  bei  der  Gabe  eindringender  Beobachtung  und  bei  scharfem  Charakterisierungs- 
vermögen eine  ganz  eigenartige  individuelle  Anschauungsweise  sozusagen  zwischen  den  Gegenstand 
und  eine  nüchterne  Objektivität  tritt,  so  entsteht  nicht  selten  ein  Produkt,  das  wir  ein  humoristisches 
nennen.  Insofern  als  andauernde  Konzentration,  tieferes  Studium  des  Objektes  und  Neigung  zu 
allzu  positivistischer  Wiedergabe  des  Gesehenen  mit  der  Vorstellungs-  und  Darstellungsweise  des 
Kleinmalers  zusammenfällt,  darf  man  die  humoristische  Darstellung  auch  dem  Gebiete  der  Klein- 
malerei zuweisen,  obwohl  sie  durch  ihre  Naivität  und  Tiefe  der  Empfindung  und  die  Simplizität 
des  Ausdruckes  darüber  hinausgeht. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


95 


Die  Abkunft    der  Kleinmaler   von  den  mittelalterlichen  Kalligraphen  und  Miniaturmalern  ist 
in   den  Feinmalern  des  Rokoko  noch  recht  deutlich  zu  erkennen;  sie  haben  unnachahmliche  Meister- 


Riih.  Schleich.     Markttag  in  einem  oberbayrischen  Gebirgsdorf 

werke  von  seltener  Harmonie  und  eigenartigem  Schmelz  der  Farbe  geschaffen.  Bis  zu  dieser  Periode  hat 
die  Kleinmalerei  an  ihren  technischen  Überlieferungen  festgehalten  und  ihre  Meisterschaft  in  einer  aufs 


h'iib.  Schlüicli.     Vor  dem  Wirtsiiaus 


höchste  verfeinerten  technischen  Virtuosität  gesehen.    Zu  Anfang  des   19.  Jahrhunderts,  als  man  die 
Tradition  nahezu  vergessen  hatte,  waren  es  fast  ausschliesslich  Kleinmaler,  welche  die  ganze  Technik 


96 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


bewahrten  und  beherrschten.  Auch  ihnen  boten  zunächst  die  niederländischen  Meisterwerl<e  eine 
bekömmliche  Nahrung. 

Man  liebt  es  in  der  Zunft,  die  Kleinmalerei  hintan  zu  stellen.  Aber  wir  brauchen  nach  all 
den  Ausführungen  wohl  nicht  zu  wiederholen,  dass  dieser  Kunstzweig  mit  jedem  anderen  einen 
Vergleich  aushalten  kann. 

Der  Kleinmaler  darf  mit  dem  Dichter  sagen:  „Mein  Glas  ist  nicht  gross,  aber  ich  trinke 
doch  aus  meinem  eigenen  Glase". 


Ruh.  Sclileicli.     Olstudie 


Cesare  Laurenti 

VON 

L.  BROSCH. 

Ben  aus  aller  Herren  Ländern  über  die  Alpen  gekommenen  Fremden,  der  von  Italiens  tief- 
blauem Himmel  träumend,  ihn  nicht  immer  findet,  der  an  der  Blütenpracht  des  Frühlings 
und  am  Farbenspiel  des  Herbstes  das  Auge  erquickt,  die  Galerien  abläuft,  die  Sehenswürdigkeiten 
bewundert  oder  bekrittelt,  —  den  reizt  es  selten,  sich  um  die  Leistung  der  modernen  Kunst  in 
dem  gesegneten  Lande  zu  kümmern.  Und  das  ist  ihm  wahrhaftig  nicht  zu  verargen.  Denn  wie 
in  der  schönen  Literatur  die  Strömung  seit  geraumer  Zeit  aus  dem  hohen  Norden,  aus  Norwegen 
und  Russland,  mit  den  stärksten  Impulsen  hervorbricht,  so  hat  Italien  in  der  bildenden  Kunst 
seinen  tonangebenden  Einfluss  verloren.  Wer  hier  nach  neuen  Talenten  sucht,  die  zwar  überall 
sehr  rar  sind,  findet  sich  zumeist  enttäuscht.  Der  Eisenbahnverkehr  bringt  wohl  Hochzeitspaare,  ver- 
gnügte Touristen  ins  Land ;  auch  ernste  Gelehrte,  die  wie  Maulwürfe  in  den  Archiven  herumgraben, 
aber  Italiens  Import  an  Geistesprodukten  ist  ein  spärlicher.  Und  doch  könnten  die  Völker  so  viel 
von  einander  lernen  oder,  durch  üble  Beispiele  gewitzigt,  vieles  auch  verlernen.  Das  Fremde  wäre 
freilich  hier  wie  anderwärts  nicht  so  ohne  weiteres  als  gangbare  Münze  aufzunehmen ;  es  müsste 
als  Rohstoff  behandelt,  verarbeitet,  umgeprägt  werden.  Man  erkennt  daran  Schwäche  und  Kraft,  es 
ist  ein  Massstab  allgemeinen  oder  wenigstens  allgemein  kursierenden  Wertes.  Man  kann  sich  des- 
halb den  Maler,  von  äusserst  seltenen  Ausnahmen  abgesehen,  von  den  herrschenden  Kunst- 
strömungen der  Gegenwart  beeinflusst  denken.  An  diesem  Einfluss  gebricht  es  hier,  so  dass  alles, 
was  anspornt  oder  enthusiasmiert,  zu  einem  Schattengebilde  verblasst,  während  das  Bleibende  im 
Wandel  der  Zeiten  die  Routine  ist.  In  vielen  italienischen  Ausstellungen,  die  ich  durchgemacht 
habe,  konnte  ich  keinen  jungen  Nachwuchs  entdecken.  Den  schlimmsten  Übeln  abzuhelfen,  war 
man  in  den  Venezianer  internationalen  Ausstellungen  und  der  letzten  dekorativen  von  Turin 
bestrebt;  aber  es  fehlt  auch  an  einem  kauflustigen  Publikum,  an  kunstliebenden  und  kunst- 
verständigen Gönnern.  Alles  dies  erwogen,  ist  es  begreiflich,  dass  den  Malern  die  Begeisterung 
erlahmt.  Manche  versuchen,  frische  Eindrücke  aus  München  oder  Paris  in  die  Heimat  zu  bringen, 
wie  es  in  Deutschland  Gepflogenheit  junger  Künstler  ist,  nach  Italien  zu  pilgern,  um  ihr  Schauen 
und  Können  zu  schärfen.     Möge  diese  beiderseitige  Wanderlust  auch  die  rechten  Früchte  tragen! 

XIV   14 


98  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Ich  will  einen  italienischen  Maler  der  Gegenwart  dem  deutschen  Publikum  vorführen : 
Cesare  Laurenti,  dem  vielleicht  dauerndes  Interesse  abzugewinnen  ist. 

Laurenti  wurde  zu  Mesola  bei  Ferrara,  einem  Landsitz  der  Este,  wohin  sie  auf  Jagden  zu 
gehen  pflegten,  im  Jahre  1854  geboren.  Als  Kind  tummelte  er  sich  in  dem  an  geschichtlichen 
Reminiszenzen  so  reichen  Ferrara  herum  —  der  Stadt,  wo  einst  der  erste  Pulsschlag  modernen 
Lebens  sich  regte  und  jetzt  nur  Ode  und  Verlassenheit  herrschen.  Die  breiten,  einst  von  glanzvoll, 
jetzt  traurig  aussehenden  Palästen  umsäumten  Strassen,  das  düstere  Schloss  der  Este,  der  herrliche 
in  echtem  Renaissancestil  gehaltene  Glockenturm  des  Doms:  alles  erinnert  an  Tage  des  Glanzes 
und  des  Schreckens,  die  Spuren  hinterliessen,  welche  in  totem  Stein  und  ewig  lebendigem  Kunst- 
werk zu  uns  sprechen.  Hier  dichteten  Ariost  und  Tasso,  malten  Cosimo  Tura,  Piero  della  Francesca, 
Dosso  Dossi;  hier  blutete  Parisina,  seufzten  die  Brüder  Herzog  Alfonsens,  des  Gemahls  der 
Lucrezia  Borgia  im  Kerker;  hier  war  alles  sprühende  Lust,  Freuden  und  Leiden  die  Fülle,  Schau- 
gepränge ohne  Ende,  Heiterkeit  und  Frohsinn,  die  freilich  zuweilen  von  entsetzlichen,  nicht  bloss 
gespielten,  sondern  erlebten  Tragödien  unterbrochen  wurden.  Und  jetzt  begegnet  man  in  Gassen 
und  auf  Plätzen  wenig  Fussgängern,  seltener  noch  einem  Wagen.  Ferrara  bietet  heutzutage  einen 
trostlosen  Anblick;  es  herrscht  da  lautlose  Stille,  nur  unterbrochen  durch  den  Widerhall  von  Schritten 
und  das  Rauschen  der  Blätter  auf  den  Bäumen  längs  der  Alleen,  welche  vom  Stadtthor  zu  den 
öffentlichen  Gärten  führen.  Die  Stadt  ist  wie  ausgestorben,  siecht  altersschwach  dahin  und  lässt 
die  Hoffnung  ihres  Wiederaufblühens  nur  schwer  aufkommen. 

Wie  es  möglich  war,  dass  in  einer  Stadt,  die  kindlichem  Sinne  so  wenig  Anregung  bietet, 
schon  in  früher  Jugend  der  Hang  zur  Kunst  bei  Laurenti  sich  kund  gab,  wird  vielen  ein  Rätsel  bleiben. 
Er  sah  einst  Kupferstechern  bei  der  Arbeit  zu  und  dies  erweckte  in  ihm  sofort  die  Lust,  es  ihnen 
gleichzuthun.  In  Padua,  wohin  er  bald  übersiedelte,  waren  seine  besten  Freunde  Zimmermaler. 
Während  diese  an  Wänden  und  Decken  ihre  groben  Pinsel  führten,  zeichnete  er  Köpfe,  wo  immer 
er  nur  konnte.  In  einem  herrschaftlichen  Hause,  in  das  er  die  Leute  oft  zur  Arbeit  begleitete, 
trieb  er  sein  Wesen,  das  endlich  die  Aufmerksamkeit  des  damaligen  Kunsthistorikers  Selvatico  weckte, 
der  ihn  dem  Grafen  Ferri  empfahl.  Laurenti  sollte  nach  dem  Willen  dieses  glücklich  gewonnenen 
Mäcens  Kupferstecher  werden  ;  denn  man  hegte  die  Absicht,  in  Padua  eine  xylographische  Schule  zu 
gründen.  Bald  musste  aber  der  Jüngling  einen  schweren  Kampf  mit  seinen  Gönnern  bestehen :  er 
wollte  um  jeden  Preis  Maler  werden.  Die  Jugend  ist  stürmisch  gesinnt,  enthusiastisch  angelegt  und 
manches,  das  von  ihr  erstrebt  wird,  überzeugt  oft  ernste  gewiegte  Männer,  trotz  der  vielen  Ent- 
täuschungen, die  sie  erlebt  haben.  Laurenti  siegte  und  wurde  zu  seiner  weiteren  Ausbildung  nach 
Florenz  geschickt.  Er  kehrte  der  alten  Universitätsstadt  den  Rücken  und  zog  nach  dem  Arno 
voller  Zukunftspläne.  Hier  auf  der  Akademie  lehrte  der  pedantische  Ciaramfi,  bei  welchem  Meister 
der  zugereiste  Schüler  es  beinahe  fünf  Jahre  aushielt.  Dann  aber  gingen  ihm  die  Augen  auf  und 
er  merkte,  dass  man  in  Florenz  nicht  Kolorist  werden  konnte.  Man  sah  dort  die  Farbe  oft  falsch, 
stets  konventionell.  Zur  weiteren  Ausbildung  begab  sich  Laurenti  nach  Neapel,  wo  der  hochbegabte 
Domenico  Morelli  nicht  nur  ein  gediegener  Maler,  sondern  auch  der  Mann  war,  junge  Herzen  durch 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


99 


seine  flammenden  Worte  zu  entzünden.  Des  weiteren  führten  Laurenti's  Wege  nach  Venedig, 
welche  Stadt  ihn  so  bezauberte,  dass  er  sie  zu  seinem  ständigen  Wohnsitz  wählte  und  auch  jetzt 
noch  freudenfroh  hier  schafft  und  waltet. 

Venedig  ist  für  so  manche  Künstlernatur  die  blaue  Blume  der  Romantik,  es  gleicht  einer 
vornehmen  Schönheit,  welche  unnahbar  bleibt  und  eben  deshalb  vielleicht  die  Herzen  mit  unver- 
siegbarer Sehnsucht  erfüllt.    Auch  wenn  die  Tage  düster  sind,  vom  matten  Licht  beschienen,  ver- 


Cc'tiiii-r  Ij((iirciiti.     Liebesgeschichten 


schmilzt  in  der  Lagunenstadt  alles  in  koloristisch  höchst  wirksames  Farbenspiel,  zu  malerischem 
Duft.  Die  feuchte  Grundstimmung  ist  nicht  schwer  und  dumpf,  sondern  transparent,  wie  hin- 
gehaucht, das  sensitive  Auge  erquickend,  die  Sinne  reizend  zu  zart  gehaltenen  Effekten. 

Die  neapolitanische  Schule,  die  zumeist  frivol  und  leer  in  der  Färbe  war,  hatte  auf  Laurenti 
noch  nicht  ihre  ganze  Wirkung  eingebüsst ;  doch  er  musste  binnen  kurzem,  auch  ohne  seinen 
Willen,  der  venezianischen  Genremalerei  sich  zuwenden ;  so  forderte  es  unbedingt  das  kauflustige 
Publikum.  Seine  Bilder  fingen  denn  auch  an,  reissend  Abgang  zu  finden.  Venedig  war  in  jener 
Zeit  förmlich  eine  Goldgrube  für  die  Maler.     Die   Kunsthändler   aus    England    hatten   es   zu    ihrer 


100 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


CcfKirc  Loineiiti.    Auf  steinigem  Wege 


Bezugsquelle  gemacht,  aus  der  sie  mit  vollen 
Händen  schöpften,  was  nur  zu  fassen  und  zu 
greifen  war.  Es  entwickelte  sich  ein  lebhafter 
Ausfuhrhandel  von  Kunstwerken ;  selbst  die 
mittelmässigsten  Maler  konnten  dabei  pros- 
perieren oder  wenigstens  ihren  täglichen 
Lebensbedarf  decken. 

Der  Aquarellist  Ludwig  Passini,  ein 
behaglicher  Erzähler  venezianischen  Lebens, 
der  naiven  Knabenköpfen,  Prozessionen  und 
anderen  Volksszenen,  in  spitzpinseliger  Manier 
aufgefasst,  Reiz  verleiht  voller  Pikanterie  und 
heller  Auffassung;  dann  van  Haanen,  der 
bei  liebevollem  Eingehen  auf's  Detail  die  Grösse  der  Anschauung  der  Natur  nie  verleugnet  und 
stets  unverwandten  Blicks  sein  Ziel  im  Auge  behält,  auf  Zeichnung  und  Farbe  genau  berechneten 
Wert  legt;  ferner  der  vorzügliche  Giacomo  Favretto,  der  eminente  Kolorist  und  Volksschildercr 
ersten  Ranges  (siehe  meine  Monographie  über  ihn  in  der  „Kunst  unserer  Zeit"  1902  Lieferung  3): 
dies  waren  in  Venedig  die  tonangebenden  Maler,  die  Elite,  um  welche,  wie  um  einen  Bienenstock, 
die  grosse  Schar  anderer  schwärmte.  Laurenti  pflegte  derzeit  auch  das  novellistische  Genre,  und 
ich  will  vorerst  seine  in  dasselbe  schlagenden  Werke  betrachten  und  mich  fragen,  wie  viel  freies, 
originelles  Anschauungsvermögen  er  auf  diesem  Felde  entfaltet  hat. 

Das  Bild,  welches  er  „Liebesgeschichten"  betitelt,  zeigt  uns  ein  echt  venezianisches  Interieur: 
weiss  getünchte  Mauer,  an  der  ein  Vogelhaus,  ein  Piazetta-Stich  und  allerlei  Kram  hängen;  in  dem 
Räume  sitzen  sechs  schmucke  Perleneinfasserinnen  um  einen  schwarzgelockten  Fischer  in  der  Runde; 
sie  verschlingen  ihn  mehr  mit  den  Augen,  als  ihm  zuzuhören,  nur  eines  der  Mädchen  brütet 
wehmütig  vor  sich  hin.  Wenn  auch  die  Geschichte,  welche  er  vorträgt,  nicht  besonders  interessant 
und  dezent  sein  mag,  die  Schönen  machen  sich  darüber  keine  Skrupel.  Die  weniger  schamhaften 
zeigen  ihren  entblössten,  vollen  runden  Vorderarm,  sind  kokett  gekämmt,  mit  Blumen  im  Haar 
und  in  bunter  Volkstracht.  Man  ahnt,  dass  sie  im  Augenblick  die  bösesten  Rivalinnen  werden 
könnten!  Ich  weiss  nicht,  weshalb  ich,  dieses  Bild  beschauend,  unwillkürlich  an  das  Urteil  des 
Paris  erinnert  werde.  Allerdings  teilt  der  junge  Fant  diesmal,  anstatt  des  Apfels,  feurigen  roten 
Wein  aus,  den  er  in  einem  auf  respektablen  Inhalt  deutenden  Kruge  neben  sich  stehen  hat. 

Auf  einem  anderen  Bilde  ,, Amüsante  Lektüre",  welches  dieselbe  Auffassungsweise  verrät, 
sitzen  sechs  Frauenzimmer  um  einen  Tisch,  auf  dem  der  charakteristische  Weinkrug  auch  nicht 
fehlt.  Die  eine,  in  Vorderansicht,  gesund,  drall,  mit  nettem  Köpfchen,  worauf  kecke  Locken  sich 
schmiegen,  liest  den  andern  vor.  Die  heikle  Lektüre  scheint  spannend  zu  sein.  Wie  man  in 
diesem  Bilde,  zum  Unterschied  des  eben  beschriebenen  sieht,  verstehen  die  Venezianerinnen  auch 
allein,  ohne  Mann  sich  ganz  famos  zu  unterhalten  und  dann  überraschen  wir  sie  wirklich  bei  voller 


Cesare  Laurenti  piiix- 


Phol.  f.  Hanislaengl,  München 


Studienkopf 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


101 


Intimität.  —  Ein  anmutiges  Bildchen  ist  „Das  Blindekuhspiel".  Laurent!  versetzt  die  Szene  nach 
einem  Wäscheraum  und  zeigt  sich  hier  zum  erstenmal  flotter  und  vertrauter  als  ehedem  in  der 
Schilderung  von  Gruppen.  Doch  bei  diesen  seinen  Anfängen  ist  an  ihm  noch  nichts  Besonderes 
zu  entdecken:  er  ist  noch  immer  zu  farbig,  hat  noch  keinen  vornehmen  Ton,  keine  eigenartige 
Pinselführung. 

Mit  solcher  Art  von  Genrebildern  musste  er  freilich  auf's  grosse  Publikum  Rücksicht  nehmen; 
es  acquirierte   damals  nur  geschmeidige,  bunt  gekleidete,  flott  hingemalte  Venezianerinnen,  die  dem 


Ccftarc  l^cnirciiti.     Die  Sünde 


Beschauer  verführerisch  und    gefallsüchtig   aus    dem  Rahmen    entgegenblicken;    deshalb   darf   man 
solchen  Bildern  gegenüber  nicht  nach  dem  echten  Laurenti  suchen  —  denn  die  Kunst  geht  nach  Brot! 


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Das  Jahr  1892  brachte  eine  entscheidende  Wendung  in  Laurenti's  Kunstentwicklung.  Mit 
dem  Bilde  „Die  Sünde"  ringt  er  sichtlich  nach  einer  neuen  Technik  und  will  den  harmlosen  Novel- 
lettenton  sich  aus  dem  Gesichtskreis  rücken.  Auch  die  Linie  ist  an  diesem  Bilde  malerischer 
aufgefasst,  die  Farbe  fällt  durch  ihre  Buntheit  nicht  mehr  dem  Auge  auf,  ein  gewisser  psycho- 
logischer Zug  macht  sich  geltend.  Das  gefährliche  Gebiet  der  Seelenmalerei,  auf  dem  es  ihm 
mehr  oder  weniger  gelang,  pflegt  er  von  da  an  sorgsam.     Und  mit  diesem  Streben  scheitern  viele 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


an  einer  verderbenbringenden  Klippe ;  denn 
Seelenzustände  in  Werlcen  der  bildenden 
Künste  wiederzugeben,  ist  immer  eine 
schwere  Sache:  Darsteller  und  Beschauer 
empfinden  sie  verschieden  ;  die  Zustände 
kommen,  gehen  und  schwinden  dahin, 
ohne  dass  man  sich  Rechenschaft  geben 
kann  über  die  Gründe  ihrer  Erscheinung 
und  ihres  Vergehens.  Selbst  das  Modell 
ist  nicht  stets  in  derselben  Fassung,  es 
muss  mehr  oder  weniger  den  Künstler 
beeinflussen.      Doch    Laurenti     bezweckt 


Cesarc  IjKii rciiti.     Liebeleien  in  Chioggia 


nicht  nur.  Psychologisches  auf  seiner  Leinwand  festzubannen,  sondern  ist  stets  bestrebt,  einen 
Gedanken  seinen  Bildern  aufzuprägen  oder,  ich  will  es  frei  heraussagen,  zu  unterlegen.  So  bewegt 
er  sich  nicht  immer  innerhalb  der  Grenzen,  die  schon  Lessing  im  Laokoon  der  Malerei  vorgezeichnet 
hat.  Dass  er  hiebei  das  Undarstellbare  vorsichtig  vermeidet,  versteht  sich  von  selbst;  aber  dass 
es  trotzdem  hier  und  da  sich  eindrängt  oder,  richtiger  gesagt,  dem  Beschauer  unwillkürlich  in  den 
Sinn  kommt,  ist  gleichfalls  unleugbar. 

Die  Frau  aus  Chioggia  auf  dem  Bilde  „Die  Sünde",  die  in  einem  Fischernest  bei  Venedig 
vegetiert,  im  Begriffe  ist,  mit  hochemporgehaltenen  Armen  das  Kopftuch  umzuschlagen  und  barfuss 
daherläuft,  wird  dem  auf  der  See  segelnden  Gatten  schwerlich  treu  bleiben.  Zwischen  einem 
Schlammhaufen  und  ihr  steht  die  männliche  Gestalt,  Nebenfigur  im  Bilde,  aber  wichtig  zur 
Erläuterung  der  Idee.  Die  erotische  Begierde  wird  von  dieser  Nebengestalt  auf  das  Fischerweib 
ausstrahlen   und   ihre   verheerende  Wirkung   üben.     Das    sagt   der    Maler  nicht,    aber   wer   es    aus 

dem  Bilde  herausliest,  ist  kaum  des  Irrtums 
zu  zeihen. 

In  „Frons  Animi  Interpres"  stellt  uns 
der  Künstler  eine  üppige  Blondine  vor,  so 
eine  Art  von  reuiger  Magdalena.  Das 
Mädchen  kniet  in  einer  Kirche  vor  dem 
Kruzifix,  mit  verschlungenen  Händen,  die 
das  Antlitz  bedecken.  Auf  ihrem  runden 
kräftigen  Pulsgelenke  glänzt  ein  goldenes 
massives  Armband.  Jammerschade,  dass 
sie  ihr  Gesicht,  das  manch  Indiskreter  gern 
sehen  möchte,  verhüllt  —  inbrünstig  scheint 
ihr  Gebet,  obwohl  man  merkt,  dass  dieses 
Ci'.^arc  lAiiiiciiti.    Fallende  Blätter  Volkskind  keine  ständige  Kirchenbesucherin 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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ist.  Im  Vordergrund  hockt  eine  Alte  an  einer  Gruft,  den  unzertrennlichen  Rosenkranz  in  der 
Hand,  der  echte  Typus  von  Venezianer  Gewohnheitsbeterinnen.  Rückwärts  eine  vornehme  Dame, 
schwarz  gekleidet,  mit  Muff.  Das  Bild  entbehrt  nicht  einer  starken  koloristischen  Wirkung,  doch 
ist  es  etwas  inhaltslos  in  der  Form. 

Viel  bedeutender  ist  das  Gemälde  „Nahendes  Gewitter",  welches  hier  reproduziert  wird. 
Der  Bilderausschnitt  ist  in  moderner  geschlossener  Linie  gefasst,  dunkel  im  Ton,  zugleich  aber 
warm  abgestumpft.  In  der  Luft  schwebt  ein 
Gewitter,  welches  in  den  Herzen  der  drei  Figuren 
sich  wiederspiegelt.  Auf  einer  Brücke  schreitet 
ein  Mädchen  aus  dem  Volke,  sich  nervös  an  der 
Marmorbrüstung  stützend,  wie  wenn  ihr  der  Atem 
fehlte;  jeder  Muskel  im  Gesicht  erzittert  von 
wilder  Eifersucht,  da  der  einstige  Geliebte  einer 
anderen  den  Hof  macht.  Ihre  junonische  Gestalt 
steckt  in  gewählter  Volkstoilette,  sie  trägt  sogar 
ein  Mauve-Fichu  mit  einer  Rose  an  der  Brust; 
lose  umflattert  das  helle  Umhängetuch  ihre  Ge- 
stalt. Ordinär,  fast  armselig  ist  hingegen  ihre 
Rivalin  angethan,  die  einen  Wassereimer  in  der 
Hand  trägt  und  ihr  nachblickt,  ja,  es  liegt 
etwas  Klassenantagonismus  in  beiden!  Und  er, 
der  Gelbschnabel,  man  merkt  es  ihm  an,  in 
welcher  Verlegenheit  er  sich  befindet;  nichts- 
destoweniger schielt  er  der  schönen  Maid  schuld- 
bewusst  nach  mit  funkelndem  Auge.  Es  ist  eine 
intime  Volksszene,  voll  spontaner  Beobachtungs- 
gabe, voll  ungezwungener  Frische. 

Überhaupt  ist  Laurenti  mehr  als  alles 
andere  ein  Frauenmaler;  selten  begegnet  man 
bei  ihm  Männern,  und  meistens  ist  es  nur  einer, 
der  um  das  Mädchen  wirbt,  welches  den  Mittel- 
punkt der  Situation  bildet,  sodass  die  Psyche 
des  Weibes  dadurch   mehr   in  Evidenz   gebracht 

und  ihr  Seelenzustand  blossgelegt  wird.  Ein  Genrebild,  wo  er  das  am  besten  erreicht,  ist  das  eben 
beschriebene  „Nahende  Gewitter".  Aber  auch  wenn  kein  Mann  dabei  ist,  so  lässt  sich's  ahnen, 
dass  dieser  hinter  den  Coulissen  versteckt  lauert  und  oft  mehr  als  Spielzeug  oder  angenehmer 
Gesellschafter  vom  zarten  Geschlecht  aufgefasst  wird.  Trotzdem  also  die  männliche  Person  als 
Nebensache  erscheint,  so  ist  sie,  in  den  Hintergrund  gesetzt,  doch  immer  bereit  einzuspringen.  Ein 


Cesarc  Laurenti.     Nahendes  Gewitter 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Beispiel  dafür  bietet  das  eigentümliciie  Bildchen  „Liebeleien  in  Chioggia",  wo  der  Bursche  in  bestimmter 
Entfernung  zwei  in  eigenartige  weisse   Umhängetücher  gekleideten  hübschen  Mädchen  folgt. 


Cesare  Lauiciiti.     Cal^ra  (Die  Keiferin) 


Ein  recht  stimmungsvolles  Bild  hat  Laurenti  mit  seinem   „Fallende  Blätter"  geschaffen.    Die 
Mache  ist  an  diesem  breit  und  solid,  die  Farbe   pastos;  Klarheit  der  Abstufung  das  vorspringende 


Cesare  Laurciiti  pmx. 


l'luit.  I'.  Il;mistacii),'i,  MiniLiK-ri 


Präludium 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Merkmal.  Eine  weibliche  Figur  schreitet  in  einer  Herbstlandschaft;  vergilbte  Blätter  rauschen 
von  den  Bäumen,  die  Natur  liegt  gleichsam  im  Halbschlummer.  Das  rosa  gekleidete  Mädchen 
wandelt,  im  Profil  gesehen,  mit  auf  dem  Rücken  gekreuzten  Armen;  ihre  schmerzlich  sinnenden 
Züge,  die  bleiche  Wange,  alles  verrät,  dass  es  keine  von  Liebesträumen  befangene  Jungfrau, 
sondern  eine  schwer  leidende  ist,  die,  sobald  der  strenge  Winter  einzieht,  selbst  dahinnicken 
wird  wie  die  absterbende  Vegetation.  Solche  melancholische  Profile  malt  Laurenti  mit  Vorliebe, 
zuweilen  fügt  er  auch  psychisch-neurotische  Merkmale  hinzu,  die  das  Gemütsleben  zu  gewisser 
phantastischer  Erregbarkeit  steigern.  Die  Linie  der  „Fallenden  Blätter"  ist  einfach;  die  weibliche 
Gestalt  ohne  herumflatternde  Gewänder,  wie  der  Maler  sie  sonst  liebt,  was  hier  natürlich  aus  der 
Stimmung  herausreissen  würde. 

Man  trifft  auf  solche  Gewänder,  an  denen  Laurenti  seine  Freude  hat,  auch  in  dem  Bilde 
„Caldra".  Das  unübersetzbare  venezianische  Wort  „Calära"  bezeichnet  jene  cholerischen,  keifenden 
Frauenzimmer,  die  in  engen  Calle's  ihr  Wesen  treiben.  Klatsch  und  Aufbrausen  ist  für  sie  eine 
Bagatelle,  ja  Bedürfnis  geworden,  verleumderische  Flegelhaftigkeit  die  Devise  dieser  Naturkinder. 
Laurenti  stellt  sie  uns  als  eine  schlanke  Venezianerin 
dar,  als  wenn  er  sagen  wollte,  dass  in  diesen  der 
Geist  von  Zanksucht  in  weit  höherem  Grade  herrscht, 
als  bei  phlegmatischen,  voluminösen  Weibern,  die  ihm 
einen  Dämpfer  aufsetzten.  Herausfordernd  stützt  sich 
im  Bilde  die  Frau  mit  einer  Hand  auf  die  Brüstung, 
die  andere  Hand  an  die  Hüfte  stemmend,  während 
sie  mit  den  Lippen  eine  Rose  hält.  Manche  haben 
dem  Maler  einen  Vorwurf  wegen  der  hier  nach  allen 
Windrichtungen  flatternden  Kleider  gemacht  —  gewiss 
ist  dies  meteorologisch  nicht  richtig,  aber  artistisch 
genommen,  behält  der  Künstler  recht.  Er  wollte 
durch  die  Grösse  der  Linie  eine  dekorative  Wirkung 
erzielen.  Da  ihn  übrigens  seine  Modelle  mehr  ihrem 
psychologischen  Gehalte  nach,  als  in  der  äusseren 
Forrh  interessieren,  finden  wir  bei  ihm  zuweilen  Ver- 
stösse gegen  Zeichnung  und  Modellation,  tote  Stellen, 
die  inhaltlos  erscheinen  mögen. 

Jungfrauen,  die  Blumen  pflegen,  sie  pflücken 
oder  wie  träumend  über  Strassen  und  Brücken 
schreiten,  lieben  oder  hassen  und  dergleichen  mehr, 
hat  Laurenti  die  Fülle  geschaffen.  Auch  malt  er 
gern  hübsche  Frauenköpfe,  von  denen  er  es  schon 
auf  die  Hundert  an  Zahl  gebracht  hat.    Eines  unserer  Cesarc  Laurent/.    Xoitnmo 

XIV   15 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Vollbilder  reproduziert  ein  wirksames  blondes  Antlitz  mit  zauberhaften  hellblauen  Meeraugen ;  matt 
im  Ton,  zart  im  Inkarnat  und  mollig  weich  modelliert.  Bei  diesen  wie  bei  den  meisten  seiner 
Köpfe  benützt  er  das  Pastell,  dessen  Farben  sich  so  angenehm  unter  der  Fingerspitze  verreiben 
lassen  und  besonders  geeignet  sind,  weiche  Übergänge  des  Frauenkörpers  zu  charakterisieren, 
eine  Sache,  die  sich  nur  mühsam  mit  Ölfarben  erreichen  lässt.  Übrigens  hat  Laurenti  seit  dem 
Jahre  1890  die  Öltuben  aus  seiner  Palette  verbannt;  er  benützt  eine  von  ihm  zubereitete  Tempera, 
die  Email    besitzt,    porös    ist    und    mit    welcher    man    bei    jeder    Technik    das  Auslangen    finden 

kann.  Sein  „Notturno",  Kniestück,  ist  aber  noch 
mit  Ölfarben  gemalt.  Ein  Mädchen  sitzt,  eine  mit 
grellgrünem  Schirm  bedeckte  Petroleumlampe  im 
Rücken,  vor  einem  aufgeschlagenen  Buch,  das  Kinn 
in  die  Hand  gestützt  und  blickt  den  Beschauer 
an.  Das  Ganze  ist  mehr  als  Beleuchtungsproblem 
aufgefasst. 

Hier  darf  auch  nicht  unterlassen  werden,  der 
Porträts  des  Künstlers  zu  erwähnen.  Das  Kniestück 
des  liebenswürdigen,  blondlockigen  Buben,  welcher 
von  einem  dunkelgrünen  Hintergrunde  absticht,  ist 
ganz  altmeisterlich  behandelt,  nicht  mittels  eines  durch 
Asphalt  erzielten  Eiffektes,  sondern  in  Einfachheit  der 
Auffassung  und  pastoser  Modellierung.  Ebenso  zeigt 
sich  das  „Porträt  der  Frau  M.",  die  in  ausgeschnittener 
grellroter  Taille  etwas  Antikes  besitzt;  es  ist  sanft  im 
Ton  und  hübsch  arrangiert:  der  volle  Haarwuchs, 
die  mandelförmigen,  sinnlich  dreinschauenden  stahl- 
grauen Augen  haben  etwas  ungemein  Anziehendes, 
beinahe  Voluptiöses,  das  einem  wie  prickelndes 
Parfüm  vorkommt.  Ein  anderes  Bildnis,  den  Sohn  d'Annunzio's  darstellend,  gibt  das  Modell 
im  Profil,  welches   sich    scharf   und  wirksam  von  einem  warmgrünen  Hintergrund  abhebt. 


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Cesare  Lmireiit/.     Knabenbildnis 


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Mit  seinen  drei  „Parzen"  (1891)  scheint  Laurenti  einer  realistischen  Malerei  sich  zuzuwenden. 
Allein  der  Schein  ist,  wie  in  so  manchen  Fällen,  ein  trügerischer.  „Die  Parzen"  sind  robust  in 
vierzehn  Tagen  hingemalt,  breit,  flott,  mit  satten  Farbentönen  und  gesunder  Modellierung,  auch 
nichts  Übernatürliches,  ausser  den  Grenzen  der  Wirklichkeit  Liegendes  lässt  sich  daraus  schliessen. 
Trotzdem  wollte  der  Künstler  mit  diesem  Werke  etwas  Symbolisches  versinnlichen.  Die  drei 
Figuren,   zwei    alte  Frauen    und  ein    Mädchen,    sämtlich    im    Alltagskleide,    rufen    die  antike   Sage 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Cesiiic  Laurent/'.     Bildnis  der  Frau  M. 


in  Erinnerung.  Das  Mädchen  hat  ein  wehmutsvolles  Aus- 
sehen, eingefallene  Augen,  welche  von  violetten  Rändern 
umgeben  sind;  mit  müder  Hand  muss  sie  den  von  den 
zwei  Alten  fortgesponnenen  Faden  durchschneiden.  Gut 
gelöst  ist  die  Verkürzung  der  Schenkel  bei  allen  drei 
en  fage  sitzenden  Gestalten.  Die  mittlere  Alte  trägt  einen 
abgeschabten  blauen  Kittel,  die  andere  ein  gelbes  Kopf- 
tuch, das  Mädchen  ist  ganz  schwarz  gekleidet.  Eine 
gelbe  Blume,  die  neben  ihr  auf  der  Bank  in  dem  Glase 
steckt,  mahnt  an  den  grünen  blühenden  Lenz,  den  süssen 

Zauber  unter  freiem  Sonnenschein  in  lauer  Frühlingsluft.  Man  glaubt,  sie  zerschneide  unwillig 
und  trostlos  den  unaufhörlich  gesponnenen  Faden,  sie  habe  ein  warmes  Herz,  das  in  bebender 
Brust  ihr  nicht  Ruhe  gönnt.  Und  man  ist  überzeugt,  sie  werde,  die  erste,  von  ihrem  Sitz  auf- 
springen !  Die  Mehrzahl  der  Beschauer  mag  das  Bild  in  der  Art  deuten ;  aber  Laurenti's  Absicht 
ist  mit  dieser  Deutung  nicht  ganz  getroffen.  Wie  er  sagt,  inspirierte  ihn  Heine's  Gedicht 
„Morphine",  das  mit  den  Versen  endet: 

Gut  ist  der  Schlaf,  der  Tod  ist  besser  —  freilich 
Das  Beste  wäre,  nie  geboren  sein. 
Die  zwei  alten  Frauen  sollen  das  Symbol  des  traurig  dahinsinkenden  Lebens  darstellen,  die  junge 
Gestalt  hingegen  den  Tod,  der  nach  dem  Nichtgeborensein  das  zweithöchste  Gut  bedeute. 

Dem  finsteren  Probleme  des  Daseins 
grübelt  weiter  der  Meister  nach.  Sein 
Pastell  „Metamorphose",  in  grauwarmem 
Ton,  legt  wieder  die  Nichtigkeit  irdischer 
Existenz  bloss.  Eine  weibliche  Figur  weh- 
mütigen Profils  mit  langwallendem  Haar 
ist  einem  Totenschädel  gegenübergestellt 
—  gleich  der  Blume,  die,  in  einer  Vase 
vor  ihr  prangend,  sich  bald  entblättern 
und  hinwelken  wird.  So  verrauscht  das 
Leben  —  ein  paar  Atemzüge  und  es  ist 
dahin.  Wie  eine  Novelle  Allan  Poe's  mutet 
Laurenti's  „Winternachtstraum"  an.  Eine 
Katze  wird  von  dem  Lichte  einer  Laterne 
fasziniert,  mit  zurückgezogenen  Ohren,  zu 
Berge  stehenden  Haaren  ihres  Felles  grinst 
das  Tier  dem  in  weisses  Leinen  gehüllten 
Cf'sr/rc  Ltiiin-iiti.    Der  Sühn  Gabriele  d'Annimzio's  Phantom  entgegen.     Wer  ist  der  Herr  der 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Cesare  LaurenU.     Metamorphose 


Nacht,     scheint     die    Katze    zu    fragen,    ich    oder    du, 
Mensch  ? 

Selbst  im  Genrebild  sucht  er  jetzt  vorwiegend 
leidenschaftlicher  Erregung  Ausdruck  zu  geben.  Unter 
anderem  hat  er  mit  seinem  oft  wiederholten  Bilde:  „Auf 
steinigem  Weg"  eine  Frau  dargestellt,  die,  einer  Sünde 
bewusst,  flieht;  das  Kind,  dessen  Kopf  mit  weissem 
Häubchen  umhüllt  ist,  presst  sie  unter  braunem  Um- 
hängetuch an  ihre  Brust.  Die  Intonation  ist  gegen  Abend 
genommen,  am  Horizont  schimmert  ein  fett  mit  dem 
Pinsel  hingestrichener  leuchtender  Strich,  nach  welchem 
das  Weib  zu  streben  scheint.  Spärliche  dunkelgrüne  Bäume  im  Hintergrund;  der  Wind  tobt, 
er  scheint  der  kräftig  Einherschreitenden  feindlich  gestimmt  und  grollend  färbt  sich  der  Himmel. 
Gewisse  Beziehungen  zwischen  den  Naturerscheinungen  und  der  Stimmung  der  Verstossenen 
drängen  sich  dem  Beschauer  auf.  Es  soll  kein  Rührbild  mit  sentimentalem  Geflimmer  sein, 
welches  der  Künstler  mit  diesem  Werk  und  späteren  bezweckt,  sondern  er  strebt,  konkrete 
Zustände  blosszulegen,  die  sich  aus  den  Tiefen  der  Seele  entwickeln,  sich  äusserlich  durch 
heftigen  Gang   und    konvulsive  Gesichtszüge   kundgeben. 

Gefällig  löst  uns  Laurenti  in  seinem  Motiv  „Erster  Zweifel"  ein  heikles  Thema  mit 
grösstem  Anstand.  Ein  jugendliches  Wesen,  das  trivial  „Backfisch"  genannt  wird,  rudert  in" 
den  ruhigen  Gewässern  eines  herrschaftlichen  Parkes.  Es  kommt  an  einer  Ledagruppe  mit  dem 
Schwan  vorbei  und  scheint  Erbarmen  zu  fühlen  mit  dem  armen  Weibchen,  welches  so  unsanft 
vom  Schwan  umschlungen  wird.  Allein  Leda  lächelt  wollüstig  und  in  der  Seele  des  Mädchens 
wird  schliesslich  ein  ganz  anderes  Gefühl  als  Mitleid  rege.  Aus  der  Ferne  schwimmt  ein  lebend 
gehaltener  Schwan  daher,  der  das  holde  Fräulein  bald  erreichen  dürfte!  Dies  in  Tempera  und 
Pastell   ausgeführte  transparente  Bild  befindet  sich  in  der  Nationalgalerie  zu  Rom. 

Laurenti's  „Präludium"  ist,  auch  technisch  genommen,  vielleicht  sein  solidestes  Werk.  Er 
untermalt  beinahe  reliefartig  auf  einem  zinkweiss  präparierten  Grund,  ohne  viel  auf  Farbentöne 
zu  achten,  setzt  hierauf,  da  seine  Tempera,  die,  zu  einer  steinharten  Masse  verhärtend,  nicht  springt, 
mit  Lasuren  ein,  wie  es  die  alten  Meister  zu  thun  pflegten.  Dadurch  erzielt  er  in  Schatten 
und  Licht  geheimnisvollen  Reiz.  Dies  Verfahren  ist  nicht  so  einfach,  wie  es  zu  sein  scheint;  am 
besten  wissen  die  Maler,  dass  es  schwer  ist,  in  solcher  Weise  etwas  herauszubringen.  Auch 
besitzen  sie  nicht  das  Material,  welches  Laurenti  jahrelang  studiert  hat  und  worüber  er  nun  verfügt. 
Seine  Pinselführung  kommt  zuweilen  erfreulich  prima  hingemalt  zur  Evidenz:  Kobaltblau,  Kadmium- 
gelb, Zinnober  werden  keck,  ohne  verrieben  zu  werden,  oft  nebeneinander  angebracht  und  ver- 
schmelzen trotzdem.  Sein  Wahlspruch,  sich  an  die  Natur  zu  halten,  solange  sie  eine  dekorative 
Linie  aufkommen  lässt,  ist  im  „Präludium"  sicher  gelöst;  denn  es  liegt  mehr  als  jener  einzige 
Zug  in  dem  Bilde.    Unter  den  Gewändern  der  in  ein  spezifisches  Venezianer  Milieu  gestellten,  im 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEIT 


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Profil  gesehenen,  schön  einherschreitenden  Mädchengestalt  sitzen  Muskel  und  Nerv.  Sie  scheint 
dem  in  schwarzen  Überrock  gekleideten,  die  Pfeife  schmauchenden  Lastträger  gewogen,  denn  sie 
steht  fast  auf  dem  Punkte,  die  Theerose  ihm  als  Liebespfand  entgegen  zu  werfen.  Das  Werk  lässt 
unfraglich  einen  Fortschritt  erkennen;  es  verrät  gesunden  Formsinn,  hält  sich  frei  von  nebeligem 
Herumtasten  und  eitlem   Faseln  mit  purer  Stimmung. 

Bevor    ich    dem    Schlüsse    zueile,    muss    ich    auf    die   früheren,    dem   „Präludium"    vorher- 
gegangenen   Werke    des    Meisters    zurückgreifen.      Sein    Schaffen    streift    in    diesen    an    eine    frei 


Ct'tifOf  iMuroiti.     WintL-rnüclitslraum 


reflektierende  Idealkunst,  seine  allegorischen  Darstellungen  wollen  in's  Moderne  gezogene 
Gedanken  erläutern.  Freilich  versiegt  ihm  zuweilen  die  Kraft,  welche  der  Erscheinungswelt  den 
von  ihm  beabsichtigten  lyrischen  Schwung  verleihen  und  den  Beschauer  wie  eine  Offenbarung 
göttlicher  Inspiration  fesseln  würde. 

„Neues  Blühen"  (im  Besitz  der  modernen  Venezianer  Kunstgalerie)  ist  eine  Art  von  drei 
Grazien  in  moderner  Auffassung;  früher  stellte  man  sie  gewöhnlich  mehr  oder  weniger  in  Modell- 
stellung; Laurenti  hingegen  sucht  seine  Frauenakte  bewegt  darzustellen.  Das  Licht  ist  helltönig 
über  die  Szene  ausgebreitet:  eine  Wiese  mit  rosa  und  gelben  Blumen,  die  aus  frischem  Gras  her- 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


voi'winken,  und  mit  blühenden  Bäumen,  im  Hintergrund  ein  kleiner  See  gelinde  bewegt,  kurz  ein 
Frühlingsbild,  auf  dem  drei  Mädchen  in  lichtem,  allzu  hellem  Inkarnat  sich  rhythmisch  gruppieren. 
Er  malte  noch  einmal  ein  ähnliches  Bild  „Antike  Vision",  wo  der  Hintergrund  dunkel  belaubt 
ist  und  bewegtere  Gestalten  als  die  früheren  sich  plastisch  ausnehmen,  sodass  der  Oberteil  der 
Körper  scharf  beleuchtet  wird.  Besonders  die  Schöne  rechts  mit  flatterndem  wildem  Haar  ist 
in  ihrer  Bewegung  gelungen;  die  ganze  Gruppe  zeigt  die  schwellenden  Körper  der  drei  nackten 
Frauen    in    Liebesreigen,    umgeben    von    freier,    duftender    Lenzesluft.     Das    Bild   will    die   goldene 


Cesarc  Lauiciili.     Die  Parzen 


Zeit  hellenischen  Altertums  symbolisieren  und  wird  in  Gegensatz  gestellt  zu  dem  andern 
„Enttäuschte  Seelen",  wo  drei  Mädchen  die  Müdigkeit  und  Qual  modernen  Lebens  wider- 
spiegeln; sie  kauern  in  düsterem  luftlosem  Raum  hin,  kein  besseres  Los  erwartend  als  vielleicht 
den  Tod,  zu  dem  sie  früher  oder  später  Zuflucht  nehmen  werden;  bis  dahin  vergehen  ihnen 
die  bitteren  Stunden  und  Tage  voll  Kümmernis  und  Angst.  Das  im  Bilde  angebrachte  Kohlen- 
becken motiviert  den  Schlussakt  des  Dramas.  An  beiden  Werken  ist  der  Kontrast  zwischen  dem 
Freilicht  und  der  dunklen,  schwülen  Atmosphäre  angedeutet:  ja,  das  grosse  Ethos  des  Lebens  ist 
der  Schmerz  .... 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Laurenti's  „Nymphe"  (moderne  Venezianer  Kunstgalerie)  gibt  den  Begriff  verlassenster 
Einsamkeit;  jene  sumpfigen  grauen  Gewässer  mit  ihren  weissen  Wasserrosen  und  tiefen  Reflexen, 
die    D'Annunzio    so    meisterhaft    beschreibt,    werden    vom    Künstler    malerisch    empfunden.     Wie 


Cesaic  iMurcnti.     Neues  Blühen 


Gespenster  wachsen  dunkel  belaubte  Eichen  aus  dem  Morast:  der  Satyr,  welcher  der  Jungfrau 
Gewalt  anthun  wollte,  flieht,  seiner  Schuld  bewusst,  von  dannen.  Man  sieht  deutlich,  wie  die 
Wässer,  welche  der  Durchschreitende  aufwirbelt,  sich  bald  wieder  zusammenschliessen  werden 
und  wie  bewegungslos  der  bleiche  Leib  der  weiblichen  Gestalt  dahinschwimmt.  Die  Wirkung  des 
Bildes  ist  fast  ganz  mit  Lasuren  erzielt;  deshalb  besitzen  oft  kalte  Töne  Wärme  und  Schmelz;  der 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Farbenauftrag  ist  pastos,  nicht  ohne  Email.  Grünhell  in  Intonation  wirkt  das  Pastell  „Hirten- 
leben": in  ganzer  Figur  stehend,  bläst  ein  an  einen  Baumstamm  gelehnter  Hirte  die  Flöte; 
die  Aufmerksamkeit  des  Beschauers  ist  auf  die  im  Vordergrund  einherschreitende  weibliche  Halb- 
figur gelenkt. 


Cesare  Laurenti.     Enttäuschte  Seelen 


Viele  Maler  haben  schon  der  sogenannten  „Lebensbrücke"  künstlerischen  Ausdruck  verliehen, 
wie  Walter  Grane,  der  den  Verlauf  des  Lebens  von  der  Wiege  bis  zum  Grab  versinnbildlicht.  Laurenti 
dagegen  lässt  in  seinem  Diptychon,  trotz  der  zwei  in  Vordergrund  gestellten  Kinder,  die  irdische 
Wanderung  von  jener  schönen  Zeit  der  ersten  Liebe  anfangen  —  der  Zeit,  in  welcher  das  Herz 
den  Himmel  offen  sieht,  und  das  Bild  endet  mit  der  Entsagung,  dem  hoffnungslosen  Dahinsinken. 
Links  zeigt  der  Meister  jauchzende  Mädchen,  geschmückt  mit  bunten  Blumen  im  Haar,  die  auf 
einer  Holztreppe,  welche  über  einen  Venezianer   Kanal    geworfen    ist,    hinaufstürmen    zu    einer  mit 


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XIV  16 


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Laub  und  kleinen  farbigen  Lampions  bekränzten  Thüre,  wo  ein  Jüngling  ihrer  harrt;  ein 
zweiter  herzt  schon  das  Mädchen  seiner  Wahl,  die  voller  Wollust  ihr  Gesicht  verzieht.  Das 
Frühlingsbrausen  der  Liebe  ist  in  lustigen  Farbenakkorden  ausgedrückt.  Bei  Laurenti,  der 
Gegensätze  zu  lösen  sucht,  führt  die  Linie  in  seiner  zweiten  Tafel  vom  Eingang  einer  Kirche 
hernieder,  welche  mit  der  vorigen  Holztreppe  geschickt  in  Einklang  gebracht  ist.  Hier  ist 
die   steinerne   Treppe,    über    welcher  Gras    wuchert,    halb    verfallen ;    von    ihr  herab    steigen    vom 


Ccsare  Laiireiiti.    Die  Lebensbrücke  (Jugend) 


Alter  gebrochene  Wesen,  die  an  der  Schwelle  des  Todes  halten ;  mit  zitternden  Händen  stützt 
sich  die  eine,  sehr  wirksame  Figur  auf  Stock  und  Brustlehne.  Fröstelnde  Mädchen,  arme 
Mütter,  trostlos  aussehende  Witwen  versinnbildlichen  enttäuschte  Seelen,  über  die  das  Elend 
der  Zeit  nicht  nur  leise  hinweggestreift  ist  —  es  hat  tiefe  Furchen  in  ihre  müden  Gesichtszüge 
gegraben.  Diese  Schar  Elender  hat  die  Nichtigkeit  des  Lebens  durchkostet,  während  die 
Mädchen  im  früheren  Teil  die  Freuden  des  Augenblicks  in  vollen  Zügen  geniessen.  Der 
tragische  Moment  des  Diptychons  ist,  wie  es  dem  Sujet  entsprach,  in  dunklen  Farbentönen 
gehalten.  Das  lateinische  Motto  beider  Bilder  klingt  nicht  umsonst:  Celeres  gaudentibus  horae 
—  Aflictis  lentae. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Laurenti's  Wirksamkeit  erstreckt  sich  nicht  allein  auf  die  Malerei,  er  versuchte  sich  auch 
in  der  Architektur.  Die  Entwürfe  des  in  Bälde  neu  zu  errichtenden  venezianischen  Fischmarktes, 
welcher  den  jetzigen  abscheulichen  Eisenhallenbau  ersetzen  soll,  wurden  von  ihm  und  dem  Archi- 
tekten Rupolo  gemeinschaftlich  ausgearbeitet.  Sie  sind  im  gotischen  Stil  gefasst,  lehnen  sich 
ihrem  Grundcharakter  nach  an  die  Bauwerke  auf  Bildern  Carpaccio's,  Gentile  Bellini's  und  Diana's, 
welche  Maler  den  älteren  Chronisten  der  Dogenstadt  gleichzusetzen  sind,  wenngleich  sie  mit  dem 


Cesaic  Ijaiiieiüi.    Die  Lebensbrücke  (Alter) 


Pinsel,  nicht  mit  der  Feder  wirkten.  Das  Projekt  brachte  es  zu  einem  anmutigen  Linienschwung, 
der  sich  dem  Milieu,  so  weit  man  nach  den  Plänen  urteilen  kann,  sinnreich  anpasst.  Loggien, 
schlanke  Säulen,  darunter  Laubgänge,  die  an  jene  des  Dogenpalastes  mahnen,  auswärts  angebaute 
Treppen,  sodass  im  ganzen  der  zum  Ton  der  Stadt  passende  Geist  des  Mittelalters  einen  umfängt. 
Dieser  Fischmarkt  wird  gleich  dem  alten  zum  Abbruch  verurteilten  sich  bis  zum  Kanal  Grande 
erstrecken. 

Es  wurde  versucht,  Cesare  Laurenti's  Künstlerlaufbahn  in  kurzen  Zügen  zu  schildern. 
Nicht  alles,  was  seinem  langjährigen  Schaffen  entsprossen  ist,  kann  man  als  Muster  der  Vollendung 
gelten  lassen,  aber  unbestreitbar  ist,  dass  der  Meister  unermüdlich  nach  Hohem  gestrebt  und  im 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Ringen  und  Kämpfen  manchen  Preis  davongetragen  hat.  Er  steht  gewiss  mit  reger  Empfindung 
den  modernen  Bestrebungen  gegenüber,  fiJhlt  deutlich  den  Punlct,  wohin  neue  Bahnen  führen. 
Und  er  schlägt  diese  nicht  mit  verbundenen  Augen  ein,  sondern  will  ihnen  folgen,  ohne  seine 
individuelle  Auffassung  zu  opfern.  Das  ehrt  den  Künstler  und  lässt  die  Verheissung  aufkommen, 
dass  er  in  Zukunft,  seinem  Streben  getreu,  sicheren  Schrittes  auf  dem  Wege  verharren  wird,  der 
abseits  von  Künsteleien  zur  wahren  und  echten  Kunst  führt. 


Cesarc  Lanroiti.     Der  Rosenstock 


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