Skip to main content

Full text of "Die Kunst unserer Zeit; eine Chronik des modernen Kunstlebens"

See other formats


ICUNST 
UNSERER 

ZEIT      , 

k  EINE  CHRONIK  DES      /■ 

./A^DERNEN  KUNSTLEBENS 


\-^^ 


-o 


,i^ 


y, 


/ 


-•i:^-^ 


ijdrr 


^11  f?)» 


^r 


j^ 


'r^^ 


:\^%ii>- 


4^ 


:i><i; 


js?^ 


^ 


<<. 


-^ 


1^ 


PlIRCHASED  FOR  TME 

U\7l7iRSITV  OF  TORONTO  L/BRARV 

FROM  TUE 


*"       C/\\/\/M  COUSCIL  SPECIAL  GRANT 


FOR 


Hl  STORY   OF   ART 


^ 


^■^ 

>' 


f^. 


y"' 


,3 


i^ 


^ 


'^ 


>k:s:>^\ij^ 


j\>,SÄi*!ri* 


c-a^ 


f^;^\Aip,hi(M 


fS)^-JhT 


^  \n<      ^^-^  "* '    i  t-* 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT. 


i^' 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT. 


REDIGIRT 


VON 


H.  E.  VON  BERLEPSCH. 


X 


u^^^^^ 


MÜNCHEN. 

FRANZ   HANFSTAENGL   KUNSTVERLAG   A.-G. 

1891. 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


Bot  :^ 


E.  UOHLTHALER-t  KCL.  HOF-BUCH-  UND  KUmTDRUCKERCI.  MCNCHKN. 


Die  Kunst  unserer  Zeit. 


-*#> 


AUS  DEM  LEBEN  EINER  GEIGE 


VON 


OTTO  VON  LEITGEB. 


m  dunklen  Winkel  des  Ateliers,  wo  dichte  Vorhänge 
das  kalte,  harte  Nordlicht  dämpfen,  lag  eine  alte  Geige 
auf  einem  noch  älteren  geschnitzten  Stuhle  mit  hoher 
Lehne.  Sie  veränderte  fast  niemals  ihren  Platz,  und 
hatte  sich  in  die  Lage  vollständig  eingewöhnt,  ja  so, 
dass  ein  unmuthiges  Klingen  durch  ihren  Resonanzboden 


ging,  wenn  gerade  einmal  Jemand  sie  zur  Hand  nahm. 
Ein  Prachtstück!»  hiess  es  dann.  «Wie  schade,  dass 
sie  in  so  barbarischer  Weise  verstümmelt  ist!»  Ein 
viereckig  Stück  war  ihr  nämlich  aus  dem  Leibe  heraus- 
j^eschnitten ,  und  Meister  Stradivarius  selber  hätte  sie 
kaum  mehr  so  heilen  können,  dass  ihre  schöne,  helle 
Stimme  von  einst  wieder  zu  gewinnen  gewesen  wäre. 
Und  sie  sang  einst  schön,  die  Geige,  bezaubernd! 

Jetzt  tag  sie  seit  Jahren  da,  stumm.  —  Ihre  Um- 
gebung war  ihr  genau  bekannt,  aber  verschieden  lieb. 
Gar  nicht  leiden  konnte  sie  den  geschnitzten  Faunskopf 
auf  der  Stuhllehne  oben.  Der  zog  so  abscheulich 
schiefe  Mundwinkel  und  sah  immer  mit  einem  so  fatalen 
Lächeln  auf  sie  herab.  O,  sie  wusste,  dass  sie  diese 
ab.scheuliche  Fratze  schon  einmal  gesehen  hatte,  in  einer 
unvergesslichcn  Mondnacht,  in  der  Heimath. 

Gerade  ihr  gegenüber ,  auf  einem  Gesim.se,  stand 
ein  alter  Schimmel.  Er  war  wohl  auch  schon  betagt, 
denn  an  drei  Beinen  war  der  Gyps  herabgebröckelt  und 
hatte  nur  den  Draht  zurückgelassen.  Bios  das  vierte 
war  noch  gesund,  wie  das  manchmal  bei  so  alten  Kriegs- 
kameraden der  Fall  ist;  er  diente  nämlich  lange  Zeit 
einem  Schlachtenmaler  (der  sich  gerne  ein  wenig  marti- 
alisch « Bataillen-Maler »  nannte)  als  Modell  für  den  oft 
gemalten  c Kürassier- Angriff»,  bald  «Bei  Leipzig»,  bald 
aus  einem  neueren  Feldzuge. 

Dann  gab  es  noch  ganz  in  ihrer  Nähe  eine 
italienische  Vase  mit  phantastischen  Figuren.  Die 
liebte  sie  auch ,  denn  sie  erinnerte  sie  an  die  Heimath. 
Im  Frühjahr  und  im  Sommer,  da  füllte  eine  zarte  weib- 
liche Hand  die  Vase  oft  mit  Blumen  in  grosser  Menge ; 

1 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


dann  freute  sich  die  alte  Geige.    Und  ward  es  dämmerig 
herin,     der    Künstler    fortgegangen,     dann    schwebten 
Blumendüfte  durch  den  Raum,  und  es  war,  als  ob  sich 
die  drei  Saiten  rührten,  die  noch  an  der 
Geige  hingen;  —   oder  redete   sie  leise 
im  Schlaf? 

Ja,  in  der  Dämmerstunde  und  in  den 
lauen  Sommernächten,  da  träumte  die  alte 
Geige  zurück  in  ihrem 
Leben ;  sie  träumte  von 
der  Heimath  und  ihrem 
blauen  Himmel,  von  den 
Pinienhainen  und  dem 
goldenen  Sonnenschein, 


■KmnK^tfif^iar 


Htnrik  XorätHterg,  Dttaseldorf.     Studie. 

von  den  Sommernächten  und  den  Menschen,  die  damals 
waren,  so  ganz  anders  waren  als  heutzutage  .... 

•  • 

Darüber  war  man  einig,  dass  Gianni  dei  Bellani 
ein  grosser  Künstler  werden  müs.se.  Denn  wenn  er 
mit  dem  Bogen  über  die  Saiten  seiner  Geige  hinstrich, 
so  gab  es  Töne,  so  rein,  .so  hell,  so  schmelzend,  wie 
sie  sonst  nur  im  Liede  der  Nachtigall  klingen.  Der 
Maestro  Fiiippo  hatte  seinen  Jungen  zu  einem  wahren 
Wunder  erzogen,  er  und  die  Luft  der  Heimath,  in  der 
er  aufgewachsen ;  der  Sommer,  mit  seinem  Blüthenduft. 
mit  seinen  Mondnächten,  mit  all  seiner  Poesie  des 
Himmels,  der  ewig  blau  in  der  Ferne  von  den  Häuptern 
des  Apennin  abgeschlossen  wurde;  —  und  im  Herzen 
des  schwarzgeiockten  Jünglings,  dessen  Oberlippe  gerade 


erst  ein  feiner  Flaum  zu  decken  begann,  fasste  diese 
Poesie  Wurzel  und  trieb  und  gedieh  und  füllte  endlich 
seine  ganze  Seele  aus  mit  dem  unaussprechlichen  Zauber, 
den  er  seinem  Instrumente  entlockte.  Das  aber  wusste 
Niemand,  dass  ihm  dabei  immer  ein  Augenpaar  vor- 
schwebte, aus  dessen  Engelsblicken  er  die  Lieder  gleich- 
sam ablas,  die  er  aus  den  Saiten  weckte;  und  so  kam 
es ,  dass  er  immer  am  herrlichsten  spielte  draus.sen  in 
der  Villa  Ercole,  auf  der  mondüberglänzten  Terrasse, 
wenn  Vater  Fiiippo  und  sein  Sohn  den  Herren  die 
Stunden  kürzen  durften  mit  Lied  und  Spiel.  Da.  sassen 
die  edlen  Frauen  und  die  Signori  in  der  Runde ,  da 
blitzte  neben  Gcschmeid  und  Edelstein  manches  .schönes 
Auge,  das  voll  Wohlgefallen  auf  dem  bleichen  Gesicht 
des  Jünglings  ruhte,  der  mit  solcher  Hingebung  seine 
Kunst  übte,  als  wäre  es  der  höchste  Gottesdienst. 
Ein  solcher  war  es  aber  auch.  Denn  wenn  er  Lucrezia's 
Blicke  auf  sich  gerichtet  wus.ste,  dann  spielte  er  die 
Träume  seiner  Kinderjahre  und  die  Liebe,  die  in  seinem 
Herzen  pochte.  Dann  klang's  aus  seinen  Liedern  wie 
der  ganze  Zauber  der  Frühlihgsnacht,  wie  das  Athmen 
der  Blumen  und  der  Gesang  der  Nachtigallen  im  Hain, 
wie  die  Poesie  der  still  ruhenden  Laubgänge  in  den 
Gärten  und  das  Plätschern  der  weissen  Wasser  in  den 
marmornen  Becken  .... 

So  weit  zurück  seine  Erinnerung  reichte,  kannte 
er  Lucrezia's  schöne,  träumerische  Augen,  und  so  lange 
liebte  er  sie  mehr  als  sein  Leben.  Als  Kinder  waren 
sie  bei.sammen  gewesen,  wo  noch  kein  Abstand  von 
Namen  und  Sitte  sich  aufgethan  hatte  zwischen  dem 
Töchterchen  des  edlen  Senators  und  dem  kleinen,  kraus- 
haarigen Sohne  des  Geigers.  Denn  Maestro  Fiiippo 
genoss  die  Gunst  des  Edlen,  dem  er  einmal  einen  grossen 
Dienst  geleistet  hatte,  und  der  Senator  war  ein  feinge- 
bildeter,   Künsten  und  Wissenschaften   geneigter  Mann. 

Wie  oft  hatte  er  Lucrezia's  Kopf  mit  dem  schönen 
braunen  Haar  gekUsst  und  ihren  Mund  geküsst  und  .sie 
seine  Schwester  genannt  1  —  Die  Jahre  aber  waren  ver- 
gangen und  Gianni  fühlte,  da.ss  sie  seine  Schwester  nicht 
sein  könne. 

Dann  wurden  sie  mehr  und  mehr  getrennt.  Mit 
dem  Schmerze  darüber  zog  aber  in  die  Brust  des  Jüng- 
lings die  Liebe  ein,  voll  Feuer  und  Wonnen. 

Es  gab  immer  Zeiten  und  Wege,  um  Lucrezia  zu 
treffen,  und  mit  dem  Bewusstsein,  dass  ihr  Herz  sein  eigen, 
ging  ein  Himmel  des  Glückes  seinem  Sinne  auf.     Keine 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Seele  wusste  von  dem  zarten  Verkehre ,  kein  Späher 
verrieth  ihre  Zusammenkünfte,  kein  Horcher  erlauschte 
etwas  von  der  süssen  Zwiesprache,  deren  sie  pflogen. 
Denn  Lucrezia  wusste  es  stets  klug  einzurichten,  dass 
sie  sich  trafen ,  und  war  der  Senator  zur  Sommerzeit 
draussen  auf  der  Villa  Ercole,  so  gab  es  immer  Abende, 
wo  sie  den  Geliebten  aus  der  Jugendzeit  klopfenden 
Herzens  erwartete  in  einem  der  entfernten  Laubgänge 
des  Parkes,  wo  kein  Laut  zu  ihnen  drang,  als  das 
melodische  Plätschern  des  Wassers  in  den  marmornen 
Becken. 

Sie  war  sein  Leitstern,  seine  Fee,  seine  Muse.  Sie 
war  CS  erst,  die  ihm  Kraft  gab,  seine  Kunst  zu  vollenden, 
die  aus  der  neuen  Geige  vom  Cremoneser  Meister  so 
wundersame  Melodieen  erstehen  liess. 

Aber  es  kam  auch  die  Zeit  des  Schmerzes  und 
der  Verzweiflung.  Denn  Gianni  dei  Bellani  war  nur  der 
Sohn  eines  armen  Musikanten  und  Lucrezia  die  Tochter 
eines  edlen,  reichen  Hauses. 

Es  kam  die  Zeit ,  wo  das  Mädchen  herrlich  zur 
Jungfrau  erblüht  war  und  man  da  und  dort  munkelte, 
dass  nächstens  ein  vornehmer  Freier  um  des  Senators 
liebliches  Kind  anhalten  werde. 

Bald  nannte  man  denn  auch  einen  Namen.  Es  war 
der  schöne  junge  Messer  Guido  de  Gistellamo,  den  der 
Senator  zu  seinem  Eidam  ersehen  hatte,  ein  Jüngling 
von  einnehmendem  Wesen  und  Sprosse  eines  grossen 
Hauses.  Lucrezia  wurde  nicht  gefragt  nach  ihres  Herzens 
Neigung,  die  Verschwägerung  aber  von  beiden  Sippen 
besprochen  und  beschlossen,  und  Messer  Guido,  der 
ein  feuriger,  lebenslustiger  junger  Edelmann  war  und 
an  dem  reizenden  Mädchen  grosses  Gefallen  fand,  war 
aller  Abmachungen  sehr  zufrieden. 

Nun  sah  Gianni  an  seiner  holden  Liebe  gar  oft 
verweinte  Aeuglein  und  bleiche  Wangen,  denn  sie  hatte 
arges  Herzeleid.  In  seine  eigene  Brust  aber  zog  das 
Unglück  ein,  und  die  Verzweiflung  klang  in  seinem 
Herzen  wie  ein  Todtenlied.  Jetzt  öfter  als  früher  musste 
Filippo  mit  dem  Jungen  hinauskommen  in  die  Villa, 
denn  es  gab  Lustbarkeiten  genug,  und  da  konnte  man 
der  Spielersleute  nicht  entrathen. 

Sah  er  aber  Lucrezia's  Augen,  deren  feuchten 
Schimmer  er  nun  so  wohl  kannte,  dann  packte  ihn  ab- 
grundtiefes Weh  und  all  sein  Schmerz  klang  heraus  aus 
seinem  Spiele.  Die  Zuhörer  aber  nickten  Beifall,  denn 
nie  früher  hatte  der  junge  Geiger  so  herrlich  gespielt.  — 


Wie  es  kam,  wusste  er  selber  nicht,  aber  die  beiden 
jungen  Männer  hatten  sich  schon  einige  Male  prüfend 
in  die  Augen  gesehen.  Sei  es,  dass  Messer  Guido  mehr 
in  den  Blicken  Gianni's  erspäht  als  offenkundig  werden 
sollte,  sei  es,  dass  er  in  Lucrezia's  Wesen  irgend  etwas 
gefunden ,  das  ihm  zu  denken  gab :  er  hasste  ihren 
Jugendgespielen  recht  aufrichtig  und  könnt'  es  nicht 
vermeiden,  dass  hin  und  wieder  ein  Auf  blitz  in  seinen 
schwarzen  Augen  dem  Geiger  den  Feind  verrieth.  Ihm 
aber  war  der  geschmückte  Edelmannssohn  ein  Dorn  im 
Auge ,  und  oft  wünschten  ihn  seine  Gedanken  in  den 
äus-scrsten  Höllengrund. 

Messer  Guido  aber  konnte  sich  ganz  nicht  meistern. 
Und  kam  sein  Unmuth  in  hämischen  Bemerkungen  erst 
nur  für  Lucrezia  zu  Tage,  so  that  er  gar  bald  gegen 
Gianni  selb.st  spöttelnde  und  mäkelnde  Reden,  und  aus 
kurzen  Worten ,  die  sich  allmälig  zusammentrugen, 
entstand  bald  ein  Vorrath  von  Hass,  so  dass  es  nur 
eines  Fünkchens  bedurfte,  dass  prasselnd  die  helle  Lohe 
aufging. 

Das  Mädchen  merkte  bangen  Herzens  fernes  Sturmes- 
wehen, und  ängstliche  Ahnung  erfüllte  sie  voll  zager 
Sorge.     Da  wusste  sie  nun  Gianni  zu  bitten  und  zu  be- 


"^ewik.  TWüi 


Henrik  Nordenber^,  Düsseldorf.     Studie. 


1* 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


schwören  und  ihm  manches  Versprechen  abzuschmeicheln. 

Er  aber,   der  ihr  eigenes  Unglück   sah    und   sein   Blut 

heiss    und    leidenschaftlich    im    Herzen    pochen    fühlte, 

wusste   nur,    dass  er  nichts 

ändern  könne,  und   dass  er  ^ 

den  Andern  hasste  als  seinen 

Todfeind. 

Verkümmert ,  verblasst. 
geknickt  war  die  Blüthe  sei- 
nes Glücks  und  zerrissen  sein 
Gemüth.  —  Da  gab  es  trau- 
rige Tage  und  schwüle  Som- 
mernächte, und  je  näher  die 
Zeit  kam,  wo  Messer  Guido 
Lucrezia  als  sein  junges 
Weib  heimführen  sollte  desto 
dumpfer  wurde  es  in  Gianni's 
Kopf  und  Herzen.  Vorerst 
aber  musste  er  wohl  Acht 
haben,  Lucrezia's  Bitten  in 
Rücksicht  zu  behalten  und 
seinem  Nebenbuhler  auszu- 
weichen, denn  oft  schon  war 
es  ganz  nahe  gewesen,  dass 
sie  auf  einander  losgegangen 
auf  Leben  und  Tod.  Nichts 
wäre  ihm  erwünschter  ge- 
wesen, als  alle  Qual  in  einem 
einzigen  Ausbruch  der  Lei- 
denschaft zu  kühlen,  und 
sollte  er  den  Schmerz  auch 
im  eigenen  Blute  ertränken. 

Der  Tag  war  bestimmt, 
wo  Messer  Guido  Lucrezia  s 
Gatte  werden  sollte.  Ls  nahte 
ihr  Geburtsfest.  Ein  festlicher 
Abend  im  Landhause  des 
Senators  sollte  alle  Freunde  des  Hauses  vereinen;  auch 
die  Spielersleute  waren  hinausgefordert  worden,  Madonna 
Lucrezia's  Geburtsfest  verschönen  zu  helfen. 

Ach,  so  schön,  so  herrlich  war  die  Julinacht,  von 
Mondlicht  vergoldet,  in  dem  die  Landschaft  erglänzte 
wie  eitel  Edelerz.  Und  Gianni  spielte  schöner  als  je. 
Waren  nicht  Lucrezia's  Blicke  auf  ihn  gerichtet,  dass 
er  all  ihren  Schmerz,  ihren  Kummer  daraus  schimmern 
sah    wie  Thränenperlen  ?    —    Und  dabei    nickte  sie  ihm 


V. 


'^if 


Htnrik  XorJtmttrg,  Düsseldorf.     Studir. 


verstohlen  zu  und  spielte  mit  einer  rothen  Rosenknospe, 
die  sie  in  den  schlanken  Fingern  hielt.  Ja ,  er  kannte 
die  Sprache,  wenn  sie,  wie  in  Gedanken,  die  Blüthe  an 

die  Lippen  führte,  ein,  zwei, 
drei  Mal.  —  Fem  im  Parke 
unten  gab's  einen  Platz,  ver- 
steckt unter  Lorbeerbäumen 
und  hohen  Hecken.  Dort. 
in  einer  Nische,  die  tief 
hincingeschnitten  war  in  den 
Laubgang,  stand  eine  Mar- 
morsäule, die  einen  Fauns- 
kopf trug  und  dort  hatte  er 
oft  schon  der  Geliebten  ge- 
harrt, wenn  der  Mond  die 
Landschaft  vergoldet  hatte, 
wie  heute.  Wieder  führte  sie 
die  BlUthe  an  die  Lippen ;  — 
ja,  er  verstand  die  Sprache 
gar  wohl  —  heute  noch  sollte 
er  sie  in  den  Armen  halten, 
die  Geliebte,  Süsse ;  —  heute 
noch,  wenn  das  Haus  im 
Schlummer  lag  und  man  weit- 
um  nichts  hörte  als  das  Plät- 
schern der  Was,ser  in  den 
marmornen  Becken.  Und  jener 
Elende,  Verhasste  dort  —  ... 
Ks  ging  laut  und  fröhlich 
her  heute  im  Hause  des  Sena- 
tors. Feurig  perlte  der  Wein 
in  den  Pokalen  und  man 
trank  die  Gesundheit  des 
jungen  Paares. 

Auch  Gitinni  trank,  trank, 
dass    .sein     Blut     feuerheiss 
durch  die  Adern  stürmte  und 
wild  in  den  Schläfen  pochte. 

Endlich  aber  ging  das  Fest  seinem  Ende  zu.  Die 
Hallen  leerten  sich.  Noch  einen  Blick  des  Verständ- 
ni.s.ses  konnte  er  von  Lucrezia  erhaschen ,  als  sie  mit 
Messer  Guido  in  einem  der  Bogenfenster  stand.  Er 
sprach  die  süssesten  Worte  zu  ihr,  aber,  seltsames 
Himmern  im  Auge,  hörte  sie  kaum  auf  seine  Rede, 
dass  ein  paar  Mal,  blitzgleich,  ein  spötti.sches  Lächeln 
um    seinen     Mund    flog.      Sie    aber    hatte    trotz    Allem 


> 


DIK  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


noch  einmal  Gianni  zuzuwinken  vermocht,  ehe  er  die 
Halle  verliess.  — 

Er  ging  mit  dem  Alten  ein  gutes  Stück,  dann  trennte 
er  sich  unter  einem  V^orwande  von  ihm.  Aber  noch 
war  es  nicht  an  der  Zeit.  So  machte  er  einen  weiten 
Umkreis  auf  wohlbekannten  Wegen. 

Die  Nachtluft  kühlte  seine  Stime  nicht.  Seine 
Pulse  flogen ,  seine  Hände  zitterten  und  seine  Wangen 
brannten.  Heute  durfte  er  ihn  nicht  sehen,  heute 
nicht,  —  er   hätte  ihn  in  den  Fäusten  zermalmt. 

Endlich    war  er  den  Weg  zum  Landhause 

wieder  zurückgegangen.  Die  Geige  in  der  Hand  schritt 
er  in  den  weiten  Garten  hinein,  Wege,  die  er  oft  genug 
schon  gegangen  war,  unter  den  Bäumen,  im  Schatten 
der  Hecken,  bis  er  an  den  Platz  gelangte.  Dort  stellte 
er  sich  in  die  tiefe  Nische,  in  den  Schatten  der  marmor- 
nen Säule  und  wartete. 

Lautlose  Stille  ringsumher. 

Fern  im  Gebüsche  hub  eine  Nachtigall  an  in  lang- 
gezogenen Tönen  zu  singen. 

Und  auf  dem  bekie-stcn  Wege  lag  das  Mondlicht 
und  übei^oss  die  Bäume  drüben  mit  bleichem  Schimmer. 

Kein  Laut. 

Wie  oft,  wie  oft,  hatte  er  auf  sie  hier  gewartet  I 

Wie  oft,  wie  oft  sie  an  sein  Herz  gedrückt,  voll 
unaussprechlicher  Liebe ! 

Wie  viele  der  sü.ssesten  Worte,  der  zärtlichsten 
Kosenamen  von  ihren  geliebten  Lippen  gehört! 

Wie  viele  der  innigsten ,  unvei^esslichsten  Küsse 
von  diesen  Lippen  empfangen,  —  lange,  lange,  regungs- 
lose, berau-schende  Küsse,  in  denen  ihm  war,  als  tauschte 
er  ein  Stück  Seele  mit  ihr  — 

Wie  viele !     Wie  viele  I 

Welch'  un.säglich  süssen  Traum  hatte  hier  das  Mond- 
licht gesponnen  mit  .seinen  goldenen  Fäden,  und  die  Blumen- 
düfte, und  die  laue  Luft,  und  der  weite  Garten  mit  .seiner 
friedeathmenden   Ruhe.    Welch'   süssen,   süssen  Traum  1 

Und  jetzt  —  und  jetzt  I 

Er  lehnte  den  heissen  Kopf  an  die  Säule  und 
presste  die  Zähne  aufeinander,  dass  sie  knirschten. 
Seine  Faust  ballte  sich,  und  es  .schüttelte  ihn,  wie  Fieber. 

Mit  einem  Male  aber  horchte  er  auf. 

Ein  leiser  Schritt,  der  näher  kam  —  Lucrezia. 

Gianni  beugte  sich  vor  und  sah  über  den  Weg, 
pochenden  Herzens. 

Plötzlich  aber  war  ihm,  als  stocke  das  Blut  in  seinen 


Adern,  und  als  ströme  es  dann  wieder  wie  mit  einem 
heftigen,  schmerzenden  Schlage  alles  hinauf  in  sein  Hirn. 

Denn  im  hellen  Mondenschimmer  erkannte  er  ihn, 
—  ihn,  den  verhassten  Nebenbuhler,  den  Todfeind,  den 
Räuber  seines  Glückes! 

Mit  einem  dumpfen  Klange  fiel  die  Geige  am  Fusse 
der  Säule  herab. 

Und  im  Nu  hielt  Gianni    den  Dolch    in   der  Faust. 

Messer  Guido  aber  hatte  Augen,  scharf  wie  die  eines 
Falken,  hii  bleichen  Mondlichte  blitzte  die  lange,  schlanke 
Klinge  seines  Degens. 

c  Elender  Bube !  »  stiess  er  heraus. 

Aus  Gianni's  Brust  kam  ein  Ton  hervor,  wie  der 
Kampfschrei  eines  Raubthieres.  Dann  stürzte  er  mit 
einem  wilden  Ansprunge  los  auf  den  Verhassten.  — 
Ein  paar  heftige  Schritte,  dass  der  Kies  flog  —  ein  lauter 
Aufschrei,  wie  der  letzte  Ton  aus  zu  Tode  getroffener 
Brust,  und  von  Lippen,  die  sich  nie  mehr  regen  sollten. 

Mechanisch  that  Gianni  einen  Schritt  nach  rück- 
wärts und  fiel  an  der  Säule  zusammen 

Im  fernen  Gebüsche  tönten  die  klagenden  Töne 
des  Liedes  der  Nachtigall,  und  das  Plätschern  der 
Fontänen,  gleichmässig    wie    immer.     Sonst   kein   Laut. 

Am  Fusse  der  Säule  aber  lag  Gianni  regungslos, 
das  todtenbleiche  Gesicht  dem  Himmel  zugekehrt,  die 
schwarzen  Locken  wirr  in  der  Stirne  und  den  gebrochenen 
Blick  hinaufgerichtet  in  das  goldene  Mondlicht  und  die 
azurnen  Himmelsfernen. 

♦  * 

Ja,  wenn  sie  zu  sprechen  vermocht  hätte,  die  alte 
Geige !  Wenn  .sie  alle  die  Geschichten  zu  erzählen 
vermocht  hätte,  die  sie  in  den  langen,  langen  Jahren 
erlebt  hat!  Von  der  Stunde  an,  wo  man  die  feinen 
Brettchen  zusammenleimte,  vorsichtig,  langsam,  wohl- 
bedacht, und  wo  man  sie  dann  aus  der  Taufe  hob  mit 
dem  ersten  Bogenstrich,  bis  hinauf,  hinauf,  der  Jetztzeit 
zu,  bis  daher,  wo  sie  auf  dem  hochlehnigen,  alten  Sessel 
lag,  stumm  und  unbrauchbar,  ein  missach teter  Krüppel. 

Sie  war  durch  so  viele  Hände  gegangen,  so  vieles 
war  auf  ihr  gespielt  worden,  Freude,  Schmerz,  Leicht- 
sinn, Ernst  und  Jubel,  Kummer,  Leidenschaft,  Liebe, 
Hass,  Glaube  und  Unglauben. 

Anfangs  hatte  man  sie  nicht  recht  beachtet.  Dann 
schätzte  man  sie  allmälig  höher.  Wechselte  sie  den  Besitzer, 
so  wurde  der  Preis  immer  grösser  und  sie  wurde  immer 
rücksichtsvoller  behandelt,    wie   ein   kostbares  Kleinod. 


6 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Und  wie  änderten  sich  die  Menschen  in  dem 
schnellen  Laufe  der  Jahre!  Wie  änderte  sich  ihr  Aus- 
sehen, ihre  Sprache,  ihre  Lebensweise!  —  Zuletzt  war 
es  so  lange,  dass  der  Meister  in  Cremona  sie  ins  Leben 
gerufen  hatte,  dass  alle  die  Bilder  verschwommen 
waren  und  grau,  undeutlich  wie  Nebelgestalten.  Un- 
glaublich aber  war  es,  dass  man  endlich  vergass,  woher 
sie  stammte,  ja,  dass  man  sie  zu  behandeln  anfing,  als 
wäre  sie  eine  ganz  gewöhnliche  Geige  wie  hundert 
andere!  Nur  hin  und  uieder  kam  sie  in  die  Hände 
eines  besser  Kundigen,  und  dann  hiess  es:  (Ah,  das  ist 
ein  werth volles  Stück!  Ja,  ja,  vielleicht  ist  es  eine 
Stradivari!"     Vielleicht  —  o  Jammer! 

Dann  endlich  kam  sie  —  um  einen  Spottpreis  — 
in  die  Hände  eines  alten,  absonderlichen  Kauzes.  Der  lebte 
mutterseelenallein  in  einem  halbverfallenen  Hause,  und 
nie  betrat  jemand  Anderer  die  düstere  Wohnung,  als 
eine  Bedienerin,  die  ebenso  eisgrau,  ebenso  runzelig, 
eben-so  mumifizirt  war  wie  ihr  Herr.  Der  aber  hatte  alle 
die  Räume,  in  denen  sich  die  barocken  Decken  mit 
den  schweren  gypsemen  Guirlanden,  Blumen  und  Arabes- 
ken mitunter  bedrohlich  nach  abwärts  ausbogen ,  ganz 
angefüllt  mit  unzähligen  Dingen,  sonderbarem  Gerumpel, 
Waffen.  Büchern,  Vasen ,  Gemälden  und  alten  Instru- 
menten. Und  darin  kramte  und  hantirte  der  hagere, 
merkwürdig  behende  Greis  mit  dem  langen,  weissen 
Haare  den  ganzen  Tag  umher,  vom  frühen  Morgen  bis 
zum  späten  Abend. 

Ging  er  einmal  aus,  dann  zog  er  einen  Leibrock 
an,  der  hatte  den  Schnitt  aus  Urgrossväterzeiten  und 
der  hohe  Hut  passte  dazu.  Die  Knaben  auf  der 
Strasse  neckten  ihn  hin  und  wieder,  ja  sie  zupften  ihn 
manchmal  sogar  an  den  langen  Rockschös.sen.  Dann 
verstand  es  der  merkwürdige  Alte  aber,  eine  blitzschnelle 
Bewegung  zu  machen  und  mit  seinem  Rohrstocke  einen 
so  wuchtigen  Hieb  zu  führen,  wie  kein  Mensch  es  ihm 
zugetraut  hätte.  So  Hessen  ihn  denn  auch  die  für- 
witzigen Jungen  bald  in  Ruhe.  Kam  er  nach  Hause, 
so  brachte  er  fast  immer  ein  neues  Stück  mit,  ein 
metallenes  Spiegelchen,  oder  eine  alte  Uhr,  ein  Porzellan- 
figürchen  oder  einen  Leuchter.  Die  pflegte  er  dann 
höchst  sorgsam  mit  ledernen  Läppchen  zu  reinigen  und 
mit  den  scharfen,  klugen  alten  Augen  zu  begucken,  von 
allen  Seiten.  Manchmal  verzog  sich  dann  sein  Mund 
zu  einem  höhni.schen  Grinsen,  ja,  laut  und  gellend  lachen 
konnte  er  sogar.  <  O  die  Menschen,  die  Menschen  1  > 
kicherte  er  dann  seelenvergnügt,    « die  dummen,  blinden 


Maulwürfe!  Kennen  nichts,  nichts,  —  wissen  nichts  und 
verschleudern  Alles,  Alles:  die  Uhren,  die  Teller,  ihre 
Bilder,   ihre  Häuser,  ihr  Leben  —  ohohoho!» 

Als  er  die  Geige  gekauft  hatte,  das  war  ein  grosser, 
feierlicher  Tag.  Der  Alte  hatte  sie  Abends  nach  Hause 
gebracht,  sorgsam  unter  seinem  grünen  Leibrocke  ge- 
borgen. Dann  erfolgte  bei  Lampenlicht  eine  sehr  sorg- 
fältige Reinigung,  denn  sie  war  in  dem  schmutzigen 
Trödelladen  unbeachtet  in  einem  Winkel  vergessen 
gewesen.  Heute  machte  der  Alte  ein  ernstes  Gesicht, 
und  während  er  so  über  die  Geige  gebeugt  dasass,  ging 
sein  Athem  ganz  kurz,  als  ob  er  sehr  erregt  gewesen 
wäre.  <  Bei  Gott»,  .^agte  er  endlich,  «wenn  das  kein 
Stradivarius  ist,  dann  kenne  ich  nichts  mehr!» 

Nun  ging  er,  holte  aus  einem  schwarzen  geschnitzten 
Schranke  Saiten  und  einen  Bogen,  setzte  Alles  in  Stand, 
nahm  die  Geige  dann  sorgfältig  auf,  ging  in  das  nächste 
Zimmer,  indem  es  ganz  dämmerig  war,  und  begann  zu  spielen. 

Und  wie  spielte  er! 

Aus  der  Geige  tönte  es  wie  neuer\vccktes  Leben, 
wie  eine  Tonfluth,  die  lange,  lange  zurückgehalten  war 
und  nun  endlich  her\'orbrach.  Der  Alte  aber  sa.ss  auf- 
recht da,  sein  Gesicht  leuchtete,  seine  Augen  schienen 
doppelt  so  gross  wie  sonst  und  blitzten  wie  die  eines 
Jünglings.  Manchmal  neigte  er  den  Kopf  ganz  tief  auf 
die  Geige  und  schmiegte  sie  wie  in  hetsser  Liebe  an  seine 
magere  Wange,  und  dabei  führten  die  langen,  knöchernen 
Finger  den  Bogen  sicher  und  unbeirrt,  einmal  mit 
starkem,  schneidendem  Striche,  da.ss  es  klang  wie  Metall, 
dann  wieder  sanft,  weich,  hinschmelzend  wie  AeoLsharfen- 
töne.  Endlich  endete  der  Alte  .sein  Spiel  mit  einer  breiten, 
schrillen,  lauten  Dissonanz,  stand  auf,  kramte  aus  dem 
geschnitzen  Kasten  ein  Geigenfutteral  hervor,  legte  die 
Geige  wieder  hinein  und  versperrte  Alles  in  dem  Kasten. 

Seither  aber  holte  er  sie  jeden  Abend,  wenn  es 
dunkel  ward,  hervor,  ging  in  das  Nebenzimmer,  .schloss 
Thüren    und    Fenster  ab   und  spielte,   oft  stundenlang. 

Eines  Tages  aber   war  der  merkwürdige  alte 

Herr,  von  dem  Niemand  wusste,  wer  er  denn  eigentlich 
gewesen,  todt.  Niemand  hatte  ihn  näher  gekannt.  Nie- 
mand etwas  von  Venvandten  gewu.sst.  Niemand  einen 
Anspruch  auf  das  Erbe.  Darum  Hess  die  Stadt  Alles 
zu  Gelde  machen,  und  ein  wahres  Museum  fand  man 
in  dem  alten,  baufälligen  Hause.  Auch  baares  Geld,  — 
aber  es  waren  Münzsorten,  die  längst  nicht  mehr  kur- 
sirten,  und  Papiere,  die  seit  Men.schengedenken  keinen 
Werth  mehr  hatten. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Die  alten  Sachen  aber  wurden  hierhin  und  dorthin 
in  alle  Winde  verstreut  und  um  Spottpreise  verkauft. 
Die  Geige  wanderte  wieder  zu  dem  Trödler  zurück,  hing 
wieder  in  dem  staubigen,  dunklen  Winkel  und  hing  da 
lange  Zeit  unbeachtet. 

Eines  Tages  aber  kam  ein  ziemlich  verwahrloster 
Mensch  in  den  Laden  und  fragte  um  ihresgleichen. 

f  Habt  Ihr  etwa  eine  Geige  zu  verkaufen,  Menichino  ?  > 

€  O,  Maestro  Lampega»,  sagte  der  Herr  des  Ladens 
und  lachte.  « Violin-  und  Balletmeister !  Wo  habt  Ihr 
denn  die  Eure  gelassen  ? » 

cja,  denkt  Euch  mein  Unglücke,  erwiderte  Jener. 
€  Gestern  Abends,  als  ich  nach  Hause  kam  —  Ihr  wisst, 
es  hat  stark  geregnet  —  da  gleite  ich  aus,  falle  hin  und 
richtig  ist  der  alte  Kasten  entzwei !  > 

cHaha!^  lachte  Menichino,  »wieder  einmal  tief 
ins  Glas  geguckt,  Maestro?» 

»Gott  bewahre!  Ich  sagte  Euch  ja  —  der  Regen. 
—  Aber  habt  Ihr   so  ein  altes,   passables  Instrument?» 

Menichino  reichte  ihm  eines  hin. 

€  Hm,  hm !  >  machte  der  Maestro  und  schaute  höchst 
verständig  d'rein.  c  Alter  Kasten  —  leichte  Arbeit,  ist 
Nichts  werth.     Was  soll  sie  kosten?» 

c  Zwanzig  Franken.  > 

«  Zwanzig  I'ranken !  Guter  Gott  I  Sie  ist  ja  nicht 
die  Hälfte  werth.     Ich  gebe  fünfzehn  !  » 

cBaar  gezahlt,  Maestro?» 

Der  Maestro  kratzte  sich  hinter'm  Ohre. 

€  Baare  Anzahlung  fünf  Franken,  der  Re.st  in  sicheren 
Monatsraten»,  sagte  er  dann.     Ist's  recht?» 

Menichino  bedachte  sich  eine  Weile. 

«  Meinetwegen, »  sagte  er  dann,  t  Ich  bring'  den 
Kasten  sonst  schwer  los;  gebt  her!» 

Und  Signor  Lampega  legte  fünf  schmutzige,  zer- 
knitterte Lire  auf  den  L.adentisch,  nahm  die  Geige  in 
Empfang  und  ging  seiner  Wege. 

Bis  in  solche  Hände  musste  sie  kommen! 

Kr  verstand  gar  nichts,  obwohl  er  sich  immer 
brüstete,  nun  eine  c  Amati »  zu  besitzen.  Das  war  aber 
nur  Comödie,  denn  er  verstand  gar  Nichts  und  spielte,  dass 
es  zum  Erbarmen  war.  Unmuthig  surrte  die  Geige 
unter  den  verstimmten  Saiten,  wenn  er  sie  in  die  plum- 
pen Hände  nahm ;  aber  es  nutzte  nichts,  und  sie  musste 

sich  wohl  oder  übel  in  ihr  trauriges  Schicksal  ergeben. 

* 
*  * 

Nino  Lampega  spielte  die  Geige  und  gab  Tanz- 
unterricht.    Sein  Vater   hatte   im  Theater  Malibran   die 


achte  oder  neunte  Violine  geführt,  schlecht  und  recht, 
und  das  bischen  « Kunst »  war  das  einzige  Erbtheil,  das 
er  dem  Sohne  hinterlassen.  Der  kleine  Nino  war  auch 
auf  der  Bühne  verwendet  worden  und  hatte  tanzen  ge- 
lernt. Seitdem  war  ein  Menschenalter  vergangen  und 
Nino  Lampega  hatte  zu  dem  väterlichen  Erbe  nichts 
weiter  erworben ;  er  besass  nur  das  bischen  « Kunst  » , 
dazu  aber  einen  Titel,  dem  es  nichts  an  Wohlklang 
nahm,  dass  er  sich  ihn  selbst  beigelegt.  Er  nannte  sich 
Violin-  und  Balletmeister. 

Die  «Kunst»  trug  schrecklich  wenig  ein,  aber  er 
war  genügsam,  und  Siora  Tina  verstand  es  prächtig, 
Wä.sche  zu  waschen  und  schadhafte  Strümpfe  auszu- 
bessern.    So  schlug  man  sich  durchs  Leben. 

Dazu  führte  Nino  eine  gute  Feder,  verstand  es,  die 
Worte  wohlgefällig  zu  setzen  und  brachte  poetische 
Liebesbriefe  zu  Wege.  Sein  Herz  war  nämlich  jung, 
wenn  auch  die  Haare  grau  wurden.  Und  er  pflegte  zu 
behaupten,  dass  er  einmal  ein  ganz  wunderhübscher 
Junge  gewesen.  Davon  sah  man  freilich  nichts  mehr. 
Unter  dem  gelbgrünen  Cylinder  mit  der  verbogenen 
Krempe  schauten  die  tiefliegenden  Augen  aus  dem 
mageren,  knochigen  Gesichte  immer  mehr  hungrig  als 
unternehmend  in  die  Welt,  und  Siora  Tina  behauptete 
anstandslos,  sie  habe  den  « alten  Lumpen »  überhaupt 
nicht  anders  gekannt,  und  er  sei  stets  so  ein  «Häring» 
gewesen.  Dann  lächelte  Nino,  denn  es  war  ja  doch 
kein  Auskommen  sonst  mit  der  Frau,  und  zanken  wollte 
er  nicht.  Siora  Tina  hatte  auch  allzu  stämmige  Arme  und 
kräftige  Muskeln.    Die  ewige  Gymnastik  am  Wa.schtroge ! 

Heute  regnete  es  trostlos.  Die  dicken  Tropfen 
spritzten  von  den  Pflastersteinen  auf  und  durch  die  Thüre 
herein  auf  den  Backsteinestrich,  so  dass  Nino  seinen  Stuhl 
immer  weiter  zurückrückte  und  die  zwei  Wochen  alte 
Zeitung,  die  ihm  der  Marqueur  im  Cafe  Italia  zugesteckt 
hatte,  aus  .schierer  Verzweiflung  zum  zwanzigsten  Male 
wieder  von  vorne  begann.  Es  dämmerte,  trotzdem  es 
noch  früh  am  Nachmittage  war.  Dazu  wusch  Siora 
Tina  rückwärts  in  der  Küche,  und  durch  die  offene  Thüre 
drang  Dampf  und  Laugengeruch  herein.  Auch  zog  es, 
aber  am  Ende  machte  sie  wieder  eine  Scene,  wenn  er 
die  Thüre  schliessen  wollte,  und  so  fugte  er  sich  geduldig 
wie  immer  in  sein  Schicksal. 

« Dieses  verdammte  Wetter ! »  hörte  man  Siora 
Tina's  rauhe  Stimme.  «Wie  ich  wohl  meine  Wäsche 
trocknen  soll?!»  —   *Und  Du,  Faulpelz,  he?»  — 

Nino  antwortete  Nichts  und  that  nur  einen  Zug  an 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEFF. 


dem  Stummel  Virginiercigarre,  das  er  zwschen  die  Lippen 
geklemmt  hielt. 

«He!»  schrie  Siora  Tina. 

»  Was  sagst  Du ,   mein  Engel  r  ?    fragte  Nino  sanft. 

?,  Ha  —  mein  Engel !  ?  pustete  Siora  Tina  gering- 
schätzig und  .schmiss  mit  den  krebsrothen  Armen  einen 
Ballen  Wäsche  platschend  in  das  Wasser. 

«Du  hast  es  gut!»  meinte  Nino. 

«So  —  gut!     Ich  möchte  wissen  wie! 

«Wegen  des  warmen  Wassers»,  s^^e  Nino. 

«Du  kannst  ja  auch  waschen»,  rief  seine  Frau,  und 
ein  höhnisches  Lachen  ging  um  ihren  Mund.  <  Immer 
besser  als  das  verrückte  Fiedeln  und  der  Schwindel  von 
Tanzstunden.    Freilich,  hier  ist's  hübsch  wann.  "■    Platsch 

—  die  Arme  tief  in  den  Trog. 

Aber  Nino  steuerte  diplomatl<«ch  auf  ein  bestimmtes 
Ziel  los.  Er  hätte  gar  zu  gerne  die  Thüre  zur  Küche  ge- 
schlossen. Denn  Marietta  von  drüben  hatte  ein  paar  Male 
schon  herübergesehen.  Er  wollte  wetten,  dass  sie  einen 
Brief  brauchte.  Daslässtsich  nur  unter  vier  Augen  abmachen. 
tEs  zieht  hier  erbärmlich  5,  sagte  er,  «und  die  Lauge 

—  Du  weisst,  Tina!  Ich  werde  die  ThUre  schliessen. ? 
Wohlweislich  wartete  er  jedoch  erst  ihre  Zustimmung  ab. 
<  Meinetwegen  schliess  was  Du  willst  ^ .  rief  sie. 

Ah !  Die  Thüre  war  zu  und  hören  konnte  sie  auf 
keinen  Fall  viel ;  sie  machte  immer  so  einen  Höllen- 
lärm.    Nun  mochte  Marietta  kommen. 

Richtig   —  es  dauerte  gar  nicht  lange. 

t  Ein  Briefchen,  gelt  ? » 

<  Ja,  Maestro » ,  sagte  das  hübsche  Mädchen  und 
erröthete,  aber  nur  ganz  wenig. 

■>  Eh,  eh  —  ich  habe  mir  s  gedacht!  Warte  —  — ^ 
so,  da  ist  Papier,  Siehst  Du  ?  —  Wunderhübsch,  nicht 
wahr?  Fünf  centesimi  der  Bogen.» 

<  O  Himmel !  »  sagte  das  Mädchen. 

< Meine  Seele,  es  kostet  mich  selbst  so  viel», 
betheuerte  der  Maestro.  <  Und  nun  komm'  her,  so, 
setz  Dich  daher,  —  daher  zu  mir ;  jetzt  wollen  wir  ihm 
schreiben,  dem  Moretto,  nicht  wahr?» 

Das  Mädchen  hatte  sich  dicht  an  seine  linke  Seite 
gesetzt,  um  den  Fortgang  des  Werkes  gehörig  contro- 
liren  zu  können. 

«Ja,  schreibt  ihm,  dass  ich  ihn  gar  nicht  mehr 
mjig  und  — 

-Oho,  mein  Schatz!  das  geht  ja  nicht,  —  oh?» 
und  er  liebkoste  ihr  hübsches,  rundes  Kinn.  "  Sind  wir 
schon  wieder  einmal  böse  auf  ihn  ?  3> 


«Ich  mag  ihn  auch  wirklich  gar  nicht  mehr»,  sagte 
die  Brünette  mit  einem  leidenschaftlichen  Aulblitzen  in 
den  schwarzen  Augen.  «Schreibt  ihm  das,  und  was 
er  denn  so  lange  in  Ravenna  mache,  wo  er  doch  ver- 
sprochen, bis  im  August  hier  zu  .sein,  und  jetzt  ist  es 
Oktober  .  .  .  Und  ob  er  sich  denn  gar  nicht  mehr  der 
armen,  armen  Marietta  erinnere  .  .  .  und  der  schönen 
Tage  .  und  wie  wir  bd  der  Hochzeit  der  Lucia  ge- 
tanzt .  .  .  und  ob  er  noch  das  Halstuch  trägt,  das  ich 
ihm  geschenkt,  ...  es  hat  baare  zwei  Lire  gekostet,  per 
Dio  I  .  .  .  und  dass  Vico  vom  Meister  fort  ist  .  .  .  und 
dass  die  Malia  jetzt  das  zweite  Kind  hat.  und  ihr  Mann 
ist  so  dumm  und  ärgert  sich  darüber  .\ber  er  soll 

sich  nicht  einbilden,  dass  er  mir  etwas  weis  machen  kann 
.  .  .  und  treu  bin  ich  ihm  immer  .  .  .  aber  er  ist  ein  loser 
Vogel,  der  am  Ende  nichts  mehr  von  mir  weis,s  ...  ich 
aber  kratze  ihm  die  Augen  aus,  wenn  er  wieder  zurück 
i.st  .  .  .  denn  versprechen  und  halten  i.st  zweierlei  .  .  . 
und  er  soll  nur  nicht  glauben,  dass  er  der  Einzige  ist 
in  der  schönen  Welt  ...  ich  brauch  ihn  ja  gar  nicht 
und  mag  ihn  nicht  !> 

Maestro  Nino  schrieb  tndess,  dass  es  eine  Lust 
war.  Dabei  legte  er  je  zuweilen  seine  Hand  auf  das 
Knie  des  Mädchens  oder  sachte  um  ihre  geschmeidige 
Taille.  Wenn  sie's  ihm  verwehrte,  sagte  er:  «Wir 
Künstler  . .  .  .  >  Und  bd  dem  prachtvollen  Liebesbriefe 
wurde  das  lederne  Gesicht  des  alten  Sünders  immer  röther. 
Seine  Phantasie  spielte  ihm  den  Streich,  dass  er  an  Siora 
Tina  denken  musste,  wie  sie  noch  ein  junges  Mädchen  war. 
Sapperment,  sie  war  schön  I  Diese  Augen !  Diese  Taille. 
Diese  Hüften  .  .  .  fest,  geschmeidig,  rundlich,  biegsam  .  .  . 

Er  schrieb  mit  etwas  zitternder  Hand  gerade  eine 
prachtvolle  Wendung,  schnalzte  mit  der  Zunge  dazu  und 
fa.sste  Marietta  mit  dem  dürren  Arm,  sie  so  zu  sich 
hinziehend,  dass  ihm  das  Mädchen  fast  an  die  Brust  fiel. 

f.  Seid  Ihr  verrückt,  Maestro  ?  »  fragte  sie  und  stiess 
ihn  von  sich. 

Aber  wirklich,  diese  alte  Künstlerseele  war  ganz 
verrückt  wenn  es  einmal  brennheiss  wurde  unter  dem 
grauen  Schädel. 

«Ah,  angelo  mio,  Du  bist  schön  wie  eine  Nelke!» 
stöhnte  er.  «Und  jetzt  kommt  der  Schluss.  —  Schön 
wie  eine  Nelke,  und  wenn  der  Moretto  nicht  der  grösste 
Rsel  von  der  Welt  ist  —  Ohe!  Dieser  prachtvolle 
Brief!  Und  zum  Schluss?  —  Eine  Lira  ist  er  unter 
Brüdern  werth,  aber  Dir  kostet  er  nur  drei.ssig  centesimi, 
denn  Du  bist  das  hübscheste  Blitzmädel  meiner  Seele. » 


(lolthKriH  Kiiithl   ]ut,% 


l'liot    F    llsnrttianfl,  Manehin. 


Kirehen-Interieur. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH'. 


Wahrhaftig,  Maestro  Nino  war  ganz  verrückt!  — 
Er  neigte  den  Kopf  auf  die  rechte  Seite  und  sah  sie 
mit  den  glänzenden  kleinen  Augen  so  an,  so  .... 
dieses  hübsche,  schwarze,  appetitliche  Ding,  —  o  heiliges 
Kreuz !  c  Zum  Schlüsse  viele  Grüsse  und  viele,  viele 
Küsse»,  sagte  Marietta. 

cEcco,  ecco,  da  sind  sie»,  rief  Nino  und  verewigte 
Alles  auf  dem  Papiere,  wo  die  Tinte  so  hübsch  aus- 
einanderfloss.  c  Viele  Grüsse  —  und  viele,  viele  Küsse 
—  o  heiliges  Kreuz!  Fertig  —  fertig!  Viele,  viele 
Küsse,  —  hundert,  —  tausend,  —  zehntausend,  —  zehn 
Millionen  —  o  Nelke  meiner  Seele,  und  mir  nur  einen!» 

Er  winselte  förmlich  vor  Liebe  und  fasste  das 
Mädchen  fest  mit  beiden  Armen.  Sie  stiess  zwar  mit  den 
Fäusten  gegen  seine  Brust,  aber  Maestro  Nino  war  ent- 
schlossen ,  heftig  entschlossen ,  und ;  c  hol'  mich  der 
Teufel!»  rief  er,  cwenn  ich  sie  nicht  küsse,  diese  kirre 
Taube ! » 

Sie  bog  ihren  Kopf  hinunter,  und  vor  seinem 
Munde  war  der  schönste,  jungfräulichste,  rosigste  Nacken, 
von  den  kokettesten  schwarzen  Löckchen  umspielt,  und 
so  kUsste  denn  der  Maestro  mit  einer  wahrhaft  lech- 
zenden Gier 

Um  aber  plötzlich  einen  entsetzlichen  Sprung  in 
die  Höhe  zu  nukchen.  —  Siora  Tina  war  in  die  Thüre  der 
Küche  getreten.  —  O,  o  1  Sie  hatte  die  ganze  Schändlich- 
keit und  Niederträchtigkeit  gesehen,  bebend  vor  VVuth  wie 
eine  gereizte  Tigerin.  Aber  sie  wollte  abwarten,  was 
denn  eigentlich  geschehen  werde.  Und  im  Momente, 
wo  Maestro  Nino  im  Begriffe  stand,  die  Früchte  seiner 
Kühnheit  zu  geniessen,  fand  sie  das  rechte  Mittel  zur 
exemplarischen  Ahndung.  Sie  hob  ein  Stück  Wäsche 
aus  dem  dampfenden  Troge,  ballte  es  zusammen  und 
schleuderte  es  mit  aller  Kraft  nach  ihm.  Das  nasse, 
heisse  Projectil  fuhr  wie  eine  Bombe  an  seinen  Kopf, 
und  darauf  machte  Maestro  Nino  einen  wahrhaften  Luft- 
sprung, wie  ein  angeschossener  Hirsch  Mit  zwei  Schritten 
stand  er  in  einer  Ecke  des  Zimmers,  rückwärts  von  der 
Wand,  vorne  von  der  Bettlade  gedeckt,  wischte  mit  der 
Hand  das  warme  Seifenwasser  fort,  das  ihm  in  den 
Nacken  rann  und  sah  mit  dem  Gefühle,  dass  nun  eine 
neue  Execution    folgen  müsse,   auf  Frau  Tina  hinüber. 

Marietta  war  aufgesprungen  und  hatte  das  Geld 
auf  den  Tisch  geworfen. 

€  Dieser  alte  Esel  1 »  schrie  sie  zornig. 

«Ha,  niederträchtiger  Vagabund!»  schnaubte  Siora 
Tina.     «Ehrloser,    gottvergessener    Tagdieb!     Was    — 


hier,  in  meinem  Hause  —  vor  meinen  Augen? »  Sie  stand, 
die  Arme  in  die  Seiten  gestemmt,  mitten  im  Zimmer, 
und  Nino,  der  wider  sein  Erwarten  sah,  dass  der  Feind 
nicht  sofort  zum  Angriffe  übergehe,  schöpfte  ein  klein 
wenig  Muth.  Im  Nothfalle  blieb  ihm  noch  immer  ein 
Sprung  über  das  Bett  hinüber. 

«  Meine  Seele  —  »  sagte  er. 

«Schweig',  schweig',  oder  ich  haue  Dich  in  Stücke!  » 
schrie  Siora  Tina.  «So  ein  miserabler,  magerer  alter 
Schuft!  Was  willst  Du  denn  eigentlich,  ha?  —  Sei  froh, 
dass  Du  noch  auf  Deinen  Spindelbeinen  stehen  kannst. 
Du  elende  Figur! » 

Marietta  hatte  indess  den  Brief  zusammengefaltet, 
und  nun  fühlte  Maestro  Nino  plötzlich  doch  das 
Bedürfniss,  in  ihrer  Gegenwart  irgend  etwas  zu  sagen, 
um  seine  Activität  zu  documentiren. 

Er  schloss  den  obersten  Knopf  seines  schäbigen 
schwarzen  Leibrockes  und  sagte : 

« Wir  Künstler   sind   merkwürdige  Menschen,    —  » 

«Ein  merkwürdiger  Gaudieb  bist  Du»,  zischte 
Siora  Tina,  « ein  alter  Bajazzo,  sonst  nichts,  und  ich 
würfe  Dich  am  liebsten  da  hinaus  1 » 

Aber  Maestro  Nino  reckte  sich  mit  Würde,  schloss 
den  zweiten  Knopf  an  seinem  Leibrocke  und  sagte 
tragisch : 

«Du  würdest  zu  Grunde  gehen.  Du  könntest 
niemals  ohne  mich  leben,  meine  Seele!» 

Da  lachte  sie  höhnisch  auf  und  rief: 

« Schaut  ihn  einmal  an,  den  armen  Narren !  Ohne 
ihn  soll  ich  nicht  leben  können !  —  Als  ob  ich  dann 
nicht  zweimal  so  viel  Suppe  im  Topfe  behielte,  o  corpo 
di  Baccho!  —  So  geh'  doch  in  des  Teufels  Namen 
wohin  Du  willst!  » 

Der  Maestro  jedoch  fühlte,  je  stärker  seine  bessere 
Hälfte  sprach,  je  derber  und  massloser  sie  wurde,  ein 
desto  grösseres  SelbstbewussLsein  und  desto  mehr  Würde. 
Zwar  wischte  er  noch  hin  und  wieder  Seifenwasser  aus 
seinem  Nacken,  allein  dies  vergab  seiner  stolzen  Haltung 
nichts.  Wenn  das  gefahrliche  Weib  bis  jetzt  nicht 
handgreiflich  geworden,  so  konnte  er  am  Ende  auch 
freie  Passage  bis  zur  Thüre  erlangen.  Neben  der  Thüre 
auf  einem  Stuhle  stand  der  grüngelbe  Cylinderhut.  Kurz 
entschloss  er  sich,  trat  hinter  dem  Bette  hervor,  knöpfte 
seines  Rockes  letzten  Knopf  zu,  strich  mit  einem 
gewandten  einzigen  Handgriffe  die  dreissig  centesimi 
ein,  welche  Marietta  auf  den  Tisch  gelegt  hatte,  nahm 
seinen  Hut  in  die  Rechte,  reckte  sich  und  sagte  würde- 

2 


10 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


voll:  cDann  verlasse  ich  also  dieses  Haus  —  für  immer I 
Merke  wohl,  Tina:  für  immerl> 

Da  Marietta  die  Walstatt  bereits  verlassen  hatte,  war 
es  jedenfalls  am  klügsten,  wenn  er  nun  auch  gleich  gieng. 

cSo  geh'  zu  allen  Teufeln  oder  wohin  Du  willst!) 
rief  Frau  Tina,  ohne  die  geringste  Rührung  über  seine 
tragischen  Abschiedsworte  zu  verrathen,  und  hinaus  in  den 
strömenden  Regen  trat  Maestro  Nino  Lampega,  drückte 
sich  den  Cylinder  fest  in  die  Stime,  schlug  den  Kragen 
seines  Rockes  in  die  Höhe  und  wandelte  die  Calle  hinab. 

Ja,  es  goss,  als  ob  alle  Schleusen  des  Himmels 
geöffnet  worden  wären.  Und  dabei  schlug  ein  kalter 
Wind  einem  den  Regen  ins  Gesicht.  Die  Leute  liefen 
nur  im  Sturmschritt  durch  die  engen  Gässchen.  Hier 
ein  paar  Chic^giotcn,  die  auf  eine  Taverne  lossteuerten, 
dort,  hochgeschürzt,  ein  Mädchen  mit  den  dumpf- 
klappemden  Pantoffeln.  Wasser  —  Wasser  Uberalll 
Maestro  Nino  aber  ging  seines  Weges,  unbekümmert 
um  Wind  und  Wetter.  Seiner  Feuerseele  that  die 
niedere  Temperatur  wohl,  und  je  tiefer  die  Nässe  durch 
den  fadenscheinigen  Rock  eindrang,  desto  abgekühlter 
fühlte  er  sich.  Nach  und  nach  entwich  die  übcrmüthige 
Regung  ganz  aus  seiner  Brust.  Das  Gesicht  wurde 
wieder  lederfarben  und  die  Augen  sahen  wie  im  nor- 
malen Zustande  unter  der  verbogenen  fettigen  Hut- 
krempe her\or  :  mehr  hungrig  als  unternehmend.  Das 
Wasser  hatte  indes.s  auf  allen  Seiten  den  Weg  durch 
den  alten  Tuchrock  gefunden  und  Maestro  Nino  fror 
zum  Erbarmen.  Er  achtete  dessen  aber  nicht  und  ging 
immer  gerade  hinaus,  hinaus,  bis  er  auf  den  Marcus- 
platz kam,  und  hinab  über  die  Piazetta  und  auf  die 
Riva  und  entlang  dem  Wasser,  das  so  braun  und 
schmutzig  war  und  von  dem  Millionen  Tropfen  immer- 
fort in  die  Höhe  sprangen,  immer,  immerfort.  Die 
Schiffe  und  die  Barken,  die  Kohienboote  und  die 
Dampfer,  das  schaukelte  alles  so  trübselig  hin  und  her, 
her  und  hin,  und  der  Himmel  war  so  bleiern,  grau, 
schwer,  weit  hinaus  in  die  Lagune.  Und  alles  kalt, 
unwirsch,  triefend  von  Wasser,  trostlos.  So  kam  es, 
dass  der  gute  Maestro  auf  Gedanken  verfiel,  die  das 
Traben  in  der  gewöhnlichen  Bahn  sonst  nicht  recht  auf- 
kommen Hess,  und  die  er  ganz  vom  Hunger  und  vom 
Elend  und  von  Siora  Tina  ausgemerzt  geglaubt  hatte. 
Nun  dachte  er  wirklich  an  die  Zeit,  wo  sie  ein  bild- 
schönes junges  Mädchen  war  und  er  ein  junger  Kerl, 
der   es    mit   der  ganzen  Welt   aufgenommen  hätte.     Es 


wäre  auch  vielleicht  ttw^s  Anderes  geworden  aus  ihm, 
wenn  sein  Vater  länger  gelebt  hätte,  und  wenn  er  lieber  in 
die  Schule  gegangen  wäre  —  ja,  und  wenn  die  Tina  nicht 
gewesen  wäre,  die  er  vielleicht  ein  wenig  zu  früh  hatte 
kennen  gelernt Langsam  erwachten  eine  Menge  Ge- 
danken in  ihm,  ganz  merkwürdige  Gedanken,  eine  ganze 
Fluth  davon,  so  grau  wie  das  Wasser,  das  gegen  die 
Riva  platschte,  und  so  schwer,  wie  der  bleierne  Himmel, 
der  oben  hing  und  aus  dem  es  regnete  ohne  Unterlass. 
Dabei  kam  er  vorüber  an  den  Cafe's,  wo  die  Leute 
drin  Sassen  im  Cigarettendampf  und  an  den  Fenstern 
unzahlige  Dominopartieen  gespielt  wurden ;  vorüber  an 
dieser  und  jener  Taverne,  wo  man  die  Lichter  schon 
angezündet  hatte  und  aus  denen  Matrosenlieder  auf  die 
Strasse  hcrausklangen ;  vorüber  an  den  kleinen  Hüttchen, 
wo  sie  die  gebackenen  Kürbisse  verkauften,  ein  Stück 
wie  ein  Backstein  so  gross  um  einen  soldo;  vorüber  an 
einigen  Kaufladen,  die  heute  nur  Regenschirme  zu  ver- 
kaufen schienen,  denn  sie  alle  hatten  ihren  gcsammten 
Vorrath  an  diesen  nützlichen  Instrumenten  in  die  F"enster 
gehängt,  damit  es  recht  augenfällig  werde,  dass  man 
sich  hier  um  wenig  Geld  dieses  unentbehrliche  Schutz- 
und  Trutzmittel  anschaffen  könne.  Sehr  geringschätzig 
sah  der  Maestro  darauf  hin  und  ging  noch  immer 
weiter.  Weiss  der  Teufel,  was  ihn  an  diesem  Abende 
für  Gedanken  plagten  1  Er  dachte  an  Alles :  an  das 
ABC,  an  das  Theater,  an  seine  alte  Geige,  an  seine 
Jahre,  an  das  miserable  Zimmer  zu  Hause,  wo  es  nun 
bald  wieder  so  erbärmlich  kalt  werden  würde,  trotz  der 
Glühnäpfchen,  und  wo  er  heute  erklärt,  dass  er  es  Tür 
immer  verlasse.  Für  immer !  —  Lächerlich !  als  ob  er 
verhungern  oder  erfrieren  sollte.  Und  die  Tina  war 
eigentlich  doch  unglaublich  derb,  bei  Gott!  Er  schämte 
sich  nun  noch  dazu,  und  es  fröstelte  und  hungerte  ihn. 

Eh  was !     Es  ist  das  Leben ! 

Das  Leben,  das  gerade  so  wogt  wie  das  schmutzige 
Wasser  da  unten,  und  in  dem  es  grade  so  regnen  muss 
wie  es  der  Himmel  will,  und  das  einen  Morgen  hat  wie 
jeder  Tag,  und  eine  Dämmerung  und  einen  Abend,  grade 
so  wie  er  jetzt  düster,  schwarz  heraufrückt  vom  Meer.  — 
Schleppen  muss  man  es  doch,  so  oder  so.  Besser  mit 
Humor  als  ohne.  Freilich,  gut  wäre  jetzt  ein  kleiner 
Kaffee  oder  ein  grochetto  oder  ein  Glas  Wein ,   drüben 

beim  Compare  Checho. Nicht  als  ob  das  lumpige 

Geld  ihm  andere  Gedanken  schaffen  könnte,  denn  heute 
fühlte  er  sich  nun  einmal  in  so  ernster  Stimmung;  aber 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


11 


bei  diesem  Hundewetter Die  Geige  —  na  es  ist 

etwas;  mit  dem  Tanzen  ist's  freilich  armselig,  aber  — 
«Wir  Künstler»,  murmelte  der  Maestro,  und  es  schüttelte 
ihn  vor  Nässe  und  Kälte  wie  Espenlaub.  Dabei  machte 
seine  linke  Hand  in  der  Tasche  mechanisch  die  Griffe 
des  Liedes,  das  er  nun  zu  summen  begann,  und  dabei 
entdeckte  er  den  Erlös  für  den  wunderschönen  Brief  an 
den  Moretto;  er  hatte  des  Geldes  bei  Gott  gar  nicht 
mehr  gedacht.  —  Mit  einem  Schlage  war  seine  Stimmung 
eine  andere,  und  er  kehrte  sofort  um.  Ja,  wenn  er  sich 
dessen  früher  erinnert  hätte !  Wozu  hier  im  Regen 
herumlaufen?  —  Herrlich  wird  nun  ein  Glas  Wein 
schmecken  I  —  Es  war  doch  gut ,  dass  er  die  Feder 
so  zu  führen  verstand.  —  Eigentlich  hatte  er  doch  etwas 
gelernt,  ja  wohl,  etwas  mehr  doch  als  das  ABC;   —  und 

ausserdem  die  «  Kunst  »I Und  schliesslich,  wenn 

man  es  ganz  genau  nehmen  wollte ,  hatte  er  erst  nicht 
gar  so  elend  gelebt,  —  wenn  man  es  ganz  genau  nahm. 
Freilich ,  Geld  war  nie  im  Ueberfluss  vorhanden  gewesen, 
dafür  hatte  er  aber  auch  nie  übermässig  gearbeitet. 
Und  Wenn  man  sich  so  leicht  30  Centesimi  verdient,  ist 
es  doch  auch  etwas.  Er  fasste  dabei  die  Münzen  in 
seiner  Tasche  und  rieb  sie  mit  einer  Art  wollüstigen 
Gefühls  aneinander.  Keine  Frage,  jetzt  geht  man  sich 
zu  Compare  Checho  etwas  trocknen  und  auswärmen,  und 
direkt  zu  G>mpare  Checho  steuerte  der  Maestro  mit 
eiligen  Schritten.  —  Da  aber  gings  heute  Abend  un- 
gewöhnlich lustig  zu.  Der  Musikus  wurde  mit  Jubel 
empfangen.  Des  Gevatters  Nicolö  Frau  war  heute  eines 
kemfrischen  Buben  genesen,  und  der  Gevatter  Nicolö, 
der  ein  reicher  alter  Obsthändler  war,  zehn  Jahre  um- 
sonst auf  einen  Leibeserben  gehofft  hatte  und  nun  richtig 
einen  besass,  den  ihm  sein  junges  hübsches  Weib  diesen 
Morgen  geschenkt,  der  Gevatter  Nicolö,  sage  ich,  war 
ungemein  gut  aufgelegt,  und  wer  da  kam,  war  sein  Gast. 
—  Der  Musikus  aber  wärmte  sich  am  Feuer,  bald  von 
rückwärts ,  bald  von  vom ,  und  trank  dazu  ein  Glas 
nach  dem  andern.  In  der  kürzesten  Frist  war  er  in  der 
seligsten  Stimmung,  der  brave  Maestro.  Gerade  recht, 
dass  man  irgendwo  her  ein  altes  Instrument  brachte. 
Nur  dass  der  Künstlerstolz  sich  erst  ein  wenig  offenbaren 
musste.  Er  wehrte  hoheitsvoll  ab.  «Nein,  nein,  meine 
Freunde!  —  Ihr  wisst:  ein  Künstler!  —  Ich  kann  nur 
auf  meiner  eigenen  spielen,  auf  meiner  schönen,  lieben 
Amati.  Eine  echte  Amati,  dass  Gott  mir  helfe.  Ist 
ihre  tausend  Lire  werth  wie  nichts  1  > 


<  Pff !  t  machte  der  Gevatter  Nicolö  und  duckte  mit 
einer  Grimasse  den  dicken  Kopf. 

«Ihre  tausend  Lire,  bei  meiner  Seele  Seligkeit», 
sagte  der  Maestro  und  stimmte  die  Saiten.  «Lieber  aber 
verhungere  ich,  als  dass  ich  sie  hergebe.  Es  lebe  die 
noble  Kunst ! » 

Und  er  begann  zu  fiedeln,  dass  es  eine  Lust  war, 
und  das  Vergnügen  wurde  immer  grossartiger,  von  einem 
Glas  zum  andern. 

Und  deren  gab  es  viele,  viele,  viele.  Von  Spielen 
war  schliesslich  keine  Rede  mehr,  keiner  wusste  über- 
haupt mehr,  von  was  die  Rede  war,  —  der  Maestro  schon 
gar,  er  wusste  gar  nicht  was  war,  als  er  nach  mehreren 
Stunden  in  sehr  kühnen  Linien  nach  Hause  strebte,  nach 
dem  Hause,  das  er  heute  « für  immer »  verlassen  hatte ! 

O  Nelke  meiner  Seele!  Wie  war  das  Blitzmädel 
schön,  schön  und  herzig  und  kusslich. 

Er  nahm  immer  die  ganze  Breite  der  Gasse  für 
sich ,  und  als  er  in  die  schmale  Calle  kam ,  bewegte  er 
sich  nur  mehr  in  liebevollen  Anlehnungen  von  einem 
Hause  zum  andern.  «Ja,  die  Marietta!  —  Und  was  der 
Moretto  für  ein  grosser  Esel  ist,  für  ein  ganz  grosser.  — 
Na,  wenn  sie  aber  das  nächste  Mal  um  einen  Brief  kommt, 
dann,  dann  —  so  wahr  ich  Nino  Lampega  heisse,  Violin- 
und  Balletmeisterl    — 

O  Beatrice,  il  cuor  mi  dice  — 

Ohil  Da  kann  man  sich  aber  den  Kopf  ein- 
schlagen !  —  Langsam ,  langsam ,  Maestro !  —  Tempo 
di  marcia!   —  Eins  —  zwei  —  drei  —  vier!» 

Der  Weg,  den  er  beschrieb,  war  eine  förmliche 
Schraubenlinie;  aber  endlich  war  er  doch  am  Ziele. 
Gerade  zur  rechten  Zeit.  —  Alles  finster. 

Die  Thüre  abgesperrt. 

Vorerst  lehnte  er  sich  einmal  mit  den  Schultern 
dagegen.  Rast  thut  gut  nach  der  Arbeit.  —  Und  da 
oben  wohnt  sie,  sie,  sie,  der  theuerste  kleine  Teufel 
von  ganz  Venedig.  Natürlich  schläft  sie  aber  jetzt  schon. 
Und  «die  Alte»  auch. 

Der  Regen  aber  ist  des  Teufels,  die  Kälte  schändlich, 
und  er  will  in's  Bett. 

Um  seine  eigene  Achse  drehte  sich  der  Maestro 
herum,  lehnte  sich  mit  der  linken  Seite  und  mit  dem 
Cylinder  liebevoll  und  gewichtig  an  die  Thüre  und  be- 
gann zu  klopfen.  —  Erst  nur  ganz  leise. 

«Tina!  —  Holder  Engel!   —  Oh  —  Tina!» 

Keine  Antwort. 


12 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Er  versuchte  es  mit  einigen  Faustschlägen. 

<  Tina !  —  Tinetta  1  —  Tinina !  > 
Keine  Antwort. 

«Irdischer  Jammer  eines  grossen  Künstlers»,  sagte 
der  Maestro  erhaben.  «Tina,  Tina,  Tina!  —  Mach' 
auf,  Marietta,  Tinetta;  holde  Taube,  ich  will  hinein, 
—  ich  will,  —  ich  will  — > 

Keine  Antwort,  kein  Laut  als  der  klatschende  R^en. 
Und  fester  und  verzweifelter  lehnte  sich  der  Maestro 
an  die  Thüre,  je  zuweilen  mit  der  Faust  ein  wenig 
trommelnd. 

« Heiliger  Marcus !  Will  sie  mich  denn  nicht  hinein- 
lassen? —  Tma  —  Engel  —  Teufelf  —  Das  Pedale 
hält  nicht  mehr  recht!   —  Ti— i — ina!» 

Bum!  bum!  bum! 

Keine  Antwort  als  der  klatschende  Regen. 

Der  Maestro  aber  war  eine  grosse  Seele,  die  nichts 
Irdisches  so  leicht  zu  trüben  vermochte.  Er  lehnte  sich 
mit  der  Vorderfront  wie  schutzsuchend  ganz  auf  die 
Thüre,  die  heisse  Stirn  mit  dem  zurückgestülpten  Cylinder 
an  die  nassen  Bretter  drückend.  Und  schmelzend  begann  er: 
«O  Beatrice,  il  cuor  —  mi  —  di » 

Hier  wurde  die  Thüre  aufgerissen  und  Nino  I^mpega, 
Violin-  und  Balletmeister,  fiel  der  Länge  nach,  steif  wie 
ein  Baum,  in  das  Zimmer  hinein. 

<  Gott  sei  Dank  1 »  stöhnte  er. 

Siora  Tina  aber  hatte  die  Thüre  hinter  ihm  wieder 
abgeschlossen  und  stand  erst  eine  Weile  sprachlos  vor 
Zorn  da.  —  Aber  dies  eine  Mal  wollte  sie  sich  Alles 
auf  morgen  aufsparen,  Alles. 

«Für  immer?»  fragte  sie  nur  höhnisch. 

Als  Antwort  ächzte  der  Maestro: 

«Hilf  mir.  Tinetta!  Du  bist  —  das  Weib  eines  — 
gros.sen,   —  gefallenen  Künstlers ! » 

Sie  aber  gab  ihm  nur  einen  nicht  sehr  sanften  Stoss 
mit  dem  Fusse  in  die  Seite. 

«  Porco !  T 

« Oh  —  oh  oh ! »  seufzte  der  Maestro  und  raffte 
sich  langsam  empor. 

Die  bessere  Hälfte  kümmerte  sich  gar  nicht  um 
sein  Schicksal.  Sie  warf  sich  ins  Bett  und  löschte,  ohne 
weiter  ein  Wort  zu  sagen,  das  Licht  aus.  Im  Finstem  streifte 
er  seine  nassen  Kleider  ab,  warf  sie  auf  den  Boden  und 
tappte  nach  seinem  Lager.  —  Dann  ein  paar  lange, 
schwere  Seufzer  und  kein  Laut  mehr,  als  draussen  das 
Klatschen  des  Regens  .... 


Nur  stöhnte  nach  einiger  Zeit  der  Maestro  auf,  als 
ob  ihm  eine  Centnerlast  am  Leibe  läge  —  Nelke  meiner 
Seele,  —  Nicolö  —  Amati » 

*  * 

Die  Zeiten  wurden  böse    und   der  Winter   brachte 

diesmal   auch  nicht   den  erhofften  Verdienst.     Wie  aber 

der   Künstler  .^lles   seiner  Geige  verdankte  so  gab   sie 

ihm    auch  jetzt  eine  glänzende   Idee   ein.     Er  begann 

systematisch    das   Gerücht   zu   verbreiten,    dass   sie  ein 

altes   Instrument    sei,    aus   berühmter   Werkstatt.     Man 

hat   ja   schon    die    unglaublichsten   Geschichten    gehört 

von  solchen  Geigen,   warum  sollte   nicht   auch  'ihm   ein 

Gimpel  auf  den  Ldm  gehen  I 

Eines  Tages  besuchte  ihn  ein  Freund,  ein  alter 
Instrumentenmacher,   —   ganz  zufällig. 

Er  brachte  Nino  leicht  genug  auf  das  gewünschte 
Thema. 

(  Zeigt  sie  doch  einmal  her !  > 

Der  Geigenmacher  prüfte  sie  von  allen  Seiten  und 
sagte  dann: 

«Nun,  wenn  Euch  daran  gelegen  ist,  will  ich  Euch 
Kanz  genauen  Aufschluss  geben.  Ihr  wisst,  ich  bin  Euer 
guter  Freund,  und  Ihr  könnt  Euch  auf  mein  Wort  ver- 
lassen. Die  Geige  ist  nicht  gar  so  alt,  aber  ein  inter- 
essantes Stück,  so  —  mehr  wegen  der  Arbeit.  Für 
einen  Sammler,  wisst  Ihr,  der  sich  gerade  darauf  capricirte, 
könnte  sie  einen  gewissen  Wert  haben ,  —  einen 
gewissen. » 

«Wie  viel  meint  Ihr  wohl,  dass  sie  werth  ware.'> 
fragte  Nino  lauernd. 

« Hm  —  nun,  vielleicht  fünfzig,  sechzig  Lire. » 

Nino  Lampega  gab  es  einen  förmlichen  Riss. 
Sechzig  Lire  I  —  Ein  Kapital !  —  Aber  er  war  schlau ! 

«Nicht  mehr?»  fragte  er.     «Ich  dächte  — » 

«Nein,  nein!  verlasst  Euch  d'rauf»,  sagte  der  Geigen- 
macher.    ( Ich  verstehe  etwas  davon ! » 

<  Und  möchtet  Ihr  sie  vielleicht  — » 

«Ich?  —  hm!  Es  ist  mir  im  Momente  nicht  daran 
gelegen.  Man  hat  so  viel  Zeugs,  das  nur  verstaubt. 
Aber  wenn  Ihr  sie  gerade  los  sein  wollt  und  Euch  ein 
Gefallen  geschieht  —  na!  Geht's  wieder  einmal  etwas 
knapp,   Maestro,  he?» 

Nino  kratzte  sich  hinterm  Ohre. 

ija,  Baargeld  ist  selten!  —  Ihr  thätet  mir  einen 
wirklichen  Gefallen;  mir  genügt  ja  auch  eine  billigere.» 

«Also  sechzig  Lire,  sagt  Ihr?» 


SUfto  Rnlttt  p|[, 


fhot     r.    Hanfttneriffl.    >1iii)> 


Satyr  und  Nymphe. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


13 


<  Fünfzig  s ,  verbesserte  der  Andere. 

«Fünfzig  oder  sechzig»,  entgegnete  Nino.  «Wenn 
Ihr  also  sechzig  geben  wollt  — » 

c  Fünfzig  i ,  sagte  der  Geigenmacher,  c  Es  ist  bei 
Gott  schon  überzahlt.» 

«Nun,  nun,  Freund  —  fünfundfünfzig»,  bat  Nino. 

Der  Geigenmacher  betrachtete  das  Instrument  wieder 
von  allen  Seiten. 

«Viel  Geld!  —  Und  schliesslich  hängt  sie  wieder 
ein  paar  Jahre  da ;  —  todtes  Kapital.  —  Aber  Ihr  sagt, 
dass  Euch  ein  Gefallen  geschieht.  Also  meinethalben, 
aus  Freundschaft!» 

Er  zahlte  Nino  baar  aus  und  ging  seiner  Wege.  — 

Herrgott !     Herrgott ! 

Das  war  ein  Freund! 

—  Das  war  ein  geriebener 
alter  Fuchs,  ein  Dieb,  ein 
Schuft!  —  O  Maria!  — 
Nach  einigen  Wochen  er- 
fuhr es  Nino,  was  ihn  wie 
ein  Schlag  traf.  Vierhun- 
dert Lire  waren  für  die 
Geige  geboten  worden  — 

vierhundert    Lire! 
Und    er     hätte     sie    bei 
Leibe   nicht   hergegeben. 

—  Und  eine  echte  Stradi- 
vari?  O  Gott,  Gott!  — 
Maestro  Nino  ging  herum 
wie  ein  Träumender.  Aber 
er  verschloss  den  Schmerz, 
die  Wuth,  den  Hass  tief 
in  seiner  Brust,  in  einem 
ganz  versteckten  Herzens- 
winkel. — 

Eines  schönen  Morgens 
fand  der  alte  Geigen- 
macher den  schönen  Stra- 
divarius  unheilbar  ver- 
stümmelt. Ein  viereckiges 


Stück,  fast  handflächengross,  war  ihr  mit  raffinirter  Bosheit 
aus  dem  Leibe  geschnitten.  Keine  Kunst  der  Welt 
konnte  sie  heilen.  Sie  war  keine  zwei  Franken  mehr  werth. 
Der  Alte  schrie,  weinte,  zeterte,  tobte.  Er  rannte  zur 
Polizei  und  fluchte  Pech  und  Schwefel  auf  den  verruchten 
Missethäter  herab.  Aber  man  konnte  gar  nichts  entdecken. 
Es  dauerte  auch  nicht  lange,  da  hing  die  Geige 
wieder  in  dem  Trödelladen  bei  Menichino,  rückwärts 
in  dem  finsteren,  staubigen  Winkel.  Und  eines  Tages 
kam  ein  junger  deutscher  Künstler,  stöberte  in  all  dem 
alten  Kram  umher  und  kaufte  dieses  und  jenes.  Er  fand 
auch  die  alte  Geige,  sie  gefiel  ihm  sehr  wohl.  Das  traurige 
Schicksal,    welches   sie   erlebt ,    berührte  ilm  ganz  weh- 

müthig.    Um  wenig  Geld 
„ ..  kaufte  er  sie  und  nahm  sie 

dann  mit  in  seine  Heimath 
jenseits  der  Alpen  .... 
Da  lag  sie  nun  auf  dem 
hochlehnigen  Stuhle  im 
Atelierwinkel,  und  der  ge- 
schnitzte Faunskopf  sah 
immer  mit  einem  so  fatalen 
Lächeln  auf  sie  herab.  In 
schönen  Sommernächten 
aber,  wenn  das  Mondlicht 
durch  das  grosse  Fenster 
hereinfiel  in  das  Atelier, 
wenn  Alles  so  still,  so  ganz 
still  war,  wenn  die  alte  Vase 
mit  Blumen  gefüllt  war, 
die  so  süss  dufteten,  dann 
träumte  die  Geige  wieder 
von  ihrer  Jugendzeit  und 
von  ihrerHeimath.  So  viele, 
viele  Jahre  war's  her!  — 
Und  dann  ging  ein  leises 
Klingen  durch  die  übrig 
gebliebenen  drei  Saiten,  als 
ob  die  alte  G  eige  im  Schlafe 
mit  sich  selbst  redete  .  .  . 


"!-^!^t^y>J- 


u 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH. 


DIE  SONDERAUSSTELLUNG  IN  DER  BERLINER  NATIONALGALLERIE 

VON 

HERMANN  MEISSNER. 


^ine  schöne  Sitte  lässt  die  Nationalgallerie  regel- 
mässig nach  dem  Tode  hervorragender  Künstler  eine 
Sonderausstellung  von  deren  erreichbaren  Werken  ver- 
anstalten. Lückenhaft  nur  ist  das  Bild  von  der  geistigen 
Physiognomie  des  Schöpfers,  wie  es  aus  einzelnen 
Werken,  die  oft  einer  seltsamen  Stimmung,  einem  losen 
Berühren  irgend  eines  Gebietes  entspringen,  entgegen- 
tritt, —  aber  aus  der  Gesammtheit  von  Werken  aller 
Lebensperioden,  da  tritt  uns  die  ganze  Künstler-Er- 
scheinung mit  dem,  was  sie  sagen  wollte,  und  dem, 
was  sie  sagen  konnte,  plastisch  entgegen  und  an  der 
Hand  der  Entwickelung  in  der  Lebensfolge  lernen  wir 
ebenso  den  Werth  eines  Künstlers  wirklich  schätzen, 
wie  andererseits  ein  solcher  UeberbKck  sehr  oft  den 
Nimbus  zu  nehmen  pflegt,  den  gesellschaftliche  Stellung 
oder  äussere  Umstände  um  einen  Künstler  gezogen  haben. 

Am  reichsten  vertreten  in  dieser  Sonderausstellung 
ist  Eduard  Bendeniann,  der  i8ll  in  Berlin  geboren 
ward,  als  Sohn  eines  sehr  reichen  und  kunstliebenden 
Hauses,  in  dem  er  unter  den  denkbar  günstigsten  Um- 
ständen aufwuchs  und  neben  der  sorgfältigsten  Pflege 
seines  früh  offenbarten  Talents  jene  reiche,  tiefe  Bildung 
empfing,  die  seinem  Schaffen  das  vielseitige  Gesicht 
verlieh,  welches  mit  annähernd  gleicher  Schärfe  das  Wesen 
fast  aller  Gebiete  der  Malerei  erfasste  und  sich  darin 
bethätigte.  Indessen  muss  auch  gerade  in  diesem  aus- 
gleichenden Einfluss  universeller  Bildung  einer  der 
wesentlichsten  Factoren  dafür  gesucht  werden,  dass  in 
der  reichen  Production  des  Künstlers  eine  originelle 
Anlage,  falls  solche  vorhanden  war,  erst  zur  Geltung 
kam,  als  Bendetnann  mit  seiner  c  Wegführung  der  Juden» 
auf  der  Höhe  und  zugleich  am  Ende  seines  Schaffens  stand. 

Wollen  wir  das  künstlerische  Wesen  Bendeinann  s 
in  wenigen  Sätzen  zusammenfassen ,  um  damit  seine 
Stellung  in  der  Kunstgeschichte  zu  skizziren,  so  müssen 
wir  eine  starke  Begabung  voraussetzen,  die  durch 
harmonische  Ausbildung  nach  allen  Seiten  fähig  gemacht 
wurde,    mit  gleichem  Geschick   an  alle  Aufgaben  einer 


bewegten  Kunstperiode  zu  gehen  und  die  fast  ein 
Menschenalter  lang  als  Führerin  in  der  Entwickelung 
zwischen  zwei  Kunstanschauungen  stand ,  es  aber  nicht 
vermochte,  einen  bleibenden  Einfluss  auf- die  Zukunft 
zu  gewmnen.  Bei  aller  Hochsinnigkeit,  bei  aller  Grösse 
des  Blicks  schuf  der  Künstler  in  den  Bahnen  des  Cor- 
nelius lediglich  das  Geschaute  um;  bei  aller  realistischen 
Neigung  als  Maler  konnte  er  kein  Verhältniss  zu  der 
bald  um  ihn  herum  aufgehenden  Düsseldorfer  Realistik 
gewinnen.  Er  hatte  ein  starkes,  vorzüglich  ausgebildetes 
Talent,  aber  ihm  fehlte  die  geniale  Schöpferkraft.  Es 
bleibt  indessen  innerhalb  dieser  Einschränkung  noch 
genug  an  künstlerischen  Eigenschaften  übrig,  um  das 
grosse  Ansehen  des  Meisters  in  der  Blüthezeit  seines 
Ruhmes  zu  rechtfertigen. 

Bendemann' s  Bilder  sind  durch  Ver\'iclfaltigungen 
weit  bekannt  geworden,  so  dass  bei  dem  wenigen  Raum 
für  diesen  Ueberblick  die  knappste  Charakteristik  ge- 
nügen wird,  cjeremias  auf  den  Trümmern  von  Jerusa- 
lem >  (1835)  ist  das  grössere  unter  den  älteren  Bildern. 
Es  ist  der  Anfangspunkt  der  altdUsseldorfischen  senti- 
mentalen Geschichtsmalerei ,  zeigt  die  Einflüsse  einer 
kurz  zuvor  gemachten  italienischen  Reise  und  setzt  in 
seinem  künstlerischen  Stil  die  Feierlichkeit  sinnendumpfer 
Leidensseligkeit  gegen  eine  realistische  Formengebung, 
die  nicht  mit  Nothwendigkeit  aus  dem  Stoff  hervorgeht, 
sondern  aus  der  Reflexion  erstand.  Wundersame  Linien- 
führung entzückt  auf  der  einen  Seite  ebenso,  wie  uns 
Moderne  die  brettharte,  nüchterne  Farbe  abstösst.  Drei 
Jahre  später  in  Dresden  hatte  Bendetnann  sich  von  der 
Romantik  Alt-Judaeas  zu  der  des  deutschen  Mittelalters 
gewendet  und  Hand  in  Hand  damit  in  seinen  künst- 
lerischen Ausdrucksmitteln  eine  grössere  Freiheit  und 
mehr  Unmittelbarkeit  gewonnen.  Die  beste  Schöpfung 
dieser  Periode  ist  das  kleine  Bild:  cHirt  und  Hirtin 5), 
die  von  einer  Bergeskuppe  in  eine  blaue  Welt  hinein- 
schauen. Ist  die  Stimmung  in  diesem  Bilde  auch  nicht 
sehr  tief,    so  ist  sie  doch  sehr  rein  und  in  dem  ganzen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


15 


Werden  Bendemanns  bezeichnet  es  den  Punkt,  wo  er 
am  deutschesten  empfindet  und  denkt. 

Eine  vorzügHche  Technik  offenbart  der  Künstler 
alsdann  1 847  im  Bildniss  seiner  Gattin ,  an  dem  der 
lebendige  Ausdruck  zu  rühmen  ist,  wenn  auch  die 
generelle  Auffassung  bei  uns  nicht  mehr  das  Entzücken 
bewirken  kann,  von  dem  die  Zeitgenossen  berichten. 
Die  Ausmalung  des  Dresdener  Schlosses  brachte  Bende- 
mann  zur  Antike  und  staunenswerth  ist  in  all  diesen 
Compositionen  und  Cartons  die  Fülle  von  archaeo- 
logischem  und  mythologischem  Wissen,  die  Sicherheit 
in  der  von  Cornelius  übernommenen  Compositionsweise 
wie  Formengebung ,  die  Grazie  in  der  Wiedergabe 
hellenischer  Welt  und  der  feingelauterte  Geschmack, 
der  Alles  zusammenzuschmelzen  wusste  zu  einem  har- 
monischen Ganzen.  Bei  der  unendlichen  Fülle  der  aus- 
gestellten Arbeiten  ist  es  unmöglich ,  auf  die  einzelnen 
besonders  einzugehen.  Interessant  und  als  Moment 
dienend  für  meine  oben  skizzirten  Ausführungen  über 
das  Wesen  Bendemann's  ist  die  romantis^ch-subjective 
Auffassungsweise  des  Künstlers  von  der  Antike. 

Der  grosse  Lebenswurf  aber  ward  dem  Künstler  in 
seinem  Colossalgemälde :  c  Wegführung  der  Juden  in  die 
babylonische  Gefangenschaft!.  Die  ganze  Summe  von 
Erfahrung  und  Wissen  stellt  sich  hier  in  den  Dienst 
einer  ebenso  grossen  wie  geläuterten  Anschauungsweise 
und  als  Eigenes  drängt  sich  zugleich  eine  Durchdringung 
des  Stoffs  mit  seinem  eigenen  Geiste  ein,  so  dass  näm- 
lich mit  der  äusseren  geschichtlichen  Erscheinung  das 
Wesen  des  staatlich  vernichteten  Judenthums  nicht  nur 
tief  erfasst,  sondern  auch  annähernd  im  Stoff  ausgestaltet 
erscheint.  Hier  ist  nicht  mehr,  wie  in  den  cjeremias», 
christliche  Askese  in  die  Darstellung  hineingetragen, 
sondern  das  ganze  Wollen  auf  geschichtliche  Wahrheit 
gerichtet.  Indessen  wiegt  neben  dem  eigenthümlichen 
doch  das  reflective,  übernommene  Element  so  stark 
vor,  dass  in  diesem  Abschluss  von  Bendemann's  Schaffen 
bei  aller  blendenden  Pracht  des  künstlerischen  Ausdrucks 
wie  auch  bei  der  Plastik  des  Inhalts  kein  Resultat  heraus- 
kommt, das  einen  nennenswerthen  Punkt  in  der  Cultur- 
arbeit  der  Kunst  bezeichnet.  In  Hinblick  auf  diese  Rolle 
der  Kunst  in  der  Geschichte ,  welche  die  Taxe  für  grosse 
Einzelleistungen  geben  muss,  kann  man  Bendeniann  nicht 
unter  die  grossen  Geister  der  Nation  rechnen,  wozu  man 
allerdings  leicht  durch  die  überreiche  Fülle  wie  die 
blendenden  Erscheinungen    seiner  Gaben    verführt  wird. 


C.  Sieffeck  ist  gleichfalls  Berliner.  Gab  in  Bende- 
mann's Elternhause  die  Geistesaristokratie  den  Ton 
an,  —  Henriette  Herz  verkehrte  dort,  —  so  war  der 
Ton  in  Steffeck's  Elternhaus  auf  bürgerliche  Behag- 
lichkeit gestellt,  und  die  Tugenden  des  Bürgerstandes  sind 
es  daher  auch  vornehmlich,  welche  Steffeck  als  Künstler 
zieren:  Ein  sich  nie  genugthuender  Fleiss,  Ehrlich- 
keit gegenüber  der  Natur,  ein  durch  Sorgfalt  ausgebildetes, 
aber  mehr  kritisches  als  künstlerisches  Auge  und  als 
Folge  dieser  Eigenschaften  ein  langsames,  aber  sicheres 
Aufsteigen  zu  Leistungen,  die  gediegen  sind  durch  ihre 
formelle  Sicherheit.  Indessen  i.st  einschränkender  Weise 
zu  bemerken,  dass  Steffeck  weder  eingegriffen  hat  in 
seine  Zeit,  noch  auch  in  individueller  Beziehung  besonders 
werthvoll  geworden  ist,  —  er  ragte  in  unsere  gährende 
Zeit  als  der  Typus  des  Acadeniikers  vom  guten  alten 
Schlage  hinein.  Der  Schwerpunkt  seines  Schaffens  lag 
im  Pferdestück,  auf  welchem  Gebiet  er  seit  Franz  Krüger 
als  anerkannte  Autorität  auch  den  Erfolg  hatte.  Ein 
Reiterbjldniss  aus  dem  Jahre  1865  (Selbstbildniss  des 
Künstlers)  zeigt  ihn  unter  den  ausgestellten  Werken 
am  vortheilhaftesten ,  denn  das  Pferd  ist,  coloristisch 
wie  anatomisch  gleich  durchgebildet,  von  vorzüglicher 
Lebendigkeit.  Eines  der  bekanntesten  seiner  grossen 
Bilder  ist  der  «Sieger  von  Königgrätz»  (1867),  den  seine 
Offiziere  und  Mannschaften  nach  der  Schlacht  jubelnd 
umringen.  Auf  einer  ganzen  Reihe  von  Bildnissen 
präsentirt  er  sich  daneben  als  ein  sehr  geschickter 
Portraitmaler,  dem  es  ebenso  gut  gelang,  ein  treues 
Abbild  vom  Leben  zu  geben,  wie  dies  Abbild  mit 
lebendigem  Ausdruck  zu  erfüllen.  Unter  den  ansprech- 
enden Arbeiten  landschaftlichen  Genres  ist  eine  der 
bekanntesten  :  «Die  Zigeuner»  (1877),  drei  dieser  Gesellen 
ruhen  an  einer  Parkmauer,  während  der  vierte,  ein  Knabe, 
hinausgeigt  in  die  waldige  Ferne,  dem  hellen,  sehn- 
süchtig geschauten  Streifen  Licht  am  Horizont  zu. 
Steffeck's  nüchternem  Wesen  war  der  Zauber  der  Stimmung 
fast  ganz  versagt  und  nur  zuweilen  erhebt  er  sich,  wie 
auf  dem  genannten  Bilde ,  zu  einer  solchen.  Dieser 
Mangel  nimmt  auch  dem  grossen  Hauptwerk  des 
Künstlers  aus  dem  Jahre  1848:  «Albrecht  Achill  im 
Kampfe  mit  den  Nürnbergern  um  eine  Standarte»,  die 
Wucht,  welche  in  der  Composition  und  den  grossen 
Verhältnissen  liegt.  Geschichtliche  Treue,  energisches 
Naturstudium,  hervorragende  Zeichnung  sind  die  Eigen- 
schaften dieses  bedeutendstenHildes  aus  des  Künstlers  Hand. 


16 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEFP. 


Eine  merkwürdige  Künstlernatur  ist  der  Oricntmaler 
W.  GfM/s;  er  stammt  aus  einem  der  ödesten  Nester  in 
der  Mark  Brandenburg,  Neu-Ruppin.  In  ihm  zeigt  sich 
die  specifische  Anlage  des  c  Farbenmenschen  •  in  herr- 
lichster Weise.  Man  mag  darin  eines  der  vielen 
Beispiele  dafür  sehen,  dass  die  besondere  Richtung 
im  schöpferischen  Künstler  durch  Eigenthümiichkeit 
des  Organismus,  nicht  durch  äussere  Umgebung  be- 
stimmt wird.  Interessant  ist  nun  bei  Gen/s  die  Ver- 
quickung von  Märkerthum  und  Orientalismus.  Nur  in 
seinen  frühesten  Sachen  spricht  er  die  leidenschaftliche 
Farbensprache  um  ihrer  selbst  willen,  und  da  überrascht 
uns  in  dem  schwülen  Gewoge  mit  frappanter  SpUrbar- 
keit  jene  Haideschwermuth,  welche  über  den  eintönigen 
Tannen-  und  Fichtenwäldern  der  Mark  mit  ihren 
schweigenden  Seen  als  die  sondere  Schönheit  dieser 
aussen  so  kai^en  Welt  ruht;  in  der  fortschreitenden 
Entwickelung,  die  bei  ihm  zum  Licht  und  infolge  dessen 
zu  präciseren  Formen  geht,  arbeitet  sich  in  dem  Künstler 
jene  zähe  Festigkeit  aus,  die  der  menschliche  Charakter 
des  Märkerthums  ist,  und  die  bei  ihm  —  wie  in  noch 
höherem  Maasse  bei  Menzel  (beide  sind  naturalisirte 
Berliner)  —  mit  jener  berlinischen  Eigenthümiichkeit  des 
leichtflüssigen,  beweglichen  Ausdrucks  durchsetzt  erscheint. 

Unter  den  Bildern  der  Lehrzeit  nimmt  das  früheste 
aus  dem  Jahre  1849  tder  verlorene  Sohn  unter  den 
Säuen  in  der  Wüste*  durch  die  Einheitlichkeit  seines 
breiten,  warmen  Tons  wie  durch  die  naive  Frische  den 
ersten  Platz  ein.  Tongebung  wie  Compositionsweise 
sind  durch  eine  spanische  Reise  des  Künstlers  inspirirt. 

Dem  von  Belgien  und  Frankreich  damals  sich  aus- 
breitenden coloristischen  Weckruf  folgend,  ging  der 
Künstler  1852  zum  dritten  Male  für  längere  Zeit 
nach  Paris  zu  Coiiture;  dort  trat  er  zu  einer  Anzahl 
bedeutender  französischer,  wie  dort  weilender  deutscher 
Künstler  in  Beziehung,  so  zu  Delacroix,  Decamps,  Heil- 
buth,  Knaus,  Feuer  back,  Henneberg,  G.  Spangenberg. 
Das  Wohlgefühl,  das  der  Künstler  in  diesem  anregenden 
Kreise  fand ,  spricht  sich  in  der  bedeutendsten  Arbeit 
jener  Jugendperiode  aus :  c  Aegyptische  Studenten  unter 
Palmen».  Unter  Verzicht  auf  jede  Modellirung  hat  der 
Künstler  hier  den  Schwerpunkt  auf  die  originelle  Farben- 
sprache gelegt  und  da  eine  Art  von  musikalischem 
Ausdruck  erreicht,  der  berückend  ist. 

Zwei  religiöse  Colossalbilder  entsprangen  alsdann 
dem  jugendlichen  Drang  nach  monumentaler  Darstellungs- 


weise,  aber  beide  Motive,  welche  Christus  als  Lehrer 
behandeln,  haben  trotz  achtbarer  Eigenschaften  so  wenig 
individuelle  Kraft  und  sind  so  unfertig  in  sich  gegen- 
über den  früheren  Bildern,  dass  sie  nur  in  der  Ent- 
wickelung des  Künstlers  insofeme  interessiren,  als  er  bei 
Behandlung  dieser  Stoffe  seine  Achillesferse  erkennen 
lernte.  Energisch  wandte  er  sich  dem  Fomienstudium 
tu;  verblüffend  ist  die  Meisterschaft  im  Stofflichen 
wie  in  der  Beseelung,  die  uns  plötzlich  in  einem 
kleinen  Bilde  aus  dem  Jahre  1858:  «Angorakatzen» 
entgegentritt.  Unverkennbar  arbeitete  er  in  den  nächsten 
Bildern  mit  rastloser  Energie  am  harmonischen  Aus- 
gleich von  Farbe,  Form  und  Beleuchtung  und  suchte 
die  einseitig  coloristische  Sprache  zurückzudrängen. 
Im  Jahre  1860  folgte  dann  der  erste  grosse  Wurf  mit 
dem  c Sclaventransport  durch  die  Wüste»,  der  uns 
in  kuhner  Composition  und  packender  Anschaulichkeit 
das  Elend  der  afrikani.schen  Menschen-Jagden  schildert . 
Der  Gesammtton,  den  Gentz  sonst  so  vorzüglich  be- 
herrschte, ist  hier  matt,  ohne  tieferen  Reiz,  dies  beein- 
trächtigt die  Wirkung  einigermaassen.  Unter  den  zahl- 
reichen Bildern  der  folgenden  2^it  sind  diejenigen  wahre 
Cabinetstücke  und  für  die  Weiterentwickelung  des 
Meisters  bezeichnend,  welche  sich  mit  dem  Nil  und 
seinen  geflügelten  Anwohnern ,  den  Flamingo's  und 
Pelikanen,  beschäftigen.  Hier  hat  Gcntz  den  unbe- 
dingten Nachdruck  auf  den  farbigen  Gesammtton  schon 
sehr  gedämpft  und  der  Localfarbe  an  den  Körpern  eine 
Herrschaft  eingeräumt,  die  durch  ihre  lebensvolle  Plastik 
in  der  Orientmaleret  immer  einen  Ehrenplatz  behalten 
werden.  Ueber  ein  Paar  vorzügliche  Bilder  hinweg  wie 
der  f  Märchenerzähler  bei  Cairo»,  der  mit  seinem  Licht- 
gefühl im  Raum  wie  der  vorzüglichen  Figurenbehand- 
lung einen  neuen  Schritt  zur  Höhe  aufweist,  und  die 
<  Begegnung  zweier  Caravanen  in  der  Wüste »  mit  ihrer 
Wahrheit  und  der  kraftvollen  Concentrirtheit  im  Aus- 
druck kommen  wir  nun  zur  reifsten  Frucht  in  Gentz' s 
Künstlerschaffen,  dem  c Einzug  des  Kronprinzen  von 
Preussen  in  Jerusalem  1869»;  er  schuf  das  Bild  im 
Jahre  1876. 

Man  kann  das  durchaus  landschaftlich  empfundene 
Bild  als  ein  ausgezeichnetes  Geschichtsbild  auffassen, 
wenn  man  Werth  auf  eine  solche  Gebietstrennung  legt. 
Denn  der  im  Mittelpunkt  der  Composition  auf  einem 
prachtvollen  Araber  reitend  dargestellte  Kronprinz  in 
der  Dragoneruniform   mit  weissem  Staubmantel  darüber 


CD 

CD 


SU 

® 

Td 

cd 


(D        i 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


17 


ist  mit  seinem  Gefolge  in  plastischer  Geschichtlichkeit 
aufgefasst,  ebenso  die  Menge,  welche  ihre  Palmwedel 
vor  dem  Tritt  des  vornehmrassigen  Pferdes  auf  den  Weg 
senkt.  Im  Hintergrund  sieht  man  dann  die  heilige  Stadt, 
zu  deren  finsterem  Thor  vom  Beschauer  aus  die  spalier- 
besetzte Strasse  im  Bogen  führt,  und  vorn,  unmittelbar 
am  Kronprinzen,  neben  einem  Mauerrest  auf  dem  Maul- 
esel sitzend,  den  Künstler,  welcher  diesen  geschichtlichen 
Augenblick  im  Skizzenbuch  festhält. 

In  der  Verschmelzung  des  Landschaftlichen  mit  dem 
Geschichtlichen  zeigt  sich  bei  aller  individuellen  Eigenart 
eine  starke  Verwandtschaft  mit  Menzel.  Alles  ist  an 
seinem  eigenen  Ort  gesehen  und  aufgebaut,  mit  durch- 
dringendem Auge  für  den  Zusammenhang  erfasst,  und 
an  die  hinter  die  Schöpfung  zurücktretende  Künstler- 
persönlichkeit erinnert  nur  der  verschwenderisch  reiche 
Farbenausdruck.  Er  sieht  nunmehr  mit  klarem,  ich 
möchte  sagen,  mit  unbetheiligtem  Auge  in  die  Welt 
hinein,  der  Schwerpunkt  der  Stimmung  ruht  in  der  Er- 
scheinung der  Dinge,  nicht  mehr  in  ihm  selbst  und  man 
kann  sagen,  dass  der  Künstler  hier  als  eine  völlig  in 
sich  abgerundete  Erscheinung  auftrete. 

Auf  derselben  Höhe  mit  dem  Ausdruck  der  oben 
analysirten  Anschauung  steht  ein  Bild  aus  dem  Jahre 
1 879 :  €  Markt  vor  dem  Fort  in  Algier  » .  Es  drückt 
das  Thema  noch  reiner  und  kürzer,  mit  noch  stärkerer 
Empfindung  für  Licht  und  Luft  aus,  steht  es  auch 
im  Vorwurf  und  vor  Allem  in  der  Composition  zurück. 
Unter  den  Mauern  des  hochragenden  Forts  zur  Rechten 
breitet  sich  das  Gewühl  von  Menschen  in  den  grellen 
Gewändern  des  orientalischen  Südens,  von  Zelten,  Ka- 
mcelen,  ausgestellten  Waaren  zwischen  Cypressen  und 
Palmbäumen  aus,  und  darüber  steht  still  und  tief  ein 
glühend  durchsonnter  Himmel. 

Aus  der  Anzahl  bedeutender  Bilder,  welche  um 
die.se  Zeit  entstanden,  hebt  sich  als  neuer,  wenn  auch 
eng  begrenzter  Entwickelungspunkt  der  heraus,  welcher 
in  den  beiden  Grisaillen  zu  Ebet's :  « Mirjam  an  der 
Quelle»  (Motiv  aus  «Homo  sum»)  und  «die  kranke 
Uardas  (Motiv  aus  dem  gleichnamigen  Roman),  sowie 
in  der  köstlichen:  '<  Liebesidylle  in  der  Thebaide  »  (1883) 
das  merkwürdige  Streben  zeigt,  statt  des  eigenen  orga- 
nisch entwickelten  Stils  die  orientalische  StofiVvelt  in  den 
cla.ssischen  Stil  der  Antike  zu  bringen. 

Die  beiden  ersten  Tafeln  geben  lediglich  den 
Stimmung-sgehalt  der  Dichtung  an  der  betrefienden  Stelle 


in  feiner  Anempfindung  wieder;  namentlich  die  erste, 
welche  durch  Vervielfältigung  längst  bekannt  ist,  zeichnet 
sich  durch  grosse  Behandlung  wie  vornehmen  Schnitt 
in  Composition  und  Gestaltung  aus.  Die  zurückhaltende, 
hauptsächlich  auf  Ausdruck  des  Wesens  durch  gross- 
zügigen Stil  bedachte  Art,  welche  der  Künstler  in  seinen 
späteren  Arbeiten  beibehalten  hat,  liegt  aber  am  schärfsten 
ausgesprochen  in  der  oben  erwähnten  Liebesidylle.  Auf 
dem  Stumpf  eines  Grabsteins  sitzt  die  tief  braune  junge 
Schöne,  ein  Zicklein  spielend  an  sich  gedrückt;  ihr 
schlanker  Bau  ebenso  wie  der  Korallenschmuck  und  die 
Zierlichkeit  der  geflochtenen  Schürze  deuten  auf  vor- 
nehme Abstammung.  Hinter  ihr  dehnt  sich  eine  kleine, 
trümmerbedeckte  Ebene  mit  spärlichem  Palmenwuchs, 
die  durch  schroff  ragenden  Fels  abgeschlossen  wird. 
Ueber  ein  kleineres  Felsstück  im  Vordergrund  beugt 
sich  tief  zu  der  schamhaft  bei  Seite  Blickenden  ein 
junger  Flamingojäger  und  reicht  ihr  als  Liebeszeichen 
mit  flehendem  Auge  eine  Hand  voll  rother  Federn,  die 
er  einem  erlegten  Vogel,  der  zu  Füssen  der  Schönen 
liegt,  ausgerissen  hat.  In  dieser  knappen  Darstellung 
aller  Formen  hat  das  Ganze  grosse  ruhende  Schönheit, 
in  dem  Gesicht  der  Beiden  ist  ein  ausserordentlich 
reicher  wie  tiefer  Ausdruck. 

Neben  dem  Typischen  der  beiden  Figuren  über- 
rascht aber  ein  psychologisches  Problem,  das  der  Meister 
im  Ausdruck  gelöst  hat.  Die  Liebesregung  niedrig 
stehender  Naturvölker  wird  wohl  hauptsächlich  durch  den 
rein  thierischen  Trieb  bestimmt;  das,  was  wir  unter  Liebe 
verstehen,  das  seelische  Bedürfniss,  ist  erst  ein  Product  der 
Civilisation.  In  dem  schamhaften  Fortblicken  der  Schönen 
wie  in  dem  Schmachten  ihres  Anbeters  hat  nun  der 
Künstler  die  Keuschheit  der  kulturerzeugten  Liebe  ent- 
zückend getroffen  und  dabei  in  der  Haltung  der  Beiden 
doch  den  dieser  Rasse  eigenthümlichen  Naturtrieb  fest- 
gehalten; diese  Vereinigung  zweier  psychologischer 
Momente  in  den  Dargestellten  gibt  der  Schöpfung  einen 
eigenen,  berückenden  Reiz,  von  dem  man  nicht  loskommt. 

Eine  unendliche  Fülle  von  Skizzen  geben  gleichsam 
in  Anmerkungen  Material  für  die  obige  Charakterisirung 
des  Künstlers,  der,  aus  wohlhabendem  Hause  stammend 
und  aller  gemeinen  Sorge  frei,  sich  ausleben  konnte,  wie 
er  es  seinem  Innern  Drange  nach  musste.  In  einem  der 
reizendsten  Winkel  des  vornehmen  Berliner  Westens,  in 
der  poetisch  stillen  Hildebrandtstrasse,  am  Saume  des 
Thiergartens,  hatte  er  sich  ein  orientalisch  geschmücktes 

3 


18 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Heim  geschaffen,  in  dem  ihn  die  Welt,  die  er  glühend 
liebte,  traulich  umfing.  Wie  er  in  seinem  echt  künst- 
lerischen Wesen  die  Entwickelung  der  Zeit  selbstthätig 
mitmachte,  so  stand  er  auch  in  der  grössten  Vorurtheils- 
losigkeit  zu  den  jüngsten  Stürmern  der  <  Modernen  >  als 
ein  wohlwollender  BeratUer,  —  ein  fernerer  Beweis,  wie 


sehr  es  ihm  um  die  Sache,  nicht  um  den  eigenen  Ruhm 
zu  thun  war.  Er  hat  keine  Ideenthrone  gestürzt  noch 
neue  Ziele  gebracht,  aber  in  organisch  aufbauendem 
Werden  auf  seinem  Gebiet  hat  er  sich  rund  ausgelebt, 
und  seine  Orientmalerei  muss  desshalb  als  eine  classische 
bezeichnet  werden. 


•«-<iX*^5^- 


OTTO  FRÖLICHER 


H.  E.  VON  HERLEPSCH. 


t  Ott»  Friliehtr. 

's  ist  ein  eigen  Ding,  dass  da,  wo  der  Boden  die 
wetterfestesten  Pflanzen  hervorbringt,  er  auch  der 
Poesie  der  Natur  ein  eigenthümlicheres,  feineres  Gepräge 
verleiht,  als  es  dort  der  Fall  ist,  wo  mit  den  senkrecht 
niederfallenden  Strahlen  der  grossen  Welterwärmerin 
und  Lebenserzeugerin  scheinbar  alle  nur  denkbare 
Pracht  über  die  Erde  ausgegossen  ist.  Der  Süden  singt 
vom  blauen  Himmel,    vom  azurnen  Meer,   seine  Klänge 


hallen  wider  von  ewiger  Licbeslust  und  Freude  am 
Leben,  der  Mensch  lebt  leicht,  sorglos,  und  wo  sein 
Auge  hin  sich  wendet,  sieht  er  der  Schöpfung  vollendetste 
Form  um  sich,  in  der  menschlichen  Figur  ebenso  wie 
im  überreichen  Blüthenschmuck  der  Pflanze ,  wenn  sie 
tausendfaltig  ihre  Kelche  öffnet  und  wahre  Wolken  von 
WohlgeriJchen  über  die  grünende,  zu  kurzem,  berauschend 
schönem  Leben  erwachte  Welt  ausbreitet.  Wir  sind 
leiclit  undankbar  gegen  die  nordisch  heimische  Scholle, 
wenn  wir  zum  ersten  Male  den  grossen  Grenz  wall 
zwichen  Italien  und  den  Ländern  kälterer  Zonen  über- 
schritten haben  und  die  unermessliche  Menge  dessen, 
was  hehre,  künstlerische  Geister  schufen,  von  allen  Seiten 
auf  das  halb  irre  gemachte  Auge  wirken  lassen.  Es 
klingt  vielleicht  barock,  wenn  ich  sage,  dass  ich  es  für 
gar  keine  besondere  Aeusserung  menschlicher  Em- 
pfindung halte,  dass  Jeder,  der  Italien  zum  ersten 
Male  sieht,  aufgeht  in  einem  wahren  Taumel  von  Genuss 
an  alledem ,  was  sich  ihm  da  beut.  Er  müsste  sonst 
ein  ganz  empfindungsloser  Tropf  oder  ein  nordischer 
Asket  sein.  Goethe's  Vater  sagte  ein  Wort,  was  so  recht 
bezeichnend  ist  für  solche  Stimmung:  Wer  Neapel  ge- 
sehen hat,  der  kann  nie  ganz  unglücklich  werden.  Er 
sagte  es  zu  einer  Zeit,  da  so  ziemlich  alle  Welt,  mit 
Ausnahme  der  paar  Protestanten,*)  ebenso  wie  im  Be- 
herrscher des  Vaticans  das  Oberhaupt  der  Christenheit, 
so  in  Italien  den  Extract  alles  Schönen  in  landschaft- 
licher sowohl  als  künstlerischer  Art  verehren  zu  müssen 


*)  Nian  verstehe  die  <  paar  >  Protestanten  nicht  falsch.  Was  mit 
künstlerischem  Auge  nach  Kom  schaute,  stand  dem  Katholicismus  siclier 
nie  feindlich  gegenüber  und  schliesshch  gab  und  giebt  es  noch  heute 
z.  13.  in  der  Schweiz,  strenge  Protestanten,  die  das  Fastengebot  de» 
Freitags  halten  und  —  fUr  den  Peterspfennig  Beiträge  zahlen. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


19 


glaubte.  Wir  ha- 
ben seitdem  eine 
mächtige  Wand- 
lung durchge- 
macht ,  wir  sind 
wieder  zu  uns  ge- 
kommen und  uns 
däucht  der  schein- 
bar bescheidene 
Reiz  des  Nordens 

mindestens 
gleichwerthig  mit 
der  transalpinen 
Circe,  ja  die  Rau- 
heit, die  Härte, 
die  in  unserem 
Boden  und  seinem 
Volke  liegt,  will  uns  schier  besser  zum  klangvollen 
Liede  begeistern,  als  die  Atmosphäre,  wo  der  volle 
Ton  von  selbst  kommt  und  ein  melodisches  Element 
im  ganzen  Wesen  und  Sein  alles  Lebenden  zu  wohnen 
scheint.  Wir  zählen  erst  nach  Jahrzehnten  an  der  mehr 
und  mehr  sich  festigenden  Thatsache,  dass  die  wolken- 


y  Otto  Frölichtr.     Studie 


doch  uns  das  sagt, 
was  wir  mit  er- 
wachendem Sinne 
als  Kind  zuerst 
um  uns  her  wahr- 
nahmen. Der 
Süden  hat  nichts 
Geheimnissvolles 
an  sich ,  in  ihm 
spielt  das  unge- 
brochene Licht 
vor  allem  andern 
eine  Rolle.    Zieht 

aber  bei  uns 
herbstlicherNebel 
durch's  Tännicht 
und  zwischen  dem 
farbigen  Blättermeere  des  Waldes  dahin,  steigen  bei  uns 
langsam  grosse  schwere  Wetterballen  am  Horizonte  auf, 
die  sich  nach  und  nach  zu  einem  endlos  hohen,  bald  grell 
beleuchteten,  bald  tiefdunklen  Wolkenpalaste  aufbauen, 
oder  decken  frostige  Krystalle  des  Ackers  Furchen  und 
des  Forstes  weitastiges  Wirrsal,  so  liegt  darin  ein  wunder- 


schwere, graue  Stimmung,  die  unserer  Landschaft  weit  sam  vielfältiges  Wesen,  ein  weit  grösserer  Zug  zu  ge- 
mehr  das  eigentliche  Gepräge  gibt,  als  der  Sonnenschein  steigerter  Empfindung,  als  sie  uns  die  schönste  Land- 
es thut,  dass  diese  eine  unfassbar  grosse  Welt  von 
Schönheiten  in  sich  berge.  Das  braune  Haideland,  die 
silberig  in  unendlicher  Ferne  sich  verlierende  Hochebene, 
der  sandige  Mee- 
resstrand ,  gegen 
den  graue  Wogen 
heran  rollen,  .sie 
sind  uns,  wie  der 
nordische  Wald 
mit  seinen  mäch- 
tigen Kronen, 
heute  mehr  als  die 
klassisch  geform- 
ten Linien  des 
Südens,  denn  wir 

empfinden  in 
ihnen  die  Mutter- 
sprache, die,  wenn 
auch  dem  zungen- 
gewandten Roma- 
nen rauh  und  herb. 


Schaft  aus  Hellas  oder  Trinacria  zu  wecken  vermag. 
Wir  wissen ,  was  der  Lenz  sei ,  weil  wir  auch  den 
Winter  kennen  und  so  i.st  es  denn  nicht  zu  verwundern, 

dasi  der  grössere 

Theil  unserer 
Künstler  sich  zur 
eigenen  Natur  hin- 
gezogen fühlt,  was 
ja  anderseits  nicht 
ausschliesst,  dass 
man  der  Ab  wechs- 
Iiing  zuliebe  auch 
den  Süden  liebe; 
speciell  bei  den 
Landschaftern  ist 
dies  durchaus  der 

Zug    der   Zeit. 
Einer  ihrer  besten, 
von  dem  die  Welt 

bei  Lebzeiten 
nicht  viel  erfahren 


Otto  Froliclar.     Studie. 


3* 


20 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


hat,  ist  uns  vor  Kuntem 
entrissen  worden:  Otto 
Frölicher,  ein  geborener 
Schweizer.  Wohl  kann- 
ten seine  Freunde  die 
Tiefe  und  Klarheit  sei- 
ner Anschauung ,  die 
ehrliche  Ueberzeugung, 
mit  welcher  er  den 
Dingen  seines  Studiums 
nachging;  er  hat  nie 
coquettes  Spiel  mit  Dem 
getrieben,  was  sein  In- 
nerstes erfüllte.    Hätte 


7   OUii  t'r*lUka:     Studie. 


Oberfläche  gespült  wird, 
so  fehlt  es  nicht  an 
Jenen ,  die  das  Hosian- 
nah  in  ebenso  grossen 
Quantitäten  von  sich  zu 
geben  vermögen,  als  ein 
Anathema.  Frolicher 
war  einer  der  Stillen, 
der  L'ngekannten ;  erst 
sein  Tod  hat  manches 
Siegel  gelöst ;  fanden 
doch  seine  Freunde  erst 
beim  Ordnen  des  Ate- 
liers und  der  darin  auf- 
gespeicherten Arbeiten 


er  es  über  sich  ge- 
bracht, er  wäre  vielleicht  ein  berühmter  Mann  geworden,  eine  Menge  von  Dingen,  darunter  fertige  Bilder  vor,  von 
denn  die  Welt  im  grossen  Ganzen,  besonders  jene,  die,  deren  Ejcistenz  sie  zuvor  keine  Ahnung  hatten.  Er  war 
wie  sie  selbst  sagt:  < gerne t  künstlerische  Anregungen  dabei  durchaus  nicht  etwa  ein  in  sich  selbst  vcrkrochener, 
in   sich    aufnimmt    und    damit   Tändelei  treibt,    sie  hält  weit-  und  menschenscheuer  Kauz,  im  Gegentheil,  wenn 


sich  von  der  Strenge  einer  ernst  überlegenden  Natur 
und  von  ihrem  Streben  durchschnittlich  ein  wenig  ent- 
fernt. Es  genügt  ihr,  im  Allgemeinen  ein  künstlerisches 
Conversations-Lexikon-Wissen  zu  besitzen,  Namen  und 
und  Schlag^vorte  zu  kennen,  aber  die  Einfachheit  ist 
ihr  entweder  ein  unbequemes  Ding,  oder  ein  von  ihr 
künstlich  gemachtes,  das  quasi  nur  als  Lar\e  dem 
innerlich  prätentiösen  Menschen  vorgebunden  ist. 

cWo  haben  Sie  Ihre  erste  Medaille  bekommen  und 
wann  sind  Sie  Professor  geworden  ? »    Das  ist  mit  wenig 
Schwankungen 


die  Frage,  nach 
deren  Beantwort- 
ung der  Mensch, 
der  Kün.stler  be- 
urtheiltwird.  Und 
kommt  es  manch- 
mal vor ,  dass 
Einer,     den     die 

Welt    längst 
kannte,  von  dem 
sie     aber     nichts 
wusste ,        durch 

irgend  einen 
glücklichen  Zufall 
im     Strudel     des 
Lebens     an     die 


+   Otto 


im  intimeren  Kreise  die  Saiten  der  Guitarre  schnurrten 
und  ein  lustig  Lied  mit  dem  andern  in  bunter  Folge 
wechselte,  so  schlich  er  nicht  scheu  davon,  sondern 
benützte  die  Kehle  zu  dem.  wozu  sie  unter  Anderni 
geschaffen  ist,  zum  Singen  und  zum  Trinken,  doch  blieb 
er  dabei,  rein  physiologisch  genommen,  immer  nüchtern. 
Ging  die  Rede  auf  ein  Thema  über,  was  ihn  berührte, 
so  legte  er  los  mit  der  ganzen  Kraft  eines  von  seiner 
Sache  überzeugten  Mannes  und  hielt  mit  seiner  Meinung 
nicht  hinter  dem  Berge,  mochte  sie  nun  momentan  auf 

freundliches  oder 
gegnerisches  Ge- 
hör stossen.  Da- 
I  rin  war  er  eine 
I  kerngesunde  Na- 
tur, ohne  Hehl, 
«■linc  Vertusch- 
ung. Er  hatte  das 
an  sich,  was  man 
so  schlechtweg 
«  bieder  »  nennt, 
er  war  ein  Mensch, 
den     man      gern 

haben  musste; 
dazu    trug    nicht 
wenig    seine    Er- 
scheinung       bei. 


\        W»ltnii     pllix 


Phot.   V.   HfinNtaongl,   Mim-h- 


Portrait. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


21 


denn  Frölicher  war  in  seinen  guten  Jahren  ,  ehe  viel- 
faches Kranksein  die  Hahung  matt,  den  Gang  schlep- 
pend machten,  eine  männlich  schöne  Erscheinung,  gross 
gewachsen,  herkulisch  gebaut,  mit  mächtig  entwickeltem 
Kopf,  aus  dem  ein  Paar  klare,  sichere,  dunkle  Augen 
herausschauten,  und  der,  wenn  Noth  an  Mann  ging, 
auch  beweisen  konnte ,  dass  seine  Fäuste  nicht  von 
weichem  Material  geschnitzt  seien.  Er  ist  von  Solothurn 
gebürtig  (1839  das.)  und  trug  in  seiner  Erscheinung 
vollständig  den  Typus  der  dort  ansässigen  burgundischen 
Bevölkerung  an  sich. 

Die  Schweiz  ist  im  grossen  Ganzen,  will  man  viel- 
leicht von  Genf  absehen ,  kein  Boden  für  Künstler ,  es 
sei  denn,  dass  der  Ruf  vom  Auslande  her  die  Meinung 
günstig  stimme,  und  dass  vor  Allem  auch  feststehe,  der 
Mann  verdiene  sich  gehörige  Batzen.  Das  Land  ist 
klein  und  vermag  nicht  Alle  zu  ernähren,  denen  es 
Vaterland  ist,  daher  denn  bei  den  Meisten  früh  der 
Sinn  für  die  speculativen  Seiten  des  Lebens  mehr  in 
den  Vordergrund  tritt  als  für  die  idealen,  künstlerischen. 
Und  dennoch,  seltsamer  Gegensatz,  gerade  dieser  Boden 
hat  eine  Reihe  von  Männern  her\'orgebracht ,  die  voll 
und  ganz  in  ihrem  Wesen  an  der  heimischen  Scholle 
hangen ,  ihr  angehören ,  und  dennoch  künstlerisch  auf 
jenen  Höhen  stehen,  zu  denen  emporzuklimmen  wohl 
Mancher  versucht,  das  Gelingen  solchen  Versuchens 
aber  vereitelt  wird  durch  allzu  frühe  Ermüdung  oder 
durch  den  ursprünglich  schon  vorhandenen  Mangel  an 
genügender  Kraft.  Es  ist  wohl  kaum  vonnöthen,  Namen 
wie  die  eines  Gottfried  Keller,  eines  Arnold  Boccklin, 
Leutlwld,  Conrad  Ferdinand  Meyer  und  Anderer  hier 
beispielsweise  aufzuführen ,  ihrer  wären  eine  stattliche 
Zahl,  wollte  man  sie  Alle  nennen.  Das  hat  hier  keinen 
Zweck.  Vielleicht  wächst  gerade  unter  den  harten 
Lebensbedingungen ,  die  ein  nüchternes ,  von  seiner 
Arbeit  lebendes  Volk  umgeben  und  den  Trieb  nach 
Erwerb  zur  maassgebenden  Richtschnur  machen ,  jenes 
Einzelnen  eingepflanzte  Element  künstlerischer  Bean- 
lagung  nur  um  so  kräftiger,  gerade  weil  es  sich  durch 
eine  förmliche  Mauer  von  Vorurtheilen  durcharbeiten 
muss,  um  Luft  zu  bekommen.  Mir  fällt  dabei  unwill- 
kürlich ein  Vers  von  Gottfried  Keller  ein,  der  vielleicht 
auf  diese  Verhältnisse  abzielt: 

Wer  ohne  Hass,  der  ist  auch  ohne  Liebe, 
Wer  ohne  Schmerz,  der  ist  auch  ohne  Treu, 
Und  dem   nur  wird  der  Himmel   wolltenfrei, 
Der  aus  dem  Dunkel  ringt  mit  heissem  Triebe. 


Wogegen  er  dann  doch  wieder  die  feste  Eigen- 
art Jener  preist,  die  das  als  eigentliches  Wesen  an  sich 
tragen,  was  ihnen  der  heimathliche  Boden  als  innerstes 
Lebensmark  in  ihr  Sein  pflanzte: 

Und  dennoch  ist's  das  echte, 

Das  bleil)ende  Volk,  das  rechte, 

Das  auf  der  Scholl'  erblasst. 

Auf  der  es  ward  geboren  ! 

Das  Schiflflein  geht  verloren, 

Dess'   Anker  diesen  Grund  nicht  fasst. 

Dass  die  meisten  jener  Schweizer,  deren  Lebens- 
beruf nicht  gerade  in  allererster  Linie  auf  materielle 
Vortheile  hinausläuft,  zum  guten  Theil  ihr  Land  ver- 
lassen, um  sich  anderweitig  ganz  oder  zeitweise  nieder- 
zulassen, das  liegt  in  der  Natur  der  Verhältnisse ,  denn 
ein  eigentliches  Kunstleben  gibt  es ,  wie  gesagt ,  mit 
Ausnahme  von  Genf  in  keiner  grösseren  Schweizerstadt, 
von  den  kleineren  völlig  zu  schweigen.  Die  aber  durch 
solche  Verhältnisse  quasi  gezwungen  auswandern,  kehren 
damit  der  Heimath  keineswegs  den  Rücken,  und  zur 
Ehre  der  Schweizer  sei  es  gesagt,  dass  sie  durchschnitt- 
lich nicht  jener  Acclimatisirungs-  und  Assimilirungssucht 
verfallen,  welche  bisher  eine  nicht  gerade  sehr  zierende 
Eigenschaft  der  Deutschen  bildete,  so  dass  man  oft  das 
seltsame  Schauspiel  erleben  musste,  unter  den  grössten 
Feinden  des  Deutschthums  in  den  Ländern  slavischer, 
ungarischer  oder  romanischer  Zunge  gerade  lauter 
Namen  zu  finden,  die  so  echt  deutsch  sind,  wie  nur 
irgend  Etwas  auf  der  Welt.  Im  Trentino  gibt  es  da- 
für ein  äusserst  bezeichnendes  Sprüchwort : 

Che  Dio  ci  guardi  dal  Todesch'  entaliana 
L'e'l  diaol  descadena. 

(Gott  bewahre  uns  vor  ilalianisirten  Deutschen,  sie  sind  wie  der 
entfesselte  Teufel.) 

Frölicher  hat  den  grösseren  Theil  seines  Lebens 
ausserhalb  der  Schweiz  zugebracht  ,  aber  er  blieb 
Schweizer  mit  Leib  und  Seele. 

Wo  und  durch  welche  Anregung  ihm  die  ersten 
künstlerischen  Neigungen  zum  Bewusstsein  gerufen 
wurden ,  weiss  ich  nicht.  Er  hat  mir  darüber  nie 
etwas  erzählt.  In  seine  Jugendzeit  fällt  die  Blüthe 
Calame's,  dessen  unübertroffene  Lithographien  sich  — 
fälschlicher  Weise  als  Zeichnenvorlagen  —  über  die 
ganze  Welt  verbreitet  haben.  Von  ihm  war  der  junge 
Frölicher  ganz  gewiss  inspirirt,  hielt  er  doch  fest  mit 
grosser  Achtung  an  dem  Genfer  Künstler,  auch  als 
dessen  Werke  längst  nicht  mehr  zu  den  «Modernen» 
zählten;    ein   anderer  Künstler,    der  in  Solothurn  selbst 


22 


DIE  KUNST  UNSERER  ZETF. 


thätig  war  und  durch  seine  grossen  historischen  Ent- 
\vürfe  gleich  wie  durch  die  schlagende  Charakteristik 
seiner  ebenso  boshaften  als  geistreich  treffenden  poli- 
tischen Cancaturen  eine  Zeit  lang  ausserordentliches 
Aufsehen  machte,  Disteli,  dürfte  kaum  in  Betracht  zu 
ziehen  sein,  denn  seine  ganze  Richtung  verhielt  sich 
zur  Natur  Frölichrr's  antipodisch.  Aber  Eines  mag  ihm 
frühe  schon  Anregung  in  Menge  gegeben  haben  :  die 
Natur.  In  jenem  Theile  der  Schweiz,  der  sich  zwischen 
dem  Jura  und  den  Hochalf)en  hinzieht  und  zum  Theil 
von  der  grünen  Aare  durchströmt  ist,  liegt  ein  malerischer 
Reiz  eigener  Art.  Leicht  gewellte  Höhenzüge  geben 
dem  Bilde  einen  wesentlich  anderen  Charakter,  als  man 
ihn  so  gemeinhin  beim  Nennen  des  Wortes  <  Schweizer- 
landschaft >,  die  etwa  ein  \'ages  Analogen  im  tTjTolcr 
Costüm  >  hat,  aufzufassen  pflegt.  Keine  wilden  und 
mächtigen  Felsgestaltungen  bringen  da  den  Ausdruck 
des  Alpinen  hinein ,  vielmehr  sind  es  die  baumbestan- 
denen Ufer  grüner,  schnellfliessender  Wasser,  breite, 
behäbige,  vielfach  noch  mit  Stroh  gedeckte  Bauern- 
häuser im  Schatten  mächtiger  Wallnussbäume ,  und 
endlich  auch  Das,  was  später  ein  so  ausgeprägtes  Wesen 
in  Frolicher's  Bild  hineinlegte:  die  Feme,  nicht  zu  ver- 
wechseln mit  Femsicht,  vielmehr  jenes  ruhige  Ueber- 
schneiden  der  Linien  in  den  tieferen  Parthien  des  Bildes, 
jenes  Ineinandergehen  bewaldeter  Hügelrücken  und 
komfeldbestandener  breiter  Bodenerhebungen.  Er  ist 
übrigens,  nachdem  er  das  Gynin.xsium  absolvirt  hatte  — 
eine  Errungen.schaft ,  die  ihm  im  Gegensatz  zu  vielen 
seiner  CoUegen  sehr  zu  statten  kam  —  bald  ausge- 
wandert ,  zunächst  nach  München  und  fand  da  an 
seinem  Landsmanne  Stefan  eine  bereits  weit  vorge- 
schrittene Künstlernatur.  Steffan  hat  hauptsächlich 
in  seinen  Bildern  das  Gebirge  cultivirt.  Das  that  zeit- 
weise auch  Frolicher;  den  Schwerpunkt  seines  Schaffens 
«iber  hat  diese  Aufgabe  nie  gebildet.  Das  Beste  und 
künstlerisch  Tüchtigste,  was  er  in  dieser  Hinsicht  schuf, 
sind  vielleicht  die  Cartons  gewesen ,  die  er  für  das  bei 
Bruckmann  erschienene  Werk  <  Rhododendron  >  von 
H.  A.  V.  Berkpsck  grau  in  grau  malte;  mit  ausge- 
sprochener Vorliebe  indessen  hat  er  sich  nie  dem  Ge- 
birgsbilde  gewidmet ;  vielleicht  auch  berührten  seine 
Natur  Dinge,  wie  z.  B.  die  manieristischen  Hochlands- 
bilder von  Lange,  die  von  der  Welt  bis  in  den  siebenten 
Himmel  hinein  gelobt  wurden  und  lediglich  aus  lauter 
^^eschickt    zusammengeleimten  Unwahrheiten    bestanden, 


bis  zu  einem  gewissen  Grade  unsympathisch ,  ja  ab- 
stossend.  Dagegen  hat  zweifelsohne  nach  der  Hand 
Lier^  sowohl  wie  Schleich  einen  grossen ,  wenn  auch  in- 
directen  Einfluss  auf  ihn  ausgeübt,  denn  sie  waren  es, 
welche  als  Künstler  die  malerischen  Reize  der  bayerischen 
Hochebene  eigentlich  erschlossen ,  wenn  man  einen 
drastischen  Ausdruck  gebrauchen  soll.  Man  muss  wohl 
oder  übel  annehmen,  dass  auch  die  früheren  Münchener 
Künstler  zuweilen  die  eigenthümliche  Schönheit  empfunden 
haben ,  die  in  der  schier  endlos  sich  dehnenden,  nur 
von  ganz  leichten  Terrainwellcn  unterbrochenen  Ebene 
zwischen  Lech  und  Inn  liegen.  Dem  ungebildeten 
Auge  erscheint  das  Land  öde,  langweilig,  gänzlich  reiz- 
los, denn  seine  Schönheit  ist  keine  aufdringliche,  nicht 
auf  der  Hand  liegende,  sie  will  gesucht,  sie  will  vor 
Allem  empfunden  sein.  Das  scheinbar  in  trostloser 
Monotonie  sich  streckende  Land  beut  wahre  malerische 
Goldgruben  —  es  bedurfte  nur  des  richtigen  Spruches 
und  sie  konnten  gehoben  werden.  Wer  im  .schnell 
dahinbrausenden  Eisenbahnzuge  nach  oder  von  München 
in  irgend  einer  Richtung  fährt,  der  weiss  in  den  wenig- 
sten Fällen ,  welch'  reiches  Terrain  um  ihn  her  ausge- 
breitet liegt  Bald  .sind  es  braune  Torfstiche,  in  deren 
dunkelfarbigen  Pfützen  sich  der  blaue  Himmel  spiegelt  ; 
die  Ränder  sind  umrahmt  von  bläulich  -  rosig  schim- 
mernder Erica,  knorrige  Kiefern  zeichnen  sich  scharf 
gegen  den  Horizont  und  duftend  entströmen  dem  nie- 
deren NadelholzgestriJpp  harzige  Wohlgerüche ,  wenn 
an  heissen  Sommertagen  das  Sonnenlicht  zitternd  über 
der  weiten,  stillen  Landschaft  liegt,  in  der  man  höchstens 
hin  und  wieder  den  Schrei  eines  hoch  in  der  Luft  sich 
wiegenden  Weih  ertönen  hört ;  damit  wechseln  dann 
wieder  ganz  andere  Bilder:  meilenweit  wogende  goldige 
Aehrenfelder ,  über  deren  Horizont  nur  da  und  dort 
die  Kronen  niedriger  verkrüppelter  Zwergobstbäume  oder 
die  rauchenden  Kamine  spitzgiebeliger  Bauernhäuser 
hervorschauen  oder  es  schieben  sich  schön  silhouettirte 
Waldparzellen  mit  kegelförmigen  Tannen  und  breit- 
wipfeligen  Buchen-  und  Eichenkronen  dazwischen,  deren 
lange  Schatten  auf  die  leise  wogenden  Halme  fallen, 
zwischen  denen  die  tiefblaue  Kornblume  und  der  knallig- 
rothe  Mohn  blüht;  dort  ziehen  am  blumenduftenden 
Waldsaume  stille,  klare  Bäche  ihre  leisen  Wirbel  unter 
dem  weit  ausladenden  Wurzelwerk  silberig  schimmernder 
Weiden,  die  von  nickenden  Heckenrosen  übersponnen 
sind ,    und    folgt    man   dem  Wasserlauf  in  seinen  vielen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


23 


Krümmungen,  an  denen  bald  frisch -grüne,  duftende 
Kleeäcker,  bald  Wiesen  mit  üppig  stengeligem  Kraut- 
werk und  breiten  Doldenblüthen  saftiger  Schierlings- 
stauden sich  hinziehen,  so  führt  der  schmale  Gangsteig 
zu  stillen ,  grünen  Weihern ,  in  welchen  die  dunklen 
Blattdächer  der  Hainbuche  und  des  Ahorns  sich  wider- 
spiegeln. Unten  am  Ende  ist  das  Wehr,  zwischen 
dessen  grauem  Balken  -  und  Bretter%verk  cr}-stailhell 
einzelne  Wasseräderchen  niederrinnen  und  spritzen, 
während   die   Hauptmasse   des    flüssigen  Elementes    auf 


hochgelegter,  stelzbeiniger,  von  grünen  Moospolstern 
überzogener  Wasserleitung  dahinfliesst  und  dann  in 
jähem  Sturze  auf  die  Schaufelräder  niedersaust,  immer 
im  gleichen  Tone,  im  gleichen  Tempo  seit  hundert 
und  mehr  Jahren.  Umgeben  von  vielblumigem  Garten, 
in  dem  wahre  Riesenexemplare  der  Centifolie  stehen, 
Rosmarin  und  Nagerl,  zu  reichen  Sträussen  zusammen- 
gebunden, neben  Levkoyen  und  Reseda  blühen,  liegt 
die  Mühle ,  ein  einsam  Gehöft,  neben  dem  ein  Paar 
mächtige    alte    Eichen    in    die    Luft     ragen,     so    dass 


l,Tt^-JJ^-^' 


t  Olto  FrölUhcr.     Studie. 


das  Ganze  eine  Gruppe ,  einen  Anhaltspunkt  für  das 
Auge  gibt ,  den  man  auf  stundenweite  Entfernung  in 
der  Fläche  erschaut.  Dort  schaut  man  dunstig  ver- 
schwommen am  Horizonte  vielleicht  die  niedrigen 
Höhenzüge,  von  deren  einem  bei  tiefstehender  Sonne 
die  Fenster  des  Schlosses  von  Dachau  herüber- 
glänzen oder  den  hochragenden  Thurni  der  Kloster- 
kirche von  Andechs,  der  weit,  weit  hinaus  in  die 
Ebene  sichtbar  ist.  Steigt  man  aber  auf  die  nächste 
niedrige  Terrainwelle   hinter    der   Mühle,    so   überblickt 


man  ein  weites  Vorland  mit  einzelnen  grossen  Baum- 
gruppen ,  die  zerstreut ,  hin  und  wieder  auch  zum 
kleinen  Waldcomplex  geeinigt,  in  den  Wiesen  und 
Aeckern  stehen ,  durch  welche  sich  in  weiten  Bogen 
und  Schlangenlinien  die  mit  deutschen  Pappeln  besetzte 
Landstrasse  hinzieht,  da  und  dort  einen  kleinen  Wasser- 
lauf überbrückend  oder  zwischen  einem,  auch  mehreren 
Gehöften  verschwindend.  Da  leuchten  von  Weitem  die 
gelben  Rapsfelder  und  die  frischgrünen  Saaten,  die  auf 
den    historisch-mysteriösen    Hochäckern    angelegt    sind. 


24 


DIE  KLNSl    UNStkER  ZEIT. 


rwischendrein  glän^  wohl  auch  der  Spiegel  eines  schilf- 
umstandenen Tümpels  oder  eines  andern  Wassers,  das 
man  schon  beinahe  See  nennen  kann.  An  solchen 
ist  die  oberbayerische  Hochebene  ungemein  reich.  Und 
dann  über  dem  Allem  in  mild  sich  hebenden  und 
senkenden  Linien  Wälder,  Wälder  und  nochmals  Wälder 
und  endlich  fem  ob  diesen  der  Bergwall  der  Alpen. 
Ich  betone  die  Feme  absichtlich,  denn  sie  spielt 
gerade  in  dieser  Landschaft  eine  Hauptrolle;  sieht 
man  doch  von  dem  Hügel  hinter  der  Muhlc  bei 
zwanzig  Ortschaften,  und  wie  oft  sind  nicht  die  Mahl- 
knechte und  der  Müller  dort  hinauf  gelaufen ,  wenn 
sie  weit,  weit,  vielleicht  in  der  Entfernung  von  ein  paar 
Stunden,  langsam  und  senkrecht  eine  schwarze  Rauch- 
säule aufsteigen  sahen  oder  der  nächtliche  Wind  das 
Sturmläuten  entfernter  Kirchenglocken  über  Wies"  und 
Wald  herübertönen  liess.  All'  das  im  flimmernden  Sonnen- 
schein zu  schauen,  ist  ein  herrlicher  Genuss,  nicht  minder 
aber,  wenn  im  Sommer  nach  tagelanger  Hitze  endlich 
die  V^orboten  des  Wetters  kommen,  das  sich  unfehlbar 
am  Nachmittag  entlädt,  wenn  auch  Morgens  noch 
stundenlang  hell  und  klar  die  Sonne  schien.  Die  ersten 
Vorboten,  kleine  graue  Wolken,  kommen  aus  der  Ein- 
sattelung, hinter  der  der  Walchensee  liegt,  oder  es  legen 
sich  Schleier  über  die  weithin  sichtbaren  senkrechten 
Abstürze  der  Zugspitze;  die  anfänglich  duftige  Feme 
wird  grau,  bleiem.  endlich  tief  dunkelblau.  Die  Wolken 
steigen,  noch  winkt  das  vergoldete  Kreuz  vom  Obser- 
vatorium des  Peissenberges,  dann  schleichen  die  Schatten 
auch  darüber  weg,  —  aber  das  Wetter  ist  noch  weit, 
weit,  es  kann  noch  Stunden  dauern,  bis  es  nur  über 
den  fernen  Ampergrund  weggezogen  ist.  Manchmal 
bleibt  es  dort  an  den  Verbergen  hängen;  heraussen 
im  Land  fallen  höchstens  ein  paar  Tropfen,  starker 
Wirbelwind  wendet  die  graue  Rückseite  der  Blätter  an 
den  Baumkronen  heraus  und  wirft  Wolken  von  Sand 
und  Staub  in  die  Höhe,  so  dass  man  den  Zug  der 
Landstrasse  deutlich  daran  erkennen  mag.  Dann  kommt's 
schwarz,  dunkel,  unheimlich  daher  über's  Land.  Alle 
Einzelnheiten  verschwinden  in  einer  grossen,  mächtigen, 
satt-  und  tiefgestimmten  Tonmas.se,  so  dass  höch.stens 
die  vereinzelten  Baumgnippen  eine  noch  dunklere  Inter- 
punction  im  Ganzen  abgeben.  Grau,  wie  Schleier  senken 
sich  schief  die  Regenschichten  von  der  Luft  nieder,  die 
Blitze,  die,  erst  ganz  fern,  fast  nur  wie  ein  Funken  aus- 
sahen, werden  länger,  schärfer  in  der  Zeichnung,  deutlich 


sichtbar  bald  senkrecht  niederfahrend,  bald  in  schrägem 
Zickzack  spitzwinkelig  züngelnd,  —  und  wenn  dann  der 
Donner  rollt,  so  hat  er  an  der  ungeheuem  Fläche  einen 
Resonnanzboden  monumentalster  Art.  Drüben  an  den 
flachen  Höhenzügen  gegen  die  Berge  ist's  unterdessen 
wieder  licht  geworden;  scharf  zeichnen  sich  die  Con- 
touren  des  Wettersteingebirges  gegen  die  hellgelbe,  fast 
schwefelfarbene  Luft  ab,  die  weiter  nach  oben  geradezu 
grün  wird  und  dann  in  ein  leuchtendes  Stahlblau  über- 
geht, über  dessen  Fläche  noch  vereinzelte  Wolkenfetzen 
dahinsausen.  Und  wie  ganz  anders  ist  das  Alles  dann 
im  Herbst,  wenn  gegen  Mittag  die  Nebel  reiben  und 
die  Sonne  durchbricht ,  oder  im  Winter,  wenn  nach 
lange  anhaltender  Kälte  ein  orangefarbener  Streifen  am 
Horizonte  nach  Süden  den  unzweifelhaften  Vorboten  des 
Föhns  macht,  der  binnen  wenig  Stunden  dann  brausend 
und  sausend  durch  die  dürrblätterigen  Wipfel  fährt  und 
die  schweren  Eiszapfen  von  der  Dachtraufe  niederstürzen 
lä.sst.  Und  wieder  ganz  anders  ist  ein  Tag  auf  dem 
weiten  Lechfelde,  das  ebenfalls  mit  zur  bayerischen 
Ebene  gehört!  Im  kurzen  thaufrischen  Gras,  das  auf 
der  magern  Humusschichte  gedeiht,  spiegelt  .sich  die 
Sonne  mit  einer  Reflexkraft  sondei^leichen;  in  dem 
kiesigen  Grunde  gedeiht  die  ganze  Alpenflora,  die  man 
sonst  nur  in  den  Schrofen  und  auf  den  grünen  Berg- 
hängen zu  finden  gewohnt  ist.  Drüben  über'm  Lech 
zieht  sich  in  langer,  kaum  unterbrochener  Linie  der  alte 
Reiherwald,  wo  einst  —  wie  der  Name  schon  andeutet  — 
ein  eigen  Stück  der  edlen  Waidmannskunst  blühte; 
weiter,  wo  sich  die  Hänge  der  cLechleiten>  schon  bei- 
nahe in  den  Horizont  senken,  schauen  die  Thürme  des 
alten  I^ndsberg  in  die  Himmelsbläue,  und  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  zeichnen  sich  fein  gegen  den  grau- 
violetten Horizont,  der  gar  oft  das  Schauspiel  einer 
Fata  morgana  gewährt,  die  Zwiebelknöpfe  des  hoch- 
aufragenden Aug.sburger  Rathhauses,  jener  von  St.  Ulrich, 
weiter  die  spitzen  Dächer  und  Firste  des  Domes  und 
aller  andern  Kirchen  der  alten  Augusta  Vindelicorum. 
Und  welche  Fülle  einsam-grossartiger  Bilder  entrollt  sich 
nicht  im  <Moos»,  jenem  unfruchtbaren  Gelände,  das 
weite  Strecken  einnimmt ,  bald  ein  sumpfig  -  mooriges 
Land,  wo  man  sprungweise  nur  festen  Fuss  fassen  kann 
und  der  Boden  elastisch  und  schwank  unter  dem  Tritte 
sich  biegt ,  dann  wieder  bestanden  mit  Buschwerk  und 
feuchten  Waldstrecken.  Wenn  dort  der  graue  Herbst- 
tag über  der  rostfarbigen  Fläche  zur  Neige  geht,    dann 


CO 

m 

c 

Co 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


25 


steigt's  aus  dem  Boden  auf,  geheimnissvoll,  dunstig,  in 
tausenderlei  Gestalt  und  einigt  sich  zu  einer  dunkel 
heranrückenden  Nebelmauer.  Weh'  Dem,  der  unkundig 
des  Weges  davon  überrascht  wird!  Oder  wenn  der 
Wind  über  die  scheinbar  öde  Fläche  daher  saust,  reisst 
er  den  Nebelschleier  in  Fetzen,  treibt  sie  dicht  am 
Grunde  dahin,  während  wenige  Meter  über  dem  Boden 
trübes  Mondlicht  in  das  seltsam  geisterhafte  Zusammen- 
weben und  Zerzausen  der  üunstmassen  hinein  scheint 
und  die  phantastischsten,  in  rasender  Eile  wechselnden 
Bilder  beleuchtet.  Manchmal  auch,  ist's  windstill,  sieht 
sich  die  ganze  weite  Fläche  bei  solchem  Nebel  an  wie 
die  See,  denn  Baum  und  Busch  ragen  aus  unbestimmtem 
Grunde  wie  bei  einer  Ueberschwemmung  hervor,  die 
niedrigen  Hütten  der  Einöd  -  Bauern  verschwinden  in 
halber  Fensterhöhe  im  brauenden,  grauen  Bodendampf 
und  erst  die  aufgehende  Sonne  des  nächsten  Tages  ver- 
treibt das  Ganze,  in  dem  auch  der  Mensch  bis  an  die 
Hüften  von  unten  her  verschwindet.  Wer  je  auf  der 
Jagd  im  Dachauer  Moos  oder  gar  in  dem  meilengrossen 
gleichen  Terrain  an  der  Donau  oder  bei  Erding  gewesen 
ist,  der  kann  ein  Stück  erzählen  von  dieser  ganz  selt- 
sam schönen,  für  das  ungebildete  Auge  freilich  mono- 
tonen Natur.  Oh ,  es  ist  ein  gar  eigen  Ding  um  all' 
diese  Bilder,  welche  die  Hochebene  dem  Auge  er- 
schliesst;  darüber  könnte  man  ein  ganzes  Buch  schreiben, 
und  es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  gerade  in  München 
so  sehr  viele  Maler  gleichzeitig  auch  Jäger  sind.  Da 
bekommt  man  eben  gar  Vieles  zu  sehen ,  wovon  Der 
keine  Ahnung  hat,  der  in  gutgeheizter  Studir-  oder 
Redactionsstube  über  das  Wesen  der  Kunst  sich  seine 
Vorstellungen  zu  machen  bemüht  ist,  um  sie  dann  der 
Welt  als  Ragout -fin  vorzusetzen. 

Frölicher  hat  in  seiner  Art  ein  Buch  darüber  ge- 
schrieben, mit  Stift  und  Pinsel  all'  das  wiedergegeben, 
was  er  in  langem  Weilen  während  vieler  Jahre  da  er- 
schaute, und  wenn  ich  mich  hier  schildernd  in  eine 
Landschaft  vertieft  habe,  durch  die  ich  selbst  kreuz 
und  quer  gestreift  bin,  so  war  es  nur  der  Versuch,  an- 
zudeuten, in  welch  reichem  Maa.sse  der  so  früh  dahin- 
gegangene Freund  und  Künstler  das  erfasst  hat,  was 
die  nächste  Nähe  Münchens  im  reichsten  Maasse  bietet. 

In  Düsseldorf,  wohin  er  1864  zog,  ist  er  nicht 
lange  geblieben.  Was  er  dort  an  den  Werken  hochbe- 
deutender Künstler,  wie  der  beiden  Achenbach,  Dücker 
u.  A.    zu  sehen   bekam,    wirkte   wohl  in  hohem  Grade 


anregend  auf  ihn,  doch  war  es  das  nicht,  wohin  sein 
Streben  ging.  Dafür  aber  schloss  er  dort  enge  Freund- 
schaft, die  bis  an  sein  Lebensende  dauerte,  mit  Philipp 
Roth,  einem  congenialen  Landschafter,  der  später  eben- 
falls nach  München  übersiedelte  und  mit  Frölicher  zu- 
sammen studierte  und  arbeitete,  ohne  dass  indessen 
zwischen  den  beiden  Malern  ein  gewisses  Abhängigkeits- 
Verhältniss  in  der  Anschauung  eingetreten  wäre.  Es 
blieb  jeder  auf  seinen  eigenen  Wegen. 

Frölicher  kehrte  im  Jahre  65  nach  zehnmonatlicher 
Abwesenheit  gen  München  zurück  und  hat  die  Isarstadt 
nur  noch  einmal  für  längere  Zeit  verlassen,  um  nämlich 
für  ein  Jahr  nach  Paris  (1868 — 69)  zu  wandern.  In  den 
älteren  französischen  Landschaftern,  in  Daubigny,  Dupr(, 
Rousseau  u.  a.  fühlte  er  Verwandtes  mit  Dem,  was  er  selbst 
wollte  und  dann  gab  es  ja  ausser  den  Werken  dieser  Cory- 
phäen  der  Landschaftsmalerei  dort  eine  so  grosse  Reihe 
von  jungen  Kräften,  die  in  vielseitigster  Weise,  wie  sie  es 
auch  heute  noch  thun,  ihre  Aufgaben  der  Natur  gegen- 
über aufzufassen  und  zu  bewältigen  versuchten.  Er 
Hess  sich  in  Fontainebleau,  wo  so  recht  eigentlich  die 
heutige  französische  Landschafterschule  sich  heranbildete, 
nieder,  und  malte  dort  während  Monaten,  von  den 
französischen  Collegen  überall  aufs  Liebenswürdigste 
aufgenommen  und  in  seinen  Arbeiten  in  kameradschaft- 
licher Weise  mit  grossem  Interesse  verfolgt.  Sie  liebten 
ihn  auch  als  Men.sch,  wie  Jeder,  der  ihm  im  Leben  be- 
gegnet ist;  war  er  ja,  abgesehen  von  seinem  Können, 
eine  äusserst  sympathische  Figur,  deren  ganzes  Wesen 
bei  aller  ungeschminkten  Wahrheitsliebe  etwas  männlich 
Freies,  Angenehmes  hatte.  Die  dunkelbraunen  Augen 
schauten  treuherzig,  wei.ss  Gott!  und  seine  Stimme  war 
sonor,  ruhig,  nie  kläffend  und  auch  nie  süsslich.  Ebenso 
verachtete  er  alle  Ueberflüssigkeiten,  hat  es  auch  nie 
verstanden,  den  Rücken  zu  krümmen.  Sein  äusseres 
Leben  war  von  einer  geradezu  spartanischen  Einfachheit. 

Das  Resultat  seines  Aufenthaltes  in  Fontainebleau 
war  ein  grosses  Bild  mit  mächtigen  Bäumen,  zwischen 
deren  Stämmen  sich  der  Blick  in  offenes  Land  und 
nach  fernen  blauen  Hügelzügen  aufthut.  Er  stellte  es 
im  Salon  aus  und  hat  es  dort  auch  sofort  verkauft. 
Dann  kehrte  er  wieder  nach  München  zurück.  Was  er 
seitdem  geschaffen,  davon  gab  die  Ausstellung  eines 
ganz  kleinen  Theiles  seiner  nachgelassenen  Werke  im 
Kunstvereine  zu  München  Zeugniss.  In  seiner  Vater- 
stadt Solothurn   sollen  alle  noch  vorhandenen  Arbeiten 


26 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


vereinigt  und  damit  ein  Act  dankbarer  Anerkennung 
begangen  werden,  den  der  Schweizer  Künstler  bei  Leb- 
zeiten in  seiner  Heimath  selten  kostet. 

Er  zog  spater  nimmer  weit  in  der  Welt  herum. 
In  Italien  ist  er  überhaupt  nie  gewesen.  Die  hügeligen 
Waldgelände  zwischen  Ammersee  und  Stambergersee, 
die  Gelände  bei  Wessling  und  Seefeld,  vor  Allem  aber 
die  von  der  klaren  Amper  durchflossenen  grünen  Anger 
bei  Brück.  Heimhausen.  Dachau,  das  wurden  seine 
Hauptstudienplätze,  denen  er  stets  neue  Seiten  abzu- 
gewinnen verstand.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  seine 
Naturstudien  oft  etwas  viel  Frischeres,  Unmittelbareres 
hatten,  ab  seine  Bilder.  Ueber  diesen  ist  er  zuweilen  zu 
lange  gesessen,  hat  zu  viel  über  den  W'erth  oder  Unwerth 
des  Einen  oder  Andern  in  der  eigenen  Malerei  nach- 
gedacht. Er  war  darin  vielleicht  etwas  z  u  gewissen- 
haft und  hat  es  nie  über  sich  vermocht,  in  breiter, 
alle  Kleinigkeit  beiseite  setzenden  Weise  mit  einer  Arbeit 
abz\ischliessen ,  wie  dies  z.  B.  bei  den  Schöpfungen 
seines  ebenfalls  zu  München  wohnenden  Landsmannes, 
Adolph  Stabil,  der  Fall 
ist.  Wie  er  aber  vor 
der  Natur  aufzufas-sen 
im  Stande  war,  davon 
geben  die  wenigen  in 
diesen  Blättern  unzu- 
länglich veröffentlich- 
ten Studien  Zeugniss. 
denen  wir  eine  au.sgc- 
zeichnete  Reproduction 
nach  einem  seiner  letz- 
ten   Bilder    beizufügen 

glücklicherweise  im 
Stande  sind.    Die  paar 
knorrigen    Bäume    auf 


\--.y 


felsigem  Boden  im  Vordergrunde,  an  denen  sich  ein  Feld- 
weg vorbeizieht,  die  Feme  mit  den  dunklen  Wäldeni,  die 
schwere ,  massig  wirkende  Luft ,  die  ob  dem  Ganzen 
schwebt,  das  Alles  ist  tein  Frölicher-%  in  des  Wortes 
bester  Bedeutung  ynd  hat  in  seiner  Art  mit  keiner  Schul- 
Anschauung  etwas  zu  thun.  Frölicher  war  durchaus  Auto- 
didakt und  wenn  er  sich  durch  bedeutende  Collegen 
beeinflus.sen  liess,  so  äusserte  .sich  dies  immer  in 
künstlerisch  durchgearbeiteter  Weise,  niemals  aber  im 
Sinne  unselbständiger  Nachtreterei ,  wie  das  unsere 
deutschen  Modernen  so  sehr  lieben. 

Fiebernd,  mit  zitternden  Gliedern  i^t.  ir  noch  im 
Herbst  des  verflos-senen  Jahres  hinausgegangen  nach 
Schieissheim ,  um  Studien  zu  machen ;  als  ich  ihm  er- 
zählte von  den  grossartigen  land.schaftlichen  Kpüsoden 
der  Bodensce-Ucberschwemmung ,  die  ich  kurz  zuvor 
mit  angesehen  hatte,  da  packte  ihn  förmliche  Ungeduld 
darob,  dass  er  nicht  dabei  gewesen.  cEin  anderes 
Jahr  entkommt  mir  so  was  nicht  U  meinte  er  —  es 
kam  anders!     Die  ersten  Frostnächte  des  Spätherbstes, 

die    das  Laub   an    den 

IJaumen  zu  Falle  brin- 

,  ;cn.   sie  brachen  auch 

\  iin.    nnii    wenn    seine 

I'Veunde  bald  darnach 
ob  einer  unaiusfüllbarcn 
Lücke  in  ihrem  Krei.se 
trauerten,  .so  thaten  .sie 
es  um  einen  ganzen 
Mann  und  Künstler.  In 
reiferen  Jahren  schlies- 
sen  sich  die  Risse 
nimmer,  die  das  Ge- 
schick bereitet.  Er  fehlt 
uns  Allen 


tl 


Oito   Frolicher.      .Stutntr. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


27 


PARIS  UND  DIE  MALEREI  DER  NICHT-FRANZOSEN 


VON 


MOMME   NISSEN. 


Sx^urchaus  nicht  denen  möchte  ich  mich  zugesellen, 
(^5^  welche  da  meinen,  Paris  bedeute  in  unserem  Zeit- 
alter dasselbe  für  die  Kunst  etwa,  was  Athen  in  der  Periode 
des  Perikles  — ,  unmöglich  aber,  scheint  mir,  ist  es  zu 
leugnen,  dass  Paris  die  Hochburg  des  Modernen 
sei  für  die  Künste  unserer  Zeit  —  ganz  besonders  für  die 
Literatur  und  die  Malerei  — ,  bis  überall  dahin  strahlend, 
wo  noch  von  einer  t  civilisirten  j  Welt  die  Rede  sein  kann. 

Eine  andere  Sache  ist,  welchen  Werth  man  jenem 
Ruhm,  stets  der  Ausgangspunkt  des  Neuesten  zu 
sein,  beimessen  kann.  Man  darf  sich  nicht  verhehlen, 
dass  Modernes  durchaus  nicht  stets  das  ewig  Junge 
bedeute  —  im  Gegentheil  scheinen  sich  die  Klänge 
c modern  und  «jugendlich»  durchaus  zu  meiden  — 
und  dass,  die  Hauptstadt  stets  der  t Moderne»  zu 
sein,  sich  sehr  nahe  berühre  mit  jenem  anderen  Glanz 
von  Paris ,  der  über  der  internationalen  Residenz  der 
Mode  ausgebreitet  liegt. 

Sei  dem,  wie  es  wolle:  jedenfalls  ist  es  äusserst 
fesselnd,  zu  beobachten,  wie  weit  und  wie  mannigfaltig 
verzweigt  die  Anregung  um  sich  griff  und  noch  greift, 
welche  Paris  auf  dem  Gebiete  der  Malerei  fast  allen 
Völkern  gegeben  hat. 

Es  gibt,  glaube  ich,  in  der  Gegenwart  nicht  eine 
Gruppe  irgendwie  in  Betracht  zu  ziehender  Maler ,  die 
von  Pariser  Einflüssen  in  ihrer  Malerei  nicht  berührt 
worden  wären ;  unsere  beiden  Kunsteinsiedler :  Böcklin 
und  T/ioma  sind  vielleicht  die  Einzigen,  die  als  mächtige 
Kunstkolo.sse  fern  und  frei  von  Paris,  ganz  frei  von 
Paris,  völlig  auf  gesondert  eigenem  Boden  stehen. 

Und  es  ist  erklärlich,  dass  Paris  diese  massgebende 
Stellung  in  der  .Malerei  gewann.  War  es  doch  eine 
jämmerlich  kunstlo.se  Zeit  zu  Beginn  unseres  jetzt  schon 
greisenhaften  Jahrhunderts,  eine  Zeit,  wo  jede  Kunstpflege 
erstorben  war.  Wenn  uns  Deutschen  jene  Periode  auf 
dem  Gebiete  der  Malerei  auch  einige  geniale  Einzel- 
naturen, von   Carstens  bis  Sclnvind,  brachte,  so  erwuchs 


doch  in  Deutschland  keine  fruchtbringende  Erstarkung 
und  Pflege  des  Technischen  der  Weise,  als  damals  schon 
in  Frankreich,  in  Paris.  Es  ist  bekannt,  wie  von  David 
an  in  Frankreich  die  Malerei  wieder  festen  Boden  gewann, 
wie  sie  von  ihm  an  Schritt  für  Schritt  langsam  aber 
sicher  neues  Gebiet  zu  erobern  begann ,  ohne  auch  nur 
von  den  früheren  Errungenschaften  das  Geringste  fahren 
zu  lassen;  vielmehr  bildete  sich  bald  ein  fester  Bestand 
von  Malkenntnissen,  die  in  der  Tradition  von  den  Aelteren 
auf  die  Jüngeren  übergingen.  Die  Concentration  in  Paris 
gab  der  französischen  Malerei  ein  positives  Können  und 
ein  gefestigtes  .'\nsehen,  dem  sich  die  Deutschen  durch- 
aus nicht  an  die  Seite  zu  stellen  vermochten,  zumal  da 
sie  .sich  nicht  allein  sehr  zersplitterten,  sondern  auch 
ihre  Sucht  nach  dem  Auslande ,  vor  allem  nach  Rom, 
ihrer  Entfaltung  Abbruch  that. 

Von  Anläufen  zu  einer  selbstständig  bedeutenden 
Malerei  kann  ausser  in  Frankreich  dieses  Jahrhunderts 
erste  Hälfte  entlang  eigentlich  nur  in  Deutschland  die 
Rede  sein,  wenn  man  dazu  etwa  noch  die  Malerei  der 
Engländer  Constable,  Bonington  und  Turner  in  Betracht 
zieht.  Die  anderen  Nationen  schmiegten  sich  leicht  an 
Frankreich  an.  Und  auch  die  Deutschen  zum  grossen 
Theil.  Ist  denn  nicht  Piloty  durch  die  Vermittlung 
Belgiens  ein  Ableger  zweiter  Hand  von  der  französischen 
Malerei  eines  Delarociu ,  von  dem  Evangelium  des 
Farbigen,  welches  nach  dem  genialen  Delacroix  aus- 
gesprengt wurde.'  Und  wer  einigermassen  die  neuere 
Malkunstgeschichte  Deutschlands  und  seiner  Kunst- 
hauptstadt München  kennt,  der  weiss,  was  Piloty  für 
die  Entwicklung  der  neueren  deutschen  Malerei  bedeutet. 
Feuerbach  war  in  Paris  als  Schüler  von  Couture,  ebenso 
Henneberg,  Brendel  und  nicht  wenig  andere  Deutsche. 
Wie  nahe  Menzel  Paris  steht,  weiss  man,  ebenso,  dass 
Knaus  nicht  allein  bei  uns  das  wurde,  was  er  ist.  — 
Diese  kleine  Reihe  von  Namen  genügt,  um  zu  zeigen, 
in  welch'  nahen  Beziehungen  die  Aelteren  unserer  Maler- 

4* 


28 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEH'. 


Schaft  in  einten  ihrer  Hauptvertreter  zu  Paris  sich 
befinden,  und  man  darf  sagen,  dass  der  Connex  unserer 
jüngeren  Künstler  mit  Paris  ein  bedeutend  stärkerer 
und  al^emeinerer  geworden  ist. 

Das  möchte  ich  in  Kürze  jetzt  zuerst  etwa«  näher 
beleuchten. 

Es  ist  \TeI  von  <  Pleinairmalerei  >  die  Rede  jetzt, 
nur  zu  vid.  Man  weiss  —  oder  meint  zu  wissen  — , 
da.«^  dieselbe  von  Paris  au^egangen  sei,  sich  auch, 
theilweise  schreckenerregend,  über  Deutschland  ver- 
breite, dass  bei  uns  Ulidt,  Liebermann,  vielleicht  noch 
L.  V.  Kaickrenth,  Skarbina,  ihre  Hauptvertreter  seien, 
und  dass  diese  —  last  not  least  —  ganz  besonders 
die  Hässlichkeit  als  darstellenswerth  zu  betrachten 
beliebten. 

Es  ist  wahr,  dass  eine  hellere,  wcisslichere,  grauere 
Aussenseite  der  Malerei,  im  Gegeasatz  zu  dem  fast 
stets  bräunlichen  Ton  älterer  Bilder,  zuerst  in  Pari.s 
ans  Tageslicht  trat,  wenn  hiefür  auch  der  Schlagnamc 
plein  air»  eine  sehr  oberflächliche  Bezeichnung  ist.  Schon 
die  Fontainebleauer,  die  Millet,  Corot,  Rousseau,  Daubigny, 
TroyoH,  hatten  der  Natur  gegenüber  stets  das  Bestreben, 
die  Dinge  i  entourc  d'air  >  wiederzugeben,  und  deren 
Hilden  sind  durchaus  —  entgegen,  glaube  ich,  mancher 
Vorstellung,  welche  man  sich  bei  uns  von  jenen  mit 
Recht  so  hoch  gepriesenen  Werken  macht  —  braun, 
und  doch  zum  Theil  herrlich  und  voll  durchwoben  von 
der  I.uft.  die  alle  Gegenstände  bestrahlt  und  umgibt. 
Der  Grund  zu  der  Hell  maierei  liegt  tiefer. 

Nicht  allein  jenes  Bestreben,  die  Luft  um  die  Dinge 
herum  wiederzugeben,  hat  sie  gezeitigt.  Der  bequemste, 
einschmeichelndste,  gelegenste  Farbton  für  unser  Auge, 
für  das  Auge  des  Malers  i.st  das  Braun.  Es  ist  ein 
warmer,  tiefer,  weicher  Ton.  Und  es  war  von  den 
Alten  wahrhaft  sehr  politisch,  wenn  nicht  ganz,  so 
doch  stets  etwas,  alle  Farben  durch  das  Bräunliche, 
welches  dem  Gemälde  immer  die  natürliche  Sympathie 
der  Netzhaut  sichert,  dämpfen  zu  lassen.  Und  ihr  Tact- 
i;efühl  in  dieser  Beziehung  war  so  vortrefflich,  dass  es 
nicht  zu  verwundem  ist,  wenn  den  Malern,  welche  zu- 
erst eine  braunlose  Malerei  auf's  Tapet  brachten ,  kein 
Zuruf  erfolgte. 

Doch    es    war    nöthig,    sich  vom  Braun    zu    ent- 
fernen.   Denn  während  einstmals  Jugendfrische  über  den 
.saucigen  »    Gemälden    lagerte  ,    während    ehemals    d  i  e 
Illusion ,    welche    trotz    der    im    Grunde    unwahren    und 


naturunähnlichen  braunen  Töne  hervorgerufen  ward,  den 
natürlichen  Ansprüchen  der  früheren  Zeiten,  Völker  und 
Männer  genügte ,  wächst  in  unserem  Jahrhundert  der 
Drang  nach  einer  viel  grösseren  Illu.sion  auch  in  der 
Malerei.  Und  um  eine  wirkungsvolle  Illusion,  den  ganzen 
neu  geformten  Anschauungsweisen  zudem  entsprechend, 
welche  zumal  durch  die  Revolution  der  Natur^vissen- 
schaften  her\oi^erufen  wurden,  zu  bringen  in  den  Ge- 
mälden, musste  von  der  freilich  so  sympathischen,  und 
desshalb  auch  so  lange  herrschenden  Bräune  abgegangen 
werden. 

Es  ist  das  Verdienst  von  Paris,  zu  Gunsten  einer 
grösseren  Illusion,  oder  sagen  wir:  zu  Gunsten  der  Mög- 
lichkeit einer  grösseren  Illusion,  auf  die  alte  Malgewohn- 
heit verzichtet  zu  haben.  Denn  es  ist  unmöglich,  dass  die 
Braunmalerei  nun  zunächst  eine  Zukunft  hat.  (Die  von 
der  Münchener  Ausstellung  her  bekannten  neuen 
Schotten  sind  hier  freilich  zum  Tlicil  ein  merkwiirili<;fs 
Phänomen.) 

Wir  müssen  es  unseren  Landsleuten  Ulide  und 
Liebermanii  danken  —  ihr  persönliches  Verdienst  ganz 
abgerechnet  — ,  dxss  sie  uns  vor  Allen  das  Verständniss 
jener  neuen  Kunstphase,  die  Paris  durchmacht,  ver- 
mittelt haben.  Es  ist  der  Geist  eines  Alten,  es  ist  der 
Geist  Afiilet's,  der  in  ihnen,  besonders  erkennbar  in 
Liebermann,  steckt,  und  es  ist  die  Malwei.se  von  Bastien- 
Lepage  zuweilen,  die  sie  beherrscht,  die  aber  noch  eine 
viel  grös-sere  Frische  und  Freiheit  des  Malerischen  da- 
zu erhält. 

Doch  es  sind  ja  bei  weitem  nicht  allein  diese 
Beiden,  welche  von  Frankreich  in  gleichem  Sinne  in- 
spirirt  sind,  und  ich  bin  der  festen  Ueberzeugung,  dass 
gerade  diese  Beiden  am  wenigsten  vor  den  Augen  un- 
befangener Deutschen  Gefallen  finden  werden  unter  den 
Neueren,  aber  sie  waren  die  Ersten ,  an  die  der  Streit 
sich  kettete,  und  die  Ersten,  die  .so  Manchen  unter  der 
deutschen  Malerschaft  die  Augen  öffneten  über  all  das 
Süssliche  und  gehaltlos  Nette  vieler  Tagesgrössen. 
Glaubt  ihr  es  jedoch  nicht,  dass  jene  beiden  unliebens- 
würdigen Maler  eine  ganze  Generation  ein  gut  Theil 
erzogen  haben  —  nun  so  fragt  einmal  unsere  jüngeren 
Künstler,  die  euer  Gefallen  schon  eher  finden  und  denen 
vorläufig  die  Zukunft  gehört,  was  sie  Männern  wie  Ulide 
und  Ueberviann  verdanken!  Sie  sind  Märtyrer  beinahe; 
Märt>Ter  pflegen  keine  schönen  Züge  zu  haben ,  doch 
sie  sind  markig. 


DIR  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


29 


Uebrigens  können  wir  stolz  sein  darauf,  welches 
Ansehen  die  Beiden  bei  unseren  Landesfeinden,  bei  den 
Franzosen,  geniessen.  Es  bestätigt  sich  von  Jahr  zu 
Jahr.  Und  es  bedeutet  mehr,  in  Paris,  wo  wahrhaft 
wählerische  Kunstrichter  sind ,  eines  Ansehens  zu  ge- 
niessen und  Auszeichnungen  ersten  Ranges  zu  ernten, 
als  in  Berlin,  selbst  als  in  München. 

Man  sieht,  dass  fähige  Deutsche  die  französische 
Malerei  nicht  blos  nachahmen  und  unpersönlich  weiter- 
pflanzen —  dann  würden  die  Pariser  sich  wenig  darum 
kümmern  — ,  sondern  dass  sie  selbst  schöpferisch  die  als  gut 
erkannte  Malweise  ausgestalten  und  als  Mittel  dem  Zweck 
des  persönlichen  Ausdruckes  unterordnen.  Eben  dess- 
halb  darf  man  Paris  auch  in  diesem  Falle  fruchtbringend 
nennen ;  wenn  es  blos  Nachahmung  hervorriefe,  wäre  es 
uns  werthlos. 

Was  es  damit  auf  sich  hat,  dass  unsere  «Hell- 
maler 5  sehr  gerne  als  Maler  der  Hässlichkeit  hingestellt 
werden,  ist  allerdings  gegen  principielle  Gegner  schwer 
zu  erörtern.  Ich  möchte  nur  anführen,  dass  das  Schön- 
heitsideal —  meint  ja  nicht,  dass  ein  Ulidc  und  Lieher- 
mann keines  hätten!  —  wandelbar  i.st,  wie  Alles,  und 
wenn  dasselbe  bei  den  Versuchen  der  Modernen  nicht 
entfernt  eine  Ausgestaltung  vorläufig  zu  erringen  ver- 
mocht hat,  wie  friihcr  in  glücklicheren  Kunstzeiten,  so 
liegt  das  nicht  allein  an  der  Unzulänglichkeit  der  Per- 
sönlichkeiten, die  doch  nicht  gleich  ein  Michel  Angela 
oder  ein  Retnhrandt  sein  können,  als  an  der  Unzuläng- 
lichkeit der  Zeitverhältnisse.  Aber  es  wird  zu  leicht 
grobe  Verkennung,  wenn  man  thatkräftigen  Suchern 
nach  Erneuerung  und  Wahrheit  in  der  Kun.st  deshalb, 
weil  ihre  Schönheitsempfindungen  von  den  altgewohnten 
ganz  und  gar  abweichen,  von  vorneherein  entgegentritt. 
Dass  man  manche  unserer  Maler,  eben  die  haupt- 
.sächlich,  die  von  Paris  lernten,  «Naturalisten-  zu  nennen 
Tür  gut  hält,  ist  im  Grunde  blos  ein  bequemes  Mode- 
anhängsel zur  Unterscheidung,  hier  viel  weniger  be- 
rechnet wie  bei  modernen  Literaten.  Denn  es  ist  nicht 
zu  leugnen,  dass  sich  unter  den  Letzteren  sehr  viel 
Tendenz  und  leeres  Geschrei  mit  Schlagworten  als 
«  Naturalismus  j  u.  s.  w.  eingeschlichen  hat,  zu  oft  ge- 
nährt von  einem  demokratischen  Zuge,  während  die  Um- 
strittenen unter  den  neuen  Malern  ihre  aristokratische 
Haltung  stets  bewahrt  haben .  ohne  jemals  den  freilich 
bestehenden  gründlichen  Gegensatz  erbittert  wie  jene 
zu  betonen. 


Doch  ich  zweige  etwas  ab  vom  Thema,  welches 
ich  zu  behandeln  vorgegeben  habe.  Indem  ich  später, 
um  die  heutige  Situation  der  Oberherrschaft  von  Paris 
zu  veranschaulichen ,  ein  Bild  von  des  Auslandes  Ver- 
tretung im  jüngsten  Pariser  Salon  einflechten  möchte, 
werde  ich  auf  Deutschland  zurückkommen;  zuerst  aber 
ist  die  Stellung  anderer  Nationen  in  ihrer  Malerei  zu 
Frankreichs  Hauptstadt  näher  zu  betrachten. 

Von  einer  Malerei  in  Skandinavien  hat  man 
bisher,  einige  dänische  Anläufe  ausgenommen,  nichts 
gewusst.  Jetzt  aber  entwickelt  sich  eine,  und  fast  völlig 
durch  Paris. 

Freilich  denke  ich  daran,  dass  Düsseldorf  sowohl 
wie  München  starken  Zufluss  an  norwegischen  Malern 
hatten,  aber  diese  haben  sich  ihrem  grössten  Theile 
nach  so  schnell  acclimatisirt  und  entnationalisirt,  dass 
sie  wenig  in  Betracht  kommen,  selbst  wenn  ihre  Talente 
zeitweilig  etw;is  Frisches  zu  Tage  förderten. 

Aber  unter  dem  anregenden  Einfluss ,  den  Paris 
auf  so  viele  skandinavische  Talente  ausübte,  die  dort- 
hin geströmt  kamen,  erwachte  —  für  uns  beinahe 
über  Nacht  —  dort  oben  im  Norden  reges,  vielseitiges 
Interesse  für  Malerei  und  zugleich  ein  nationaler  Auf- 
schwung derselben.  PVeilich  unterdrückte  wohl  die 
Seinestadt  manche  der  Landesinstinkte  zuerst  bei  Nord- 
ländern und  Hess  sie  schnell  als  Pariser  sich  acclimati- 
siren ,  die  dann  in  der  Menge  der  französischen  Maler 
leicht  verschwanden ;  bald  aber  erstarkte  bei  Kräftigeren 
und  Späteren  das  für  die  Kunst  stets  fruchtbringende 
Hcimat-sgefühl  und  so  lernten  die  bedeutendsten  der 
jetzt  lebenden  nordischen  Maler  wohl  in  Paris,  aber  sie 
schufen  auf  ihren  Schneefeldern,  ihren  Matten,  ihren 
Fjorden.  Und  dass  sie  dies  thaten  und  thun,  das 
sichert  ihrer  jungen  Kunst  eine  verheissungsvolle ,  that- 
kräftige,  eigenartige  Zukunft. 

Es  liebäugeln  die  Norweger ,  Schweden ,  Dänen 
allerdings  stets  noch  sehr  mit  Paris,  und  sie  haben 
damit  einer  Weise  sowohl  eine  Pflicht  der  Dankbarkeit 
erfüllt  gegen  die  Stadt,  die  ihrer  Kunst  Amme  war, 
als  auch  gewinnen  sie  dadurch  feste  Position  in  der 
europäischen  Kunstwelt,  der  sie  sich  nicht  besser  als  in 
deren  Centrum  offenbaren  können. 

Vielleicht  ist  es  nur  Optimismus  von  mir,  was  ich 
jetzt  sage,  aber  ich  glaube,  dass,  wenn  die  nordische 
Kunst  bald  in  Zukunft  einen  freien,  ganz  selbstständigen 
Sommer  feiert,   dass  dann  die  Bande,    die  Nordland  an 


so 


DIE  KUNST  UNSF.RKR  ZKIT. 


Paris  fesseln,  immer  lockerer  geworden  sein,  rcrreissen 
werden,  und  dass  alsdann  die  Slcandinavier  sich  zu  erinnern 
beginnen,  wo  ihnen  Stammesverwandtschaft  zur  Seite 
steht  und  sich  den  Deutschen  naturgemäss  mehr  an- 
schliessen  werden.  Sind  doch  schon  die  nordischen  Schrift- 
steller, die  Ibsen,  Georg  Brandes,  Strindberg,  Ola  Hansson 
und  wie  sie  alle  heissen,  uns  grade  letzter  Zeit  auch  per- 
sönlich immer  naher  gerückt!  Sowohl  für  Deutsche 
wie  Skandinavier  wäre  es  auf  die  Dauer  unter  allen 
Umständen  erspriesslicher ,  wenn  beide,  anstatt  einzeln 
mit  französischer  Kunst  zu  liebäugeln,  gegenseitig 
sich  stärker  zu  befruchten  versuchen  möchten,  und 
Paris  dann  links  li^en  zu  lassen  vermöchten. 

Es  erwächst  für  Paris  eine  Gefahr  aus  der  allzu 
freundlichen  Pflege  und  Aufnahme  der  skandinavischen 
Kunst  bei  sich.  Es  könnten  die  Jungen  ihren  Erziehern 
über  den  Kopf  wachsen.  Mehrere  Anzeichen  schon 
bestätigen  diese  Vermuthung. 

Denn  es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  Frankreichs 
.schöpferLsche  Kraft  wie  in  allen  Künsten ,  so  auch  in 
der  Malerei  zu  versiechen  droht.  Es  erstehen  keine 
starken  Individuen,  die  hoch  über  das  Niveau  empor- 
ragen. Hoher  Standpunkt  der  Malerei  überhaupt  ist 
die  Marke  von  Paris.  Wo  aber  bleiben  die  Grossen, 
die  den  Ueberschuss  an  Feinnervigkeit ,  technischer 
Geschicklichkeit  und  nervöser  Ueberreiztheit  in  solch 
überzeugend  persönliche  Formen  kneten ,  da-ss  dem 
ganzen  Lande  und  Volke  dadurch  geistige  Offenbar- 
ungen erwachsen?  Es  fehlt  der  Wein  für  die  neuen 
Schläuche.  Der  Boden  ist  abgezehrt  und  die  Sonne 
lässt  die  schwächlichen  Trauben  nicht  reif  genug 
werden,  als  dass  der  Lebens.saft  sich  auf's  Neue  ver- 
jüngen könnte. 

Aber  die  Norweger  sind  ein  markiges,  junges, 
zukunftsfrisches  und  unverbrauchtes  Volk.  Darum  auch 
ihre  schleunigen  Fortschritte  und  neuen  Kunstwandlungen. 
Ks  sind  einige  unter  ihnen,  die  fast  genau  schon  den 
Grad  der  Feinfühligkeit  haben  im  Malerischen  wie  die 
Vordersten  der  Pariser,  dazu  aber  einen  Hauch  unver- 
wüstlich unwiderstehlicher  Jugend  und  Freudigkeit  hin- 
zuthun,  der  die  Franzosen  matt  und  entnervt  und  ab- 
genutzt daneben  erscheinen  lässt.  — 

I  änger  als  die  Skandinavier  spielen  neuerer  Zeit 
schon  die  Niederländer  eine  Rolle  in  der  Malerei. 
Und  auch  bei  ihnen  fast  überall  vernehmbare  Befrucht- 
unf,'  durch  Paris. 


Zunächst  bei  den  Belgiern.  Diese  stehen  den  Fran- 
zosen wie  als  Volk,  so  auch  in  der  Malerei  noch  näher 
als  die  Holländer.  Ihr  Geist  geht  oft  im  französischen 
auf,  oft  freilich  erstarkt  und  färbt  er  den.selben  doch 
ein  wenig  national  nach  dem  Flamändi.schen  hinüber. 
Dennoch  wird  man  in  wenigen  F'allen  den  modernen 
belgischen  Maler  vom  französischen  bestimmt  unter- 
.scheiden  können :  ein  Beweis .  wie  eng  auch  hier  die . 
Verwandtschaft  mit  Paris  ist. 

Anders  bei  den  Holländern.  Die  Israels,  Ataris, 
Afattve ,  Mesdag  haben  ihr  ganz  bestimmtes  Local- 
colorit.  welches  ihnen  festumrissen  das  Ansehen  einer 
ganz  einzigen ,  ganz  und  gar  holländischen  Maler- 
gruppc  giebt.  Deshalb  stehen  sie  Paris  aber  nicht  \-iel 
weniger  nahe.  Ihr  Geist  ist  freilich  Barbizon,  wo  die 
Fontainebleauer  schufen,  verwandter  als  Paris,  aber 
Barbizon  li^  doch  auch  noch  im  l^nnkreis  von  Paris. 

Im  Grunde  sind  die  neuen  vorzüglichen  holländi- 
schen Landschafts-  und  Innenraummaler  die  natürliche 
Fortsetzung  der  Fontainebleauer,  viel  mehr  als  die  neuen 
Franzosen.  Die  Pariser  Kunst  hatte  vielleicht  ihre  letzte 
gesunde  Epoche  in  MüUt  und  seinen  Paladinen,  theil- 
weise  noch  in  Bastien-Lepage.  Nach  diesen  nur  zuviel 
krankhafte  Experimentirkun.st  und  neben  Ueberfeincrung 
gefällig  gute  Modemalerci.  Als  gesund  aber  treten 
die  I  lolländer  in  die  Fussstapfen  der  jetzt  schon  älteren 
Franzosen,  und  —  o  Wunder!  —  jetzt  beginnen  auch 
sie  schon  alt  zu  werden  und  müssen  der  Sturmesfri.sche 
der  nordischen  Kunst  nur  zu  leicht  weichen. 

Aber  wir  dürfen  nicht  verkennen,  dass  die  intime, 
sckmucklose,  eraste  Naturanschauung  der  Holländer  in 
ihrer  vorzüglichen  malerischen  Au.sgestaltung  einen  so 
hohen  Rang  einnimmt  und  eine  solch  rein  gcnuss- 
bringende  Harmonie  zu  Tage  gefördert  hat,  dass  sie 
ohne  Rivalen  ist.  Erinnere  man  sich  doch  der  ge- 
schmackvoll feinen  holländischen  Säle  auf  mehreren 
letztverflossenen  Münchener  Ausstellungen !  Sie  fanden 
nicht  ihresgleichen. 

Die  skandinavische  Malerei  ist  anspruchsvoller  wie 
die  holländische,  und  sie  hat  entschieden  auch  stärkeren 
Rückhalt  und  mehr  Zukunft  —  steht  doch  allein  eine 
ganz  andere  Volksmacht  dahinter!  —  vergleicht  man 
aber,  was  bis  jetzt  positiv  gegeben  worden  ist  hier  und 
da,  dann  ergibt  sich  leicht,  dass  Holland  .schon  eine 
abgerundete,  in  sich  erquickend  geschlossene  Kunst- 
periode hinter  sich  hat  und  dass  im  Norden  noch  alles 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


31 


wilde  Gähning,  schäumender  Most  ist,  aus  dem  bis 
jetzt  nur  einzeln  eine  reife  und  männlich  fertige  Schön- 
heit er\vuchs. 

Während  England  zum  grossen  Theile  selbst- 
ständig in  seiner  zum  Theil  auf  Bedeutung  Anspruch 
machenden  Malerei  dasteht,  während  die  trunkenen 
Schotten,  wenn  sie  von  irgend  Jemandem  etwas  ge- 
lernt haben,  ein  gut  Theil  bei  den  Fontainebleauern  in 
die  Schule  gegangen  sein  müssen ,  ist  Amerika  — 
soweit  es  denn  überhaupt  die  Kunst  schon  mit  auf 
Rechnung  hat  —  wohl  ganz  im  Abhängigkeitsverhältniss 
von  Paris.  Es  sind  starke  amerikanische  Talente  auf 
dem  Continent,  selten  aber  bemerkt  man  einen  eigen- 
thümlich  amerikanischen  Zug.  Sie  sind  in  ihrer  Aus- 
bildung Europäer  geworden  und  haben  ihr  Landes-  und 
Heimatscolorit  verloren. 

Es  ist  bekannt,  dass  der  Pariser  prix  de  Rome » 
die  Kunstbeziehungen  F'rankreichs  zu  Italien  unter- 
hält, bekannt,  dass  manche  italienische  Talente  sich 
Paris  zuwenden ;  von  einem  lebhaften  Kunstconnex  kann 
hier  indess  wohl  kaum  die  Rede  sein.  Dann  noch  eher 
in  der  Verbindung  mit  Spanien,  welches  ja  neuerer 
Zeit  zuweilen  eine  ganz  seltsam  pompöse  Entfaltung  des 
Malerischen  zeigt,  die  jedenfalls  nichts  weniger  als  frei 
von  Pariser  Schulung  ist. 


Da  zu  leicht  bei  solch  allgemeinen  Erörterungen 
vorliegender  Natur  ein  mattes  und  farbloses  Bild  von  dem 
Zustande  der  neueren,  Frankreich  freundlichen,  Malerei  der 
verschiedenen  Völker  entsteht,  wenn  nicht  Darstellungen 
von  bestimmten  Gemälden  und  besonders  charakterist- 
ischen Künstlertypen  sie  begleiten,  möchte  ich  an  der 
Hand  der  reichhaltigen  Vertretung,  welche  die  fremden 
Nationen  verflossenen  Sommer  zu  Paris  fanden,  dem 
Leser  einen  kurzen  Abriss  des  interessantesten  Bruch- 
stücks beinahe  moderner  Malerei  in  Bildern  zu  geben 
versuchen.  Zumal  desshalb  nützlich,  ich  hoffe,  da  ich 
Namen  von  erster  Bedeutung  berühren  werde,  deren 
Klang  das  Ohr  der  Deutschen  nur  ganz  vereinzelt  ge- 
streift haben  wird. 

Skandinavien. 

Einer  besonders  war  es  unter  den  Norwegern,  den 
ich  doppelt  lieben  lernte,  wie  ich  seine  neuen  Bilder 
sah.    Ich  denke  an  Fritz   Thaulmv.    Das  ist  ein  freude- 


bringender Künstler  von  urwüchsiger  Schöpferkraft  und 
entzückender  Frische.  Er  liebt  es,  den  Schnee ,  den 
Schnee  seiner  weiten  Heimathfelder  zu  malen ,  und  er 
malt  ihn  so,  dass  man  ihn  lieb  gewinnt,  mehr  als  den 
schönsten  Sommer,  den  Mitteleuropäer  daneben  uns 
verführerisch  vor  Augen  zu  stellen  unternahmen. 

Ein    älteres    Schneebild    von     Tliauloiv    hängt    im 
Luxembourg  zu  Paris,  und   es    ist   sehr  gut.     Aber  bei 
weitem    hat    der    Meister    es    übertroffen    in    den   neuen 
Darstellungen.     Es  ist  enorm ,   wie    sein   Gefühl    für  die 
Töne  eines  Schneefeldes  gerade  geschärft  geworden  ist, 
immer  feiner  und  feiner,  ohne  da.ss  diess  je  als  störend 
übertrieben  zu  Tage  tritt.     Wenn    man   auf  diese   sonn- 
beschienene weisse  Decke    der  Bilder   sieht ,    kann  man 
zuweilen    ein    überraschtes  Staunen    nicht   unterdrücken 
über  die  Stärke  der  gegebenen  Illusion.    Mir  wenigstens 
ist  es  so  gegangen,  dass  ich  momentan  glaubte,  draussen 
an  einem  starren  Wintertag  wirklich    in    den  Schnee  zu 
blicken ;    zwar   ein    Gefühl ,    welches   wie   der  Blitz   vor- 
überhuscht, keineswegs  eine  panoramenhafte  Täuschung. 
Dabei  geht    dieser  Maler   so    überaus    einfach   mit    dem 
Material  um  —  er  kommt  ganz  ohne  Mahvitzchen  zum 
Ziel   — ,   .so   dass  er  von   Allen  eigentlich   am   meisten 
darüber  .steht.     Aus.ser   dem   vortrefflichen    Maler    wirkt 
aber  vor  Allem  der   empfindende  Mensch,   die   gross- 
schauende    Künstlernatur.       Tliauloiv    bleibt    stets    Nor- 
weger ganz  und  gar:    man    lebt   mit  ihm  zwi-schen   den 
hohen    Bergen ,    wo    einsam    nur    vereinzelte   Menschen 
wohnen;    —    man    fühlt    eine    Welt    voll    wahrhaftiger 
Schönheit    und    Poesie    auf   sich    eindringen    durch   die 
Allgewalt    der    malerisch    und    menschlich    schaffenden 
Persönlichkeit    des   ungezwungenen   Künstlers.     Was    er 
gibt ,    erfreut    mich    so ,    dass   ich  Sehnsucht  bekomme, 
dorthin  zu  wandern,  wo  die  Natur   so  weit  und  so  frei 
und    so    luftig    ist.    —    Am    poetischsten    vielleicht    — 
jedenfalls  am  romantischsten  —    ist   Thaiilczv   in   seinen 
neuen    Bildern    mit    einem    Pastell,    auf   dem    er    einen 
Bach  malte,  den  Steine  anfüllen  — :  Abends  in  waldiger 
Gegend,    mit    dünnen  Bäumchen    zur   Seite,    fliesst  das 
Wasser  hinunter,  an  der  dunkelnden  Wiese  vorüber.  . .  . 
Weniger   schlagend   in  der  unmittelbaren  Wirkung, 
theilweise    doch   auch   frisch  und    gesund,  wirkt   Albert 
Edclfelt,   von  dem  ich  eine  Sammelausstellung  sah.     Er 
ist  viel  mehr  berührt  und  nivellirt  von  der  französischen 
Ueberkultur  als   Tliauloiv,   er   ist    bei  Weitem    nicht   so 
sehr  seines  Heimathlandes  Kind  geblieben.     Einige  von 


32 


DIE  KUNST  UNS?:rER  ZEH'. 


seinen  Bildern  könnte  auch  ein  frischer  Franzose  gemalt 
haben,  während  bei  T/iaultnv  dieser  Gedanke  absolut 
in  W^all  kommt,  so  sehr  ist  er  Nordländer  und  so 
sehr  ist  er  schon  fem  und  frei  von  der  Pariser  Ge- 
schicklichkeit. Thaulow,  fühlt  man,  malt  nur,  was  ihm 
ganz  am  Herzen  liegt,  er  malt  nur  die  Natur  und  nur 
die  Stimmung,  die  für  ihn  als  Menschen  einen  Theil 
seiner  Lebensluft  ausmacht ;  erst  innerhalb  dieses  Kreises 
sucht  er  Sachen  von  auch  malerischem  Reize.  EdelfeU 
hingegen  hat  schon,  oder  noch  etwas  von  der  bei  den 
Franzosen  fast  ganz  allein  massgebenden  Triebfeder  des 
Malens,  von  der  einseitigen  Augenweide  am  speciell 
Malerischen.  Hs  fehlt  das  bestimmte,  das  packende 
Localcolorit.  Er  gab  Porträts,  Genrebilder  und  Land- 
schaften. Er  würde  die  Wirkung  seines  talentvollen 
Auftretens'  verstärkt  haben,  wenn  sein  Talent  einge- 
dämmt wäre  in  eine  leidenschaftliche,  tiefe  Neigung  für 
ganz  besondere  Darstellungen ;  man  vermisst  das  Ge- 
fühl, dass  er  aufgeht  in  dem,  was  er  schafft.  Es  gefällt 
mir  hingegen  an  Edel/eil,  dass  er  sich  so  anspruchslos 
und  einfach,  ohne  Nörgelei  giebt;  er  i.st  nicht  bestrebt, 
mit  jedem  Bilde  gleich  einen  Trumpf  auszuspielen  — 
er  hat  nicht  das  Bemühen .  zu  wirken  um  jeden  Preis, 
sondern  hat  er  einmal  einen  Eindruck  fixirt ,  dann  läs.st 
er  ihn  stehen,  wie  er  gekommen  ist,  ohne  ihn  ängstlich 
noch  steigern  zu  wollen ;  da  gibt  er  lieber  im  nächsten 
Bilde  ein  Mehr.  Stellenweise  bekommt  er  einen  Anflug 
von  Schlichtheit,  der  anderen,  französischen  Bildern 
gegenüber  an  eine  räumliche  Lehre  gemahnen  könnte, 
aber  das  quält  ihn  glücklicher  Weise  nicht. 

Tragardh,  ein  bis  neuerdings  unbekannter  schwedi- 
scher Name,  fiel  sehr  auf.  Zwei  Bilder  des  Bouguereau- 
Salon  trugen  seinen  Namen. 

Auf  dem  einen  ein  grauer  Herbsttag.  Nasses 
Wetter,  obgleich  es  augenblicklich  trocken  ist,  —  es 
hat  letzter  Tage  stark  geregnet.  Das  Grün,  welches 
die  rauhe  Jahreszeit  noch  nicht  völlig  zu  zerstören  ver- 
mochte, hat  noch  einmal  eine  frischere  Färbung  ange- 
nonimen  ,  weiche  jetzt  zu  dem  braunen  Laub  um  so 
stärker  in  Gegensatz  tritt  ...  Es  ist  eine  menschlichen 
Wohnungen  ferne  Gegend  .  .  .  Am  Saum  eines  kleinen 
Gehölzes  —  kommt  es  mir  doch  immer  vor,  als  müsste 
ich  genau  so  eines  kennen!  —  wo  aus  dem  Gestrüpp 
hie  und  da  kräftige  Bäume  emporragen,  geht  ein  Weg, 
von  kleinen  Pfützen  unterbrochen.  Auf  dem  Wege 
geht    nach    vorne    7x\    eine    schwarzbraune    Kuh ,       die 


letzte  der  Heerdo  ^  .  .  .  .  Ein  selten  fri.scher  Wind- 
hauch scheint  heut  über  die  Erde  zu  streichen. 

Dann  das  andere  Bild: 

Ein  ganz  lichter,  sonniger  Sommertag ;  am  Morgen. 
-Man  sieht  dem  Lichte  fast  entgegen.  Auf  einer  Wie.se, 
deren  Grün  die  Dürre  ein  wenig  verzehrt  hat,  stehen 
frische  Sträuchcr,  in  der  Feme  liegt  waldige  Gegend. 
Zwischen  dem  Gestrüpp,  den  Binsen  —  spiegelglatt  ein 
Teich.  Daneben  führt  ein  Mädchen  eine  grasende  Kuh 
am  Strick,  hinten  erscheinen  deren  mehr  .... 

Doch  es  nützt  nicht  viel,  dass  ich  dem  Leser  diese 
so  schlichten,  prunklosen  Vorwürfe  in  nackten  Worten 
erzähle;  von  dieser  so  ungemein  sensitiven  Wiedergabe 
einer  Licht-  und  Farbenerscheinung  kann  man  sich 
ohne  .Aaschauung  keinen  Begrirt'  machen.  Es  wird 
freilich  Mancher,  der  vor  der  Natur  nie  ein  Bild 
derselben  in  sich  aufgenommen  hat .  sondern  dessen 
Auge  deren  Reiz  blos  aus  Landschaftsbildem  ver- 
dolmetscht bekommen  hat,  der  dann  sein  Auge  in  eine 
Schablone  landläufiger  Landschaftsmalerei  hineingewöhnt 
hat,  die  Schönheit  und  Tiefe  dieser  eigenen  Aus- 
drucksweise nicht  nachempfinden  können,  eben  weil  sie 
zu  weit  entfemt  ist  von  der  Seh-Art,  an  die  er  sich  ge- 
wöhnt hat  und  die  ihn  für  ein  feineres  neues  Gefühl 
abgestumpft  hat.  —  Einen  Anklang  zeigt  Tragardh  an 
die  Anschauungsweise,  die  in  Frankreich  in  Claude  Mond 
ihren  radicalsten  Vertreter  gefunden  hat.  Ich  glaube 
kaum,  dass  er  ohne  Monit's  Einfluss  zu  dem  geworden 
wäre,  was  er  ist;  aber  eben  .so,  wie  er  jetzt,  gefällt  er 
mir  viel  besser  als  jener.  Was  bei  Mottet  noch  ab- 
sichtlich, gequält,  unnatürlich  und  berechnet  erscheint, 
kommt  hier  bei  Tragardh  viel  natürlicher  heraus:  es 
scheint  ihm  schon  etwas  ganz  Einfaches,  Selbstverständ- 
liches, in  dieser  lichten  farbfreudigen  Tonlage  einzusetzen. 
Hier  ist  ein  echter,  .selbstschöpferischer  Künstler,  der 
zwar  von  den  Franzosen  Vieles  gelernt  hat ,  aber  im 
eigenen  Hirn  Alles  verarbeitete  und  Dem  unterordnete, 
was  er  wollte  und  was  ihm  als  Angehöriger  .seiner 
Ra,s.se  und  seines  Geschlechts,  als  Pflanze  seiner  Heimath 
am  näch.sten  lag. 

Eines  vierten  nordischen  Künstlers  mächtige  Hünen- 
gestalt drängt  sich  mir  jetzt  wieder  auf:  die  des  Nor- 
wegers Niels  Gusta-,'  Wetitzel.  Ein  Maler,  der  —  man 
sieht  es  —  am  liebsten  gleich  mit  der  Keule  drein- 
schlägt.  Sein  Bild :  « Das  Mahl  >  steht  mir  lebhaft  in 
Erinnerung. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


33 


Eine  grosse  Leinwand  mit  lebensgrossen  halben 
Figuren.  In  einer  kleinen  Hütte  sitzt  die  Familie  um 
den  Mittagstisch.  Durch  Fenster  und  Thür  sieht  man 
auf  Blockhäuser,  auf  eine  norwegische  Hochlands- 
scenerie  hinaus  ....  Markige  Wesen  von  Fleisch  und 
Blut  sind  hier  dargestellt,  die  ein  Leben  voll  Mühe  und 
Arbeit  haben ,  die  im  Schweisse  ihres  Angesichts  ihr 
täglich  Brot  essen,  die  auch  nicht  einen  Schimmer  von 
der  Koketterie  und  Geckerei  des  modernen  Cultur- 
menschen  aufweisen.  Wie  sie,  so  ihre  Umgebung: 
Schlichte  Einfachheit  der  Einrichtung,  grobe  und 
feste  Tische,  Bänke  und  Schränke,  die  sicher  schon 
mehrere  Menschenalter  hindurch  unverrückt  am  gleichen 
Platz  der  Stube  stehen  und  unverändert  stehen  bleiben 
werden,  so  lange  nicht  sie  oder  das  Geschlecht,  welches 
auf  dieser  Scholle  wohnt,  vermodert  hinwegsinken. 
Eins  haftet  am  Andern.  Die  Umgebung  gewann  durch 
diese  Menschen  Leben,  es  steckt  ein  Tlieil  ihres  Wesens 
in  ihnen.  -  Die  Men.schen  des  IVentse/' sehen  Bildes 
scheinen  so  seltsam  mächtig,  so  gewaltig,  wie  ein  ver- 
gangenes Geschlecht  von  .stärkeren,  grösseren  Wesen. 
Wie  Spielzeug  erscheinen  daneben  andere  Bilder  und 
wie  Marionetten  deren  Figuren:  so  nichtig,  so  über- 
flüssig, so  ewig  tändelnd  mit  der  Welt  und  mit  ihrer 
eigenen  Seele.  Aber  hier  Gestalten,  die  mitten  im 
mächtigen  Kampf  mit  den  Elementen  stehen,  die  sich 
in  fortwährendem  Ringen  und  Wühlen  die  F>de  dienst- 
bar machen.  —  Der  Vortrag  des  Malers  enthält  wuchtige 
Schwere  und  einen  tiefen  Ernst  der  Ueberzeugung,  der 
zum  Theil  an  Tolstoi  erinnert.  Ein  Bild  von  Wentzel 
auf  der  letzten  Münchener  Ausstellung  hatte  bei  Weitem 
nicht  diese  Stärke :  ob  es  eine  alte  Arbeit  oder  ein  miss- 
lungener  Versuch  war,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 
Wentsel  i.st  so  gut  wie  gar  nicht  Franzose;  er  ist 
vielmehr  schon  ein  nordischer  Protest  gegen  den  Geist 
des  Franzosenthums ,  deren ,  wenn  nicht  Alles  täuscht, 
die  nächste  Zukunft  bald  mehr  bringen  wird. 

Sehr  frisch  und  gesund  ist  der  Norweger  Christian 
Skredsvig,  wie  fast  immer,  so  auch  in  einem  neueren, 
langen,  interessanten  Bilde  sAus  Italien».  Vor  einer  ab- 
wechselnden südländischen,  durch  die  « Villa  Baciocchi » 
pointirten  Scenerie  grasen  zwei  Kühe,  an  einem  Winter- 
tag. Etwas  barock  als  Vor^vurf  wirkt  es  meinem  Auge ; 
es  ist  theilweise  zu  geschickt  gemalt,  um  unbefangen 
nachempfunden  zu  werden,  aber  es  hat  eine  grosse  Güte 
als  Stärke  sowohl  wie  als  Intimität  des  Tons. 


Ein  norwegischer  Sommertag,  in  vollem,  warmem 
Lichte,  in  erfreuender  Unvüchsigkeit  gegeben ,  ist  von 
Y.  Sörensen  zu  sehen.  Eine  Idee  von  Schülerhaftem, 
Unreifem  scheint  noch  darin  zu  stecken ,  aber  sicher 
ist  hier  gesundeste  Begabung.  Man  sieht,  dies  Bild 
in  seiner  vollen  Farbenwirkung  ist  mit  Lust  und 
Liebe  gemalt;  obgleich  es  als  Ton  in  einer  ungestört 
breiten  Erscheinung  zu  Tage  tritt,  sind  doch  einige  be- 
zeichnende Einzelheiten ,  ohne  auch  nur  im  geringsten 
spitz  zu  wirken,  zeichnerisch  sehr  bevorzugt ;  so  Fenster, 
aus  denen  der  Sonnenreflex  strahlt,  so  die  Treppe  des 
Hauses.  F^  wirkt  mir  so,  als  wenn  der  Maler  sagen 
wollte:  Seht,  hier  bin  ich  zu  Hause. 

Die  Norweger,  von  denen  Männer  wie  Werenskjold, 
Christian  Krogh,  Eilif  Petersen  im  vorigen  Salon  leider 
nicht  vertreten  waren,  sind  im  Allgemeinen  die  kräftigsten 
Künstlernaturen  des  Nordens.  Aber  auch  die  Schweden 
stehen  durchaus  nicht  ganz  abseits. 

Allan  Oesterlind  ist  ein  prächtiger  schwedischer 
Figurenmaler.  Auf  einem  Bilde  von  ihm,  welches  fröh- 
lich ungezwungenen  Humor  athmet,  treiben  Mädchen  — 
Oesterlind  malt  mit  Vorliebe,  dabei  vorzüglich,  Kinder  — 
ein  beliebtes  Spiel  mit  dem  Schatten  einer  Kerze.  Es 
ist  reizend,  wie  hier  die  weissbehaubten  Kinder  alle 
ganz  bei  der  Sache  sind ;  der  Beschauer  des  Bildes  be- 
lauscht sie  ungesehen ,  nicht  eines  kokettirt  aus  seiner 
Umgebung  heraus.  Die  Scenerie  ist  so  anheimelnd, 
weil  das  Hauptinteresse  ganz  und  gar  auf  dem  rein 
Menschlichen  ruht.  Nebenbei  freut  man  sich  allerdings 
noch  des  geniüthlichen  Raumes  der  Bauemhütte,  der 
eigenthümlich  alten,  blauen  Stühle,  der  alterthümlichen 
Treppe,  des  Schrankes  und  der  hübschen,  hausmütter- 
lichen Anzüge  der  Kinder.  Aber  zuerst  sieht  man  blos 
deren  Spiel  und  deren  Mienen.  —  Feierlich  traurig  ist 
ein  anderes  Gemälde  von  Oesterlind:  Im  dunklen, 
schlichten  Gemach  brennt  schwachleuchtend  eine  Kerze ; 
drei  Mädchen  —  die  eine  auf  der  Erde,  halb  hinge- 
worfen —  beten  neben  einem  Todtenbett. 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  in  der  Bauern- 
malerei eines  Oesterlind  bis  zu  Knaus  und  Vautier,  unseren 
Altbekannten  zurück  ein  Fortschritt'  ruht.  Jener  ist 
reiner  und  ungekünstelter  als  diese,  ohne  geringsten  An- 
flug von  Caricatur;  er  gibt  keine  gesuchten  Charakter- 
figuren, sondern  volle,  lebendige  Menschen. 

Larsson  und  der  vorzügliche  Aquarellist  August 
Franzen  sind  Schweden  von  grosser  Begabung,    ebenso 

5 


34 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


der  freilich  sehr  zum  Franzosen  gewordene,  selten  flotte 
Anders  Zorn,  ein  eigenthümlicher  Gegensatz  zu  Sfknlts- 
berg,  der  im  Sommer  1888  in  Kopenhagen  ein  in  seiner 
Art  einzig  frappantes  Schneebild  ausgestellt  hatte. 

Ein  erfreuliches  Zeichen  ist  es,  dass  die  vorjährige 
MUnchener  Ausstellung  stärker  von  Dänen  beschickt 
ward,  als  der  Pariser  Salon,  von  wo  mir  hauptsächlich 
nur  ein  Paar  schlichte  Bilder  von  Willumsen  in  Erinne- 
rung stehen.  Viggo  Johannstn  und  Kroyrr,  die  beiden 
vorzüglichen  Begabungen,  waren  nicht  vertreten.  —  Der 
grösste  Kunstmacen  unserer  Tage,  der  Bierbrauer 
Jacobsen  zu  Kopenhagen,  hat  die  dänisch- französischen 
Kunstbeziehungen  ausserordentlich  genährt. 

Deutschland. 

Wenn  ich  dn  massiges  Bild  von  Meyerhtim  ab- 
rechne und  eine  unbedeutende  Landschaftsstudic  von 
Skarbina,  dann  bleiben  eigentlich  nur  vier  deutsche 
Künstler,  die  zu  Paris  in's  Auge  fielen:  Uhdt ,  Paul 
Höcker,  Liebermamm  und  KühJ.  Aber  alle  Vier  sehr 
bezeichnend  für  das  Verhältniss  eines  grossen  Theiles 
der  deutschen  Maler  zu  Paris. 

Da  jedoch  sowohl  Ukde's  Joseph  und  Maria- Bild, 
als  auch  Höcker' s  c  Die  Nonne*  und  Gottkard  Ktukl't 
c  Ave  Maria  >  von  Paris  nach  München  zur  Ausstellung 
wanderten ,  bin  ich  der  Mühe  überhoben ,  die  Bilder 
nochmals  an  dieser  Stelle  zu  berühren.  Nur  möchte 
ich  en*'ähncn,  d.-iss  die  genannten  drei  Bilder  an  den 
Wänden  des  Meissonier-Salons  die  Deutschen  achtung- 
erweckend vertraten  und  ihre  französische  Nachbarschaft 
nicht  selten  zu  Boden  drückten.  Dass  man  es  hier  in 
diesen  Bildern  gerade  mit  sehr  au.sgeprägt  deutschen 
Kuastproducten  zu  thun  gehabt  hätte,  dürfte  man  freilich 
nicht  behaupten  ;  es  waren  aber  Meisterwerke  jenes  Theiles 
der  deutschen  Malerei,  die  mit  der  französischen  Hand  in 
Hand  geht  und  von  ihr  zum  grössten  Theile  gesäugt  ist. 

Max  Liebermann  wies  zwei  neue  Bilder  auf,  mit 
seiner  bekannten,  angefeindeten,  kräftigen,  wuchtigen 
und  rücksichtslosen  Handschrift.  Der  Vorwurf  ist  bei 
ihm  scheinbar  stets  zufällig;  ihm  scheint  die  forsche, 
lebendige  .Ausdrucksweise  das  wesentliche  Moment  des 
ganzen  Schaffens  zu  .sein.  Auf  einem  grossen  Bilde 
hat  er  eine  Frau  gemalt,  die  in  den  Dünen  am  Strick 
eine  Ziege  her  zu  sich ,  mit  sich  zerren  will ,  während 
willig  daneben  ein  Zicklein  geht  ....  Das  wirkt  wie 
ein   echter  Liebermann   sehr   ausgeprägt,    zum    grössten 


Theil  aber  durch  den  Manierismus  von  LitbennanH, 
ohne  dass  er  diesmal  seiner,  in  ihrer  Haupterscheinung 
bekannten  Individualität  neue  Züge  hätte  hinzuzufügen 
vermocht.  Dabei  ist  das  Bild  ziemlich  farblos,  besonders 
in  den  Tiefen ;  sein  grosser  Aufwand  von  Mitteln ,  .sein 
starker  wüster  Farbenauftrag  hat  hier  nicht  zu  jener 
vollen  Wirkung  geführt,  die  man  zuweilen  auf  anderen 
seiner  Bilder  finden  konnte.  Er  zeigt  hier  ein  gewaltiges 
couragirtes  Streben,  ohne  indess  zu  bannen.  Vielleicht 
kommt  es  daher,  dass  dieser  sein  Vorwurf  zu  nichts- 
sagend ist,  um  die  rücksichtslose  Breite  zu  vertragen. 
Es  ist  kein  Gleichgewicht  zwischen  Thema  und  Aus- 
führung. Dazu  fehlt  jede  Betonung  von  Einzelheiten, 
die  Interesse  wecken  könnten ,  jede  Spur  von  Intimität 
—  dies  würde  unauffällig  sein,  wenn  der  Hauptvor 
u-urf  ein  schlagender  wäre.  —  Viel  befriedigender  i.st 
ein  kleineres  Bild  von  Litbermann-.  Hof-  und  Garten- 
raum zur  Seite  eines  holländischen  Hauses.  Auf  grün- 
lich gestrichener  Bank  an  der  Mauer  sitzen  alte  Frauen 
in  weis.sen  Hauben  und  Schürzen.  Gegenüber  im  Garten 
schimmern  Blumen  zwischen  mannigfaltigem  Grün  hervor. 
Hinten   leuchten   sonnbeschienen   rothe   Dächer;    weis.se 

Wolken  in  blauer  Luft  ziehen    darüber Dieser 

Eindruck  hat  hier  vollkommenen  Reiz  erhalten:  man 
kann  das  Auge  überall  auf  der  Leinwand  herumsuchen 
lassen  und  überall  findet  es  interessante  Abwechslung, 
ohne  dass  darüber  der  Totaleindruck  gestört  wird. 

Nie  freilich  kann  ich  bei  Liebermann  das  Gefühl 
von  einem  mühsam,  vorsichtig,  misstrauisch  arbeitenden 
Künstler  verwinden.  Man  fühlt  krankhaftes  Ringen 
und  Wühlen,  man  spürt  den  Sturmvogel  einer  gährenden 
Uebergangszeit ,  man  dankt  ihm  für  die  Anregung, 
da  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt ,  dass  er  vollen 
Genuss  .schwerlich  zu  geben  vermag.  Die  begabten 
Norweger  sind  vor  Liebermann  so  unendlich  viel  glück- 
licher daran ,  weil  sie  in  freierer ,  dunstloserer  Luft  ge- 
boren und  hochgewachsen  sind  und  ihr  Blut  nicht  erst 
gegen  die  herr.schende  Kunstmode  Mitteleuropas  kämpfend 
zu  verspritzen  brauchten:  sie  traten  als  freie  Menschen 
offenen  Auges  den  Strömungen  der  Culturstaaten  gegen- 
über und  gelangten  leicht  und  bald  in  ein  Fahrwasser, 
welches  ihrem  Naturell  ganz  entsprach. 

Die   Niederlande. 

Bestechend  wirkt  ein  Bild  des  bekannten  Belgiers 
Franz  Courtens:    Herbstmorgen.     Wie   die    Sonnne    die 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


35 


herbstlich  gelben  Blätter  der  alten  knorrigen  Bäume  im 
Walde  durchscheint,  wie  sie  über  das  branstig  rothe 
Erdreich  hinüberspielt  und  ihr  Glanz  im  Spiegel  des 
Wassers  vorne  sich  wiederholt,  ist  mit  mächtiger  Verve 
vorgetragen.  Und  doch  kann  das  Bild  mir  keinen  sehr 
befriedigenden  Eindruck  gewähren.  Man  fühlt  zu  sehr 
die  rein  äusserliche,  rein  malerisch-decorative  Absicht 
des  Künstlers,  der  jedes  warme  menschliche  Gefühl 
hintenanstellt,  blos  um  unter  allen  Umständen  den  Ton- 
und  Lichteffect  richtig  zu  übersetzen.  Und  dies  ist 
gut  gelungen,  aber  es  fehlt  sowohl  hier  an  Innerlichkeit, 
wie  bei  seinen  meisten  anderen  Bildern.  Courtens  gibt 
sich  zu  geschickt,  um  rein  zu  wirken;  man  versteht 
seine  Stimmungen  stets,  aber  man  fühlt  sie  nicht. 
Courtens  steht  dem  Pariser  Geiste  sehr,  man  möchte 
sagen:    zu  nahe. 

Wylsman  ist  ein  eigenartiger  begabter  Belgier;  um 
seine  pikant  moderne  Landschaftsmalerei  näher  zu  be- 
leuchten, ist  in  diesen  Betrachtungen  indess  nicht  der 
Raum. 

Stärker  und  gesunder,  strotzend  von  Frische,  er- 
scheint Verstra'ele.  Herzliche  Freude  an  Sonnenschein 
und  hell  leuchtenden  Farben  durchhaucht  seine  Bilder. 
Er  ist  der  den  Skandinaviern  Verwandteste  von  den 
Belgiern ,  so  dass  man  ihn ,  über  seine  Herkunft  nicht 
unterrichtet,  sehr  leicht  für  einen  Nordländer  halten 
möchte.  Wiesen  mit  blühenden  Apfelbäumen  und 
munteren  Mädchen  liebt  dieser  Maler.  Meistens  lässt 
er  wenig  Luft  sehen,  und  dies  Wenige  ist  dann  noch 
von  Blättern,  Blüthen  und  Zweigen  lustig  und  flockig 
unterbrochen. 

Israels  und  Artz  sind  zu  viel  genannt,  als  dass  be- 
sonders auf  neue,  ihren  alten  sehr  verwandte  Bilder 
einzugehen  nöthig  wäre,  ebeaso  Mesdag,  dessen  Marinen 
stets  von  einem  trotzig  persönlichen  Temperament  durch- 
woben und  mit  markigem  Pinsel  fest  und  sicher  hin- 
geworfen sind.  —  Stevens,  der  pikante  belgische  Salon- 
maler, ist  bekannt  genug. 

Spanien,  Italien. 

Ein  Spanier  that  sich  hervor  neuerdings:  Ulpiano 
Checa  (sein  römisches  Wagenrennen  war  sehr  gut  ge- 
geben ,  ohne  charakteristisch  spanisch  zu  wirken)  und 
ein  eigenartig  veranlagter  Italiener :  Boldini. 

Das  ist  doch  ein  ganz  seltsamer  Portraitmaler.  Er 
gibt    meistens   gleich  ganze  Figuren,    lebensgross,    und 


mit  ausgeprägt  momentanen  Bewegungen.  Ziemlich 
grau  gemalt  sind  die  Bilder,  mit  einem  Hintergrund  ver- 
sehen ,  dessen  Körperhaftigkeit  man  nie  untersuchen 
darf,  mit  einem  Fussboden  zumal ,  bei  dem  nicht  im 
Geringsten  versucht  worden  ist,  ihn  perspectivisch  ver- 
laufen zu  lassen  —  und  trotz  alledem  fesseln  die  Bild- 
nisse ;  die  Menschen  tragen  alle  einen  frappant  lebendigen 
Ausdruck,  obgleich  sie  beinahe  sämmtlich  aussehen, 
als  wollten  und  müssten  sie  umfallen,  wozu  dann  wohl 
der  fragwürdige  Untergrund  ihrer  Persönlichkeit  sehr 
viel  beiträgt. 

Himmelweit  ist  Boldini  entfernt  von  der  Malerei 
seiner  Landsleute,  wie  sie  Vinea  z.  B.  so  charakteristisch 
vertritt,  und  es  ist  kein  Wunder,  dass  blos  er,  der  den 
Franzosen  so  verwandt  ist,  im  Salon  ausgestellt  hat. 

Amerika. 

Es  ist  da  besonders  ein  Amerikaner,  der  sich  in 
jüngster  Zeit  auf  unserm  Continent  hervorthut :  Alexander 
Harrison.  Ein  ungemein  bewegliches ,  mannigfaltiges, 
erfindungsfrisches  Talent.  Es  erzählt  sehr  lebhaft  von 
interessanten  Plätzen  und  Beleuchtungen  der  Natur  in 
einer  ein  wenig  gefälligen,  aber  stark  individuellen  Mal- 
weise. Etwas  ist  er  Feuilletonist  der  Malerei,  wie 
sich  aus  einer  Sammelausstellung  zu  Paris  deutlich  er- 
kennen liess. 

Walter  Mac  Ewen  ist  ein  guter  Figurenmaler,  der 
an  unsern  Walter  Firle  erinnert;  er  ist  aber  mehr 
pariserisch  als  münchnerisch  in  seiner  frischen  Dar- 
stellungsweise, 

Was  die  Schotten  in  Paris  boten,  war  wenig  im 
Verhältniss  zu  dem,  was  sie  in  München  gaben,  sehr 
wenig  sogar.  Immerhin  hatte  Guthrie  ein  Paar  flotte 
Pa.stelle  gesandt,  Paterson  eine  Landschaft  —  kahle, 
schottische  Scenerie  mit  schwerem  Himmel ;  fast  ge- 
spensterhaft grausig  eine  seltsam  geformte  und  bewegte 
Luft,  dunkelgelbe  Erde  mit  düsterem  Fluss,  durch  ein 
Paar  gelbe  Sonnenlichter  magisch  erhellt :  man  fühlt, 
es  steigt  ein  ganz  ekelhaft  unangenehmes  Wetter  herauf 
—  und  Kennedy  ein  lustiges  Frühlings-Blüthenbild.  Die 
vorzügliche,  ungenirte  Behandlung  des  Technisch- 
Malerischen  haben  die  Schotten  zum  gros.sen  Theil  den 
Franzo.sen  zu  danken,  der  sprühende  Inhalt  ihrer  Bilder 
und  ihr  herrliches  Temperament,  welches  in  jedem 
Pinselstrich  zuckt ,    ist    ihr    ureigene,s,  angeborenes  Gut. 


fi* 


36 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wohl  mag  uns  Paris  Neid  envecken  in  dem  Ruhmes- 
schein der  grössten  Kunststadt  unserer  Zeit,  wohl  mögen 
mit  Recht  viele  Deutsche  schelten  auf  das  allzu  bereit- 
willige Hinneigen  unserer  Künstlerschaft  nach  der  Seine- 
stadt: es  ist  unmöglich  zu  verkennen,  dass  Paris  auch 
für  uns  oft  Leben  gebracht  hat,  wo  Erstarrung  war, 
oft  Bewegung ,  wo  Versumpfung  drohte.  Und  dass 
Paris  erschlaffte  und  noch  nicht  er^vachte  Lebensgeister 
aufgerüttelt  hat,  das  ist  ein  wirkliches  Verdienst.  Selbst- 
verständlich,  dass  der  Angeregte  sehen  und  wissen 
muss,  auf  eigenen  Füssen  zu  stehen,  ebenso  das  ganze 
Volk,  und  da  durften  sich  allerdings  Manche  besinnen, 


ob  sie  in  übergrosser  Anerkennung  des  Fremden  nicht 
ihr  Bestes  daran  gegeben  haben. 

Wie  stark  München  im  Kern  schon  von  Pariser 
Kunstluft  durchzogen  ist,  kann  vielleicht  nur  ein  Nord- 
deutscher erkennen,  und  es  ist  eine  Frage,  ob  auf  diesem 
Wege  ein  Weitergehen  nicht  verderblich  werden  könne, 
zumal  da  verschiedene  Symptome,  die  ich  hier  nicht  weiter 
darlegen  kann,  in  der  französischen  Kunst  einen  immer 
grösser  werdenden  Grad  von  Ner\'osität,  eine  immer  starker 
hervortretende  Ueberreiztheit  und  Krankhaftigkeit  zeigen. 

Doch  was  nützt  die  aufjjestellte  Vermuthung?  Qui 


vivra,  verra: 


H.   E.  WH  Btrlefteh.     Winterliche»  Waldinterieur. 


■^-^^t^^- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


37 


ALLERLEI 


VON 


H.  E.  VON   BERLEPSCH. 


Motto:     Wu  mit  vieler  Phanluie 

Und  mit  videm  Streit  und  Muh 
Trotxdein  fuhrt  zu  einem  Ziel, 
Dal  verdient  ein  Mitgefühl ' 
Alle,  die  lich  täglich  plagen, 
r>a»s  sich  die  Paletten  biegen, 
Tnd  d.-inn  über  Kaler**>  klagen, 
Den  «ie  ohne  Autnahm'  kriegen  — 
Die  mittamroen  emitlich  streiten 
lieber  diese,  jene  Dinge 
Künstlerischer  Schwierigkeiten 
(Denn  es  einigt  sich  ja  nie 
Das  Talent  mit  dem  Genie 
1*nd  der  Streit  um'*  bessere  Recht, 
Was  <la  gut  ist  und  was  schlecht) 
Denn  im  Ziel  und  in  der  Richtung 
Giebc  es  niemals  eine  Schlichtung 
etc.  etc. 
(Kiui^uituHt  „An/ättn  Mttrtt[rnHd".) 


lOr  an  möchte  beim  Lesen  obiger  Verse  beinahe   an 


Moritz  Busch  denken.  Sie  sind  nicht  von  ihm. 
Er  sitzt  meines  Wissens  in  der  Nähe  von  Lüneburg. 
Lüneburg  ist  zwar  nicht  so  sehr  weit  von  der  See  entfernt, 
indes.scn  bespülen  die  Wogen  schon  längst  nimmer  jenen 

*)  Die  sämmtlichen  Original  -  Illustrationen  zu  diesem  Abschnitte, 
sowie  die  reizende  Einladungskarte,  rühren  von  dem  Akademiker  Herrn 
P.  Hey  in  München  her. 

•*)  Natürlich  nur  über  den  sog.  •moralischen  •. 


Grund.  Nein  —  der  obige  Zeilen  schrieb,  ist  ein  Be- 
wohner des  Meeresgrundes.  — 

Des  Meeresgrundes? 

Ja,  ja,  ohne  allen  Spass!  Das  ist  eine  höchst  sonder- 
bare Geschichte,  und  ich  kann  nicht  umhin,  sie  zu 
erzählen,  umsomehr,  als  sie  ganz  und  gar  aus  dem 
Rahmen  jener  Kunst  heraustrat,  die  gegenwärtig  Ober- 
wasser hat  und  bei  der,  wie  es  scheint,  Phantasie  und 
Humor  zum  Tode  verurtheilt  sind,  weil  man  es  immer 
und  immer  nur  mit  der  Wahrheit  zu  thun  hat,  was 
indessen  nicht  hindert,  dass  dabei  gelegentlich  auch 
die  grössten  Unwahrheiten,  in  der  bildenden  Kunst 
wenigstens,  mit  unterlaufen.  In  der  dramatischen  sei 
es  vielfach  ebenso,  behaupten  —  nicht  Dramatiker, 
sondern  Psychiater  und  verwandte  Gelehrte.  Mag  sein. 
Ich  wei.ss  es  nicht. 

«Ein  Rendez-vous  auf  dem  Meeresgrunde»!  Nixen, 
Najaden,  die  complete  Halb-  und  Ganigötterwelt  der  Tiefe, 
Drachen,  Ungeheuer  aller  Art,  abenteuerlich  aussehende 
Fischfiguren  mit  gleis.sendem  Schuppenpanzer,  Erschein- 
ungen, die  dem  ganzen  farbfreudelosen  Wesen  unserer 
Tage,  der  pessimistischen  Tonart,  auf  die  das  Leben 
mit  all  seinen  Umständen  oft  gestimmt  erscheinen  möchte, 
in  toller  Laune  den  Laufpass  zu  geben  bestimmt  er- 
schienen, dazu  eine  Decoration,  wie  sie  die  Phantasie 
eines  Jules  Verne  nicht  zu  überbieten  vermag!  Wäre 
er  mit  hineingezogen  worden  in  den  rauschenden  Strudel 
festlichen  Jauchzens,  das  diesem  Rendez-vous  auf  dem 
Meeresgrunde  voll  und  ganz  den  Stempel  der  Freude 
gab,  der  Freude  an  Dingen  der  Einbildungskraft,  die 
fernab  vom  Wege  des  modernen  Heils  liegt!  Er  wäre 
vielleicht  betroffen,  verwirrt  gewesen  und  hätte  schliess- 
lich zugestehen  müssen:  Die  verstehen  es  noch  besser 
als  ich ! 

Das  Ganze,  von  dem  ich  spreche,  war  ein  Fest, 
gegeben  von  den  Studirenden  der  Academie  der  bilden- 
den Kün-ste  zu  München  am  5.  Februar  d.  J.  Das 
Hauptcharakteristicum  lag  vielleicht  darin,  dass  nirgends 
ein  academischer  Zug  in  der  Sache  zu  bemerken  war, 
dass    vielmehr    hier    dem    freien    Schaffenstriebe    voll 


38 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


die  Zügel 
gelassen 
worden 
waren. 
Herrgott, 
war  da 
eine    Masse 
von    Talent ,     von 
künstlerischer   An- 
schauung,   von 
sprudelndem  Witze 
entwickelt !      Wer 
möchte  in  solchen 
Stunden   an  die 
Magerkeit  und  ma- 
terielle   Dürftigkeit    unserer 
Kunstzustände  in  der  Kunst- 
metropole  denken,   wo  eine 
solche  Menge   von    Können, 
von  Jugend,    von  Schönheit 
in  zwangloser  Weise  wie  ein 
breiter,  farbiger  Strom  dahin 


gesteckt  haben  mögen)  den  Ton  auf  unseren  Künstlerfesten  angaben !   Es  schlichen 
auch  diesmal  unter  den  Tausenden  von  Masken  noch  ein  Paar  solch  ärmliche 
L^othische    Häringe    herum,     aber   sie    verschwanden    in    ihren    st>'lvollen 
Costümen    gänzlich    unter  all    den   andern   Figuren,    die    den   wahren, 
echten    fröhlichen   Gimeval   illustrirten  und  jeglich  erborgter   Gran- 
Jezza    entbehrten.     Hin   und   wieder  giebt   sich   noch    einer    die 
Mühe,  dieser  aussterbenden  Geseilschaft  ein  Moschuspülverchen 
zu  reichen  —  aber  es  nUtzt  nichts,   sie  ist  rettungslos  ver- 
abschiedet,  hoffentlich  auf  immer,   und  wir   freuen  uns 
viel     lieber    an    den    alten    Originalen     als    an    aufge- 
wärmten Copien. 

Doch  zurück  zum  Meeresgrund!  Auf  solch  eine 
Idee  zu  verfallen,  bedingt  an  und  für  sich  schon,  dass 
man  nicht  blos  mit  dem  Photographenkasten  arbeite, 
sondern  dass  man  die  in  unseren  Tagen  verpönte  Eigen- 
schaft besitze,  sich  etwas  einfallen  zu  lassen.  Die  Moti- 
virung  ist  kurz  und  einfach  in  der  Kneipzeitung  ge- 
geben :  Ein  Mal-Profe.ssor  sitzt  am  Meer  und  hat  das 
Pech,  dass  ihm  die  beste  Studie,  die  er  je  gemalt  hat, 
in  die  Fluthen  fällt  und  sinkt.  Grosser  Jammer !  Endlich 
findet  sich  k  la  Taucher  von  Schiller  ein  junger  Mann, 
der,   um  des  Professors  Gunst  und   dessen  Tochter   zu 


wogte !    Das  alles  schreiben ,    ist  ein  Ding  der  Unmög-     erwerben,  den  Sprung  zur  Tiefe  wagt.    Er  kehrt  glück- 


lichkeit, die  Sprache  ist  zu  sehr  gebunden  an  den 
Ausdruck  und  der  nicht  vielfältig  genug,  um  Alles  zu 
sagen,  was  Auge  und  Ohr  da  gleichzeitig  wie  ein  toller 
Traum  umschwebte  —  das  mUsste  etwa  ein  Musikstück 
geben  können,  ähnlich  der  Danse  macabre  von  Saint- 
Saens,  aber  ohne  klapperndes  Todtengebein  und  mitter- 
nächtige Stimmung,  sondern  Alles  aufgelöst  in  ein 
tausendfältig  verschiedenes,  gleichzeitig  ertönendes,  brau- 
sendes Allcgro,  —  ach  Allegro  ist  viel  zu  wenig  gesagt, 
man  müsste  es  beinahe  ein  Allegro  arrabbiato  nennen, 
in  welchem  bald  da,  bald  dort  Blitze  in  allen  Farben 
aufleuchten  und  der  Donner  gebildet  wird  vom  Fest- 
lärm einiger  Tausend  Menschen.  Festlärm  ist  ein  ganz 
eigener  Ton ,  er  klingt  anders  als  wenn  z.  B.  der  Re- 
gisseur der  Meininger  c  Bewegung  im  Volk  >  anordnete 
oder  bei  antisemitischen  und  socialistischen  Parteitagen 
das  €  Ordnungsprogramm  »  zur  Abstimmung  gebracht  wird. 

Aber  welche  Wandlung  im  Charakter  der  künst- 
lerischen Feste! 

Wenig  Zeit  ist  es  her,  dass  Ritter  und  Exlelfräulein, 
sentimentale  Singknaben  mit  flachsgelber  Perrücke  und 
züchtig-ehrbare  mittelalterliche  Philistergestalten  beiderlei 
Geschlechts    (unter    deren    Hülle   gar   oft    die    richtigen 


lieh  mit  der  Studie,  die  er  eben  einem  unterirdi.schcn 
Kunst-Haifisch  entris.sen,  wieder,  und  als  er  nun  von 
den  Ungeheuern  und  Schrecknis-sen  der  Tiefe  erzählen 
soll,  da  erklärt  er,  es  sei  da  drunten  ein  Fest,  wie  er 
es  noch  nie  erlebt,  die  Künstler  am  Meeresgrund 
hätten  Dinge  geliefert,  wie  er  sie  noch  nie  gesehen 
und  er  habe  von  ihnen  eine  Einladung  an  die  oben 
Wandelnden    erhalten.     Wer  widerstände  einer  solchen, 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT. 


39 


selbst  wenn   er  Professor!    Er  mitsammt  seiner  Tochter 
und  den  Kunstjüngem  stürzt  sich  hinab  —  — 

Da  ergreift  der  Alte  des  JUngUogs  Hand 
Und  legt  sie  in  die  seiner  Trudel  (Gertrud) ; 
Drauf  laufen  sie  hin  zur  Felsenwand 
Und  springen  hinein  in  den  Strudel. 

Die  Wellen,  sie  rauschen  auf  und  nieder. 
Ganz  nüchtern  kam  kein  Einziger  wieder ! 

Soll  ich  ein  Wort 
sagen  über  die  Fest-Deco- 
ration? Es  war  eben  der 
Meeresgrund  mit  all  seinen 
Wundem ,  eine  seltsame 
Welt  mit  seltsamen  For- 
men, Pflanzen  von  colos- 
salem  Wüchse,  verästelte 
Riesenkorallen  und  Pilze, 
zwischen  deren  Stengeln 
und  Stämmen  Fische  mit 
goldglänzenden  Flossen, 
mit  tausenderlei  Höckern, 
Buckeln  und  Stacheln  in 
allen  Farben  und  Formen 

umherschwammen ,  mit 
grossen,  hellstrahlenden 
grünen,  rothen,  blitzblauen 
Augen  niederschauend  auf 
das  Getümmel  der  Masken. 
Da  lag  in  einer  Ecke  wie 
ein  verendetes  Ungethüm, 
überwuchert  von  Seetang 
und  Algen,  ein  Riesen- 
Torpedo  ,  dessen  tod- 
bringender Inhalt  natürlich 
vom  Salzwasser  längst  aus- 
gespült war.  Die  Beman- 
nung ,  die  mit  dem  Boote  vor  Zeiten 
hinabgesunken  in  die  kühlen  Tiefen, 
hatte  dafür  in  dem  weiten  Bauche  des 
spitzköpfigen  Geschosses  eine  Kneipe 
etablirt.  Wo  gab'  es  Seeleute  ohne  Trinkstofif,  selbst 
wenn  sie  hinabgesegelt  sind  zu  Molch  und  Unkel 
Mitten  zwischen  felsigen  Riffen  aber  ragte  ein  stolzer 
Dreimaster,  aus  dessen  Luken  noch  immer  dräuend 
die  Geschützöffnungen  blickten.  Hoch  auf  ragte  die 
starkbewehrte  Schanze  an  des  Schiffes  Backbord ,  um 
dessen    Takelage    sich    Guirlanden    unterseeischer    Ge- 


wächse wanden.  Dort  hausten  Meerweiber  in  buntem 
Gemisch  mit  der  Besatzung,  die  sammt  dem  Fahrzeuge 
sank ,  Meerweiber  mit  Wasserrosenkränzen ,  Menschen- 
leibern und  Fisch-Beinen,  denn  sie  hatten  deren  alle 
zwei  aufzuweisen,  verstanden  sie  aber  zu  schlenkern  und 
zu  krümmen  in  abenteuerlichster  Weise  und  waren,  wie 
sich  das  für  die  verlockenden  Gestalten  von  selbst  versteht, 

auch  musikalische  Genüsse 
zu  bieten  im  Stande :  Eine 
Nixe  arbeitete  mit  mäch- 
tigem Trumscheit ,  ein 
Nixerich  war  mit  Pauken- 
schlegeln bewaffnet,  die 
wirbelnd  und  dröhnend  auf 
das  dumpfklingende  Fell 
niedersausten,  während  an- 
dere mit  Clarinett,  Trompet 
und  Geige  allerlei  Weisen 
spielten,  die  beinahe  wie 
oberbayerische  Ländler 
klangen,  dazu  das  fort- 
währende Geläute  der  tief- 
gestimmten Schiffsglocke, 
das  Ganze  aber  übergössen 
vom  grünlich  vibrirenden 
Scheine  elektrischer  Lam- 
pen, die  überall  im  Saal 
vertheilt  und  mit  farbigen 
Glaskugeln  umhüllt  ein  un- 
sagbar reizvolles  Licht 
^^^^^■■iHfl  auf  all  die  phantastischen 
^^S  )S^B^W^  Gestalten   und   Dinge   er- 

^     -^^  strahlen  Hessen.   Natürlich 

war  auch  bei  dem  Drei- 
master der  Innenraum  nicht 
unbenutzt :  Dort  zeigte  die  in  der  Luft 
baumelnde  und  zappelnde  «Magneta 
Neptunas  ihre  verwegensten  Schwimm- 
kunststücke, die  sie  regelmässig  mit 
einem  doppelten  Salto  mortale  beendigte,  worauf  das 
gegen  Entree  eingelassene  Masken  -  Publicum  in  see- 
männisch -  zuthunlicher  Weise  wieder  hinausge— leitet 
wurde.  Gerade  diese  Gruppe  war  von  vollendeter  Schön- 
heit, und  wenn  irgend  ein  künstlerisch  beanlagter  Photo- 
graph da  sein  Können  entfaltet  hätte,  so  wären  ihm 
wohl  von  seinen  Producten  nicht  viele  auf  Lager  geblieben. 


40 


niE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wenns  nicht  zufällig  ein  Künstler 
that,  so  ist  wohl  kaum  zu 
erhoffen,  dass  diese  brillante 
Leistung  im  Bild  der  Nach- 
welt erhalten  bliebe.  Zwischen 
hohen  mit  vergoldeten  Strahlen- 
büscheln und  wundersamen 
Blumen  von  riesigen  Dimen- 
sionen umkleideten  Säulen  ruhte 
auf  mächtigem  Unterbau  der 
Ur- Frosch,   der   Allvater  aller 

nachkommenden  Frosch- 
geschlechter, ein  Fjcemplar  von 
etwa  25  Fuss  Höhe,  in  dessen 
aufgedunsenem  Bauche  sich  die 
Demi-monde  der  Meerestiefen 
etablirt  hatte,  während  aussen. 

auf  einem  gallerieartigen  Vorsprung  Frösche  in  Menschengrösse  sassen 
und  in  tollen   Capriolen,  begleitet  von  unterirdischen  Tönen,   um  die 
monumentalen  Beine  des  Frosch-Ur\aters  herumpurzelten.    Nicht  weit 
davon    lag   das    versunkene    Pfahldorf,     zwischen    dessen    Rost   aus 
mächtigen  Eichen  -    und  Tannenstämmen    sich    Wesen  herumwälzten, 
gegen   welche  diejenigen,    die   Schiller 's  Taucher  gesehen  haben  will, 
die  reinsten  Kinder  gewesen  sein  mc^en.    Ueber  den  Giebel  des  Daches 
kroch  eine  unheimliche  ichthyosaurusartige  Gestalt,  und  beim  Eingang 
zum  Pfahlwirthshaus  schnappte  ein  altersschwacher  Drache  mit  glühen- 
dem   Rachen    wie   ein  von  Asthma  Gepeinigter.     Grottenartig  wölbte 
sich  wieder  anderswo  das  «Korallentheater*,  in   dessen   Innen -.Raum 
mit   ebensoviel   Geschick  als  künstlerischer   Durchführung    alle    mög 
liehen  V'erwandlung.sbilder  der  griechischen  Sage  von  lebenden  Figuren 
vorgeführt  wurden,   wobei  denn  auch   zum  Gelächter  aller  Zuschauer 
eine  zeternde  und  keifende,  wüthend  um  sich  blickende,  ältere  Frauens- 
person mit  fliegenden   Haubenbändern  sich  in  ein   Meer- 
Ungethüm  verwandelte.    Den  Ausgang  aus  dieser  unterir- 
dischen Stätte  des  Zaubers  hüteten  griechische  Hopliten, 
angethan    mit    gleissenden  Rüstungen,    auf  dem  Kopfe 
die    eherne  Sturmhaube   mit  mächtigem  Rosshaarbusch, 
mehrere    auch    mit    der    prächtigen    Aulopis    und    dem 
linnenen  Koller  bekleidet.     Der  Aechtheit  des  Anblicks 
unbeschadet    trug    einer    sogar    einen    phantastisch    ge- 
formten, mit  allerlei  Buckeln  und  Vertiefungen  gezierten 
Helm  mit  mächtigem  Federbusch,  wovon  sich  der  erste 
bei    näherem  Ansehen   als   eine   tiefe   Kuchenform ,    der 
Busch    aber  als    ein  Fächer   für  Kohlenfeuer  erwies  — 
aber    gut    .sah's    dennoch    aus.      Eine    Triere    mit    ver- 
moderten   Planken,     halbversunken    zwischen    Schlamm 


Üic  gesunkene  Galeere  .Sirius. 


und  Morast,  gestützt  auf  die  weitausgreifenden  Ruder, 
lag  da  im  Meeresgrunde  begraben;  Schiffsschnäbel  und 
einzelne  Bruch-stücke  von  Fahrzeugen,  die  einst  in 
tobender  Schlacht  zwischen  Hellenen  und  Persem  ihren 
Untergang  gefunden,  ragten  seitlich  und  im  Hintergrunde 
empor ;  es  war  die  Stätte  von  Salamis,  da  Xerxes  Flotte 
von  Themistokles  zersprengt  und  vernichtet  worden 
ist.  Was  lag  näher,  als  hier  den  Namen  des  be- 
rühmtesten Entdeckers  griechischer  Alterthümer  zur 
Grundlage  einer  ebenso  reizenden  als  kün.stlerisch  bis 
in  alle  Details  vollendeten  Sammlung  von  Broncen, 
Terracotten  etc.  zu  machen,  jenen  Schliemann  s  nämlich. 
Mit   einem  Geschick,    das   nur    zu   deutlich   zeigte,  wie 


l'lH.C,   F,    II.,i,'_-.^.n„l,   üuiit..i:. 


Einladungskarte  zum  „Fest  auf  dem  Meeresgrund' 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


41 


wirbelnde  Menge  dahin,  überall  von  Scherzworten  be- 
gleitet. Ein  andermal,  es  sind  just  zehn  Jahre  her,  da 
kam  er  auf  solch  ein  Fest,  aber  nicht  als  Maske, 
es  war  der  wahre  Sensenmann ,  der  mitten  aus  dem 
Taumel  der  Freude  heraus  sich  ein  paar  Opfer  holte 
und  ihr  Scheiden  aus  dem  Festsaal  und  vom  Leben 
mit  hochaufschlagenden  Flammen  beleuchtete.     Es  war 

die  unglückseligeGeschichte 
mit  den  verbrannten  Eskimos 
am  19.  Februar  1881  im 
Colosseum  zu  München,  an 
die  Jeder  mit  Schrecken 
denkt,  der  sie  mit  eigenen 
Augen  gesehen.  — 

Natürlich  trieben  sich 
auch  eine  Menge  von  Er- 
scheinungen herum,  wie  sie 
eben  jedes  Maskenfest  mit 
sich  bringt,  solche  nämlich, 
die  nicht  just  in  den  Rahmen 
des  Programmes  passen, 
aber  zur  Vielfarbigkeit  der 
Erscheinung  des  Ganzen 
doch  wesentlich  beitragen. 
Phantasiecostüme  der  ver- 
rücktesten Art,  oft  nicht 
unähnlich  jenen,  wie  man 
sie  auf  Lithographien  und 
Holzschnitten  der  dreissiger 
und  vierziger  Jahre  sieht, 
Figuren ,  denen  einen  be- 
stimmten Namen  zu  geben 
rein  unmöglich  ist;  einer 
z.  B.  trug  eine  barock  chine- 
sisch gehörnte  und  ausge- 
zackte Spitzhaube,  bekrönt 
mit  einem  mächtigen  Busche 
von  Pfauenfedern ,  deren 
jede  einzelne  durch  einen 
kleinen  schwebenden  Wassergasballon  in  die  Höhe  ge- 
zogen wurde.  An  den  Enden  des  mächtigen  Schnurr- 
barts befanden  sich  ebenfalls  solche  Dinger,  um  den 
Hals  statt  der  steif  abstehenden  Krause  legte  sich  ein 
mit  der  Hahnenfeder  auf,  eine  Figur,  wie  von  Rethel  breiter  buntbemalter  japanischer  Fächer,  das  Costüm, 
geschaffen:  der  Tod!  Umhuscht  von  leichtfüssigen  das  übrigens  zwei  Gesichter,  eines  vorn  und  eines  rück- 
Ballerinen  und  weithosigen  Clowns  schritt  er  durch  die      wärts   aufwies,   war  halb    Harlequin,    halb    Pierrot,   mit 

6 


das  Kunsthandwerk  am  besten  von  Künstlern  verstanden 
werde,  waren  da  denn  alle  möglichen  Dinge  hergestellt, 
Armspangen,  Fibeln,  Nadeln,  Gefässe  aller  Art.  Dass 
dabei  im  figürlichen  Theil  die  freie  Art  antiker  Auf- 
fassung gelegentlich  auch  zum  Ausdrucke  kam,  braucht 
wohl  nicht  erst  gesagt  zu  werden.  Hätte  Schliemann 
das  alles  sehen  können,  er  hätte  mit  seinem  Beifall 
sicherlich  nicht  zurückge- 
halten. Und  wie  diese  paar 
nur  oberflächlich  gestreiften 
Sehenswürdigkeiten  von  alle 
dem  Zeugniss  gaben,  was 
das  Meer  im  Laufe  mensch- 
lichen Handels  und  Wandels 
verschlungen,  so  fand  sich 
eine  ganz  unübersehbare 
Menge  von  Dingen  vor,  die 
alle  aufzuzählen  und  zu  be- 
nennen gar  nicht  möglich 
ist.  Für  die  wenigen  Stun- 
den einer  Nacht  war  es  zu 
viel,  denn  ob  all  den  Ein- 
drücken, die  sich  in  wech- 
selnder Fülle  auf  Schritt  und 
Tritt  boten,  ging  der  Ge- 
nuas vieler  reizvoller  Einzel- 
heiten verloren. 

Und  wenn  nun  erst  von 
dem  Gewirre  der  Masken 
die  Rede  sein  sollte !  Böcklin 
hätte  eine  gute  Zahl  seiner 
Gestalten  auf  den  ersten 
Blick  wiedererkannt.  Doch 
auch  die  mythenlose  Zeit 
hatte  ihr  Contingent  ge- 
stellt! Was  trieb  sich  da 
nicht  eine  bunte  Rotte  von 
saracenischen  Seefahrern, 
von  Albanesen  und  Dalma- 
tinern, Venezianern  und  Niederländern,  biederen  Theer- 
jacken  und  verwilderten  Galeerensträflingen  herum  und 
mitten  unter  ihnen  eine  lange  hagere  Figur  mit  fleisch- 
losem Schädel  und  leeren  Augenhöhlen,  den  grünen  Hut 


Salamis. 


42 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


durchsichtigen  Libellen- 
fliigeln  auf  den  Achseln 
und  mächtigem  Schellen- 
behang  an  den  Knien,  die 
FUsse  aber  waren  genau 
denen  eines  Frosches  nach- 


Titclblatl  Her  Kneipzeitung   <  Auf  dem  MeeresgruiMlc  i 
von  I,.  Stutz. 


gebildet.  Ja.  was  war  das!  Knrnevalslaune,  Faschings- 
scherz, rechter,  ächter  Mummenschanz .  der  in  keinem 
Codex  sein  .streng  fixirtes  Wesen  hat,  sondern  dem 
momentanen  Einfall  folgt,  mag  der  Unsinn  noch  so  gross 
sein,  darum  ist's  eben  Fasching.  In  überaas  reizenden  und 
graziösen  Exemplaren  war  da.s  Corps  de  Ballet  vertreten, 
wobei  denn  freilich  öfters,  wenn  eine  der  Schönen  sich  den 
Halbschleier  et\va5  lüftete,  ein  unverfälschter  männlicher 
Schnurrbart  zum  Vorschein  kam  und  die  courmachenden 
Cavaliere  nicht  darüber  in  Zweifel  liess,  dass  diese 
graziösen  Erscheinungen  im  gewöhnlichen  Leben  Manns- 
kleider zu  tragen  pflegen.  Sprangen  aber  hin  und  wieder 
einige  dieser  leichtbeschwingten  Wesen  auf  die  Tische 
des  an  den  Festsaal  anstossenden  und  mit  einem  reizenden, 
von  marmornen  Tritonen  und  Wasserweibern  getragenen 
Portale  geschmückten  Restaurationssaales,  um  über  Mas.s- 
krüge,  Teller  und  Platten  hinweg  wie  im  Fluge  zu  sausen, 


-i>  brach  von  allen  Seiten  unbeschreiblicher  Jubel  aus 
und  im  Nu  waren  sie  dann  von  kräftigen  Armen  empor- 
gehoben und  im  Triumph  herumgetragen,  wobei  wohl 
die  Eine  oder  Andere  mit  leichtem  &itze  von  Achsel  zu 
Achsel  sprang,  um  wieder  im  Gewühl  zu  verschwinden 
und  an  einer  andern  Ecke  der  labyrinthischen  Gänge 
zwischen  all  den  Einbauten  aufzutauchen,  vielleicht  am 
Arme  eines  kettenbelasteten  Galeerensträflings,  dem  das 
fatale  T.  F.  (tra\-aux  forc&)  den  Nacken  zierte,  oder  ein 
paar  gravitätisch  daherschreitende  Orientalen  mit  leichtem 
Fächerschlag  für  einen  Moment  aus  ihrer  .stoi.schen 
Ruhe  aufzuscheuchen.  Einen  geradezu  tollen  Eindruck 
aber  machte  es,  als  in  späterer  Stunde  die  Tische  des 
Kneipraumes  zusammengeschoben  wurden  und  ein  Tanzen 
anhub,  dessen  jagendes  Tem|K>  jeder  Beschreibung 
spottet.  Sat>Tn,  Nymphen  und  Najaden  rasten  im  Kreise 
umher,  bald  geschlossen  in  doppelter  Kette,  bald  paar- 
weise oder  einzeln,  wie's  eben  Jeden  in  seiner  Phantasie 
dazu  antrieb,  dazwischen  hüpften  grüne  und  gelbe  Frösche 
über  Tische  und  Stühle  weg,  Crocodil  und  Ichthyosaurus 
tanzten  zärtlich  umschlungen  die  Gallo- 
pade  und  ernsthaft  wackelte 
zwi.schen  eine  riesig  beleibte 
Tube  ■-  CremserNvei.ss  »  den 
Tact  am  Arme  einer 
gleichen  aber 
schlanken 


rnf 


lanjjcn  M^ur    «  Her- 
linerblau  ».  Zwischen 
durch  mit  lautem  Hi- 
hi huschte,  flattern- 
den   Federschmuck 
im    lang    fliegenden 
Haare ,    ganze   Büschel 
von  Skalpen  in  den  Lüften 
schwingend,  eine  Rotte  von 
Rothhäuten,    die   übrigens  al.s- 
hald  von  einigen  ehrbaren  Nacht- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


43 


Wächtern  im  Costüm  der  guten  alten  Zeit  abgefasst 
wurden  und  erst  um  ein  Lösegeld  von  verschiedenen 
vollen  Maasskrügen  wieder  ihre  Freiheit  bekamen.  Es 
war  ganz  einfach,  als  wenn  der  Teufel  losgelassen  worden 
wäre  und  von  jenem  Phlegma,  das  durch  den  Biergenuss 
im  Menschen  entstehen  soll,  war  nichts  zu  bemerken. 
Das  Alles  kann  man  ja  eigentlich,  wie  gesagt,  gar  nicht 
.schreiben,  denn  bis  nur  ein  Bild  erfasst  war,  drängten 
sich  schon  ein 
halb  Dutzend  an- 
dere an  dessen 
Stelle.    Alles  war 

Farbe ,  Lust , 
Freude ,  Jugend, 
ein  wahrer  Wirbel 
und  Strudel  von 
sinnverwirrenden 
Eindrücken ;  es 
war  ein  Fest,  wie 
es   eben   nur  die 

Künstlerlaune 

hervorzubringen 

im     Stande     ist. 

Und  wo  diese  sich 

in  so  glänzender. 


Nach  dein  Icsle  im   Morgengrauen. 


phantasievoller  Weise  zeigt,  sollte  da  für  immer  einzig  und 
allein  der  Realismus  der  Thatsachen  die  führende  Rolle 
spielen  ?  Ich  glaube  nicht,  denn  wo  so  viel  überquellende 
Schöpferkraft  Dinge  aufbaut,  wie  ich  sie  leicht  zu  skizziren 
versuchte,  da  ist  der  künstlerische  Trieb  nicht  blos  nach 
der  Darstellung  des  greifbar  Vorhandenen  gerichtet ;  die 
Phantasie  lässt  sich  nicht  todtschlagen,  ebensowenig  als 
selbst  das  Beste  und  Grösste,  was  der  Realismus  hervorge- 
bracht hat,  einen 
Böcklin ,    Thoma, 
Marees ,    Klinger 
auf  andere  als  die 
ihnen  eigenthüm- 
lichen    Bahnen 
nicht  zu  drängen 
vermochte.      Die 
Darstellung      der 
wahren  Erschein- 
ungswelt wird  da- 
neben immer  ihre 
Triumphe   feiern. 
Zu  ihr  gehört  das 
Kennen,  zum  an- 
dern das  Kennen 
und  das  Können. 


'?'^<t-ir- 


Und  nun  von  diesen  Bildern  hinweg  zu  jenen,  die 
unsere  drei  ersten  Hefte  geben. 

Vom  tiefen  Meeresgrund  hinauf  zu  den  Spitzen  der 
Dolomiten  ist's  ein  gehöriger  Sprung,  ebenso  wie  von  den 
farbigen,  lebenden,  sich  bewegenden  Gestalten  des  Festes 
zu  dem  Bilde  von  Hofer,  das  die  ragenden  Spitzen  jener 
eigenthümlichen  Bergformationen  zeigt,  welche  den  Grenz- 
wall zwischen  Süd-Tirol  und  Italien  bilden.  Dort  spielt 
die  Sagenwelt  von  König  Laurin's  Rosengarten.  Steht 
man  auf  der  Wassermauer  zu  Bozen  und  sieht  im  Früh- 
licht die  Nebelstreifen  hinziehen  an  den  steilen  Schrofen 
der  vegetationslosen  Felsendome,  die  vom  Schimmer  des 
aufgehenden  Tages  umflossen  sind,  während  in  den 
Schluchten  und  Runsen,  an  den  Schutthalden  und  senk- 
recht abfallenden  Wänden  der  tieferen  Lagen  noch  blau- 
graue  Schatten  lagern,  so  braucht's  gar  keine  grosse 
Einbildungskraft,  um  sich  jene  sagenumwobene,  gewaltige 
Natur  mit  Wesen   zu   bevölkern,    deren   Sein  mit  dem 


gemeinen  Erdboden  nichts  zu  thun  hat;  und  wenn  die 
Geister  des  Sanct  Magdalener- Weines,  den  der  edle  Trebo 
im  Batzenhäusl  zu  Bozen  kredenzt,  die  Stirne  warm  und 
die  Zunge  geläufig  machen,  so  mag  man  wohl  glauben, 
solch  Nass  sei  in  einem  Revier  gewachsen,  wo  Kräfte 
anderer  als  menschlicher  Natur  die  Elemente  mischen, 
aus  denen  solche  Tropfen  erstehen. 

Wir  geben  gleichzeitig  von  dem  nämlichen  Künstler 
eine  Anzahl  von  Studien,  sowie  ein  Bild :  «  Fischfang  in 
den  Lagunen»,  das  sich  auf  der  Münchener  Jahres- 
Ausstellung  des  Jahres  1890  befand  und  durch  die  un- 
gemein frische,  kräftige  Farbenwirkung  auffiel. 

Ein  anderes  Sujet  aus  der  Welt  der  Sage  behandelt 
Silvio  Rotta  in  seinem  «Satyr  und  Nymphe»  (Seite  12), 
ein  Aquarell,  das  durch  die  geschickte,  fleischige  Be- 
handlung ebenfalli  auf  der  Jahres-Ausstellung  von  1890 
auffiel.  Der  bocksbeinige  Geselle  hat  in  der  Verfolgung 
der    von    ihm    in    Liebesbrunst    Begehrten    endlich    sein 

6« 


44 


DIK   KINSI    üNSfcktk  ZKil. 


Sei  erreicht :  Sic  kann  nicht  mehr  weiter,  die  Felswand 
hält  ihre  Flucht  auf,  und  jetzt  bleibt  ihr  eben  nichts 
anderes  mehr  übrig  als  der  Dinge  gewärtig  zu  sein,  die 
da  kommen  werden.  CKe  ganze  Scene  ist  ausserordent- 
lich reizend  geschildert,  das  heranklettemde  Geschick 
in  Gestalt  des  Kürbisflaschen-Trägers  ebenso  wie  die 
scheu  niederblickende  weibliche  Figur,  deren  Augen 
kaum  über  die  wie  zur  Abwehr  empoi^ezogenc  Schulter 
wegzublicken  sich  getrauen. 

Eine  andere  Seite   des  antiken  Lebens,  das  hinab- 
sank  unter   dem    Märtyrerthum   unzähliger   ans   Kreuz 


Geschlagener,  in  den  öffentlichen  Spielen  reissenden 
Bestien  Vorgeworfener  und  hundert  anderer  .schreck- 
voller Todesarten  Gestorbener,  schildert  G.  Max  in  dem 
Bilde  « Verurtheilt » .  Max  hat  es  immer  verstanden, 
das  rein  Menschliche  in  seinen  Bildern,  mochten  sie 
nun  irgend  einer  Zeit  angehören,  in  den  Vordergrund 
zu  rücken.  Die  Hülle,  die  seine  Figuren  umgibt,  spielt 
nirgends  eine  Rolle,  der  Kern  der  S«che,  das  seelische 
Moment  allein  beherrscht  die  Situation.  Das  ist  was  die  sog. 
Historienmalerei  allmählich  zur  bedeutungslosen  Costüm- 
darstellung    herabdrückte,    dass    ihr   in   neunundneunzig 


C.  He/tr.     Kucher  in  den  Lagunen. 


von  hundert  Fällen  jener  innerliche  Gehalt  mangelte,  der 
an  den  Werken  von  Max  stets  das  Leitmotiv  bildet 
und  es  auch  in  dem  vorliegenden  Bilde  wieder  in  so 
meisterhafter  Weise  thut,  wie  man  es  eben  an  den 
Werken  dieses  Künstlers  stets  gewohnt  war.  Max  ist 
durchaus  individuell.  An  ihm  hat  jenes  nivellirende 
Element  nichts  zu  ändern  vermocht,  das  vor  allem 
Andern  die  Abstreifung  des  Persönlichen  in  der  Kunst 
zum  Ziele  hat.  Darin  decken  sich  vielfach  die  Be- 
strebungen der  Uitramodernen  mit  der  Thatsache,  die 
von  gar  vielen  tüchtigen  Künstlern  über  ihren  Lehrgang 


an  dieser  oder  jener  Academie  au-sgesagt  worden  ist, 
dass  sie  nämlich  im  späteren,  nicht  mehr  academi.schen 
Schaffen  vollauf  zu  thun  hatten,  um  das  abzustreifen, 
was  ihnen  beim  Drill  der  Kunstschule  eingetrichtert 
worden  war.  Jener  Lehrer  sind  sehr  wenige,  die  der 
Entwickelung  von  heranwachsenden  Künstlern  lediglich 
das  beizumi.schen  vermögen,  was  sie  als  Mittel  der  Dar- 
stellung tüchtig  kennen  müssen ;  vielmehr  geht  das  Be- 
streben weitaus  der  grösseren  Anzahl  unserer  acade- 
mischen  Lehrkräfte  dahin,  im  Schüler  einen  Abglanz 
des  eigenen    Ich    auszubilden.     Das   ist's,  woran   unsere 


N 
tu 
0 

e 
a 

o 


DIE  KUNST  UNSERB:R  ZEIT. 


45 


Kunst  zum  guten  Theile  krankt;  ist  es  doch  eine  durch 
viele  Beispiele  zu  er\veisende  Thatsache,  dass  Jene, 
welche  auf  den  künstlerischen  Hochschulen  die  Besten 
waren,  nachher  im  selbstständigen  Leben  auf  dem  Niveau 
der  Mittelmässigkeit  stehen  bleiben  oder  gar  unter 
dasselbe  hinabtauchen,  während  eine  grosse  Reihe  von 
Autodidakten  oder  solchen ,  die  vor  dem  Gerichtshofe 
des  officiellen  guten  Geschmackes  als  c  ungenügend » 
oder  gar  c  talentlos  j  befunden  worden,  sich  durch  eigenes 
Studium,  selbstständige  Auffassung  emporarbeiteten  unter 
die  Besten,  die  man  im  Reiche  der  Kunst  zählt.  Oft 
haftet  ihnen  ja  freilich  der  sichtbare  Mangel  des  quanti- 
tativen Könnens  an  —  aber  die  Kunst  ist  kein  Rechen- 
exempel,  das  auf  dem  Schachbrett  oder  dem  Schlacht- 
felde seine  richtige  Lösung  findet;  vielmehr  wird  Der 
immer  höher  stehen,  der  den  Stoff  seines  Bildens  in 
genialer,  grossgedachter  Weise  anzufassen  versteht,  als 
Jener,  der  die  peinliche  Genauigkeit  der  Wiedergabe  als 
die  Basis  künstlerischen  Schaffens  auffasst.  Ein  Meissonier 
freilich  hat  beides  vereinigt,  aber  seinesgleichen  zählt 
man  eben  nicht  nach  Dutzenden.  Wer  möchte  hinter 
den  em.sten  Bildern  c  1815»  oder  c  Angriff  der  Cuirassiere 


G.  Hofer.     Studie. 


bei  Eylau»,  falls  er  die  Originale  nicht  kennt,  vermuthen, 
dass  diese  letzteren  von  äusserst  geringen  Dimensionen  sind ! 

Dass  Lehrthätigkeit  einem  so  ausgesprochen  eigen- 
thümlichen  Manne  wie  Max  nicht  zusagte,  ist  leicht 
begreiflich.  Er  hat  seine  Stelle  an  der  Academie  zu 
München  nach  kurzer  Dauer  niedergelegt,  um  unbe- 
hindert durch  Ehrenpflichten  ganz  und  gar  nur  Dem  zu 
leben,  was  seine  künstlerische  Arbeit  fordert.  Dass  er  ferner 
keineswegs  nur  einer  bestimmten  Richtung  folge,  durch 
welche  er  im  Beginne  seiner  Laufbahn  schnell  allbe- 
kannt und  geschätzt  wurde,  hat  er  mehr  denn  einmal 
dargethan.  Welch'  köstliche  Ironie  sprach  nicht  aus 
seinem  c Kränzchen»,  dem  trefflichen  Affenbilde,  das 
in  der  kgl.  Neuen  Pinakothek  zu  München  hängt  (ver- 
öffentlicht im  Halb-Jahrgange  der  «Kunst  unserer  Zeit» 
vom  Sommer  1889).  Mit  dem  hier  wiedergegebenen 
f  Verurtheilt »  hat  Max  in  jene  Periode  zurückgegriffen, 
in  der  sich  am  glänzendsten  das  Wort  von  der  Auf- 
richtung der  Unterdrückten  bewahrheitet  hat,  jener  Zeit, 
da  für  das  Christenthum  geblutet  wurde  und  der  Spiess 
noch  nicht  umgedreht  war.  Was  bedarf  es  da  weiter 
eines  Commentarsl  Er  ist  unnütz.  Wo  der  Künstler 
für  sich  selbst  so  spricht ,   bedarf  er  keines  Interpreten. 

Weniger  auf  die  Charakteristik  der  Persönlichkeiten 
als  auf  die  Gesammtstimmung  des  Raumes  und  der  unter 
seinen  Lichtbedingnissen  stehenden  Figuren  berechnet, 
ist  das  Kirchen  -  Interieur  von  Gotthardt  Kuehl,  dessen 
Streben  nach  glanzvoller,  klarer  und  vornehmlich  heller 
Tongebung,  bei  der  indes.sen  die  Einzelnheit  durchaus 
nicht  von  ihrer  plastischen  Wirkung  einbüsst,  kein 
Resultat  seiner  Münchener  Kunst-Bildung  ist.  Er  ge- 
hörte früher  zu  den  Dunkelsten  der  Dunkeln.  Den 
völligen  Wechsel  seiner  Anschauung  in  Bezug  auf  die 
Farbe  hat  er  in  Paris  erlebt,  und  man  darf  es  ja  wohl 
sagen,  dass  ihn  die  Seinestadt  zum  feinen  Künstler 
heranbildete,  ohne  dass  er  erst  das  Purgatorium  des 
interessanten  Manierismus  durchzumachen  brauchte.  Das 
letztere  bildet  offenbar  für  die  meisten  jener  Maler  eine 
längere  oder  kürzere  Durchgangsstation,  welche  unzu- 
frieden mit  dem  Boden  ihrer  Heimath  und  dem,  was  er 
bietet,  von  Zeit  zu  Zeit  einer  Auffrischung  an  fremden  Bei- 
spielen bedürfen.  Leider  läuft  diese  Auffrischung  recht 
oft  auf  ein  gänzlich  sinn-  und  gedankenloses  Nachmachen 
hinaus,  dessen  Producte,  wie  es  bei  allem  nicht  Selbst- 
empfundenen und  Selbsteroberten  der  Fall  ist,  die 
fremde  Marke  nicht  verbergen  können. 


46 


I>IK   K.INST  UNSF.RKR  Zl.l  l'. 


Drei  Erscheinungen  eigener  Art  bietet  das  Blatt 
von  M.  V.  Muttkäcsy  (Seite  24).  Wozu  sie  gedient,  das 
weiss  ich  nicht ;  ob  es  ein  spontaner  Einfall  ohne  weitere 
Verwendung  gewesen,  ebensowenig,  nur  fielen  mir  un- 
willkürlich, obschon  sie  wesentlich  anderer  Natur,  — 
ich  möchte  sie  stylisirte  nennen  — ,  die  Caricaturen 
von  Leonardo  da  Vinci  dabei  ein,  die  jedenfalls  auf 
gehabten  Eindrücken  beruhen ;  laufen  doch  in  der  Welt 
unglaublich  viele  Erscheinungen  herum,  an  denen  man 
nicht  haarbreit  etwas  zu  ändern  braucht,  um  sie  als 
Caricaturen  in  des  Wortes  allerbester  Bedeutung  be- 
handeln zu  können.  Dass  dazu  manchmal  jene  am 
meisten  gehören,  die  sich  vor  dem  Spiegel  sagen :  « Du 
bist  schön  und  interessant*,  steht  ausser  allem  Zweifel; 
es  sind  die  Comödianten  des  Lebens,  die  nie  aus  der 
Rolle  fallen,  weil  sie  viel  zu  sehr  von  der  Wichtigkeit 
derselben  überzeugt  sind.  Wie  Mancher  macht  nicht 
gratis  (tir  hundert  Andere  den  Hanswurst,  schätzt  ihr 
Lachen   als  Beifall    und   glaubt,   er  helfe  mit  drehen  an 


'm^ 


•  ff" 


^.ll^a^-.; 


^. 


C     tirjtj 


G.  Hofer.     Studie, 


der  Achse,  um  die  sich  Alles  bewegt.  Ausgesprochene 
Caricaturen  sind  indessen  die  drei  Köpfe  von  Munkäcsy 
keineswegs,  weil  sie  nach  keiner  Seite  eine  Uebcrtreibung 
zeigen.  Dies  allein  macht  das  Wesen  der  Giricatur 
aas.  Vielmehr  darf  man  getrost  annehmen,  dass  es 
Bildnisse  dreier,  richtiger  Menschen  seien,  sagen  wir: 
Charakterköpfe:  man  könnte  am  ehesten  voraussetzen, 
dass  sie  in  eine  Scenc  wie  t Christus  vor  Pilatus» 
hineingehörten  ;  der  Aasdruck  ist  nicht  jener  des  gleich- 
gültig dasitzenden  Modells;  die  drei  Kerle  haben 
ihre  ganz  bestimmten  Gedanken,  ihr  bestimmtes  Ziel, 
das  offenbar  ganz  wo  anders  seinen  Gipfelpunkt 
findet  als  z.  B.  im  Arrangement  eines  Wohlthätig- 
keitsconcertes  oder  eines  Bazars  zu  Gunsten  von  armen 
Wöchnerinnen. 

Ein  Menschenkind  ganz  anderer  Art  giebt  das  weih 
liehe  Portrait  if.  ^}.  Walton' s,  eines  Schotten.  Es  bildete, 
wie  verschiedene  der  zuvor  genannten  Blätter,  eine  Zierde 
der  Münchener  Jahresausstellung  von  1890  und  hat  in 
der  Besprechung  derselben  auch  bereits  seine  Würdigung 
gefunden.  Das  ist  volle  Jugend,  Anmuth,  Schönheit,  ein 
Ding,  was  von  gar  vielen  modernen  Künstlern  ge- 
mieden wird  wie  das  höllische  Feuer.  Freilich  bieten 
dergleichen  Aufgaben  oft  dem  Künstler  Gelegenheit,  sich 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


47 


die  Zähne  auszubeissen  oder  seine  ganze  Kraft  aufzu- 
weisen. Das  thut  das  Portrait  überhaupt,  weil  seine 
Bedeutung  auf  etwas  mehr  beruht,  als  auf  einer  allge- 
meinen Impression.  Wo  es  sich  um  bestimmten,  indivi- 
duellen Ausdruck,  um  die  Wiedergabe  Dessen  handelt, 
was  das  innerliche  Wesen  eines  Menschen  ausmacht,  da 
bedarf  es  nicht  blos  ganz  allgemeiner  Andeutung  der 
Form,  vielmehr  will  das  Specifische  crfasst  sein,  und 
wo  dieses  dazu  sich  noch  in  persönlich  schönen,  edeln 
Formen  ausspricht,  da  reicht  der  Altmänncr-  und  Alt- 
weiberCultusunsererTage 

entschieden  nicht  aus,  der  ^ 

in  eckigen ,  winkeligen 
Formen  sich  ergeht  und 
jede  feinere  Linie  meidet, 
ob  aus  Absicht  oder  Un- 
vermögen, das  bliebe  in 
jedem  einzelnen  Falle  zu 
entscheiden. 

Ein  fideles  Familien- 
Trio  giebt  Boldiiti's  Por- 
trait der  Familie  Brown, 
ebenfalls  ein  Stück  der 
1 890er  Jahres- Ausstellung 
zu  München.  Vor  dem 
geistreichen  Können  des 
italienischen  Malers ,  der 
in  Paris  lebt,  prallte  gar 
Mancher  betroffen  zurück, 
der  die  Wahrheit  der  Dar- 
stellung sich  nicht  einge- 
stehen wollte  und  einen 
Schrecken  bekam :  Am 
Ende  sehe  ich  auch  so  aus ! 
Da  sind  doch  unsere  Por- 
traitmaler  von  Fach  durch- 
schnittlich viel  bessere  Menschen.  Die  meinen  es  doch 
gut  mit  ihren  Bestellern  und  malen  sie  im  Sonntagsrock 
und  mit  einem  Gesicht,  wie  sie  es  einst  in  himmlischer 
Verklärung  oder  in  einem  Wachsfigurencabinet  haben 
werden.     Aber   solch  geradezu  unverschämte  Wahrheit 

ach  nein,   das  ist  für  den  gebildeten  Kunstphilister 

zu  viel  des  Guten,  das  ist  ja  der  leibhaftige  Steckbrief, 
und  so  etwas  auch  noch  ausstellen,  der  ganzen  Welt 
zeigen  und  sie  darüber  lachen  lassen!  Oh,  glückstrahlendes 
Trifolium,    Ihr  habt  gar  Manchem  einen  argen  Rippen- 


G.  Hoftr,     Studie. 


stoss  versezt  und  Vielen  mag  innerlich  gewiss  der  Vor- 
satz geworden  sein:  «Nein,  von  Dem  lass'  ich  mich 
nicht  malen!»  Will  doch  jeder  Schweinemetzger  im  Bild 
aussehen  wie  ein  Commerzienrath  und  seine  Frau  wie 
eine  Dame  von  Stand.  Wer  aber  Sinn  für  humorvolle 
künstlerische  Auffassung  hat,  der  kann  dem  eigenen 
Reize  dieser  köstlichen  Familienscene  nicht  widerstehen, 
vielleicht,  das  ist  möglich,  werden  einem  die  lachenden 
Gesichter,  müsste  man  sie  immer  anschauen,  nach  und 
nach  zur  Fratze,  das  kann  ich  mir  sehr  leicht  vorstellen, 

denn  auch  lebende  Men- 
schen, die  immer  und  ohne 
Grund     den    Mund     zum 

Schmunzeln  verziehen, 
langweilen  auf  die  Dauer ; 
ich  könnte  mir  übrigens 
dieses  Trifolium  zum  Bei- 
spiel sehr  gut  als  Schluss- 
steine einer  Bogenarchi- 
tektur  vorstellen,  etwa  in 
dem     Sinne    wie    Böcklin 

welche  modellirt  hat. 
Boldini  hat  nun  allerdings 
die  Portraits  wahrschein- 
lich nicht  zu  solchem 
Zwecke  gemalt,  indessen 
bin  ich  ihnen  gegenüber 
dennoch  nie  den  Eindruck 
losgeworden,  als  wären  sie 
zur  humorvollen  Decora- 
tion irgend  eines  künst- 
lerischen Kneiplocals  be- 
stimmt. Was  er  damit 
geben  wollte,  eine  bis 
an'sCaricaturenhafte  gren- 
zende Charakteristik  der 
dargestellten  Persönlichkeiten,  das  ist  ihm  über  alleMaa.ssen 
gelungen,  und  dass  er  bei  seinem  eminenten  Können 
durchaus  nicht  auf  das  Charakterisiren  bis  zur  Ueber- 
treibung  angewiesen  ist,  das  bewiesen  seine  übrigen 
Figurenstudien,  z.  B.  die  «  Zwei  Freunde  »  (Jahrgang  90 
d.  Zeitschr.,  p.  164). 

Noch  weitere  Blätter  halten  die  Erinnerung  an  die 
Jahres- Ausstellung  1890  wach,  so  die  treffliche  Repro- 
duction  des  Bildes  von  Sande -Bakhuyzen,  dessen  klare 
farbige  Wirkung   von  feinstem  Reize    durchdrungen  ge- 


it>?M 


48 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wesen  ist,  nicht  minder  das  herbstliche,  von  grauer 
Abendstimmung  durchzogene  Waldbild  von  F.  du  Chatul, 
in  dem  die  ganze  poesievolle  Schwermuth  der  welken- 
den Natur  in  Farben-Accorde  aufgelöst  erschien,  denen 
man  etwa  ein  Chopin'sches  Adagio  an  die  Seite  stellen 
könnte.  Einzig  und  allein  machten  dabei  die  Baum- 
formen einen  etwas  construirten  Eindruck,  welcher  in- 
dessen der  Farbe  gegenüber  in  den  Hintergrund  trat. 
Breit,  mächtig,  eine  Tonmasse  von  vollkommener  Har- 
monie ,  das  sonnig  flimmernde  Licht  sommerlicher  Spät- 
nachmittagsstimmung trefflich  charakterisirend ,  wirkte 
das  tonige  Flussbild  des  Schotten  John  Lai'ery  in  Glas- 
gow, das  bei  aller  Wahrheit  der  Erscheinung  einen 
eigenthümlich  poetischen  Hauch  in  sich  trug  und  ent 
schieden  künstlerisch  weit  höher  stand  als  das  von  der 
kgl.   Pinakothek   erworbene :  <  Lawn  -Tennis  -  Platz  > . 

Es  gehörte  mit  unter  jene  Erscheinungen,  die  als 
ein  Charakteristikum  der  .schottischen  Malerei  so  un- 
gemein imponirend  in  den  Vordergrund  traten.  Während 
heute  das  Bestreben  dahin  geht,  durch  die  volle  un- 
gebrochene Lichtwirkung  aller  Dunkclmalerei  das  Genick 
zu  brechen,  wobei  denn  gelegentlich  auch  die  Wahr- 
scheinlichkeit der  Erscheinung  aus  Helligkeits-Principien 


beiseite  geschoben  wird,  ging,  wie  schon  früher  betont 
wurde,  der  Grundzug  der  Schotten  auf  satte,  tiefe 
Farbenstimmung  hinaus.  Sie  schildern  nicht  blos  die 
volle  Tageshelle,  die  übrigens  vermöge  unserer  Aus- 
drucksmittel doch  auch  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  in's  Malerische  übersetzt  werden  kann,  viel- 
mehr fassen  sie  eben  jede  Stimmung  der  Natur  als 
eine  dankbare  Aufgabe  künstlerischer  Eindrucksfähig- 
keit auf  und  treffen  dabei  denn  auch,  wenn  auch  zu- 
weilen nur  in  Form  vollendeter  Tonskizzen,  den  Nagel 
auf  den  Kopf  Ob  übrigens  unsere  modernen  hellen 
Bilder  immer  ihre  Tonscala  gleichmässig  halten  werden, 
das  ist  eine  andere  Frage.  Man  spricht  oft  so  völlig 
unverstandener  Weise  von  der  Braunmalerei  der  Alten. 
Die  Farben  wurden  eben  mit  der  Zeit  tiefer  und  der 
Hass  gegen  die  Braunmalerei  kann  sich  vernünftiger 
Weise  doch  nur  auf  jene  Sucht  einer  nicht  lange  hinter 
uns  liegenden  Zeit  beziehen,  die  jene  Tiefe,  welche 
die  alten ,  ursprünglich  \'iel ,  viel  helleren  Bilder 
durch  chemische  Processe  im  Laufe  von  hunderten 
von  Jahren  bekamen,  nun  sofort  den  neuen  Bildern 
mit  auf  den  Lebensweg  geben  wollten.  Das  war  un- 
richtig   und    verwerflich,    weil    unwahr,    nachgemacht. 


C.  Hoftr.     Geschossener  Bär. 


c 
o 

m 
w 

(D 
Ü 

O 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


49 


Die  Alten  setzten  nicht  umsonst  ihre 
Hauptkraft  an  das  Fresco-Bild,  kannten 
sie  doch  zweifelsohne  die  Ver- 
änderlichkeit des  Stoffes,  wenn 
er  mit  Oelen  und  Harzen 
gebunden  wurde,  wie  wir. 
Wo  aber  haben  bei  den 
Fresken  der  Alten  Nach- 
dunkelungen stattgefunden  ? 
Wo  sie  unter  günstigen  kli- 
matischen Verhältnissen  un- 
serer Zeit  erhalten  geblieben 
sind ,  da  wirkt  ihre  unge- 
brochene P'arbenkraft  heute  .'. 
noch  wie  ehedem;  wer  da 
von  einem  Mangel  an  Licht 
reden  wollte ,  sieht  ent-  :, .» 
weder  von  Natur  aus  oder 
aus  purer  Opposition  nichts. 
Wer  aber  von  der  i  grossen 
Ehrlichkeit »  in  der  An- 
schauung unserer  Tage  im 
Gegensatze  zu  den  alten 
Meistern  spricht,  hat  ganz 
einfach  einen  Dürer,  einen  Holbein  nie  mit  gesunden 
Augen  angesehen.  Durchzöge  unsere  Künstler  durchweg 
jenes  Wahrheit.sgefühl ,   was  jene  hatten,    so  würde  das 


C.  Btniuuiilt  V.  Loe/tn.    Studie. 


Academie  besuchte  —    einen  curiosen  Ein- 
druck   machte,  wenn    einer  der    corrigi- 
renden  Herren  Professoren,  ein  letzter 
Ausläufer  der  Cornelianischen  Zeit, 
während  der  Pause  ruhig  weiter 
corrigirte,     selbst    wenn    das 
Act-Modell  gar  nicht  stand. 
Als    ich    mir    aus    diesem 
Grunde  einmal  die  Bemerk- 
: '-  ung  erlaubte:    «Der  Mann 

hat  aber  ganz  hagere  Beine, 
pCiv        Herr    Professor,     und     ist 
nicht  so  muskulös,  wie  Sie 
ihn    mir    zu    zeichnen    die 
Freundlichkeit  hatten»,  da 
schaute  mich  der  Kunst-Dictator 
älterer    Ordnung    lächelnd   über 
'  sein    goldenes   Brillengestell    hinweg 

an  und  sagte    dann:    «Dünne   Waden, 
mein  lieber  junger  Herr,    die  finden  Sie 
in    der   Antike    nirgends,    und    diese  allein 
kann  den  Maassstab  für  künstlerisches  Figuren- 
zeichnen abgeben».    Da  hatte  ich  denn  mein 
Fett.     Dort,   am  Original  dünne  Beine,   hier 
auf  der  professorlich    corrigirten  Zeichnung    antik  -  dicke 
—  erkläre  mir  Graf  Oerindur,  diesen  Zwiespalt  der  Natur. 
Wie    aber    dieser   wohlwollende  Professor   es   trieb,    so 


:V 


nicht  als  ausübende 
Künstler,  Tausende 
von   Jenen,    die    in 


Wort  «Realismus»  in  der  bildenden  Kunst  als  ein  völlig     treiben  es  eben  noch 
überflüssiges    gelten    können.      Was    aber    das    vielum-     heute,    wenn    auch 
strittene  Wort  «Schönheit»   angeht,  so   ist  dafür  nicht 
von   Künstlern   ein   Canon   aufgestellt   worden ,    sondern 
von  Jenen,  die  Alles,  was  da  gemalt  und  gemeisselt,  von 
echten  Künstlern  ohne  lange  Düftelei  gemacht 
wurde,  in  die  Regel  kalt  berechnender  acade- 
misch-ästhetisirender  Anschauung  geschlagen 
werden    sollte ;    aus    dieser   einzig  und  allein 
lässt  sich  die  Härte  und  Gefühllosigkeit  Derer 
erklären,    die  man  unter  die  Heroen  unserer 
Kunst  zu  rechnen  pflegt ;  sie  haben  freilich  viel- 
fach logisch  besser  überlegt  als  practisch  gut 
gemalt,  da  sie  dabei  natürlich  nur  «schöne» 
Erscheinungen  im  Auge  hatten,  wie  sie  sich, 
genau    auf   Kopf-    oder    Gesichtslängen    be- 
rechnet, mehr  oder  weniger  construiren  lassen. 
Ich   erinnere   mich   sehr  genau,  dass    es  mir 
—  als   ich    in  jungen  Jahren    die  Münchener 


Max  Liebermann.     Skizze. 


50 


DIF  KUNSI-  r.NSERER  ZEFr. 


M»x  LMtrmtHH.     Skise  zu  einem  Bilde:    KindenpielpUtz. 


Sachen  der  Kunst  das  grosse  Wort  reden,  einen  Künstler 
unter  die  Seligen  versetzen,  einen  andern  in  den  tiefsten 
Höllenpfuhl  verdonnern  und  dabei  durchschnittlich  dem 
schwachathmigsten,  unwahrsten  Zeug  ihr  wohlwollendes 
Lob  angedeihen  lassen.  Und  die  gelesensten  deutschen 
Zeitschriften  drucken  dergleichen  Dinge  bona  fide  ab! 
Ich  will  damit  durchaus  nicht  jenen  das  Wort  geredet 
haben,  deren  Schaffensrayon  ausschliesslich  innerhalb 
von  Dingen  liegt,  für  welche  ein  gut  Theil  unserer 
deutschen  Welt  vorerst  wenig  Verständniss  hat,  weil 
sie  vielfach  nicht  blos  mit  einem ,  sondern  mit  zwei 
Füssen  der  inneren  Ueberzeugung  nach  noch  im  Bann- 
kreise der  guten  alten  Zeit  steht  und  all  das  Schlechte, 
was  an  dieser  klebt,  als  geheiligt  anschaut.  Ich  will 
den  Malern,  die,  angeregt  von  Dingen  wie  €  Germinal » 
u.  s.  w.,  sich  der  au,sschlies.slichen  Schilderung  der  Ar- 
beiterclassen  zugewendet  haben  und  darin  die  Beglückung 
der  Kunst  für  die  Zukunft  erblicken,  durchaus  nicht 
den  Lorbeer  a  tout  prix  wünschen.  Aber  sicher  ist,  dass 
wer  charakteristisch  gibt  was  er  malt,  wer  cdie  Glaub- 
würdigkeit der  Darstellung  >  zu  erreichen  versteht,  mit 
Jenen    überhaupt    nicht    verglichen    werden    kann,    die 


ihr  Schaffen  aus  einem  construirend  thätigen  Gedanken- 
gang entwickeln.  Ob  das  Resultat  phantasievoller 
Art  oder  entsprechend  einem  direct  von  der  Natur 
empfangenen  Eindruck  ist,  das  bleibt  sich  ganz  gleich; 
darin  liegt  das,  was  wir  heute  c schön»  nennen,  nicht 
aber  in  einem  philosophisch  abgezirkelten  BegrifTe, 
der  praktisch  keinen  Werth  hat.  Deswegen  ist  die 
Kunst  noch  lange  nicht  dem  Sansculottenthume  ver- 
fallen, wenn  auch  dieses  momentan  die  fal.schcn  Toga- 
Träger  stürzt,  die  vielfach  weiter  nichts  als  künstlerische 
Parvenüs,  ohne  pur  sang,  sind. 

Wir  hatten  glücklicherweise  in  den  letzten  Monaten 
in  München  Gelegenheiten,  an  einer  Reihe  von  hoch- 
bedeutenden CoUectiv- Ausstellungen  künstlerische  Indi- 
vidualitäten total  antipodischer  Art  kennen  zu  lernen. 
Ich  brauche  nur  die  Namen  Max  Klinger  und  Max 
Liebermann  zu  nennen,  von  den  edlen  Arbeiten  eines 
Hildebrand  ganz  abzusehen,  auf  die  gelegentlich  des 
Speciellen  zurückzukommen  sein  wird.  Mochten  sie  auch 
in  ihren  Anschauungen  über  das,  was  künstleri.sches 
Erkennen  und  Streben  bedeutet,  diametral  auseinander 
gehen,  der  eine  zwang  dem  Beschauer  die  gleiche  Acht- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEFr. 


51 


manifestirte  und  Zeugniss  dafür  abgab,  in  welch  intime 

r 

Beziehungen  der  Künstler  zur  Natur  zu  treten  vermag, 
<oferne  er  sich  bescheidet,  im  Rahmen  jener  Art  von 
lebersetzung  zu  bleiben,  die  eben  immer  und  ewig  ein 
Gebot  der  Wiedergabe  bleiben  wird,  so  lange  es  sich 
I  um  Anschaulichmachung  der  aus  den  heterogensten 
Stoffen  bestehenden  Dinge  auf  einer  Fläche  und  mit 
denselben  Malmitteln  handelt ,  so  dass  das ,  was  in 
der  Natur  stumpf,  mit  den  gleichen  handwerklichen 
Medien  dargestellt  werden  muss,  wie  das  was  glänzend, 
jenes  was  nass ,  nicht  unter  Anwendung  anderer  Stoffe 
wiedergegeben  werden  kann  wie  das  was  trocken  ist. 
Wahrheit  verlangt  man  von  jenem  Bilde  am  meisten, 
was,  ohne  künstlerische  Schöpferkraft  in  sich  zu  tragen, 
einfach  ein  Stück  aus  der  Natur  herausgeschnitten  wieder- 
geben soll.  Dass  bei  Liebermann  die  künstlerische  Im- 
pression —  von  dieser  muss  man  bei  ihm  wohl  vor  allem 
anderen   reden,   —  zu  einer  Reife  gediehen  ist,   die   in 


Max  Litiermaitn.     Studie. 

ung  ab  wie  der  andere,  weil  aus  beiden  die  Ueberzeugung 
für  das,  was  sie  schaffen,  herausschaute.  Wir  sind  in 
der  glücklichen  Lage,  einige  Skizzen  von  Liebermann 
beifügen  zu  können,  die  für  seine  Art  ausserordentlich 
charakteristisch  sind ;  von  Max  Klinger  wird  später  des 
Längeren  und  Breiteren  die  Rede  sein  —  leider  freilich 
ohne  Beigaben  .seiner  hochbedeutenden  Arbeiten.  Nun, 
die  werden  zum  guten  Theile  auf  der  Münchener  Jahres- 
Ausstellung  des  Sommers  1891  zu  sehen  sein  und  so 
mag,  wer  in  die  Isarstadt  kommt,  sich  an  den  Originalen 
ergötzen. 

Die  Skizzen  von  Liebennann  illustriren  seine  An- 
schauung, wenn  auch  nicht  nach  allen  Seiten,  so  doch 
in  einigen  wesentlichen  Dingen.  Sie  entstammen  der 
schon  einmal  er\vähnten  Münchener  CoUectiv-Ausstellung 
des  Berliner  Künstlers,  aus  weich  letzterer  auch  ein 
Bild  in  die  Neue  Pinakothek  zu  München  gewandert 
ist  —  das  Beste  freilich  war  es  nicht.  Doch  an  der- 
gleichen gewöhnt  man  sich  mit  der  Zeit.    Dies  nebenbei. 

Und  die  andern  ?  Ja,  das  waren  zum  Theil  äusserst 
bedeutende  Sachen,  in  denen  sich  die  klare  Anschauung 
für  die  greifbare  Wirklichkeit  der  Dinge  aufs  Glänzendste 


Max  Liebermann.     Landschaftliche  Skizze. 


7* 


52 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


manchen  Dingen  ihren  grossen,  grossen  Zauber  hat, 
kann  nur  Der  leugnen,  der  absichtlich  einseitig  sehen 
und  auflassen  uill  (ob  er  es  mit  einem  oft  recht  falsch 
angebrachten  Idealismus  fertig  bringt,  ist  eine  andere 
Frage),  der,  um  es  mit  einem  Worte  zu  sagen,  die 
Kunst  vom  Katheder-Standpunkte  aus  wie  eine  Sammlung 
bereits  aufgespiesster  oder  noch  aufzuspiessender  Käfer 
betrachtet  und  an  Kunstproducten  versucht,  was  der  Ana- 
tom am  Cadaver  thut,  ohne 
sich  um  die  Ps}'che  zu 
kümmern,  die  dem  leb- 
losen Gehäuse  den  Aus- 
druck des  Lebens  verlieh. 

LÄebermamt  ist  als  Maler 
kein  Poet,  wenn  man  das 
Wort  Poesie  dahin  deuten 
will ,  dass  sie  von  Ein- 
drücken der  realen  Welt 
ausgehend,   sich   auf  das 

Gebiet  des  geistigen 
Fühlens  übersetzt  und  da- 
hin ihren  Schwerpunkt  ver- 
legt. Er  hat  jenes  Element 
nicht  in  sich,  das  der 
grösste  französische  Rea- 
list, Zola,  bei  aller  Un- 
geschminktheit in  Dingen 
physischer  Voi^änge,  den- 
noch zum  Ausdruck  zu 
bringen  versteht,  die  be- 
rauschende, die  Sinne  ver- 
wirrende Schönheit  der 
Natur,  wie  sie  sich  z.  B. 
in  der  Schilderung  des 
grossen  Gartens  in  der 
<  Faute  de  l'abbe  Mouret  > 
zeigt.  Auch  ist  ihm  der 
grosse  Wurf  nicht  eigen, 
den  Millct  und  verwandte 

Geister  ihren  einfachen  Gegenständen  einzuhauchen  ver- 
standen. Er  bewegt  sich  —  wenigstens  den  zahlreichen 
Bildern  und  noch  zahlreicheren  Skizzen  und  Studien 
seiner  Ausstellung  nach  zu  urtheiien  —  auf  enger 
begrenztem  Gebiet ,  auch  ist  ihm  weder  die  F'einheit 
eines  Bastun  Lepage  nachzurühmen,  noch  die  wahrhaft 
«schneidige»   Charakteristik   eines  Adolf  Menzel,   er   ist 


Max  Liehermann.     Interieur- Studie. 


kein  Original ,  aber  er  hat  von  Originalen  Vieles  gelernt 
und  hat  ihre  Anschauung  geistreich  erfasst.  Geistreich, 
das  ist  vielleicht  die  hervorstechendste  der  Eigenschaften 
an  seinen  Dingen.  Sie  sind  prickelnd,  sie  spielen  mit 
dem  Zufalle  des  Materials,  sie  haben  etwas  von  der 
Art  des  norddeutschen  Witzes ,  der  treffend  ist ,  ohne 
dass  ihm  eigentlicher  Humor  innewohnt.  Es  ist  ihm 
nicht    um    die    präcise  Form   der  Erscheinung  zu  thun, 

vielmehr  hat  man  seinen 
Sachen  gegenüber  das  Ge- 
fühl, als  wären  sie  in  jenem 
Zustande  gegeben ,  wie 
.sich  die  Natur  zeigt,  wenn 
man  die  Augen  blinzelnd 
schliesst  und  so  alle  line- 
aren Schärfen  gegenüber 
einem  flimmernden  Ge- 
sammteindrucke  völlig  ver- 
schwinden lässt.  Er  ist 
nicht  der  Mann  des  Pho- 
tographenkastens ,  denn 
dieser  giebt  (sofern  er  gut 
ist)  Alles  mit  absoluter 
Richtigkeit  wieder.  Viel- 
mehr beruht  der  Reiz 
seiner  Arbeiten ,  zumal 
seiner  gezeichneten  Blätter, 
auf  jenem  ungewissen 
Etwas ,  was  überhaupt 
Skizzen  oft  interessanter 
erscheinen  lässt,  als  aus- 
geführte Bilder  (ein  Um- 
.stand,  der  u.  a.  die  Mehr- 
zahl der  schottischen  Bil- 
der von  der  1890  er  Aus- 
.stellung  .so  wirksam  er- 
scheinen liess).  Schlies.slich 
beruht  ja  auch  der  Werth 
einer  kün.stlerischen  Aeus- 
serung  nicht  allemal  in  ihrer  minutiösen  Ausführung 
—  sonst  wäre  Balthasar  Denner  der  grösste  Künstler 
und  die  holländischen  Kleinmaler  das  Ideal  unter  den 
Malern. 

LÄcberniann  ist  vor  allen  Dingen  kein  Künstler,  dessen 
Wesen  mit  dem  Boden  verwachsen  ist,  dem  der  Mfcnsch 
entspross.     Er  hat  mit  Vorliebe  sich  an  niederländische 


Kril*  von  l'Ii'l?  pinx. 


Phot.  F.   Hnnfiunncl,  Mönfhfii. 


Portrait. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


53 


Dinge  gehalten,  aber  dass  er  kein  Niederländer  von 
Geblüt  ist,  sieht  man  auf  den  ersten  Blick.  Das  ist  ein 
Umstand,  der  ihn  trennt  von  Jenen,  die  bewusst  oder 
unbewusst  seine  Lehrmeister  waren.  Das  zu  finden, 
was  das  Wesen  eines  ganz  bestimmt  und  in  allen  Dingen 
charakteristisch  abgegrenzten  Landes  bildet,  ist  malerisch 
gleichbedeutend  mit  der  Aufgabe,  schriftstellerisch  den 
Geist  eines  Volkes  und  der  Landschaft,  in  der  es  lebt, 
wiederzugeben.  Es  giebt  in  der  Malerei  ein  bestimmt 
sich  äusserndes  Idiom  wie  in  der  Sprache ,  und  dieses 
kann  nur  Der  beherrschen,  voll  und  der  Wesenheit  der 
Wirklichkeit  entsprechend  beherrschen,  wer  mit  ihm 
ganz  und  gar  verwachsen  ist.  Wie  viele  italienische 
Figuren  haben  wir  nicht  in  den  Producten  unserer 
Novellisten  aufzuweisen !  Man  nehme  solchen  Erschein- 
ungen das  Geschickte  der  Mache,  die  bestechende  Technik 
—  und  es  wird  vom  eigentlichen  Italiener  blutwenig 
übrig  bleiben.  Das  ist  es  eben,  was  die  Franzosen  vor 
Allem  so  sehr  auszeichnet,  dass  sie  in  ihrem  Realismus 
Kinder  ihres  heimathlichen  Bodens  geblieben  sind.  Dort, 
der  Vielbegabte,  hat  in  jedem  Fall,  so  bewundernswerth 
auch  das  Sprühende  an  seinem  Schaffen  ist,  eben  aus 
allen  Figuren,  die  er  schuf,  Franzosen  gemacht.  Seine 
alttestamentarischen  Figuren ,'  ebenso  wie  seine  Tyroler 
sehen  aus ,  als  sollten  sie  <  Allons  enfants  de  la  patrie  > 
zu  singen  beginnen.  Man  könnte  da  allenfalls  de  Neuville 
und  Detaüle  als  Gegenbeispiele  aufstellen ,  weil  sie  den 
deutschen  Soldaten  durchschnittlich  besser  charakterisirten 
als  die  meisten  deutschen  Schlachtenmaler  es  gethan 
haben.  Je  nun,  keine  Regel  ohne  Ausnahme,  so  wie 
diese  zwei  es  zuwege  brachten,  sind  es  freilich  Aus- 
nahmen der  eclatantesten  Art.  Doch  wird  mehr  oder 
weniger  überall  das  specifisch  Nationale  sein  Ueber- 
gewicht  behalten ,  wie  es  z.  B.  in  Fritz  v.  Ultde  der 
Fall  ist.  Doch  —  wozu  das  Alles  in  die  Länge  ziehen. 
Liebermann  ist  eben  Liehermnnn  und  wird  es  bleiben. 
Man  wird  von  ihm  wohl  schwerlich  je  eine  «  Potsdamer 
Wachparade »  zu  erwarten  haben ,  bei  der  die  ganze 
Strammheit  des  militärisch  durchgebildeten  Wesens  als 
am  stärksten  in  die  Augen  fallende  Eigenschaft  auftritt. 
Seine  Arbeiten  wollen ,  wie  schon  gesagt ,  als  das  ge- 
nommen sein,  was  sie  sind,  als  künstlerische  Moment- 
Eindrücke,  selbst  wenn  sie  an  Umfang  gross  sind. 
Vielleicht  entschliesst  er  sich  eines  Tages,  den  weissen 
Hauben  und  grossen  Holzschuhen  Valet  zu  sagen  und 
auf    jene    Bahnen     zurückzukommen ,     die    zuerst    sein 


Ansehen  in  Künstlerkreisen  weckten  und  wie  ein  Protest 
gegen  alles  Hergebrachte  wirkten.  Wenn  mir  dabei 
Eines  vorschwebt,  so  ist  es  das  Bild  «  Christus  im  Tempel », 
ein  Thema ,  das  freilich ,  mit  nicht  weniger  Verneinung 
gegenüber  aller  Tradition,  schon  lange  vorher  Menzel 
behandelt  hat,  und  zwar  ohne  dass  er  von  Aussen  her 
beeinflusst  gewesen  wäre,  denn  damals  gab  es  weder 
internationale  Kunstausstellungen  noch  Photographien, 
aus  denen  man  sich  hätte  Inspirationen    holen    können. 

Und  nun  nochmals  unsere  Bilder. 

Unter  den  deutschen  Arbeiten  der  1890  er  Aus- 
stellung gehörten  vielfach  jene  der  Karlsruher  Künstler- 
Colonie  zu  den  bedeutsamen  Erscheinungen.  So  die  von 
Caspar  Ritter,  dessen  «  Appenzeller  Stickerinnen  »  eine 
feine  grau  abgetönte  Erscheinung  boten,  welche  bei 
alledem  nicht  etwa  farblos  war  und  um  so  überzeugender 
wirkte,  als  der  Künstler  eines  der  Mittel  zum  Zwecke 
nicht  verabscheut  hat,  sorgfältige  Zeichnung  nämlich. 
Ein  Gleiches  gilt  von  der  « Kinderprocession »  von 
Bennewitz  von  Loefen  in  München,  ebenfalls  1890  aus- 
gestellt, einem  Bilde,  das  seinen  künstlerischen  Zielen 
durch  ausserordentliche  Sorgfalt  in  der  Einzelerscheinung 
gerecht  wird.  Dass  man  an  solchen  Aufgaben  scheitern, 
sie  trotz  alles  aufgewendeten  Könnens  zum  Ausdrucke 
der  vollsten  Geschmacklosigkeit  zu  machen  im  Stande 
sei,  das  bewiesen  andere  Lösungen  des  gleichen  Motivs. 
Seitdem  Verhaas  seine  politische  Procession  mit  ganzen 
Colonnen  weissgekleideter  Mädchen  gemalt,  und  zwar 
künstlerisch  vortrefflich  gemalt  hat ,  ist  gar  Mancher 
hinter  die  nämliche  Aufgabe  gegangen  und  dabei  — 
auf  die  schiefe  Ebene  gerathen. 

Von  einer  neuen,  bisher  ungekannten  Seite  zeigte 
sich  (ebenfalls  gelegentlich  der  1890  er  Jahres -Aus- 
stellung) Fritz  von  Ultde.  Während  er  in  seinem  «  Gang 
nach  Bethlehem»  oder  wie  er  das  Bild  später  nannte 
« Dort  unten  ist  die  Herberge »  eine  Arbeit  voll  der 
feinsten  Empfindung  schuf,  sowohl  was  die  Haltung  der 
Figuren  als  auch  die  Tonwirkung  des  Ganzen  betrifft, 
und  damit  eine  Zartheit  poetischer  Anschauung  offen- 
barte, wie  sie  unter  den  «Wahren»  unserer  Zeit  sonst 
kaum  anzutreffen  ist,  gab  er  mit  dem  «Damenportrait» 
eine  Erscheinung,  durchdrungen  von  ganz  unwidersteh- 
licher Anmuth;  es  gewann  durch  die  tiefe  und  kräftige 
Farbe  ausserdem  etwas  so  positiv  Körperhaftes,  wie  er 
es  sonst  nicht  zu  bieten  pflegte.  Das  Portrait  ist  für 
den  Figurenmaler,    was  der  Probirstein   für   das  Metall. 


54 


niK  Kt'NST  UNSERER  ZEIT. 


Einfach  in  der  Anschauung,  ferne  jeder  Pose  hat  dies 
Frauenbildniss  etwas  Herzerobemdes.  Es  klingt  aus 
dem  Ganzen  rein  gar  nichts  vom  c Sitzen»  heraus,  viel- 
mehr wirkt  es,  als  hätte  sich  das  Original  in  lachend 
liebenswürdiger  Stimmung,  ohne  langes  Probiren  und 
Suchen  nach  einer  interessanten  Stellung,  frischweg  auf 
den  Fauteuil  gesetzt,  den  Kopf  auf  den  Arm  ge- 
stützt und  gesagt :  <  So,  Maler, 
jetzt  mach'  mich  halt  wie  ich 
bin,  lang  halt  ich  Dir  nicht 
still !  >  Es  liegt  eine  beneidens- 
werthe  malerische  Unmittel- 
barkeit in  dem  Ganzen  und 
diese  hat,  wenn  auch  in  ganz 
anderer  Weise ,  eine  gewisse 
Ven*andtscha(t  mit  BoUini's 
I  Familie  Brown  > ,  nur  dass  bei 
Uhät's  Bild  der  ganze  Aus- 
druck ein  ungleich  sympathi- 
scherer ist  als  bei  dem  lachen- 
den Cylinderträger,  bei  dem  ich 
immer  fürchtete ,  das  Gebiss 
möchte  gelegentlich  aas  der 
Mundhöhle  fliegen.  Eines  aber 
haben  beide  gemein :  Sie  ent- 
.■^prechen  —  diese  Ueberzeugung 
drängt  sich  unwillkürlich  auf  — 


ganz  gewiss  ihren  Originalen  in  der  Art  der  prägnanten 
Charakteristik  und  sie  bedeuten  deshalb  für  unsere  Zeit 
das  als  Kunstwerk,  was  einer  anderen  Epoche  ein  ganzer 
Olymp  voll  Göttei^estalten  und  construirter  Helden  werth 
war,  allerdings  keine  vom  Style  eines  Böcklin.  Der 
wäre  jener  schulmei.-^terlich  künstlerischen  Zeit  ganz  sicher 
etwas  wahrhaft  Verabscheuen.'^werthes  gewesen. 

Noch  ein  Wort  über  un- 
-cre  zwei  letzten  Bilder,  deren 
eines  von  Joseph  Wopftur  den 
andrängenden  Wogensturm  des 
schwäbischen  Meeres  gegen 
einen  Hafendamm  und  mitten 
in  dem  Wellengebrause  ein 
.Schiff  zeigt,  dessen  Insassen  sich 
bemühen,  Holz  zu  bergen,  das 
!ie  Was-ser  irgendwo  vom  Ufer 
.M-.;L,'cspült  haben.  Da.s  an- 
icrc  hat  Peter  Paul  Müller  in 
München  zum  Autor  und  gibt 
eine  Strandscene  nach  Eintritt 
der  Ebbe,  wo  die  Bewohner 
der  Dünen  damit  beschäftigt 
sind,  all  Das  zu  bergen,  was 
die  Wogen  zur  F"iuthzeit  auf 
den  sandigen  Grund  geworfen 
haben. 


//.  E.  V.  Btrltftek.    Atelier- Ecke. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


55 


HANS  THOMA 


VON 


CORNELIUS    GURLITT. 


'  ine  <£  Künstlernatur »  nennt  man  kurzweg  einen 
Menschen  von  grosser  Eitelkeit,  daher  aufTälliger 
Erscheinung  und  sehr  vielen  unangenehmen  Eigen- 
schaften. Unter  diesen  ist  die  cVerietzbarkeit  >  eine 
der  ausgeprägtesten.  Während  Achilles  nur  an  der 
Ferse  und  Siegfried  nur  an  der  Schulter  verletzbar 
waren,  ist  es  der  künstlerische  Held  der  Salons  grund- 
sätzlich Überali.  Er  ist  Virtuose  auch  im  Uebelnehmen 
und  weiss  sich  darauf  etwas  zu  Gute.  Man  mag  sich 
benehmen  wie  man  will,  er  findet  den  Grund,  warum 
er  gekränkt  sein  kann.  Die  Löwenmähne  schüttelnd, 
die  Mundwinkel  herabziehend  und  das  Haupt  zurück- 
werfend ,  lässt  er  Die  stehen,  die  ihm  doch  schon  das 
dickste  Lob  an  den  Kopf  warfen,  das  sie  auf  Lager 
hatten.  Er  ist  gekränkt!  —  denn  das  Gekränktsein 
steht  der  Künstlernatur. 

Hier  soll  von  einem  Vielgekränkten  anderer  Art  die 
Rede  sein,  von  dem  Maler  Hans  T/ioma.  Vor  mir  liegen 


etwa  hundert  verschiedene  Besprechungen  von  Werken 
seiner  Hand :   eine  keineswegs  anmuthige  Blumenlese. 

tVerzeihet  ihm,  er  ist  ein  Original »  —  das  ist  das 
Merkwort  der  Wohlwollenden  unter  seinen  Beurtheilern. 
Ein  Original  sein  ist  nun  freilich  in  den  Augen  Vieler  ein 
.sehr  zweifelhaftes  Verdienst.  Wenn  es  nur  ein  Original 
der  gewohnten  Art  wäre,  fände  sich  die  Annäherung, 
aber  hier  einem  «sonderbaren»  gegenüber  ist's  schwer, 
die  Lachmuskeln  anzuhalten.  « Der  einzig  in  seinem 
Wahn  -  Genre  Dastehende »  wurde  zunächst  öffentlich 
darüber  belehrt ,  welche  Fehler  er  abzulegen  habe. 
Pec/U  wusste  es  z.  B.  1878  ganz  genau,  worin  diese 
bestanden :  Es  gehe  Thoma  « in  bedauerlichem  Grade 
das  Stilgefühl  ab».  Der  Stil  sei  aber  die  Vorbedingung 
aller  Kunst.  IHloty  und  seine  Schule ,  die  damals  ge- 
feierte Richtung,  aber  hatten  den  Stil.  Sie  hatten  die 
alten  Meister  und  die  alten  Costüme  studirt  und  wussten, 
woran  sie  sich  zu  halten  haben.  Der  Stil  stand  für  sie 
fertig  da,  es  hiess  nur:  Zugreifen!  Aber  Thoma  war 
keck  genug,  von  dem  Stil  nichts  wissen  zu  wollen.  Er 
verschmähte  den  Griff  in's  Fertige  und  suchte  —  nach 
PeclU  —  in  cynischer  Weise  Dissonanzen  auf.  Das  heisst : 
Er  malte  nicht,  wie  man  malen  muss,  im  Goldton,  im 
Accent  auf,  Braun ,  in  den  wohltempirten  Farben  der 
herrschenden  Kunstanschauung.  Er  war  ein  Stilloser, 
ein  Realist.  Damals  warf  man  z.  B.  noch  Liezen-Mayer's 
gleichzeitig  mit  einem  Bilde  Thoma' s  ausgestelltem 
Faustcyklus  allzu  krassen  Realismus  vor,  weil  man  etwas 
Selbstständiges  in  ihm  fand.  Man  muss  sich  eben  ver- 
gegenwärtigen, welches  Urtheil  zu  jener  Zeit  das  geltende 
war.  Vor  zwanzig  Jahren  war  Liezen-Mayer,  der  wohl- 
erzogene, feine,  weiche,  so  tief  in  anempfundener  Deutsch- 
renaissance steckende  Illustrator,  in  den  Augen  der  Kritik 
ein  allzu  kühner  Neuerer  und  dazu  noch  einer,  dem 
wegen  seiner  «Derbheiten»  der  Kopf  gewaschen  wurde. 
Und  neben  seinen  Arbeiten  stand  Thoma  mit  dem  Bilde: 
Adam  und  Eva!  «Ein  ausgezogener  Ladenschwengel», 
sagte  damals  Recht,  «der  sich  mit  einer  Schneider- 
mamsell auf  einer  blühenden  Wiese  bei  Feldmoching 
das  Vergnügen  macht,  Paradies  zu  spielen  1 » 

Mit    solchen   Bildern    durfte    man    der  Kritik    nicht 


56 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


kommen!  Diese  hatte  um  so  mehr  die  Pflicht,  Front  zu 
machen  gegen  das  stillose  Wesen,  als  es  ärgerlicher  Weise 
immer  noch  Leute  gab,  welche  Thoma  bewunderten. 
€  Der  Jude  wird  verbrannt !  sagt  Lessing  —  Thoma  wird 
bewundert !  sagen  gewisse  Leute !  >  so  klagt  ein  Kritiker, 
der  nun  schon  zehnmal  dargethan  hatte,  dass  diese  Be- 
wunderung vor  den  Gesetzen  der  Aesthetik  nicht  Stich 
halte  und  dass  Thoma  <  die  Function  des  Wahnes  in 
malerischer  Verkörperung  >  darstelle. 


«Verschwinde  doch!     Wir  sind  ja  aufijeklfirt; 
Das  Teufekpack,  es  fragt  nach  keiner  Regel! 
Wie  lange  bab'  ich  nicht  am  Wahn  hinausgekehrt. 
Wir  sind  so  Ung!     Und  dennoch  spukt's  im  Tegel  > 

lässt  der  Altmeister  Goethe  den  Allerweltskritiker  Nicolai 
sagen. 

«Dieser  Realismus T,  lehrte  Recht  schon  1872,  ;hört 
auf  ästhetisch  zu  wirken.  In  der  Kunst  handelt  es  sich 
Überhaupt  ganz  und  gar  nicht,  wie  Künstler  und  Publicum 
so  oft  meinen,  um  die  Natur,  sie  ist  nur  ein  unentbehr- 


HaHs  Thema.     Abend. 


liches  Mittel,  das  aber  durch  die  Subjectivität  des  Künstlers 

erst  umgebildet  werden  muss,  um  Kunstwerk  werden  zu 

können !  >     Und   gerade  diese  Subjectivität    fehlte   nach 

Pecht's  Ansicht  dem  Realisten    Thoma. 

«Arm  an  Erfindung,  Geist  und  Schönheitssinn, 
Ein  roh'   Product  in  schmutzgen  Farbentönen, 
Dies  stellst   du  goldumrahmt  als  Bildniss  hin, 
Natur  und  Kunst  gteichmässig  zu  verhöhnen. 
Kennst  du  die  Meister  nicht,  die  echter  Weihe  voll 
Bescheidenheit  mit  klarem  Urtheil  paarten ? 
Von  ihnen  lerne,  was  du  musst  erreichen. 
Eh'   du  der  Welt  dein  Können  wagst  zu  zeigen. 


Und  treibt  dich  unbezwingliches  Gelltet, 
Mit  Pinsel  und  mit  Farben  zu  hantiren. 
So  streiche  Kasten  an  und  Schrein, 
Das  Malen  aber  —  —  das  lass'  sein !  » 

So  dichtete  Einer  als  ;  Die  Wahrheit  im  Namen 
der  Kunst »  Thoma  an  und  sendete  ihm  seine  holperigen 
Verse  durch  die  Post,    natürlich  ohne  sich    zu  nennen. 

Thoma  gehört  also  zu  jenen  Künstlernaturen,  die 
nicht  die  Kunst  des  Sichverletzenlassens  erst  einzu- 
studiren  brauchten :  das  Material  zu  ungezwungener 
Uebung   bot   sich    reichlich.     Sein    ganzes   Leben    und 


UaD4  Thomft  pinx. 


l'hot     f.  Hanf<.tneriK[,   bl&DCheii. 


Sage. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


57 


Schaffen  schien  nur  dazu 
da  zu  sein,  Anderen  An- 
lass  zur  Ent\vicklung  von 
Witz  und  Geist  zu  geben. 
Die  kleine  Bosheit  der 
Welt  hat  er  trefflich  zu 
wecken  verstanden  —  eine 
Leistung,  die  für  ihren  Voll- 
bringcr  etwa  den  Werth 
hat,  wie  das  Herumsto- 
chern in  Wespennestern. 
Es  ist  schwer  sich  vorzu- 
stellen, welche  Summe  von 
Rohheit  und  Ueberhebung 
sich  im  Laufe  der  Zeit 
gegen  einen  Mann  auf- 
bäumt —  blos  weil  er  den 
Fehler  hat,  nicht  so  zu 
sein  wie  die  Andern,  die 
Verstocktheit,  ein  Original 
bleiben  zu  wollen. 

Es   ist   etwa  fünf  bis 


Hans  TTtoma.     Studie. 


richtiger  Freude  auf  das 
an  eine  Ecke  gelehnt 
stehende  Bild  hingewiesen. 
Aber  da  kam  ich  schön  an ! 
Die  Schüler  von  Hübner 
wiesen  mir  nach,  dass  der 
Mann  kaum  einen  Gyps 
zeichnen  gelernt  habe  und 
die  Schüler  von  Pauivels, 
dass  er  kein  Stück  weisse 

Leinwand  wirkungsvoll 
malen  könne.  Sie  hatten 
ja  ganz  recht.  Sagte  doch 
auch  die  Kritik  über  das 
Werk,  es  sei  ein  Ab- 
klatsch eines  lebenden 
Bildes  und  zwar  ein  solcher 
nach  Figuren ,  die  sich 
nicht  zu  einem  Bilde  eig- 
nen; und  eine  andere 
sagte:  die  Figuren  wett- 
eifern, einander  an  Nichts- 
sagendheit   und  Hässlich- 


sechs  Jahre  her,   seit  ich 

Tlwma  selbst  kennen  lernte.  Er  hatte  einige  Bilder  in  keit  zu  übertreffen  und  die  Farbentöne  sind  so  unver- 
Berlin  ausgestellt  und  war  aus  Frankfurt  a.  M.  herüber-  mittelt  schroff  nebeneinander  gesetzt,  dass  man  nur  mit 
gekommen,  um  sich  seinen  Aerger  selbst  einzukassiren ;  Bedauern  sich  von  solcher  Verirrung  in  der  Kunst  ab- 
denn  viel  mehr  Erfolg  war  von  der  Ausstellung  schwer-  wenden  kann !  Die  Dresdner  in  ihrer  bekannten  Gut- 
lich zu  erhoffen:  In  dem  Berlin,  in  welchem  der  Witz  müthigkeit  Hessen  zwar  später  das  Bild  die  Jury  passiren, 
so  stark  ins  Kraut  schiesst  und  das  Eigenartige  so  gar  bewiesen   mir    aber    sofort    mein    Unrecht,    dieses  «Ge- 


«  kleinstädtisch  »  er- 
scheint. Ich  muss 
gestehen ,  dass  ich 
sehr  neugierig  auf 
den  Mann  war.  Ein 
kleiner  Streit  in  Dres- 
den hatte  mich  auf 
Tlwma  aufmerksam 
gemacht.  Dort  hatte 
er  sein  Bild  «Flucht 
nach  Egypten  »   zur 

Ausstellung  ge- 
schickt. Ich  war  zu- 
fällig in  die  Säle 
gekommen,  als  die 
Jury  noch  arbeitete, 
und   hatte   mit   auf- 


Hans  Thoma.     Mainbindschaft. 


schmier»  für  schön 
zu  finden  —  und  als 
ich  es  ihnen  zum 
Trotze  doch  that, 
war's  um  mein  An- 
sehen im  Reiche 
des  Kunstsinns  ge- 
schehen !  Kunst  ohne 
Idealismus  ist  ein 
Unding.  Thoma  ist 
eben  nicht  ideal, 
sondern  Realist! 

Aber  der  Mann 
und  seine  Kunst 
waren  mir  doch  im 
Gedächtniss  geblie- 
ben. Ich  hatte  weiter 

8 


58 


DIE  KUNST  UNSKKKR   ZKIT. 


erfahren,  dass  er  zu  jenen  Leuten  gehöre,  deren  Werke 
oft  von  Ausstellungen  zurückgewiesen  worden  seien. 
Düsseldorf  und  Berlin  theilen  sich  in  die  Ehre,  diess  am 
ausgiebigsten  gethan  zu  haben.  Die  Ablehnung  der  Bilder 
ist  ja  immerhin  schon  eine  Empfehlung,  zumal  wenn  es 
sich  unverkennbar  nicht  um  schwache,  sondern  um  eigen- 
artige Kunstwerke  handelt.  Alle  Commissionen  sind  ihrem 
ganzen  Wesen  nach  für  die  Mittelmässigkeit :  Was  zu 
klein  ist  und  was  zu  gross  ist,  passt  nicht  ftir  sie,  aber 
auch  Das  nicht,  was  zu  weit  rechts  oder  links  sich 
befindet.  Kün.stler  sind  einseitig  und  sollen  es  sein.   Das 


unterscheidet  eben  den  Kenner  vom  Künstler,  dass  dieser 
Vielen  nachzuempfinden  weiss,  während  der  Künstler 
aus  sich  selbst  und  allein  aus  sich  vor  empfinden  soll. 
Er  soll  aus  eigener  Seele  schaffen ,  jener  will  Vieler 
Seelen  erkennen  lernen.  Also  sind  Künstlercommissionen 
doppelt  einseitig.  Sie  möchten,  alle  Welt  schüfe  und 
denke  wie  sie  und  verstehen  es  meist  nicht,  wie  man 
verständigerweise  auch  anders  denken  und  schaffen  kann. 
Ich  war  also  damals,  als  ich  Thoma  persönlich 
kennen  zu  lernen  ging,  neugierig,  in  welcher  Stimmung 
der  Vielgekränkte  sich  wohl  befinden  möge. 


Haut  Tktma.     Charon. 


4  Tliomari)  sagte  der  Freund,  der  mich  mit  ihm 
zusammenführte.  —  >.Thoma,  das  ist  der  gemüthlichste 
Mensch ,  den  Sie  sich  denken  können ;  ein  Mann  wie 
ein  altdeutscher  Ofen  —  —  und  zwar  m  i  t  der 
Ofenbank !  > 

Und  als  ich  unlängst  dem  Maler  mittheilte,  dass 
ich  über  ihn  etwas  veröffentlichen  wollte,  .schrieb  er 
mir:  cEs  könnte  vielleicht  scheinen,  als  lege  ich  zu  viel 
Gewicht  auf  mir  widerfahrene  Zurücksetzungen.  Diesen 
Dingen    gebührt    in    meinem    Leben     nicht    zu    grosse 


Wichtigkeit.  Ich  muss  Ihnen  aber  ausdrücklich  erwähnen, 
dass  ich  mich  nie  als  Märtyrer  gefühlt  habe,  sondern 
das  Glück  hatte,  fast  immer  in  einem  hohen  PVobgefühl 
an  der  Arbeit  .sein  zu  können.  Betrachten  Sie  mich 
nicht  als  einen  allzusehr  unter  dem  Druck  des  Philister- 
thums  leidenden  Künstler.  Ich  war  zwar  still  und  nicht 
unbescheiden,  aber  ein  gewis.ser  Muthwille  Hess  mich 
dem  Philisterthum  gegenüber  gut  Stand  halten.  Das 
Bewusstsein,  dass  ich  .schliesslich  Recht  behalten  werde, 
hat  mich  nie  verlassen !  » 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


59 


Wie  höhnte 
einer  von  TItoma's 
Kritikern  vor  nun 
zwanzig  Jahren  r 
cVielleicht  finden 
spätere  Zeiten 
Thoma  als  genial 

und  bahn- 
brechend. Oder 
ob  er  nicht  doch 
die  Rechnung 
ohne  den  Wirth 
macht?!  » 

Ich  denke,  der 
Wirth  wird  sich 
einfinden !  Die 
Zeiten  Thoma  's 
beginnen  anzu- 
brechen, die 
kleine  Künstier- 
und  Kennerge- 
meinde, die  stets 
an  ihm  mit  auf- 
richtiger Freude 
hing,  die  sich 
durch  die  Kritik 
nicht  einschüch- 
tern liess,  ist  eine 
grosse  Gemeinde 
geworden.       Die 

Münchener 

Kunst  -  Academie  ^y^,,,   ,„„„,„. 

hat  ihn  zu  ihrem 

Mitgliede  gemacht,  äussere  Ehren  und  äussere  Erfolge 
reihen  sich  plötzlich  aneinander.  Im  Frühjahr  1890  fand 
wieder  eine  Ausstellung  T/towa'scher  Bilder  in  Berlin  statt, 
abermals  ohne  Erfolg;  dann  wanderten  die  Bilder  nach 
München  —  36  Stück,  darunter  solche,  die  schon  1875 
dort  zu  sehen  waren.  Plötzlich  ertönte  es  wie  Jubelruf 
durch  die  ganze  deutsche  Presse.  Ein  grosses  Talent  ist 
entdeckt.  Hans  Tlioma!  In  vierzehn  Tagen  wurde  die 
Hälfte  der  Bilder  von  Privaten  aufgekauft.  Schon  1 879 
sagte  Gustav  Flörke,  Thoma' s  Werke  seien  Caviar  für's 
Volk,  auch  für  kritisches  und  künstlerisches.  Aengst- 
lichen  Gemüthern  sei  er  einfach  zu  grün  und  blau  und  für 
ästhetische  Schlafmützen  seien  seine  Engelsköpfchen  viel 


zu  wenig  schön, 
d.h.  conventionell. 
Das  ist  das  Ur- 
theil  eines ,  der 
ein  tieferes  Ver- 
hältniss  zur  Kunst 
hat.  Adolf  Rosen- 
berg erwähnt  in 
den    1000  Seiten 

seiner  « Ge- 
schichte der  mo- 
dernen deutschen 
Kunst »  Thoma 
einfach  nicht.  Das 
ist  auch  ein  Ur- 
theil,  aber  ein  sol- 
ches, an  dem  man 
Herrn  Rosenberg 
abschätzen  kann. 
Wenn  das  Ge- 
kränktsein zum 
Wesen  des  genia- 
len Künstlers  ge- 
hört, so  ist  Tlwma 
kein  solcher.  Wer 
ihn  selbst  oder  nur 
sein  schlichtes  ge- 
sundes Selbstbild- 
niss  sah,  aus  dem 
er  unter  dem  Obst- 
baum stehend  so 
unbefangen  her- 
vorschaut ,  der 
glaubt  wohl  auch  daran,  dass  dies  «  Original »  auch  nicht 
durch  andere  Künstlereigenschaften  glänzt :  Sein  Haar  ist 
von  gewöhnlicher  Länge,  sein  Schlips  nicht  bemerkens- 
werth.  Also  auch  hier  fehlt's  an  der  «  Genialität  » .  Auch 
nervös  scheint  mir  Thoma  nicht  zu  sein ;  Behäbigkeit, 
Behagen  —  das  ist  eher  der  Grundzug  seines  Wesens. 
Das  wäre  ja  Alles  herzlich  gleichgiltig,  wäre  Thoma' s 
Bildern  nicht  immer  wieder  die  Sucht  nach  Genialität, 
nach  Aufsehen  erregenden  «  Di.ssonanzen  1  vorgeworfen 
worden.  Man  sollte  denken,  dass  ein  Mann,  von  dem 
man  glaubt,  er  grübele  den  ganzen  Tag  darüber,  was 
er  denn  Ueberraschendes ,  Neues  hervorbringen  könne, 
auch   äusserlich  etwas    von   dieser  Sucht   zeigen  müsse. 

8* 


niv.iiL..iiz-  Scene. 


60 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEI 1". 


Einst  lud  Thoma  mehrere  Freunde  ein,  eine  eben 
entstandene  Landschaft  zu  betrachten.  Es  war  ein  Blick 
in  das  Meer  hinaus.  Wer  die  Anfang^ründe  der  Lehre 
von  der  Perspective  hinter  sich  hat  weiss,  dass  die  See  in 
der  Feme  scheinbar  bis  zur  Höhe  des  Beschauers  empor- 
steigt und  in  der  Höhe  des  Augenpunktes  als  mit  einer 
Geraden  gegen  den  Himmel  abschliessend  gezeichnet  wird. 
Diese  Linie  nennt  man  den  Horizont.  Thoma  hatte  den 
Horizont  als  leicht  gebogene  Cur\'e  gemalt  so  dass  das 
Meer  gegen  den  Rahmen  zu  sanft  abfiel.  Ueber  diese 
barocken  Gedanken  entstand  allgemeines  KopfschUtteln. 

<  Ich  sehe  das  so!  >  erklärte  Tkama  ganz  ruhig. 
Und  da  Lst  auch  gar  nichts  dagegen  zu  sagen.  Er  sieht 
das  so  und  darum  malt  er  es  so.  Da  mag  nun  wissen- 
schaftliche Kritik  und  kritische  Wissenschaft  beweisen, 
dass  dies  ein  ganz  verkehrtes  Sehen  sei:  Thoma  sieht 
die  Welt  auf  seine  Weise  und  malt  sie  auf  seine  Weise. 
Wem 's  nicht  recht  ist,  der  gehe  weiter.  Er  will  nicht 
so  schaffen,  wie  er  schafft,  er  kann's  eben  nicht  anders. 
Das  ist  sehr  einfach.  Aber  er  will's  auch  nicht  anders ; 
als  er's  kann.  Das  ist  eben  so  einfach  —  aber  das  i.st 
nebenbei  noch  sehr  gross! 

Vor  zwanzig  Jahren  war  das  Streben  nach  Stil  in 
Aller  Mund.  Stil,  wie  ihn  damals  z.  B.  auch  Pecht 
verstand ,  war  die  Uebereinstimmung  eines  historisch 
empfundenen  Kunstwerkes  mit  der  Zeit,  in  die  es  hinein- 
gedacht war.  Das  Bild  eines  Landsknechtes  war  stilvoll, 
wenn  es  aussah  wie  ein  Bild  aus  der  Landsknechtszeit. 
Inzwischen  haben  wir  —  oder  haben  doch  Manche  unter 
uns  —  andere  Ansichten  gewonnen.  Uns  ist  Stil  die 
Uebereinstimmung  des  Werkes  mit  seinem  Schöpfer. 
<  Eine  Individualität  haben,  heisst  Seele  haben  >,  sagt 
sehr  schön  Rembrandt  als  Erzieher,  t  eine  geschlossene 
Individualität  haben,  heisst  Stil  haben».  In  uns  liegt 
unser  Stil,  nicht  in  den  Griechen  oder  in  Tizian.  Als 
man  noch  drau.ssen  in  der  vergangenen  Kunst  nach 
Idealen  suchte,  konnte  man  das  freilich  nicht  verstehen. 
Da  erschien  gerade  die  Individualität  als  stillos.  Die 
«Willkür  war  das,  was  man  vor  Allem  bekämpfte. 
Die  Regel,  das  Gesetz  sollte  den  Stil  machen,  während 
dieser  doch  nur  in  der  Ausgestaltung  der  eigenen 
Empfindung  liegt. 

€  Ich  sehe  das  so  und  male  es  darum  so !  i  das  ist 
das  Räthsel  von  Thoma  s  Kunst.  Langsam  wird  sie  die 
Augen  der  Nation  für  sich  gewinnen.  Andere  werden 
durch    Thoma   auf  eine    neue  Art    sehen    und   die  Welt 


mit  seinen  Augen  betrachten  lernen.  Und  wir  werden 
hierdurch  viel  gewinnen.  Wer  Lust  hat,  an  den  reich 
besetzten  Tisch  sich  mit  zu  setzen,  dem  mögen  die  bei- 
gegebenen Blätter  als  Einladungskarten  und  als  Vor- 
gericht zugleich  dienen.  Wer  aber  seine  Augen  nicht 
umbilden,  Thoma' s  Art  zu  schauen  nicht  entgegen- 
kommen will,  der  bleibe  fem.  Es  wird  nicht  Thoma' s, 
sondern  sein  Schaden  sein. 

Einst  trat  ich  in  Rom  mit  einem  Freunde  öfter  zu 
gemeinschaftlichem  Essen  in  einem  Gasthaus  zusammen. 
Der  Tisch  war  zwar  wenig  reichlich,  aber  vorzüglich 
nach  Landessitte  bereitet.  Mein  Freund  betheuerte, 
nichts  geniessen  zu  können ,  was  nicht  auf  deutsche 
Weise  zugerichtet  sei.  «  Gott  erhalte  dir  die  Dummheit ! » 
dachte  ich.  und  ass  mich  in  die  italienische  Küche  mit 
Behagen  hinein.  Das  Gute  will  eben  auch  erst  ver- 
stehen gelernt  sein! 

Man  hat  Thoma  so  oft  mit  Böcklin  verglichen.  Und 
er  hat  auch  thatsächlich  viel  mit  ihm  gemein.sam.  Schon 
die  Heimath.  Böcklin  stammt  aus  Ba.sel.  Wandert  man 
von  da  vier  Stunden  rheinauf,  an  Säkkingen  vorbei, 
so  kommt  man  an  die  Alb,  einen  vom  Schwarzwalde 
herabströmenden  Bach.  Zwei  Stunden  bergan  ist  man 
in  St  Blasien,  der  alten  gefürsteten  Benedictinerabtei, 
welche  ihre  Kirche  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  einen  cla.ssischen  Tcmf)el  nach  Art  des  Pantheons 
umbildete,  der  1871  schmählich  abbrannte.  Und  dann 
noch  eine  Stunde  weiter  —  dann  ist  man  in  Bernau. 
Dort  oben,  zwischen  Hochkopf  und  Feldberg,  wurde 
T/ioma  1839  geboren.  Schon  herrscht  hier  die  Alpen- 
wirthschaft.  Zur  Sommerszeit  steigt  das  Vieh  auf  die 
Berghalden,  welche  dunkle  Tannenwälder  einfassen.  Es 
ist  grün  dort  oben ,  .sehr  grün.  Die  Wiesen  strotzen 
von  saftigem  Gras  und  blinken  im  überreichen  Blumen- 
.schmuck,  die  Luft  ist  klar  und  rein.  Wohl  schwerlich 
sagte  irgend  ein  Kritiker,  der  vom  sorgenvollen  Amt  des 
Urtheilens  über  anderer  Menschen  Denken  und  Sehen 
Erholung  suchend  sich  dort  hinauf  verliert,  dass  ihm 
die  zwischen  mit  Schindeln  gedeckten ,  gruppenweise 
stehenden  Häuser  vorleuchtenden  Matten  zu  saftgrün, 
dass  ihm  die  Blumen  zu  bunt ,  die  Forellenbäclie  zu 
blinkend  und  die  Libellenflügel  zu  schillernd  seien.  Er 
mag  es  in  Zukunft  auch  Thoma  nicht  übel  nehmen, 
dass  er  noch  heute  die  Eindrücke  seiner  Jugend  malt, 
ganz  harmlos,  ganz  ohne  Absicht  etwas  hinzuzuthun, 
so  wie  er  sie  aufnahm :  also  seine  grüne  Heimath  grün. 


Hans  Thoitin  pitix. 


Phol.   F    Huif«i,ienitl,    Müiichpn. 


Musik. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


61 


Da  sah  ich  ein  Bild 
von  ihm,  einen  t  Sonntag- 
nachmittag > .  Die  Kühe 
weiden,  die  Hirten  im  Hemd- 
ärmel liegen  rauchend  auf 
der  Matte,  das  Thal  zieht 
sich  zwischen  bewaldeten 
Bergen  hin.  Das  ist  so  ein- 
fach, dass  die  ganz  Ge- 
scheidten ,  die  das  Bild 
sahen,  sofort  sagten:  Da 
steckt  'was  dahinter!  Hier 
ist  ein  Einfluss  von  Corot, 
Cazin  oder  gar  von  Courbet 
zu  bemerken. 

Aber  solche  Bilder  malte 
Tlwma  schon,  ehe  er  1869 
nach  Paris  ging,  ehe  ihm 
dort  an  der  Unmittelbar- 
keit der  Alten,  wie  an  der 
Freiheit  der  Neuen  klar 
wurde,  dass  ihn  c  die  deut- 
.schen  Professorenbilder  und 
Kunstvereinsliebhabereien  gar  nichts  angingen».  Von 
Cazin  hat  er  kaum  etwas  gesehen.  Aber  Courbet  machte 
ihm  einen  tiefen  Eindruck.  Er  hat  Thoma  von  allen 
neueren  Malern  am  stärksten  angeregt,  er  war  t  fast  der 
einzige  der  modernen  Franzosen,  den  er  ohne  besondere 
Schwierigkeit  in  sich  aufnehmen  konnte  > .  Das  in  Courbet 
wirkende  Streben  nach 
unbedingter  Naturwahr- 
heit, der  Hass  gegen 
die  abgenützten  Ideale, 
die  kühne  Hinwegsetz- 
ung über  die  alten  Kunst- 
regeln —  das  musste 
Thoma  bestärken,  bei 
seinen  Wegen  zu  blei- 
ben. Ihm  war  Courbet 
«  kein  Franzose  » ,  wäh- 
rend schon  Daubigny, 
Corot  und  Andere  na- 
tionaler erschienen ;  er 
näherte  sich  vielmehr 
der  für  alle  Maler  gil- 
tigen Auffassung,  jener 


//ans  TAama.     Studie. 


//ans   Thoma.     Hexentanz. 


Unmittelbarkeit  der  Beob- 
achtung, die  Thoma  ebenso 
stark  bei  den  Altdeutschen 
und  Altitalienern  antraf. 
Auch  dort  empfand  er  «prä- 
rafaelitisch  » .  Nicht  das 
Fertige,  zum  Stil  Gestei- 
gerte lockte  ihn,  sondern 
das  unmittelbar  Empfun- 
dene, das  starke  Erfassen 
der  Eigenart.  Nicht  Tizian 
und  Rafael,  sondern  Man- 
tegna  war  sein  Mann.  Er 
suchte  nicht  nach  Vorbil- 
dern, sondern  nach  Gleich- 
strebenden. Er  verlor  sich 
daher  nicht  an  die  Alten 
oder  an  Courbet,  sondern  er 
fand  sich  in  ihnen  wieder. 
Auch  Böcklin  hat  ähn- 
liche Erfahrungen  an  sich 
gemacht  und  darin  liegt 
eine  zweite  Verwandtschaft 
mit  Thoma.  Beide  mussten  erst  mit  der  alten  Kunst 
gebrochen  haben,  um  sich  ihrer  Ziele  vollkommen  be- 
wus.st  zu  werden.  Beide  sind  Schüler  W.  Schirmer  s. 
Thoma  s  Weg  zur  Freiheit  war  aber  der  schwerere. 
Nachdem  er  durch  das  im  Schwarzwalde  heimische 
Uhrenmachergewerbe ,     durch    seine    Lehre    bei    einem 

Schildermaler  in  Furt- 
wangen das  Malen  im 
Handwerklichen  erlernt 
hatte,    soweit    man   es 

eben  dort  erlernen 
konnte,  kam  er  1859 
nach  Karlsruhe,  wo  die 
eigentliche  Lehrzeit  erst 
beginnen  sollte.  Thoma 
hält  seinen  Lehrer  in 
dankbarer  Erinnerung. 
Er  war  der  Einzige,  der 
ihn  in  seiner  damals 
schon  ausgesprochenen 
Eigenart  schätzte.  Bei 
seinen  späteren  Lehrern 
empfand  er  immer  etwas 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH'. 


von  einer  Dressur,  die  ihn  etwas  Anderes  machen  liess, 
als  was  ihm  die  Seele  bewegte.  Man  versteht  dies  sehr 
wohl.  Schirmer  war  selbst  ein  Künstler,  der  von  innen 
heraus  sich  entwickelt  hatte.  Er  war  von  der  schlichten 
Naturbeobachtung  au^egangen,  ehe  er  ein  Idealist,  ein 
Mann  der  classisch  componirten  Landschaft  geworden 
war.  Und  am  wohlsten  war  ihm  immer  gewesen,  wenn 
er  ein  Stück  Natur,  etwa  einen  gesunden  Baum,  ohne  viel 
Umschweife  malen  konnte.  Später  war  er  unter  die 
c  Geistreichen  >  gegangen.  Er  mochte  jetzt  den  jungen 
Schwarzwäldler  um  seine  Unbefangenheit  beneiden,  der 
alle  Sommer  sich  wieder  nach  Bernau  setzte  und  Bernau 
mit  voller,  reiner  Freude  an  der  heimischen  Natur  malte, 
der  froh  war,  da  und  dort  ein  kleines  Bild  verkaufen 
zu  können,  und  im  Winter  sich  unten  in  Karlsruhe  den 
Kopf  darüber  zerbrach ,  warum  seine  doch  so  redlich 
studirten  Arbeiten  so  gar  anders  aussahen  als  die 
anderer,  berühmterer  Maler. 

Und  so  ging  es  fort  bis  1870,  elf  lange  Jahre  mit 
einer  kurzen  Unterbrechung  durch  eine  Reise  nach 
Düsseldorf  —  wo  Thoma  rundweg  ausgelacht  wurde  — 
und  nach  Paris.  Immer  zog  es  ihn  wieder  nach  Bernau, 
wo  er  neben  seinen  Landschaften  nun  auch  Figuren  zu 
malen  anfing.  Hierin  mag  doch  wohl  Paris  auf  ihn 
gewirkt  haben.  Er  musste  alsbald  herausfühlen,  dass 
er  geistig  zu  den  Männern  der  c  paysage  intime  >  trotz 
nationaler  Verschiedenheit  in  naher  V^er^^andtschaft  stand, 
zu  jenen ,  die  eine  ganz  auf  das  eigene  Empfinden  be- 
zogene Stimmung  in  der  Landschaft  sahen  und  malten, 
die  den  «  bedeutenden  Sujets  »  aus  dem  Wege  gingen, 
um  im  Einzelnen  treu  und  in  der  Durchdringung  des 
Dargestellten  mit  ihrem  Eigenwesen  gross  zu  sein.  Die 
Schlichtheit,  Gesundheit,  der  Ernst  und  die  wahrhaft 
dichterische  Stimmung  dieser  Bilder  standen  in  einem 
zu  auffälligen  Gegensatz  zu  jenen  nachempfundenen, 
literarisch  anerzogenen  Gefühlen,  welche  selbst  Sciärmer 
antrieben ,  die  Bibel  landschaftlich  zu  illustriren ,  wie 
Preller  es  mit  der  Od>'ssee  gethan  hatte. 

Auch  nachdem  Thoma  in  Italien  gewesen  war  —  in 
München  und  in  Frankfurt  a.  M.  lebend  —  hat  er  immer 
wieder  Bernauer  Landschaften  gemalt,  wie  die  ihm  geistes- 
vervvandten  Franzosen  ihren  Wald  von  Fontainebleau 
malten.  Thierzüchter  haben  herausgefunden .  dass  die 
Race  der  Nachkommenschaft  auch  bei  späteren  Würfen 
sich  nach  dem  Vater  des  ersten  richtet,  dass  sie  <  zurück- 
fällt».    Auch    bei    Thoma   war   die    erste    künstlerische 


Befruchtung  die  mas.sgebende  fürs  Leben.  An  seinen 
Bildern  aus  der  Campagna  kann  man  in  erster  Linie 
sehen,  was  einem,  der  mit  ganzer  Seele  Bernauer  ist, 
an  der  Umg^end  der  ewigen  Stadt  gefällt!  Nämlich 
das,  was  ihn  heimathlich  anzieht.  Das  Fremde  muss  er 
erst  verarbeiten ,  das  Gemeinsame  ergreift  ihn  alsbald 
mit  Macht.  Drunten  am  Rhein,  am  Fusse  seiner  Berge 
liegt  Säkkingen,  das  an  Tlwma's  Landsmann  Scheffel 
mahnt.  Als  der  nach  Capri  kam,  dichtete  er  in  Schwarz- 
waldstimmung.  Goethe  machte  in  Rom  die  Hexenscene 
des  Faust.  Grosse  geistige  Erregungen,  wie  sie  Italien 
den  Künstlern  bietet,  rühren  den  Grund  ihrer  Seele  auf 
Bei  Thoma  stiessen  sie  auf  die  Heimath,  auf  Bernau,  auf 
Waldwiesen  voller  Blumen,  so  voll,  dass  er  sie  alle,  jede 
einzeln,  malen  musste,  und  wenn  die  Kritik  zehnmal 
predigte,  solche  Blumen  seien  eigentlich  nur  Zufällig- 
keiten der  Natur  und  der  diese  als  Ganzes  crfas-sende 
Künstler  habe  daher  im  Sinne  einer  höheren  Charak- 
teristik von  ihnen  zu   {  abstrahircn  >. 

So  befestigte  TItoma  im  Süden  sich  in  seinen  An- 
sichten. Ein  Getühl  der  Ruhe  und  Sicherheit  kam  über 
ihn.  Die  Wege,  die  er  ging,  konnten  keine  Irrwege 
sein,  weil  es  .seine  eigenen  Wege  waren.  V.x  hatte 
erkennen  gelernt,  dass  man  nur  auf  fremden  Wegen  sich 
verlaufen  kann. 

Aber  die  italienische  Reise  brachte  ihn  in  eine 
andere  Stellung  zur  Figur.  Bisher  war  Thoma  im  Wesent- 
lichen Landschaftsmaler  gewesen,  der  seinen  Bildern 
nach  Schirmer' s  Vorgang  <  bedeutungsvolle  Staffage  c 
zu  geben  wusste;  das  hdttt,  er  hatte  die  Bernauer  mit- 
gemalt, die  ihm  während  der  Studien  über  die  Land- 
schaft liefen.  Oder  er  malte  den  Jugendfreund,  der  sich 
müht,  aus  dem  auf  seinem  Schoosse  liegenden  Volks- 
liederbuch die  Weise  auf  der  Geige  zu  finden,  oder  den 
Dorfältesten,  der  nun  nur  noch  am  ersten  und  letzten 
Werk  des  Menschen  schafft,  am  D.isein. 

Seitdem  Lessing  sich  den  folgeaschweren  Gedanken 
in  den  Kopf  setzte,  es  sei  die  Hauptsache,  die  Grenzen 
der  einzelnen  Künste  kennen  zu  lernen  und  daher  alle 
zünftigen  Kritiker  nun  die  Kunst  als  eine  Art  Wabenbau 
ansahen,  in  der  die  einzelnen  Bienen  oder  Hummeln  jede 
für  sich  gezüchtet  werden  —  seitdem  hat  man  Begriff 
und  Wort  « Genre »  erfunden.  Thoma  wurde  also  Land- 
schafts- und  Genremaler.  Das  ging  noch  an,  denn  es 
gab  viele  Beispiele  dieser  Art. 

Aber    er   wurde    auch    Historienmaler.      Das    trug 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


63 


sich,  wie  mir  scheint,  etwa  so  zu.  Die  Bernauer  sind 
Holzschnitzer,  Uhrmacher  und  Viehzüchter;  das  Hand- 
werkliche berührte  sich  dort  eng  mit  dem  Bauernthum. 
Bäuerlich  —  nicht  bäurisch  —  ist  auch  Thomas  Land- 
schaft. Er  sieht  die  Natur  mit  der  Liebe  zum  Boden 
an ,  welche  der  allein  hat ,  der  den  Bodenwerth  recht 
bemessen  kann.  Die  fette  Wiese,  das  dampfende  Feld, 
der  dichtbestandene  Wald,   der  fischreiche  See  —  das 


ist  seine  Natur.  Er  schätzt  sie  nicht  als  Sommerfrischler, 
sondern  als  Einheimischer;  nicht  als  Zugvogel,  sondern 
als  Sesshafter.  Aber  das  Stück  Natur,  welches  er  kennt, 
das  redet  auch  anders  zu  ihm  als  zu  Anderen.  Ihm  sind 
Wald  und  Quelle,  die  durch  die  Baumgipfel  streifenden 
Wolkenfetzen  und  all  das  Gethier  der  feuchten  Wiese 
liebe  Vertraute,  die  mit  ihm  sprechen  in  seiner  alleman- 
nischen    Weise    —    bernauischer    Mundart.      Sa^je    und 


Hans  Tkoma.     Christus  am  Oelberg. 


Volksmärchen,  halbverklingende  Accorde  aus  fremdem 
Träumen,  die  sich  in  der  Seele  unbewusst  festklammern 
—  sie  alle  zusammen  wurden  ihm  im  Künstlerherzen 
zum  Bilde.  Das  ist  dann  nicht  eine  Nixe  und  nicht 
eine  Nymphe,  nicht  der  Teufel  und  nicht  ein  Satyr, 
nicht  eine  Hexe  und  nicht  Persephone,  die  er  malt. 
Er  weiss  es  selbst  nicht,  wer  es  ist,  das  Mädchen  mit 
den  träumenden  Augen  am  Quell,  das  mit  Blumen  spielt, 
die  Kinder    mit    Schmetterlingsflügeln,    die   die   Dolden 


der  Butterblumen  ihr  in's  flatternde  Haar  zerblasen,  der 
Jüngling,  der  tiefgebeugt  am  Quell  trinkt.  So  etwas 
sieht  man  eben  nur  in  der  Natur,  wenn  man  dort  oben, 
so  nahe  dem  Himmel  geboren  ist.  Und  hat  man's 
gesehen,  so  kann  man  die  Luftgebilde  nicht  fragen : 
Wer  bist  du?  Wie  heisst  du?  Wohin  des  Wegs?  Sie 
halten  nicht  Stand.  Nein,  da  heisst's  still  sein,  ganz 
still,  und  die  Augen  weit  aufreissen,  von  ganzer  Seele 
schauen  1      Bis   man   sieht,    dass  einem   die   Augen   zu- 


64 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEIT. 


gefallen  sind  und  dass  man  geträumt  hat.     Und  als  es 
dann  Thoma  drängte  zu  malen,  was  er  draussen  gesehen 
hatte,  da  sagten  die  Kritiker:  cNun  pfuscht  er  gar  in  die 
Historienmalerei  hinein,  ohne  auch  nur  annähernd  die  ge- 
nügende wissenschaftliche  Vorbildung  dazu  zu  besitzen  1  > 
Später  hat  Tkoma  auch  <  Mytholc^sches  >  gemalt: 
Einen  Charcn,  einen  derben  bärtigen  Gesellen,  der  über 
ein   schauerliches  Meer   einer    unerkennbaren  Welt  ent- 
gegenrudert.    Die  Kritik    warf  ihm    vor,    seine  Todten 
seien  c  2^rrbilder,  Träume,  wie  sie  aus  dem  Magen  eines 
Riesenkatzenjammers   kommen » .      Th.  Grosse   malte   in 
seinem  Bilde  der  Ankunft 
der  Todten   in   der  Dres- 
dener  Gallerie  diese   alle 
als  Leute  von  blühendster 
Gesundheit.      Nun    kann 
man  ja   darüber   streiten, 
ob    wir    nach    der  Aufer- 
stehung sehr    frisch    oder 

katzenjämmerlich  aus- 
sehen, zumal  wenn  eben 
die  Fahrt  über  den  wogen- 
den Styx  und  in  die  Unter- 
weit, nicht  in  den  Himmel 
führt.  Mir  will  aber  schei- 
nen, als  sei  Thomä's  Auf- 
erstehung unmittelbarer 
empfunden ,  wenn  die 
Grosse' s  gleich  mehr  im 
Sinne  der  zünftigen  Histo- 
rienmalerei ist 

Und  das  ist  typisch  für 
unsem  Maler.  Er  dichtet 
sich  seine  Götterlehre  eben 
um  ein  Stück  weiter,  ganz 
wie  Böcklin.  Und  geht  bei 
diesem     die     Fortbildung 

etwas  ins  Phantastische ,  in  eine  grosse  Welt  der  Un-  und  brillante  Energie,  die  dumpfe,  graue  Weichheit  des 
geheuer  und  Naturkräfte  hinein,  so  bleibt  es  bei  Tlioma  Tones  rühmend  an  und  waren  voller  Lobes  für  Thoma. 
im  Märchenhaften,  Sinnigen.  Aber  auch  er  sieht  ge-  Die  Deutschen  sahen  all  dies  in  dem  deutschen  Bilde 
legentlich    ein   <  Meerwunder » .      Dann    ist's    ein   kleiner      nicht,  weil  es  ihnen  nicht  stilgerecht,  d.  h.  nicht  italienisch 


//./»/    Thema.     Krauenfigur  mit   Amor. 


besten  liebsten  Menschen,  die  er  kannte,  in  ihrem  besten 
liebsten  Ausdruck  mit  seiner  besten  Kunst  in  die  ihm 
liebste  Natur  hinein;  nicht  schön  frisirte  Berufsmodelle, 
denen  man  für  ihren  Apostelkopf  eine  Mark  die  Stunde 
Sitzung  zahlt.  Vielleicht  that  er  dies,  weil's  dort  billiger 
ist,  sicher  aber,  weil's  ihm  seelisch  vertrauter  war,  Bernau 
in  seiner  höchsten  Steigerung  als  heilige  Geschichte 
darzustellen.  Man  klagte  über  diese  Profanität,  weil 
man  nicht  sah,  dass  hier  ein  innerlich  Frommer  das 
was  ihm  die  Kindesseele  erschüttert  hatte,  mit  einfacher 
Redlichkeit  zur  Schau  brachte.     Ihm  war  das  Göttliche 

einfach  die  Steigerung  des 
ihn  umgebenden  Mensch- 
lichen. So  hatten  es  An- 
dere auch  gemacht,  näm- 
lich die  alten  Maler  des 
15.  Jahrhunderts.  Aber 
J'hovta  hatte  den  unver- 
zeihlichen Fehler,  seinen 
Heiligen  einen  « unhisto- 
rischen Zug  »  zu  geben : 
Sie  sahen  trotz  aller  vor- 
schriftsniässigcn  Kleidung 
eben  nicht  Leuten  aus 
diesem  15.,  sondern  sol- 
chen aus  dem  19.  Jahr- 
hundert gleich.  In  seiner 
€  heiligen  Familie  3> ,  die 
am  Waldbach  ausruht, 
während  Engel  ein  Blatt 
voll  Was-ser  herbeitragen 
und  der  E.sel  am  Acker- 
rande weidet ,  erkannten 
französische  Kritiker  die 
Ruhe,  Zurückhaltung  und 
die  Stärke  des  geistigen 
Accordes,  die  Delicatcsse 


Bub,  der  verdutzt  in  die  Welt  hineinschaut  und  dessen 
liebe  Einfalt  die  brüllenden  Seekerle  als  etwas  ganz 
Besonderes  verschreien. 

Dann   wieder   schuf  er  Heiligenbilder.     Die   waren 
der  Welt  nicht    fromm    genug,    denn    Thoma  malte    die 


genug  war.  Sie  sahen  ihr  Ideal  noch  in  der  Ferne; 
dem  Thoma  aber  steht  es  nahe  zur  Seite,  es  begleitet 
ihn  durchs  Leben. 

Und    eben.so    ging's    mit    den  Bildnissen   Thonia's, 
die  so  gar  eigenartig  und  so  gar  einfach   sind,    wie  die 


m 

CO 
© 

M 
O 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


65 


Cranach's.  Der  ganze  geistige  und  farbige  Ton  war 
der  Welt  unverständlich.  Es  war  das  Alles  so  ruhig, 
so  aus  dem  Vollen  heraus,  nicht  witzig  sondern  heiter, 
nicht  poetisch  sondern  gemüthreich,  nicht  erhaben  sondern 
einfach,  nicht  raffinirt  sondern  empfunden.  Vor  Allem 
war's  aber  nicht  gelehrt,  ohne  Fussanmerkungen,  ohne 
Bezugnahme  auf  die  Classiker  und  die  Geschichte,  kaum 
recht  «gebildet»,  sondern  frei  erdacht,  erträumt,  ersonnen. 
Man  kann  Thoina's  Bilder  hausbacken  nennen,  trotz  ihrer 
« cynischen  Dissonanzen  ,  aber  sie  sind  gebacken  an 
dem  Herde,  an  welchem  die  Heimchen  zirpen  und  an 
denen  die  Grossen  unserer  Nation  zu  Hause  sind.  Haus- 
backen in  diesem  Sinne  ist  auch  Dürer. 

Alles  in  Allem:  Thoma  war 
und  ist  nicht  wie  die  Andern. 
Er  gehört  nicht  einer  Schule  an, 
sondern  sich.  Das  ist  sein  Ver- 
brechen, welches  meist  bestraft 
wird  mit  Missachtung  und  Ver- 
gessenheit; tritt  es  allzu  öffent- 
lich hervor,  sogar  mit  schärferen 
Mitteln. 

So  kam's  denn,  dass  eines 
Tages,  als  Tlioma  wieder  die  Er- 
gebnisse einer  Sommerreise  in 
seine  Heimath  in  Karlsruhe  aus- 
stellte, zahlreiche  Mitglieder  des 
Kunstvereines  eine  Eingabe  an 
ihren  Vorstand  unterschrieben 
und  einreichten,  um  Thoma  ein 
für  allemal  das  Ausstellen  zu  ver- 
bieten. Ein  junger  Mann,  der 
sich  um  die  Ermahnungen  der 
grössten    Sachverständigen    von 

Karlsruhe  nicht  kümmert,  der  eigensinnig  seine  falschen 
Anschauungen  beibehält,  der  die  in  ihn  gesetzten  Hoff- 
nungen absichtlich  nicht  in  Erfüllung  bringen  zu  wollen 
scheint  —  ein  solcher  Mensch  ist  auf  der  Ausstellung 
nicht  zu  dulden.  Bilder,  selbst  schlechte,  sind  ja  an  sich 
eine  sehr  harmlose  Sache.  Ja,  gegen  schlechte,  d.  h.  un- 
bedeutende Bilder  haben  die  Kunstvereine  auch  noch 
nie  etwas  gehabt.  Sie  leben  ja  von  ihnen.  Aber  wo 
sich  beim  Künstler  ein  solcher  Dünkel  zeigt,  dass  dieser 
mit  dem  meist  einstimmig  «  per  Acclamation  »  gewählten, 
also  sicher  im  höchsten  Grade  sachverständigen  Vor- 
stande grundsätzlich  verschiedene  Ansichten  vertheidigen. 


Hant  TTioma,     St.  Christophorus 


ein  Original  sein  will  —  dann  'raus  mit  dem  Kerl! 
Der  Kunstgeschichte  werden  wohl  die  Namen  jener 
Herren,  welche  eine  solche  Eingabe  schrieben,  nicht 
unverloren  bleiben.  Man  braucht  sie,  um  ein  Schlag- 
wort zur  Bezeichnung  ähnlicher  Menschen  zu  haben. 
Wir  wären  um  einen  ganz  bezeichnenden  Ausdruck 
ärmer,  hätte  man  den  Namen  des  Herostrat  thatsächlich 
verschwiegen ! 

Das  war  kurz  vor  dem  grossen  französischen  Krieg, 
und  wenn  der  Waffenlärm  der  kriegsgerüsteten  Völker 
gleich  den  Lärm  der  Vereinsmitglieder  zur  Ruhe  kommen 
Hess,  so  zog  Thoma  doch  vor,  seinen  Stab  weiter  zu 
setzen.     Er  ging  nach  München,   wo  mehrere  Künstler 

sich  seiner  annahmen,  so  vor 
Allem  der  schon  Ende  1871  ver- 
storbene Victor  Müller.  Dort  auch 
lernte  Thoma BöcklinV&ww&xi, nun, 
nachdem  er  selbst  ein  vollständig 
gereifter  Künstler  geworden  war. 
Dort  durfte  er  doch  wenigstens 
ausstellen,  ihm  war  nicht  ver- 
boten, sein  inneres  Schauen  der 
Welt  zu  zeigen,  und  wenn  die 
Versuche,  dies  zu  thun,  auch  hier 
ihm  meist  Spott  einbrachten,  so 
führten  sie  ihm  doch  einen  Käufer 
für  die  in  Karlsruhe  verfehmten 
Bilder  zu  —  freilich  einen  Eng- 
länder, also  einen  Mann  des 
(Spleen».  Ein  Deutscher,  doch 
ein  in  Liverpool  in  englisches 
Wesen  Eingelebter,  kam  als 
weiterer  Förderer  hinzu,  Herr 
Minoprio,  der  im  Laufe  der  Zeit 
eine  grös.sere  Anzahl  von  Bildern   Thoma's  erwarb. 

So  kam  es  denn  auch,  dass  Thoma,  der  nun  nach 
Frankfurt  übergesiedelt  war,  dort  Freunde  und  durch 
Wandmalereien  und  andere  dem  Bedürfniss  angepasste 
Arbeiten  eine  bescheidene  sichere  Existenz  sich  ge- 
schaffen hatte,  in  England  den  ersten  wirklichen  Erfolg 
hatte.  Im  Juni  1 884  veranstalteten  dortige  Kunstfreunde 
eine  Ausstellung  seiner  Bilder  im  Liverpooler  Kunstclub. 
Zweiundsechzig  Bilder  waren  aus  englischem  Besitz 
zusammengebracht. 

<  Thoma  steht  allein  unter  den  lebenden  deutschen 
Malern*,   sagte   der   Kritiker   der   Liverpool  Daily  Post 

9 


66 


ÜIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


vom  19.  Juni,  cdenn  er  ist  gänzlich  frei  von  den  Con- 
ventionen  der  deutschen  Schulen  .  .  .  Die  auffallendste 
E^enschaft  in  Thoma"!  Werken  ist  die  völlige  Abwesen- 
heit der  Manier». 

Das  ists,  was  auch  uns  Moderne  an  Thoma  erfreut. 
Aber  wie  kam's,  dass  in  England  die  Leute  diese  Eigen- 
schaft rühmend  erkannten  und  dass  z.  B.  in  Berlin,  dem 
Mittelpunkt  der  Intelligenz,  namentlich  aber  unzweifelhaft 
dem  Mittelpunkt  der  historischen  Kunstkritik,  kein  Mensch 
Thoma  für  voll  nehmen  wollte? 

Das  kommt  daher,  weil  wir  noch  Systematiker  sind. 
Es  geht  alles  hecrdenweise  bei  uns  dem  Geläute  der 
Grundsatze  nach.  Wenn  ein  Mann  mit  recht  lauter 
Glocke  in  eine  Hürde  vorausgeht,  welche  etwa  Impres- 
sionismus heisst,  dann  läuft  Alles  mit.  Nun  ist  erst  das 
Gebiet  des  Ereiiichtmaiens  bis  auf  die  Wurzeln  abzu- 
grasen, dann  steht  man  und  schaut  um,  ob  nicht  ein 
grosser  Mann  komme,  der  nach  dem  nächsten  grünen 
Wiesenfleck  führt. 

.Aber  wehe  dem,  der  allein  dorthin  geht,  ganz  still 
und  unbesorgt,  i  Das  gilt  nicht ! »  schreien  dann  gleich 
Alle.  Das  ist  Individualismus,  das  ist  ein  Original,  also 
ein  Narr  1  Narrheit  i.st  gefahrlich:  dem  muss  die  Polizei 
das  Handwerk  legen,  denn  er  frisst  uns  ja  Alles  vor  der 
Nase  fort,  während  wir  bescheiden  warten,  bis  Jemand 
unsere  Grundsätze  soweit  geändert  hat,  dass  wir  mit- 
essen dürfen. 

Die   Engländer   haben   eben   in   ihrer  Kunst   schon 
eine  Läuterung  durchgemacht,    die  noch  vor  uns  steht, 
dass  .«sie  das  Eigenartige  über 
das     Gesetzmässige     in    der  -^ 

Kunst  stellen,  oder  richtiger, 
dass  sie  den  Künstler  mehr 
schätzen,  der  sich  .seinen 
Stil  macht,  als  den,  der  in 
einem  fremden  noch  so  Glän- 
zendes lei-stet.  Sie  wollen 
einen  Men.schen  im  Bilde  er- 
kennen, nicht  eine  Schule. 
Dort  ist  man  schon  .seit 
den  50er  Jahren  modern, 
während     bei     uns    erst     in 


den  60er  Jahren  die  rechte  Rcnaissancemalerei  losging. 
Dort  gilt  aber  vor  Allem  die  Naivität.  Wir  haben 
sie  verloren.  Naiv  kann  man  sich  nicht  machen.  Eis 
ist  die  Widerspiegelung  der  Unschuld,  die  man  von 
Gott  mit  auf  den  Lebensweg  bekommt  und  die  man 
nur  einmal  verlieren  kann.  Selbst  wenn  man  die  Naivität 
allzu  ängstlich  pflegt,  geht  sie  dahin.  Wer  sie  zurück- 
finden will,  erlangt  nur  ihr  Zerrbild.  Die  Gcnremaler,  die 
kindlich  sein  wollten,  die  Bauernmaler,  die  bieder  sein 
wollten,  die  Historienmaler,  die  classisch  sein  wollten  — 
alle  sind  sie  gleich  überzuckert ,  gedrechselt ,  gestelzt, 
gleich  unwahr  in  der  tiefsten  Tiefe  ihrer  Seele.  Sie 
glauben,  über  ihrem  Gegenstände  zu  stehen  und  merken 
nicht,  wie  weit  unter  ihm  sie  stehen.  Naiv  ist  nur  Der, 
welcher  mitten  drinnen  steht,  der  nicht  überlegt  und  grübelt, 
ob  er  das  Rechte  thue,  sondern  nie  daran  gezweifelt  hat, 
dass  anderes  Thun  überhaupt  für  ihn  unmöglich  sei. 

Ich  halte  Tlwuia  keineswegs  für  einen  ungewöhn- 
lich glänzend  begabten  Künstler.  Viele  deutsche  Maler 
wüsste  ich  zu  nennen,  deren  Können  ich  über  seines 
stelle.  Aber  eines  hat  er  mit  Wenigen,  leider  sehr 
Wenigen,  gemein:  Dass  er  sich  nie  hat  beirren  lassen, 
dass  er  sich  sein  Leben  hindurch  selbst  treu  blieb.  Seine 
Bilder  können  Anderen  eine  Schule  sein ,  wie  sie  es 
machen  und  wie  sie  es  nicht  machen  sollen.  Denn 
wer  Thoma  nachahmen  will,  muss  Tliotna  sein.  Jeder 
Andere  erkenne  an  ihm,  dass  er  anders,  aber  eben 
so  treu  gegen  sich  selbst  malen  muss.  Die  starke 
Eigennatur  ist's,  die   Thoma  mir  so  lieb  macht. 

Möge  es  bald  dahin 
kommen,  dass  man  ihn 
überall  recht  verstehen  lerne. 
Ich  sage :  recht  ver- 
stehen lernen.  Das  heisst 
in  dem  Sinne,  in  dem  er 
bedeutend  ist,  und  der  da 
heisst:  Kampf  den  Schul- 
meinungen und  den  Heer- 
den  -  Stilen  und  Sieg  dem 
innersten  Wesen  unserer  Na- 
tion, dem  Herausbilden  des 
Eigenartigen. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


67 


BLIND. 

Novelle  von  R.  v.  Seydlitz. 


•J^lendcnd  leuchtete  die  Sonne  ni  den  Bogengang 
'^p  am  Schlossgarten ;  der  kühle  Wind,  der  von  den 
Bergen  wehte,  duftete  nach  Schnee.  Unten  im  Thale  blühte 
der  erste  Frühling,  aber  droben  an  den  blauverschleierten 
Felsenzinnen  sass  noch  der  zerfetzte  Winter  in  den 
Winkeln :  der  spiegelnde,  schmelzende  Schnee  flimmerte 
über  den  Tannengehängen. 

Es  war  ein  eifriges  Rauschen  in  der  Natur;  der 
Bach  schäumte  geschäftiger  als  sonst;  die  Fliegen 
summten  ihr  erstes  Lied  nach  langem  Schlaf  und  sonnten 
sich  an  den  Mauern.  Und  durch  die  F'öhren  links  im 
Garten  strich  hauchend  ein  gleichmässiges  Gesau.se.  Es 
sollte  wieder  Sommer,  wieder  Leben,  wieder  Liebes- 
weben werden  auf  der  Erde! 

Im  Bogengänge,  auf  einer  Bank,  sass  eine  junge 
Frau,  halb  traumverloren  vor  sich  hinstarrend;  wohl 
wärmte  auch  sie  die  Sonne,  aber  tief  drinnen  wohnte 
ihr  ein  harter  Winter,  der  keine  Hoti'nung  bieten  wollte, 
dem  kein  Frühling  drohte. 

Sie  hatte  ein  bescheidenes  Gewand,  und  ihre  Haltung 
war,  als  fröstelte  sie.  Tiefe  Trauer  hing  um  das  bleiche 
GesicTit. 

Vor  ihr  auf  und  ab,  den  langen  Gang  hin  und  her, 
wandelte  ein  alter  Herr.  Er  wandelte  ruhelos  schon 
seit  zehn  Minuten,  ohne  aufzublicken.  Ein  seltsamer 
Gegensatz  zu  seiner  jungen  Besucherin! 

Der  Herr  des  Schlosses,  das  ehedem  eine  Bene- 
dictinerabtei  gewesen,  war  weit  und  breit  bekannt  durch 
seine  Eigenart.  Er  liebte  es,  daheim  in  einem  violetten 
langen  Gewände  einher  zu  gehen,  das  vielleicht  zu  seiner 
Umgebung  stimmte,  denn  es  sah  aus  wie  das  deshabille 
eines  Kirchenfürsten;  aber  dazu  wollten  die  Stiefel  eben- 
sowenig passen,  als  die  Hauskappe  und  die  türkische 
Pfeife.  Der  letzte  der  Grafen  von  Altmann  war  in  der 
Gegend  als  Original  verschrieen.  Aber  das  dankte  der 
alte  einsame  Herr  lediglich  seinem  violettseidenen  Schlaf- 
rocke. Denn  im  Uebrigen  war  er  ein  beliebter,  grund- 
braver und  einfacher  Mann,  der  seine  Pflicht  als  Grund- 


herr so  weit  als  möglich  auffasste  und  Kirche  und 
Schule ,  Districtsfeuerwehr  und  Landtagswahlen  auf's 
Wärmste  sich  angelegen  sein  Hess  —  ein  Fürst  seines 
kleinen  Gebietes,  soweit  es  der  Staat  erlaubte  —  und 
ein  Diener  seines  Landes ,  soweit  seine  gutsherrliche 
Würde  es  gestattete.  Wer  einmal  in  den  Bannkreis 
seiner  Fürsorge  getreten  war,  der  blieb  darin,  und  zwar 
meist  zu  seinem  Heil ;  das  waren  alles  seine  Kinder, 
und  ihr  Schicksal  war  der  Inhalt  seines  sonst  einsamen, 
familienlosen  Lebens. 

So  auch  das  junge  traurige  Weib  da  auf  der  Bank, 
die  Frau  seines  besonderen  Schützlings,  des  Malers  Hans 
Eggmühl. 

Mit  dem  ersten  Frühlingswehen  war  sie  plötzlich 
zu  ihm  hereingeschneit  und  hatte  in  bitterster  Noth 
einen  Hülferuf  an  ihn  gewagt.  Er,  der  Graf,  hatte  sie 
heute  zum  ersten  Male  gesehen,  denn  ihr  Mann  gehörte 
zu  den  wenigen  Schützlingen  des  Grafen,  die  sich  in 
undankbarer  Verbitterung  von  ihm  gewandt  hatten.  Der 
Graf  hatte  seinen  einstigen  Freund,  seinen  Kunstprotege, 
auf  den  er  so  grosse  Stücke  gehalten,  seit  vielen  Jahren 
nicht  mehr  gesehen. 

Wies  das  alte,  herrliche  Schloss,  die  berühmt  schöne 
Kirche  und  Alles  was  drum  und  dran  hing,  den  edelsten 
Kunstgeschmack  auf,  waren  jalte  Bilder  feinsinnig  restau- 
rirt,  ehrwürdige  Säulen  und  Plafonds  wieder  hergestellt 
und  die  herrlichen ,  weitläufig  behaglichen  Räume  mit 
den  schönsten  Sammlungen  von  Waffen,  Zinn  und  Glas 
museenartig  erfüllt,  —  so  war  dies  Alles  dem  ehemals 
treuesten,  eifrigsten  jungen  Kunstfreunde  des  Grafen  zu 
danken,  Hans  Eggmühl,  dem  grossen  kühnen  Coloristen, 
dem  scharfspähenden  Sammler  und  gewiegten  Kenner 
in  allerlei  Kunst. 

Und  der  Graf  hatte  es  ihm  wohl  gedankt;  reich- 
lich, ja  fürstlich  gedankt:  nicht  nur  mit  Gold  —  denn 
von  diesem  Metall  hatte  Hans  nur  dann  einen  hohen 
Begriff,  wenn  es  in  edler  Ciselirung  ein  Kunstwerk 
schmückte  —  sondern   mit  Rath   und  That,   mit  einem 

9« 


68 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Gefühl,  das  vielleicht  nur  den  Namen  Freundschaft  ent- 
behrt hatte,  um  wahre  Freundschaft  zu  sein. 

Durch  ihn,  den  kunstsinnigen  Grafen,  war  Hans 
emporgehoben  worden  —  mit  einem  Schlag  empor- 
gehoben —  zur  Anerkennung,  zu  Ruhm  und  Namen. 
Ausbau  und  Ausschmückung  des  Schlosses  war  sein 
wohlbekanntes  Werk ;  die  Bilder  in  den  Sälen ,  die 
Cartons  zu  den  gemalten  Fenstern,  die  bewundemswcrth 
prachtvollen  Malereien  in  der  Schlosskirche,  die  Restau- 
rirungen,  die  Sammlungen  —  Alles,  Alles  war  EggmUhl's 
Werk  gewesen. 

Gewesen.  Denn  seit  einem  Jahrzehnt  wollte  er 
weder  den  Namen  des  Grafen  je  wieder  hören ,  noch 
vom  Schloss,  seinem  Werk,  je  etwas  wissen.  Diese 
Episode  seines  Lebens  —  so  hatte  der  Künstler  un- 
weigerlich, souverän  beschlossen  —  war  ausgelöscht  und 
abgethan  für  immer! 

Aber  da  sass  nun  trotzdem  seine  Frau,  in  all  ihrem 
Harm,  in  aller  ihrer  quälenden  Sorge,  und  forderte  stumm 
eine  Antwort  auf  ihre  Nachricht,  die  sie  gebracht. 

Und  diese  Nachricht  hatte  in  einem  Worte  gegipfelt, 
das  sie  zuletzt ,  flüsternd  fast  vor  Bangen ,  herausge- 
stossen  ....  Das  Wort  war  im  Bogengänge  verhallt, 
und  seitdem  war  es  still  geworden. 

Der  alte  Herr  war  aufgestanden  und  hatte  sein 
Hin-  und  Hergehen  begonnen,  ohne  zu  antworten.  Sie 
sass,  demüthig,  zagend,  aber  ohne  Hoffnung,  mit  ge- 
senktem Blicke  regungslos  da. 

Nur  die  Natur  ringsum  rauschte  und  webte  gleich- 
müthg  weiter;  weisse  schneeentsprossene  Wolken  flogen 
über  die  klare  Sonne  und  die  Gräser  zitterten  im  stoss- 
weisen  Winde,  der  durch  die  Föhren  hauchte. 

Jenes  letzte  Wort  der  Frau  aber  hatte  gelautet: 

—   i  Unheilbar !  »  — 

Frau  Ottiiie  sah  zu  Boden ;  so  sah  sie  auch  nicht 
was  in  den  Zügen  des  alten  Herrn  vorging.  Es  arbeitete 
heftig  darin  ;  am  alten,  warmen  Herzen  riss  ein  mächtiges 
Weh.  Die  schönste  Zeit  seines  spätem  Lebens,  der 
Verkehr  mit  dem  genialen  Jungen,  dem  Hans,  —  flog 
an  seiner  Erinnerung  vorüber.  Wieviel  gemeinsame 
Freude  am  Schönen,  und  was  mehr  für  ihn  war,  wie- 
viel Freude  am  Schaffen  seines  jungen  Freundes  hatte 
er  damals  erlebt!  Wie  hatte  er  das  seltene  Glück  ge- 
fühlt, das  ihm  so  geboten  war,  —  einmal  den  fürst- 
lichen Mäcen  im  alten  Stile  zu  spielen!     Und  wie   edel 


hatte  der  Künstler  dies  aufgefasst!  Arm,  wie  er  ge- 
kommen, hätte  Hans  am  liebsten  bleiben  mögen,  wenn 
Graf  Altmann  ihm  nicht  förmlich  Alles  aufgedrungen  hätte. 

Und  dann,  als  vieljährige  Arbeit  das  Schloss  und 
die  Kirche  zu  jenem  vielbewunderten  Juwel  an  Kunst- 
werth  und  harmonischem  Geschmack  umgewandelt  hatte, 
als  Alles  beendet  war  und  Eggmühl  sich  dauernd  in  der 
Stadt  niederliess,  um  für  die  weite  Welt  zu  schaffen  — 
da  war  langsam  die  Entfremdung,  das  Missverständniss, 
die  —  ja ,  es  war  nicht  anders ,  man  musste  es  so 
heissen  —  die  unbegreifliche  Undankbarkeit  und  Ueber- 
hebung  gekommen;  der  völlige  Bruch  war- eingetreten 
und  Graf  Altmann  hatte  seinen  liebsten  Schützling  völlig 
verloren.  Wenn  die  Zeitungen  nichts  von  ihm  meldeten, 
er  erfuhr  nichts  mehr  von  ihm.  Und  die  Zeitungen 
hatten  seit  Jahren  ganz  von  Hans  Eggmühl  ge- 
schwiegen 1  Nicht  einmal  von  EggmUhl's  Heirath  hatte 
der  Graf  gehört;  denn  die  Bekannten  des  alten  Herrn 
wussten  um  den  Bruch  und  schwiegen  gegen  ihn  über 
den  ungetreuen  Schützling.  cMag  ihn  satt  geworden 
sein ;  die  Künstler  sind  auch  so !  Sie  treiben's  danach. 
Und  Eggmühl  vor  Allem;  Grössenwahn,  wissen  Siel 
Wenn  er  nur  besser  malte.  Aber  das  Zeug — »  cEben, 
das  ist's:  endlich  sind  dem  Grafen  die  Augen  aufge- 
gangen !>  cAh,  pardon,  nein;  denn  sehen  Sie:  was  er 
draussen  im  Schloss  gemalt  hat  ist  himmelhoch  besser 
als  Alles  seitdem.  Merkwürdig:  plötzlich  hat  das  Talent 
nachgelassen».  €  Oder  die  Augen.  Denn  ich  höre,  er 
leidet.  Gestern  sagte  mir  Einer,  Eggmühl  wird  blind». 
cMag  sein;  sieht  nimmer  recht  die  Farben.  Armer 
Teufel!» 

Ja,  armer,  unglücklicher  Künstler!  Das  Gerücht 
sprach  wahr.  Er  wurde  blind.  Langsam  senkte  sich 
eine  dunkle  Wolke  vor  seinen  Blick,  und  löschte  den 
überquellenden  Reichthum  der  Farbe,  das  ganze  selige 
Leben  des  Lichts  nach  und  nach  aus,  das  seine  Freude, 
sein  Glück ,  sein  ganzes  Sinnen  und  Fühlen  gewesen 
war.  Er  wurde  blind ;  und  der  Arzt  hatte  es  zur  armen 
Frau  zuerst  gesagt  —  nicht  zu  ihm !  —  das  eine  herz- 
brechende Wort:   c Unheilbar!» 

Und  t  Unheilbar  I  »  murmelte  jetzt  der  Graf,  endlich 
stehen  bleibend,  vor  sich  hin ;  erschüttert  und  tief  traurig 
wiederholte  er  das  düstere  Wort,  als  wie  den  Schluss 
einer  langen  Gedankenkette,  die  rathlos  wieder  zu  ihrem 
Anfang  zurückgekommen  war. 


Co 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


69 


Dann  lehnte  er  sich  mit  dem  Rücken  an  eine  der 
Säulen,  und  stand  noch  einen  Augenblick  sinnend  da, 
den  Blick  auf  die  Frau  geheftet,  ehe  er  begann. 

Mehr  wie  je  sah  er  jetzt  einem  Kirchenfürsten  ähnlich : 
das  ernste,  faltige  Gesicht  mit  dem  weissen  Haarkranz, 
der  schimmernde  Talar,  in  dessen  Falten  der  Wind 
wehte;  und  dahinter  die  zierliche  Reihe  der  gelblichen, 
sonnig  beleuchteten  Säulen,  durch  deren  Abstände  der 
kühle,  blendend  frische  Vorfrühling  hereinleuchtete. 

Endlich  begann  er,  —  förmlich  und  höflich,  denn 
er  war  aus  einer  höfischen  Zeit,  —  c Madame!  — 
Glauben  Sie  mir,  das  schwerste  und  bitterste,  was  ich 
durch  Ihre  traurige  Nachricht  empfinde,  ist  nicht  das 
Bewusstsein  des  Unheils  selbst,  und  auch  nicht  die  Unmög- 
lichkeit ernstlich  zu  helfen,   sondern  eine  Selbstanklage». 

Sie  sah  verwundert  zu  ihm  auf.  Sie  verstand  nicht .... 

c  Ich  weiss  kaum ,  ob  Sie  das  fassen  können :  ich 
empfinde  in  diesem  Augenblick  eine  Schuld,  die  ich 
am  Unglück  Ihres  Mannes  habe.  Ich  begünstigte  nicht 
nur  sein  Schaffen  in  einer  für  ihn  sonst  unerreichbar 
gewesenen  Weise,  sondern  ich  hegte  und  pflegte  in 
ihm  seine  Eigenart,  —  seine  Vorzüge  und  Fehler. 
Vielleicht  —  die  Letzteren  zu  sehr!  —  Mir  ist  bekannt, 
dass  er  hoch  von  sich  denkt.  Ich  liebte  das  an  ihm; 
jetzt  zittere  ich,  dass  dies  sein  Unglück  war.  Nannte 
ich  ihn  einst  mit  Freuden  hochsinnig  —  jetzt  fürchte 
ich ,  dass  die  Welt  vielleicht  zu  grossen  Anschein  von 
Recht  hat,  wenn  sie  ihn  —  hochfahrend  nennt.  — 
Aber»  —  fuhr  er  abbrechend  fort,  indem  er  von  der 
Säule  fort  auf  sie  zu  trat,  —  c  das  Alles  sage  ich  um- 
sonst; —  Ihnen  schwebt  jetzt  die  Frage  auf  den  Lippen: 
Was  soll  mir  das.'  Ich  bitte  Dich  um  Brod  und 
Du  bietest  mir  einen  Stein!  —  Genug  darum  von  mir; 
und  zu  ihm !  Ihr  ehrenvolles  Vertrauen,  das  Sie  hierher 
trieb,  fordert  Antwort.  Sie  kamen,  wie  ich  verstand, 
ohne  ihm  das  Ziel  Ihrer  Fahrt  zu  verrathen?» 

« Er  weiss  nichts  davon ;  ein  Besuch  bei  einer  Ver- 
wandten gab  den  Vonvand»,  sagte  sie. 

«So  bedarf  es  also  noch  immer  eines  Vorwandes? 
Er  darf  nicht  wissen ,  dass  Sie  hier  sind  ?  —  Wissen 
Sie  auch,  warum  er  mich  nicht  mehr  kennen  will?» 

«Er  scheint,  schon  ehe  ich  ihn  das  erste  Mal  sah, 
von  Ihnen,  Herr  Graf,  gänzlich  getrennt  gewesen  zu 
sein.  Selbst  dass  er  hier  viel  für  Sie  arbeiten  durfte, 
habe  ich  erst  später  erfahren.  Selten  sprach  er  mir 
von  Ihnen,  und  das  immer  in  —  in  —  » 


«  Feindlichen  Ausdrücken,  —  das  kann  ich  mir  leider 
denken  > . 

«Und  dennoch,  Herr  Graf,  trotz  jener  bittern  Miss- 
stimmung, gewann  ich  allmählich,  ich  weiss  nicht  wie, 
das  Gefühl,  dass  —  dass  —  » 

«Ich  nicht  so  arg  bin»,  ergänzte  der  Graf  lächelnd. 
«Ja,  gute  Frau,  Ihr  Herz  hat  wahr  gesprochen.  Wenn 
bei  irgend  Jemandem,  so  können  Sie  bei  mir  anklopfen 
in  Ihrer  Noth;  ich  bin  der  Mann  dazu.  Aber  ob  ich 
der  Mann  bin,  der  Ihnen  das  bieten  kann,  was  Sie  sich 
vielleicht  denken,  —  das  ist  eine  andere  Frage.  Noch 
haben  Sie  —  und  das  ehrt  Sie  hoch  I  —  mir  nichts  als 
die  traurige  Thatsache  mitgetheilt,  aber  keinen  der 
Wünsche,  die  Sie  anspornten,  mich  aufzusuchen.  —  — 
Was  kann  nun  unter  dem  drohenden  Unheil  Ihnen 
Beiden  nützen  ?  —  Haben  Sie  Kinder  ? »  unterbrach  er  sich. 

«  Eines  »  . 

«Hm.  —  Wie  ich  Hans  kenne,  wäre  er  nicht  im 
Stande,  Geld  anzunehmen  —  » 

Die  Frau  fuhr  lebhaft  auf,  der  Graf  beeilte  sich, 
weiter  zu  sprechen :  « Das  ich  ihm  auch  nicht  bieten 
würde.  Denn  wer  Mittel  hat  zu  helfen,  weiss,  dass  die 
wahre  Hülfe  nicht  mit  Geld  gebracht  wird.  —  Ich 
nehme  nun  an ,  dass  Ihnen  aber  mit  Recht  bange  vor 
der  Zukunft  ist,  in  der  er  nichts    —    verdienen  kann  ? » 

Die  Frau  antwortete  nicht,  aber  eine  Thräne  zog 
langsam  über  ihre  Wange  hinab.  Verdienen !  Lieber 
Himmel,  —  er  hatte  lange,  lange  nichts  mehr  verdient ! 
Die  schwer  umstrickende  Schuldenlast  —  wäre  sie  vielleicht 
weniger  schrecklich,  wenn  er  sein  Augenlicht  behielte? 
Würde  er  später  je  wieder  das  Glück  haben ,  das  ihn 
so  lange  geflohen?  Ach,  es  war  ja  nur  zu  klar:  er 
hatte  den  Contact  mit  der  Weit  verloren ,  ein  Dämon 
führte  ihn  seit  langem  in  der  Irre ,  über  seine  Werke 
schüttelte  man  den  Kopf  und  über  ihn  als  Künstler  war 
lange  der  Stab  gebrochen  worden. 

«Gut  also!»  sagte  der  alte  Herr,  jetzt  neben  ihr 
auf  die  Bank  sich  setzend.  « Hierüber  sind  wir  im 
Reinen.  Da  er  nun  voraussichtlich  —  aufhören  wird, 
seine  Kunst  zu  üben ,  was  dann  ?  —  —  Er  war  ja  ein 
wackerer  Musiker;  ist  er's  noch?    Sollte  das  nicht — ?» 

Frau  Ottilie  zuckte  die  Achseln  und  seufzte  schwer. 
«  O  ja »  ,  sagte  sie  dann,  « freilich  treibt  er  Musik.  Ach 
—  wenn  er  das  nicht  hätte  —  was  sollte  ihn  dann  noch 
beruhigen,  trösten  und  erheben?  Was  sollte  ihm  helfen, 
die  bitteren  Stunden  zu  überwinden,  in  denen  er  .... » 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH'. 


Der  Graf  horchte  gespannt ;  es  klang,  als  sollte  der 
Schluss  lauten:  in  denen  er  reuig,  verzweifelt  sich  selbst 
anklagt.  Aber  das  konnte  nicht  sein;  dazu  kannte  der 
alte  Herr  seinen  ehemaligen  Schützling  zu  gut.  Der 
und  Selbstanklage!  — 

c  Sehen  Sie,  Herr  Graf,  sein  Gemüth  ist  verdüstert. 
Er  ist,  wie's  die  Welt  nennt,  ner^•ös  —  bis  zur  Wild- 
heit, bis  zur  Zerrüttung  alles  Friedens». 

c Gegen  Andere?     Oder  auch  gegen  Sie?» 

c  Gegen  mich  zumeist  ....-> 

Sie  sagte  es  leise,  fast  beschämt.  Aber  sie  hätte 
mehr  sagen  sollen ;  denn  zu  dem  drohenden  Unglück 
der  Erblindung,  zu  dem  Schreckgespenst  der  Noth,  kam 
noch  ein  Drittes,  das  Schwerste  für  sie.  Ihr  Verhältniss 
war  nachgerade  ein  unleidlich  -  unfriedliches  geworden; 
ihr  Leben  an  seiner  Seite  nar  verdüstert  und  furcht- 
durchblitzt.     Er    war    ihr    längst    zum    Peiniger ,    zum 

Schrecken  geworden. Aber  davon  Hess  sie  nichts 

verlauten.  Das  ging  nur  sie  an:  wusste  sie  doch,  dass 
all  das  in  seiner  Krankheit  wurzeln  musste;  —  und  so 
trug  sie  es  still  und  schweigend. 

<  Also  5 ,  fuhr  der  Graf  fort .  nachdem  er  sie  einen 
Augenblick  forschend  beobachtet,  i  bleiben  wir  einen 
Moment  bei  der  Musik.  Als  Sie  mir  vorhin  das  Un- 
glück erzählten,  war  der  Gedanke  mein  erster:  Gott  sei 
Dank,  er  ist  ja  .Musiker!  Und  der  erste  Gedanke  ist 
immer  der  beste.  Der  zweite  ist  meist  weniger  gut: 
ich  hatte  wenigstens  einen  solchen  zweiten  Gedanken, 
dem  ich  kein  günstiges  Zeichen  ersehe?. 

j  Wie  ?  >  fragte  sie,  da  er  .schwieg. 

cNun,  ich  dachte  —  aber  das  ist  nun  nicht  mög- 
lich, da  er  von  mir  nichts  wissen  will.  —  ich  dachte 
daran,  dass  unser  alter  Organist  pensionirt  werden  muss, 
und  ich  Ersatz  schaffen  soll  s . 

«Herr  Graf>,  sagte  sie  erschrocken,  eich  weiss, 
dass  Ihre  Meinung  gut  ist   —  > 

cAber,  dass  er  nicht  annehmen  würde,  wie?» 

cEher  —  glaube  ich,  verhungert  er!» 

«Nun,  nun,  nur  nicht  so  tragisch.  Ich  sagte  ja, 
der  Gedanke  war  ungünstig.  Kann  es  übrigens  be- 
greifen ;  auch  ohne  den  Hass  gegen  mich :  in  der  Kirche 
sitzen  zu  müssen,  die  er  au.sgemalt,  —  blind,  in  tiefster 
Nacht,  an  der  Orgel,  die  er  verzieren  iiess  —  auf  der 
er  mir  so  manches  Stücklein  Ett  oder  Palcstrina  vor- 
gespielt —  um  jetzt  den  Hauerntölpeln  eine  Messe 
drauf  zu  spielen  1  —  Nein,  der  Gedanke  war  unglück- 
lich.   —   Ich  werde  eben  dem  Herrn  Anatol  Peternik  in 


Neutitschein  schreiben,  dass  er  angenommen  ist;  ge- 
schickter Spieler,  sehr  tüchtig;  hat  leider  sieben  Kinder 
und  soll  viel  trinken.     Aber  —  » 

Er  unterbrach  sich.  Am  Ende  des  Säulenganges 
war  ein  Diener  erschienen   und  verbeugte   sich  wortlos. 

Der  Graf  stand  auf. 

c  Sehr  im  rechten  Moment  1  Wir  werden  zum  Essen 
gerufen;  sperren  Sie  sich  nicht,  Madame,  speisen  Sie 
ruhig  mit  mir;  wir  wissen  in  unserer  Angel^enheit  nicht 
weiter,  —  da  ist  es  das  Beste,  eine  Pause  zu  machen. 
Nach  Tisch  kommt  uns  vielleicht  ein  besserer  Gedanke». 

»  Herr  Graf  —  > 

f  Keine  Umstände»,  rief,  heiter  werdend,  der  alte 
Herr,  cund  fürchten  Sie  kein  Tete-ä-tcte  mit  mir;  ich 
habe  den  Pfarrer  geladen  und  meinen  alten  Oberförster». 

c  Ich  möchte  doch  —  ich  muss  um  sechs  Uhr  auf 
der  Bahn  sein  > ,  brachte  sie  scheu  hervor. 

«Nun  Ja,  beim  Himmel,  jetzt  ist's  ein  Uhr;  ich 
gedenke  doch  nicht  bis  fünf  zu  tafeln?  Und  in  einer 
Stunde  bringt  Sie  der  Wagen  —  Uebrigens »  unterbrach 
er  sich,  —  «wie  sind  Sie  gekommen?  Zu  Fuss?  O,  dann 
lasse  ich  Sie  zur  Rihn  fahren». 

« Ich  danke,  Herr  Graf;  ....  ich  möchte  wieder 
zu  Fuss  gehen  .  .  .  . » 

«Warum  denn?>   fragte  er,  hochlich  verwundert. 

Sie  wurde  venvirrt  und  roth.  Endlich  sagte  sie, 
nach  sichtbarem  Entschluss:  «Sie  werden  es  mir  nicht 
mi.ssdeuten.  Ich  möchte  nicht,  dass  Ihr  Kutscher  oder 
gar  ein  Diener  am  Bahnhof  zusieht,  wie  ich  in  die  — 
dritte  Klasse  steige». 

Einen  Augenblick  sah  er  ernst  auf  sie,  dann  bot 
er  ihr  die  Hand :  « Ich  verstehe  Sie ,  Madame.  Ich 
schätze  Sie  hoch.  —  —  Aber  trotzdem  haben  Sie  Zeit, 
bei  mir  zu  speisen.    Das  ist  eine  Gefälligkeit,  die  ich  —  » 

« Wer  zu  Fuss  herwandert,  soll  bei  Ihnen  zu  Tisch 
sitzen  ?  Wäre  das  nicht  noch  ärger  ?  Und  was  ich  wollte, 
ist  ja  gethan.  Ich  habe  Ihnen  Alles  gesagt.  Wenn  Sie 
eine  Hülfe  wi.s.sen,  —  morgen,  später,  wann  immerl  — 
so  schreiben  Sie  mir  wohl.    Und  inzwischen  kann  ...    » 

Ganz  plötzlich  brach  sie  hier  in  Thränen  aus. 

Der  Graf  stand  un.schlüs.sig ;  dieser  Ausbruch  musste 
abgewartet  werden.  Aber  was  dann?  Oben  warteten 
seine  zwei  Gäste. 

Endlich,  da  sie  nicht  aufhörte,  fing  er  an,  sie  zu 
trösten:  Das  Unglück  kommt  nicht  so  .schnell;  Vieles 
kann  ihm  einfallen  bis  dahin;  ein  Umschwung  der 
Stimmung,  ein  Erfolg  mit  Hans'  Werken  .  .  .  .  » 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


71 


Aber  sie  schluchzte  heftig  auf  und  gestand  endlich 
mit  versagender  Stimme,  dass  keine  Zeit  mehr  zum 
Warten  sei ;  die  äusserste  Noth  klopfte  schon  an  die 
Thür !  Und  sie  hatte  gehofft  —  ja  sie  war  beseelt  von 
dieser  letzten  Hoffnung  zu  ihm  gekommen  —  dass  er 
dem  ehemaligen  Schützling  verzeihen,  ihn  unterstützen 
würde,  nun,  da  er,  elend  und  brodlos,  einem  furchtbaren, 
für    ihn    doppelt  furchtbaren   Leiden  verfallen  war  .... 

Aber  der  Graf  trat  einen  Schritt  zurück,  und  sagte 
erstaunt:  «Geld?!  —  Verehrte  Frau,  —  ich  sollte  ihm 
Geld  anbieten  ? !  Aber,  haben  wir  das  nicht  gleich  zu 
Anfang  als  undenkbar  verworfen.'  Wie  kann  ich  thun, 
was  er  zurückweisen  muss,  —  muss  und  wird }  —  Oder 
glauben  Sie,  er  nähme  es  jetzt  von  mir.'  Dann  be- 
greife ich  nicht,  warum  er  nicht  schreibt,  —  nicht 
statt  Ihrer  kommt  1 1 

«  Nein  » ,  sagte  sie,  —  «  wenn  er  weiss,  dass  es  von 
Ihnen  kommt,  nimmt  er's  gewiss  nicht;  aber  — » 

«Wie?!>  rief  der  Graf  lebhaft,  fast  mit  Entrüstung, 
—  «ich  sollte  ihn  heimlich  —  —  Ja,  wohin  denken 
Sie,  Madame  I  —  Und  was  sollte  er  denken ;  woher, 
sollte  er  glauben,  käme  das  Geld?:> 

« Ich  —  ich  —    —  meine  Verwandten  .  .  .  .  » 

«  Sie  wollten  Ihren  Mann  glauben  machen,  es  käme 
von  Denen?  —  Madame,  ich  ehre  Ihren  Schmerz,  ich 
begreife  die  Verwirrung,  in  die  Ihre  Angst  Sie  gebracht 
hat;  aber  —  » 

cEs  sollte  ja  nur  sehr  wenig  sein»,  beeilte  sie  sich 
einzuschieben,  c  Aber  einige  Zeit  hindurch  ....  ein 
kleiner  Zuschuss  ....  Das  Uebrige  hätte  ich  aufgebracht 
mit  Arbeiten  ....  Ach,  Sie  wissen  ja  nicht,  wie  elend 
wir  sind !  .  .  .  .    Er  —    mein  Kind    —  ich  —   —  » 

Die  Stimme  verging  wieder  unter  Schluchzen.  — 
Der  Graf  wandte  sich  ab  und  wischte  mit  der  Hand 
über  die  Wangen;  er  hatte  vorher  einen  guten  Grund- 
satz ausgesprochen:  wer  wahrhaft  helfen  will,  braucht 
kaum  Geld  dazu;  —  aber  es  gibt  einen  Ton  in  der 
Menschenkehle ,  der  die  eisernsten  Grundsätze  bricht ; 
sobald  der  grosse  Nothschrei  ertönt,  schweigt  Grund- 
satz und  Erfahrung,  und  an  ihnen  vorbei  eilt  ein  Herz, 
dem  andern  zu  helfen !  —  — 

«  Alter  schützt  vor  Thorheit  nicht »,  murmelte  einige 
Augenblicke  später  der  alte  Herr,  indem  er  oben  in 
seinem  Arbeitszimmer  ein  paar  Banknoten  in  ein  Papier 
einschlug.  —  «Und  ich  weiss  doch  ganz  gewiss,  dass 
es  eine  Thorheit  ist ;  es  wird  nichts  nützen.  Wer  kann 
Dem  aber    auch    helfen.     Armes  Weib!  —  —    Ob  ich 


doch  noch  warte  mit  dem  Herrn  Peternik  in  Neu- 
titschein? —  Aber  der  gute  Hans  nimmt's  nicht  an. 
Und  ich  biete  es  ihm  nicht  an.    Und  so  bleibt's  dabei: 

ich  kann  ihm  nicht  helfen,  und  Peternik  ist  angestellt». 

* 

*  * 

Acht  Tage  waren  verstrichen.  Es  war  eine  Zeit 
voll  wechselnder  Gefühle  für  das  Weib  des  Unglücklichen 
gewesen.  Zuerst  eine  kleine  Spanne  Glücks :  denn  das 
Almosen  des  Grafen  hatte  einen  trügerischen  Schimmer 
von  Glück  verbreitet ;  dann  aber  war  die  harte  Noth  desto 
herber  und  deutlicher,  —  unausweichlich  nahe  getreten. 

Auch  der  Frühling  hatte  nach  kurzem  Sonnen- 
schein einem  wilden  Aufruhr  weichen  müssen,  und 
Schneeregen  tobte  stürmisch  durch  die  Strassen  der  Stadt. 

Es  war  das  Wetter  und  die  Ermüdung,  die  der 
armen  Frau  heute  dcis  letzte  Hoffnungslicht  löschten; 
sie  war  am  Ende! 

Die  letzten  Tage  hindurch  hatte  sie  neben  aller 
häuslichen  Noth  und  Mühe  noch  Zeit  zu  finden  gewusst, 
um  einen  Gedanken  auszuführen,  der  ihr  auf  der  Heim- 
fahrt vom  Schlosse  gekommen  war:  sie  war  mit  einem 
Packet  Noten,  Compositionen  Hans'  aus  schönerer  Zeit, 
in  der  Stadt  bei  Gönnern  und  Verlegern,  bekannten  und 
unbekannten ,  hinterm  Rücken  ihres  Mannes  hausiren 
gegangen.  Aber  umsonst !  Keiner  wollte  nur  einen 
Pfennig  an  diese  Werke  wagen ;  wohl  lobte  man  das 
Talent  —  aber  wer  zahlt  etwas  für  einen  Unbekannten  ?  — 
Einer  allerdings  hatte  einen  Preis  geboten:  aber  das 
Angebot  in  seiner  ganzen  empörenden  Kargheit  hatte 
sie  mehr  verwundet,  als  eine  runde  Abweisung. 

Sie  hatte  das  Packet  wieder  in  der  —  ach  so 
ärmlichen!  —  Wohnung  gelassen  und  schlich  nun  trotz 
Ermattung  und  Wetter  zu  ihrem  Manne  in's  Atelier, 
ihn  «abzuholen».  Denn  so  musste  sie  es  nennen. 
« Führen »  wäre  richtiger  gewesen ,  denn  er  sah  in  der 
Dämmerung  des  Abends  nichts  mehr.  Aber  er  wollte 
es  nicht  Wort  haben,  er  verspottete  ihre  Sorge  und  die 
Mahnung  des  Arztes.  «  Ich  blind  werden  ?  Lächerlich  ! 
Das  sind  nur  wieder  Machinationen  und  Vorwände,  mich 
abzuhalten.  Ich  muss  arbeiten,  ich  bin  es  der  Welt 
schuldig  und  mir;  und  uns!  Je  ärger  die  augenblickliche 
Verblendung  des  Publicums  ist,  —  desto  sicherer  fühle 
ich ,  es  wird  meine  Zeit  kommen.  Ich  werde  siegen ! 
Verlass  Dich  darauf  und  zerquäle  Dich  und  mich  nicht 
mit  unnützer  Kleinkrämerei  und  Sorge  »  ! 

Und    dabei    hatte    sie    gestern    erst    den    Arzt    ge- 
sprochen ;    der   hatte   mehr    als    je    ernst   dreingesehen 


72 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  hatte  ihr  erklärt,  warum  Hans  selbst  nicht  an  das 
drohende  Unheil  glauben  wollte .  c  Das  ist  das  charak- 
teristische, verehrte  Frau,  bei  diesen  Fällen :  der  Patient 
will  nichts  von  dem  Zerfall  seiner  Sehkraft  wissen; 
eigensinnig  schreibt  er  die  offenbaren  Fortschritte  des 
Uebels  allen  möglichen  eingebildeten  Dingen  lu;  —  ge- 
wöhnlich kommt  dann  das  Bewusstsein  plötzlich  nach 
einer  Gemüthswaliung  oder  dergleichen». 

£s  ging  in  jeder  Weise  zu  Ende.  Denn  die  be- 
fürchtete letzte  Scene  in  der  Tragödie  ihres  häuslichen 
Elends  hatte  angefangen:  die  Gläubiger  ihres  Mannes 
hatten  Beschlag  auf  die  Einrichtung  des  Ateliers  ge- 
legt, und  morgen  sollte  der  grausame  Hammer  des 
Versteigerers  über  jenem  Häuflein  Rdchthum  fallen. 
Morgen  schon  1 

Hans    wusste    es    wohl.     Aber   in   einer    finstcm, 
trotzigen  Verblendung   sass   er,    als  sei   kein  Sturm  im 
Anzug,    im  Atelier  bei  der  Arbeit;    oder  doch  bei  der 
Thätigkeit,  die  ihm  Arbeit  hiess.     Er  that,  als  wolle  er 
von    der    Staffelei    weg    nur  der  Gewalt  weichen.     Und 
kein  Zittern,   keine  Unruhe  verrieth,  dass  er  vor  jenem 
Morgen  sich  fürchte,  dass  er  wehmüthig  begriffe,  heute 
sei  der  letzte  Tag  im  Atelier  1  ....    Von  den  Colinen, 
die  ihn  meist  für  c  verrückt  ?   hielten ,  —  das  ist  ja  das 
Modewort,    mit  dem  jede  kleine  Abweichung  vom  her- 
kömmlichen   geistigen   Uniformzuschnitt  abgethan  wird, 
—  wurde   er   in   letzter  Zeit  gemieden.     Viele  hatte  er 
sich    verfeindet    durch    sein    immer    schroffer    und    ab- 
sprechender   werdendes    Urtheil,    den    *  Jüngeren  >  galt 
er    für    einen    Phantasten   und   Zopftrager  —  wer  malt 
heut    noch    Allegorie    und    Farbenorgien !    —    und  den 
» Klugen  >    gar    musste  es  erspriesslich  erscheinen,    von 
dem  verschuldeten  Mann  fem  zu  bleiben.     Er  war  ver- 
einsamt;    aber    er     trug     das    mit    demselben    stolzen, 
verachtungsvollen  Lächeln ,    das    er    all'  seinem  Missge- 
schick entgegensetzte.     Das  Schiff  seines  Lebens,  schon 
lange   von    Klippen    umgeben,    segelte  geraden  Weges 
auf  den  Felsen  los,    an  dem  es  zerschellen  musste.     Er 
sah  es,  er  wusste  es,   aber  er  wandte  das  Steuer  nicht. 
Mochten  doch  die  Felsen  vor  ihm  versinken,  ihm  Platz 
machen;  wohinaus  sollte  er  sonst  auch?     Nirgends  war 
Fahrwasser  zu  sehen.     War  es  darum  seine  Schuld  oder 
eigentlich    die    des    Geschicks,    die    ihn   in    diese    Lage 
gebracht?     Er  wollte  nicht  mehr  hoffen  —  im  gemeinen 
Sinne;  aber  auch  darum  nicht  mehr  fürchten. 

Und  darum  <  arbeitete     er  auch  heute  fleissig  weiter. 


Sein  Atelier  —  ehedem,  als  man  noch  Ateliers 
€  einrichtete  v ,  als  Meisterstück  berühmt,  war  eine  Gruppe 
von  Räumen,  die  eine  Art  wilden  Museums  darstellten, 
in  dem  Alles  vertreten  war,  was  Kunstzweige  aller  Art, 
Stile  aller  Nationen ,  Bedürfnisse  aller  Zeiten  her\oi^e- 
bracht.  Einst  war  der  Aufbau,  das  tausendfache  Aen- 
dem  und  Bessern  seine  Leidenschaft  gewesen.  In  letzter 
Zeit  hatte  er  angefangen,  ungeheure  Flächen  Atlas  in 
brennenden  Farben  über  Wände  und  Möbel  zu  breiten, 
alles  Zartere  und  tonig  Gestimmte  verdeckend.  «  Das 
ist  alles  Kleinkram ,  —  Sauce ,  —  ver^virrter ,  dunkler 
Unsinn !  Gross,  —  riesig,  —  leuchtend,  —  in,  berauschen- 
den Falten  muss  es  um  mich  prunken;  das  gibt  Lust 
und  Muth  zu  Farbe  und  Licht  1> 

Und  die  Wirkung  war  auf  seinen  Leinwanden  zu 
sehen :  immer  schärfer,  schneidender  wurden  die  Farben, 
immer  heftiger  die  Gegensätze,  —  längst  über  das 
Maass  des  Erlaubten,  Begreiflichen,  selbst  für  decorative 
Compositionen,  hinausgehend ;  leidenschaftlich  trat  die 
Vorliebe  für  «giftig  grelle»  Farben  hervor;  und  die 
Zeichnung  schwand  darunter  mehr  und  mehr. 

Ob  er  das  fühlte?  Heute  besonders  schien  alle 
Zufriedenheit  von  ihm  gewichen. 

Seine  Frau  fand  ihn,  keuchend  vor  Anstrengung, 
wie  er  hastig  und  wild  aus  alten,  riesig  grossen  Lein- 
wanden eine  hervorzerrte.  Das  vorher  an  der  Staffelei 
gewesene  Bild  lag,  mit  dem  Kratzmesser  zerfetzt  und 
zerschnitten,  am  Boden. 

«Noch  einmal  fang'  ich's  anl  —  Aber  diesmal  so 
wie  ich  will,  und  Niemand  darf  mir  dreinreden.  —  Weisst 
Du,  so  wie  die  erste  Skizze  war,  —  die  Hauptfigur  in 
blendendem  Licht,  —  vom  Alles  dunkel  —  und  das 
Gesindel  links  so  bmtal  wahr,  wie  noch  nie!»  .... 

Die  Idee  war:  «Der  Weg  der  Anmuth  durch 's 
neunzehnte  Jahrhundert».  Im  Hintergrund  die  Gestalten 
aus  der  Zeit  der  Grossväter ;  diese  noch  im  Zauber  der 
Grazie  befangen,  ihr  nachblickend;  je  mehr  nach  vorn, 
desto  hässlicher,  roher  wurden  die  Gestalten,  die  Alle 
das  Kleid  ihrer  Epoche  trugen;  bis  zuletzt,  vom,  eine 
cynisch  freche  Bande,  aus  dem  Abschaum  der  Gesell- 
schaft gebildet,  höhnend  und  kothwerfend  die  Göttin 
verfolgte ;  diese  selbst,  in  himmlisch  keuschem  Erröthen, 
eilte  schnellen  Schrittes  vorwärts,  Thränen  der  Scham 
auf  den  Wangen.  Ursprünglich  war  die  Gestalt  der 
Grazie  unbekleidet  gewesen ;  später  hatte  er  ein  Phantasie- 
costüm  erfunden,  das  er  hundertmal  änderte.   .  .  . 


m 

C 

<D 

o 

m 

Co 

m 

■i-H 

N 

r— I 
O 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


73 


Und  nun  fing  er  fieberhaft  an.  Mit  einem  grossen 
Pinsel,  den  er  auf's  Gerathewohl  in  eine  Farbe  stupfte, 
umfuhr  er  die  Conturen;  aber  da  es  eine  früher  bereits 
bemalte  Leinwand  war,  so  wurde  ein  grausames  Chaos 
daraus,  in  dem  er  sich  selbst  nicht  zurechtfand. 

*  Es  wird  schon  dunkel.  —  Steh'  mir  nicht  im  Licht ! 
Zeig'  mir  lieber  —  wo  hatt'  ich  doch  den  Arm  der  —  t 

t  Hier,  Hans».    Und  sie  deutete  schüchtern  hin. 

€  Dummes  Zeug !     Das   ist  ja  vom   frühern   Bild  1 1 

Sie  widersprach  nicht.  Er  skizzirte  den  Arm,  ge- 
trennt vom  Körper,  mitten  in  die  Luft 

Frau  Ottilie  schlich  in  eine  Ecke  und  bändigte  mit 
Gewalt  ihre  Thränen;  Zuschauen  war  eine  Marter. 
Komme,  was  da  wolle  —  jede  Aenderung  war  willkommen  1 

c  Das  ist  wieder  Deine  Theilnahmslosigkeitl  > 

€  Hans !  •% 

(Wozu  kommst  Du  überhaupt  her?» 

c  Ich  dachte ,  wenn  Du  aufhörst ,  gehen  wir  mit- 
einander nach  Haus». 

€  Natürlich!  Deinen  c erblindenden »  Mann  führen; 
Dich  zeigen,  wie  Du  ihn  um.sorgst.  Das  passt  Dir; 
statt  —  —  » 

Er  murmelte  Einiges  und  patzte  weiter.  —  Plötz- 
lich, nach  einer  Weile,  wandte  ersieh  zu  ihr:  c  Nun,  — 
Du  hattest  mir  ja  versprochen,  eine  freudige  Nachricht 
zu  bringen.     Was  ist's  damit?» 

c  Es  ist  mir  fehlgeschlagen,  Hans ;  ich  hatte  .so  ge- 
hofft, dass  es  gelingen  müsste  .  .  .  .  s 

c  Pah !  »  machte  er  geringschätzig.  «Kein  vernünftiger 
Gedanke  durchkreuzt  Dein  Hirn,  der  uns  wirklich  Hülfe 
brächte.  Sorgen,  sich  härmen  und  grämen,  um  Pfennige 
feilschen,  mir  Süppchen  brauen  und  Pantoffeln  wärmen  — 
das  ist  Deine  ganze  Philosophie,  mit  der  Du  unser  Ver- 
derben keine  Stunde  aufhalten  wirst,  mich  aber  um  die 
letzten  ruhigen  Stunden  bringst». 

Er  wüthete  wieder  eine  Zeit  lang  auf  der  Lein- 
wand :  dort  verwirrte  sich  Alles  immer  mehr  und  mehr. 
Erbärmliches  Licht  in  diesem  Kasten.  —  Ich 
kann  kaum  mehr  sehen  und  es  ist  noch  nicht  4  Uhr. 
—  Wie?  Das  Fenster  ist  gross  genug,  sagst  Du?  — 
Willst  Du  es  glauben,  dass  ich  zwischen  dem  rothen 
Vorhang  dort  hinten  und  dem  hellblauen  Atlas  da  nicht 
mehr  unterscheiden  kann?  Sieh'  doch  das  Wetter 
draussen  1  Und  wenn  das  Hausmeisterpack  die  Scheiben 
nicht  putzt!  Mich  brennen  die  Augen  förmlich  vor 
Anstrengung.    Aber  natürlich,  an  all  Dem  bin  ich  wieder 


schuld  —  nur  ich!    Das  ist  das  Bitterste  in  all'  derNoth: 
Diese  wahnwitzigen  Vorwürfe,  die  Du  mir  machst » 

«Ich,  Hans?»  fragte  sie,  schmerzlich  betroffen. 

«  Allerdings  Du  !  Dein  Schweigen,  —  Deine  jetzige 
Frage  ist  ein  Vorwurf!  Alles  könntest  Du  vermuthlich 
besser  machen;  mein  ganzes  Leben,  wäre  es  vor  Dir 
enthüllt,  würdest  Du  für  eine  Kette  von  Fehlern  halten. 
Immer  würde  ich  Schuld  haben  an  Allem.  —  —  Ich 
möchte  nur  wissen,  ob  Du  mich  auch  verurtheilst,  weil 
ich  mich  von  jenem  alten  Egoisten,  dem  Grafen  Alt- 
mann, losgesagt  habe<>. 

Sie  schwieg  einen  Moment;  und  mitten  in  aller 
Betrübniss  kam  ihr  die  Klugheit  zurück ;  sie  sagte : 

«  Altmann  ?  Ach  ja.  Dein  Gönner ;  ich  las  neulich, 
dass  er  einen  Organisten  für  die  Schlosskirche  sucht».  — 

Hans  antwortete  nur  mit  «hm!»  —  Aber  nach 
einer  Pause :  « Zu  aller  Ironie  des  Schicksals  fehlte  nur, 
dass  er  mir  die  Stelle  anböte.  Er,  der  von  je  mein 
Unglück  war!  Dem  ich  .selbstlos  die  besten,  frucht- 
barsten Jahre  gewidmet  habe!  Der  mein  Werk  besitzt, 
wie  der  Drache  den  Schatz ;  der  meine  Bilder  da  draussen 
vergraben  hat,  so  dass  die  Welt  sie  nicht  kennt.  — 
Und  das  ist  nicht  Alles:  als  er  mich  ausgenutzt  hatte, 
entliess  er  mich  nicht  nur,  er  sorgte  auch  dafür,  dass 
ich  niemand  Anderm  mehr  so  wie  ihm  dienen  konnte. 
Woher  denn  sonst  das  Wunder,  dass  meine  Sachen 
von  dem  Augenblick  keinen  Anklang  mehr  fanden?» 
Und  nun  redete  er  sich,  gereizt  durch  bescheidene  Ein- 
würfe und  Zweifel  Ottilie's,  völlig  in  Wuth ,  indem  er 
jenen  ehemaligen  Gönner  als  Urheber  alles  Unglücks,  aller 
Misserfolge  mit  den  schwersten  Verwünschungen  bedachte. 

Zuletzt  —  er  fuhr  nur  noch  unsicher  zeitweise  mit 
dem  Pinsel  hier-  und  dorthin  —  warf  er  plötzlich  die 
Palette  krachend  in  einen  Winkel  und  schrie: 

« Ihn  klage  an !  Von  ihm  verlange  unser  Glück, 
ihm  auf  die  Seele  weine  Deine  Thränen !  —  Aber  was 
nutzt  das  Reden.  Ich  schreibe  es  ihm  ....  ich  thu's! 
Er  muss,  er  soll  wissen,  dass  sein  Ziel  erreicht  ist,  — 
dass  ich  zu  Grunde  gerichtet  bin  ....  Er  soll's  er- 
fahren ,    wenn    ich Denn    ich   muss    Dir   sagen, 

denke  nicht  weiter  an  Ausflüchte,  Versuche  und  Hoff- 
nungen. Es  gibt  keine.  Denke  nicht  armselig  an 
Arbeiten  und  Sparen  —  ich  will  nicht  langsam  ver- 
hungern. Denke  lieber,  wie  wir  mit  Würde  das  un- 
würdige Dasein  verlassen !....» 

Eine  Pause.     Sie  schwieg;  auf  den  Lippen  lag  ihr 

10 


74 


ÜIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


das  Wort :    €  Hans,  —  denke  an  Dein  Kind  1  >   —  aber 
wozu  jetzt  Oel  in  die  Flamme  giessen  ? 

Und  er  verbiss  sich  in  den  Gedanken,  das  Leben 
zu  verlassen;  mit  grossen  Schritten,  oft  über  Teppiche 
stolpernd,  überall  sich  stossend,  lief  er  auf  und  ab.  In 
al^cbrochenen  Sätzen  machte  sich  sein  versteckter  In- 
grimm Luft.  Es  war  bald  nur  noch  das  sprunghaft 
unzusammenhängende  Raisonniren  über  Alles ,  Gott  und 
die  Welt.  Wie  Peitschenhiebe,  mit  denen  dn  Wüthen- 
dcr  leblose  Gegenstände  regellos  auf  seinem  Wege  trifft, 
nur  um  den  Zorn  auszulassen,  so  tobte  er  geraume  Zeit 
wild  und  vemunftlos  dahin 

Allmählich  aber  kam  Ermattung  dazu.  Er  sprach, 
er  schrie  nicht  mehr.  Dann  und  wann  ein  heiseres 
Lachen,  das  vielleicht  einen  Gedanken  verhöhnte;  zu 
letzt  nur  ruheloses  Umherwandem.  —  Ottilie,  von  An 
strengung  und  Furcht  ergriffen  und  ermattet,  war  laut 
los  in  ihrem  Winkel  sitzen  geblieben,  den  Kopf  zurück 
gelehnt,  die  Hände  gefaltet ;  so  hatte  sie  lange  gesessen 
mit   geschlossenen   Augen,   —  ohne  Gedanken,  —  fast 

ohne  Besinnung  .... 

* 
*  * 

(Gehen  wir!   's  wird  spät«. 

Die  Worte  weckten  sie;  sie  brachte  ihrem  Manne 
den  Hut,  den  Stock.  Dabei  fiel  ihr  schwer  aufs  Herz, 
dass  dieser  klanglose,  trockene  Abschied  aus  dem  Atelier 
der  letzte  sein  sollte ! 

Wie  oft,  seitdem  sein  Leiden  bedrohlich  geworden, 
hatte  sie  sich  den  erschütternd  tragi.schen  Moment  aus- 
gemalt :  der  Künstler  nimmt  Abschied  von  seiner  Werk- 
statt auf  ewig!  Von  seinen  Werken,  von  seinem  Schaffen, 
seiner  ganzen  Welt!  Tastend,  mit  umnachteten  Augen, 
die  unfähig  sind  einen  letzten  Blick  auf  die  Staffelei  zu 
werfen,  wankt  er  zur  Thüre;  er  überschreitet  die  Schwelle : 
wohin.'  In  das  Nichts  eines  nutzlosen,  freudlosen  Daseins  1 

So  hatte  sie  es  gefürchtet  und  geträumt.  Und  nun? 

tWozu  mir  immer  den  Arm  halten?»  rief  er  rauh 
und  ungeduldig,     t  Ich  finde  selbst». 

Er  fand  die  Thüre  aber  nicht  so  leicht ;  und  das 
Schauspiel  war  .schmerzlich  und  peinlich   zugleich. 

Die  Treppe  hinunter  ging  er  leicht ,  au.s  Gewohn- 
heit die  Zahl  der  Stufen  schätzend.  Ottilie  ging  be- 
ruhigter neben  ihm  zum  Haus  hinaus  bis  in  den  Hof  — 
denn  das  Atelier  lag  im  Hintergebäude  eines  Complexes 
von  hohen,  (lüstern  Häusern.  Vom  Atelierhaus  kommend, 
sah  man  geradewegs  durch  die  Thoreinfahrt  auf  die  be- 


lebte Strasse  hinaus ,  wo  die  Lampen  schimmerten, 
schwefelgelbe  Punkte  im  finstem  Schatten  bildend.  Von 
oben  her  aber  strahlte  tiefroth  der  Wolkenhimmel  herein, 
der  den  Abend  des  stürmischen  Tages  mild  verschönte. 

Angesichts  dieses  oft  gesehenen  Bildes  schritt  Ottilie 
weiter;  aber  Unerwartetes  hemmte  ihren  Schritt. 

Hans  blieb  plötzlich  stehen,  riss  die  Augen  weit 
auf  und  breitete  die  Arme  vorwärts  aus  .... 

Er  athmete  ein  paar  Mal  hefbg  —  dann  fing  er  an 
zu  zittern  ....  schnell  griff  er  nach  Ottilie,  fasste  krampf- 
haft ihren  Arm,  ihre  Schulter  —  immer  geradeaus 
starrend ,  als  sähe  er  ein  schreckliches  Phantom  .... 
Und  er  sah  auch  Etwas,  aber  es  war  kein  Phantom ;  er 
sah  zum  ersten  Male  die  Wahrheit:    er  sah  —  nichts! 

(Ottilie  —  ich  bin  —  blindl!>   —  — 

Sein  Ruf  hallte  von  den  Mauern  wider,  und  verhallte. 

Die  Frau  aber  stUrzte  aufschluchzend  an  seine 
Brust  und  barg  ihr  Gesicht. 

Da  geschah  ein  Wunder.  Seine  Arme  kamen 
weich  und  langsam,  sie  zu  uinschliessen;  und  auf  ihr 
Haar  drückte  er  einen  Kus-- 

Und  dann  zuckte  auch  seine  Brust  und  er  brach 
in  markerschütterndes  Weinen  aus  .... 

Es  war  spät  geworden  und  der  öde  Hof  leer  und 
still ;  Niemand  sah  die  Beiden  dort  stehen :  sie  blieben 
lange,  lange  so.  — 

Endlich  fuhr  er  auf,  da  sich  Schritte  näherten,  und 
schob  seinen  Arm  unter  den  seiner  Frau. 

Weich,  fast  schüchtern  sagte  er:  (Führe  mich, 
Tilly,  und  —  —  weisst  Du  wohin?  —  |ch  denke  am 
besten  auf's  Telegraphenamt.  Dort  dictjre  ich  Dir  eine 
Depesche  an  —  an  den  Grafen  .  .  .  .  > 

Sie  fuhr  zusammen,  er  fühlte  es. 

4  Ich  will  ihn  fragen,  ob  ...  .  jene  Organisten- 
stelle .  .  .  . » 

Weiter  kam  er  nicht.  Es  dauerte  geraume  Zeit,  bis 
er  sich  sammeln  konnte.  Ottilie  fühlte  im  Moment  tiefsten 
Unglücks  den  Keim  einer  so  seligen,  friedlichen  Zukunft ! 

«  Lass  uns  wieder  ins  Haus  gehen,  Hans,  dort  be- 
sprechen wir  in  Ruhe  —  » 

(Nie  wieder  einen  Schritt  dorthin!  Im  Atelier 
lasse  ich  alle  bösen  Geister  zurück.  Und  jetzt  brauche 
ich  die  guten  Geister ;  vor  allem  Dich,  Du  armes  Weib. 
—  Werde  ich  Dir  —  sage  mir  das,  —  werde  ich  Dir 
nie    lächerlich    sein    in    meiner   Unbeholfenheit?     Wirst 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


75 


Du  Deinen  Mann  ertragen  können ,  wenn  er  so  eine 
Rührstückfigur  für  eine  Vorstadtbühne  geworden    ist?» 

Sie  drückte  ihm  den  Arm  mit  beiden  Händen, 
und  indem  sie  auf  die  Strasse  hinaustraten,  eng  an- 
einander geschmiegt,  —  sagte  sie : 

«Wird  denn  das  lächerlich  sein,  wenn  Du  Orgel 
spielst?  Denke  an  die  hohe  Wölbung,  von  der's  so 
herrlich  wiederklingt,  —  denke  an  Deinen  x  Pilgergesang  i. 
Deine  t  Präludien  >,  —  Deine  «Trauermusik»,  Deinen 
t  Sphärengesang  r>    —   — 

«Jai,  —  murmelte  er  und   ein  stilles  Lächeln  zog 


über  sein  Gesicht  —   «ja;   den  auf  der  vox  angelica  ...  1 

Komm',  auf's  Telegraphenamt !  » 

* 

Der  Herr  Anatol  Peternik  in  Neutitschein,  der  vor 
vier  Tagen  die  Stelle  zugesagt  erhalten,  bekam  ein 
tüchtiges  Abstandsgeld.  Die  alte  herrliche  Orgel  merkte, 
dass  sie  jetzt  einen  Meister  erhielt ;  einen ,  den  sie 
schon  kannte! 

Und  der  Meister,  Hans  Eggmühl,  sagte  in  seiner  neuen, 
heiteren  Weise:  «Wer  darf  mich  bedauern?  —  Blind?  — 
Ich  war's  früher;  jetzt  wohne  ich  im  hellen  Lichte!» 


EIN  BRIEF  VON  UNTERWEGS 


VON 


H.  E.  VON  BERLEPSCH. 


})m  Kunstverein  zu  München  hingen  V^orfrühlings-      Oberlichte  aber  lag  der  Schnee  in  einer  Dicke,  die  man 
und  Frühlingsbilder  die  schwere  Menge,  auf  dem  grossen      dankbarer  Weise  als  eine   massige  bezeichnen    musste. 


k- 


^V-  -^  .         _,  [■III  M-^ 


Afax  Lieiermann.     N'ähschule. 


es  waren  ja  blos  ein  paar  Zoll.  Den  Finken  und  Amseln  eigentlich  sammt  und  sonders  ä  la  Eskimo  gehalten 
blieb  das  Lied  vor  lauter  kühlen  Frühlingslüften  im  sein  müssen.  Am  Ofen  stehen,  die  Hände  wärmen  und 
Halse  stecken  und  die  neuesten  Frühjahrsmoden  hätten      dazu    singen:     «Der    Mai    ist    gekommen,    die    Bäume 

10* 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH'. 


schlagen  aus»,  das  ist  etwas  seltsam,    dnmi  fiihr  ich  in 
der  angefangenen  Strophe  weiter 

cDa  bleibe,  wer  Lost  hat. 
Im  Pdte  za  Haut  — 

Irgendwo  musste  doch  die  Sonne  scheinen,  aber  wieviele 
Breitegrade  südlicher  wohl?  Probiren  geht  über  studiren, 
drum  eingepackt 
und  fort,  fort,  über 
den  Brenner.   Ja ! 

da  schien  die 
Sonne,  aber  ihre 
Strahlen  erinner- 
ten mich  stark  an 
Blümchencaflee 
oderandereDünn- 
heiten.  In  Bozen 
blühte  es  wohl, 
aber  ich  bekam 
den  Eindruck,  den 
etwa  weissgeklei- 

dete  Festjung- 
fraucn  mit  blau- 
gefrorcnen  Nasen 
machen,  also  wei- 
ter, weiter.  Ganz 
undankbar  will  ich 
nicht  sein;  hinter 
Ala,  bei  der  ita- 
lienischen Grenze, 
wie  sich  das  üb- 
rigens ganz  von 
rechtswegen  ge- 
hört ,  wurde  es 
warm  oder  sagen 
wir  w  —  ärmlich. 
Die  Berge  waren 
duftig  blau,  ein- 
zelne kleine 
Dun.stballen  am 
Himmel  erinner- 
ten daran,  was  für 
ein  gräulich  dunkles  und  unliebenswürdiges  Wolken- 
chaos weiter  nördlich  über  der  Welt  schwebe ;  an  den 
steinigen  Berghalden  standen  grosse  Baum  -  Bouquets, 
roth,  weiss,  lila  —  ich  verstieg  mich  zu  dem  zwar  nicht 
ganz  neuen,  aber  doch  immer  wieder  wahren  Gedanken, 


dass  hier  die  Natur  etwas  Brautliches  habe  —  während 
bei  uns  im  Norden  noch  kaum  von  Verlobtsein  die  Rede 
war ;  dann  kamen  die  wunderbar  grossartigen  Felsmassen 
der  Veroneser  Klause,  die  prächtige  Landschaft  um 
Domicigliara,  von  fem  dämmerten  blau-neblig  die  Thürme 
der  Stadt  Dietrich's,   des   deutschen  Helden   auf,   dann 

Vorwerke       über 
Vorwerke,  Wälle, 

Hrückenköpfe 
und  was  weiss  ich 
sonst  für  Köpfe, 
weiter  .die  mäch- 
tige Porta  nuova, 
die  starren  mäch- 
tigen Quadermas- 
sen des  Amphi- 
theaters —  ja, 
Verona  ist  viel, 
viel  italienischer 
als  manche  weit 
südlicher  gele- 
gene Stadt.  Auf 
der  obersten  Ter- 
rasse desGiardino 
Giusti  brannte  die 

Sonne  wirklich 
ganz  anständig. 
Also  endlich  ein- 
mal! Drunten  in 
den  Strassen  aber 
undaufdenEtsch- 
brücken  blies  ein 

Wind ,  frostig, 
kalt,  staubaufwir- 
belnd ,  zahnweh- 
bringend. Und 
aus  diesem  Zahn- 
weh kam  dann 
etwas  Anderes, 
ein  geschwollenes 
Gesicht  in  optima 
forma.  In  einem  italienischen  Gastliofszimmer  zweiten 
oder  dritten  Ranges  aber  tagelang  mit  solch  einer  un- 
freiwilligen Gesichtsvergrösserung  sitzen  und  Va.seline 
in  solchen  Quantitäten  auftragen  müssen,  dass  selbst 
der  älteste ,    härteste  Seehundsfell  -  Koffer  wieder  weich 


Max  Lietermann.     Gartca  -  Gang. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


77 


würde,  das  ist  ein  Genuss  problematischer  Art.  —  Man 
feierte  das  fünfzigjährige  Priesterjubiläum  des  Bischofs; 
übrigens  war  es  vielleicht  auch  blos  das  vierzig-  oder 
dreissigjährige  —  ich  weiss  es  nicht.  Jubiläen  regnet 
es  ja  heutzutage  nur  so ,  hat  doch  in  München  der 
Pächter  eines  grossen  Restaurants  das  t  einjährige  Jubi- 
läum» seiner  Installation  mit 
bengalischer  Beleuchtung  und 
grossem  Tarn  -  Tam  -  Schlagen 
gefeiert.  Es  wird  wohl  nimmer 
lange  dauern,  dass  man  z.  B. 
den  Jahrestag  des  ersten 
glücklich  bestandenen  Ban- 
kerotts feiern  und  sich  im 
Freundeskreis  daran  erinnern 
wird,  wie  viel  man  aus  solchem 
Schiffbruche  gerettet  hat. 
Das  zählt  Alles  auch  zur 
«Kunst  unserer  Zeit». 

Zu  dem  Bischofsjubiläum 
strömte  natürlich  viel  Volk 
herbei,  auch  gro.sse  Kirchen- 
fürsten.  Selbstverständlicher 
Weise  war  das  Anlass  zu 
mannigfach  ersonncner  Deco- 
ration, das  Nobelste  sollte 
der   Dom  enthalten.     Wenn 

man  in  den  Berichten  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
von  solchen  Festdecorationen  liest,  so  hat  man  allen 
Grund,  an  schöne  Dinge  zu  denken,  halfen  doch  die 
grössten  Künstler  bei  solchen  Gelegenheitsdecorationen 
mit,  aus  deren  spontanem  Entstehen  sich  gar  oft  Kunst- 
werke bleibender  Art  herauskrystallisirten.  Kein  Wunder, 
wenn  man  also  mit  Erwartungen  nicht  geringer  Art  bezüg- 
lich solcher  Dinge  dann  die  Hallen  eines  imponirenden 
Bauwerkes  betritt.  Aber  ach  —  da  muss  man  alle 
speranza  lasciare.  Es  war  das  dümmste,  geschmack- 
loseste Zeug,  gerade  wie  wenn  es  von  lauter  Tapezierern, 
die  sich  ja  mit  Vorliebe  *  Decorateurs  »  nennen,  gemacht 
worden  wäre :  Schlappe  Vorhänge  aus  dünnem,  parallel- 
faltigen Stoff  zwischen  den  Säulen  und  über  den  Altären, 
Guirlanden  von  der  Magerkeit  italienischer  Municipio- 
Cassen ,  aber  viel  Commando  und  Aufregung.  Also 
auch  da  wie  bei  uns!  Ich  floh.  Wo  man  auf  Weg 
und  Steg  von  Eindrücken  künstlerischer  Art  verfolgt 
wird ,   die   allerdings    mit    der  Vergangenheit ,  nicht  mit 


Max  Litbtrmann.     Kinderportrait 


unseren  Tagen,  in  Verbindung  stehen,  da  hat  es  etwas 
Trostloses  an  sich,  sehen  zu  müssen,  wie  eine  der  her- 
vorragendsten Eigenschaften .  eines  Volkes,  grosse,  welt- 
bewegende Begabung  für  Alles,  was  Kunst  heisst,  bis  bei- 
nahe zum  Gefrierpunkt  herabsinken  kann.  Man  schaut 
durch  so   und  so   viele  stolze  Palastportale  und  erblickt 

dann  Dinge,  ob  denen  einem 
die  Haare  zu  Berge  stehen: 
An  der  Hausmauer  inwendig, 
die  dem  Portal  gegenüber 
liegt,  allerlei  gemalte  Park- 
und  andere  Landschaften,  die 
es  deutlicher  als  alles  Uebrige 
sagen,  dass  Italien  nicht  der 
Boden  der  decorativen  Land- 
schaftsmalerei par  excellence 
sei.  Nein,  es  ist  zum  Theile 
geradezu  fürchterlich,  diese 
Veduten ,  die  eine  optische 
Täuschung  hervorbringen 
sollen  und  bei  deren  An- 
schauen man  sich  über  den 
Geschmack  der  Palazzi- be- 
sitzenden Bevölkerung  beim 
besten  Willen  nicht  hinweg- 
täuschen kann.    Es  sind  eben 

auch  Hausbesitzer. 

Ich  sah  später  diejahresausstcllung  zu  Florenz  und  bekam 
da  erst  recht  die  Ueberzeugung,  dass  jene  Veroneser 
Palasthof-Malereien  durchaus  nicht  der  Ausfluss  localer 
Kunstgebarung  seien.  Davon  später  ein  Wort,  man  muss 
mit  dem  Aergsten  nicht  gleich  schon  anfangs  kommen. 
Das  Alte  —  all  das  war  bezaubernd  wie  immer,  gross, 
stolz ,  schön ,  menschlich  wahr ,  viel  wahrer  als  die 
meisten  Veristi,  und  dann  konnte  ich  mich  ausserdem 
des  Gefühles  nicht  entschlagen,  dass  den  Alten  auch 
was  eingefallen  sei  und  sie  wahrscheinlich  aus  unserer 
Zeit  auch  einen  künstlerisch  grossen  Extract  zu  ziehen 
verstehen  würden,  wenn  sie  lebten.  Das  kann  man 
unseren  modernen  Künstlern  nicht  in  allen  Fällen  nach- 
sagen, noch  viel  weniger  aber  jenen,  die  aus  vergangenen 
Kunstperioden  das  eine  oder  das  andere  Fett-Auge  ab- 
zuschöpfen bemüht  sind,  um  es  uns  als  eigene  moderne 
Arbeit  aufzutischen. 

Ich    wanderte    durch    die   Porta  Vittoria  nach  dem 
Campo  Santo  hinaus,  um  das  Eine  und  Andere  wieder 


78 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


einmal  zu  sehen,  doch  auch  da  w-ar's  mir,  als  hätten 
die  Neuen  von  den  Alten  nicht  viel  anderes  geerbt, 
als  den  Meissel  und  den  Bohrer ;  einiges  wenige  zeugte 
von  wirklich  plastischem  Sinne,  das  Gros  war  marmornes 
Gigerlthum.  Wenn  man  damit  die  ernsten  grossen, 
beinahe  plumpen  Säi^e  in  dem  eng  umfriedeten  Platze 


vergleicht,  wo  die  Scaligergräber  stehen,  so  will  es  fast 
scheinen,  als  wäre  unserer  Zeit  das  wahre  künstlerische 
Mark  und  Bein  abhanden  gekommen.  Von  den  riesigen 
Baldachinen  mit  ihren  mächtigen  bekrönenden  Reiter- 
figuren will  ich  gar  nicht  sprechen,  aber  diese  eckigen, 
trottigen,    ungeschlachten   Erscheinungen  charakterisiren 


Max   Liibtrmitim.     Schustfrwerkstätte. 


ihre  Zeit  doch  in  einer  <^7\m  wesentlich  anderen  Weise,  grossen,  stolzen  Zügen,    ein  Abbild  eiserner  männlicher 

als  CS  die  Mehrzahl  unserer  neuen  Monumente  mit  und  Wiliensfestigkeit.     Ja   —   mir  fiel  immer  wieder  ein,  was 

ohne  Pferd  thun.     Das  Gewand  macht  s  nicht  aus,    ich  der    unglückliche    Stauffer.    den    die  Welt  natüriich  für 

könnte    mir    einen    Mann    unserer  Zeit,    einen  Bismarck  einen    Realisten    vom    reinsten   Wasser  hält,    in    einem 

beispielsweise,    sehr    gut    denken    wie    den   Colleoni  zu  seiner  Briefe  von  Rom  schrieb:    « Mir  wird  immer  klarer, 

V^enedicr  oder  den  machtisien   Gattamclata   zu  Padua,   in  dass  Malerei   ist,  was  man  nicht  photographiren,  Plastik, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


79 


was  man  nicht  nach  dem  Leben  abgiessen  kann. » 
Und  Stauffer  muss  als  Künstler  doch  mit  unter  die 
Ernsthaftesten  unserer  Tage  gerechnet  werden !  Freilich 
hat  er  Das,  worauf  es  ankommt,  auch  erst  recht  be- 
greifen gelernt,  als  er  nach  Italien  kam.  Dass  er  da 
in  Menge  sah,  wass  man  auch  bei  uns  an  einem  Dürer 
und  Holbein  lernen  kann ,  hat  bei  ihm  die  feste  un- 
wandelbare Anschauung  über  den  Ernst  der  Kunst  erst 
richtig  gezeitigt.  Es  wird  sich  später  in  einer  ge- 
sonderten Arbeit  Gelegenheit  geben,  des  Speciellen 
auf  diesen  leider  allzufrüh  geschiedenen  Künstler  zurück- 
zukommen und  sein  eigentliches  Glaubensbekenntniss 
an  der  Hand  seiner  Briefe  und  seiner  zum  Theil  geradezu 
ausserordentlich  grossartigen  Gedichte  wiederzugeben.  Er 
war  einer  von  Jenen,  die  von  den  Alten  lernten,  ohne  auch 
nur  im  Entferntesten  in  den  Fehler  zu  verfallen,  sie  in 
Acusserlichkeiten  nachmachen  zu  wollen.  Diese  sind 
es,  die  wir  abstreifen  müssen,  weil  sie  uns  zum  reinen 
Selbstbetrug  führen ;  aber  mache  sich  Keiner  weis,  auch 
der  Beste  nicht,  dass  er  der  Natur  irgendwie  näher 
stehe,  als  es  die  Alten  gethan  haben;  die  Wahrheit, 
die  ein  Dürer  ebenso  wie  ein  Rafael  oder  Velasquez 
in  ihre  Portraits  legten,  kann  ganz  einfach  nicht  in 
schlagenderer  Weise  gegeben  werden.  Die  wirklich 
grossen  Künstler  aller  Zeiten  werden  eben  doch  immer 
zu  Recht  bestehen  bleiben ;  ihre  Sprache  war  frei  von 
den  Schlagworten  unserer  Tage,  die  im  Grunde  genommen 
nichts  als  Tagesmoden  bezeichnen  und  der  eigentlichen 
Kunst  gegenüber  mehr  wie  Curiosa  oder  Abnormitäten 
wirken,  die  vielleicht  einmal  pfundweise  verkauft  werden. 
Kunst  und  Natur  werden  bei  aller  künstlerischen  Wahr- 
haftigkeit immer  zweierlei  Dinge  bleiben.  Wird  die  Natur 
zur  Kunst,  dann  verleugnet  sie  ihr  Princip  absoluter 
Freiheit,  umgekehrt  aber  fehlen  uns  die  Mittel,  um  die 
Kunst  der  Natur  völlig  gleich  zu  machen. 


Eine  F"ahrt  durch  die  lombardische  Ebene,  ausser 
an  den  Ufern  des  Po,  ist  in  den  meisten  Fällen  ein 
Genuss  zweifelhafter  Art,  zumal  bei  trübem  Himmel. 
Das  regelmässig  bebaute  Terrain  mit  seinen  endlosen 
geraden  Linien  bietet  nichts,  was  nicht  beinahe  mit 
Cirkel  und  Lineal  zu  machen  wäre;  hin  und  wieder 
unterbricht  ein  Gehöft  die  Gleichartigkeit  der  Um- 
gebung, manchmal  auch  eine  bis  zur  Unkenntlichkeit 
geschnittene  Pappel ,  der  man  nur  ein  ganz,  ganz 
kleines  Büschel  von  Zweigen  am  obersten  Ende  gelassen 


hat.  Und  wenn  'das  nun  obendrein  grau  in  grau  da- 
steht, das  Auge  umsonst  nach  irgend  etwas  sucht,  was 
perspectivische  Wirkung  in  das  Ganze  brächte,  so  darf 
man  doch  wohl  das  Wort  « Langeweile  >  in  nahe  Be- 
trachtung ziehen.  Station  um  Station  immer  dasselbe, 
in  Mantua  unterbrochen  durch  Häuser,  deren  Aussehen 
mit  dem  Begriffe  der  Ungemüthlichkeit  in  allernächster 
Beziehung  steht;  auf  den  seichten  Wasserbecken,  welche 
sich  um  die  Mauern  derFestung  ziehen,  spielten  in  milliarden- 
facher  Menge  die  kleinen  Kreise,  welche  durch  den  nieder- 
träufelnden Regen  entstehen,  an  der  Station  rannte  ein 
heiser  geschrieener  Zeitungsverkäufer  auf  und  nieder  ;  an 
der  zerbröckelnden  Mauer  des  Gebäudes  kauerte  ein  altes, 
in  zerfetzten  Kleidern  fröstelndes  Weib  und  bot  saure 
Orangen  zum  Verkaufe  —  es  war  ein  Stimmungsbild 
bester  Sorte.  Endlich,  Gott  sei's  gedankt,  tönt  von 
vorn  der  Ruf:  Tenzal  (partenza),  von  rückwärts  klingt 
es  wieder:  Prontil  dann  ein  Pfiff  der  Locomotive,  der 
sich  anhört  wie  die  Stimme  eines  jungen  Mannes  in  der 
Periode  des  Mutirens,  ein  ächzender  Stoss  und  wieder 
hinaus  in  die  Landschaft,  an  deren  grauem  Horizont 
bald  die  letzten  Silhouetten  von  Dächern  und  Thürmen 
im  Regen-Nebel  verschwinden.  Das  war  so  ein  Stück 
von  italienischem  Frühling! 

Endlich  kam  Modena,  weiter  Bologna,  wo  es  mir  in 
der  Eile  erging  wie  am  Billetschalter  zu  Ala ;  es  wurden 
mir  nämlich  verschiedene  falsche  Geldstücke  zuge- 
schoben, die  man  aber  hier  wie  dort  nicht  anzunehmen 
braucht,  nachdem  es  ja  selbstverständlich  an  beiden 
Orten  « blos  aus  Versehen »  geschah ,  und  zwar  ver. 
schiedenen  Reisenden  gegenüber,  die  sich  darüber  be- 
schwerten. Ich  glaubte  übrigens  irgendwo  an  einer 
nördlichen  Bergbahn  zu  sein,  denn  es  sah  im  Apennin 
nicht  um  ein  Jota  anders  aus  als  am  Brenner.  Die 
Hänge  ohne  Grün,  die  Bäume  blätterlos,  die  Schluchten 
und  Runsen  der  Bergbäche  halbdämmerig,  die  Menschen 
überall  mit  dem  Stempel  frostiger  Empfindung,  die 
weiten  Radmäntel  um  die  Ohren  geschlagen  und  miss- 
vergnügten Gesichtes  die  Reisenden  betrachtend,  vielleicht 
auch  mit  Wehmuth  der  Zeiten  gedenkend,  wo  der  kate- 
gorische Imperativ  tFaccia  per  terra»  die  Diligence- 
Einwohner  zittern  machte,  so  dass  sie  sich  ruhig  die 
Taschen  ausleeren  Hessen.  Gerade  die  Gegend  hinter 
Bologna  war  berühmt;  kleine  Banden  sollen  auch  jetzt 
noch  hin  und  wieder  auftauchen,  die  grossen  aber  setzen 
sich  aus  lauter  «  anständigen  »  Leuten  zusammen  und  leben 


80 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


nicht  mehr  im  Buschrevier,  vielmehr  nehmen  sie  öffentliche 
Stellungen  ein,  wie  z.  B.  die  behördlich  angestellten 
Kirchen-Restauratoren,  die,  um  einen  speciellen  Fall  zu 
nennen,  an  San  Marco  zu  Venedig  sehr  viele  Steine 
aus  den  Mauern  brechen  Hessen,  «weil  sie  nicht  mehr 
gut  seien  > .  Dass  die  ausgebrochenen  Blöcke  zum  Tlieil 
die    kostbarsten    antiken   Marmorsorten  und  trotz  ihrer 


« Unbrauchbarkeit  >  für  colossales  Geld  nach  England 
verkauft  worden  seien,  das  freilich  stand  nicht  in  den 
ofliciellen  Berichten,  aber  wahr  ist  es  deswegen  doch. 
Wer  Freude  an  Tunnels  hat,  kann  sich  hier  gütlich 
thun,  es  sind  ihrer  viele.  Endlich  waren  wir  auf  der 
Höhe.  Da  lag  nun  tief,  tief  unten  das  alte  schöne 
Pistoja  im  vollen  Sonnenschein.    Dann  ging's  in  weitem 


'^■^^^-■^'•^'^ 


^^ts^-^ar.mm.^r^- 


^t  \m 


Max  Liiierman».     Interieur. 


Bogen  über  das  Schlachtfeld,  wo  Catilina  fiel,  hinab  in's 
Tiefland,  immer  weiter  ins  volle,  südliche  Licht  hinein. 
Dann  kam  Prato,  die  herrlichen  Hügel  von  Fiesole, 
drüben  grüsste  San  Miniato,  der  Campanil  und  die 
mächtige  Kuppel  des  Domes  ragt  über  den  Baumkronen 
und  Dächern  empor  —  mir  schlug  das  Herz,  als  müsst' 
ich  einem  alten  Schatz  in  die  Arme  fliegen ,  ich  hätte 
jauchzen   mögen    und    den  ersten  besten  Menschen  um- 


armen. Jetzt  nur  schnell ,  schnell  heraus  und  fort  in's 
Quartier  und  dann  wieder  hinunter  —  doch  nein,  was 
zum  Fenster  hinaus  sichtbar  ist,  das  ist  schon  eine 
ganze  Welt  voller  Erinnerungen.  Die  Strasse  ist  nach 
Leo  X.  benannt,  gleich  daneben  heisst  eine  andere  nach 
Lorenz©  Magnifico  —  offenbar  hat  man  sich  beim 
strassentaufenden  Municipio  gelegentlich  einmal  daran 
erinnert,  dass  es  einst  Medici  in  Florenz  gab !    Nicht  weit 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


81 


Emil  ZimmtrmaHH.    Studie. 


vom  Fenster  fliesst  der  Mugnone  am  Wall  hin,  der  diesen 
äussersten  neuen  Stadttheil  abschliesst,  nicht  etwa  aus 
fortificatorischen  Gründen ,  .sondern  in  gleichem  Sinne  wie 
die  «Linie»,  der  viel  besprochene  Mauergürtel,  die  Stadt 
Wien  davor  bewahren  musste,  dass  keine  Kartoffel  und 
keine  Wurst  unverzollt  in  die  Stadt  gelange.  Auf  dem 
Wall  gehen  die  Wächter  des  Gesetzes  auf  und  ab  — 
was  gilt  ihnen  der  F"rühling,  die  herrliche  Landschaft, 
sie  sind  die  Augen  der  städtischen  Finanzwirthschaft, 
und  das  enthebt  den  Menschen  aller  überflüssigen  Ideen 
über  —  nun  z.  B.  über  Poesie  und  andere  Herrlichkeiten. 
Jenseits  des  Mugnone  ein  Vorterrain,  das  herrlichste 
was  man  sich  denken  kann :  grüne,  wirklich  grüne  Wiesen 
mit  duftenden  Blumen,  ganze  grosse  Büschel  blühender 
Rosenstauden,  Baumgruppen  ,  Pappeln  ,  Cypressen  und 
volle  Laubwipfel ,  zwischen  denen  4iin  und  wieder  ein 
flaches  Dach  hervorschaut,  dann  sanft  gewellte  Hügel- 
ketten mit  prächtigen  Gärten  und  Villen,  Alles  wie  breite 
grosse  Treppenanlagen  aufsteigend,  unendlich  schön  in 
der  Linie,  in  der  Farbe,  dort  die  Villa  Palmieri,  in  der 
Boccaccio  dem   « Decamerone »    das  Leben  gab  —  und 


darüber    die    Höhen    von    Fiesole    mit    den    niederblickenden 
Häusern ,    jene    Hügel ,    an    deren    Erscheinung    ein    Liebreiz 
eigener    Art    hängt    und    endlich    zum  Schlüsse    in    weichen, 
weitgezogenen  Linien  tiefblau   der  Appennin  I    Ja,  es  ist  das 
alte ,    herrliche  Florenz ,    die  Blumenstadt    —    verzeih'    mir's, 
nordische  Heimath ,    dass    mein  Herz    so  voller  Jubel !    Viel- 
leicht   ist's    das  Frühjahr    allein,    der  Sonnenschein,    ein   Paar 
Blumen    —    —  vielleicht,    vielleicht  auch  das  Gedenken,  dass 
hier  der  Boden  ist,  von  dem  aus  die  Befreiung    der    Geister 
sich    vorbereitete ,    kurzum  der  Boden ,    der  mit    dem  Worte 
«Renaissance»     verbunden  ist,    wie    der   lebende, 
athmende  Körper  mit  dem  Blute,  das  zum  Herzen 
strömt     und    von    dort  wieder  bis    in  die  feinsten 
Aederchen  des  verzweigtesten  Organismus   hinaus- 
getrieben wird.  Freilich  haben  die  Quattro-Centisten 
und  Cinque  -  Centisten  nichts  gewusst  von  der  Be- 
zeichnung, welche  ihrer  Zeit  und  ihren  Bestrebungen 
von   einer   späteren   Periode   gegeben   worden  ist. 
Auch  ist  das  Wort  «Renaissance»  zum  Theil  gar 
nicht    richtig,    denn    die    befreienden    Thaten    des 
Geistes  und  der  Kunst  waren  zu  eigenartiger  Gattung, 
als  dass  sie  wie  eine  aufgewärmte   Geschichte   an- 
ge.schaut  werden  konnten,    rissen  sie  doch    den   ganzen 
Menschengeist  in  Bahnen,  die  er  früher  nie  gekannt  hat. 
Die  Renaissance  im  weitesten  Begriffe  war  eine  Revolution 
in  des  Wortes   edelster  Be- 
deutung, und  wenn  man  einen 
der  Hauptherde    dieser    um- 
gestaltenden    Geistesbeweg- 
ung  kennen  lernen  will,    so 
ist  die  Arno-Stadt  wohl   die 
edelste  Vertreterin.   Und  wer 
es    versteht,    zu    geniessen, 
sich  Eindrücke  zu  holen,  die 
haften   bleiben   wie    die    Er- 
innerung an  grosse  Melodien 
und    Bilder,    der   wird  auch 
ohne  Reisehandbuch  da  seine 
Rechnung  finden ,    es   heisst 
blos: «  Die  Augen  aufmachen, 
um   nicht   lediglich  optische 
Eindrücke  zu  haben,  sondern 
um  damit  zu  fühlen ! »  Freilich 
laufen  die  meisten  Menschen 
als  Namens-  und  Datumver- 
zeichnisse in  der  Welt  herum 


Ernst  Zimmermann.    Studie. 


11 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEri". 


und  glauben,  den  Zweck  einer  Reise  vollständig  erreicht 
zu  haben,  wenn  sie  das  im  Reisehandbuche  Gesagte  mit 
dem  Originale  vei|^leichen.  Am  amüsantesten  aber  ist 
jene  Quote,  die  a  tout  prix  bewundem.  So  sah  ich  in 
der  Accademia  ein  Häuflein  Leute  stehen,  die  nach  Er- 
oberung der  zum  Leben  nöthigen  Mittel  in  der  Neuen 
Welt  sich  nun  an  den  Culturwundem  der  Alten  ergötzen. 
Unter  einem  Bilde  stand  v  Ignoto  >  (unbekannt),  worauf 
denn  eine  Dame 
der  Gesellschaft 
erklärte ,  dieser 
Maestro  Ignoto 
müsse  offenbar  ein 
seltsamer      Kauz 

gewesen  sein, 
denn  man  finde 
Kilder  von  ihm, 
die  unter  sich  sehr 
verschieden  seien. 
Ob  die  gleiche 
Dame  es  war,  die 
beim  Besuche  des 
Palazzo  l'itti  eine 
leere  Stelle  an  der 
Wand     mit     der 

Bezeichnung 
tCopiasi>  (d.  h. 
das  Bild  wird  co- 
pirt ,  hängt  also 
nicht  da)  dahin 
deutete,  dass  alle 
Bilder  des  Malers 
Copiasi  wegge- 
nommen seien  — 

das    weiss    ich 
nicht,  aber  sicher 
ist,  dass  man  un- 
ter  dem   riesi<;en 
Schwärm  der  Kunst-Reisenden,  man  sollte  sie  eigentlich 

Kunst-Hyänen  5  nennen,  Exemplare  trifft,  die  in  guter 
.-\uswahl  zusammengestellt  bei  Barnum  ein  Riesenaufsehen 
erregen  würden.  Sie  stechen  um  so  mehr  von  der 
Umgebung  ab,  als  das  Volk  ringsum  lebensfroh,  heiter, 
liebenswürdie  ist.  wenn  auch  Manches  verschwunden  er- 
scheint,  was  einer  anderen  Zeit  den  Stempel  grosser 
Denkweise  gab.    Was  am  Italiener  Jedem,  der  ihn  kennt, 


hrmt  Zimmtrmann.     I'ortrait- Studie. 


in  erster  Linie  angenehm  auffällt,  das  ist  die  Genti- 
lezza,  vor  Allem  auch  des  Vornehmen.  Die  näselnde  Von- 
Oben  -  Herab  -  Behandlung ,  die  in  Deutschland  so  sehr 
beliebt  ist  und  in  gewissen  Kreisen  zu  den  aristokratischen 
Allüren  gezählt  wird ,  i.st  dem  Romanen  fremd.  Andere 
Dinge  freilich  berühren  uns  Barbari  Tedeschi  sonderbar. 
Da  existirte  mitten  in  der  Stadt  das  Viertel,  das 
die    Bezeichnung    des    t  Mercato    vecchio  >    trug ;     man 

kann  sagen ,  es 
sei  das  Herz  von 
Florenz  gewesen, 
war  ea  doch  das 
alte    Forum ;     es 

existirt  seit 
allerneuester  Zeit 
nicht  mehr.  Die 
engen  Ga-s.scn,  die 
feuchten,  moderi- 
gen Winkel  muss- 
ten  dem  Bedürf- 
nisse unserer  Tage 
nach     Luft     und 

Licht  weichen, 
man  riss  kurzweg 
alles  nieder.  Dass 
aber  das  Stamm- 
haus der  Medici 
mit  fallen  musste, 
da.ss  das  Haus  des 
Brunellesco  fiel, 
(las  legt  die  Frage 
nahe,  ob  da  nicht 
neben  dem  Sanir- 
ungs  -  Bedürfnisse 
auch  ein  gutTheil 

Barbarei  und 
grobe  Ignoranz 
sich  geltend  ge- 
macht habe;  wo  die  glorreiche  Geschichte  eines  Gemein- 
wesens mit  Namen  verknüpft  ist,  wie  es  bei  Florenz  dem 
Namen  der  Medici  und  dem  des  Brunellesco  gegenüber 
der  Fall,  da  taucht  doch  mit  Berechtigung  die  Frage 
auf,  ob  solche  Wahrzeichen  ruhmvoller  Vergangenheit 
nicht  der  Schonung  ä  tout  prix  werth  gewesen  wären! 
Camillo  Boito,  der  kürzlich  einen  Vortrag  hielt,  äusserte 
sich  dahin ,  dass ,    wenn    er    diese    Zerstörung  des  alten 


Ernst  Zimmermann.     Skizze. 


11' 


84 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEn\ 


Centrums  von  Florenz  ansehe,   es  ihm  vorkomme,   als 
müsste  er  der  Section  eines  ihm  geliebten  Wesens,  das 
mit  behördlicher   Genehmigung  ermordet   worden,   bei- 
wohnen,    c  Niemals    wieder »  ,    schloss    er ,    t  soll    mein 
Fuss,  weder  bei  Sonnen-  noch   bei  Mondenschein,   da 
ruhen,  wo  das  neue  Florenz  sich  als  Centrum  der  Stadt 
aufthut. >     Es  ist  doch    manchmal,   wie  wenn  die  Vor- 
sehung  sich    mit 
städtischen    Ver- 
tretern  schlechte 
Witze     erlaubte ; 
diese     Erfahrung 
kann  man  auch  an- 
derswo    machen. 
Uebrigens    regt 
sich   in  Italien  in 
den  wirklich   ge- 
bildeten   Kreisen 

allgemein   ein 
Aberwille    gegen 
das  rücksichtslose 

Zerstören  der 
Monumente     und 

historischen 
Plätze,    und  man 
ist    daran ,    einen 

Gesetzentwurf 
einzubringen,  wo- 
nach keine  Com- 
mune mehr  von 
sich  aus  bauliche 
Aenderungen  vor- 
nehmen darf,  wo- 
bei   die    Existenz 

historischer 
L'eberbleibsel  be- 
droht wird.     Die 

Regierungsbau- 
meister wütheten 
hier  mit  ebenso- 
viel Geschick,  als  sie  es  anderswo  thaten,  es  bei  deutschen 
Kirchenrestaurirungen  in  vielen  Fällen  noch  thun !  Natür- 
lich, wer  ein  Staatsexamen  hinter  sich  hat,  ist  eo  ipso 
jjescheidter  als  andere  Leute,  folglich  muss  das  auch  gut 
>ein,  was  aus  den  Gedankenwerkstätten  solch  staatlich 
concessionirter   und   privilegirter   Kunst-Bildungs-Inhaber 


hervorgeht.  Man  schaue  nur  manche  dieser  Architektur- 
producte  an,  wenn  man  sich  den  Appetit  für  modernes 
Bauwesen  gründlich  verderben  will.  Erstünden  schliess- 
lich noch  Dinge,  ob  deren  Vorhandensein  man  sich 
freuen  kann,  so  läge  die  Sache  vielleicht  ein  wenig 
anders.  Aber  es  ist  in  Florenz  ebensowenig  wie  in  Rom 
oder  sonstwo  der  Fall,  denn  die  personificirte  Langeweile, 

nicht  etwa  ein 
grosser  Zug  des 
modemenGeistes. 

macht  sich  da 

breit  und  sagt  es 

laut,  wie  weit  die 

Fähigkeiten     der 

Enkel  jenen   der 

Vorfahren  ent- 
sprechen. Wohl 
kehren  die  For- 
men der  architek- 
tonischen Vorbil- 
der, die  auf  Schritt 
und  Tritt  einem 
vor  die  Augen 
treten ,  auch  an 
den  modernen 
Bauten  wieder, 
aber  sie  wirken 
wie  aus  Pappen- 
deckel herge- 
stellt; der  Geist, 
der  die  Riesen- 
quadem  des  Pitti 

aufeinander 
thürmte,  er  fehlt, 
und  bei  alledem 
begegnet  man 
dennoch  nicht 
einem  genialen 
Wurfe,  wie  ersieh, 
den  Bedürfnissen 
unserer  Tage  ent.sprechend,  z.  B.  in  der  Galleria  Vittorio 
Emmanuele  zu  Mailand  zeigt.  Mit  dem  Ausbau  der  Dom- 
fagade  war  weiter  nichts  erreicht,  als  die  Abtragung  einer 
Ehrenschuld,  Das  völlige  Abreissen  des  Mercato  vecchio 
aber  setzt  diesem  einen  Factum  ein  Fragezeichen  von 
riesiger  Grös.se  entgegen.     Vielleicht  fällt  es  demnächst 


Krnit  Zimmtrmatißi.     Studie  zu  dem  Bilde :    <  In  der   Kirche,  > 


03 

t-, 

CD 
N 
03 
O 


0) 

Q 


/ 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


85 


Jemandem  ein,  an  Stelle  des  Ponte  vecchio  eine  moderne 
Eisenconstruction  zu  setzen  oder  die  Kuppel  des  Domes 
zu  einer  Central-Telephonstation   umzugestalten,    warum 
denn    nicht!     Eines    bleibt  aber   doch   zu    hoffen  übrig, 
dass  man  nämlich  in  Florenz    nicht  thue,   was    in  einer 
grossen,    modernen    Millionenstadt    möglich    war:     Ein 
monumentales   Wachsfiguren- Cabinet,    ein    Panopticum, 
so  zu    sagen   als   Mitte   der   Stadt,    wo    Berühmtheiten 
der   allerverschiedensten  Art  vom   Publicum   angestaunt 
werden,  dassolche 
Curiositäten      für 
Kunst  hält  und  da- 
ran seine  Studien 

macht  I  Es  ist  nur  _ 

zu  venvundern, 
dass  man  noch 
keine  Wachs- 
figuren -Stand- 
bilder mit  wirk- 
lichen Röcken  und 
Hosen  auf  öffent 
liehe  Plätze  stellt. 
Vielleicht  kom- 
men wir  auch 
noch  zu  dieser 
Errungenschaft. 

Italien  hat  eine 
Schule ,     sowohl 
unter  seinen 
<  hommes   de 
lettres  »  wie  auch 
unter  den  Künst- 
lern, welche  sich 
«Veristi »  (Wahr- 
heits- Apostel) 
nennen ;  man  kann 
beiden    nicht  ab- 
sprechen, dass  sie 

mit  ehrlichem  Willen  bestrebt  sind,  ihren  Ideen  an  der 
Hand  von  allerlei  guten  und  nicht  guten  Schöpfungen 
Geltung  zu  verschaffen.  Ich  hatte  mir  lange,  lange  Zeit 
den  David  von  Michelangelo  in  der  Accademia  angeschaut 
und  dabei  hin  und  her  überlegt,  auf  was  für  neuen  Prin- 
cipien  eigentlich  die  Wahrheitsbringer  der  Kunst  unserer 
Tage  ihre  fruchtbaren  Theorien  aufbauen,  ob  sie  im 
Stande    seien,    die    Natur    auch    nur    in    einem    Punkte 


.-:äC:-r: 


Ernst  Zimmermann.      Studie 


realistischer  wiederzugeben,  als  sie,  um  nur  ein  einziges 
Beispiel  zu  nennen,  gerade  in  dieser  Davidsfigur  wieder- 
gegeben ist,  bei  der  allerdings  ausser  der  anatomischen 
Wahrheit  des  Körpers  auch  noch  ein  anderer  Umstand 
mitspricht ,  der  künstlerische  Geist  nämlich ,  der  die 
todte  Materie  belebt  und  aus  dem  jugendlich  unge- 
schlachten Menschen  eine  riesengrosse,  beinahe  fürchter- 
lich wirkende  Erscheinung  geschaffen  hat!  Noch  ist 
Goliath  nicht  überwunden,  das  Wohlfeilste,  der  Schwert- 
streich ,  der  das 
Haupt  des  Riesen 

vom  Rumpfe 
trennt,  liegt  noch 
in  weiter  Ferne, 
es  ist  vielmehr  das 
Auflodern  des  Ge- 
dankens   in    dem 

jugendlichen 
Kämpen :  Mein 
Wurf  muss  ihn 
fällen !  Der  ganze 
Ideengang  ist  nur 
auf  das  eine  Ziel 

gerichtet,  die 
Hände ,  welche 
das  Wurfgeschoss 
bergen ,  drehen 
dieses  unwillkür- 
lich, der  Kopf,  das 
Sinnen  in  dem- 
selben hat  mit  der 

Bewegung  der 
Gliedmassen  ab- 
solut nichts  zu 
schaffen.  Und  was 
sind  das  für  Glied- 
massen !  Es  sind 
Hände ,  die  an 
rauhe  Arbeit  gewohnt  erscheinen,  ihr  grobknochiger  Bau 
spricht  dafür ;  der  ganze  Körper  sagt  es,  dass  diese  Mus- 
culatur  nicht  in  der  Stube  gross  geworden  ist,  es  liegt 
durchaus  nur  der  Ausdruck  des  Naturkindes  in  der  ganzen 
Erscheinung,  nichts  verräth  das  spätere  Avancement 
zum  König !  Ich  wüsste  nicht ,  ob  die  Aufgabe 
realistischer  und  schöner  zugleich  hätte  gelöst  werden 
können.  Michelangelo  nahm  bekanntermassen  ein  bereits 


/ 


86 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEFF. 


angehauenes  Stück  Marmor  für  diese  Figur.  Ursprüng- 
lich war  das  Material  für  eine  ganz  andere  Statue 
bestimmt  und  diese  auch  bereits  in  den  Hauptmassen 
angelegt.  Sie  blieb  unvollendet  liegen,  bis  der  Meister 
der  Medicäer  -  Graber  sich  des  angehauenen  Blockes 
bemächtigte  und  ohne  weiteres  aus  demselben  die 
jugendliche  Heldenfigur  herausschälte.  Ein  ungemein 
interessantes  Stück,  in  einzelnen  Theilen  ganz  vollendet, 
in  anderen  noch  völlig  mit  dem  Blocke  verwachsen, 
ist  der  im  Hofe  der 
Accademia  aufgestellte 
Matthäus,  eine  Figur, 
wenn  man  die  Meissel- 
Skizze  so  nennen  soll, 
in  der  sich  ebenfalls  die 
ganze  Wucht  der  An- 
schauung des  grossen 
Meisters  documentirt. 
Man  sieht  an  den  kühn 
weggehauenen  Partien 
förmlich  die  Hast,  die 
Ungeduld  des  gestalten- 
den Künstlers,  der  nicht 
schnell  genug  in  Form 
und  Linie  vor  sich 
sehen  konnte,  womit 
seine  Riesenphantasie 
bereits  vollständig  im 
Klaren  war.  Das  aber 
gerade  ist  es,  was  nicht 
blos  seinen,  sondern  sehr 
vielen  Bildwerken  des 
Quattro-  und  Cinque- 
Cento  jene  Unmittel- 
barkeit giebt,  die  in 
vielen  Fällen  vom  Bild- 
hauer direct,  ohnePunk- 
tirung  nach  dem  Gyps- 

modell.  aus  dem  Stein  entwickelt  wurden.  Es  gehörte 
dazu  allerdings  eine  tiefgehende  Kenntniss  der  Formen 
und  bestimmte,  absolut  klare  Vorstellung  des  Gewollten. 
Unsere  modernen  Bildhauer  dagegen  stellen  sich  zu- 
näch.st  ein  Modell  aus  Thon  her,  lassen  es  dann  abformen 
und  beginnen  die  Steinarbeit  erst  nach  Fertigstellung 
des  Gypsmodells;  die  Steinfigur  ist  mithin  im  Gnmde 
genommen  kein  Original,  sondern  eine  Copie  nach  dem 


Ernst  Zi» 


Original-Modell,  ein  Umstand,  der  sich  oft  gar  deutlich 
durch  die  mangelnde  Frische  fühlbar  macht.  Der  in 
Florenz  lebende  Bildhauer  Hildebrand,  ein  Künstler,  an 
dessen  Werken  jeder  Unbefangene  Freude  empfinden 
muss,  hat  bei  seinen  letzten  Arbeiten  das  Princip  der 
Alten  befolgt,  direct  aus  dem  Stein  heraus  nach  der 
Natur  gearbeitet.  Es  wird  sich  in  einem  speciellen 
Artikel  Gelegenheit  finden,  auf  die  trefflichen  Arbeiten 
dieses    Künstlers    zurückzukommen,     dem    es    verübelt 

wurde,  dass  er  als  deut- 
scher Künstler  in  Flo- 
renz lebe,  wie  wenn  es 
irgend  einem  Menschen 
zu  verargen  wäre,  wenn 
er  lieber  an  der  Quelle 
trinkt,  als  aus  zweiter 
Hand.  Oder  wird  am 
I-lndc  gar  eine  Professur 
an  einer  deutschen  Aca- 
demie  als  der  höchste 
künstlerische  Endzweck 
ange.schaut  ?  Möglich, 
dass  es  Käuze  gibt,  die 
das  glauben. 

Unweit  vom  David 
in  der  Accademia  hängt 
ein  Bild,  das  weibliche 
Figuren  in  einem  Baum- 
haine zeigt  und  wohl 
irgend  eine  Allegorie 
auf  Jugend,  Schönheit 
und  Frühling  darstellt. 
Näheres  darüber  weiss 
ich  nicht.  Ich  weiss 
blos,  dass  es  von  Sandra 
Botticelli  gemacht  und 
eines  jener  Bilder  ist. 
die  unter  der  Erinnerung 
an  tausend  und  abertausend  bemalte  Leinwanden  ebenso 
fest  und  nachdrücklich  haften  bleiben  wie  die  Figur  der 
Magdalena  zu  Füssen  des  Kreuzes  Christi  von  Luca 
Signorelli.  Bei  jenen  blondgelockten,  wundersam  schönen 
Figuren  auf  dem  Frühlingsbilde  des  Botticelli  (dessen 
Würdigung  als  Galleriebild  man  der  Fürsorge  von  Dr. 
Bayersdorffer  in  München  zu  verdanken  hat ,  der  es 
irgendwo  aus  einem  dunklen  Winkel  an's  Licht  beförderte) 


Zahme  Indianer. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


87 


musste  ich  unwillkürlich  an  Böcklin  und  Klinger  denken, 
und  es  ist  mir  unschwer,  zu  glauben,  dass  Beide  dieser 
Schöpfung  von  ganzem  Herzen  zugethan  sind.  Die 
Schönheit,  die  sich  darin  ausspricht,  hat  gleichzeitig 
etwas  Hoch  poetisches,  es  ist  ein  gemaltes  Gedicht. 
Uebrigens  wenn  man  hier  im  Frühling  herumschlendert 
an  den  Berghängen  von  Fiesole  und  Settignano,  dann 
versteht  man  Böcklin  in  vielen  Dingen  erst  recht,  denn 
die  Umgebung  von  Florenz  hat  ihn  zu  gar  mancher 
Schöpfung  begeistert;  oft,  wenn  ich  grüne,  blumige 
Wiesen,  die  im  Grunde  genommen  durchaus  mehr  land- 
schaftlich als  architektonisch  wirkenden  Villen  in  ihrer 
so  fabelhaft  malerischen  Gruppirung  der  einzelnen  Theile 
des  Gebäudes,  die  farbigen  Rosenhecken  längs 
der  Wege,  die  feurig  blühenden,  in  grossen 
Büscheln  zusammenstehenden  wilden  Tulpen 
und  die    silberig    leuchten- 


,'^ /^i  , 


den    Oliven,   darüber   aber 
den    Himmel     mit    seinen 
grossen    weissen ,    langsam 
dahinziehenden  Wolken- 
schiffen sah,  da  war's  mir, 
als  müsste  ich  mich  an  irgend  eines 
der   schönen    landschaftlichen  Bilder 
des  Schweizer  Meisters  erinnern.    Er 
hat    sein    Atelier    übrigens    an    der 
Strasse  längs  dem  Mugnone  hin  ge- 
habt   und    brauchte    nur    aus    dem 
Atelierfenster    zu    schauen ,   um    den 
prächtigsten    Landschaftszauber    auf 
sich  wirken   zu  lassen.     Dieser  Um- 
stand veranlasste  seiner  Zeit  ein  paar 
Besucher   seines  Ateliers,    die    nicht 
recht  wussten,  was  sie  zu  den  Bildern 
sagen  sollten,   zu   dem   Ausspruche: 
«Die    Aussicht  von    hier    gehört    doch    wohl   mit    zum 
Besten  an  diesem  Atelier»,  worauf  Böcklin    trocken  er- 
widert haben  soll,    «wenn    Sie  sich   die   Mühe   nehmen 
wollen,  hinauszugehen,   so  haben  Sie  das  unten  auf  der 
Strasse    noch    weit    schöner.  >     Ob    die    Besucher    den 
deutlichen   Wink    verstanden,     erzählt    die    Geschichte 
weiter  nicht.    Wo  es  übrigens  so  viele  herrliche  Sachen 
zu  schauen  gibt,    muss  man    doch   auch   der    malenden 
und  bildenden  Kunst   unserer   Zeit  gedenken  und  nicht 
einseitig  nur  an  dem  « überwundenen  Alten  »  seine  Freude      auch  mit  anderm   Curs   segeln   könne ,    dann   F.   Pagiii, 
haben.     Es  traf  sich   günstig.     Unweit  der   Accademia      Salmoni,  Gluzzani  und  Torregiani.     Ob  sich  noch  weitere 


in  der  Via  Colonna  sind  die  Säle  der  Jahres- Ausstellung 
gegen  Erlag  einer  Lira  mitsanimt  ihren  Kunstschätzen 
zu  besichtigen,  und  es  wird  kaum  Jemand,  der  jene 
Räume  betritt ,  sie  unbefriedigt  verlassen ;  was  man  da 
zu  sehen  bekommt,  ist  so  köstlich  humorvoller  Natur, 
dass  es  gewiss  den  griesgrämigsten  Griesgram  zu  einem 
Schmunzeln,  zu  einem  Lächeln,  vielleicht  zu  einer  ge- 
sunden Erchütterung  des  Zwerchfelles  bringt.  Ich  weiss 
nicht,  wie  sich  jene  Schule  nennt,  die  Weiss,  Violett, 
Cadmium ,  knallendes  Blau  und  noch  einige  recht 
leuchtend   aussehen    sollende   Farben  mit  dem  Spachtel 

auf  die  Leinwand  aufsetzt, 
mit   dem  Pinselstiel    einige 
Striche  hineinmacht  und  das 
Ganze  als  Malerei  bezeich- 
net.    Was   Paris   in   dieser 
Hinsicht  bis  zur  äussersten 
Grenze    der    Caprice    geleistet  hat, 
ist    reines  Kinderspiel   gegen   einen 
Theil  der  Arbeiten  auf  der  Floren- 
tiner Jahres- Ausstellung;  soviel  ich 
ersah,     traten    diese    Dinge    auch 
offiziell  in  den  Wettstreit  mit  allen 
übrigen  Leistungen  ein ,    sie  waren 
als    «zur  Preisbewerbung    angemel- 
det »  bezeichnet.   Je  nun,  eine  Jury, 
welche  diese  Sachen  aufnimmt,  wird 
sie  wohl  auch  prämiiren,  und  es  gibt 
zweifelsohne  Menschen,  die  in  diesen 
Albernheiten        bahnbrechende 
Anschauungen  zu  erkennen  ver- 
mögen.    Ich  wüsste  nicht,  was 
in  dubio  vorzuziehen  wäre,  die 
conventioneile  Costüm  -  Malerei, 
die  gerade  in  Florenz  ihre  Haupt- 
vertreter hat,    oder   aber  diese  luministischen  Capriolen 
der  Herren  von  der  Livorneser  Schule ;  natürlich  hiess 
einer     davon    Müller ,     denn    wo    irgend    welche   Narr- 
heiten  passiren ,    muss  ja   immer  der  eine  oder  andere 
Deutsche  den  Haupt-Hanswurst  machen.    Sonst   las   ich 
unter   diesen    Dingen    —    Arbeiten    kann   ich  sie  beim 
besten    Willen    nicht    nennen    —    die  Namen  Signorini, 
Cortiggiatti ,     der     übrigens     in     einigen   Whistler'schen 
Nachempfindungen    zeigte,    dass    er    unter    Umständen 


Ernst  Zimmermann.    Fahrende  Musikanten. 


88 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Bekenner  dieser  neuesten  Richtung  vorfanden,  weiss  ich 
nicht,  denn  viele  Zimmer  voll  Mitteimässigkeiten  rufen 
das  Bedürfniss  nicht  hervor,  eine  solche  Kunstpromenade 
allzu  stark  auszudehnen.  Von  wirklich  ernsten  Arbeiten 
sah  ich  ausser  einer  Viehtränke  von  Panerai  äusserst 
wenig;  das  Uebrige  stand  etwa  auf  dem  Niveau  einer  sehr 
geringen  Münchencr  Kunstvereins  -  WochenausstcIIung  : 
viel  schwachathmiges  Zeug,  was  nach   gar  keiner  Seite 

hin  auch  nur  im  entfern-  

testen  Race  hat.  Viel- 
leicht Ist  das  der  Ge- 
schmack des  modernen 
italienischen  Publicums  — 
ich  weiss  es  nicht.  Die 
Alltags-Plastik,  die  offen- 
bar der  Hauptsache  nach 
mit  dem  Export  nach  den 
neu  entstehenden  amerika- 
nischen   Petroleum-    oder 

Schweineschiächter- 
Städten    es    zu  thun    hat, 
steht     auf    einem    Stand 
punkte,    für    den    die  Be- 
zeichnung     i  erbärmlich 
noch  eine  viel  zu  gute  ist ! 
Es    ist   weiter   gar    nichts 
als  Dutzendarbeit,   specu- 
lative  Fremdenfängerei  in 
Alabaster  und  Marmor,  die 
mit  dem  alierschlechtesten 
Geschmacke  rechnet,  wo- 
bei   offenbar    ganz    gute 
Geschäfte    gemacht    wer- 
den.    Unter  den  Figuren, 
denen  man  hier    zuweilen 
begegnet,   sind  jene  nicht 
selten,  die  nach  dem  .Xus- 
spruche  eines  mir  bekann- 
ten Amerikaners  den  reich    gewordenen    «  Wild  West  > 
bestens   illustriren .  ohne    dass  indess  die  Hautfarbe  ins 
Kupfrige   spielt.      Sie  gleichen    unseren    central  -  europä- 
ischen Geschmacks-Ur-Mexicanern  auf  s  Haar. 

Schaut  man  sich  in  einem  alten  Culturcentrum  nach 
Dem  um ,  was  die  Neuzeit  bietet,  und  prallt  man  bei 
solcher  Um.schau  so  zu  sagen  bei  jedem  Schritt  vor 
wahren  Ungeheuerlichkeiten  zurück ,    so   empfindet  man 


es  um  so  dankbarer,  wenn  man  endlich  auf  etwas  stösst, 
was  wirklich  künstlerisches  Streben  verräth ;  das  ist  bei 
den  Majoliken  von  CantagalU  der  Fall,  der  mit  sorg- 
samer Ueberwachung  manche  äusserst  zierliche  Arbeit 
herstellen  lässt,  freilich  immer  mit  Zugrundelegung  alter 
Vorbilder.  Vorerst  sind  diese  immer  das  Beste,  was 
man  haben  kann  :  unsere  Tage  haben  nichts,  gar  nichts 
Ebenbürtiges       vi     schaffen    vermocht.       Die    Tradition 

scheint  erloschen. 

Doch  —  was  ficht 
mich  das  Alles  an,  mögen 
die  Modernen  machen,  was 
sie  wollen,  hier  bleibt  ja 
die  Hauptsache  immer  die 
gleiche;  die  Trümpfe,  die 
unsere  Zeit  bis  jetzt  da- 
gegen auszuspielen  ver- 
mochte, kommen  nicht  in 
Betracht,  denn  es  ist  so 
zu  sagen  alles  schwäch- 
liches Zeug,  nichts  stellt 
im  Geiste  unserer  Tage 
sich  ebenbürtig  den  Zeu- 
gen der  Vergangenheit 
gegenüber.  Wenn  man 
von  dem  Neapolitaner 
Morelli,  einer  ganz  bedeut- 
.samen  Erscheinung ,  und 
vielleicht  noch  von  ein 
paar  anderen  Künstlern, 
Dalbono,  Micchetti,  Paltzei, 
Muzzioli,  absieht,  so  bleibt 
in     der    ganzen    grossen 

Halbinsel  erschreckend 
wenig  von  Dem  übrig,  was 
wirkliche  Kunst  ist,  und 
dazu  rechne  ich ,  wie  ge- 
sagt, die  mit  wenig  Vari- 
wieder  dasselbe  Thema  behandelnde 
Costüm-  oder  besser  gesagt  Schneider  -  Malerei  nicht, 
wenn  sie  auch  technisch  noch  so  geschickt  gehalten 
ist.  Es  ist  nicht  der  Mangel  an  Anlage,  der  gerade 
die  Künstler  dieser  Richtung  kennzeichnet,  bewahre, 
in  ihren  Arbeiten  spricht  es  sich  deutlich  genug  aus, 
dass  sie  etwas  Würdigeres  machen  könnten ;  allein  was 
.sie    machen,     ist    eben    gang    und    gäbe    Waare,    und 


Ernst  Zimmtrmann.     Studie 


anten     immer 


rboc.  r    BuMMüfl,   München. 


Schlepper  aui 


:^i'r;     iLlut;. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


89 


.^f«. 


so  liegt  den  Autoren  wenig  daran ,  ob  sie  die  Kunst 
prostituiren  oder  nicht  —  wenn's  nur  Geld  einbringt, 
eine  Erscheinung,  die  international  ist  und  einen  Theil 
der  gewaltigen  Kluft  bildet,  durch  welche  die  Kunst 
von  ehedem  von  dem  grösseren  Theile  der  Kunst  von 
heute  getrennt  ist.  Die  Alten  haben  sicherlich  auch 
nicht  von  der  Luft  gelebt,  vielmehr  sind  in  zahl- 
reichen Künstlerbriefen  jene  Stellen  durchaus  nicht 
selten ,  wo  es  zum  Schlüsse  wie  in  dem  Briefe  des 
Candidaten  Jobs  heisst:  c  Vergesst  mir  die  hundert 
Ducaten  doch  nicht » !  Indessen  waren  die  Alten  doch 
mehr  Künstler  der  Kunst  als  des  Erwerbes  wegen, 
es  steckte  nicht  jene  Portion 
von  handwerklicher  Speculation 
dahinter,    die    heute   manchen 

beim  Publicum  berühmten 
Künstler  zum  Exploitateur 
seiner  selbst  macht,  ihn  weiter, 
weiter  treibt,  bis  endlich  eine 
ersehnte  Vermögensziffer  er- 
reicht und  damit  auch  in  sehr 
vielen  Fällen  der  künstlerische 
Bankerott  besiegelt  ist.  Aber 
was  fragt  die  Welt  darnach,  — 
wenn  nur  der  Mann  reich  isti 
Das  zieht  schliesslich  doch 
überall  am  meisten,  und  da  es 
unabweisbar  so  ist,  so  kann  es 
nicht  wohl  geändert  werden, 
und  thöricht,  sich  darüber  zu 
beklagen.  Wir  sind  eben  ganz 
einfach  über  die  Periode  hin- 
über, wo  der  Kunst  die  Führer- 
rolle des  Menschengeschlech- 
tes zufiel.    Drum   schätze   sich 


Ernst  Zimmermann.     Studie. 


denn  was  wahrhaft  künstlerisch  ist,  verleugnet  die  Race 
niemals.  Zweck  und  Ziel  sind  stets  die  gleichen  ge- 
blieben, auch  wenn  die  Schicksals-Administratoren,  jene, 
welche  der  Kunst  Beschäftigung  gaben,  scheinbare 
Wandlungen  hervorzubringen  vermochten.  Was  nicht 
geleugnet  werden  kann,  das  ist,  dass  die  Besten  aller 
Zeiten  in  gewissem  Sinne  —  verstehe  man  mich  nicht 
falsch  —  sich  ähnlich  gewesen  sind,  mochte  auch  die 
Sprache,  der  Ausdruck  verschieden  gewesen  sein. 

Das  mag  sich  ein  Jeder  nun  zurecht  legen  wie  er 
will,  vielleicht  bietet  ihm  die  «Kunst  unserer  Zeit» 
hierin  manchmal    eine    Handhabe.     Ich   muss    übrigens, 

um  ehrlich  zu  sein,  hinzufügen, 
dass  wenn  ich  so  und  so  viele 
Säle  des  Pitti  oder  der  Uffizien 
durchwandert  und  mich  an  Kunst 
voll  getrunken  hatte,  ein  Blick 
aus  einem  Fenster  nach  dem 
Giardino  Boboli  oder  hin  nach 
dem  Ponte  vecchio  und  den 
darob  ansteigenden  grünen 
Höhen  mich  erfrischte,  wie  ein 
kühl  Getränk  —  ja,  ich  freute 
mich  darüber  und  dachte  da- 
bei, dass  die  Bilder,  die  ich  in 
den  Sälen  sah,  eigentlich  nicht 
für  Gallerien,  die  man  einmal 
nicht  ganz  unrichtig  mit  dem 
Ausdrucke  «Kunst-Menagerien » 
belegt  hat,  gemalt  worden  seien, 
sondern  dass  man  dergleichen 
Dinge  einzeln ,  in  der  Stille, 
im  künstlerisch  decorirten 
Räume  genoss  und  dann  eben 
andern  Genuss  davon  hatte,  als 


glücklich,    wer,    wie    an    kräftigem    alten    Weine,    sich  wenn  man  die  besten  Meister  serienweise  vertreten  sieht, 
erfreuen  kann  an  den  Zeugen  einer  Kunst,  die  einst  die  Es  wäre  sehr  schön,   zum  Schlüsse  etwas  über  die 

Welt   beherrschte,  und  wenn  er  in  unseren  Tagen  dem  famosen    Zeichnungen    von    Lieöemtann   zu    sagen,    den 

Einen  oder  Andern    begegnet ,    was   selbstständig ,    was  geistreichen   Skizzen   von    Ernst  Zimmermann    ein  Wort 

gross   und  würdig  ist,  was  auf  eigenen    Füssen    daher-  zu  widmen,  ebenso  wie  über  die  Vollbilder,  welche  dies- 

geht  und  aus  eigenem  Sinne   entstanden    ist,    gleichviel  mal  beigegeben  sind,  zu   berichten  —  das  verspare  ich 

welcher  Richtung    es    angehöre,    wenn    es   nur  gut  ist,  mir  für  ein  andermal,  jetzt  will  ich  nach  Fiesole  hinauf- 

dann  denke  man,    dass  da  eine  Flamme    von   gleichem  steigen.    Dort  oben  schreibe  ich  weiter  —  aber  später! 

Stoffe   brenne,    wie  sie  einst    den  Alten  geleuchtet  hat,  Für  diesmal  Punctum! 


13 


90 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


SCHOTTISCHE  MALER 


VON 


HELENE   ZIMMERN. 


,1s  eine  interessante  Erscheinung  im  Kunstgebiet 
Englands  ist  aus  dem  sonst  an  neuen  künstlerischen 
Elementen  nicht  eben  reichen  letzten  Jahre  daselbst  das 
Auftreten  einer  Anzahl  schottischer  junger  Maler  von 
hervorragender  Bedeutung  zu  verzeichnen  gewesen.  So 
sehr  sie  sich  auch  in  ihren  Werken  von  einander  unter- 
scheiden, sind  ihnen  doch  gemeinsam  ganz  wesentliche 
Züge  eigen,  welche  ihre  Zusammengehörigkeit  als  eine 
bestimmte  Gruppe  ebenso  deutlich  markiren,  wie  sie 
ihnen  den  Charakter  einer  Opposition  gegen  die  land- 
läufigen, mehr  aligemein  vertretenen  Geschmacksrichtungen 
und  Lehrmethoden  aufprägen. 

Diese  Gruppe  wird  von  den  meisten  englischen 
Kunstkritikern  als  die  Glasgower  Schule  l>ezeichnet; 
ein  passenderer  und  correcterer  Name  für  dieselbe  würde 
indessen  cDie  neue  schottische  Schule»  sein. 
Allerdings  sind  die  meisten  dieser  Künstler  Glasgower, 
aber  darum  eben  auch  entschieden  schottisch  national 
in  ihren  Zielen  und  Empfindungen,  denn  Glasgow  ist 
der  Sammelplatz  und  Mittelpunkt  für  den  Geist  des 
modernen  Schottland.  In  dieser  arbeitsamen  Stadt  con- 
centrirt  sich  das  für  die  Kinder  jenes  Landes  charakter- 
istische, kräftig  pulsirende  Leben,  welches  in  Prosa  und 
in  Versen  besungen  ward  von  einem  der  grössten  Dichter 
dieses  Volkes,  Sir  Walter  Scott. 

Vor  mehreren  Jahren  wurden  in  den  Londoner  und 
Pariser  Ausstellungen  bemerkenswerthe  Gemälde  junger 
Schotten  vorgeführt.  Obwohl  nur  vereinzelt  auftretend, 
verfehlten  diese  Bilder  nicht ,  Beachtung  zu  erregen, 
und  als  im  Jahr  1 888  Lavery's  c  Lawn  Tennys  Party  » 
die  erste  goldene  Medaille  erzielte ,  die  jemals  in  Paris 
einem  Kunstwerk  aus  Schottland  zuerkannt  worden,  da 
ward  die  Gruppe  der  schottischen  Maler  zum  Gegenstand 
besonderer  Aufmerk.samkeit.  In  den  Pariser  Künstler- 
kreisen wird  c  L'^cole  des  Ecossais  »  als  eine  Schule  von 
ausgesprochener  Individualität  geschätzt,  und  alljährlich 


sucht  man  im  <  Salon  >  eifrig  nach  den  Werken  derselben 
—  Die  Tür  neuere  Geschmacksrichtungen  empfänglichen 
Dircctoren  der  Grosvenor-Galerie  in  London  hatten  in 
der  Ausstellung  von  1890  eine  Anzahl  Gemälde  der 
genannten  Schule  vorgeführt.  Als  zu  Anfang  des 
Sommers  1890,  in  der  Zeit  der  grossen  Londoner 
Ausstellungen,  eine  Deputation  der  MUnchener  Künstler- 
Genossenschaft  zwecks  Auswahl  für  die  bevorstehende 
Jahres-Aausstellung  nach  London  gekommen  war,  und 
diese  Herren  ihre  Umschau  auf  dem  Gebiete  der 
englischen  Kunst  hielten,  da  machten  sie  ihre  interessan- 
teste Entdeckung  in  der  Grosvenor-Galerie.  Ein  Bild 
erregte  ihren  besonderen  Beifall ;  im  Katalog  danach 
forschend,  fanden  sie,  dass  es  aus  Glasgow  stammte. 
Ein  anderes  Bild  machte  ebenfalls  Eindruck  —  es  war 
ebenfalls  von  einem  Glasgower  gemalt,  bei  einem  dritten 
Gemälde,  das  ihnen  zusagte,  war  derselbe  Ortsname 
angegeben,  kurz  und  gut  —  nachdem  die  Münchener 
Abgesandten  alle  Ausstellungen  Londons  besichtigt 
hatten,  waren  sie  zu  dem  Re-sultat  gelangt,  dass  die 
eigenartigsten  und  bemerkenswerthesten  der  in  diesem 
Jahre  ausgestellten  Gemälde  hauptsächlich  von  Künstlern 
aus  Glasgow  herrührten.  Sie  reisten  nach  Schottland  und 
setzten  sich  mit  den  Künstlern  persönlich  in  Beziehung. 
Das  Resultat  war  denkbarst  günstig,  denn  eine  ausser- 
ordentlich grosse  Zahl  von  Bildern  wanderte  nach  der 
Isarstadt,  woselbst  im  Glaspalast  mehrere  Räume  aus- 
schliesslich mit  schottischen  Werken  geschmückt  wurden. 
Ehrungen  und  Auszeichnungen  waren  die  natürliche 
Folge  des  Vorganges. 

Ist  nun  Das,  was  von  dort  gekommen,  eine  Be- 
reicherung der  Kunst  im  wahren  Sinne  des  Wortes? 

Die  Glasgower  Künstler  selbst  stehen  keineswegs 
allein  mit  der  Idee,  dass  die  von  ihnen  eingeschlagene 
Richtung  zu  weit  bedeutenderen  Zielen  führen  werde, 
als   die    Welt   bisher  weiss,  ja,  dass  die  von  ihnen  aus- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


91 


gehende  Bewegung  eine  der  wichtigsten  im  modernen 
Kunstleben  Europa's  ist,  die  seit  den  Tagen  der  Neuerer 
von  Barbizon  stattgefunden  hat. 

Um  die  wirkliche  Bedeutsamkeit  ihrer  Bestrebungen 
verstehen  zu  lernen,  müssen  die  Kunstverhältnisse  des 
Landes,  von  welchem  die  Bewegung  ausgeht,  in's  Auge 
gefasst  werden.  In  England  ist  die  Kunst ,  da  ihr  die 
staatliche  Unterstützung  mangelt,  weniger  durch  traditio- 
nelle academische  Einflüsse  gehemmt  worden,  als  in  anderen 
Ländern.  Sind  nun  die  englischen  Künstler  auf  diese  Weise 
in  geringerem  Grade  der  Gefahr  ausgesetzt,  Sclaven  einer 
conventioneilen  Art  zu  werden,  so  liegt  andererseits  für  sie 
die  Versuchung  desto  näher,  im  Streben  nach  Popularität 
die  Kunst  zu  verleugnen.  Nirgends  fällt  der  begabte 
Künstler  mehr  der  Verlockung  anheim ,  seine  ernsten 
Ziele  zu  vernachlässigen,  um  Bilder  zu  malen,  die  darauf 
berechnet  sind,  oberflächliches  Gefallen  und  leichtes 
Verständniss  bei  dem  grossen  Publicum  zu  finden.  Er 
wird  verleitet,  ein  ihm  gelungenes  Bild,  das  Beifall  ge- 
funden hat,  mit  leichten  Veränderungen  des  Gegen- 
standes immer  wieder  zu  malen ,  bis  die  Effecte  durch 
die  fortwährende  Wiederholung  abgeschwächt  und  ver- 
fehlt werden.  Daher  kommt  es,  dass  in  englischen 
Ausstellungen  so  oft  eine  eigenthümliche  Monotonie  in 
der  Darstellung  der  Natur,  in  welcher  doch  nicht  zwei 
Grashalme  einander  ganz  genau  gleichen,  sich  geltend 
macht.  In  vielen  Fällen  braucht  der  Galeriebesucher  nur 
einen  Namen  zu  hören,  um  zu  wissen,  was  der  Genannte 
gemalt  hat,  und  welchen  Eindruck  das  Bild  auf  den 
Beschauer  machen  wird.  Die  pseudo  -  classischen  Ge- 
stalten des  Einen,  die  historischen  Entwürfe  des  Anderen ; 
die  Scenen  aus  der  eleganten  Welt,  die  Landschaften, 
die  anstatt  mit  der  lebendigen  Natur  selbst,  nur  mit 
früheren  Werken  des  Malers  verglichen  werden  können 
—  schier  endlos  ist  die  Reihe  solch  hinlänglich  be- 
kannter, stehender  Motive.  Die  Maler  dieser  Gattung 
sind  unwissentlich  und  unwillkürlich  in  einen  Mangel  an 
Aufrichtigkeit  verfallen;  sie  malen  nicht,  was  sie  sehen, 
sondern  das,  was  Andere  gesehen  und  vor  ihnen  dar- 
gestellt haben.  So  entstand  das  t  regulative  academy 
picture  >  (das  schablonenhafte  Ausstellungsgemälde),  eine 
Art  von  Malerei,  die  so  wenig  mit  der  Wirklichkeit 
gemein  hat,  wie  Racine's  griechische  Helden  und  Heldinnen 
aus  dem  Leben  gegriffen  sind. 

In  der  Kunst  Schottlands,  deren  Geschichte  übrigens 
noch   nicht  weit   zurückreicht,    herrschen    die    gleichen 


Uebelstände  vor,  obwohl  dort  noch  weniger  von  aca- 
demischem  Zwang  fühlbar  ist  und  dem  künstlerischen 
Gewissen  keine  Gefahr  durch  Hofprotection  droht.  Schön- 
heitssinn, Liebe  zur  Natur  und  Verständniss  für  das  Charak- 
teristische offenbaren  sich  in  der  romantischen  Literatur  der 
Schotten,  wie  in  ihren  Volksliedern  und  deren  wilden 
Melodien  in  einem  so  hohen  Grade,  dass  es  merkwürdig 
wäre,  wenn  davon  nichts  in  der  Malerei  zum  Ausdruck  ge- 
langte. Es  hat  auch  in  der  That  nicht  an  echt  künstlerischen 
Bestrebungen  gefehlt,  und  von  einzelnen  Individuen  sind 
recht  schöne  Erfolge  erzielt  worden.  Die  Portraits  von 
yamieson  und  Raebunt ,  Charakterbilder,  wie  sie  Wilkie 
und  Plüüpp  malten ,  die  Landschaften  eines  Nasmyth 
oder  Thomson  sind  bemerkenswerthe  Erzeugnisse  schot- 
tischer Malerei.  Im  Ganzen  aber  war  die  Kunst  der 
Schotten,  wo  sich  eine  solche  als  von  der  englischen 
gesondert  nachweisen  lässt,  nicht  eben  durch  Frische 
oder  Eigenart  gekennzeichnet.  Ihre  Ziele  sind  schwäch- 
lich, einem  engen  Gesichtskreis  entsprechend,  und  selbst 
die  fähigsten  Maler  Schottlands  haben  sich  nur  zu  oft 
geneigt  erwiesen,  ihre  Kräfte  an  triviale  Motive  zu  ver- 
geuden. Die  namhaften  Grössen  unter  den  lebenden 
Malern  Schottlands,  Männer,  die  schon  zu  academischen 
Ehren  gelangt  sind,  wie  Orckardson,  Pettie,  Colin-Hunter, 
Peter  Graham,  David  Murray  u.  A.,  haben  mit  der 
jüngeren  Schule  nichts  gemein. 

Vor  nunmehr  einem  Dreivierteljahrhundert  ist  durch 
Begründung  einer  kgl.  schottischen  Kunstacademie,  deren 
Sitz  das  schöne,  historisch  berühmte  Edinburg  ward, 
der  Versuch  gemacht  worden,  die  künstlerischen  Kräfte 
des  Landes  zu  consolidiren ,  ihre  Wirksamkeit  zu 
fördern.  Und  bis  vor  zwanzig  Jahren,  auch  später  noch 
war  mit  dem  Begriff"  irgend  welcher  künstlerischen  Aus- 
bildung nur  das  Studiren  an  dieser  Anstalt  gemeint. 
Die  Edinburger  Gesellschaft  gab  für  die  Academie, 
die  Academie  gab  in  der  Kunst  den  Ton  an.  Nun 
hatte  Edinburg,  das  einst  der  Mittelpunkt  der  schott- 
ischen Geistesbildung  gewesen,  in  Folge  der  Centrali- 
sationskraft  London's  diese  Stellung  längst  verloren ; 
das  dortige  Leben  litt  unter  dem  veralteten  Con- 
ventionalismus einer  verblichenen  Vornehmheit,  dem 
zersetzenden  Einfluss  einer  in  exclusivem  Hochmuth 
absterbenden  Cultur.  Die~  Schotten  unterstützten  ihre 
Academie  und  ihre  Künstler,  es  fehlte  nicht  an  Käufern 
von  Bildern,  aber  der  Maassstab  des  Publicums  war  ein 
niedriger ,  und  die  Maler  mussten  sich  nach  diesem  richten. 

12* 


92 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEFF. 


Noch  bis  vor  einem  Dutzend  Jahren  hat  die  kgl. 
schottische  Academie  das  ganze  Kunstleben  im  Lande 
beherrscht.  Selten  noch  hat  ein  Kunstinstitut  einen 
gleich  mächtigen  und  uneingeschränkten  Einfluss  be- 
sessen, und  selten  hat  ein  solches  Institut  seine  Macht 
in  gleich  unzulänglicher  Weise  bethätigt.  Man  darf 
fuglich  von  einer  Academie  nicht  gut  verlangen,  dass 
sie  grosse  Männer  erstehen  lassen  solle;  denn  Genie's 
werden  geboren,  nicht  gemacht.  Sehr  wohl  aber  kann 
eine  Academie  ein  Genie  bedeutend  in  der  Entwickelung 
schädigen.  Die  schottische  Academie  ist,  anstatt  Fühl- 
ung mit  den  künstlerischen  Ereignissen  der  Welt  zu 
gewinnen,  ganz  dem  localen  Geist  kleinlicher  Exclusivität 
verfallen,  der  die  Stadt  beherrscht,  in  der  sie  ihren  Sitz 
hat.  Die  alten  Gewänder  des  Rob  Roy,  der  Jeannie 
Deans,  Tam  6  Shanter's  und  ähnlicher  Gestalten,  deren 
Urbilder  freilich  von  echter  Genialität  erzeugt  worden 
sind,  bildeten  seit  einem  halben  Jahrhundert  den  Haupt- 
vorrath,  aus  dem  die  schottische  Academie  ihren 
Bedarf  von  Inspirationen  deckte.  Und  selbst  diese  Ge- 
stalten wurden  in  einer  so  unrichtigen  und  Conventionellen 
Art  wiedergegeben,  dass  die  eigentliche  Kunstwelt  von 
ihnen  nirgends  Notiz  nahm.  Zur  Bestätigung  dessen, 
was  hier  über  die  Academie  gesagt  ist,  werden  einige 
That-sachen  vollauf  genügen. 

Im  Jahr  1886  sollte  der  Bevölkerung  Schottlands 
zum  erstenmal  das  Belehrungsmittel  einer  internationalen 
Ausstellung  verschafft  werden ;  es  wurde  beschlossen, 
dieselbe  in  Edinburg  zu  veranstalten.  Alles  geschah, 
um  das  Unternehmen  zu  einem  erfolgreichen  zu  machen. 
In  gewerblicher  und  commercieller  Hinsicht  hat  das  Unter- 
nehmen seinem  Zwecke  denn  auch  glänzend  entsprochen. 
Man  glaubte  dies  auch  in  der  Abtheiiung  für  Kunst 
erreichen  zu  können  durch  Vorführung  einer  das  heutige 
künstlerische  Schaffen  repräsentirenden  Sammlung.  Die 
Academie  erwies  sich  indessen  als  so  unfähig,  eine  der- 
artige internationale  Sammlung  aufzubringen ,  dass  ein 
Privatmann  für  eigene  Kosten  eine  Anzahl  von  modernen 
Gemälden  Frankreichs  und  Hollands  zur  Stelle  schaffte. 
Und  diese  in  einem  Saale  der  Ausstellung  zur  Besichtigung 
gelangte  Sammlung  wurde  alsdann  für  das  Interessanteste 
erklärt,  was  die  Kunstabtheilung  überhaupt  aufzuweisen 
habe.  In  der  erwähnten  Sammlung  waren  Werke  der 
modernen  Romantiker  und  deren  Nachfolger,  der  mo- 
dernen Impressionisten  enthalten  —  Bilder  von  Millet, 
Corot,    Marts,    Bosboom    und    Dias.      So    wurden    dem 


schottischen  Publicum  zum  erstenmale  die  Augen  über 
Tendenz  und  Entwickelung  der  jüngeren  europäischen 
Kunst  geöffnet.  In  kunstsinnigen  Kreisen  ward  der 
schon  längst  gehegte  Ai^[wohn  nunmehr  zur  Ueberzeug- 
ung,  dass  die  schottische  Academie  ihre  Pflicht  völlig 
versäumt  habe  Dieselbe  hatte  die  ganze  neuere  Kunst- 
richtung unbeachtet  gelassen,  die  Stiftung  der  Schule 
von  Barbizon,  dieses  grösste  die  Kunstwelt  bewegende 
Ereigniss  seit  Rembrandt's  Zeiten,  war  vollständig  ignorirt 
worden ;  der  belebende  Strom,  der,  von  dort  ausgehend, 
sich  dem  Kun.stleben  von  fast  ganz  Europa  mitgetheilt 
hatte,  war  an  der  schotti-schen  Academie  in  Folge  ihrer 
trägen  Selbstgefälligkeit  spurlos  vorübergegangen.  Em- 
pört über  diesen  Sachverhalt,  traten  die  jungen  Künstler 
des  Landes  zusammen  und  stellten  in  einer  Denkschrift 
Reform  Vorschläge  auf,  welche  dazu  dienen  sollten,  die 
Academie  mit  dem  Geiste  der  Neuzeit  in  Berührung  zu 
bringen.  Die  Zeitungen  nahmen  den  Gegenstand  auf, 
es  entstand  eine  Controverse,  worauf  endlich  die 
Academie,  aus  ihrer  Trägheit  aufgerüttelt,  sich  herabliess, 
die  Forderungen  des  Landes  in  Erwägung  zu  ziehen. 
Es  wurden  vor  etwa  zwei  Jahren  neue  Statuten  auf- 
gesetzt, aber  selbst  in  diesen  offenbarte  sich  der  alte 
engherzige  Standpunkt  der  Academie  noch  so  sehr,  dass 
der  Edinburger  Stadtrath  sich  bewogen  fühlte,  eine 
Petition  an  die  Königin  um  Vorenthaltung  ihrer  Ge- 
nehmigung zu  richten.  Bis  heute  ist  dem  Schriftstück 
die  königliche  Bestätigung  denn  auch  versagt  geblieben. 

Inzwischen  gelang  es  jüngeren  Malern ,  die  sich 
trotz  der  Academie  oder  ohne  deren  Einfluss  zu  Künst- 
lern entwickelt  hatten,  dem  Auslande  eine  Anerkennung 
abzugewinnen ,  wie  solche  der  schottischen  Kunst  unter 
Führung  ihrer  Academie  niemals  zu  Theil  geworden  wäre.*) 

Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  der  Kampf  gegen 
die  starren  Vorurtheile  und  conventioneilen  Satzungen 
nicht  nur  auf  den  Norden  Grossbritanniens  beschränkt 
ist.     Seit  einiger  Zeit  werden  auch  von  dem  «  New  Eng- 


•)  Das  Beispiel  steht  nicht  vereinielt  da  —  kämpft  doch  Alles, 
was  heute  in  Wahrheit  voran  will,  gegen  den  verknöcherten  Schematismus 
dieser  Anstalten,  die  im  günstigsten  Falle  sich  mit  einem  Fuwe  rtlhren, 
um  endlich  veralteten,  gänzlich  unhaltbaren  Zuständen  piano  piano  den 
Kucken  zu  kehren.  Der  Grund  mag  darin  liegen,  dass  in  vielen  Staaten 
das  Ressort  für  Kunstzwecke  in  einer,  vielleicht  in  einigen  Händen 
ruht,  die  sich  immer  erst  einer  Anzahl  von  Hörrohren  bedienen  mtlssen, 
um  zu  erfahren,  was  in  der  Kunstwelt  vorgehe;  sind  es  doch  oft  Ver- 
waltungsbeamte, im  gunstigsten  Falle  Geheim-  und  Hofräthe,  die  den 
Leitungsdraht  von  der  KUnstierwelt  zur  maassgebenden  Stelle  bilden. 
Dass  selbst  Gottesgelehrte  gerne  nach  Einfluss  in  dieser  Sphäre 
schnappen,  dafUr  sind  ebenfalls  Beispiele  vorhanden.      Anm,  d.  Red. 


Ö3 

s: 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


93 


lish  Art  Club»,  einem  englischen  Künstlerverein  oppo- 
sitioneller Tendenz ,  alljährlich  Ausstellungen  stark  im- 
pressionistischen Characters  veranstaltet.  Doch  gebührt 
der  schottischen  Bewegung  das  Lob,  mehr  ihrem  Zweck 
entsprochen  zu  haben.  Zum  Mittelpunkt  derselben  wurde 
Glasgow  gewählt,  gleichsam  aus  Opposition  gegen  Edin- 
burg,  dem  Sitz  der  Academie.  Während  die  letztere, 
seit  alten  Zeiten  als  Pflanzstätte  der  Bildung  gepriesene 
Stadt,  sich  begnügt  hat,  von  ihren  Traditionen  zu  zehren, 
ist  Glasgow  unversehens  Schottlands  eigentliche  Haupt- 
stadt geworden,  in  welcher  sich  das  rührige  Leben  der 
besten  Kräfte  der  Nation  concentrirt.  Wo  vor  hundert 
Jahren  noch  eine  schläfrige  Landstadt  an  den  Ufern 
eines  für  Lachsfischerei  ergiebigen  Gewässers  lag,  dessen 
seichtere  Stellen  zur  Zeit  der  Ebbe  von  Kindern  durch- 
watet werden  konnten,  da  erhebt  sich  jetzt  eine  mäch- 
tige Grossstadt  von  einer  Million  Einwohnerzahl,  mit 
einer  Flotte .  deren  Schiffe  alle  Meere  befahren ,  mit 
Schmelzhütten  und  Schmiedeöfen,  die  unablässig  in  Be- 
trieb sind,  das  Joch  herzustellen,  in  welchem  der  Riese 
c  Dampf»  die  gewaltige  Herrscherin  Civilisation  über 
Länder  und  Meere  tragen  muss.  In  Folge  des  ungeheuren 
geschäftlichen  Aufschwunges  ihrer  Stadt  beschlossen 
die  aufgeweckten  Glasgower,  dass  sich  zu  der  Werkstatt 
der  Welt,  welche  ihr  Wohnort  jetzt  war,  auch  ein  Welt- 
hafen gesellen  solle.  So  wurde  an  der  Stelle,  wo  der 
Qyde  vor  hundert  Jahren  über  seichten  Grund  geflossen 
war,  ein  stattlicher  Hafen  angelegt.  Zweimal  täglich  zur 
Zeit  der  Fluth  sieht  man  hier  die  grössten  Fahrzeuge 
der  Weltschifffahrt  einlaufen  und  in  See  gehen.  Hatte 
somit  die  Stadt  Gla.sgow  ihre  Thore  dem  Weltverkehr 
geöffnet,  so  verschloss  sie  dieselben  auch  keinesweges 
der  Geistescultur.  Nur  wenig  in  der  Klostergelehrsam- 
keit bewandert,  welche  lange  Zeit  für  die  alleinige  Quelle 
aller  Bildung  galt,  hat  Glasgow  eine  desto  bessere  Fühl- 
ung mit  dem  lebendigen  Menschengeist  gewonnen.  Vor 
dreissig  Jahren  begründeten  die  Glasgower  Kunstfreunde 
ein  Institut  für  die  schönen  Künste,  und  der  kosmo- 
politische Zug,  welcher  sich  in  den  commerciellen  Be- 
strebungen der  Bürger  der  Stadt  bethätigt,  zeigte  sich  auch 
in  ihren  Kunstinteressen.  Man  darf  mit  Sicherheit  sagen, 
dass  Glasgow  die  einzige  Stadt  im  vereinigten  britischen 
Königreiche  ist  —  selbst  London  nicht  ausgenommen 
—  wo  seit  einer  Generation  den  Einwohnern  Gelegenheit 
gegeben  ist,  Richtung  und  Ziele  der  modernen  euro- 
päischen Kunst  durch  Anschauung  kennen  zu  lernen. 


Allmählich  machte  sich  der  Einfluss  der  Ausstell- 
ungen dieses  Institutes  in  der  jüngeren  Künstlerschaft 
geltend.  In  ihren  Leistungen  trat  freilich  anfänglich  noch 
nicht  die  volle  Kraft  der  Originalität  hervor,  welche  ihr 
Schaffen  jetzt  auszeichnet.  Aber  in  diesem  Stadium 
des  Experimentirens  bekundeten  sich  schon  die  Merkmale, 
dass  es  hier  nicht  auf  blosse  Nachahmung  abgesehen 
war.  Die  jungen  Maler  hatten  gehört  und  verstanden, 
was  im  Gegensatze  zu  jüngst  vergangenen  Dezennien 
heute  wieder  das  Losungswort  bildet :  « Studirt  die 
Natur,  lernt  sie  mit  Euren  eigenen  Augen  kennen, 
nicht  durch  die  Augen  Anderer ,  malt ,  was  Ihr  selber 
seht ! »  Und  wahrlich ,  an  Fleiss  und  Ernst  im  selbst- 
ständigen Studium  der  Natur  haben  diese  jungen  Schotten 
es  nicht  fehlen  lassen.  Je  mehr  sie  die  Natur  studirten, 
desto  klarer  wurde  ihnen  auch,  dass  die  im  Glasgower 
Institut  gesehenen  Werke  der  modernen  fremden  Meister 
die  Natur,  selbst  wie  sie  sich  in  Schottland  beobachten 
lässt,  weit  treuer  darstellten,  als  es  den  sogenannten 
schottischen  Malern  gelang.  Diese  höhere  Naturwahr- 
heit beruhte  nicht  etwa  auf  peinlicher  Wiedergabe  localer 
Eigenthümlichkeiten  oder  topographischer  Verhält- 
nisse. Es  war  die  Einfachheit  der  Composition,  das 
Einheitliche  der  Stimmung,  die  Würde  der  Auffassung, 
wodurch  diese  Gemälde  auf  jeden  Beschauer,  der  Blick 
für  Naturschönheit  hat,  den  Eindruck  machten,  dass  hier 
die  Natur  mit  vollkommener  Wahrheit  geschildert  werde. 

Der  Eifer  nach  idealen,  geistigen  Zielen,  —  einer 
der  schönsten  schottischen  Charakterzüge  —  Hess  diese 
jungen,  inmitten  des  kraftstrotzenden  Lebens  einer  grossen, 
regsamen  Weltstadt  lebenden  Künstler  nicht  damit  zu- 
frieden sein,  den  jungen  Wein  ihrer  neuen  Inspirationen 
in  die  alten  Schläuche  zu  füllen,  welche  seit  langer  Zeit 
zum  Bergen  des  matten  Stoffes  gedient  hatten,  der  bisher 
dem  Kunstverlangen  des  Publicums  hatte  genügen  müssen. 
Wonach  sie  trachteten,  das  war  ein  ihrem  Gefühl  ent- 
sprechender Ausdruck,  eine  verständliche  Sprache ,  um 
ihren  Nebenmenschen  alles  Schöne  und  Herrliche  zu 
vermitteln ,  was  sie  selber  in  der  Natur  und  im  Leben 
erblickten.  Und  sie  gewannen  die  Ueberzeugung ,  dass 
dieses  Ausdrucksmittel  einen  Universalcharakter  hatte, 
dass  in  dieser  Sprache  überall  die  wahrhaft  grosse  Kunst 
redet.  Empfänglichkeit  für  gediegene  Einflüsse  ist  von 
jeher  ein  Charakterzug  befähigter  Menschen  gewe.sen. 
Eigentlich  gibt  es  keine  Originalität  in  dem  Sinne,  dass 
Jemand  aus  sich  selbst  und  allein  Etwas  schaffen  könne. 


M 


DIE  KUNST  UNSERER  ZETl'. 


Grosse  Männer  haben  sich  stets  von  den  Besten  ihrer 
Zeit  beeinflussen  lassen  und  sich  zugleich  als  Erben  aller 
Zeiten  der  Vergangenheit  erwiesen,  deren  Vermächtniss 
sie  selbst  wiederum  um  Etwas  vermehrt,  der  Nachwelt 
hinterlassen  haben. 

Durch  Vergleichen  mit  Werken,  die  schon  von 
Erfolg  gekrönt  waren,  und  neben  ihren  eigenen  im  In- 
stitut hingen,  gewannen  die  jungen  Schotten  einen 
richtigen  Maassstab  für  ihre  Leistungen.  Conventionellen 
academischen  Lehren  bieten  sie  grundsatzlich  Trotz; 
sauber  ausgeführte  Detailmalerei  verschmähen  sie.  Ihre 
Ziele  sind  vor  Allem  strenge  Wahrheit  in  Wiedergabe 
der  Formen,  eine  durchweg  würdige  Auffassung  des 
Ganzen  —  wenn  auch  auf  Kosten  der  Einzelnheiten. 
In  ihren  Erzeugnissen,  auch  den  minder  erfolgreichen, 
ja  selbst  in  denen,  die  nur  gewagte  Experimente 
sind,  oflenbart  sich  stets  ein  gesunder,  lebensfähiger 
Trieb,  der  von  Vielen  gern  willkommen  gcheissen 
wird,  die  des  frostigen  Qassidsmus,  der  schalen  Lang- 
weiligkeit oder  Künstelei  überdrüssig  sind ,  welche  man 
in  den  britischen  Galerien  zumeist  vertreten  findet.  Die 
Technik  der  jungen  Schotten  ist  interessant,  die  colo- 
ristische  Wirkung  überall  gut ;  bei  Jedem  von  ihnen 
zeigt  sich  deutlich  da.s  Streben  nach  einer  aus  directer 
An-schauung  gewonnenen  Naturwahrheit,  der  feste  Wille, 
sich  in  Fühlung  mit  der  Natur  zu  halten  und  nur  sie 
als  Quelle  aller  Inspiration  zu  betrachten. 

.■\llgemein  gelten  die  Vertreter  dieser  neuen  Schule 
als  in  Paris  ausgebildet.  Besonders  wird  diese  An- 
nahme durch  die  Londoner  Presse  verbreitet.  Dies 
beweist,  dass  sie  in  der  Technik  etwas  Tüchtiges 
gelernt  haben,  und  dass  der  Character  ihrer  Kunst  die 
vornehmen  Eigenschaften  einer  guten  Schule  zeige.  In 
Wirklichkeit  haben  sie  diese  Vorzüge  aber  nur  in  ganz 
vereinzelten  Fällen  in  Paris  erworben;  dieselben  sind 
vielmehr  das  Ergebni.ss  des  Einflusses  jenes  locaien  Kunst- 
instituts, das  nicht  der  Kirchthurmpolitik  in  künstlerischen 
Dingen  huldigt.  In  der  Technik  am  stärksten  sind 
folgende  vier  Maler  der  neuen  schottischen  Schule : 
Arthur  MelinlU ,  James  Guthrie,  Edward  A.  Walton 
und  George  Henry.  Arthur  Melxnlle  hat  allerdings  einige 
Jahre  in  Frankreich  gelebt,  indessen  keinen  systematischen 
Cursus  daselbst  durchgemacht.  James  Guthrie  hat  sich 
auf  eigene  Hand  ausgebildet.  Er  begann  seine  künst- 
lerische Laufbahn  in  London,  wohin  er  sich  aber  nicht 
seiner  Kunststudien  halber  begeben  hatte,  sondern  weil 


seine  Eltern  dort  zeitweilig  wohnten.  Er  hat  nie  in  Paris 
studirt  Edward  A.  Walton  hat,  als  er  noch  nicht 
zwanzig  Jahre  alt  war,  eine  kurze  Zeit  die  Düsseldorfer 
Academie  besucht,  weiter  jedoch  keine  Lehrzeit  genossen. 
George  Henry  nimmt  eine  besondere  Stellung  unter  den 
Uebrigen  ein.  Von  ihm  ist  innerhalb  der  neuen  Be- 
wegung eine  neue  Richtung  angebahnt  worden.  Was 
er  bis  jetzt  geleistet  hat,  ist  schon  von  so  starkem 
Einfluss  auf  die  Gruppe  gewesen,  dass  von  dem.selben 
fast  kein  einziger  der  kraftvollen  jungen  KUnstlergemeinde 
unberührt  geblieben  ist.  Gerade  dieser  Mann  aber  hat 
seine  Kunst  in  einer  dumpfigen  Cit>'-Werkstatt  der  West 
Regent  Street  in  Glasgow  erlernt. 

Ist  nun  auch  diese  neue  Bewegung  auf  einem  ihrem 
Gedeihen  günstigen  Boden  entstanden,  so  waren  diese 
jungen  Leute  doch  keineswegs  in  der  angenehmen  Lage, 
ihre  Bilder,  die  ihnen  jetzt  Erfolg  verschaflft  haben,  in 
Ruhe  malen  zu  können,  vielmehr  haben  sie  sich  vor 
Allem  erst  ihr  Terrain  erkämpfen,  und  dann  jeden  Zoll 
breit  desselben  vertheidigen  müssen.  Und  sie  haben 
sich  als  wackere  Streiter  erwiesen,  denn  die  Schotten 
sind  von  jeher  zähe,  unbeugsame  Widersacher  gewesen. 
Es  galt,  das  Vorurtheil  der  Kunsthändler  zu  besiegen, 
welche  die  Buchstaben  R.  S.  A.  (Royal  Scotch  Academy) 
hinter  dem  Namen  eines  Malers  für  eine  unerlä.ssliche 
Bedingung  der  Verkäuflichkeit  seiner  Bilder  erklärten. 
Die  Presse  war  ebenfalls  gegen  sie  und  zog  die  Be- 
wegung in's  Lächerliche.  Das  ganze  Land  war  zu  ihrem 
Nachtheil  beeinflusst.  Jahre  lang  waren  sie  vom  Kunst- 
verein und  den  locaien  Ausstellungen  ausgeschlossen. 
Da.ss  sie  von  der  schottischen  Academie  gänzlich  ignorirt 
wurden,  braucht  wohl  nicht  er.st  gesagt  zu  werden.  Die 
Folge  war,  dass  ihnen  ihre  Kunst  wenig  oder  gar  nichts 
einbrachte,  dass  sie  viele  Jahre  in  hartem  Kampfe  um 
ihr  täglich  Brod  arbeiten  mussten.  Mit  Ausnahme 
der  wenigen  Glücklichen,  denen  eigene  Mittel  zur  Ver- 
fügung standen  oder  die  Freunde  besassen,  welche 
ihnen  beistanden,  hatten  diese  Künstler  mit  Entbehr- 
ungen zu  kämpfen,  welche  ihnen  ihre  Studien  ausser- 
ordentlich erschwerten.  Meistens  fehlte  es  sogar  an 
Gelegenheit  zum  Lernen  und  Arbeiten  in  geräumigen 
Ateliers.  Gar  manches  der  Bilder,  welchen  jetzt  Beifall  und 
Auszeichnung  geworden,  ist  in  enger,  staubiger  Schreib- 
stube entstanden.  Die  bittere  Noth  dieser  Maler  ward  so 
offenkundig,  dass  zur  Zeit,  als  ihre  Ziele  und  Werke 
noch  total  verkannt  wurden,  und  man  sie  für  Leute  hielt, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


95 


die  gar  nicht  ernst  zu  nehmen  seien,  ii^end  ein  Witz- 
bold, auf  die  Schule  das  socialistische  Schlagwort 
f  Progress  and  Poverty  >  (Fortschritt  und  Armuth)  an- 
wendend, ihr  den  Beinamen  «Progress and Poverty-School  > 
gab.  Dieses  Beiwort  blieb  haften.  Und  die  damit  Be- 
nannten hatten  Nichts  dagegen ;  sie  nahmen  es  mit  Stolz 
für  sich  in  Anspruch.  Noch  heutigen  Tages  sind  sie  in 
ihrem  Heimathlande  unter  diesem  Namen  bekannt. 

In  den  ersten  Leistungen  wurde  nach  der  Ansicht 
der  Gegner  plumpes  Machwerk  und  künstlerisches  Un- 
vermögen deutlich  erkennbar.  Beurtheiler  natürlich, 
welche  auf  die  abgedroschenen  academischen  Satzungen 
schwören,  fanden  diese  Bilder  verwerflich.  Aber  auch 
urtheilsfahigere  Kunstfreunde  hatten  eben ,  weil  sie 
sich  zu  lange  verdrossen  von  den  werthlosen  Erzeug- 
nissen abgewendet,  welche  bisher  in  Schottland  für 
Kunstwerke  ausgegeben  wurden,  den  Glauben  verloren, 
dass  in  ihren  heimischen  Gauen  etwas  Gutes  hervor- 
gebracht werden  könne.  So  kam  es,  obwohl  sonst  in 
Schottland  genug  Geld  für  Gemälde  ausgegeben  wurde, 
dass  doch  Niemand  diesen  jungen  Künstlern  auch  nur 
so  viel  für  ihre  Arbeiten  geben  wollte,  wie  sie  zu  ihrem 
Lebensunterhalt  bedurften.  Zum  Glück  gewannen  die 
jungen  Männer  aus  dem  Glauben  an  sich  selbst  und  ihr 
Ziel  die  Kraft,  sich  durchzuringen,  ohne  zu  dem  Hilfs- 
mittel der  Production  künstlerischer  Marktwaare  zu 
greifen.  Wenn  sie  sich  herabgelassen  hätten,  nette 
Landschaften  im  gewöhnlichen  Touristengeschmack,  oder 
auch  niedliche  Genrebilder,  hübsche  Leute  bei  entspre- 
chender Beschäftigung  und  in  hübschen  Anzügen  zu  malen, 
so  würden  sie  mit  Leichtigkeit  Geld  verdient  haben. 
Dies  wäre  aber  ein  totales  Verleugnen  ihrer  künstlerischen 
Ucberzeugungen  gewesen,  und  eine  Herabwürdigung 
ihrer  Gaben ,  die  sie  als  ein  ihnen  für  ganz  andere 
Zwecke  anvertrautes  Gut  betrachteten.  Die  hohe  Denk- 
weise der  Schotten  in  allen  religiösen  und  moralischen 
Fragen  zeigte  sich  auch  in  Bezug  auf  ihr  Künstlergewissen. 
Was  ihnen  die  lange  Zeit  des  Kämpfens  und  Ringens 
ertragen  half  und  ihren  Muth  stärkte,  war  die  brüder- 
liche Gesinnung,  welche  die  Gefährten  für  einander  be- 
thätigten.  Manche,  die  schon  grössere  Einnahmen  er- 
zielten, brachten  allen  Ernstes  eine  gemeinschaftliche  Kasse 
in  Vorschlag ;  sie  sahen  keinen  anderen  Ausweg,  um  der 
Gemeinde  alle  Kräfte  zu  erhalten.  Brave,  tüchtige  Menschen 
waren  moralisch  vollständig  gelähmt,  weil  ihnen  Maluten- 
silien und  Modelle  fehlten ;  sie  blieben  Wochen,  ja  Monde 


lang  in  städtischen  Behausungen  eingepfercht,  weil  ihnen 
draussen  zu  studieren  die  Mittel  fehlten.  Die  formelle 
Gründung  einer  gemeinschaftlichen  Kasse  scheiterte  an 
den  Schwierigkeiten,  die  der  Einrichtung  einer  solchen 
entgegenstanden.  Aber  Kassengemeinschaft  bestand 
thatsächlich  insofern,  als  die,  welche  Geld  einnahmen, 
sofort  zu  den  minder  Glücklichen  eilten,  um  sie  mit 
Munition  zu  versorgen.  Selbst  jetzt  sind  noch  nicht 
alle  Mitglieder  der  Gemeinde  in  der  Lage,  auf  eine 
derartige  Hilfe  verzichten  zu  können.  Aber  ihre 
Prüfungen  sind  nicht  vergeblich  gewesen;  die  Zeit  ist 
angebrochen,  in  der  sie  die  Früchte  ihres  Strebens  ernten. 

Die  Mitglieder  der  neuen  Schule ,  die  « Boys » 
(Jungens),  wie  sie  sich  selber  im  kameradschaftlichen 
Tone  nennen,  sind  ihrer  fünfzehn  an  der  Zahl.  Viele 
von  den,  als  zur  schottischen  Schule  gehörend,  in  der 
Münchener  Ausstellung  zusammen  gehängten  Bildern 
sind  keine  Erzeugnisse  der  Gemeinde  im  engeren  Sinne 
gewesen.  Und  grade  Diese  haben  mehr  Käufer  angelockt, 
als  die  aus  der  Schule  selbst  Hervorgegangenen ,  viel- 
leicht, weil  das  Publicum  hier  das  bisher  Gewohnte 
weniger  vermisste.  Die  « Boys »  behaupten  scherzend, 
sie  fänden  sich  zumeist  vor  die  Wahl  gestellt,  ob  sie 
ehrlich  malen  oder  ehrlich  ihre  Schulden  zahlen  wollen. 
Aus  Liebe  zu  ihrer  Kunst  entscheiden  sie  sich  gewöhn- 
lich für  die  erstere  Art  Ehrlichkeit,  hierdurch  wird  ihnen 
ihre  Aufgabe  indessen  keineswegs  erleichtert. 

Arthur  Melville,  ein  grosser,  robuster  Schotte,  von 
den  <Boys>  in  liebevoller  Verehrung  «König  Arthur» 
genannt,  kann  als  Führer  der  Schaar  betrachtet  werden. 
In  seinen  Knabenjahren  besuchte  er  die  schottische 
Academie  als  Schüler  und  suchte  so  viel  zu  lernen 
wie  er  konnte.  Doch  bald  wurde  er  inne,  dass  er  dort 
wenig  Aussicht  auf  wirkliche  Fortschritte  habe.  Zu 
Anfang  der  siebziger  Jahre  begab  er  sich  daher  nach 
Paris,  wo  er  zwar  nicht  systematischen  Kunststudien 
oblag,  aber  durch  die  Berührung  mit  dem  künstlerischen 
Leben  der  französischen  Hauptstadt  seine  Ideen  über 
die  Aufgaben  und  Ziele  der  Kunst  erweitert  hat.  Später 
machte  er  eine  Reise  nach  dem  Orient,  wo  er  eine  Fülle 
fesselnder  Eindrücke  sammelte,  und  sich  zu  jener  Be- 
handlung des  Aquarells  veranlasst  fühlte,  durch  welche 
er  die  meiste  Anerkennung  gefunden.  In  seinen  Dar- 
stellungen morgenländischer  Natur  vermeidet  er  den 
sonst  üblichen  hartblauen  Himmel  und  die  mehr  oder 
weniger    strahlenden  Farben ,    die    man    bisher    an   den 


96 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Landschaften  der  Oricntmaler  gewohnt  war.  Er  hat 
die  unsagbar  herrliche  Farbengluth  des  Morgenlandes 
wiederzugeben  und  doch  der  Atmosphäre  jenen  Schimmer 
zu  verleihen  gewusst,  der  das  Licht  zwar  voll,  doch 
nicht  blendend  wirken  lisst.  Ueber  diesen  Bildern 
liegt  eine  unendliche  Lebensfreudigkeit;  sie  anzusehen, 
ohne  ihren  Zauber  zu  empfinden,  ist  Air  Niemanden 
möglich,  der  Schönheitssinn  besitzt.  Auch  seine  Technik 
des  Aquarells  ist  eine  ganz  eigenartige.  Er  hat  er- 
kannt, welche  schöne  Schattirung  einfach  dadurch  her- 
zustellen ist,  dass  man  einen  Farbenfleck  voll  und 
flüssig  aufsetzt  und  dann  sachte  zerrinnen  lässt,  bis  die 
Farbe  in  unmerklichen  Graden  von  Hell  bis  Dunkel  ab- 
getönt ist.  Diese  Eigenthümlichkeit  der  Wasserfarben 
hat  er  in  vollstem  Masse  zu  verwerthen  gewusst,  und 
sich  hierdurch  als  ein  mit  natürlichem  Scharfblick  fUr 
technische  Wirkungen  begabter  Künstler  erwiesen,  der 
nicht  mehr  mühsam  mit  den  Anforderungen  seiner  Kunst 
zu  ringen,  sondern  an  der  Ausübung,  dem  Können  selbst, 
seine  Freude  hat.  Der  Elindruck,  den  das  Colorit  seiner 
Bilder  her\orbringt,  ist  derartig,  als  wären  die  zahllosen 
Farben  alle  von  .selber  entstanden,  und  als  sei  die  Wirk- 
ung eine  ganz  unabsichtliche.  Und  dennoch  sind  diese 
Geni.ilde  in  Wahrheit  das  Ergcbniss  einer  ungemein 
subtilen  Berechnung,  und  alle  diese  scheinbar  willkürlich 
sich  ineinanderfügenden  Farbenflecke  sind  dem  Gebot 
eines  zielbcwussten  Künstlcrwillens  gefolgt. 

In  seiner  Specialität ,  der  Darstellung  morgen- 
ländischer Motive,  steht  er  unerreicht  da.  Er  hat  in 
völlig  naturalistischer  Weise  und  mit  der  ganzen  Un- 
befangenheit eines  scharfsichtigen,  gastreichen  Beob.-ich- 
ters  die  zauberischen  Eindrücke  jenes  Landes  vollkommen 
treu  geschildert.  Obwohl  seine  Bilder  aussehen,  als 
wären  .sie  mit  glücklicher  Hand  nur  so  hingetuscht,  so 
hat  der  Maler  unendlich  viel  Mühe  und  Sorgfalt  auf  seine 
Arbeit  verwandt.  Man  muss  sich  angesichts  dieser  ebcn.so 
werthvollen,  wie  interessanten  Proben  künstlerischen 
Könnens  fragen ,  ob  der  Schöpfer  solcher  Kunstwerke 
seinen  .schon  so  bedeutenden  Ruf  durch  spätere  Leistungen 
noch  zu  befestigen  und  zu  erweitem  im  Stande  sein  werde. 

Die  bedeutende  Persönlichkeit  des  Mannes ,  sein 
männliches  Wesen,  die  Lebhaftigkeit,  mit  der  er  die 
verschiedenartigsten  Probleme  des  Daseins  und  der 
menschlichen  Seele  crfasst  —  dies  Alles  bürgt  gcwisser- 
massen  dafür,  dass  seine  bisherigen  Arbeiten  das  Unter- 
pfand für  noch  Besseres  sind. 


Obgleich  JA  vornehmlich  als  Aquarellist  berühmt  ge- 
worden, zeugen  seine  Oelgemalde  nicht  weniger  von  hoch- 
gradigem Feingefühl  für  Farbenwirkung.  Die  leichte,  un- 
gezwungene Art,  wie  er  mit  der  Farbe  freigebig  umzu- 
gehen weiss,  trägt  auch  hier  nicht  wenig  zu  dem  Reiz 
der  Gesammtwirkung  seiner  Bilder  bei.  Einige  seiner 
bekanntesten  Oelgemalde  sind  Bildnisse.  Dieselben  lassen 
erkennen,  dass  er  die  für  die  Portraitmalerei  .so  wesent- 
liche Gabe  besitzt,  sich  für  die  ihm  sitzenden  Personen 
sofort  interessiren  und  er\«ännen  zu  können.  So  ist  es 
ihm  gegeben,  mit  dem  leblosen  Material  seiner  Kunst 
in  lebendiger  Darstellung  nicht  nur  das  Körperliche  zur 
Anschauung  zu  bringen,  sondern  den  Beschauer  auch  mit 
der  Seele  Dessen  in  Rapport  zu  setzen,  den  er  im  Bilde 
zeigt.  Af.'s  Portnüts  sind  nicht  immer  vollkommen  in  der 
Zeichnung,  trotzdem  aber  werden  sie  von  Kennern  als 
werth volle  Kunstwerke  geschätzt,  von  Freunden  der 
dargestellten  Persönlichkeiten  für  ausgezeichnet  ähnliche 
Bildnisse  erklärt.  In  München  war  ein  Gemälde  von 
ihm  ausgestellt  —  <  Andrey  und  ihre  Ziegen  ». 
Es  ist  ein  Bild,  das  gar  nicht  unbemerkt  bleiben  kann. 
Die  Intensität  der  Farben  übt  auf  den  Beschauer,  der 
an  so  strahlende  Tinten  nicht  gewöhnt  ist,  zuerst  eine 
abstossende  Wirkung.  Nach  längerem  Hinblicken  aber 
kann  dem  Bilde  die  Bewundenmg  nicht  versagt  bleiben. 
Der  Künstler  hätte  hier  ein  Meisterwerk  schaffien  können. 
Ob  jedoch  das  Motiv  zu  viel  von  dem  Meister,  oder 
er  von  diesem  zu  viel  verlangt  hat,  mag  eine  oflene 
Frage  bleiben.  Af.  sieht  in  der  Kunst  ein  bedeutendes 
Mittel,  in  edler  Weise  die  Eindrucke  zu  gestalten,  welche 
Natur  und  Leben  dem  Menschen  bieten.  Die  Originalität 
ist  bei  ihm  etwas  Selbstverständliches.  Sie  besteht  nicht 
etwa  in  irgend  einer  überraschenden  Anwendung  tech- 
nischer Kunstgriflie,  sondern  im  directen  Ausdruck  Dessen, 
was  des  Künstlers  Seele  erfüllt  Er  gibt  Etwas,  das  neu 
ist  wie  der  junge  Tag,  und  so  alt,  wie  die  Aehnlichkeit 
des    einen  Tages  mit  zehntausend  anderen. 

Wenn  Af.  Nachahmungen  bieten  wollte,  so  würde 
ihm  dies  ein  Leichtes  sein,  denn  er  besitzt  eine  wahr- 
haft phänomenale  künstlerische  Gewandtheit.  Noch 
heule  erinnern  sich  viele  der  ständigen  Besucher  der 
Londoner  National-Galerie,  wie  vor  einigen  Jahren  dieser 
junge  Schotte  binnen  weniger  Stunden  eine  gelungene 
Copie  des  lebensgrossen  Portraits  Philipp  IV.  von  Ve- 
lasquez  hergestellt  hat ;  eine  wohl  noch  von  Niemand  vor 
ihm  in  gleich  kurzer  Zeit  gelieferte  Leistung  dieser  Art. 


■  t     ¥     II  iiiNla.'iiyl,    VHtii! 


Neckerei. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


97 


Nie  würde  sich  M.  indessen  aus  persönlicher  Eitel- 
keit dazu  verstehen,  seine  Kunst  geflissentlich  durch 
Ausübung  von  Virtuosenstücken  herabzuwürdigen.  Ein 
Lieblingsausspruch  von  ihm  ist,  dass  «mit  der  wahren 
Kunst  keine  Kraftschaustellungen  vereinbar  sind». 

Die  imposante  Lebenskraft,  die  von  seinen  Bildern 
auszuströmen  scheint,  ist  auch  seiner  Person  charak- 
teristisch. Alle,  die  ihn  näher  kennen,  empfinden 
dies,  Jeder  fühlt  sich  von  seinem  Wesen  sympathisch 
berührt.  Seine  persönliche  Wirksamkeit  für  die  junge 
schottische  Malerschule  ist  von  unberechenbarem  Werth 
gewesen.  Jedem  Einzelnen  hat  er  genützt  und  durch 
.seinen  Einfluss  geholfen.  Wir  haben  hier  den  merk- 
würdigen Fall ,  dass  in  unserer  modernen  Zeit  der 
grossen  Academien  eine  bedeutsame  neue  Künstlerschule 
erstanden  ist,  die  zum  grössten  Theil  unter  dem  Einfluss 
eines  einzigen  Mannes  steht;  wo  also  ein  ähnliches 
Verhältniss  obwaltet,  wie  es  in  alter  Zeit  zwischen  einem 
Meister  und  seinen  Jüngern  bestand,  die  auch  ein  ge- 
meinsames Schaffen  vereinte,  ohne  dass  gerade  der  Eine 
nur  lehrend,  die  Anderen  nur  lernend  thätig  gewesen. 
Dass  hier  dieser  Eine  mehr  die  Stellung  eines  älteren 
Bruders,  als  die  eines  Meisters  unter  den  Uebrigen  ein- 
nimmt, erklärt  sich  daraus,  dass  sowohl  im  Alter,  wie 
im  Können  kein  grosser  Abstand  zwischen  ihnen  be- 
steht. M.,  dem  von  ihnen  Allen  der  Respect  ge- 
zollt wird,  der  in  einer  zahlreichen  Familie  dem 
Aeltesten  gebührt,  weilt  zur  Zeit  in  London,  wo  er  die 
Anhänglichkeit  und  Sympathie  seiner  wackeren  «Jungen» 
schwer  vermisst. 

James  Guthrie  ist  vielleicht  von  der  ganzen  Schaar 
der  vielseitigste  Künstler,  der  auch  in  der  Welt  schon 
die  meisten  Erfolge  genossen  hat.  Aeusserlich  soll  er 
dem  ersten  Napoleon  ähnlich  sehen.  Er  ist  darin  vor 
den  meisten  seiner  Gefährten  vom  Schicksal  bevorzugt, 
dass  er  von  den  ruhigen  Eindrücken  eines  behaglichen 
Heimwesens  umgeben  ist  und  sich  nicht  mit  Sorgen  um 
sein  tägliches  Brod  zu  plagen  braucht.  Er  lebt  bei 
seiner  Mutter,  der  Wittwe  eines  schottischen  Predigers. 
Als  seine  Eltern  in  London  wohnten,  hat  er  dort  seine 
erste  Ausbildung  genossen.  In  G.'s  frühen  Studien 
ist  ein  starker  Einfluss  John  Pettie's  unverkennbar,  der 
einer  seiner  frühesten  Lehrer  war.  Kaum  einundzwanzig 
Jahre  alt,  machte  er  eine  Reise  nach  Paris;  dort  im 
Salon  ward  ihm  die  Erkenntniss,  dass  die  Eindrücke 
unserer  heutigen  Alltagswelt  einer  ähnlichen  Auffassung 


würdig  sind,  wie  sie  ihn  bei  den  alten  Meistern,  die  ihm 
aus  der  Londoner  National-Galerie  bekannt  waren,  stets 
so  sehr  angesprochen  hatte.  Er  kehrte  mit  dem  festen 
Entschlüsse  nach  Grossbritannien  heim,  in  gleicher  Auf- 
fassungsweise das  moderne  wirkliche  Leben  mit  künst- 
lerischer Tiefe  und  Kraft  des  Ausdrucks  malen  zu  lernen. 
Monate  vergingen  ihm  mit  vergeblichem  Bemühen.  Er 
wollte  sich  nicht  mit  dem  billigen  Erfolge  begnügen, 
den  er  durch  die  mit  Virtuosität  betriebene  Kunst  eines 
Nachahmers  hätte  erzielen  können,  vielmehr  wollte  er 
selber  sehen  und  das  von  ihm  Gesehene  dann  in  einem 
wahrhaft  edlen  und  charakteristischen  Stil  zur  Dar- 
stellung bringen. 

So  gingen  Sommer  und  Herbst  dahin,  und  der 
Winter  war  in's  Land  gekommen.  In  dem  schottischen 
Dorfe,  wo  G.  damals  Aufenthalt  genommen  hatte, 
war  Jemand  gestorben,  und  nach  dörflicher  Sitte  ver- 
sammelte sich  die  ganze  Einwohnerschaft,  um  dem  Todten 
die  letzte  Ehre  zu  erweisen.  Auch  G.,  obwohl  fremd 
in  dem  Orte,  mischte  sich  unter  die  Leidtragenden. 
Die  schlichte  Leichenfeier,  welche  vor  der  offenen  Thür 
der  Hütte  stattfand,  weil  in  dieser  selbst  nicht  genügend 
Platz  für  eine  so  zahlreiche  Versammlung  war  —  die 
ganze  Scene  in  der  schneebedeckten  Winterlandschaft  — 
machte  auf  den  Künstler  einen  tiefen  Eindruck.  Sofort 
eilte  er  an  seine  Staffelei ,  und  sechs  Wochen  später 
hatte  der  damals  Zweiundzwanzigjährige  das  Gemälde 
vollendet,  welches  ihm  einen  Namen  in  der  Kunstwelt 
verschafft  hat  —  « das  schottische  Leichenbegängniss » 
(Scottish  Funeral).  Das  Motiv  gab  ihm  Gelegenheit, 
sich  als  einen  Maler  zu  zeigen,  der  mit  bedeutendem 
Kunstgeschick,  einem  scharfen  Blick  für  das  Charak- 
teristische und  Sinn  für  Gesammtwirkung  begabt  ist; 
während  sich  bei  dem  feierlich  ernsten  Vorgang  jener  Stil 
einfacher  Erhabenheit  von  selbst  ergibt,  der  in  G.'s 
durchweg  vornehmer  Natur  begründet  ist  und  sich  in 
allen  seinen  Werken  zeigt.  Nach  diesem  ersten  Erfolg 
erwies  sich  deutlich,  wess  Geistes  Kind  dieser  Mann 
war.  Hätte  weniger  Kraft  in  ihm  gesteckt,  so  würde 
er  nun  der  Versuchung  nachgegeben  haben ,  sein 
Glück  immer  wieder  auf  dem  einmal  betretenen  Pfad 
zu  suchen.  Ihm  aber  war  dies  erste  Gelingen  nur 
ein  Sporn  zu  noch  gründlicherem  Studium  der  Natur. 
Er  war  einsichtig  genug,  ein  fortgesetztes  Cultiviren 
des  sentimentalen  Genres ,  so  berechtigt  das  rührende 
Element    in    dem   « Leichenbegängniss »    auch    gewesen, 

13 


98 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


für  die  Laufbahn  eines  Künstlers  als  verderblich 
zu  erkennen.  So  wendete  er  sich  denn  mit  voller 
Energie  wieder  zur  Natur,  um  ihr  fernere  Inspi- 
rationen abzugewinnen.  Arthur  MehnlU  erblickte  das 
fLeichenbegängniss»  in  Glasgow,  als  es  daselbst  aus- 
gestellt war,  und  Hess  sich  mit  dem  Maler  bekannt 
machen,  um  ihm  seine  Anerkennung  auszusprechen. 
Dies  führte  zu  einer  Freundschaft,  die  spätere,  werthvoUe 
Ergebnisse  zur  Folge  hatte.  In  dem  schottischen  Dorfe, 
wohin  G.  sich  bald  nachher  begab,  um  Natur  zu 
Studiren,  schloss  MtlvUU  sich  ihm  ao,  und  die  Beiden 
arbeiteten  eine  Zeit  lang  in  Gemeinschaft. 

Für  G.  war  es   eine  besonders  glückliche  Fügung, 
dass  er   gerade   in    dem  Stadiimi   seiner  Laufbahn,  wo 
seine  Richtung  schon   bestimmt  war,    er  aber  in  tech- 
nischer Beziehung  noch  nicht  auf  der  Höhe  seiner  Ent- 
wicklung  stand,   mit   einem   Coloristen   wie  MehHUe   in 
Berührung   kam.      Er  profitirte  unter  dem  Einfluss  des- 
selben   ausserordentlich.      Damals    beschäftigte    er   sich 
\-iel  mit  Studien  experimentaler  Art,  doch  malte  er  auch 
einige  Bilder  von  Bedeutung,  so  tTheOrchard»  («Obst- 
garten»), und  das  Bildniss  des  Rev.  Dr.  Gardner,  welches 
in  München  mit  der  goldenen  Medaille  prämiirt  wurde. 
Der  <  Obstgarten  s    erinnert   stark   an  die  Gemälde  von 
Bastien   Lepage ,    der    in    gleicher    Weise    die    Wirkung 
des  Freilichts    an   Figuren    erprobt    hat.      Das  Bildniss 
Dr.  Gardner's  ist  eine  Charakterstudie,  bei  welcher  durch 
einfache  Portraitähnlichkeit    eine   gewisse  Intensität   des 
Ausdrucks  hervorgebracht  ist.     Sowohl  in  diesem  Bilde, 
wie  in  den  «  Schulkameraden  »  ist  das  Colorit  vorwiegend 
ein   ernstes  Grau ,    in   Uebereinstimmung    mit    dem    von 
dem  Maier  in  beiden  Fällen  eingenommenen  Standpunkt 
eines   kühlen  Beobachters    der   nüchternen  Wirklichkeit. 
Hierin  liegt,  wie  treffend  bemerkt  worden  ist,  die  Stärke 
und  zugleich  die  Schwäche  dieser  Bilder.     Es  bekundet 
sich  in  ihnen  gewissermaassen  ein  künstlerischerAgnosticis- 
mus,  insofern  darin  nur  die  materielle  Seite  des  Daseins, 
allerdings  mit  wunderbarer  Naturtreue,  wiedergegeben  ist, 
jedoch    unter  völligem  Ignoriren    des  geistigen  Wesens, 
das  von  einem  grossen  Theile  der  Menschheit  als  einziger 
Grund    für    das    Vorhandensein    der    materiellen    Form 
stets  betrachtet  werden  muss.     So  vortrefflich  ihm  diese 
Bilder     auch     gelungen     sind ,      konnte     sich     G.     von 
solch     barem    Agnostikcrthum     nicht     lange    befriedigt 
fühlen.     Er  suchte  nach  einem  besseren  Ausdruck  seines 
künstlerischen  Empfindens.      In   dem   c  Obstgarten  ,■   ge- 


stattete er  seinem  Genie  grössere  Freiheit;  er  Hess  sich 
nicht  mehr  von  der  peinlichen  Musterung  seines  Gegen- 
standes beherrschen.  Er  analysirte  weniger  und  sah  mehr. 
Anstatt  einer  correcten,  kalten  Abbildung  äusserlicher 
Formen  ist  uns  hier  ein  von  dem  echten  Hauch  künstler- 
ischer Begeisterung  durchwehtes  Kunstwerk  geboten. 

G.  bekam  wie  gesagt  in  München  die  goldene  Me- 
daille; dass  ihm  die  Auszeichnung  zu  Theil  wurde,  er- 
freute alle  in  hohem  Maasse.  «  Hier  sagte  man  sich  (d.  h. 
in  München)  sind  Menschen,  die  Verständniss  für  uns  be- 
sitzen, die  den  Geist  unseres  Strebens  erfassen».  In  die 
Freude  mischte  sich  aber  ein  Gefühl  der  Enttäuschung,  als 
sie  erfuhren,  dass  nicht  der  «  Obstgarten »  preisgekrönt 
war,  das  Werk,  worin  der  Künstler  sich  von  der  besten 
Seite  seines  Könnens  zeigt,  und  ganz  den  Character  der 
neuen  schottischen  Schule  repräsentirt.  Eine  Prämiirung 
dieses  Bildes  hätte  bewiesen,  dass  man  die  Schule  und 
ihre  Tendenz  richtig  aufgefasst  und  geschätzt  habe.  Nun 
war  der  Preis  einem  Gemälde  geworden ,  das  freilich  eine 
ganz  vorzügliche  Probe  künstlerischen  Könnens  ist,  doch 
weniger  mit  der  neuen  Schule,  als  mit  der  modernen 
materialistischen  Richtung  gemein  hat,  welche  eben  diese 
neue  Malerschule  zu  verdrängen  trachtet.  Mit  Aquarell- 
malerei hat  G.  sich  kaum  beschäftigt;  kürzlich  aber  einige 
besonders  schöne  Erfolge  in  Pastellfarben  erzielt,  in  deren 
Behandlung  er  sich  übrigens  schon  lange  vor  der  neuer- 
dings eingetretenen  Manie  für  Pastell  mit  grossem  Glück 
versucht  hat.  Seine  Studien  in  diesem  Fache  zeugen 
von  einer  merkwürdigen  Gabe  des^  Erfassens  rasch 
wechselnder  NatureindrUcke.  *) 

Als  Mensch  und  als  Künstler  hat  .sich  Jofm  Lavery 
einer  grossen  Beliebtheit  bei  den  t  Boys »  zu  erfreuen. 
Er  ist  durch  und  durch  eine  eigenartige  Individualität, 
ein  gebomer  Impressionist  und  im  Stande,  seine  Ein- 
drücke mit  Fleiss  und  Sorgfalt  wiederzugeben.  Starke 
und  lebhafte  Impulse  sind  dieser  leicht  erregbaren  Künstler- 
natur eigen.  Mehrere  seiner  besten  Werke  verdanken  ihr 
Entstehen  der  Eingebung  des  Augenblicks.  Er  venverthet 
seine  Motive  mit  Geschmack  und  sicherer,  kräftiger  Be- 
handlung des  Stoffes.    Seine  Gemälde  sind  von  einer  vor- 


*)  Ausser  den  beiden  obengenannten  hatte  derselbe  Autor  in 
München  1890  weiter  ausgestellt  ein  lebensgrosses  Reiterportrait  des 
Gg.  Smith  Esq.  in  Glasgow,  ebenfalls  vorzüglich  als  I^eistung,  weiter 
das  Bildniss  des  Rob.  Gourlay  lisq.  ebendaselbst  und  eine  vorzug- 
liche landschaftliche  Darstellung  c  Das  Kornfeld  >.  Wir  verweisen  be- 
züglich näherer  Details  auf  die  Ausstellungsberichte  des  Jahrganges  1890. 

Anmerk.  der  Redaction. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


99 


nehmen  Schönheit,  sie  haben  etwas  Anmuthiges  und  zu- 
gleich Flottes,  dabei  die  wohlthuende  Harmonie  und  die 
ruhige  Sicherheit  eines  sich  seiner  Kraft  bewusstenKünstlers. 
Z,.^ist  noch  ein  junger  Mann  und  hat  seine  besten 
Jahre  noch  vor  sich.  In  Glasgow  ist  er  mehrere  Jahre, 
wie  er  selbst  erzählt,  redlich  bemüht  gewesen,  mit  der  Brod- 
frage zu  kämpfen,  ohne  dieses  Problem  immer  befriedigend 
lösen  zu  können.  Im  Jahre  1881  gerieth  er  in  den  Bann 
von  Paris,  das  heisst,  unter  die  künstlerischen  Einflüsse, 
die  dort  in  der  Luft  liegen.  1883  stellte  er  sein  erstes 
Gemälde  cLes  deux  pasteurs»,  im  Pariser  Salon  aus, 
welches  von  dem  Bildhauer  St.  Marceaux  gekauft 
wurde.  Den  grösseren  Theil  des  folgenden  Jahres 
verlebte  er  in  ländlicher  Einsamkeit,  an  den  stillen 
Gewässern  von  Gretz.  Als  er  dann  mit  der  Absicht 
nach  Glasgow  zurückkehrte,  sein  dortiges  Atelier  auf- 
zugeben, fand  er  daselbst  die  neue  Kuastbewegung  vor, 
die  ihm  durchaus  sympathisch  war,  und  er  beschloss, 
wenigstens  noch  eine  Zeit  lang  an  den  Ufern  des  Clyde 
zu  bleiben.  Er  hat  Glasgow  seitdem  nicht  wieder  ver- 
lassen und  ist  in  die  Gemeinschaft  der  c  Boys  >  getreten, 
obwohl  er  nicht  alle  charakteristischen  Merkmale  ihrer 
Schule  angenommen  hat.  Seit  Glasgow  sein  fester 
Wohnsitz  geworden,  ist  mit  der  Aufzählung  seiner  Bilder 
auch  seine  Biographie  gegeben.  Hauptwerke  von  ihm 
sind  die  c  Lawn  tennis  party  r-  (Ballspiel  -  GeselLschaft), 
welches  für  die  Münchener  Pinakothek  angekauft  ist, 
und  zwei  Gemälde,  deren  Motive  der  Geschichte  der 
unglücklichen  Königin  von  Schottland.  Maria  Stuart,  ent- 
nommen sind.  Die  t  Tennis  party »  lässt  die  Haupt- 
vorzüge der  Fähigkeit  L.'s  erkennen  —  seine  frische 
und  glückliche  Beobachtungsgabe,  sein  .scharfes  Auge 
und  seine  sichere  Hand,  welche  sich  besonders  in  der 
gelungenen  Wiedergabe  des  Spieles  von  Licht  und 
Schatten  bewährt  hat.*)     Seine  Behandlung  historischer 


*)  Unter  den  1890  in  München  ausgestellt  gewesenen  Bildern  des 
genannten  Künstlers  erregte  die  c  Sommers  -  Zeit  >  (pag.  44  in  diesem 
Jahrgange  der  Zeitschrift  wiedergegeben),  weit  mehr  noch  das  Interesse 
der  Künstlerwelt,  als  die  Tennis  party,  weil  sie  des  Autors  Anschauung 
vielleicht  noch  kräftiger  präcisirte.  Dass  nicht  gerade  immer  die  besten 
Bilder  eines  Künstlers  für  die  Pinakothek  gekauft  werden,  ist  eine  in 
der  Künstlerwelt  längst  bekannte  Thatsache,  indem  es  sich  bei  diesen 
Ankäufen  durchaus  nicht  immer  blos  um  die  ausgesprochenen  Fähig- 
keiten eines  Künstlers  handelt,  am  wenigsten  aber  um  ganz  Modernes. 
Von  Lavery  lüYiTlen  übrigens  eine  ganze  Reihe  bedeutsamer  Werke 
der  MUnchener  1890er  Ausstellung  her,  so  eine  prächtige  weibliche 
Actstudie,  ein  «Junges  Mädchen  in  Schwarz»,  «Brücke  zu  Gretz  >, 
«Dawn,  May   141h    1568  >     und  das  prächtige    grosse   Pastell   «Sirene». 

Anmerk.   der  Redaction. 


Gegenstände  ist  eine  völlig  unconventionelle.  In  «  Dawn, 
May  14^  1568»  (Morgendämmerung  des  14.  Mai  1568), 
ist  Maria  Stuart  in  der  trostlosen  Stimmung  dargestellt, 
die  sich  ihrer  nach  der  auf  die  verhängnissvolle  Schlacht 
bei  Langside  gefolgten  schlaflosen  Nacht  bemächtigt 
hatte.  Der  Maler  hat  hier  auf  die  beliebten  historischen 
Details  verzichtet,  auch  effectvoUe  Localfarben  verschmäht. 
Die  beiden  Figuren  des  Bildes  sind  vollkommen  realistisch 
aufgefasst.  Die  ihrer  letzten  Hoffnung  beraubte  Königin 
und  ihre  Dienerin,  .sind  Gestalten,  welche  unbedingt  eine 
mächtigeWirkung  auf  den  Beschauer  üben  müssen.  Sowohl 
in  Haltung  wie  Geberden  bekunden  sich  völlige  physische 
Erschöpfung  und  tiefe  Verzweiflung  bei  diesen  von  hilf- 
losem Jammer  erfüllten  Frauen.  Für  Lavery  sind  die  ge- 
krönten Häupter  nicht  von  göttlichem  Zauber  umstrahlt. 
Nach  Guthrie  s  Niederlassung  in  dem  malerischen 
schottischen  Dorfe  Cockburnspath,  das  in  Künstlerkreisen 
durch  das  dort  vereinigt  gewesene  Malerquartett  einen 
denkwürdigen  Namen  gewonnen  hat,  gesellte  sich  als 
Vierter  zu  den  dort  schon  Arbeitenden  George  Henry, 
ebenfalls  ein  Glasgower.  H.  hatte  schon  als  selbst- 
ständig schaffender  Künstler  von  origineller  Begabung 
einen  ehrenvollen  Platz  unter  den  Pionieren  der  neuen 
Richtung  erworben.  Noch  vor  einem  halben  Dutzend 
Jahren  waren  seine  Leistungen  fast  nur  von  experimentalem 
Character  gewesen  —  plumpe  Versuche ,  die  geeignete 
Form  für  Das  zu  finden ,  was  er  ausdrücken  wollte. 
Selbst  jetzt  noch  zeigen  seine  Werke  die  Merkmale  einer 
etwas  schroffen  Eigenart,  und  dass  in  seinen  Bildern 
eine  viel  zu  individuelle  Auffassung  markirt  ist,  um  dem 
grossen  Publicum  verständnissvolle  Theilnahme  abzu- 
gewinnen, zeigte  sich  bei  seiner  in  München  ausgestellt 
gewesenen  Galloway  -  Landschaft.  Dass  Henry  seinen 
Weg  fand,  ist  Edward  Homel  zuzuschreiben,  mit  dem 
er  vor  etlichen  Jahren  auf  dem  Lande  zusammentraf, 
und  dessen  unzertrennlicher  Gefährte  er  seitdem  ward. 
Sie  arbeiten  in  einem  Atelier  und  oft  an  einem  Bilde. 
« Die  Druiden »  (in  München  gewesen)  ist  eines  der 
ersten  bedeutenderen  Werke,  welche  sie  gemeinsam  aus- 
geführt haben.  Henris  «Aufgang  des  Mondes  in 
Kerkenbright  gesehen»,  bezeichnet  den  Höhepunkt  der 
ersten  Periode  seines  Schaffens.  Das  von  grauem  Zwie- 
licht erfüllte  Landschaftsbild  ist  in  einfachem  Tone 
gehalten;  die  Farbengebung  ist  schön,  ohne  aufdringlich 
zu  berühren.  Das  Formenverhältniss  legt  Zeugniss 
dafür  ab,  dass  dem  Maler  ein  feines  Gefühl  für  decorative 


13* 


100 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wirkungen  innewohnt.  Dieser  Sinn  für  das  decorat  ive 
Element  bildet  in  der  That  den  Grundzug  aller  Malerei 
H!s.  In  Bezug  auf  Kraft  und  Inspiration  sind  seine 
Bilder  von  durchaus  schottischem  Charakter ;  desgleichen 
in  jenem  Ahnen  des  Uebersinnlichen,  wofür  die  Schotten 
in  ihrem  Dialect  das  Wort  cFeyt  haben.  George 
Hatry  besitzt  gleichsam  die  Gabe  des  zweiten  Gesichts. 
Er  fasst,  während  er  die  äusseren  Erscheinungen  der 
Natur  in  sich  aufnimmt,  dieses  Endliche  als  die  Hülle 
auf,  welche  das  Unendliche  umkleidet.  Dieser  Geist. 
von  dem  die  Werke  fast  aller  dieser  jungen  Schotten 
mehr  oder  weniger  durchdrungen  sind,  offenbart  sich 
auch  in  H.'s  cMushroom  gatherer»  (Die  Pilzcsamm- 
lerin),  einem  kleinen,  wunderbar  stimmungsvollen  Bilde, 
das  ebenfalls  in  München  ausgestellt  war.  Es  ist  um 
die  Dämmerstunde  des  grauenden  Morgens,  und  grade 
über  dem  im  Profil  gesehenen  Kopf  des  jungen  Mäd- 
chens, das  sich  in  dem  matten  Zwielicht  niederbeugt, 
steht  die  gelbe  Scheibe  des  sinkenden  Mondes.  Das 
Motiv  ist  mit  Zurückhaltung  behandelt,  doch  liegt  eine 
Fülle  gedämpfter  Farbentöne  über  den  weiten  Flächen. 
Bei  der  Galowaylandschaft  hat  er  eine  entgegen- 
gesetzte Wirkung  erstrebt  und  in  Farben ,  diesem 
wichtigsten  Mittel  der  Imaginationsmalerei,  förmlich  ge- 
schwelgt. Das  Bild  glüht  und  sprüht  von  Farben;  und 
es  würde  Einem  beim  Anschauen  dieser  Pracht  durch- 
aus natürlich  dünken ,  wenn  Moses  in  einer  .solchen 
Landschaft  den  brennenden  Busch  erblickte,  oder  das 
Licht  vom  Himmel  käme,  das  den  Apostel  Paulus  um- 
leuchtete, da  er  gen  Damascus  wanderte.  Henry,  der 
sonach  seine  Kraft  in  zweierlei  Art  zu  bethätigcn  weiss, 
bürgt  durch  seine  bisherigen  Studien  in  der  Farben- 
gebung  dafür,  dass  ihm  bei  grösserer  Reife  und  höherer 
Beherrschung  des  künstlerischen  Ausdrucks  noch  edlere, 
vollendetere  Kunstschöpfungen  gelingen  werden. 

E.  A.  Walton,  der  in  seiner  äusseren  Erscheinung 
eine  merkwürdige  Aehnlichkeit  mit  Robert  Bums  besitzt, 
und  dem  die  « Boys  >  wegen  seiner  Vorliebe  für  die 
japanische  Kunst  den  Spottnamen  Hokusai  gegeben 
haben,  nimmt  künstlerisch  so  ziemlich  die  gleiche  Stell- 
ung ein  wie  Lavery.  Auch  er  fasst  die  Dinge  von  der 
heiteren  Seite  auf,  und  lässt  sich  am  liebsten  von  leichten, 
gefälligen  Eindrücken  inspiriren.  Doch  neben  diesem 
Hang  besitzt  er  auch  die  Fähigkeit  ernster  Empfind- 
ungen. W.  ist  wie  ein  Kind ,  das ,  ohne  .sich  viel 
Rechenschaft    von    seinen  Stimmungen   zu  geben,    ganz 


in  Dem  aufgeht,  was  sein  Wesen  just  erfüllt.  Seine 
Bilder  sind  der  genaue  Ausdruck  seines  Wesens,  und 
so  kommt  es  zuweilen  vor,  dass  er  zwei  verschiedene 
Stimmungen  in  einem  Gemälde  vermischt,  was  zu  keinem 
besonders  harmonischen  Ergebniss  führt.  Eine  grosse 
Anzahl  seiner  Bilder  sind  Portraits.  Obwohl  er  von 
Hause  aus  Landschafter  ist ,  erkannte  er  doch  schon 
rechtzeitig,  dass  das  Malen  von  Köpfen  für  die  tech- 
nische Vervollkommnung  eines  Künstlers  ausserordentlich 
forderlich  ist.  Seine  Bildnis.se  sind  besonders  als  Charakter- 
studien von  Werth.  Am  Besten  sind  ihm  jedoch  un- 
streitig landschaftliche  Naturaufnahmen  gelungen.  •)  Seit 
Cedl  Lmvson  gestorben  ist,  hat  Grossbritannien  keinen 
Landschaftsmaler  ersten  Ranges  besessen.  W.  dürfte 
dereinst  berufen  sein,  die  Lücke  auszufüllen. 

Unübertrofi"en  in  Bezug  auf  die  Technik  ist  Joseph 
Craxvhall.  Der.  Pinsel  scheint  in  seiner  Hand  zum 
Zauberstab  zu  werden.  Mit  wenig  Strichen  erreicht  er 
viel,  denn  jeder  Strich  ist  von  Bedeutung.  Die  meisten 
seiner  Bilder  sind  Aquarelle,  und  am  liebsten  malt  er 
Thiere.  Seine  Pferde,  Hunde  und  Tauben  sind  wirkliche 
Charakterstudien.  In  seinen  Malereien  liegt  Witz,  .sie 
wirken  gleichsam  wie  Epigramme,  und  hiedurch  bringt 
er  seine  jungen  Kunstgenossen  nicht  selten  zum  Ver- 
zweifeln am  eigenen  Können.  Seine  leichte,  gewandte 
Pinselführung  scheint  ihrer  Mühe  und  Anstrengung  zu 
spotten.  Sein  Einfluss  wirkte,  wie  der  IVa/fon's,  un- 
gemein heilsam  für  die  Mehrzahl  der  Genossen,  deren 
Ernst  vielleicht  sonst  einen  Mangel  an  Frische  erzeugt 
haben  würde.  Er  .strebt  nicht,  wie  es  in  der  europäischen 
Kunst  allgemein  üblich  ist,  nach  einer  Gesammtheit  des 
Naturbildes,  das  er  uns  vorführt.  Er  sagt  ganz  offen: 
<  Das  Ensemble  interessirt  mich  nicht ;  ich  verweile  lieber 
bei  den  Punkten,  die  mir  gefallen  >.  Und  so  erinnert 
seine  Auffassung  an  den  japanischen  Geschmack,  der  sich 
am  Hervorheben  der  Hauptsachen  genügen  läs.st,  ohne 
sich  um  die  Zwischenräume  zu  bekümmern.  C.  malt 
fast   nur    kleine    Bilder,    was    bei   seiner  Methode    und 


•)  Die  geehrte  Autorin  dieser  Zeilen  mag  es  der  Redaction  nicht 
verübeln,  wenn  sie  in  diesem  Falle  etwas  anderer  Ansicht  zu  sein  sich 
erlaubt.  Das  mit  einer  Medaille  ausgezeichnete  c  Portrait  eines  jungen 
Mädchens  >  (Vollbild  siehe  [«ig.  20  dieses  Jahrganges  der  Zeitschrift) 
war  eine  Leistung,  der  man  allgemein  die  erste,  höchste  Auszeichnung 
der  iScjoer  Ausstellung  vindicirte.  Wenn  alle  I^andschafter  solche  Bild- 
nisse malten ,  dann  wären  die  specifischen  Portraitmaler  völlig  über- 
flüssige Figuren,  denn  die  Behandlung  der  Farbe  ist  bei  fVatt(m  eine 
ebenso  volle,  empfundene,  durch  und  durch  künstlerische,  wie  auch  die 
Wiedergabe  der  Form.  Anmerk.  der  Redaction. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


101 


seinen  Motiven  auch  selbstverständlich  ist.  Von  fes- 
selndem Reiz  sind  einige  seiner  Pastellbilder. 

Jaitus  Patterson  wird  gleich  Lavery  nicht  ganz  als 
zur  Gemeinde  gehörig  betrachtet.  Sie  Beide  besitzen  von 
Dem,  was  der  neuen  Schule  charakteristisch  ist,  die 
äusseren  Merkmale,  welche  sie  auf  ihre  sonst  dem  Tages- 
geschmack entsprechenden  Bilder  übertragen.*)  Nach 
Ansicht  der  <  Boys  »  sind  diese  Beiden  eben  nur  in  Paris 
ausgebildete  Maler,  die  zufällig  in  Schottland  ihre  Kunst 
ausüben,  um  davon  zu  leben,  doch  des  tiefen  Ernstes, 
jener  Innerlichkeit,  wovon  die  echten  Werke  der  Schule 
durchweg  durchdrungen  sind,  ermangeln. 

Geistig  fördernd  und  anregend  wirkt  aui  alle  Mit- 
glieder der  Gemeinde  der  Landschafter  Macaulay  Ste- 
venson, dessen  Aquarelle  sich  durch  die  feinste  Zartheit 
der  Behandlung  auszeichnen.  Er  ist  der  Freund  Aller, 
ein  stets  wohlwollender,  wenn  auch  strenger  Kritiker. 
In  seinem  Atelier  finden  die  Versammlungen  statt,  und 
bis  jetzt  hat  er  mit  den  von  Noth  bedrückten  Collegen 
jeden  Pfennig  seiner  Baarschaft  getheilt.  Seine  Land- 
schaften sind  von  echt  schottischem  Charakter;  meist 
schattige  Waldesgründe,  die  man  sich  als  Tummelplatz 
von  Geistern  vorstellen  kann.  Er  malt  gern  Mondschein- 
EfTecte,  weshalb  ihm  die  «Boys»  den  Beinamen  «The 
Moonlighter»  (der  Mondanzünder)  gegeben  haben. 

David  Gould  liebt  Wolkeneffecte  darzustellen,  bei 
denen  er  zur  Verwunderung  der  Philister  vom  soge- 
nannten Realismus  gänzlich  Abstand  nimmt.  Seine 
Farbengebung  ist  ernst,  fast  traurig  stimmend ;  Schwarz 
und  Grün  oder  Grün  und  Blau  sind  seine  liebsten  Zu- 
sammenstellungen. Man  hörte  vielfach  äussern,  dass 
seine  Compositionen,  im  Stil  der  gemalten  Fenster  alter 
düsterer  Kathedralen  auf  Glas  gemalt,  sich  viel  schöner 
ausnehmen  würden,  als  auf  Oelgemälden.  Auch  hat  er 
in  der  That  ganz  kürzlich  einen  Entwurf  für  ein  Fenster 
vollendet,  der  so  viel  Beifall  fand,  dass  ihm  darauf  hin 
das  Anerbieten  eines  kleinen  gesicherten  Einkommens 
nebst  einem  Antheil  an  allen  fiir  seine  Glasmalereien 
zu  erzielenden  Einnahmen  gemacht  wurde.**) 


Bei  der  Beurtheilung  dieser  neu  entstandenen  schot- 
tischen Schule  wäre  es  verfehlt,  einen  anderen  Maassstab 
anzulegen,  als  den  unserer  eigenen  Kunstperiode.  Man 
darf  diese  jungen  Maler  nicht  etwa  auf  eine  Stufe  mit 
den  grössten  Künstlern  aller  Zeiten  stellen  wollen.  Sie 
üben  ihre  Kunst  in  einer  individuellen,  neuen  Weise  aus, 
sie  streben  eine  neue  Richtung  an,  die  mehr  mit  der 
Malerei  der  alten  italienischen  und  deutschen  Meister 
verwandt  ist,  als  sie  mit  den  Traditionen  Rembrandfs 
gemein  hat,  dessen  Methode  das  Kunstleben  Europa's 
seit  den  Tagen  dieses  Meisters  mehr  oder  weniger  be- 
herrscht. Die  aus  der  neuen  Schule  hervorgegangenen 
Gemälde  haben  etwas  von  jener  strengen,  zuweilen  in 
schroffe  Rauhheit  übergehenden  Behandlung,  die  jeder 
Pionierarbeit  anhaftet,  und  in  diesem  besonderen  Falle 
auch  dem  Charakter  des  Landes  und  der  Rasse  der 
Pioniere  selber  entspricht.  Diese  Eigenthümlichkeit  ist 
hier  durchaus  nichts  Ungehöriges.  Was  bei  Kunstwerken 
eines  durch  Generationen  überkommenen,  ausgereiften 
Stils  ein  Fehler  sein  würde,  ist  bei  einer  neuen,  noch 
im  Durcharbeiten  begriffenen  Kunstrichtung  ein  gutes 
Zeichen.  Weist  die  neue  Schule  auch  in  ihren  jetzigen 
Leistungen  mehr  Strenge  als  Anmuth,  mehr  die  Spuren 
von  Anstrengung  als  Behagen  auf,  so  sind  diese  Neuen 
doch  auf  dem  richtigen  Wege  und  können  es,  was  den 
Geist  und  die  Entwicklungsfähigkeit  ihrer  Kunst  betrifft 
—  abgesehen  von  den  ersten  Grössen  —  mit  den  Besten 
ihrer  Zeit  aufnehmen. 

Obwohl  sie  nach  ihrem  persönlichen  Geschmack 
und  Talent  die  grösste  Verschiedenheit  in  den  Motiven 
wie  der  Behandlung  aufweisen ,  haben  diese  jungen 
Schotten  doch  Alle  einen  verwandten  Zug,  der  ihnen 
eine  Art  Familienähnlichkeit  verleiht.  Dies  ist  in  An- 
betracht des  sie  Alle  beherrschenden  Geistes  nicht  eben 
wunderbar.  Trägt  somit  eines  Jeden  Schaffen  den 
Stempel  einer  besonderen  künstlerischen  Individualität, 
so  darf  man  doch  von  Keinem  aus  der  Gruppe  behaupten, 
dass  er  ohne  Bedeutung  für  das  Gedeihen  der  ganzen 
Schule  gewesen  wäre. 


*)  Gerade  Palerson  's  Landschaften  gehörten  zu  jenen  Bildern,  die 
unter  den  Künstlern  in  München  das  grösste  Aufsehen  machten  durch 
die  Kühnheit  der  Farbenbehandlung  und  die  Tiefe  der  darin  liegenden 
Naturbeobachtung.  Anmerk.  der  Redaction. 

»*)  Unter   den   zahlreichen   schottischen  Ausstellern,   welche  hier 


nicht  mit  Namen  genannt  sind,  dürfte  vielleicht  noch  einer  aufgeführt 
werden ,  dessen  Bild ,  <  Der  gute  König  Wenzel  > ,  allgemein  mit  Ent- 
zücken betrachtet  wurde,  Alexander  Rocht,  von  dem  ausserdem  das 
köstliche  Bild  c  Die  Kartenkönigin  j,  sodann  c  Auf  dem  Gipfel»,  «Miss 
Leo»  und   «  Die  Schafhirten »  die  Ausstellung  zierten.     Anmerk.  d.  Red. 


•""^^Sf?^" 


108 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


NOCH  EINMAL  „VON  UNTERWEGS" 


VON 


H.  E.  VON  BERLEPSCH. 


Verehrtester/ 

V\  erden  Sie  ungeduldig  darüber,  dass  ich  nochmals 
€Von  Unterwegs  >  schreibe?  Es  zieht  mich  gar  nicht  so 
fürchterlich  hinüber  nach  unseren  deutschen  Gauen,  wo 
allcrNvege  noch  sehr  kühle  Lüfte  wehen,  wo  es  mehr 
Professoren  und  Gcheimrathc  als  Menschen  giebt,  und 
Poeten,  die  vom  Geiste  unserer  Zeit  keine  Ahnung 
zu  haben  scheinen.  Bürger-  und  Volksbühnen  errichten 
wollen,  auf  denen  mittelalterliche  Figuren  den  Sieg  der 
Tugend  über  das  Laster,  sittsamer  Weiblichkeit 
über  politische  Bösewichter  darstellen  und  derlei 
Rumpelkammer-Dichtung  als  moralischer  Hebel 
an  die  Erziehung  des  Volkes  heute,  sage  heute, 
antjesetzt  werden  soll  !  Ob  unsere  Antiquitäten- 
dichter  sich  irj^end  etwas  von  ihren  Comödien 
versprechen,  was  auf  den  Gang  der  Dinge  Ein- 
fluss  haben  könnte?  Am  Ende  ^arl  Oder  sind 
sie  Apostel  im  Dienste  höherer  Machte?  Sie 
wollen  übrigens  gewiss  nur.  dass  der  Dusel  des 
Lebens  immer  der  gleiche  bleibe,  sie  wollen 
nichts  von  der  gährenden  Kraft  wissen ,  die 
langsam  aber  sicher  wie  ein  elementares  Ereig- 
niss  alle  Schichten  erfasst ,  unberechenbar  in 
ihren  Resultaten  ist.  Ach  —  die  Publicums- 
Grössen !  Sie  gehen  doch  wohl  immer  auf  Stelzen, 
nicht  auf  eigenen  Beinen ,  und  das  Köstliche 
dabei  ist .  dass  ganz  wenige  nur  das  unnatür- 
liche hölzerne,  absagbare  Untergestell  sehen, 
die  Mehrzahl  aber  an  die  wahrhaftige  Grösse  solcher 
Erscheinungen  glaubt !  Oh  —  deutsche  Poesie ,  wie 
welk  sind  Deine  Ritter  -  F"räulein  -  Brüste  geworden!  Ich 
sah  übrigens  neulich  einen  Seiltänzer,  ganz  in  Eisen 
als  Ritter  gekleidet,  mit  der  Balancirstange  über  das 
Seil  gehen.  Ob  der  Mann  von  sich  aus  diesen  heillos 
ironischen  Einfall  hatte?  Giebt  es  unter  den  Seiltänzern  am 
Ende  wirkliche  Ritter?  Warum  nicht  I  Zieht  doch  auch 
eine  wirkliche,   unbestritten  acht  Principessa    als  Tingel- 


Studie. 


Tangel-Sängerin  durch  die  Welt!  Fragt  aber  Einer,  ob 
unsere  Ritter  auch  Reiter  seien  (was  im  Grunde  ge- 
nommen Eins  und  Dasselbe  ist),  so  könnte  ihm  vielleicht 
Oberländer  darüber  Aufschluss  geben,  wie  ein  berittenes 
Ordensritter-Capitel  von  heute  aussähe  I 

Wären  Sie  übrigens  auch  hier,  in  dieser  wunder- 
baren Stadt,  oder  vielmehr  nicht  in  der  Stadt,  son- 
dern hier  oben  in  den  luftigen  Höhen  von  Fiesole, 
so    würden    Sie    es    begreiflich    finden,    dass    ich    nicht 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


103 


schon  längst  wieder  über  die  Alpen  heimgesegelt  bin 
in  mein  Atelier,  wo 's  am  behaglichsten  ist,  wenn  im 
Ofen  das  Feuer  knistert  und  die  Schneeflocken  am 
grossen  Fenster  vorbei  in  die  Tiefe  fallen,  wenn's  also 
Winter  ist  und  der  Mensch  gezwungenermaassen  sich 
innerhalb  seiner  vier  Wände  bewegen  muss.  Dann  — 
ja  dann  ist  der  Norden  mit  seinen  geheizten  Stuben  ein 
wahres  Eldorado ,  derweilen  man  in  Italien  friert  und 
ungezählte  Tropfen  Rothweines  durch  die  Kehle  träufeln 
muss,  um  nur  einigermaassen  in  warme  Stimmung  zu 
kommen.  Die  Nordlän- 
der bilden  sich  immer  ^ 
ein,  im  c  weichen  Süden  > 
friere  man  nicht,  dess- 
halb  müsse  man  eigent- 
lich die  Zeit,  wo  bei  uns 
der  Christbaum  brennt, 
in  italischen  oder  an- 
deren Landen  fremder 
Zunge  südlich    vom  46. 

Breitegrad  zubringen, 
die  Neujahrsnacht  in 
Sommerkleidern  auf  der 
Strasse  feiern  und  am 
Dreikönigstage  das  erste 
kleine  Sonncnstichlein 
heimbringen.  Derweilen 
verhalten  sich  die  Sachen 
ganz  anders ;  wenn  die 
Sonne  scheint,  wenn  es 
heiss  ist,  dann  ist  Italien 
eigentlich  erst  Italien;  zur 
Winterszeit  aber  friert 
man  hier  mehr  wie  bei 
uns,  denn  Oefen  sind 
eine  seltene  und  ausser- 
ordentlich kostspielige  Geschichte,  da  sowohl  Holz  wie 
Kohlen  von  anständiger  Qualität  sozusagen  schon  mit^ 
zu  den  kostbaren  Artikeln  menschlicher  Lebensbedürf- 
nisse gehören,  von  Petroleum  gar  nicht  zu  reden  — 
das  kostet  dreimal  soviel  als  der  beste  Wein.  Auf 
Allem,  Allem  sind  eben  Steuern,  Steuern  und  nochmals 
Steuern.  Dafür  aber  hat  Italien  eine  stolze  Flotte 
und  ein  gut  —  angezogenes  Landheer,  sehr  viele  arme 
NobiH,  beinahe  so  viele  wie  wir  in  Deutschland,  armes, 
noch    mehr   unzufriedenes  Volk,    das  vielfach   sogar   in 


Hugo  Vogtl,  Berlin.     Studie, 


anständigen  Kleidern ,  aber  mit  knurrendem  Magen 
herumgeht  und  auf  Jene  nicht  gut  zu  sprechen  ist, 
denen  der  Herrgott  Amt  und  Würden ,  folglich  be- 
stimmte Einkünfte  und  damit  auch  Nebeneinkünfte  ver- 
liehen hat,  welche  dem  grösseren  Theile  nach  in  achtem 
gangbaren  Gelde  ausbezahlt  werden.  Ja,  die  Flotte  und 
das  Landheer !  Sauber  sehen  sie  aus ,  die  italienischen 
Soldaten ,  auch  gehen  die  Officiere  weder  mit  Stock 
noch  Regenschirm  spazieren,  wie  man  das  zuweilen  an 
Militärs    anderer    Staaten,    die    an  Italien    grenzen,    zu 

beobachten  Gelegenheit 
hat;  schlagen  würden  sie 
sich  zweifelsohne  wie  die 
Löwen,  wenn  ihnen  die 
Gelegenheit  dazu  gebo- 
ten, wenn  z.  B.  so  kleine 
Nationenhatzen  inscenirt 
würden ,  wie  man  etwa 
die  beliebten  und  meines 
Wissens  nicht  streng  ver- 
folgten ,  vielleicht  im 
Stillen  sogar  sanctionir- 
ten  « Corpshatzen »  in 
anderen  Ländern ,  wo 
..  Bildung  »  das  Schlag- 
wort vom  frühen  Morgen 
bis  zur  späten  Nacht  ist, 
ausficht.  Es  wäre  eigent- 
lich nicht  übel ,  der- 
gleichen Paukereien  auf 
neutralem  Gebiet,  an  der 
Grenze !  Vielleicht  kommt 
es  noch  dazu,  statt  der 
kostspieligenMonstreauf- 
führungen  auf  den  Kriegs» 
Schauplätzen  einen  klei- 
neren Maassstab  anzunehmen  und  dabei  die  Gegner  erst 
in  homerischer  Weise  sich  gegenseitig  anbrüllen  zu  lassen. 
—  Uebrigens  habe,  ich,  nebenbei  bemerkt,  unter  den 
italienischen  Studenten  blos  ganze  Gesichter,  keine 
Treffzonen  für  gegnerische  Hiebe  gesehen.  Das  frei- 
heitliche Gefühl  des  Volkes,  das  in  gewissen  Beziehungen 
ja  ausserordentlich  hoch  entwickelt  ist,  würde  sich  da- 
gegen auflehnen,  dass  man  einem  bestimmten  Stande 
das  Recht  gegenseitiger  Körperverletzung  offen  oder 
wenigstens   im    Stillen    zugesteht,    während    für   andere 


104 


DIE  KUNST  UNSERER  7FIT. 


Bevölkerungsschichten  in  sol- 
chen Dingen  der  Giminal- 
codex  jederzeit  seine  An- 
wendung findet.  Das  ist  ein 
Zug  von  natürlichem ,  ge- 
rechtem Empfinden,  der  viel- 
leicht auch  anderswo  einmal 
zur  Geltung  kommt,  wenn  das 
Princip  fwas  dem  Einen 
recht,  ist  dem  Andern  billig  » 
vor  dem  Gesetze  thatsäch- 
lich  zur  Durchführung  ge- 
langt und  es  vor  der  Göttin 
mit  den  komischerweise  ver- 
bundenen Augen—  sie  schielt 
ja  mehr  oder  weniger  doch 
unter  der  Binde  hervor  — 
nur  einerlei  Recht  und  Un- 
recht für  Alle  ohne  Ansehen 
der  Person  giebt.  —    Doch 

—  wozu  hier  oben,  in  dieser 
göttlichen  Ruhe  an  all'  der- 
gleichen Larifari  denken  ! 

Vom  Monte  Senario  her 
wellt  ein  leiser  Wind,  der 
hin  und  wieder  das  Rau- 
schen des  Mugnone  aus  dem 

Thale  heraufträgt,  die  schlanken  Cypressenwipfel  leise 
biegt  und  grosse,  runde,  weisse  Wolkenballen  langsam 
vom  Mittelmeere  her  über  das  alte  Etrurien  nach  der 
Adria  hinübertreibt.  Am  Hange  nach  dem  Thal  zu 
arbeiten  unweit  von  den  Sitzreihen  des  Amphitheaters 
ein  paar  Maurer  am  Fundament  eines  Hauses;  man 
hört  zuweilen  den  Hammerschlag  auf  dem  harten 
klingenden  Stein ;  vom  Klösteriein  der  Franziskaner,  das 
droben  liegt,  wo  ursprunglich  zweifelsohne  ein  etruskisch 
Heiligthum  und  die  Citadelle  stand ,  tönt  irgend  ein 
Glockenzeichen  herüber  —  sonst  ist's  aber  wirklich  still, 
ganz  still,  hier  auf  der  Terrasse  des  Hauses  von  Ferucchio, 
wo  man  einen  bezaubernd  guten  Wein  trinkt  und  wahr- 
haft paradiesisch  gute  PoUastri  gegen  massige  Bezahlung 
zu  essen  bekommt ,    während  drunten  in  der  t  Aurora  > 

—  der  Name  ist  für  die  Geldbeutel  der  dort  Ein- 
kehrenden sehr  symbolisch  —  alle  Preise  heillos  ge- 
salzen sind.  Solcherlei  Salz  kostet  nichts ;  das  wirkliche 
ist ,    wie    gar    viele    der    nothwendigsten    Lebensdinge, 


HngQ  Vtgtl,  Berlin.     Stndie, 


wahnsinnig  theuer.  Warum  ? 
Ja,  da  muss  man  Staats- 
männer und  Nationalöko- 
nomen fragen,  obwohl  die 
nationale  Oekonomie  in  Ita- 
lien ein  Bild  sonderbarer,  nicht 
besonders  erfreulicher  Art 
giebt.  Uebrigens  —  was  geht 
tias  Alles  mein  verwaistes 
Münchener  Atelier  an,  das 
mir  just  im  Kopf  herumging, 
einen  grossen  Raum,  über, 
neben,  unter  welchem  eben- 
falls Ateliers  sind !  Ich  brauche 
nur  daran  zu  denken  und 
mir  fällt  alles  mögliche  Zeug 
ein,  das  Stoff  böte  zu  einer 
herrlichen  Arbeit  über  <  Freu- 
den und  Leiden  eines  Atelier- 
Inhabers  )  !  Man  steile  sich 
z.  B.  so  einen  jener  unsäglich 
miserabel  construirten  Mün- 
chener Atelierhauskasten  vor, 
de.ssen    Erbauer    vor   seiner 

Würde  als  «Herr  Bau- 
meister 1  vielleicht  Bäcker 
oder  Schuster  oder  sonst 
was  war,  auf  einmal  aber  das  Baufieber  bekam,  was 
ihm  natürlich  kein  Mensch  wehren  kann.  Ateliers 
bringen  viel  Geld  ein  —  also  baut  man  Ateliers,  stellt, 
weil  es  überhaupt  in  den  Münchener  Wohnungen  der 
Fall ,  das  miserabelste  Fabrikat  von  Ofen  hinein ,  das 
irgendwo  beim  Abbruch  von  Arbeiterbaracken  billig  zu 
haben  war,  klitscht  an  die  Balken,  welche  Stockwerk  von 
Stockwerk  trennen ,  ein  paar  Latten  an,  bewirft  sie  mit 
schlechtem  Gyps,  macht  grosse  Fenster  —  da  —  das  Atelier 
ist  fertig,  kostet  gehörige  Miethe,  und  wenn  man  weiter 
irgend  etwas  davon  haben  will,  muss  man  eben  brav  selber 
blechen  ;  ist  es  doch  eine  der  hausherrlichen  Cardinal- 
tugenden,  nichts  machen  zu  lassen,  es  sei  denn,  dass 
der  Miether  es  bezahle.  Doch  mit  dem  Raum  allein 
hängen  diese  sc  Freuden  und  Leiden  eines  Atclierbewoh- 
ners  .>  nicht  zusammen  1  Eis  giebt  ja  auch  Nachbarn, 
z.  B.  Maler  älterer  Ordnung,  Leute,  die  wie  die  fran- 
zösischen Epiciers  sich  mit  einem  gewissen  Alter  zur 
Ruhe    setzen,    an   Kunst    überreichlich    genug   geleistet 


H^ 


0) 


CO 

© 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


105 


und  sich  die  nöthigen  Mittel  zum  weiteren  Lebens- 
unterhalte eben  in  diesem  handwerklichen  Zweige  ver- 
dient haben,  nichts  desto  weniger  aber  doch  immer 
noch  sich  den  Luxus  eines  Ateliers  erlauben ,  haupt- 
sächlich massigem  Lebensgenuss  und  ihrer  Gesundheit 
das  Hauptaugenmerk  zuwenden,  Holz  sägen  und  spalten, 
den  ganzen  Tag  mit  genagelten  Schuhen  hin  und  her 
laufen  wie  Menagerie -Einwohner  in  ihrem  Käfig,  immer 
etwas  zu  hämmern,  zu  nageln,  zu  hobeln,  zu  feilen  und 
manchmal  —  Alter  schützt  vor  Thorheit  nicht  —  sogar 
noch  Besuch  von  jungen 
Damen,  wie  es  scheint 
Athletinnen  haben,  die 
—  in  welchem  Costüm 
es  geschieht,  weiss  ich 
leider  nicht  —  Ring- 
kämpfe aufzuführen 
scheinen !  Ja  —  Atelier- 
bewohner! Herrlicher 
Titel  für  ein  Werk,  ge- 
gen welches  Herr  Tar- 
tarin  in  allen  Ausgaben 
eine  Kleinigkeit  ist ! 
Aber  schreiben  muss  es 
eben  Einer,  der  es  aus 
eigener  Erfahrung  kennt 
und  die  Maler  so  zeich- 
net, wie  sie  sind,  nicht 
im  Conventionellen  No- 
vellenstyl !  Vielleicht 
thut's  einmal  ein  Maler, 
der  schreiben  kann.  Er 
braucht  nur  zu  erzählen, 
was  man  selbst  erlebte ; 
das  ist  oft  so  toll,  wie 
man  es  kaum  erfinden 
könnte.  Und  da  sogar  Paul  Lindau  zugiebt,  dass, 
wenn  ein  Maler  das  Schildern  mit  der  Schreibfeder 
verstehe,  es  ganz  gewiss  viel  besser  ausfalle,  als  alle 
und  jede  Berufsschriftstellerei ,  so  ist  zu  hofien,  dass 
sich  eines  Tages  der  rechte  Mann  finde,  um  so  mehr, 
als  die  allgemeine  Durchschnittsbildung  in  Künstler- 
kreisen entschieden  eine  steigende  Linie  gegenüber 
früher  zeigt,  wo  es  beinahe  als  ein  Vorzug  galt,  mög- 
lichst roh,  brutal,  ungeschlacht  aufzutreten  und  vielleicht 
keinen    richtigen    Satz    schreiben    zu    können.     Das    ist 


//ugo   Vogel,  Berlin.     Studie. 


noch  gar  nicht  lange  her,  noch  kein  halbes  Menschen- 
alter, und  böse  Stimmen  behaupten,  es  gebe  sogar 
künstlerische  Titelträger,  die  mit  dem  A-B-C  auf  ge- 
spanntem Fusse  stünden,  während  sie  das  Einmaleins 
vorzüglich  zu  handhaben  wüssten,  und  zwar  nicht  blos 
das  künstlerische  Einmaleins,  sondern  schon  das  andere, 
eigentliche.  Unter  den  französischen  Künstlern  sind 
nicht  wenige,  die  mit  der  Feder  umzugehen  wissen, 
dass  es  nur  so  eine  Freude  ist;  stellt  doch  überhaupt 
die  litterarische  Weit   zusammen  mit  der  künstlerischen 

dort  eine  viel  einheit- 
lichere, in  den  geistigen 
Interessen  enger  ver- 
knüpfte Gemeinschaft 
von  Schaffenden  dar,  als 
es  bei  uns  im  zünftigen 
Deutschland  der  Fall 
ist  1  Entbehren  wir  nun 
auch  der  schriftstellern- 
den  Maler  oder  der 
malenden  Schriftsteller, 
so  ragt  dafür  eine  an- 
dere Körperschaft  stark 
in's  Bereich  der  Kunst 
oder  wenigstens  der 
malenden  Menschheit 
hinein,  die  Armee  näm- 
lich —  aber  nicht  im 
activen  Zustande.  Was 
dagegen  in  Pension  lebt 
—  und  die  Zahl  dieser 
wird  bekanntlich  fleissig 
gemehrt  ~  das  malt,  mit 
wenigen  Ausnahmen. 

Es  kam    mir    vor- 
hin der  Ausdruck  «  Ma- 
lende Schriftsteller»   in  den  Mund. 

Wissen  Sie  auch,  dass  von  solchen,  von  wirklichen 
«  malenden  Schriftstellern  »  in  Paris  ein  wirkUcher  «  Salon  », 
der  dritte ,  eröffnet  worden  ist  und  zwar  unter  dem 
Titel  «  Poil  et  Plume »  !  Soll  ich  Ihnen  davon  etwas 
erzählen  ^  Ich  bin  zwar  nicht  selbst  dort  gewesen,  auch 
wäre  mir  Das ,  was  ich  in  deutschen  Zeitungen ,  von 
deutschem  Beurtheilungsstandpunkt  ausgehend  (der  natür- 
lich eigentlich  der  maassgebende  für  die  ganze  gebildete 
Welt    sein    sollte ,    von    Rechtswegen ! !)    gelesen    habe, 

U 


106 


L)l£  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


durchaus  nicht  maassgebend ,  denn  was  hat  im  grossen 
Ganzen  (wenige  specielle  Fälle  au^enommen)  die  deutsche 
Journalistik  für  einen  Standpunkt  gegenüber  von  Dingen, 
die  ausser  das  Fach  der  Historienmalerei  einerseits  und 
der  Heiligenmalerei  anderseits  fallen  1  Und  nun  vollends 
einer  Ausstellung  Geschmack  abgewinnen  können,  an 
der  man  in  manchen  Fällen  nicht  so  sehr  das  technische 
Geschick  als  den  geistreichen  Einfall,  den  künstlerischen 
Wurf  in  rohen  Umrissen  bewundem  muss  —  das  ist 
eine  Forderung  an  unsere  Kunst-Feuilleton-Rechthaber, 
die  wahrscheinlich  bei  den  meisten  zu  hoch  gespannt 
erscheint;  wird  doch  das  Publicum  systematisch  dazu 
erzogen,  in  einem  möglichst  maschinell  exercirenden 
Soldaten  das  Ideal  des  Staatsbürgers,  in  peinlich  durch- 
geführter und  ausgetüftelter  Malerei  den  letzten, 
höchsten  Endpunkt  der  Pinselkunst  zu  erblicken,  und 
wie  viele  Pinsel  arbeiten  nicht  dieser  Anschauung  zu 
Gefallen,  theils  aus  materieller  Ueberzeugung,  theils  aus 
wirklicher  Talcntlosigkeit ! 

Nein,  was  ich  von  i  Poil  et  Plume>  weiss,  das 
habe  ich  im  «  Figaro  >  gelesen,  und  da  mir  das  Scriptum 
in  seinem  heiteren,  geistreichen,  nichts  weniger  als  pro- 
fessorlich-docirenden  Tone  gefiel,  so  schadet  es  am 
Ende  nichts,  wenn  ich  das  Eine  und  Andere  weder- 
gebe,  um  so  mehr,  als  vielleicht  manchen  Lesern  der 
Kunst  unserer  Zeit  >  der  <  Figaro  >  nicht  zugänglich 
ist.  Es  ist  kein  Geringerer  als  Raffatlli.  der  sich  darüber 
ausspricht      Y.x  saijt  u.   A. : 

<  Zwei  Stunden  war  ich  drinnen  —  es  stieg  mir 
unwillkürlich  der  Gedanke  auf,  wohin  denn  all  diese 
Dinge  einst  kämen,  auf  welche  Weise  sie  vom  Schicksal 
zerstreut,  zerknittert  würden ,  doch  —  für  den  Moment 
genügte  es  mir,  Namen  wie  Glrard  de  Nerval,  AI/rede 
de  Musset.  de  Baudelaire  u.  a.  zu  lesen ,  um  eine  ganz 
grosse  Portion  Respect  in  mir  wach  werden  zu  fühlen, 
^'eber  Jene  zu  sprechen,  welche  in  völliger  Verkennung 
ihrer  Anlagen  sich  hier  als  Aussteller  prasentiren.  er- 
lasse man  mir.  Uebrigens  habe  ich  gerade  hier  die 
Ueberzeugung  von  Neuem  bekommen ,  dass  mit  der 
wahren  Kun-^t  sich  nicht  Spass  treiben  lässt.  und  dass 
Jene,  die  vielleicht  am  geistreichsten  erscheinen,  am 
wenigsten  den  Namen  eigentlicher  Künstler  verdienen. 
Haben  Sie  vielleicht  die  Ausstellungen  der  ;  Incohcrents 
besucht,  die  seit  einigen  Jahren  stattfinden,  und  fanden 
Sie  dieselben  vielleicht  lustig?  Ich  meinerseits  fand  sie 
düster,    sie    stimmten    mich  traurig,  und   warum  ?     Weil 


die  kürzesten  Spässe  stets  die  besten  sind  und  wir  uns 
kaum  einen  wirklich  denkenden  Menschen  vorstellen 
können,  der  acht  Tage  darauf  verwendet,  ein  Witzlein, 
einen  sogenannten  spassigen  Einfall  zu  malen  oder  zu 
radiren!*)  Es  hat  sich  mir  dabei  neuerdings  eine  Be- 
merkung aufgedrängt,  die  ich  schon  öfter  machte,  die 
nämlich,  dass  die  geistreiche  Art  der  Darstellung  durch- 
aus nicht  immer  ein  hohes  Maass  wirklich  künstlerischer 
Empfindung  vorauszusetzen  braucht,  dass  die  geschickten 
unter  den  Malern  durchaus  nicht  stets  auch  Künstler 
vom  reinsten  Wasser  seien.  Ist  es  denn  schliesslich  ein 
Triumph  der  Malerei  zu  nennen,  wenn  -ein  gemalter 
Zuave  so  aussieht,  als  klebte  thatsächlich  die  rothe  Mütze 
auf  der  Leinwand,  oder  wenn  beim  Anschauen  eines 
gemalten  Bauern  sich  die  groben  Holzschuhe  wie  wahre 
Körper  präsentiren? 

Das  grösste  Vergnügen  übrigens,  was  ich  beim 
Durchwandern  dieser  Aus.stcllung  empfand,  bestand  für 
mich  darin,  zu  unterscheiden,  wo  der  Ausfiuss  des  Schrift- 
stellers einerseits,  wo  der  eigentliche  Maler  anderseits 
sich  documentire.  Diese  Schriftsteller-Maler  in  ihren 
zeichnerischen  Leistungen  richtig  zu  beurthcilen ,  dazu 
bedarf  es  vielleicht  eines  ganz  eigen  künstlerischen  Maass- 
stabes. Was  in  erster  Linie  auffällt,  ist  die  Ueberzeu- 
gung, dass  manche  der  Autoren  dieser  zweihundert 
Leinewanden  ohne  weiteres  die  F"eder  hinlegen  könnten 
und  mit  dem  Pinsel  nicht  blos  ihr  Glück  machen,  nein, 
dass  sie  wirkliche  gros.se,  gute  Malerei  machen  würden. 
Vor  allen  Anderen  fällt  Bergerat  Caliban  auf.  Oelbilder 
ebenso  ^vie  Aquarellen  bezeugen  seine  mehr  als  ge- 
wöhnliche Befähigung;  kein  Wunder,  dass  von  ihm  die 
Idee  zu  dieser  Ausstellung  herrührt!  Was  kann  sich 
ein  Schriftsteller  für  besseren  Erfolg  wünschen,  als  dass 
er  selbstgemalte  Bilder  verkaufe ;  das  thut  er,  und  wenn 
ihm  also  der  Schmerz  widerfährt,  mit  seinen  Theater- 
stücken bei  den  Herren  dieser  oder  jener  Intendanz  kein 
Glück  zu  haben  —  was  thuts,  komme  er  in  unser  Lager  I 
Wir  sind  nicht  viel  mehr   als    etwa   zehntausend  Maler, 


*)  Der  geistreiche  Autor  obiger  Zeilen  kennt  demnach  das  Gros 
jener  Künstler,  oder  sagen  wir:  «jener  malenden  Menschen»  nicht,  die 
da  glauben,  es  müsse  hinter  einem  Bilde  etwas  Anekdotenhaftes  stecken ! 
Wenn  er  nach  München  käme,  könnte  er  diese  Species  nach  Dutzenden 
von  selbstbe«  ussten  und  sich  selbst  bewundernden  Exemplaren  kennen 
lernen.  Leider  nimmt  unser  Publicum  diese  Leute  noch  immer  als 
ernsthafte  Kunstler  hin,  und  die  Kamilicnjournale,  welche  HoUschnltt- 
futter  en  masse  brauchen,  nehmen  die  Waare  aus  solchen  Werkstätten, 
da  ihr  Inhalt  mehr  als  gemeinverständlich ,    jederzeit  mit  Handkuss  an. 

.   Anmerk.  d    Red. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


107 


also  findet  sich  schon  noch  ein  weiteres  Plätzchen!  — 
Doch  —  er  steht  nicht  allein,  glaubt  man  doch  bei  gar 
Vielen,  sie  üben  die  Malerei  als  ihren  eigentlichen  Lebens- 
beruf aus.  Da  ist  z.  B.  vortrefflich  als  Landschafter 
Georges  Diival,  Henry  Morel,  als  Marinemaler  Louis 
Gaillard;  Firmin  Javel  brachte  ein  prächtiges  Pastellbild, 
einen  Bergwald  mit  dunkeln  Tannen  darstellend,  Paul 
Massen  und  Fernand  Calmettes  zeigen  sich  als  geistreiche 
Illustratoren,  Gonzague- Privat  als  Portraitmaler,  und 
schliesslich  darf  ich  der  Namen  Gustave  Rii>et,  Clovis 
Hugues ,  Toudouze,  Ponchon, 
Moreau-  Vauthier,  Rene  Racot, 
Maurice  Montegut  nicht  ver- 
gessen. Von  M.  Bonrdelle 
rührt  eine  hübsche  Terra- 
cotte  her,  Philipp  Gille  und 
Gaston  Berardi,  beide  von 
der  t  Independance  beige  •> , 
sandten  reizende  Broncen, 
Mennos,  der  unübertroffene 
Humorist,  gab  einen  Affen 
in  Bronce,  auf  dessen  Haupt 
der  Helm  der  Minerva  sitzt, 
Camille  Lemonnier  sandte  ein 
Paar  im  Ton  wahrhaft  gol- 
dene Landschaften.  Doch 
damit  nicht  genug,  auch 
Damen  betheiligten  sich  an 
dem  köstlichen  Unternehmen. 
Die  eine  davon  ist  Madame 
Valirie  Fould,  die  Verfasserin 
der  köstlichen  im  Theätre  du 
Gymnase  aufgeführten  Comö- 
dien,  die  in  der  Welt  unter 
dem  Autor  -  Namen  Gustav 
Haller  segeln.  Von  ihr  rührt 
eine  reizende  Büste,  das  satirische  Lustspiel  darstellend, 
her.  Das  ist  Geist,  Witz,  Verstandesschärfe,  und  mit 
welch  coquettem  Geschick  die  reizende  Erscheinung  ihre 
Maske  trägt!  Es  ist  wahrhaft  empfundenes  Leben  und 
könnte  in  der  Natur  gar  nicht  anders  sein. 

Die  andere  Ausstellerin  ist  Gyp,  Comtesse  de  Martel, 
von  der  Linie  der  Mirabeau  Tonneau,  mithin  vom  wahren 
alten  Adel  Frankreichs.  Gyp  ist,  um  es  mit  einem 
Worte  zu  sagen,  ein  Wesen  zum  Närrischwerden ,  denn 
Alles,  was  an  ihr  ist,  zeugt  von  Witz  und  reisst  zur  Be- 


Hug0   Vogel,  Berlin.     Studie. 


wunderung,  zum  Erstaunen  hin.  Man  liest  ihre  Romane, 
ohne  davon  überzeugt  zu  sein,  dass  sie  wahre  Litteratur- 
Leistungen  seien,  und  dabei  sind  sie  dennoch  so  reizend  1 
Man  schaut  ihre  Skizzenbücher  durch,  ihre  Mappen  mit 
Zeichnungen  und  Pastellen  jeder  Art,  ohne  dass  man 
dabei  gerade  an  eigentliche  Malerei  dächte,  und  dennoch 
ist  man  von  den  Sachen  entzückt  —  ja,  wenn  ich  je 
diese  Dame,  von  der  alle  Romane  sprechen,  malen, 
wenn  ich  eine  charakteristische  Erscheinung  des  aus- 
gehenden Jahrhunderts  geben  wollte,   so  machte  ich  die 

Reise  nach  Neuilly  und  würde 
Gyp  bitten,  mir  zu  sitzen  so 
wie  sie  da  bei  « Poil  et 
Plume  »  sich  zeigt,  mit  dem 
prächtigen  Strohhut,  unter 
dem  alles  Möglidie  hervor- 
schaut, was  einem  den  Kopf 
vollständig  verdrehen  kann! 
Ich  will  die  Reihe  der 
Lebenden  mit  den  Besten 
der  Guten  beschliessen :  Mit 
Haraucourt  und  Octave  Mir- 
beau.  Ihnen  gebührt  eigent- 
lich das  höchste  Lob,  das 
man  Künstlern  bieten  mag. 
Harancourt  zeigt  sich  in  sei- 
nen zwei  Pastellen  als  ein 
feinfühliger  Poet,  bei  Octave 
Mirbeau  aber  tritt  die  ma- 
lerische Anschauungsweise  in 

geradezu  hervorragender 
Weise  zu  Tage.  Uns  Maler 
reizt  durchschnittlich,  was 
vom  Publicum  selten  beach- 
tet, noch  weniger  oft  ver- 
standen, manchmal  aber  den- 
noch bis  auf  einen  gewissen  Grad  empfunden  wird: 
die  Art,  wie  im  Terrain  sich  Ueberschneidungen  ge- 
stalten, das,  was  dem  Ganzen  den  eigentlichen  künst- 
lerischen Halt  verleiht:  die  scharfe  Beobachtung  der 
einzelnen  Tonwerthe,  die  Einheitlichkeit  der  farbigen 
Erscheinung,  dabei  der  ausgesprochene  Sinn  für  Zeich- 
nung, für  «Verschwörung  der  Linien»  (conspiration  des 
lignes),  wie  Diderot  sagte.  Nehme  ich  die  eine  wenig 
individuelle  Studie  «Pinie  am  Meere»  aus,  so  muss  ich 
zugestehen,  dass  sich  in  Mirbeau' s  Arbeiten  Eigenschaften 

14* 


108 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Hugo   l'tgtl,  Berlin.     Studie. 

äussern,  die  selbst  bei  Künstlern  von  Beruf  selten  an- 
getrotTen  werden.  Farbe  sowohl  wie  Erscheinung  sind 
derart,  dass  man  einen  starken  künstlerischen  Geist  aus 
ihnen  herausempfindet;  das  zeigt  sich  in  der  grossen, 
schönen  Einfachheit,  die  sich  durchweg  kundgibt.  Mit 
solchen  Fähigkeiten  ausgestattet,  kann  man  eben  anfassen, 
was  man  will,  und  man  flösst  allerwege  damit  Achtung  ein  ! 

Soweit  die  Lebenden! 

Nun  aber  zum  ;  Louvre  ,  zu  den  Arbeiten  der 
Dahingegangenen!  Gleich  der  Erste  schon  nothigt  uns 
zum  respectvollen  Gru-sse,  TluopliiU  Gaulierl  Es  ist. 
als  hatte  er  in  den  herrlichen  Weiberköpfen  seine 
<ILmaux  et  camcess  gemalter\veise  geben  wollen! 
Sie  sind  geradezu  brillant!  Auguste  de  Cliätillon,  der 
\'erfasser  des  Levrette  en  paletot  ?,  —  Gott,  wie  lange 
i^t  es  her,  dass  ich  diese  Erscheinung,  eine  ächte  gute 
Figur  der  .  Boheme  »  (man  erinnere  sich  an  die  herrliche 
i\"ie  de  Boheme»  von  Murger)  sah  —  ist  durch  eine 
Kopfstudie  vertreten,  die  vielfach  an  Coulure  erinnert.  In 
Houssaye  klingt  Diaz  stark  nach  ,  bei  den  Caricaturen 
Alfrede  de  Musset's  empfindet  man  die  ganze  verfeinerte 


Schärfe  dieses  Geistes,  Baudelaire' s  Skizzen  sind  auch 
anregend ,  aber  was  sonst  noch  kommt ,  ist  viel ,  viel 
wichtiger!  Victor  Hugo  und  die  Goncourts!  Darüber 
sich  so  auslassen,  wie  man  es  thun  könnte,  Avts>  ver- 
langte mindestens  ein  Buch,  es  spricht  eine  ganze  Welt 
.lus  diesen  Dingen. 

Wer  V.  Hugo  als  Schriftsteller  kennt ,  kann  ihn  in 
seinen  künstlerischen  Leistungen  absolut  nicht  verkennen, 
er  ist  auch  da  ganz  er  selbst,  wie  er  leibt  und  lebt, 
eine  Erscheinung,  zusammengesetzt  aus  den  merkwür- 
digsten Gegensätzen ,  bald  ein  hoher  Spieler ,  dann 
wieder  ein  Mensch  von  grandiosen  Einfällen,  ein  ander- 
mal rasend,  toU,  unsinnig,  aber  immer  von  eigenartiger 
in  sich  bestimmter  Vorstellungsart.  Aus  Allem  weiss  er 
etwas  Geistreiches  zu  gestalten ;  unter  seinen  Fingern  wird 
das  Dintenfass  zum  Neger,  oder  er  taucht  die  Fransen 
seiner  Kielfeder  in  das  schwarze  Nass  der  Schriftstellerei, 
fahrt  damit  über  das  Papier  hin  und  her  und  das  Ganze 
wird  schliesslich  eine  wilde,  stürmische  See;  ein  Tropfen 
schmutzigen  Wassers  auf  dem  gleichen  Papier  wird  zur 
Seidenrobe,  oder  er  macht  einen  geheimnissvollen  See 
daraus.  Es  hat  etwas,  beinah  möcht  ich  sagen  Närrisch- 
vergnügliches  an  sich ,  seine  Arbeiten ,  Einfalle  müsste 
man  sie  eher  nennen,  zu  verfolgen,  denn  wo  steckte  z.  B. 
bei  den  einer  phantastischen  Theaterdecoration  gleichen- 
den mittelalterlichen  Stadt-Ansichten  auch  nur  eine  Spur 
des  Eindruckes,  den  die  Natur  hinterlä.sst !  Seine  Fabel- 
Landschaften  erinnern  gar  oft  an  Erscheinungen,  die  man 
einen  Moment  im  fliehenden  Gewölk  stürmischer  Tage 
zu  sehen  glaubt ;  Aehnliches  entdecken  wir  in  dem  weit- 
verästelten,  im  Farbenton  ganz  unberechenbar  schwanken- 
den Gcäder  geschliflener  Marmorplatten  oder  im  ab- 
bröckelnden Kalkbewurf  einer  Mauer,  aus  dem  sich  alle 
möglichen  Dinge  herausfinden  lassen.  Was  aber  das 
Gelungenste  an  diesen  Zeichnungen  ist,  das  ist  das  voll- 
ständige P'chlen  eines  auch  nur  andeutungsweise  ge- 
gebenen Terrains  —  Alles  geht  in  der  Luft  vor  sich! 
Brücken  mit  Thorthürmen  und  anderen  Beigaben  finden 
sich  da  —  aber  sie  gehen  weder  von  einem  sichtbaren 
Ufer  aus,  noch  führen  sie  zu  einem  solchen  hin!  Mit  dem 
Begriffe  der  Malerei,  der  graphischen  Darstellung  über- 
haupt, verbinden  wir  denn  aber  doch  im  gros.sen  Ganzen 
den  Gedanken  an  die  Darstellung  von  Wirklichkeiten, 
und  das  ist,  was  Victor  Hugo  eigentlich  aus  diesem  Kreise 
ausschlies.st.  Er  ist  durchaus  nicht  Maler,  seine  zeich- 
nerischen Producte  sind  theaterhafte  Phantasiestückchen. 


*^*     x***^**'*^'*^**-*»'^     l' 


Rrnst  Zimmtnnann  |<inx 


PJu.l    F.   HfinfHiacntfl,  Mttntlieii 


Altweibersommer. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


109 


Bei  den  Goncourt's  freilich  ist  das  eine  ganz  andere 
Geschichte.  Wie  einschneidend  zeigt  sich  da  das  Gegen- 
sätzliche im  ganzen  Wesen  des  Menschen!  Sie  sind 
Maler,  die  Goncourt's,  besonders  jfules.  Alles  bei  ihnen 
baut  sich  über  genauer  Beobachtung,  auf  klarer  Ueber- 
legung,  auf  echter  Ver- 
standesarbeit, der  eine  ge- 
wisse zitterige  Nervosität 
anhaftet,  auf,  daher  denn 
auch  der  Gehalt  ihrer  Ar- 
beiten ein  bedeutsamer  ist. 
Es  finden  sich  da  z.  B. 
Radirungen,  deren  einzelne 
Linien  und  Striche  etwas 
Gehacktes,  scheinbar  Un- 
sicheres, etwas  Fieberndes 
an  sich  haben,  aber  was 
sie  zusammengenommen 
vorstellen,  ist  grossartig,  von  einer  geschlossenen,  mäch- 
tigen Ueberlegung  zeugend.  In  der  Farbe  macht  sich  zu- 
weilen eine  gewisse  Nüchternheit  geltend,  aber  Eines  liest 
man  überall  heraus:  Es  ist  die  gleiche  künstlerische  Hand- 
schrift, die  aus  den  Beiden  berühmte  Schriftsteller  gemacht 
hat ,  hier  mit  anderen  Mitteln  gehandhabt ,  im  Grunde 
genommen  aber  Eins  und  Dasselbe.  Diese  Zeichnungen 
können  einzig  und  allein  von  den  Goncourt's  herrühren, 
die  ganze  Art  und  Weise  sagt  es  deutlich.  Sie  sind 
darin  ganze,  volle  Künstler,  Künstler  von  Race,  von 
bestimmten  Schönheitsgrundsätzen  geleitet,  immer,  zu 
jeder  Zeit  der  Ausführung  von  Entwürfen  nachjagend, 
mit  einem  Worte  unruhiges ,  aufgeregtes  Künstlerblut. 
Hier  Victor  Hugo  —  fabelnd  und  dennoch  gross- 
artig, mit  dem  ^ 
Fusse  die  Erde 
schon  gar  nicht 
mehr  berührend, 
seine  Dinge  über 
der     Sphäre     des 

Greifbaren     auf- 
bauend.   Dort  die 
Goncourt's ,  unsere 

Ernährerin ,    die 
Mutter  Erde,    mit 

Leidenschaftlich- 
keit verherrlichend 
in  ihrer  Kunst! 


Auf  wenigen  Papierfetzen  ist  der  InbegrififallerRomantik 
und  ihres  Antipoden,  des  Naturalismus,  wiedergegeben ! » 

Soweit  Raffaellil 

Vielleicht  erleben  wir  einmal  Aehnliches  —  dem 
Versuche  nach  Aehnliches  meine  ich  —  auch  gelegent- 


lich diesseits  derVogesen! 


■.■.■ine^i-^ 


Otto  Bauch,  Carlsruhe.     Studie, 


Otto  Baisch,  Carlsruhe.     Skizze. 


Wer  weiss,    ob  nicht  am 

Ende  daraufhin  schon 
heute  da  und  dort  Zeich- 
nen-Lectionen  genommen 
werden.  Wer  wird  in  sol- 
chem Falle  wohl  Protector, 
Arrangeur  ?  Natürlich  nur 
ein  Fachmann ,  oder  am 
Ende  gar  einmal  der  wirk- 
liche Genius  des  Schaffens  ? 
Ach,  am  Ende  bekommt 
man  die  ganze  Pariser 
« Poil  et  Plume » -  Ausstellung  einmal  in  Deutschland 
zu  sehen ,  man  muss  nur  die  rechten  Leute  nach 
Paris  schicken,  dann  schlagen  die  Franzosen  natürlich 
sofort  Purzelbäume  vor  Vergnügen  und  schicken  was 
man  nur  haben  will!  Und  während  sich  in  Paris  «Poil 
et  Plume »  neben  dem  Salon  der  Soci^te  nationale 
des  Beaux  Arts  und  dem  Bouguereau-Salon  —  der 
offenbar  mehr  und  mehr  die  spitalerhafte  Bürgerlichkeit 
in  der  Kunst  zu  repräsentiren  beginnt  —  zeigt,  brilliren 
wir  Deutsche  anderswo,  allerdings  ziemlich  weit  draussen 
vor  dem  Centrum  der  Themsestadt  und  das  noch  oben- 
drein zum  Besten  von  ein  paar  Eisenbahngesellschaften, 
welche  das  bisher  brachliegende  Terrain  nutzbringend 
machen  wollen.  Dafür  braucht  man  Leute,  die  als  Aus- 
steller weiss  Gott 
was  zu  erreichen 
hoffen  und  im 
Grunde  weiter 
nichts  sind,  als  die 
purzelbaumschla- 
genden deutschen 
Lustigmacher  im 
Dienste  englischer 
Speculanten ! 
Wachsfiguren- 
Cabinette  mit  allen 
möglichen  Spässen, 
lebende  Bilder  aus 


110 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Deutschlands  Geschichte,  Tirolersänger,  ächte  natürlich  Anblick  so  grossartigen  Landschaftsbildes  keineswegs  zur 

(die  diesmal  vielleicht  das  <  beliebte  Nationallied  > :  Ach,  Concentration  der  Gedanken  veranlasst ;    ich    fühle    die 

Du    mein   London,    ich    muss   dich    lassen   —   singen).  Grösse,  die  Schönheit,  die  Herrlichkeit  durch  und  freue 

Bumerassassa  und  was  weiss  ich  Alles,   bilden  den    ab-  mich  an   der   unabsehbaren  Reihe  von  Eindrücken,   die 

wechslungsreichen   und  gewiss  effectvollen   Rahmen  zur  daherfluthen  wie  die  Wasserberge  der  Meeresbrandung, 

c  Deutschen  Kunst  >  1    Oh  —  wann  werden  wir  endlich,  immer  noch  einer  und  dann  noch  einer  und  noch  einer  — 


endlich    ein- 
mal aufhören 

mit   dieser 
Possen  -  Reis- 
serei,  mit  die- 
ser Interes- 
sant -Thuerei 

und   bettel- 
haften 

Gebahrung 

gegenüber 

Fremden,  die 

uns    für    die 

gehabte 

Mühe  aus- 
lachen ! 
Brauchen  wir 
es  eigentlich  ? 
Ucbrigens 

—  schelten 
Sie  mich  nicht 

gewissenlos, 
dass  ich   mit 

den  Gedan- 
ken in  diesem 

Briefe   in 
tollem    Zick- 
zack   herum- 
fahre! Wenn 
man   von   so 

vielen  Ein- 
drücken   be- 
stürmt   wird, 
wie     es    mir 
hier  oben   in 

F'iesole  geht ,  so  kommen  ja  selbstverständlicherwcise 
auch  alle  möglichen  Dinge,  die  gar  nicht  in  den  Rahmen 
dieser  grossartigen  Pracht  —  ein  Bild  kann  ich  es  nicht 
nennen  —  hinein  gehören.  Ich  habe  nun  schon  ver- 
schiedene Male  die  Beobachtung  gemacht,  dass  mich  der 


l^^i^-iSi'.;. 


Otto  fiais(h,  Carlsruhe.     Studie. 


es  nimmt  gar 
kein  Ende  ; 
bis  man  da  zu 
einem  eigent- 
lichen ,  rich- 
tigen Arbei- 
ten kommt, 
dauert  es  ge- 
raume Zeit , 
man  muss  mit 
dem  Boden, 
auf  dem  man 
steht,  völlig 
vertraut  wer- 
den. Ich 
habe  ein  paar 
Mal  mit  sehr 
guten  Vor- 
sätzen auch 
Skizzenbuch 
undAquarell- 
kasten  hier 

herauf- 
gcschleppt  — 
aber  es  wurde 
aus  dem  Ar- 
beiten nichts, 
ganz  einfach, 
weil  ich  mir 
sagte :  Wo- 
zu? Bios  um 

etwas  im 
Skizzenbuch 
zu  haben? 
Dann  ist  es 
eine  unverantwortliche  Thorheit,  desswegen  nach  Florenz 
zu  gehen  !  Oder  aber,  um  eventuell  das  Gemachte  be- 
nutzen zu  können  ?  Das  wäre  noch  die  viel  grössere 
Thorheit !  Nein ,  nein ,  wenn  man  hier  malen  und  wahr 
dabei  bleiben    will,    so  darf  man   nicht   .so    über  Nacht 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


111 


vom  Norden  herkommen  und  die  Freude,  die    man  am  Leben  hat,  auch 
gleich    durch    den  Pinsel   laufen    lassen ,  es  wird  ja  doch  lauter  unwahres 
Zeug,    ein    Italienisch   mit   völlig  deutschem   Accent  und   deutscher  Satz- 
construction.     Erst  vierzehn  Tage,  drei  Wochen 
auf  einem  Fleck,  aber  nur  auf  einem  sitzen 
bleiben  und  dann  vielleicht  an  den  ersten  Strich 
denken!    Sonst  wird's   nix  oder  eben  so  Mach- 
werk ,    wie    die 
reisenden  AUer- 

weltsmaler  es 

tagtäglich     pro- 

duciren ,     heute 

eine  Landschaft 

aus    Schottland, 

morgen  einen 


-^  ^^^&^-k 


Otto  Baisch,  Carlsruhe.     Skizze. 


oder  Düsseldorf, 
auch  in  Carls- 
ruhe gemalt,  wo- 
möglich aber  un- 
ter dem  Namen 

irgend  eines 
«  Special  -  Artis- 
ten», «der  na- 
türlich überall 
selbst  mit  dabei 
war» ,  als  Illu- 
stration ver- 
öffentlicht wird. 

Nein  —  ein 
Winkel    an    der 


Fischmarkt  aus  Rotterdam  oder  ein  DUnenbild  von  Wurm  mit  ein  paar  Erlen,  blühenden  Schlüsselblumen 
Ostende,  nachher  einen  ägyptischen  Sonnenunter-,  einen  und  Gentianen ,  ein  Stück  aus  dem  Dachauer  Moos 
chinesischen  Sonnenaufgang,  die  Sahara  in  Mittagshitze     mit   der    ernsten    Stimmung    der   Ebene,    dem    weiten. 


mit  verdauenden  Löwen,  Grtinlands  Fluren  im  Schlafe 
der  Polarnacht  mit  hungrig  knurrenden  Eisbären  u.  s.  w. 
—    und  das  Beste  ist  dann,  dass  das  Alles  in  München 


,i; 


Ollo  Baisch,  Carlsruhe.      Skizze. 


weiten  Horizont,  das  liegt  Jedem,  der  die  Sprache 
seines  eigenen  Landes  ordentlich  sprechen  und  schreiben 
lernen  will ,  näher  als  alles  Fremde ,  auch  wenn's 
grossartig  und  herrlich  ist,  wie  ein  Blick  von  hier 
hinunter  nach  dem  Arno  -  Thale  oder  hinüber  nach 
den  schluchtigen  Runsen  des  Mugnone.  Schön  ist  die 
Landschaft,  grossartig  —  aber  ihr  fehlt  Eines,  was 
unsere  viel  bescheideneren  Fluren  in  vollem  Maasse  be- 
sitzen :  Sie  hat  vor  lauter  Schönheit  beinahe  gar  keine 
Poesie.  Vielleicht  ist  desswegen  die  Landschaftsmalerei 
überhaupt  ihrem  Wesen  nach  ein  dem  Norden  ent- 
sprossenes Ding.  Uebrigens  will  ich  mich  nicht  in  lange 
Reflexionen  hierüber  einlassen,  sondern  endlich  thun, 
was  mich  veranlasste,  Feder  und  Papier  hier  herauf  zu 
tragen ,  mir  den  Tisch  zurecht  zu  rücken  und  den 
schwarzen  Schleim,  der  in  dem  offenbar  altetruskischen 
Tintenfa.ss  seit  Jahren  liegt  —  die  Italiener  sind  keine 
sehr  enrjigirten  Briefschreiber  —  mit  wahrem  Aleatico 
zu  verdünnen.  Es  handelt  sich  ja  um  den  Text  zu  den 
Bildern  der  vorigen  und  dieser  Lieferung.  Da  soll  einem 
nun  immer  etwas  einfallen;  es  fällt  einem  aber  zuweilen 
beim  besten  Willen  nichts  ein  (was  z.  B.  die  Münchener 
Baumeister  nicht  alle  von  ihren  Werken  behaupten 
können),  selbst  wenn  man  die  Bilder  als  Pillen  ver- 
schluckte und  sie  dann  im  Magen  aufgehen  liesse. 

Von  LAebermann  war  schon  früher  einmal  die  Rede, 
was  nachher  an  Illustrationen  noch  auf  pag.  76  u.  ff.  folgte, 
der  Laubengang,  die  Schusterwerkstätte,  die  holländische 


112 


DIE  KUNSI    UNSLKER  ZEIT. 


Nähschule,  das  kerzenlichterhclltc  Interieur  u.  s.  w.  — 
das  Alles  bestätigt,  was  schon  gesagt  wurde,  dass  näm- 
lich der  Autor  derselben  ein  ausserordentlich  geistreicher 
Künstler  innerhalb  seiner  Sphäre  ist,  und  dass  ihm 
zweifelsohne  ein  gut  Theil  des  Verdienstes  zufällt, 
wenn  mit  unseren  veralteten,  verrotteten  und  vielfach 
gänzlich  unwahren  Anschauungen  in  Deutschland  ge- 
brochen wird  und  eine  ehrliche  Naturanschauung  an  Stelle 
des  Atelier-Receptes  tritt.     Der  künstlerische  Glaubens- 


durchbruch bei  Lictt-nnann  entsprang  übrigens  nicht  so 
ganz  und  gar  aus  seinem  Wesen  allein,  wie  etwa  Pallas 
Athene  aus  dem  Kopfe  des  Zeus  entstieg;  im  speciellen 
Falle  hiess  der  Zeus  Jean  Francois  MilUt,  wohnte  in  Bar- 
bizon  und  hat  wenige  grosse  Geister  so  beeinflusst,  dass 
sie  die  gleiche  malerische  Ueberzeugungstreue  gewannen 
wie  er;  viele  kleinere  Geister  dagegen  hielten  stark  an  der 
Idee  fest,  dass  mit  Bauemkleidern,  Holzschuhen  und  der 
bekannten  Horizonthöhe  das  zu  erreichen  sei,    was  ein 


Otto  Hauch,  CarUruhe.     Studie. 


wirklich  genialer  Mensch  durch  unendliche  Arbeit  und 
unabläs-sige  Beobachtung  als  Endresultat  seiner  Ucber- 
zeugung  geboten  hat.  Wir  Deutsche  haben  dabei  ganz 
speciell  das  Privileg,  möglichst  unüberzeugt  Jedem  nach- 
zulaufen, der  von  wirklicher  oder  gemachter  Hoheit 
etwas  an  sich  hat.  —  Fremdartiges  wird  selbstverstand- 
licherweise  unter  allen  Umständen  vorgezogen  von  der 
Nation  der  Denker,  der  die  rücksichtsloseste  Aeusserung, 
die  ihnen  oft  geradezu  ins  Gesicht  schlägt,   am  meisten 


Respect  und  Hochachtung  abzwingt.  Ltcbermann  hat 
bewusst  oder  unbewusst  darin  Manches  geleistet  und  hat 
diesem  Umstände  vielleicht  eben  so  sehr  sein  Prestige 
zu  verdanken,  als  seinen  hochentwickelten  künstlerischen 
Eigenschaften ,  die  zu  goutiren  im  gros-sen  Ganzen  der 
deutsche  Geschmacksphilister  viel  zu  wenig  diesbezüglich 
entwickelten  Sinn  besitzt.  Wollte  man  eine  Geschichte 
des  Geschmacksphilisteriums  schreiben,  so  kämen  darin 
gewiss  viele  Namen  vor,  die  für  Sterne  allererster  Grösse 


iiifsiitengl,  München 


Heimziehende  Herde. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


113 


Otto  Baiseh,  Carkruhc.     Skizze. 

gelten ,  für  ihre  Bilder  ein  Heidengeld  einnehmen  und 
die  Seichtheit  künstlerischer  Gesinnungsweise  in  ihrem 
Lande  so  gut  beobachtet  haben ,  dass  sie  schliesslich 
an  ihr  eigenes  Prophetenthum  glauben.  Liebermann  gilt 
unter  den  Künstlern  für  einen  Propheten.  Das  ist  immer- 
hin weit  höher  anzu.schlagen.  Merkwürdig  bleibt  dabei 
nur  immer  das  Eine,  was  übrigens  allgemein  menschlich 
ist,  da-ss  sich  der  Glaube  stets  an  Namen  heftet,  viel 
weniger  dagegen  an  den  Urstoff,  durch  dessen  gedanken- 
klare Verarbeitung  diese  Namen  zu  der  ihnen  gebühren- 
den Geltung  kamen. 

Eine  Künstlernatur  wesentlich  anderer  Art  ist  Ernst 


sich  ihm  eben  bot.  Noch  in  seiner  «heiligen  Nacht», 
welche  zu  München  in  der  Pinakothek  hängt,  machen 
sich  in  Bezug  auf  die  farbige  Art  allerlei  Reminiscenzen 
an  die  ältere  Anschauungsweise,  die  da  und  dort  dem 
Asphalt  nicht  abgeneigt  war,  geltend.  Zimmer- 
mann hat  diese  Bahnen  gänzlich  verlassen,  ohne 
jedoch  in  jenes  überzeugungslose  Extrem  zu 
verfallen,  dessen  Stempel  die  Werke  der  meisten 
deutschen  Neophyten  tragen,  dem  der  Ueber- 
triebenheit  und  jener  Unselbstständigkeit  nämlich, 
die  den  Nachmachern  von  jeher  eigen  war. 
Viele  von  Denen,  die  sich  ganz  mit  Unrecht  zu  den 
Pleinairisten  zählen ,  lachen  natürlich  darob ,  wenn 
Arbeiten  von  Künstlern,  an  deren  Bildern  man  durch- 
schnittlich eine  gewisse  tiefe  Tonstimmung  gewohnt 
war,  eines  Tages  in  lichterer  Art  gehalten  sind ,  ohne 
indess  jene  läppischen  Aeusserlichkeiten  zur  Schau  zu 
tragen,  auf  die  unselbstständige,  der  Anlehnung  bedürftige 
Gemüther  stets  den  grössten  Werth  zu  legen  pflegen, 
die  also ,  um  es  mit  einem  richtigen  Worte  zu  sagen, 
das  « Fexenthum  in  der  Malerei  s  so  würdig  wie  nur 
möglich  repräsentiren.  Ernst  Zimmermann  hat  gegenüber 
früher  seine  Palette  entschieden  mehr  der  hellen  Seite 
zugewandt,  aber  er  blieb  dabei  ein  absolut  selbstständig 


Zimmermann  in  München.  Seine  künstlerische  Wiege  sehender  Kün.stler,  der  es  nicht  für  nöthig  hielt,  irgendwo 
stand  nicht  auf  fremdem  Boden,  vielmehr  ist  er  Schüler  in  einem  künstlerischen  Kometenschweif  sich  mit  fort- 
von   Wilhelm  Diez  in  München  gewesen,  hat  aber,   ent-     schleppen  zu  lassen.    Die  Alte  mit  dem  Kinde  (Vollbild 


gegen  der  Tra- 
dition dieser 
Schule,  sich  bei 
Zeiten  von  Fe- 
derhut, Büffel- 
koller und  dem 

bekannten 
Schimmel  (die 
übrigens  alle 
drei  stets  geist- 
reich gezeich- 
net im  Handel 
zu  haben  sind), 
losgesagt  und 
ist  der  maleri- 
schen Erschei- 
nungsweise in 
der  Natur  nahe 
getreten,  wo  sie 


Otlo  Bahch,  Carlsruhe.     Studie. 


auf    pag.     lOS) 
ist  eine  seiner 
neueren  Arbei- 
ten.    Was   sie 
mit  den  Aelte- 
ren  gemein  hat, 
das    ist    die 
meisterliche 
Behandlung 
der  Form,  das 
stofflich    Aus- 
geprägte, eine 

Eigenschaft, 
deren  viele  der 
ganz  Modernen 
aus  dem  ein- 
fachen Grunde 
entbehren,  weil 
sie     es      nicht 

15 


lU 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEri". 


machen  können.  Ffcilich  spricht  man  in  solchen  Fällen 
der  Welt  gegenüber  —  ein  Mäntelchen  muss  die  Sache 
ja  doch  haben  —  von  geringfügigen  Nebensachen,  auf 
welche  Gewicht  zu  legen  die  Mühe  sich  nicht  lohne! 
Ach,  du  lieber  Gott !  wenn  man  all  Denen  auf  den  Zahn 
fühlte!  Was  möchten  da  für  Hohlheiten  herauskommen! 

Es  kann  nicht  Aufgabe  dieser  Zeilen  sein,  das 
künstlerisch  Liebenswürdige  am  ZhHmrrmaMM'xhcn  Bilde 
des  Nahem  zu  erklären.  Ehis  mag  sich  jeder  Beschauer 
selbst  klar  machen.  Wer  Gefühl  dafür  hat,  dem  \%-ird 
es  ja  wohl  nicht  schwer  fallen.  Dass  dieselbe,  von  klarer 
Ucberzeugung  geführte  Hand  sich  auch  in  den  Zeich- 
nungen äussere,  sieht  jeder,  der  es  sehen  will.  Es  handelt 
sich  hier  nicht  darum,  eine  künstlerische  Exegese  zu 
geben.  Einfach  und  natürlich,  wie  der  Mensch,  so  sind 
seine  Arbeiten  —  was  kann  man  mehr  wollen. 

Eine  grosse  Reihe  anderer  handschriftlicher  Züge 
-  ich  möchte  Skizzen  am  liebsten  so  benennen  —  tragen 
den  Autornamen  Otto  Baisch,  zwei  Vollbilder  (pag.  105 
und  pajj.  112)  cl>cnfalls.  Sie  offenbaren  alle,  was  der 
lieben.s\vürdige  Künstler  ist  und  was  er  will.  Bei  aller 
Aufmerksamkeit,  den  veränderten  An.schauungen  in  Bezug 
auf  die  Behandlung  tier  Farbe  gerecht  zu  werden,  ist 
er  dennoch  nie  aus  dem  Rahmen  herausgefallen,  der 
schliesslich  in  der  bildenden  Kunst  Alles  und  Jedes  erst 
zu  einer  wirklich  wesenhaften  Erscheinung  macht,  ihm, 
so  zu  sagen,  Hand  und  Fuss  verleiht :  die  feste,  in  der 
Natur  sich  niemals  verleugnende  Form.  Doch  —  lassen 
wir  ihn  selbst  reden,  das  ist  wohl  das  Beste: 

c  .-Ms  ich »,  schreibt  Baisch,  t  vor  zwei  Dcccnnien  das 
Glück  hatte,  in  die  neugcgrundetc  Schule  von  Adolf  Uer 
in  München  aufgenommen  zu  >*erden,  hatte  ich  den  Kopf 
voll  romantischer  Ideen  und  gedankentiefer  Composi- 
tionen.  Aber  soviel  ich  mich  auch  mühte,  die  Gedanken- 
tiefe kam  nicht  auf  die  Leinwand.  Mein  Meister  Hess  mich 
Anfangs  ruhig  gewähren.  Als  er  mich  aber  eines  Tages 
wieder  vor  einem  aufgespannten  Papier  ansehnlichen 
Umfanges  antraf  worauf  ich  mit  Kohle  eine  I^ndschaft 
zu  componiren  suchte,  zu  weicher  mir  eine  kleine  Studie, 
die  ich  im  Sommer  vorher  im  Walde  von  Grosshesselohe 
gemalt  hatte,  Anregung  und  Anhaltspunkte  geben  sollte, 
da  meinte  Lur:  -.Glauben  Sie,  dass  es  wirklich  eines 
solchen  Aufwandes  von  Kohle  und  Kopfzerbrechens 
bedarf,  um  ein  Kunstwerk  zu  .schaffen.'  Ihre  Studie 
ist  leidlich  gelungen  ;  wenn  Sic  das  noch  Fehlende  mit 
Wenigem  ergänzen,   so  bekommen  Sie  ein  Bild,  weiches, 


wenn  nicht  gut,  3och  jedenfalls  besser  ist,  als  was  Sie 
aus  der  Tiefe  des  Gemüths  mit  unwahren  Farbentönen 
auf  die  Leinwand  zaubern  »,  »  Aber  »,  warf  ich  schüchtern 
ein,  <  es  wird  denn  doch  zu  wenig  sein  für  ein  Bild  > . 
'.  Ei  V ,  meinte  Lier  darauf,  t  die  Wiedergabe  auch  des 
kleinsten  und  unscheinbarsten  Stückes  Natur  ist  ein 
Kunstwerk,  sobald  darin  das  malerische  Interesse  und 
Vergnügen  zum  Ausdruck  gebracht  ist,  welches  der 
Künstler  empfand,  als  er  dieses  Stück  Natur  betrachtete, » 

Ich  folgte  dem  Rathe  meines  Lehrers  und  so  entstand 
mein  erstes  Bild. 

Dann  kam  das  Frühjahr  und  ich  ging  hinaus  an 
einem  schönen  Märztage,  ein  Motiv  zu  suchen.  Mit 
etlichen  Zeichnungen  und  Farbskizzen  kam  ich  herein 
und  fing  an,  auf  der  Leinwand  zusammenzustellen  und 
zu  componiren.  Aber  es  ging  nicht,  die  Erinnerung  an 
das  in  der  Natur  Geschaute  war  zu  schwach,  *  Nehmen 
Sie  doch  Ihre  Leinwand  —  sie  war  hübsch  gross  — 
hinaus  und  malen  Sie  vor  der  Natur  unmittelbar  darauf, 
was  Sic  sehen  ■^ .  Ich  folgte  wieder  und  was  ich  draussen 
gemalt  hatte,  setzte  ich  unverändert  in  einen  Goldrahmen 
und  stellte  es  aus.  Jawohl,  meinten  damals  Alle,  die 
CS  sahen,  es  mag  eine  ganz  passable  Studie  sein,  aber 
ein  Bild  ist  es  nicht.  Nur  Uer  bestärkte  mich  darin, 
den  eingeschlagenen  Weg  einzuhalten. 

Ich  erlaube  mir  nun  die  Frage:  Sind  dies  nicht  die 
Grundsätze  auch  der  heutigen,  modernsten  Richtung.' 

ALs  alleinseligmachend  sah  sie  IJcr  freilich  nicht  an. 
Er  war  nicht  der  Meinung,  dass  Alles  ausschliesslich 
unmittelbar  nach  der  Natur  gemalt  werden  müsse.  Wer 
diesem  Grundsatz  ein-  für  allemal  folgen  will,  ist  genöthigt. 
immer  eine  2^it  des  vollen  Tages,  eine  möglichst  lang 
gleichbleibende  Beleuchtung  aufzusuchen.  Eine  flüchtige 
Gewitterstimmung,  ein  Sonnenuntergang,  Morgen-  oder 
Abenddämmerung,  das  Alles  geht  zu  rasch  vorüber,  als 
dass  man  Derartiges  vor  der  Natur  auf  einer  grösseren 
Leinwand  festhalten  und  zu  vollendeter  Darstellung 
bringen  könnte.  Soll  nun  Dergleichen  überhaupt  nicht 
gemalt  werden .'  Es  liegt  doch  darin  zumei-st  der  grösste 
künstleri.sche  und  malerische  Reiz,  Ich  will  diese  Frage 
nicht  weiter  erörtern ,  ein  jeder  Maler  hat  das  Recht, 
sich  zu  derselben  zu  stellen  wie  ihm  gutdünkt. 

Wie  Lier  es  that,  weiss  Jeder,  der  seine  Werke  kennt. 
Sein  Einfluss  war  in  München  ein  allgemeiner,  weit  über 
den  Kreis  .seiner  unmittelbaren  Schüler  hinau.sgehender. 
Allerdings   beschränkte    sich    dieser  Einfluss   damals   auf 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


115 


.^-. 


O/A»  Baisch,  Carlsruhe.     Skizze. 


die  Landschaftsmalerei.  Die  Figurenmalerei  nahm  von 
Lier's  Grundsätzen  zunächst  nichts  an.  Man  dachte 
mehr  daran,  bei  Vorgängen  im  Freien  die  Menschen  in 


zumeist  schwarz  aus,    nicht  nur  gegenüber  der  modernen  Schule,    sondern  auch 
gegenüber  den  Werken  jener  Meister. 

Da  kam  die  Losung:    Auflichten  der  Palette.     Ein  Jahrzehnt  später  wurde 

dieser  Grundsatz  unter  dem  schönen 
Namen  «  Plein-air  s>  nach  Deutsch- 
land   verpflanzt.      Nun    erst    ver- 
schaffte sich  die  Anschauung  Lier's 
über    das    Malen   in    freier    Natur 
auch    bei    den    Figurenmalern    in 
Deutschland    Geltung.       Darüber 
eingehend   zu   sprechen,   ist   nicht 
meines  Amtes,    und  ich  schliesse 
ab  mit  meinem  kurzen  Rückblick, 
welchen  ich  nur  aus  dem  Grunde 
der    Veröffentlichung     übergeben 
habe,   um  meine   Dankesschuld   dem  verehrten   Meister 
gegenüber    abzutragen,    dessen    Verdienste    in    unserer 
schnellvergessenden  Zeit  nicht  oft  und  eindringlich  genug 
ihrer  Beleuchtung  unter  freiem  Himmel  zu  studiren.   Nur      hervorgehoben  werden  können». 

Lier  that   es,    um   dann  die   so  gefertigten  Studien   als  Noch  eine  weitere  Reihe  von  Skizzen  sind  in  diesem 

Staffagen  in  seine  Bilder  zu  verwenden.  Blatte   veröffentlicht,    die  den   genialen    Hugo   Vogel  in 

Inzwischen  ist  das  freilich  anders  geworden. 
Auch  die  Art,  die  landschaftliche  Natur  zu  sehen 
und  zur  Darstellung  zu  bringen,  hat  sich  geändert. 
Ob  dieselbe  einen  Fortschritt  aufweist  gegenüber 
der  Art  eines  Corot,  Troyon,  Dupr'e ,  Daubigny 
u.  s.  w.,  welche  Lier  als  leuchtende  Vorbilder  vor 
Augen  standen  und  deren  Werke  auch  mich  be- 
geistert hatten,  noch  ehe  ich  in  die  Lier -Schule 
gekommen  war,  —  diese  Frage  mögen  Andere 
entscheiden.  Es  musste  Neues  kommen,  sonst 
wäre  die  Schablone  unvermeidlich  gewesen.  Das 
konnte  man  sehr  gut  auf  der  letzten  Pariser  Welt- 
ausstellung studiren ,  wo  die  Werke  aller  bedeu- 
tenden Künstler  F'rankreichs  von  diesem  Jahr- 
hundert vertreten  waren.  Welche  Fülle  von  Licht- 
und  Tonpoesie  enthalten  die  Bilder  von  Corot! 
Aber  Schule  konnten  sie  nicht  machen,  sie  waren 
zu  persönlich ;  wer  sich  stark  von  ihnen  beein- 
flussen Hess,  musste  zum  Copisten  herabsinken. 
Auch  seine  grossen  Zeitgenossen  haben  keine 
Nachfolger  gefunden,  welche  sich  ihnen  auf  dem- 
selben Wege  ebenbürtig  angeschlossen  hätten.  Die 
Tiefe  von  Ton  und  Farbe  eines  Daubigny,  Diaz^ 
Rousseau  war  bei  ihren  Nachfolgern  leicht  und 
luftlos  geworden.    Die  Bilder  der  Letzteren  sehen 


Olto  Baisch,  Carlsruhe.     Studie. 


15« 


HC 


»IE  KUNST  UNSERER  ZEir. 


Otle  Baüei,  Carbnilic.     HotUndkche  Viehweide 


licrlin  zum  Autor  haben.  Es  sind  zum  grösseren  Thcile 
Studien  zu  seinen  Berliner  Rathhausbildern ,  doch  sind 
sie  trotz  ihrer  lebendigen  Auffassung  immerhin  nicht 
im  Stande,  einen  BegrilT  von  des  Künstlers  feinsinniger 
Arbeitsweise,  von  seiner  gesunden  Art  der  Naturanschau- 
ung zu  geben,  die,  bei  aller  Freiheit  der  Behandlung, 
dennoch  nie  ins  Manieristischc  verfallt  und  das  Original 
nicht  verwechselt  mit  irgend  einer  künstlerischen  Caprice, 
die  sich  beim  wirklichen  Erfinder  geistreich  ausnimmt,  in 
jeder  Nachempfindung  aber  herabsinkt  zum  bedeutungs- 
losen  Plagiat. 

Die  Nacli- Freto-Manie»,  wie  ein  Spassvogel  gewisse 
Erscheinungen  unseres  deutschen  Kunstlebens  bezeichnete, 
i>t  ein  wahrhaft  zur  Plage  gewordener  Umstand,  der  sehr 
vielen  von  Jenen  anhangt,  die  immer  und  immer  nur  das 
Wort  i  Modern  im  Munde  führen,  selbst  aber  gar  nicht 
im  Stande  sind,  etwas  unseren  heutigen  Anschauungen 
Entsprechendes   aus   sich    selbst    heraus    zu    entwickeln. 


Da  ist  es  denn  ein  wahrer  Segen,  dass  man  jährliche 
Ausstellungen  hat,  wo  man  sich  Air  die  Dauer  der 
näch.sten  zehn  Monate  Anregung  genug  holen  kann,  sei 
es  nun  bei  den  Franzosen,  den  Schotten,  den  Spaniern 
oder  den  Niederländern.  Was  wird  es  nicht  bei  der 
künftigen  Münchencr  Jahres -Ausstellung  für  neue  Er- 
scheinungen zu  sehen  geben,  die  voriges  Jahr  als  Originale 
vielleicht  bei  den  Schotten  hingen!  Es  ist  geradezu 
jämmerlich,  wenn  man  gegenüber  der  Zahl  von  Menschen, 
die  sich  officieli  mit  dem  Titel  eines  Künstlers  belegen, 
die  kleine  Gruppe  von  Selbstständigen  anschaut.  Und 
was  haben  nicht  gerade  diese  oft  durchzumachen ,  bis 
eine  gerechte  Wendung  des  Schicksals  sie  der  Welt  in 
jenem  Lichte  erscheinen  lässt,  in  dem  sie  gesehen  werden 
müssen,  um  verstanden  zu  sein. 

Da  hat  z.  B.  Hans  Tlicina ,  wie  schon  anderAveitig 
berichtet  wurde,  im  vorigen  Sommer  in  der  Isarstadt 
einen  durch.schlagendcn  Erfolg   errungen,    weil    er    sich 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


117 


auf  das  Drängen  und  Rathen  von  Freunden  "hin  endlich 
entschloss,  eine  ganze  Reihe  von  eigenen  Arbeiten  in 
geschlossener  Weise  vorzuführen  und  damit  ein  abge- 
rundetes Bild  seines  Wesens  zu  geben.  Jene,  die  ihn 
früher  kannten,  wussten  wohl,  was  für  ein  ernster  Mann 
er  sei,  der  die  Kunst  durchaus  nicht  als  Etwas  ansah, 
was  man  als  Mittel  zu  diesem  oder  jenem  Zwecke  be- 
nützen müsse,  um  z.  B.  vor  den  Namen  irgend  ein 
Titelchen  oder  für's  hungrige  Knopfloch  Futter  zu  be- 
kommen. Thonia  hat  mit  seiner  Coliectiv  -  Ausstellung 
ein  Heer  ähnlicher  Veranstaltungen  heraufbeschworen, 
unter  dem  hin  und  wieder  wirklich  Gutes  sich  fand. 
Manche  aber,  ja  viele  von  diesen  CoUectiv-Ausstellungen 
waren  leibhaftige  Illustrationen  zu  dem  Worte: 

t  Jedoch  der  schrecklichste  der  Schrecken 
Das  ist  der  Mensch  in  seinem  Wahn !  > 

Sic  schössen  wie  Pilze  aus  dem  Boden,  die  Collectiv- 
Ausstellungen,  waren   aber,   wie  diese,    nur  in   wenigen 


E.xemplaren  geniessbar,  eigentlich  giftige  Exemplare 
dagegen  fehlten  allerdings  ganz.  Wenn  ein  Liebermann 
mit  einer  Reihe  von  Arbeiten  den  Einblick  in  seine 
Anschauungsweise  eröffnete  und  damit  quasi  ein  modernes 
Programm  entwickelte,  so  musste  das  Jeden  freuen, 
der  überzeugte  Kunst  zu  unterscheiden  versteht  von 
künstlerischer  Schusterei.  Wenn  ein  Trübner  in  etlichen 
fünfzig  Bildern  seine  Gegenwart  und  Vergangenheit 
illustrirte  und  damit  zeigte,  dass  die  emailartige  Behand- 
lung der  Farbe,  das  Denken  über  bestimmte  Gegensätze 
und  das  klare,  zielbewusste  Ausdrücken  solcher  An- 
schauung vollständig  gleichwerthig  mit  der  scheinbar 
leichten,  geistreich  in  Zufälligkeiten  schwelgenden  Art 
sei,  die  bei  anderen  wahren  Künstlern  das  Vorwiegende 
des  Ausdruckes  bildet,  so  kann  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dass  im  geschlossenen  Vorführen  einer  ganzen 
Reihe  von  Werken  eines  und  desselben  Künstlers  geradezu 
ein  Verdienst  liege.     Wem  wäre  es  eingefallen ,    in    der 


^«\MfA>v— ^ 


■   '-1 


Otto  Baischf  Carlsruhe.     Studie. 


118 


ült  KÜNSr  UNSERER  ZETl'. 


grossen  Zahl  Klmgrr'schtx  Radirungen,  die  gleichzeitig 
mit  einigen  seiner  bedeutendsten  künstlerischen  Schöpf- 
ungen auf  dem  Gebiete  der  Malerei  ausgestellt  waren, 
etwas  Anderes  sehen  zu  wollen,  als  die  absolut  berechtigte 
Aeusserung :  <  Da  seht  Ihr  mich,  wie  ich  bin  und  was 
ich  will  1 »  —  (Freilich  für  dn  gut  Theil  unserer  Kunst- 
philister —  und  es  gibt  deren  genug  Exemplare  der 
seltensten  Arten  und  Abnormitäten  in  allen  Kreisen  — 
blos  unverständliche  Dinge.)  Welche  Riesenkraft  äusserte 
sich  da,  wie  grossartig  trat  die  Macht  der  Erfindung  in 
diesen  Arbeiten  auf,  wie  sprudelnd  perlte  da  eines  edlen 
künstlerischen  Geistes  vielseitiges  Schaffen !  Und  in  wie 
ganz  anderer  Weise  wiederum  klangen  die  besten  und 
schönsten  Empfindungen  zusammen  in  der  grossen  Reihe 
plastischer  Werke,  mit  welchen  Hildtbrand  (der  drüben 
am  Bello  Sguardo  den  herrlichen  Sitz  San  Francesco  a 
Paola  sein  eigen  nennt)  zwei  Säle  des  Kunstvereins 
füllte ;  wie  freudig  musste  man  da  jedem  einzelnen  Dinge 
entgegentreten,  wie  lebte,  wie  athmete  Bronce,  Marmor 
und  Terracotta.  die  unter  des  Künstlers  Hand  den 
Charakter  der  todten  Materie  verloren  und  jenes  ver- 
geistigte Element  an  sich  trugen,  was  einzig  und  allein 
den  Stempel  des  Edlen,  des  künstlerisch  Wahrhaften, 
des  um  der  Kunst  willen  Gearbeiteten  verleiht !  Ja,  an 
solchen  Collectiv-Ausstellungcn  ist  ein  grosser  bildender 
Zug,  denn  sie  geben  des  Künstlers  innerstes  Wesen, 
sie  eröffnen  einen  Blick  in  die  Werkstätte  des  Geistes, 
der  nicht  blos  beschäftigt  ist  mit  der  Lösung  von 
Problemen,  wenn  der  Mensch  an  der  Staffelei  oder  vor 
dem  Modellirstuhte  steht,  sondern  unablässig  beob- 
achtend ,  aufnehmend .  gestaltend  sich  bcthätigt ,  im 
Worte  cbeaso  wie  in  der  Thatl  Das  ist  es  ja,  was  die 
Renaissancisten  zu  Giganten  machte.  Ihr  Geist  bewegte 
sich  suchend  und  schaffend  nicht  blos  da,  wo  unter 
der  Hand  das  umfangreiche  Werk  als  Schlussresultat 
einer  gesunden  Ueberlegungsweise  entstand,  er  be- 
schäftigte sich  mit  allen,  allen  Fragen  menschlichen 
Könnens;  desswegen  tragen  auch  ihre  Arbeiten  einen 
wesentlich  anderen  Stempel  als  gar  Vieles ,  was  heute  die 
Räume  uaserer  Aus.stellungen   füllt! 

Ja  —  Collectiv-Ausstellungcn! 

Was  aber  sollten  so  und  so  viele  andere,  bei  denen 
nian  das  Gefühl  nicht  unterdrücken  konnte,  als  wäre  der 
letzte  Fetzen  Leinewand,  das  letzte  überzeichnete  Stück 
Papier  hervorgeholt  worden,  um  möglichst  viele  Quadrat- 
meter Wandflache  zu  bedecken  !     Es  musste  Einem  doch 


unwillkürlich  das  Heine'sche  Gedicht  einfallen :  t  Die 
Menge  thut  es !  > 

Man  darf  wohl  darauf  gespannt  sein,  bei  der  kom- 
menden Münchener  Jahres-Ausstellung  eine  ganze  Reihe 
von  Collectiv- Ausstellungen  zu  sehen,  zu  welchen  die 
Besten  ihre  Werke  hergaben,  Lebende  und  Todte: 
B^cklin,  Mensel^  Afarres.  Meissonirr ,  auch  die  schon 
genannten  Thoma  und  HilJebrand ,  wie  auch  Andere. 
Wie  seltsam  gross  müssen  dergleichen  abgeschlossene 
Arbeits -Cyklen  wirken  gegenüber  jenen  Sälen,  wo  in 
kunterbunter  Reihe  durcheinander  gemengt  ist,  was  ein- 
zeln in  hunderten  von  Ateliers  entstand!  •Ob  da  nicht 
vieles  Gute  einfach  an  die  Wand  gedrückt  wird  durch 
die  Masse  der  bunten  Eindrucke ,  die  unwillkürlich  von 
rechts  und  Unks  das  Auge  beeinflussen  und  ihm  jene 
Ruhe  nicht  gönnen,  die  zum  eigentlichen  Genuss  eines 
Kunstwerkes  nöthig  ist? 

Wir  leben  eben  im  Zeitalter  der  Massenproduction 
auf  allen  Gebieten ,  am  abstossendsten  aber  äussert  sie 
sich  doch  im  Gebiete  der  Kunst.  Zum  feinen  Genu.sse 
derselben  tragen  die  grossen  kaleidoskopartig  wirkenden 
Säle  der  Ausstellungen  gewiss  nicht  bei  —  freilich  manch- 
mal in  Bezug  auf  das  Ausgestellte  nicht  mit  Unrecht; 
sind  doch  Ausstellungen  vielfach  heute  nichts  Anderes, 
als  JagdgrUnde  für  beutedurstige  Seelen! 

Doch  genug  davon.  Es  wird  sich  ja  noch  reichlich 
Gelegenheit  finden,  darauf  zurückzukommen. 

Und  nun  noch  unsere  anderen  Bilder.  —  Sie 
brauchen  ja  wohl  keinen  Commentar,  denn  jeglich  Ding, 
das  mit  Lust  und  Treue  der  Natur  abgelau.scht  ist, 
spricht  in  sattsamer  Weise  für  sich  selbst  und  gibt  hin- 
reichenden Maassstab  für  des  Künstlers  Unbefangenheit 
und  Gefühl  für  Wahrheit  in  Sachen  der  Gestaltung;  der 
Eine  liebt  es  ein  wenig  mehr  so,  der  Andere  mehr  so, 
Hauptsache  dabei  bleibt  ja  immer  die  Ehriichkeit  und 
Ueberzeugungstreue,  die  aus  den  Bildern  spricht  —  mund- 
gerecht freilich  sind  die  beiden  letzteren  Eigenschaften 
weder  jedem  Kün.stler,  noch  dem  grossen  Publikum. 

Ein  Hauch  unverfälschter  Poesie  geht  durch  das 
morgendämmerige  Bild  von  H.  von  Sicmiradzki.  Von 
der  hochgelegenen  Kirche,  die  schon  vom  Scheine  des 
frühen  Morgens  umspielt  ist,  während  drunten  noch  der 
Dunst  über  der  Fläche  lagert,  steigt  der  Priester  nieder 
mit  dem  Viaticum,  es  einem  Sterbenden  zu  reichen. 
Das  i.st  einfach,  ist  gut  und  hat  wohl  mehr  Empfindung, 
als  manches  der  gros.sen  Werke  des  nämlichen  Künstlers. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


119 


IV.  Szymanoivski  —  was  soll  man  da  mehr  sagen, 
als  dass  das  Ganze  der  Beginn  einer  jener  Geschichten 
ist,  die  entweder  mit  einer  Hochzeit  ihr  Ende  finden, 
oder  den  Todtengräber  als  letzte  Figur  zeigen,  wie  er 
Scholle  auf  Scholle  hinabpoltern  lässt  auf  sechs  Bretter 
und  zwei  Brettchen.  Wir  brauchen  keine  Geschichte 
zu  dem  Bilde  zu  erfinden ,  es  ist  selbst  eine.  In  an- 
derer Art  variirt  dasselbe  Thema  W.  Leibl  (pag.  ii6) 
und  verweisen  wir  bezüglich  der  Besprechung  dieses 
Bildes  auf  die  Ausstellungsberichte  vom  Jahre  1890. 


In  ganz  anderen  Sphären  bewegt  sich  die  jugend- 
liche Figur  von  Conrad  Kiesel  in  Berlin,  die  einem  aus 
mächtigem  getriebenen  Kupferkessel  trinkenden  und 
dabei  mit  den  Flügeln  balancirenden  Cacadu  lachend 
zuschaut.  Offenbar  rollt  in  den  Adern  der  jungen 
Orientalin  ziemlich  viel  westeuropäisches  Blut,  wogegen 
die  lustwandelnde  Figur  von  F.  A.  Bridgvian  einen 
ziemlich  unverfälschten  Racentypus  zeigt. 

Ungemein  sonnig  klar  ist  die  Ufer-  und  Hafenscene 
von  C.  Hochhaus  in  Berlin,  ein  Bild,  das  unter  Anderen 


Otto  Baisch,  Carlsruhe.     Studie. 


ZU  den  frischen  Erscheinungen  der  Münchener  Jahres- 
Ausstellung  von  1 890  zählte  und  ferne  jeder  einseitig  con- 
ventioneilen Anschauung  stand. 

Unter  anderen  Stimmungsverhältnissen  zeigt  W. 
Xylander  die  mondbeschienenen  Wogen  def  nächtlichen 
See.  Der  Künstler  ist  bekanntermaassen  Specialist  in 
solchen  Lichteffecten,  die  auch  stets  ihre  Liebhaber  fanden. 

Fest  und  bestimmt  in  der  Form,  gut  gezeichnet  und 


klar  in  der  Farbe,  ist  das  reizende,  einfache  Motiv,  wie  der 
Grossvater  mit  ungelenker  Bewegung  für  den  auf  seinem 
Arm  ruhenden  Enkel  einen  Schmetterling  zu  erhaschen 
sucht.  Der  Autor  des  Bildes  ist  Hans  Pock  in  München, 
der  schon  mit  manchem  guten  Wurf  dargethan  hat,  wie 
der  eigentliche  Bauer  aussieht,  wie  man  ihn  wahr 
schildern  kann,  ohne  dabei  gerade  an  Auerbach  und 
andere  schönfärbende  Schriftsteller  zu  denken. 


120 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Otto  Eckmann  s  niederländische  Waisenkinder  auf 
dem  Spaziergange  bieten  ebenfalls  des  Anmuthigen  und 
Bezeichnenden  eine  schöne  Menge  —  es  ist,  was  man 
kurzweg  sagt,  ein  gutes  Bild,  an  dem  vor  Allem  auch 
die  Umgebung  mit  ausserordentlicher  Treffsicherheit 
wiedergegeben  ist 


Derweilen  ist's  Abend  geworden!  Aus  dem  Arno- 
thal  klingen  die  Glocken  herauf,  über  den  fernen  Berg- 
zügen steht  glühendes,  sonnenvergoldetes  Gewölk  —  es 
ist  bei  Gott  nicht  das  schlechteste  der  Bilder,  die  ich 
heute  geschaut!  Es  zu  beschreiben,  dazu  fehlt  mir  der 
Muth.  denn  es  gibt  Seiten  im  Buche  der  Natur,  wo  der 
Mensch  die  Finger  davon  und  die  Feder  in  Ruhe 
lassen  soll. 

Jetzt  einen  Fiasco  prickelnden  etrurischen  Weines, 
eine  Schüssel  voll  dampfender  Maccaroni  —  das  gibt 
Allem  einen  unbestreitbar  positiven  Abcchluss;  dann 
geh'  ich  hinunter  auf  die  Piazza,  wo  der  weite  Blick 
nach  Florenz  hin  sich  aufthut.  Ueber  dem  blau-rauchigen 
Gewirre  der  Dächer  und  Schornsteine ,  der  Thürmchen 
und  Thürme,  der  Küppelchen  und  Kuppeln  ragt  die 
eine  Riesengestalt  heraus,  jene  von  Santa  Maria  del  Y'xox, 
seltsam  im  Dunkel  sich  abhebend  durch  den  Schein 
der  tiefer  hängenden  elektrischen  Lampen.  So  bildet 
sie  auch  in  der  Nacht  das  leuchtende  Centrum  von 
Florenz,    weithin    sichtbar,    ein    Wahrzeichen    grossen 


menschlichen  Denkens,  ein  Denkmal,  grösser  im  Zug, 
gewaltiger  in  der  Erscheinung  als  das  herrlichste 
Menschenmonument  und  galt'  es  auch  einem  Sieger  in 
tausend  Schlachten  oder  Andern,  die  neue  Sprengstoffe, 
Torpedos,  Gewehre  und  was  weiss  ich  erfunden  haben. 
Ueber  der  Kuppel  des  Brunellesco  schwebt  ein  Ding 
in  der  Lufl,  grösser,  schöner  als  alles  gewaltsam  ver- 
richtete Menschenwerk,  es  ist  der  geistige  Sieg  des 
Humanismus  über  die  Barbarei  des  Mittelalters,  das 
zum  Leidwesen  so  Vieler  sich  immer  weiter,  weiter 
aus  un.screm  Gesichtskreise  entfernt,  blos  die  grossen 
künstlerischen  Eindrücke  zurückla.ssend,  während  Dunkel- 
heiten mehr  und  mehr  verwischt  werden  durch  die 
immer  heller,  leuchtender  an  uns  herantretende  Zu- 
kunft, die  das  unantastbare  Recht  der  Menschenarbeit 
und  ihr  X'erdienst  in  den  Vordergrund  rollt.  Wer 
weiss,  wann  diese  2>it  da  sein  wird,  aber  .sie  kommt, 
sie  kommt,  das  sagt  mir  der  mystische  Lichtschein  ob 
der  Kuppel  von  Santa  Maria  del  Fior,  deren  Urheber 
man  noch  lange  preisen  wird,  wenn  an  den  Altären 
unter  ih^  das  Evangelium  der  wahren  Menschenliebe 
erschallt!  Dann  gibt  es  keine  Abtrünnigen,  keine  Un- 
gläubigen mehr still,  eben  fangen  die  Nachtigallen 

zu  schlagen  an  in  den  Blüthengärten  und  durch  die 
laue  Frühlingsnacht  klingen  helle,  glockenreine  Men.schen- 
stimmen.  —  —  Oh,  sie  können  singen,  die  Fiesolaner, 
besser  als  mancher  thcuer  bezahlte  Sanger  bei  uns 
daheim  —   —  — . 


r 


Fior  che  non  mnore  \ 

Lauü  levano  quelli  alle  lor  care 

Ina  canzon  che  dice :  Jo  cerco  amore ! 


Fiesole.  Anfang  Mai  IsOl. 


^-^ 


i'liot.   y    U.iiifiilaenci,    Münrni'n. 


Gleich  hab'  ich  ihn! 


''■fßc^^^'^^''''' 


VON 


CORNELIUS    GURLITT. 


[ur  Frau  Mama  begleitete  sie  zum  Wagen.  Rück- 
sichtslos liess  sie  das  prachtvolle  stahlgraue  Seiden- 
kleid über  den  Kies  des  Gartenweges  rauschen,  um  zu 
ihrem  Kinde  zu  eilen,  ihm  durch  das  Wagenfenster 
nochmals  einige  Worte  zuzuflüstern,  einen  Kuss  auf  die 
Lippen  zu  drücken. 

Die  Hochzeitsgäste  sollten  nichts  von  der  plötz- 
lichen Flucht  des  Paares  merken.  Aus  den  offenen 
Fenstern  der  städtischen  Villa  drang  eben  der  Lärm 
des  wer  weiss  wie  vielten  Hoch,  Lachen,  Gläserklirren, 
das  Gesumme  einer  weinfrohen  Menge.  Onkel  Leonhardt 
war  unerschöpflich  in  Versen  und  Toasten !  Er  war  der 
Verbündete  der  Mutter  und  deckte  den  Rückzug  der 
Gefeierten  mit  einer  doppelt  reichlichen  rednerischen 
Gabe.  Nur  ein  paar  Kinder  der  Nachbarschaft  standen 
mit  offenen  Augen  und  noch  weiter  offenem  Munde  am 
festlichen  Zweispänner  und  starrten  den  prächtigen 
Kutscher  und  seine  weissen  Zwirnhandschuhe  an.  Der 
stämmige  Bureaudiener  des  Bräutigams  und  der  lang 
aufgeschossene  alte,  hausgewohnt  gewordene  Lohn- 
diener der  Schwiegereltern,  beide  in  Frack  und  mit 
mächtigen  weissen  Cravatten,  stritten  sich  um  die  Ehre, 
auf  dem  Bock  dem  Paare  das  Geleite  zu  geben.  Am 
Wagen    vorbei    polterte    ein    Handkarren    mit    Gepäck, 


Mänteln,  Decken  und  Schirmen.  Eben  waren  die  Koffer 
erst  geschlossen  worden ,  es  war  höchste  Zeit,  sie  zur 
Bahn  zu  schaffen.  Der  Hausmeister  sparte  seine  Lungen 
nicht,  damit  ihn  und  den  Karren,  welchen  er  zog,  der 
Zweispänner  nicht  überhole. 

cEs  ist  keine  Zeit  mehr  zum  Abschiednehmen  I 
Kutscher,  fort ! !  » 

Noch  ein  Winken  mit  dem  Taschentuch  —  und 
das  Elternhaus  mit  seinem  Hochzeitslärm  verschwindet !  I 


Die  Strassen  flogen  vorüber.  Sie  sahen  recht  all- 
täglich aus.  Die  Sonne  breitete  noch  gleichmässiges 
Licht  über  das  Pflaster  der  grossen  Stadt,  über  Schau- 
fenster und  Firmenschilder.  Die  Vorbeigehenden  sahen 
sich  nach  dem  Wagen  nicht  um.  Sie  ahnten  nicht, 
was  er  barg:  Ein  Paar,  das  stumm  und  steif  dasass 
und  dem  die  Herzen  doch  so  voll  waren. 

Er  drückte,  nachdem  er  seine  langen  Glieder  vor- 
sichtig, ohne  sie  zu  stossen,  zurecht  gerückt  hatte, 
leise  ihre  Linke  und  blickte  sehr  ernst  unter  der  Brille 
vor.  Sie  schaute  zum  Fenster  hinaus  oder  sie  richtete 
wenigstens  den  Kopf  dorthin.  Aber  sie  sah  nichts: 
Thränen  standen  ihr  in  den  Augen. 


16 


122. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIL 


Die  Lage  war  ungemüthlich.  Auf  einen  Ausbruch 
des  Thranenstromes  durfte  er  es  nicht  ankommen  lassen. 
So  redegewandt  er  war  und  so  tiefsinnig  er  sonst  zu 
sprechen  wusste  —  heute  gerade  suchte  er  vergeblich 
nach  dem  passenden  Worte.  Vielleicht  dass  er  es  jen- 
seits des  anderen  Wagenfensters  fand?  Auch  erschaute 
hinaus  und  las  die  Firmenschilder.  Aber  auch  diese 
verkündeten  ihm  keinen  Entschluss 

Sollte  er  sich  umdrehen  und  ihr  einen  herz- 
haften Kuss  geben.' 

Nein,  so  stört  man  nicht  den  Abschieds- 
schmerz einer  Tochter,  die  das  Elternhaus  verlässt. 

Was  war  sonst  zu  thun? 

Endlich  verfiel  er  in  ein  stumpfes  Brüten. 
Wer  die  beiden  von  einander  Abgewendeten  ge- 
sehen hatte,  würde  wohl  gar  glauben,  sie  haben 
sich  gezankt ! 

;  Sieh  mal»,  rief  er  plötzlich,  tdas  Hotel  de 
Pnisse  ist  wieder  eröffnet  I » 

<  Daran  denkst  Du  jetzt !  >  antwortete  sie  im 
Tone  schmerzlichen  Vorwurfs,  und  die  Thränen, 
die  sich  im  braunen  Auge  schon  heimi.sch  ein- 
gerichtet hatten,  fielen  ihr  in  den  Schooss. 


Er  fühlte,  er  habe  eine  grosse  Dummheit  gemacht 
und  sank  reumüthig  in  sich  selbst  zurück.  Was  ging 
ihn  die  Wiedereröffnung  des  Gasthauses  an  ,  zumal 
jetzt,  angesichts  einer  auf  drei  Monate  berechneten 
Hochzeits-  und  Studienreise?!  Er  beschloss  das  Trost- 
mittel des  Kusses  nun  doch  anzuwenden  und  machte 
mit  den  langen  Armen  einen  schüchternen  Versuch,  ihre 
zarte  und  doch  rundliche  Taille  zu  umfassen. 

<  Liebe  Anna  1  > 

<  Mein  Gott,  hier  vor  den  Leuten !  > 

<  Aber  es  kümmert  sich  ja  Niemand  um  uns  und 
kann  auch  Niemand  in  den  verschlossenen  Wagen 
schauen.  > 

t  Nein,  nein,  ich  vergehe  vor  Scham,  bedenke  doch 
nur.  Dein  Johann  sitzt  auf  dem  Bock  I  > 

Das  war  nicht  abzuleugnen.  Die  breiten  Frack- 
schössc  des  Bureaudieners  verdunkelten  das  Vorderfenster. 

Ein  Kuck!  —  der  Wagen  hielt  vor  dem  Bahnhof. 

Wie  der  Hausmeister  gelaufen  sein  musstel  Denn 
er  war,  wie  Swinegel  beim  Wettrennen,  schon  zur 
Stelle  und  drängte  den  Gepäckträger  fort,  welcher  die 
Wagenthürc  öffnen  wollte. 

Johann  stolperte  bedenklich ,  als  er  vom  Itocke 
schwer  auf  die  derben  Stiefelsohlen  herabsprang.  Aber 
er  kam  doch  noch  zurecht,  um  der  jungen  Frau  aus- 
steigen zu  helfen.  Mit  zierlicher  Gewandtheit  bediente 
sie  sich  seines  Armes.  Fun  schneller  freundlicher 
Dankesblick  beglückte  den  von  Aufregung  und  Wein 
Angefeuerten. 

Fls  war  grösste  Eile  nöthig. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


123 


Ernst 
stürzte  zum 
Billetschal- 
ter.     In  die 
Reihe  der 
Wartenden 
sich  zu  stel 
len ,    schien 
ihm  fast  un- 
erträglich. 
Er  über- 
ragte sie  um 
Haupteslänge    und   durfte  sich  doch    nicht    vordrängen. 

Während  dessen  stand  sie  so  allein,  so  verlassen 
in  der  weiten  Halle,  zwischen  den  gleichgiltigen  ge- 
schäftigen Menschen  mitten  im  Kommen  und  Gehen  der 
Dienstbeflissenen.  Beinahe  hätte  sie  ein  Gepäckträger 
umgerannt,  der  unter  einem  Riesenkoffer  seufzte.  Aber 
sie  sah  gut  aus  im  neuen  braunen  Kleid,  mit  dem  neuen 
kecken  Hute  und  dem  neuen  glänzend  gelben  Leder- 
täschchen. Nur  *blass  war  sie ,  sehr  blass  das  sonst  so 
frische,  blühende  Gesicht.  Aber  die  kleine  Gestalt  war 
doch  frisch  und  straff,  der  zierliche  Fuss  stand  fest  und 
sicher  auf  dem  Boden,  er  trug  einen  biegsamen  kräftigen 
Körper.  Sie  hatte  selbst  dafür  gesorgt,  dass  Ernst  auch 
in  der  Farbe  zu  ihr  passe,  hatte  noch  als  Braut  mit 
ihm  den  Reiseanzug  gewählt,  dasselbe  Braun,  denselben 
grauen  Filz  zum  Hut ,  dieselbe  Form  der  Taschen. 
Sonst  hatte  er  immer  dunkle  Kleider  getragen.  Er  hielt 
sie  für  seine  lange  Gestalt  und  sein  Wesen,  sein  ge- 
lehrtes Amt  angemessener.  Aber  er  gefiel  sich  in  ihren 
Farben  auch  nicht  übel,  in  dem  Gewand,  das  er  eben 
zum  ersten  Male  angezogen  hatte. 

«  Sie,  Sie !  >  rief  der  Beamte  aus  dem  Schalter,  c  Sie 
haben  ja  Ihr  Geld  liegen  lassen !  5 

€Ach  so,  danke!  —  Ich  bin  etwas  zerstreut!» 

Nun  zum  Gepäck! 

*  Ich  komme  gleich ,  liebes  Kind !  »  rief  er  ihr  im 
Vorbeistürmen  zu. 

Sie  stand  theilnahmlos ,  den  Blick  nach  innen 
gekehrt,  noch  auf  dem  Platze,  auf  dem  er  sie  verlassen, 
mitten  im  Menschengewoge. 

Wieder  das  lästige  Warten  und  dazu  den  Ueber- 
eifer  des  Hausmeisters,  der  sich  seinen  blutenden  Daumen 
rieb!  Er  hatte  ihn  in  der  Eile  mit  einem  Koffer  ge- 
quetscht.    Als  Trost  erhielt  er  ein  Trinkgeld,    das  weit 


ihm    in    diesem 


Augenblicke 


über  das 
Maass  des- 
sen ging, 
was  mit  der 
Schwieger- 
mama vor- 
her verab- 
redet war. 
« Mehr  ist 
unnöthig», 
hatte  sie  ge- 
sagt ,  aber 
an    ein    paar 


was    lag 
Mark! 

«Etwas  Ueberfracht?» 

«Zwei  Billets,  84  Kilo,  Breitenberg!»  dröhnte  es 
aus  dem  Gepäckraum.  «  Bitte,  sich  links  an  den  Schalter 
zu  bemühen ! » 

«84  Kilo,  also  34  Kilo  Ueberfracht!  Merkwürdig, 
ich  habe  bei  meinen  Reisen  sonst  nie  nachzuzahlen 
gehabt  und  habe  doch  weniger  Bücher  mit  als 
sonst !  > 

Das  gab  wieder  eine  Verzögerung;  aber  endlich 
war  Alles  fertig.  Es  war  nun  auch  höchste  Zeit.  Rasch 
an  den  Kurierzug! 

«Breitenberg,  II.  Klasse!!!  11.  Klasse,  Breiten- 
berg !  1 1  » 

«Schaffner,  haben  Sie  nicht  noch  ein  Coupe  frei? 
Hier  ein  Trinkgeld,  nehmen  Sie,  nehmen  Sie,  —  wir 
würden  gern  allein  fahren!» 

«Dank  schön,  leider  Alles  besetzt,  rasch  hier: 
durchgehender  \A^agen.  —  Fertig  I !  » 

Ein  Schrillpfiff,  die  laute  Antwort  der  Locomotive, 
die  regelmässigen  tiefen  Athemzüge  des  ausströmen- 
den   Dampfes langsam    setzte    sich    der   Zug  in 

Bewegung. 

Die  beiden  Reisenden  standen  im  Gange  eines 
jener  langen  Kurierzug- Wagen.  Vor  ihnen,  vor  der  ersten 
Abtheilung,  thürmte  sich  ein  Berg  von  Koffern  und 
Taschen  auf,  von  hinten  rollten  ihnen  die  eigenen 
Taschen,  Schirme,  Reisedecken  vor  die  Füsse,  die  durch 
das  Fenster  hereinzuwerfen  dem  Hausmeister  noch 
gelungen  war.  Zwischen  diesem  Geräth  standen  sie 
auf  engem  Räume,  wie  gefangen. 

Sie  seufzte  tief  auf  und  blickte  ängstlich  zu  ihm 
empor. 

16» 


124 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


«Gott,  ist  das  schrecklich ! « 

cWenn  Dein  Bruder  nur  nicht  so  gar  lang  ge- 
sprochen hätte!  Wir  mussten  doch  seinen  Toast 
abwarten,  ehe  wir  uns  umzogen.  Dann  hätten  wir  uns 
nicht  so  zu  hetzen  brauchen!  > 

<Ach,  er  sprach  so  von  Herzen  und  zu  Herzen, 
der  gute  Mensch!  Ihm  wurde  es  auch  recht  schwer, 
die  Trennung !  t 

«Na,  er  sah  aber  aus,  als  wurde  er  sich  mit  seiner 
Brautjungfer  bald  wieder  trösten  und  mit  dem  Wdn! 
—  Du,  vortrefllichen  Wein  hat  Dein  Vater  !> 

«  Lass  das  jetzt,  ich  bin  tief  traurig !  > 

So  eng  es  im  Gange  war,  der  Schaffner  drängte 
sich  doch  durch. 

<  Ich  bitte ,  Platz  zu  nehmen ,  vom  sind  noch 
Plätze  frei.» 

Ernst  ging  auf  Entdeckungsreisen  nach  einem  be- 
quemen Coup^.  Keines  war  mehr  unbesetzt.  Er  wählte 
eines,  in  dem  nur  ein  Reisender  sass,  tief  in  seine  Reise- 
decke gehüllt. 

Er  kümmerte  sich  nicht  um  die  Neuankommenden, 
die  sich  mit  Taschen  und  Schachteln  bequem  zu  machen 
begannen.     Schon  dämmerte  es  im  Wagen. 

Ernst  drückte  seiner  jungen  Frau  die  Hand  und  zog 
die  leicht  sich  Sträubende  neben  sich  auf  den  Sitz. 

tUm  Himmelswiilen,  dass  der  Herr  nichts  merkt!» 
flüsterte  sie  ihm  angstvoll  zu. 

<  Der  schläft  schon  I  •> 

<  Nein,  ich  habe  ihn  mit  den  Augen  zwinzeln  sehen. 
Ich  bitte  Dich.  Ernst,  lass  michls 

<  Die  Fahrkarten,  bitte  1  >  unterbrach  der  Schaffner 
das  Zwiegespräch.  »Entschuldigung,  hier  ist  erste 
Klasse),  fuhr  er  fort,  nachdem  er  sie  geprüft  hatte. 
<  Im  Coupe  nebenan  sind  noch  zwei  Plätze  frei !  Ich 
werde  das  Gepäck  hinüber  bringen.  ^ 

Das  war  nun  ein  sehr  beschämender  Abzug.  Sie 
ging  Straffund  trotzig  hinaus,  während  er  dem  Schlafenden 
eine  verlegene  Verbeugung  machte.  Sie  blieb  uner- 
wiedert,  zu  seinem  Aerger. 

c Unsere  Ehe  beginnt  mit  einem  Unrecht!»  seufzte 
sie .  <  wie  peinlich !  —  Das  war  ein  unangenehmer 
Mensch !  5 

Endlich  sassen  sie  sich  gegenüber  mitten  zwischen 
Reisenden.  Das  war  weder  bequem,  noch  der  besonderen 
Lage  des  Paares  angemessen.  Aber  es  half  über  die 
trübe  Stimmung  hinweg. 


c Gnädige  Frau  haben  wohl  nichts  dagegen,  wenn 
ich  mir  eine  Cigarre  anstecke?»  frug  mit  einer  maje- 
stätischen Verbeugung  der  dicke  Handlungsreisende  zu 
ihrer  Linken.  Er  war  sichtlich  stolz  auf  den  Beweis 
guter  Erziehung  —  und  sie  nickte  ihm  mit  ihrem  sonnigen 
Lächeln  Bejahung  zu. 

«Er  merkt  nichts!»  flUsterte  sie  Ernst  in  einem 
unbeobachteten  Augenblicke  zu.  «Hast  Du  gehört,  er 
naimte  mich  gnädige  Frau!» 

«Wir  sind  aber  auch  sehr  vernünftig»,  sagte  sie 
nach  einer  Weile,  befriedigt  den  Gedanken  fort- 
spinnend. 

Auch  die  Anderen  machten  sich  die  Erlaubniss  zu 
gute.  Als  der  Zug  zum  ersten  Male  hielt,  erfüllte  schon 
ein  dichter  Tabaknebel  den  Raum.  Unser  Paar  war 
andauernd  verständig,  Sic  sprachen  von  Dem  und 
Jenem  und  vermieden  jedes  Wort,  das  wie  Hochzeit 
und  Hochzeitsreise  klang.  Ihre  Unterhaltung  war  sehr 
gebildet,  sehr  altklug.  Namentlich  die  Frage,  ob  es 
besser  und  billiger  sei,  sein  Gepäck  als  Guterfracht 
vorauszusenden ,  wurde  gründlich  in  einer  Weise  er- 
örtert dass  selbst  ein  Staatsanwalt  nicht  das  Verbrechen 
herausgehört  hätte,  dass  eben  zum  ersten  Male  diese 
Frage  «actuell»  geworden  sei. 

Der  Schaffner  öffnete  die  Schiebthüre. 

«Draussen  ist's  frischer»,  sagte  sie  und  erhob  sich. 
Ernst  blickte  sie  dankbar  an.  Sie  traten  in  den  jetzt 
leeren  Gang  und  fanden  bald  einen  Platz ,  an  dem  sie 
eine  Zeit  lang  ungesehen  zu  bleiben  hoffen  konnten. 

«Eis  ist  zu  dumm»,  fing  er  an,  «dass  der  Zug  so 
stark  besetzt  ist  Ich  hatte  mir  die  Fahrt  so  idyllisch 
gedacht  Aber  ich  will  Dir  jetzt  nur  gestehen,  dass 
ich  dafür  gesoi^  habe,  damit  der  heutige  Abend  um 
so  gemüthlicher  werde.  Ich  war  vor  einigen  Tagen 
heimlich  in  Breitenberg,  habe  zwei  hübsche  Zimmer 
bestellt,  dazu  ein  famoses  Essen:  ein  kaltes  Brathuhn, 
Salat,  Früchte,  eine  Flasche  Rothwein.  Alles  muss  auf 
dem  Tisch  stehen,  wenn  wir  kommen.  Bei  einem  Fuhr- 
mann habe  ich  einen  Wagen  gemiethet.  Sobald  also 
die  Gepäckrevision  auf  dem  Bahnhof  vorüber  ist,  steigen 
wir  in  unsere  Equipage  und  sind  in  zehn  Minuten  im 
Hotel.  Allen  Empfang  von  Kellnern  und  sonstigen 
befrackten  Neugierigen  habe  ich  mir  streng  verbeten. 
Wir  gehen  in  unser  Zimmer,  als  sei  es  in  unserm  Hause. 
Kein  Mensch  sieht  uns.  Dann  werden  wir  allein  sein, 
mein  liebes,  liebes  Kind!» 


c 

CO 

O 
> 

B 
Q 


o 

> 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


125 


Er  zog  sie  sanft  an  sich,  sie  widerstrebte  nicht 
mehr  und  blickte  mit  dem  Kopf  an  seine  Brust  gelehnt 
hinaus  in  die  vorbeirauschende  frühHngsfrische  Landschaft. 
Die  Berghöhen  glänzten  im  Abendroth,  im  Thale  lagen 
blaue  Schatten,  leichte  Nebel  zogen  über  den  breiten 
Fluss  hin  und  her.  Die  Flockenwolken  des  Himmels 
wie  der  glänzende  Wasserspiegel  leuchteten  im  Gelb 
schimmernden  Goldes.  Ihr  war  sehr  feierlich ,  sehr 
weich  zu  Muthe,  aber  sie  empfand  zum  ersten  Male 
an  dem  an  Anstregung  und  Aufregung  reichen  Tage 
das  Gefühl  von  Sicherheit  und  Geborgenheit  in  seinen 
Armen.  Dem  taktmässigen  Stossen  des  Wagens  folgte 
sie  im  träumenden  Geiste.  Es  schien  ihr,  als  gebe  es 
den  Rhythmus  des  Marsches  wieder,  den  der  Vetter  ge- 
spielt hatte,  als  man  vom  Hochzeitsmahl  in  das  gegen- 
über liegende  Zimmer  gezogen  war;  immer  wieder  die 
ersten  vier  Takte.  Sie  konnte  die  Weise  nicht  sobald 
wieder  los  werden! 

So  standen  sie  eine  ganze  Weile.  Auf  einmal  riss 
sie  sich  los. 

€  Da  weiss  wohl  der  Wirth  in  Breitenberg  Alles. 
Oder  was  hast  Du  ihm  gesagt?» 

Er  wollte  den  Arm  wieder  um  ihre  Taille  legen, 
sie  schob  ihn  aber  mit  ruhiger  Geberde  fort. 

c  Natürlich  habe  ich  ihm  Alles  gesagt.  Breitenberg 
ist  beliebt  als  erste  Staffel  in  den  Himmel  der  Ehe. 
Die  Leute  sind  das  schon  gewöhnt,  Hochzeitsreisende 
zu  bewirthen  und  verziehen  keine  Miene ,  wenn  man 
ihnen  den  Zweck  der  Reise  erzählt.» 

Sie  schwieg. 

cEs  war  viel  klüger,  Alles  geschäftsmässig  mit 
dem  Wirthe  abzumachen  .  .  .  . » 

<  Geschäftsmässig  r »  Sie  stiess  einen  tiefen 
Seufzer  aus. 

«Nun,  ich  meine  geschäftsmässig  für  ihn!  Er  ist 
ja  dergleichen  mehr  gewöhnt  als  Du  und  ich!» 

Sie  wand  sich  aus  seinen  Armen: 

«Pfui,  Du  machst  unfreundliche  Witze.  Und  das 
heute  schon. »  Nach  einer  schweigsamen  Pause  fuhr 
sie  fort:  «Wir  wollen  wieder  in  das  Coupe  gehen,  es 
fällt  sonst  auf! » 

« Ich  hätte  Dir  noch  so  viel  zu  sagen ! » 

«Aber  doch  nicht  hier?  Ach,  hätte  ich  gewusst, 
dass  das  Heirathen  so  ist ! » 

Sie  schritt  muthig  voran,  über  die  Beine  des 
Handlungsreisenden    weg,    der   schlafend   sich    über  die 


Grenzen  seines  Platzes  ausgedehnt  hatte ,  nahm  ihr 
Kleid  fest  zusammen  und  drückte  sich  in  das  frei  ge- 
bliebene Plätzchen.  Auch  Ernst  setzte  sich.  Der  Rauch 
war  dichter  geworden,  die  Lampe  brannte,  im  Coupe 
war  es  ganz  still,  kein  Wort  wurde  mehr  gesprochen. 
Nur  die  fauchenden  Athemzüge  des  Dicken  mischten 
sich  in  den  Gleichtakt  des  Wagenrasseins. 

Was  konnte  man  Schicklicheres  thun,  als  sich  auch 
schlafend  stellen.' 

Nur  einmal  wendete  sie  sich  an  ihn: 

« Willst  Du  nicht  rauchen  ?  » 

Es  that  ihr  leid,  er  sah  so  gut,  so  besorgt  und 
doch  so  hoffnungsvoll  aus,  er  nahm  Rücksicht  mit  den 
Nöthen,  die  sie  bedrückten ;  sie  schalt  auf  sich,  unliebens- 
würdig gegen  ihn  gewesen  zu  sein. 

«Mein  armer  Kopf!»  sprach  sie  vor  sich  hin,  «ich 
vermag  nicht  einmal  mehr  dankbar  zu  sein.  Wie  lange, 
lange  habe  ich  den  heutigen  Tag  ersehnt,  wie  haben 
die  Eltern,  die  Geschwister  sich  bemüht,  ihn  mir  so 
schön  als  möglich  zu  machen  I  Und  er  war  herrlich : 
die  Kirche,  der  Gesang,  Papa's  Rede  bei  Tisch,  die  so 
treu  gemeint  und  lieb  war,  Mama's  stete  Sorge,  die  Herz- 
lichkeit der  Schwiegereltern,  die  mich  mit  so  recht 
offenen  Armen  aufnahmen ,  Ernst  so  bescheiden ,  so 
zärtlich,  so  sorgsam  —  und  ich  habe  keinen  Gedanken 
im  Kopf  als  den  dummen  Marsch!» 

Sie  wischte  sich  die  Thränen  mit  ihrem  Tuche, 
das  sie  krampfhaft  seit  dem  Morgen  in  der  Hand 
gehalten  hatte. 

« Es  ist  doch  sehr  rauchig  hier !  t> 

Er  legte  die  Cigarre  wieder  fort,  die  er  eben 
angezündet  hatte,  —  und  sie  war  sehr  böse  auf  sich 
selbst. 

Als  wieder  Stille  eingetreten  war,  nahm  Ernst  ein 
Merkbüchlein  aus  der  Tasche ,  schrieb  den  Preis  der 
Fahrkarten  ein  und  zählte  sein  Geld  nach. 

« Das  Reisen  zu  Zweien  ist  theurer ! » 

Er  lächelte  über  seinen  geistvollen  Gedanken. 

Es  war  ganz  dunkel  geworden,  als  Ernst  lange  vor 
der  Zeit  das  Zeichen  zum  Aufbruch  gab  und  sich  und 
Anna  zum  Aussteigen  fertig  machte;  Breitenberg 
näherte  sich ;  alle  Mitreisenden  folgten  seinem  Bei- 
spiele. Nur  der  Dicke  schlief,  bis  der  Pfiff  die  Ein- 
fahrt in  den  Bahnhof  meldete.  Aber  er  wurde  noch 
bequem  zur  rechten  Zeit  fertig  und  lächelte  über- 
legen   als    der    Erfahrenere.      Die    Station    lag   jenseits 


126 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


der  Grenze  und  es  musste  allc-^ 

Gepäck     dem     Steuer  •  Beamten 

geöffnet  werden. 

Der  Revisionssaal   war,  wie 

derartige  Räume  sind:  kahl, 
nüchtern .  von  ärgerlichen ,  noch  halb  verschlafenen 
Reisenden  erfüllt,  die  sich  um  den  Platz  am  langen 
.■\bfcrtigungstische  stritten.  Die  Selbstsucht  in  rohester 
Form  macht  sich  hier  zwi-schen  Leuten  geltend ,  die 
eben  erst  die  Fahrt  zusammengeführt  hatte.  Jeder 
war  der  erbitterte  Feind  des  Andern ,  Jeder  rief  nach 
den  Beamten,  den  Gepackträgem,  vertheidigte  sein  Gut 
und  pries  es  als  zoll  -  unschuldig. 

Ernst  hatte  die  Sachlage  vorher  überlegt  und 
beschlossen ,  seine  grossen  Koffer  auf  dem  Bahn- 
hof stehen  zu  lassen.  Nur  das  Handgepäck ,  welches 
er  im  Gasthause  brauchte ,  breitete  er  auf  dem 
Tische  aus.  Er  hatte  nur  eine  bescheidene  Anzahl 
Cigarren  bei  sich,  erklärte  reinen  Gewissens,  dass 
nur  Wasche ,  nichts  Steuerbares  sich  im  Koffer  be- 
finde. 

<  Bitte,  offnen!     Was  ist  das  für  ein  Packet? I> 

t  Das  sind  meine  wollenen  Hemden.  Ich  trage 
Jäger : 

<  Aber  die  sind  ja  neu  1  Da  ist  ja  noch  die  Original- 
verpackung ! 

t  Natürlich ,  zur  Rei.se  nimmt  man  doch  neue 
Wäsche   mit  I 

<  .Aber  Sie  haben  doch  eben  erst  gesagt,  Sie  hätten 
nichts  Steuerbares!  > 


€  Leibwäsche  ist 
doch  nicht  steuerbar!  > 
<  Ach  was ,  das 
sind  Wollwaaren,  Ka- 
pitel so  und  so  viel 
des  Zolltarifs!  Warten 
Sie,  bis  die  Abfertig- 
ung  der  Uebrigcn  vor- 
über ist ! » 

Die  junge  Frau 
stand  hinter  ihm  und 
sah  ihn  ängstlich  an, 
aber  sie  lachte  auch 
wieder  fröhlich  mit 
ihm,    als    er    ihr    den 

Unglücksfall    unter 
lustig        übertriebenen 
Selbstanklagen  geschil- 
dert hatte. 

t  Komm,  ich  führe 
Dich  zum  Wagen!  > 

Der  bestellte  Kut- 
scher hielt  vor  dem 
Thore ,  begrUsste  die 
Ankommenden  und  öffnete  ihnen  den  Schlag.  Frau 
Anna  nahm  mit  den  freigegebenen  Gepack.stücken 
Platz,  während  Ernst  zum  Revisionsraume  zurück 
ging.  Er  war  entschlossen ,  Ein.spruch  zu  erheben, 
und  .sollte  er  bis  zur  höchsten  In.stanz  gehen  müssen. 
Nicht  umsonst  hatte  er  Ihering's  c  Kampf  um 's  Recht» 
gelesen ! 

<Sie  bleiben  in  Breitenberg?»  frug  der  Beamte. 
<JaU 

'  Dann  bitte  ich  Sie ,  sich  zu  gedulden ,  bis  die 
Weiterreisenden  alle  abgefertigt  sind !  '> 

Nach  einer  Viertelstunde  war's  leer  im  Saale, 
c  Sehen  Sie  > ,  sagte  der  Beamte,  vertraulicher  werdend, 
chatten  Sie  das  Packet  aufgemacht,  so  krähte  kein 
Hahn  darnach ,  ob  Ihre  Hemden  neu  oder  alt  sind ,  so 
aber  muss  ich  Sie  bitten,  mit  in  die  Kanzlei  zu 
kommen!  » 

Das  Studium  des  Steuertarifes  muss  ein  sehr  um- 
ständliches sein.  Es  dauerte  sehr  lange,  bis  die  Ge- 
lehrten in  Uniform  einig  wurden,  wie  der  schwierige 
Fall  zu  behandeln  sei.  Dann  wurde  das  Packet  ge- 
wogen,   ein    Schein    ausgefertigt,    musste    gezahlt    und 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


127 


quittirt,  der  Koffer  geschlossen  werden  —  und  er 
schloss  so  schlecht!  Die  Beschwerde  hatte  Ernst 
inzwischen  vergessen. 

»Was  die  arme  Frau  nur  in  ihrem  Wagen  treiben 
mag  ?  fru.,'  er  sich  mit  Zagen  und  stürmte ,  seinen 
Hut  schwingend,  endlich  frei,  in  schnellen  Sprüngen  die 
Bahnhoftstreppe  hinab,  so  dass  der  Gepäckträger  ihm 
kaum  zu  folgen  vermochte. 

Sie  -sass  in  einer  Art  Traum  da.  Schon  hatte 
man  die  Gasflammen  am  Bahnhof  ausgelöscht,  da 
der  Zug  längst  weiter  gefahren  war.  Die  breite  Bahn- 
hofstrasse war  menschenleer.  Um  so  mehr  aber  war 
sie  erfüllt  vom  vollen  Licht  des  Mondes,  das  in 
weissen  Fluthen  sich  um  die  Hecken  und  jungen  Allee- 
bäume legte  und  über  den  Strassendamm  sich  wie 
ein  Milchstrom  ergoss.  Die  kleinen  villenartigen 
Häuser  glänzten  freundlich  im  bläulichen ,  duftigen 
Zwielicht.  Hier  und  da  belebte  rothes  Lampenlicht 
aus  den  Fenstern  die  schweigende  Herrlichkeit  der 
Mondnacht. 

Die  Ruhe  that  ihr  so  wohl!  Nun  erst  empfand 
sie,  wie  das  Lärmen  des  Zuges  ihre  bräutliche  Stimmung 
vernichtet,  sie  vom  Geliebten  fem  gehalten  hatte,  wie 
widrig  die  aufgezwungene  Gesellschaft  schlafender  und 
schnarchender    Männer    ihr    stilles   Glück  gestört  hatte. 


Sie  war  ehrlich  müde  von  den  Anstrengungen 
des  Tages,  von  den  Thränen,  die  sie  mit  den 
Freundinnen  schon  am  frühen  Morgen  geweint, 
als  sie  durch  ein  Ständchen  geweckt  wurde, 
von  der  süssen  Mühe  des  Schmückens,  vom 
Empfang  des  Bräutigams,  den  sie  mit  Schrecken 
sich  fern  stehend  empfunden  hatte,  gerade 
weil  er  mit  so  sicherm  Lächeln  von  ihrer  Hand, 
ihrem  Munde  Besitz  nahm ,  von  der  ganzen 
schmerzlich  frohen  Sorge  um  die  nahe  und 
lerne,  so  lang  ersehnte  und  doch  so  unklare 
Zukunft.  Dann  waren  die  Leute  des  elter- 
lichen Hauses  zu  ihr  gekommen,  sie  zu  be- 
wundern ;  man  hatte  die  überreichen  Geschenke 
gebracht,  mit  denen  man  ihr  das  Scheiden  aus 
dem  alten  Kreise  versüssen  zu  wollen  schien; 
sie  hatte  grosse  Gaben  mit  herzlicher  Bewun- 
derung, und  kleine  mit  stiller  Rührung  entgegen- 
genommen. Alles  das  stand  ihr  klar  vor  den 
sich  halb  schliessenden  Augen.  Ihr  voller  Mund 
lächelte  im  glücklichen  Traume.  Und  aus  dem 
schwankenden  Weiss  des  Mondlichts  glaubte  sie  die 
eigene  Gestalt  sich  entwickeln  zu  erkennen,  das  weisse, 
die  zierliche  Brust  fest  umschliessende  Seidenkleid,  den 
wallenden  Schleier,  der  sich  über  die  Zitternde  legte,  als 
sie  gesenkten  Hauptes  das  grüne  Myrthenreis  von  der 
Hand  der  Freundinnen  entgegennahm.  Und  dann  er- 
tönte es  wie  Orgel  um  sie,  viel  Menschenstimmen,  Grüssen, 
Nicken  im  feierlichen  Raum ,  den  sie  an  seinem  Arm 
durchschritt.  Tante  Minna,  die  Vertraute  ihrer  kleinen 
Jugendsünden  und  ihrer  grossen  Liebe  für  ihn,  warf  ihr 
triumphirend  eine  Kusshand  zu  ...  . 

«So,  nun  los,  Kutscher! »  tönte  es  plötzlich  neben  ihr. 
«Das  war  eine  ärgerliche  Geschichte!»    fuhr  Ernst 
fort,  indem  er  sich  auf  seinem  Platz  im  Wagen  zurecht 
setzte.     «Hast  Du  Dich  gefürchtet,  liebes  Kind.^» 

Er  nahm  sie  in  den  Arm,  sie  rückte  sich  wohnlich 
an  seine  Brust,  schwieg  lange,  bis  sie  ihm  mit  einem 
Kusse  um  den  Hals  fiel. 

« Ich  bin  so  namenlos  glücklich  1 » 
Der  kleine  Wagen  fuhr  durch's  Städtchen,  Er 
rumpelte  bedenklich  auf  dem  Pflaster,  aber  die  menschen- 
leere stille  Stadt  sah  so  freundlich  aus  in  den  scharfen 
Schlagschatten  und  Lichtern  des  Mondes,  so  malerisch 
und  romantisch.  Und  dann  ging's  über  den  Strom  auf 
breiter  Kettenbrücke. 


128 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wie  die  Wasserfläche  blitzte  und  spiegelte,  wie 
so  klar  und  rein  der  Mond  am  Himmel  stand!  Und 
weiter  gings,  am  Ufer  hin! 

( In  fünf  Minuten  sind  wir  im  Hotel  I  > 


Der  Wagen  hielt,  das  hübsche  villenartige  Haus 
lag  im  tiefen  Dunkel.  Nachdem  der  Kutscher  abge- 
lohnt war,  standen  die  beiden  Reisenden  allein  auf  der 
dunklen  Uferstrasse  und  mussten  ihren  kleinen  Kofier 
selbst  die  Treppe  zum  Hotel  hinauftragen. 

Der  Hausflur  war  leer,  nur  eine  kleine  Lampe 
brannte.  Nebenan  hörte  man  Stimmen  aus  der  Gaststube. 

Ernst  trat  dn. 

Mit  einer  V^erbeugung  kam  der  geschmeidige  Wirth 
auf  ihn  zu,  nachdem  er  ihn  verwundert  betrachtet  hatte. 

<Wo  kommen  Sie  denn  noch  her.'> 

c  Nun,  ich  habe  doch  für  heute  Zimmer  bestellt  I  > 

cja  freilich,  die  sind  aber  eben  vergeben.  Sie 
sind  ja  nicht  mit  dem  Nachtzuge  gekommen.  > 

Nur  zu  bald  stellte  sich's  heraus,  durch  die  Ver- 
spätung am  Zollschalter  war  alles  Unheil  gekommen; 
der  Wirth  hatte  angenommen,  die  Reisenden  waren 
nicht  eingetroffen,  hatte  seine  letzten  Zimmer  vergeben. 
Er  selbst  war  in  Verlegenheit.  Die  Gäste  an  den 
Stammtischen  begannen  auf  das  Gespräch  zu  achten, 
ein  Einheimischer  erhob  sich  und  sagte : 

<  Im  Hotel  Weber  ist  vielleicht  noch  Platz !  > 

Ein  anderer  schlug  ein  besseres  Hotel  vor.  Die 
Angelegenheit  wurde  zur  öffentlichen. 

Die  junge   Frau   wartete   inzwischen  draussen ,  bis 
zufällig   ein   Kellner    kam,    der   alsbald    auf  die    Hötel- 
glocke  losstürzte  und   ein    wahres  Sturmläuten  begann. 
Ueberall  flogen  Thüren  auf,  zwei  weitere  Kellner, 
der  Portier  erschienen;    das  Stubenmädchen   war 
neugierig  die  halbe  Treppe  herab  gelaufen,    um 
zu  sehen,  was  geschehen  sei. 

«  Gnädiges  Fräulein  befehlen  ?  > 

cWas  steht  zu  Diensten.' > 

Ein    befrackter    Uebereifriger  riss    die   Thur 
zum  Gastzimmer  auf 

€  Vielleicht  einzutreten  gefällig?!» 

Sie  flüchtete  an  die  Seite  ihres  Gatten ,  unfähig,  ein  Wort  vor- 
zubringen und  stand  nun  im  raucherfüllten  Räume  inmitten  einer 
gaffenden,  eifrig  rathenden  und  neugierig  forschenden  Gesellschaft. 

it  Ich  werde  sofort  bei  Weber  nachfragen  la.ssen  I  >   sagte  der  Wirth. 

i  Ist  inzwischen  vielleicht  ein  Glas  Bier  gefälligt,  rief  der  Kellner 


dazwischen,  4  wollen  die  Herrschaften  nicht  Platz  nehmen?  > 
Den  Koffer  und  die  Mäntel  hatte  er  den  Unentschlossenen 
schon  abgenommen,  s^hon  schob  er  einen  Stuhl  mit 
ungeduldiger  Geberde  zurecht. 

cWas  bleibt  uns  übrig >,  sagte  Ernst,  class'  uns 
ein  Glas  Bier  trinken.  > 

€  Aber  Ernst ,  eine  Dame  allein ,  hier  I  ?  >  Thränen 
traten  ihr  in  die  Augen. 

€  Im  Hausflur  können  wir  doch  auch  nicht  bleiben !  > 
Und  nun  ergoss  sich  aus  Emst's  Munde  ein  Donner- 
wetter über  das  Haupt  des  Wirthes. 

Die  Gäste  des  Stammtisches  suchten  die  Reisenden 
zu  trösten. 

(Siebekommen  schon  noch  ein  Zimmer,  der  Wirth 
sorgt  schon  dafür !  > 

(Hotel  Weber  hat  sehr  gute  Betten*,  sagte  ein 
junger  Schwerenöther  und  zwinkerte  pfiffig  mit  den  Augen. 

Anna  war  empört,  sie  wollte  aufstehen  und  diese 
aufdringlichen  Menschen  verlassen,  sass  sie  doch  nur 
auf  dem  äussersten  Ende  des  Stuhles. 

Sie  berührte  keinen  Tropfen  des  freundlich  blinken- 
den Bieres,  ja,  es  gab  ihr  einen  Stich  in's  Herz,  als 
Ernst  hastig  einen  Schluck  trank  und  sich  nicht  ohne 
Befriedigung  den  Schnurbart  wischte. 

«Wofür  mich  die  Leute  nur  halten  mögen ?>  Sie 
zog  nicht  ohne  Mühe  den  engen  Handschuh  von  der 
Rechten  und  spielte  mit  dem  Trauring. 

( Wenn  er  nur  nicht  so  funkelneu  wäre.  > 

Hastig  zog  sie  den  Handschuh  wieder  an. 

Endlich  kam  der  Wirth  mit  befriedigter  Miene 
zurück.  Das  Zimmer  war  gefunden,  berichtete  er  unter 
Händereiben,   nur  ftlnf  Minuten  Wegs.      Das   b&stellte 


ü 
:Gd 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


129 


&  •uam«Vit.4 


Abendbrod  war  auch  schon  dorthin  gesendet  worden. 
Mit  vielen  Kratzfüssen,  sich  nochmals  entschuldigend, 
lobte  er  das  Nachbarhaus,  c  Sie  sind  dort  gut  aufgehoben  ! » 

Endlich  brachen  sie  auf. 

cGute  Nacht!  FeHcissima  notteü»  klang's  vom 
Stammtisch,  theils  mitleidigen,   theils  neckenden  Tones. 

Als  die  Thür  geschlossen  war,  hörte  man  noch  das 
herzhafte  Lachen  der  erheiterten  Gäste. 


Anna  weinte  an  Ernst' s  Arm. 
« Es  ist  zu  entwürdigend ,  in  seinen  schönsten 
Empfindungen  zum  Gegenstand  der  Neugierde,  des 
Gespöttes  zu  werden.  Ich  mache  Dir  keinen  Vorwurf, 
lieber  Ernst,  Du  bist  schuldlos,  ganz  schuldlos.  Du 
hast  es  so  gut  gemeint.  Aber  meine  Stimmung  hat 
einen  Riss  bekommen,  einen  hässlichen  Riss.  In  den 
milden  Schein  unseres  Glückes  haben  sich  kalte,  frivole 
Menschen  hineingedrängt!  Wie  schön  war's  in  der 
Mondnacht !    Mit  Dir  allein !  » 

Es  war  schwer,  sie  zu  trösten;  er  sagte  ihr  viel 
Liebes  und  Gutes,  hielt  sie  fest  im  Arm  und  drückte 
sie  heftig  an  sich,  als  der  mit  Koffer  und  Laterne 
vorausgehende  Kellner  gerade  um  eine  Ecke  gebogen 
war.  Der  Weg  ging  durch  Gärten,  die  Rosen  dufteten 
und  der  schwere  Hauch  des  Jasmin  erfüllte  die  milde 
Luft.  Schöne  Ausblicke  auf  den  murmelnden  Strom 
zur  Seite  hielten  sie  auf  kurze  Zeit  fest. 

Den  Kellner,  der  seinerseits  geschwätzig  sich   in 
ihre  Angelegenheiten  einzumischen  suchte,  wies  Ernst 
mit  einem  entschiedenen  Worte  zur  Ruhe : 
«  Sie  sind  nicht  gefragt !  » 

Er  ging  mürrisch  und  rasch  seinen  Weg  und 
sah  sich  gelangweilt  nach  dem  nun  umschlungen 
wandelnden  Paare  um ,  sobald  dies  ihm  nicht  in 
.tjleichem  Schritte  folgte. 

Endlich  waren  sie  an  Ort  und  Stelle. 
«  Nicht  übel ! »  sagte  er,  «  ein  Zimmer  mit  Balkon !  » 
Sie  trat  wieder  hinaus  in  die  freundlich  helle  Nacht. 
tUnd  hier  das  Schlafzimmer.  Es  ist  doch  Alles 
sauber!:»  Mit  der  Sicherheit  eines  Reisegewohnten 
musterte  er  die  Räume. 

«  Nun,  schnell,    decken ! » 

Es  dauerte  wohl  zehn  durch  das  Warten  ärgerlich 
verlängerte  Minuten ,  ehe  Stubenmädchen  und  Kellner 
sich  verabschiedeten.  Die  Lampe  brannte  dann  aber 
auch  gemüthlich;  das  kalte  Huhn  streckte  lockend 
zwischen  Salatschüsseln  die  braunen  Schenkel  in  die 
Höhe;  neben  der  Flasche  Rothwein  lag  der  schön  ver- 
nickelte Korkzieher;  der  Tisch  war  mit  reinlichem 
Weiss  gedeckt. 

«So,  endlich!  Komm  herein  und  sei  Hausfrau,  mein 
lieber  Schatz ! » 

« Es  wäre    mir   unmöglich ,    einen  Bissen   zu  essen ! 
Ich  bin  sehr  müde  und  abgespannt.  » 

Alles   Zureden   half  nichts.     Sie   lehnte   das   Mahl 


17 


130 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ebenso  entschieden  ab,  wie  seine  Zärtlichkeit.  Auch 
der  Wein  blieb  unauTgekorkt  stehen. 

c  Willst  Du  nicht  zur  Ruhe  gehen  ?>  frag  er  zärt- 
lich besorgt. 

Sie  ging  auf  das  Schlafztuuner  zu  und  hielt  ihn 
vom  Eintritt  zurück. 

«Bitte,  bitte,  Utas  michl  Nur  heute,  nur  jetzt. 
Die  Ankunft  hier  war  so  schrecklich  1  Du  liebst  mich, 
Ernst,  nicht  wahr.  Du  liebst  mich  —  ich  habe  heute  so 
viel  erlebt  —  ich  muss  mit  mir  allein  bleiben,  mich 
sammeln !  >  flehte  sie,  indem  sie  sich  an  seinen  Hab  hing. 
Er  trat  zögernd  zurück.  Sie  schloss  hastig  die  ThUre 
von  innen  mit  doppeltem  Riegel. 

«Geh'  zu  Bette,  lieber  Schatz,  es  ist  bald  Mitter- 
nacht, Du  bist  müde  und  nerväs»,  rief  er  ihr  noch  zu. 

Er  hatte  auch  keinen  rechten  Hunger.  Das  Abend- 
brod  blieb  unberührt.  Er  stand  klopfenden  Herzens 
mitten  im  Zimmer.  So  wartete  er  fünf,  zehn  Minutca 
Es  war  ganz  still  im  Hause  geworden.  Dann  begann 
er  ruhig  den  Koflfer  auszupacken  und  schloss  die  Fenster. 
Drausscn  wurde  es  kühl,  die  Nebel  zogen  vom  Fluss 
herauf  Mit  einem  leichten  Frösteln  legte  er  bequemere 
Kleider  an  und  setzte  sich  auf  das  Sopha. 

Was  sollte  er  thun?  Anklopfen,  sie  im  Schlafe 
stören,  sich  in  ihr  Zimmer  eindrangen?  Das  wäre  un- 
ritterlich gewesen.  Aber  hier  spielte  er  eine  komische 
Rolle.  So  begann  er  denn  zu  philosophiren ,  weil  er 
es   liebte,    mit  seinen  Gefühlen  ins  Klare  zu  kommen. 

So  eine  Hochzeit  mit  ihren  nicht  immer  zarten 
Scherzen,  ihrem  Lärm  und  Anstrengungen  ist  ein  mittel- 
alterlich roher  Brauch.  Ist's  nicht  schöner,  sich  im 
Sturm  der  Leidenschaft  an  einander  zu  verlieren,  als 
kalten  Blutes,  unter  den  Augen  zum  Spott  Geneigter 
ein  junges,  zitterndes  Wesen  dem  Manne  preiszugeben, 
welches  im  besten  Falle  nicht  weiss,  was  es  thut. 
Gerade  weil  der  Tag  lange  vorher  ausgewählt ,  die 
Feste  vorbereitet,  die  Ner\en  hingehalten  sind,  er- 
scheint die  Hochzeit  im  Geiste  der  Unverdorbenen  als 
ein  lang  gefürchtetes  Gespenst,  der  Bräutigam  als 
ein  schleichender,  mit  seiner  Beute  wie  eine  Katze 
grausam  spielender  Feind.  Die  Ehe  gibt  nicht  Rechte, 
sie  erhöht  nur  die  Anwartschaft,  Bitten  zu  stellen.  Die 
Werbung  soll  eigentlich  erst  mit  der  Trauung  beginnen. 
Denn  dem  Gewähren  sollte  das  Erkennen  vorausgehen. 
Ist  s  denn  recht  und  edel,  dem  Weibe  eine  Gabe  ab- 
zuringen, deren  Werth  sie  noch  nicht  ganz  zu  erfassen 
vermag?     Der  Mann,  welcher  glaubt  fordern  zu  dürfen, 


hat  die  Achtung  eines  wahrhaft  jungfräulichen  Wesens 
schon  eingebüsst.  Denn  die  Seele  eines  Mädchens 
ändert  eine  Stunde  Predigt  und  ein  kirchlicher  Segen 
nicht.  Was  sie  gewähren  will,  muss  frei  im  Augen- 
blicke der  völligen  geistigen  Hingabe  geboten  werden, 
soll  es  den  höchsten  sittlichen  Werth  haben.  Ein  solcher 
Augenblick  muss  in  opfen^'illiger  Liebe  erdient,  in 
Geduld  abgewartet  werden ,  will  man  nicht  mit  einer 
Banalität  seine  Ehe  beginnen  I  —  Nie  war  ihm  der  heutige 
Tag  ernster,  feierlicher  erschienen. 

Er  streckte  sich  auf  dem  Sopha  aus  und  breitete 
eine  Reisedecke  über  sich.  Die  Lage  war  aber  nicht 
eben  bequem.    Hötelsopha's  sind  kurz  und  Ernst  ist  langt 

Das  liebe  Kind  schläft.  Schlafe  ruhig,  mein  Engel, 
du  hast  ddn  liebes  Ich  in  die  Hand  eines  Mannes 
gegeben,  der  das  Geschenk  zu  ehren  weiss.  Ich  liebe 
dich  nun  mehr  als  je,  stürmischer,  glühender  seit  dieser 
Nacht  der  Selbstprüfung,  seit  ich  weiss,  dass  ich  nun 
erst  recht  um  dich  zu  kämpfen  habe.  So  missglückt 
diese  Hochzeitsreise  bisher  war  —  ich  mache  nie  wieder 
eine  —  so  soll  sie  doch  zu  deinem  Nutzen  ausschlagen. 
Du  solbt  mich  kennen  lernen,  durch  das  tägliche  freund- 
schaftliche Beisammensein  meine  zarte,  aufopfernde  und 
doch  so  heisse  Liebe  verstehen  lernen  und  erst  wenn 
du  ganz  mit  deinem  Herzen  einig  und  ganz  seelisch 
mit  mir  verwachsen  bist,  dann  — 

Er  sprang  wieder  auf  und  ging  im  Zimmer  hin 
und  wieder.  Vorher  zog  er  die  Stiefel  aus,  um  durch 
ihr  Geräusch  sie  nicht  zu  stören.  Nach  einer  Weile 
sah  er  auf  die  Uhr. 

Halb  einsl 

Er  blickte  sich  im  Zimmer  um.  Es  blieb  nichts 
übrig,  als  auf  dem  Sopha  zu  schlafen.  Endlich  bcschloss 
er  einen  Lchnstuhl  für  die  FUsse  anzurücken.  Das  ist 
freilich  sehr  lächerlich  und  etwas  beschämend,  sagte 
er  zu  sich  selbst,  aber  was  hilft's? 

Sie  wird  nicht  von  diesem  Abende  mit  Anderen 
sprechen,  sie  wird  sich  nicht  rühmen,  mein  Ungestüm 
gebändigt  zu  haben.  Ist  doch  der  grössere  Sieg  auf 
meiner  Seite.  Ihrem  sittlich  empfindenden  Herzen  wird 
dies  später  einmal  mit  doppelter  Gewalt  bewusst  werden. 
Sie  wird  und  muss  mir  für  diese  Schonung,  dieses  Zart- 
gefühl dankbar  seini 

Inzwischen  zitterte  die  kleine  Frau  im  Nebenzimmer 
vor  Angst :  Allein,  ganz  allein  in  einem  fremden  Gasthaus I 
Sie  hüllte  sich  schaudernd  in  ihre  Bettdecke.  Und 
welches  Unrecht  gegen  Ernst,  der  sich  erkälten  muss! 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


131 


Wenn  sie  ihm  nur  auch  ihre  Reisedecke  hinaus 
reichen  könnte.  Und  dazu  die  Sorge,  gleich  am  ersten 
Abend  launenhaft  und  ungezogen  gewesen  zu  sein. 
Aber  sie  konnte  ihn  doch  nicht  hereinbitten.  Noch 
nie  hatte  ein  Mann  ihr  Mädchen-Zimmer  betreten;  sie 
-schämte  sich  grenzenlos  bei  dem  Gedanken,  dass  sie 
ihn  nun  rufen  solle. 

Zweimal  war  sie  aufgestanden,  um  leise,  ganz  leise 
die  Riegel  wieder  zu  öffnen. 

Aber  sie  wagte  es  nicht.  Wenn  er  sie  überraschte, 
ehe  sie  wieder  sich  unter  schützende  Hüllen  gerettet  hätte  1 

Nein,  dem  konnte  sie  sich  nicht  aussetzen! 

Plötzlich  trat  ein    grosses  Ereigniss   ein.     In  einem 
Zimmer  nebenan  wurden  Geräusche  laut.    Schwere  Tritte, 
dann    Plantschen    mit    Wasser,    gurgelnde    Missklänge, 
Husten  und   Prusten.     Eine  Thür 
wurde    geöffnet    und    man    hörte 
deutlich    zwei  Stiefel   im  Hausflur 
niederpoltern,  dann  fiel  die  Thür 
krachend  ins  Schloss.    Endlich  ein 
tiefes  Aufseufzen  des  benachbarten 
Bettes  unter  schwerer  Last. 

Noch  nie  hatte  Anna  solche 
Angst  empfunden.  Sie  begann  sich 
ha.stig  wieder  anzukleiden.  Als  sie 
halb  fertig  auf  dem  Bettrande  sass, 
vernahm  sie  noch  Schrecklicheres. 
Lang  gezogene,  furchtbare  Töne 
in  unregelmässiger  Folge,  als  wenn 
nebenan  in  einem  Riesenkessel 
Erbsen  gekocht  würden  oder  eine 
Riesenkatze  fauchte. 

Mit  hastender  Eile  vollendete  sie  ihren  Anzug. 
Nur  in  die  neuen  Reisestiefel  vermochte  sie  nicht  hinein 
zu  schlüpfen,  so  sehr  sie  sich  mühte;  desshalb  verbarg 
sie  sie  unter  dem  Bette,  das  sie  leise  und  sorgsam 
wieder  in  seinen  alten  Stand  versetzte.  In  wenig 
Minuten  hatte  ihre  wirthschaftlich  geschulte  Hand  jede 
Spur  ihrer  Anwesenheit  im  Zimmer  entfernt.  So  mit 
ihrem  ehrlichen  Tagesgewand  gewappnet,  horchte  sie 
wieder.  Die  Töne  waren  in  ein  grässliches  Pfeifen 
umgeschlagen.  Sie  hörte  deutlich  die  Klagelaute  eines 
Erstickenden.  Eine  namenlose  Furcht  packte  sie,  so 
dass  sie  Rettung  suchend  an  die  verschlossene  Thüre 
floh.  Dort  legte  sie  ihr  Ohr  an,  um  zu  hören,  ob  sie 
von  Ernst  etwas  vernehmen  könnte. 

Tiefe  Stille. 


Sollte    er    fortgegangen    sein,    sie    allein    gelassen 
haben?     Sie    könnte    ihm    darüber    nicht    böse  werden, 
denn  sie  war  es  ja,  die  ihn  von  sich  stiessl 
Schnell  war  der  Entschluss  gefasst. 
Sie  klopfte  an. 

«Anna!»  rief  es  von  innen  im  freundlichsten  Ton. 
«Kann  ich  herein  kommen,  lieber  Ernst?» 
«Gewiss,  mein  Kind!» 

Sie  trat  ein.    Beide  sahen  sich  lange  an,  er  erstaunt, 
sie  völlig  angezogen  zu  treffen,    sie   tief  erröthend  und 
forschend,  ob  sie  bei  ihm  Hilfe  oder  Spott  finden  werde. 
«Hast  Du  gehört?» 
«  Was  ? » 
«Nebenan! » 
«Nun,  was  denn?» 

«  Da  ist  Einer !  » 

«Wo?»  Ereilte  mit  langen  Schritten 
n's  Schlafzimmer,  um  den  Eindringling 
niederzuschmettern. 

Alles  war  still. 
Endlich  hörte  er  den  Schlafen- 
den und  lachte: 

«Der  thut  Dir  nichts!» 
Er   zog  sie   zu  sich  auf  den 
Schooss,    um  sie  zu  trösten.     Sie 
folgte  ihm  gern,  weil  sie  die  Füsse 
so  unter  die  weit  herabhängende 
Decke    des   Tisches   stecken  und 
ihm    den    Mangel    an    ihrem   Anzug    ver- 
bergen konnte. 

Während  er  sie  nun  tröstete,  ihr  Muth 
einsprach,  dann  ihr  seine  Grundsätze  mit 
stolzen  Worten  auseinander  setzte,  von  seiner  tapferen 
Entsagung ,  von  seiner  festen  Absicht  sprach ,  ihre  Ge- 
fühle zu  schonen,  ihr  zuredete,  zur  Ruhe  zu  gehen,  da 
er,  wie  Cherubin,  rein  und  aufopfernd  an  ihrem  Lager 
wachen  werde;  während  dieser  langen,  im  eindringlichen 
Flüsterton  gesprochenen  Rede  hatte  sie  zerstreut  an  dem 
lockenden  Hühnchen ,  welches  noch  so  unbei'ührt  auf 
dem  schön  gedeckten  Tische  lag,  mit  spitzen  Fingern 
herumgezupft,  bis  ein  Stück  braun -knusprige  Haut  ab- 
gegangen war. 

Das  steckte  sie  ihm  in  den  beredten  Mund  ".md 
versiegelte  das  Geschenk  mit  einem  herzhaften  Kuss. 
Sie  hatte  nämlich  gefühlt ,  dass  er  auch  keine  Stiefel 
anhatte  und  das  gab  ihr  plötzlich  ihren  Muth  und  ihre 

Lebenslust  wieder. 

17* 


182 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


€  Hast  Du  Hunger,  mein  Schatz  ?  *  fragte  er  erstaunt. 

Mit  rascher  Wendung  war  sie  an  die  andere  Seite 

des   Tisches   gelangt   und   begann  statt  jeder  Antwort 

das  Hühnchen    kunstgerecht   zu   zerlegen  und  ihm  wie 

sich  ein  paar  Stücke  auf  die  Teller  zu  l^en. 

cNimm!»  sagte  sie  ...  .  dch  habe  mich  so  ge- 
fürchtet, allein  mit  einem  Manne  zu  reisen  —  aber  so 
gefällt  mir's  ganz  gut!> 

Er  bedurfte  nicht  des  Zuredens,  um  die  Flasche 
zu  entkorken.  Nach  einigen  Minuten  war  der  Schnarcher 
vei^essen  und  floss  Beiden  das  harmloseste  Gespräch 
von  den  Lippen.  Sie  stiessen  wacker  miteinander  an, 
auf  die  Zukunft,  auf  glückliche  Reise,  auf  frohe  Wieder- 
kehr in  die  Vaterstadt.  Sie  scherzte  und  lachte  heiter 
Über  die  Erc^isse  des 
Tages.  Das  gelockerte 
Haar  hing  ihr  bald 
bacchantisch  um  den 
Kopf,  sie  war  voller 
Witz  und  Neckerei. 

c  Hast  Du  die 
Scherze  der  Kranzchen- 
freundinnen in  ihrer  Auf- 
führung verstanden?  Du 
sollst  immer  hübsch 
achtsam  auf  Deine 
kleine  Frau  sein  und 
nicht  mit  ihr  umgehen 
wie  mit  einem  Kneipbruder.  Immer 
hübsch  zuvorkommend,  nicht  wahr? » 

€  Nun .    ich    habe    mich    doch  'J^' 

schon     als     Bräutigam     musterhaft 
benommen  I » 

<Es  ging  an,  aber  Du  hast  noch  viel  zu  lernen, 
Du  guter,  guter  Mann.  Weisst  Du  jetzt,  warum  ich 
in  Seedorf  so  böse  war?» 

(Ich  habe  es  nie  ergründen  können!» 

c  Weil  Du  aus  der  Droschke  gestiegen  warst,  gezahlt 
hattest  und  darüber  vergassest,  mir  aus  dem  Wagen 
zu   helfen!» 

t  Und  auf  solche  Kleinigkeiten  achtest  Du  so  sehr?» 

ija,  so  macht's  Onkel  auch  und  das  sieht  so  schlecht 
vor  den  Leuten  aus.  Tante  hat  mir  immer  leid  gethan, 
so  gut  sie  es  sonst  auch  hat.  Als  ob  Du  Deine  Frau  nicht 
liebtest  und  achtetest,  und  das  thust  Du  doch,  nicht  wahr !  > 

Er  bekräftigte  es,  indem  er  ihr  die  Hand  über 
den    Tisch    entgegen    streckte,    in    die  sie  herzhaft  ein- 


schlug. Sie  spottete  über  ihre  Angst,  über  die  Stamm- 
gaste, über  die  Unbilden  der  Reise.  Er  aber  verschlang 
ihre  Gestalt  mit  den  Augen,  entzückt  von  ihrem  frauen- 
haften Walten,  das  zu  ihrem  kindlichen  Plaudern  so  reizend 
stand,  so  dass  er  sich  nicht  halten  konnte  und  sie 
wieder  auf  seinen  Schooss  zog. 

Da  kam's  heraus,  dass  auch  sie  keine  Stiefel  anhatte. 
Er  wurde  darüber  fast  närrisch  vor  Freude,  nahm  ihre 
Füssc  in  die  Hand  und  drückte  sie  mit  zarter  Gewalt.  Sie 
.schämte  sich  zwar  sehr,  dass  ihr  Fehler  entdeckt  sei, 
versteckte  sich  aber  an  seiner  Brust,  während  er  ihre 
Stirn  und  ihren  Hals  mit  Küssen  überschüttete.  Dort 
hielt  sie  sich  ganz  still,  doch  fest  an  ihn  gedrängt. 
Endlich  riss  er  sich  auf. 

Das  Huhn  war 
verspei-st,  der  letzte 
Tropfen  Wein  ausge- 
trunken, alle  Schüsseln 
waren  leer. 

«  Kind  »,  sagte  er 
mit  ernster  Würde,  c  es 
ist  halb  zwei  Uhr.  Du 
musst  nun  zu  Bette. 
Du  weisst ,  wie  ich 
Dich  liebe.  Ich  will 
das  schöne  unschuldige 
Band,  das  uns  jetzt  noch 
verbindet ,  nicht  zer- 
reis-sen.  Denn  ich  ehre 
Deine       mädchenhafte 

Zurückhaltung   und 

wünsche  jetzt  als  Dein 

Gatte,  und  merke  wohl, 

das  ist  so  viel  wie  Gebieter!    dass  Du  zur  Ruhe  gehst. 

Ich    selbst    habe  mich  entschieden,    mich  für  heute  auf 

das  Sopha  zu  betten.     So  will  ich's  haben!» 

Sie  stand  auf  und  sah  ihm  ängstlich  forschend  in's 
Gesicht.  Die  Röthe  stieg  ihr  höher  und  höher  bis  in 
die  Stirn,  die  sie  an  seine  Brust  schmiegte,  sich  ganz 
seiner  Umarmung  hingebend. 

Und  dann  fiel  sie  ihm  unter  Thränen  jauchzend 
um  den  Hals: 

<  Ich  danke  Dir,  Du  lieber,  guter.  Du  aufmerksamer 
Mann !  > 

Im  Nu  war  sie  verschwunden ,  die  Thüre  .schloss 
sich  hinter  ihr,  die  Riegel  schnappten  wieder  zweimal 
ins  Schloss. 


od 

x: 

o 

m 

0 
X 
a 

■+3 

N 

0 


® 
CO 

Co 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


133 


Ernst  stand  lange  da  und  starrte  die  verschlossene 
Thüre  an.  Darauf  sah  er  sich  um,  als  wolle  er  sich 
überzeugen,  dass  er  nun  wirklich  allein  sei.  Kopf- 
schüttelnd nahm  er  die  Brille  ab,  legte  sie  auf  den 
Tisch.  Dann  rückte  er  sich  sein  Sophalager  wieder 
zurecht.  Zwischen  jedem  dieser  Unternehmen  machte 
er  eine  Pause,  indem  er  aufmerksam  nach  der  Thüre  sah. 

«Meine  Theorien  über  die  Ehe»,  so  sagte  er  halb- 
laut vor  sich  hin,  *sind  gewiss  sehr  fein  und  geistreich. 
Ich  weiss  zwar  nicht,  ob  sie  neu  sind  —  jedenfalls 
habe  ich  sie  aber  selbstständig  gefunden. » 

Ehe  er  die  Lampe  auslöschte,  hielt  er  noch  einmal 
inne ,  um  nach  der  Thüre  lange  und  unverwandt  zu 
blicken  und  eindringlich  zu  lauschen. 

Dann  legte  er  sich  und  rückte  sich  mühsam  auf 
dem  unbequemen  Lager  zurecht. 

«  Wer  aber,  um  Gottes  Willen  »,  sagte  er  nochmals 
zu  sich,  «hat  eigentlich  von  mir  verlangt,  dass  ich 
gerade  heute  geistreiche  Theorien  erfinden 

soll Die  ITieorie  ist  gut ,    aber 

nur   ein   rechter   Esel   konnte   sie 
erdenken !  »• 

Darauf  dämmerte 
er  in  .süsse  Träume 
hinüber. 


Ein  durch  die  leise 
und  langsam  geöffnete 
Thüre  dringender  Licht- 
strahl weckte  ihn.  Er 
sah   in  verschwimmen- 


den Umrissen,  wie  Kurzsichtige  eben  sehen,  etwas  wie 
einen  weissen  Arm  hervorragen. 

«Ernst»,  flüsterte  Anna,  «hier  hast  Du  noch  eine 
Reisedecke.  Die  Nacht  wird  kühl,  wickele  Dich  warm  ein ! » 

«  Und  dann  .  .  .  . »     Sie  schwieg. 

Nach  einer  Weile  fuhr  sie  schüchtern  fort :  « Der 
Herr  da  drüben  ist  wieder  so  laut.  Ich  darf  doch  die 
Thüre  etwas  offen  stehen  lassen  .  .  .  Du  bist  ja  so 
gut  und  lieb  —  und  ich  fürchte  mich  so  sehr  in  dem 
fremden  Haus.  Ich  habe  ja  Niemanden  als  Dich;  so 
kann  ich  Dich  doch  errufen  —  das  wird  mich  ruhiger 
machen.     Gute  Nacht,  schlaf  wohl.  Du  Lieber!» 

Und  der  Lichtstrahl  fiel  breiter  in  das  Zimmer, 
seit  der  Schatten  ihrer  zierlichen  Gestalt  wieder  aus  der 
Thürspalte  verschwunden  war. 

Ernst  richtete  sich  auf,  rieb  sich  die  Augen  und 
tappte  mit  der  Hand  über  den  Tisch,  seine  Brille  zu 
suchen  .... 


Am  anderen  Vormittag  war  die  ganze  Gegend  voll 
Sonnenschein    und    Lerchenschlag.     Im    kleinen  Wagen 
auf  dem  Wege  nach  den  Bergen  sass  singend 
und  lachend  ein  Paar,  eng  verschlungen, 
leuchtenden  Angesichts,  so  recht  mit 
weit  geöffneten  Herzen,  um  Gottes 
schöne  Welt  zu  geniessen.     Sie 
fuhren  neuen  Wundern 
der  Natur  entge- 
gen, voll  Lust  und 
Kraft,  des  Herrlichsten 
die    Fülle   in   sich  auf- 
zunehmen. 


^ 


-i^^*<~<r^ 


PLAUDEREI') 


vo» 


H.  E.  VON  BERLEPSCH. 


-  l^y^j^^-^^^l^^ 


diese  denn  doch  nicht  ewig,  Andere  treten  an  ihre  Stelle. 
Es  kann  sich  nur  darum  handeln,  einen  glücklichen  Griff 
zu  thun,  um  mit  einem  Schlage  Furore  zu  machen, 
und  ist  der  eine  glückliche  Griff  gethan,  dann  geht's 
wie  am  Schnürchen!  Man  ist  ein  gemachter  Mann 
und  lost,  wie  grosse  Industrielle,  nicht  blos  schöne 
Summen  aus  den  Hauptproducten,  es  laufen  auch  noch 
eine  Menge  Nebeneinkünfte  mit,  denken  Sie  doch  nur  an 
die  Vcrvielfältigungsrechte  I  Ich  weiss  es  bestimmt,  dass 
Einzelne  aus  diesen  ganz  allein  jährlich  Tausende  ziehen!  > 

<  Künstler  oder — Producenten  künstlerischer  VVaare  ?  > 

<  Nun,  doch  Künstler,  ja,  Künstler,  besonders  Maler, 
deren  Namen  durch  die  Reproduction  ihrer  Bilder  in 
die  ganze  Welt  getragen  wird  —  —  > 


*;  Bei  der  Beieichnung  der  Skizzen  und  Studien  aof  pag.  109  ff. 
iit  ein  unliebsamer  Fehler  passirt.  Alle  ab  t  Otto  Baisch  >  bezeich- 
neten Blätter  rühren  von  Prof.  Hermann  Baisch  in  Karlsruhe  her. 


eifelsohne  gehört  heute  ein  gewisser  Muth  dazu ,  Künstler, 
wirklicher  Künstler ,  werden  zu  wollen ,  wenn  nicht  die  Er- 
ziehung, die  sich  nicht  so  schlechtweg  wie  irgend  eine  <  Lehr- 
zeit >  abmachen  lässt,  durch  eine  wirkliche  goldene  Basis 
gesichert  ist.  Für  wen  arbeitet  im  Grunde  genommen  der 
Künstler?  Wer  kauft  seine  handgreiflich  gewordene  An- 
strengung? Wer?  Vielleicht  der  Staat,  weniger  «vielleicht» 
Kunsthändler,  am  wenigsten  <  vielleicht  >  ein  Mäcen,  denn  die 
Letzteren  sind  wohl  die  seltenste  Species  unter  den  Menschen  1 
Kunstbegeistert  —  ach  ja,  das  sind  Tausende,  Abertausende, 
besonders,  wenn  die  Kunst  nichts  kostet,  aber  ihrer  Kunst- 
begeisterung  klingenden  Ausdruck  Gebende  —  —  Diogenes, 
zünde  hundert,  tausend  Laternen  an  und  hilf  suchen,  ob  wir 
in  der  ganzen  alten  Welt,  die  vor  lauter  Bildung  ausser  Rand 
und  Ikmd  geräth,  ein  Dutzend  wirklicher  Mäcene  finden!» 

cUnd  dennoch  werden  viele  Leute  mit  und  durch  die 
Kunst  und  die  Künstler  reich,  oder  wenigstens,  sagen  wir 
^'Ut  situirt»,  und  die  Künstler  —  ah  bah,  Pessimismus,  zu 
behaupten ,  sie  arbeiteten  umsonst  oder  höchstens  <  pour  la 
gloire  > !  Es  giebt  ihrer  denn  doch  eine  ganz  grosse  Reihe, 
die  ein  anständiges  Auskommen  haben,  regelmässig  ihre  Bilder 
verkaufen,  hohe  Preise  dafür  einheimsen,  und  schliesslich  leben 
<Pah  —  das  beweist  rein  gar  nichts.» 
c  Auch  nicht,  dass  das  Publicum  an  ihren  Arbeiten 
Gefallen  finde?» 

c  Damach  fragt  der  eigentliche  Künstler  überhaupt 
in  erster  Linie  nicht,  obschon  ich  glaube,  dass  Keiner 
etwas  dagegen  hat,  wenn  er  seine  Leinewanden  ver- 
kaufen kann,  statt  sie  allmählig  zu  einer  «Galerie  un- 
verkauften Genies»  anwachsen  zu  lassen.  Immerhin  giebt 
es  auch  Liebhaber  solcher  Umstände,  ja  Trübner  bei- 
spielsweise hat  dies  und  jenes  seiner  Bilder  zurück- 
gekauft. Aber,  wie  gesagt,  wenn  Einer  das  wahre  Zeug 
zum  Künstler  in  sich  hat,  so  arbeitet  er  eben  drauf  los, 
unbekümmert  darob,  ob  ihm  seine  Bilder  Vervielfältig- 
ungstanticmen  abwerfen  oder  nicht,  unbekümmert  selbst 
darüber,  ob  er  die  Bilder  verkaufe  oder  nicht.  Und 
Bilder  malen  —  Lieber,  das  kostet  immerhin  Geld, 
manchmal  viel  Geld!  > 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


135 


"  -A:- 


Ollo  Greiner.     Betrunkene. 


136 


DIE  KUNSl    UNSEKKR  /KU. 


«Ja,  Farben  und  Leinewand  bekommt  man,  wie 
ich  mir  sehr  wohl  vorstellen  kann ,  nicht  geschenkt, 
die  Ateliers  kosten  Micthe,  wenigstens  für  Jene,  die 
solcher  Räume  noch  bedürfen,  denke  ich  mir,  —  aber  die 
Pleinairisten  brauchen  das  wohl  nicht  mehr,  die  malen 
doch  Alles  kurz  und  klein  nach  der  Natur  und  wohnen 
überhaupt  gar  nicht  mehr  in  Städten  —  » 

«Was?  Die  brauchten  keine  Ateliers?  Wer  hat 
Ihnen  denn  das  gesagt  ?> 

«Nun,  ich  denke  es  mir  halt;  zum  Photographiren 

nach  der  Na- 
tur braucht 
man  ja  wohl 
kein  Photo- 
graphen- 
Atelier  ,  und 
da  viele  von 


Ihren  CoUegen  Photographie  und  Malerei  als  Eins  und 
Dasselbe  anschauen,  so  dachte  ich  mir,  ein  Atelier  zu 
haben,  sd  eigentlich  etwas  veraltetes ! » 

<  Man  kann  doch  nicht  immer  draussen  sein  und 
drausscn  malen,  wie  sollte  man  denn  da  mit  grossen 
Bildern  zurecht  kommen,  wo  es  immerhin  zuweilen  einiger 
Ueberlegung  braucht,  um  in's  Klare  zu  kommen  —  und 
schliesslich  —  schliesslich  muss  man  seinen  Raum  haben, 
wo  man  heizen  kann  und  —  > 

«Aus  dem  Gedächtniss  Dies  und  Jenes  ergänzen, 
wahrscheinlich,  oder?> 

«Ach  was,  ich  pfeife  d'rauf,  wie  etwa4  gemacht 
sei,  es  kommt  mir  blos  d'rauf  an,  ob  es  künstlerisch  sei 
oder  nicht,  fürs  Rubriciren  und  Systcmatisiren  können 
Andere  sorgen,  die  sich  manchmal  förmlich  um  eine 
Behauptung  und  deren  Widerl^ung  raufen,  wenn  es 
sich  um  den  Beweis  handelt,  dass  dies  oder  jenes  Bild 
vor  oder  nach  dem  Aschermittwoch,  vor  oder  nach  der 
Verehelichung  des  Künstlers  von  anno   Toback  gemalt 

worden  sei.  Für  die 
Welt  ist  das  schliesslich 
völlig  gleichgiltig;  wenn 
überhaupt    nur     etwas 


Ottt  GrtauT.     Portrmit  •  Studie  (Prof.  Lieien  M«yer). 


künstlerisch  werthvoll  ist,  dann  bleibt  mir  es  radical 
Wurscht,  ob  es  anno  1499  oder  anno  1899  gemalt  wurde. 
Denken  Sie  an  die  gottvolle  Leistung  von  Lautner  über 
Rembrandt,  bei  deren  Behandlung  es  sich  herausstellt, 
dass  unter  Umständen  auch  einmal  der  eine  oder  andere 
kritische  Kunst  -  Kapitalist  gründlich  Bankerott  machen 
kann.  Die  Geschichte  ist  ja  köstlich  —  ach,  wenn  man 
sich  nur  so  recht  von  Herzensgrund  über  alle  solche  Dinge 


freuen  könnte,  die  beinahe  aussehen,  als  wurden  sie  blos 
in  Scene  gesetzt,  um  irgend  einen  bisher  unbekannten 
Namen  für  Tage,  Wochen  in  den  Mund  Aller  zu  bringen ! 
Jch  rathe  Ihnen,  als  Gegenstück  zu  den  Lautner'schen 
Kühnheiten  die  kühle,  geistig  scharfe,  geradezu  ver- 
nichtende Arbeit  von  E.  W.  Moes  «Ein  moderner 
Herostrat»  zu  lesen.  Der  führt  eine  gute  Klinge  und 
weiss,     wo     die    körpergrossen     Achilles-Fersen     seiner 


CD 

:3 

CO 

Uh 

0 

TS 

c 

CD 

r— t 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


137 


Gegner  am  empfindlichsten  zu  treffen  sind.  Beim  «Volke 
der  Denker »  hat  nachgerade  eine  zeitgemässe  Thorheit 
mehr  Erfolg  als  überlegte,  ehrliche  Arbeit.  Jeder  Bettel 
hat  die  öffentliche  Meinung  für  sich  —  es  sei  denn,  dass  er 
Geld  koste.  Denken  Sie  nur  an  die  wirklich  beschämende 
Colonial-Bettelei  mit  einer  Lotterie.  Was  sollen  dazu 
Jene  sagen,  die  uns  für  eine  «grosse  Nation»  halten 

Uebrigens,  um  nochmals  auf  die  Kosten  zu  sprechen 
zu  kommen,  die  zuweilen  an  einem  Bilde  hängen,  haben 
Sie  den  reizenden  Aufsatz  von  Emile  Bergerat*)  über 
Rochegrosse  im  <  Gil  Blas  »  gelesen  ?  » 

<  Nein  » 1 

«Wollen  Sie  ihn  hören,  das  ist  wieder  einmal  un- 
verfälscht! Hören  Sie!  Der  Artikel  ist  überschrieben 
<  Un  Brave »  —  aber  er  hat  nichts  mit  jenem  dummen 
Bild  im  vorjährigen  Salon  zu  thun,  das  den  nämlichen 
Titel  trug  und  einen  Mann  zeigte,  der,  auf  der  Strasse 
niederkniend,  ganz  allein  auf  eine  anrückende  deutsche 
Colonne  schiesst  —  nein,  das  war  ein  patriotischer  Schafs- 
kopf, aber  nicht  « un  brave  » .     Bergerat   beginnt   dann : 

«Lass  Dir  sagen,  Du  practische  Republik,  dass  es 
auch  ausser  Jenen ,  die  zweifarbiges  Tuch  tragen ,  in 
Frankreich  Leute  gibt,  welche  den  Namen  eines  Tapfern 


*)  E.  B.  ist  derselbe ,   der   im  Salon    « Poil  et  Plume  >  als  Maler 
glänzte.     Sein  Figaro-Pseudonym  ist  <Caliban>. 


Otto  Grcintr.     Studie. 

verdienen,  ja,  eines  Tapfern  im  besten  Sinne,  denn  im 
Künstlerthum  unserer  Tage  liegt  wahrhaftiger  Heroismus, 
wenn  man  bedenkt,  dass  allein  schon  Muth  dazu  gehört, 
seine  Stoffe,  seine  Ideen  in  einer  Zeit  zu  verarbeiten, 
in  der  man  viel  besser  vom  Zufall,  von  der  Speculation 
lebt!  Diese  ernährt  ihren  Mann  doch  viel  besser,  als 
strenge  Arbeit  den  Maler,  Poeten  oder  Bildhauer ;  denn 
unser  Arbeitstag  hat  vierzehn  Stunden,  unsere  Woche 
ist  ohne  Feiertag,  es  sei  denn,  dass  wir  gelegentlich  gründ- 
liche Selbstkritik  üben.  Im  Uebrigen  sieht  es  manchmal 
aus,  als  erginge  sich  das  ausklingende  Jahrhundert  in  förm- 
licher   Weltuntergangs -Philosophie    und    als  wäre   jede 

18 


188 


DIE  KUNSrr  UNSERER  ZEIl'. 


Logik,  auf  dem  Gebiete  der  Arbeit  abhanden  gekommen. 
Sind  nicht  die  bisher  gewohnten  Wege  verlassen,  neu 
betretene  aber  mit  einer  Mei^  von  Tastenden  erfüllt, 
denen  irgend  Etwas  aufdämmert,  ohne  dass  sie  eigentlich 
wissen,  wo  hinaus  sie  wollen.  Und  «i^rft  man  einen  Blick 
auf  die  Kunst,  o  Gott,  da  sieht  es 
oft  trübe  genug  aus.  Unsicherheit 
bekümmert  die  Gcmiither,  Keiner 
weiss,  wohin  der  Weg  geht,  woher 
das  wahre  Licht  kommt,  Jedem 
flieht  das  Ziel  in  immer  weiter 
entrückte  Femen. 

Und  die  Begriffe  über  Das, 
was  man  schon  nennt,  sie  vcr» 
alten  —   —   — 

Wer  fragt  auch  schliesslich 
darnach,  ob  geschaflen  werde  oder 
nicht  I  Alles,  Alles  ist  schon  ein- 
mal geschrieben  worden.  Alles 
schon  einmal  gemalt,  geformt  und 
was  etwa  noch  übrig  geblieben 
ist  —  verlohnt  es  sich  da  der 
Mühe,  sein  Gehirn  überhaupt  anzu- 
strengen ?  Die  Demokratie  kommt  nach  dieser  Seite  hin 
für  das  Menschengeschlecht  zu  spat.  Hätten  wir  nicht 
wenigstens  das  Bischen  Musik,  so  wäre  es  überhaupt  am 
Geschcidtestcn,  die  Bude  der  Kunst  zuzuschliessen,  ver- 
mag doch  unsere  ganze  Zeit  ihrem  Geschicchte  höchstens 
Geldge^vinnste  anzubieten  t 

Manchmal  erscheint  es  fast  wie  ein  Verdienst  dieser 
mehr  und  mehr  sich  vollziehenden  Vcrknöchcrung  gegen- 
über, wenn  man  nur  den 
kleinen  Finger  rührt;  wie- 
viel Selbstverleugnung  ge- 
hört erst  dazu,  mit  beiden 
Händen  tapfer  anzugreifen, 
immer  wieder  anzugreifen, 
nicht  blos  zehnminuten- 
weisc!  Wahrlich,  Muth 
gehört  dazu ,  um  einer 
immer  mehr  zur  Geltung 

kommenden    dumpfen 
Stimmung  sich  zu  erwehren 
und    einer    ansteckenden, 
die    ganze    Welt    durchziehenden    Gähnsucht    zu    wider- 
stehen,   einer   Gähnsucht,    die  man   €  Modernes  Leben  > 


Ott»  Grtmn.    SdlMtportimh. 


Otl0  Criintr.     Studienküpfe, 


nennt;  Muth  gehört  dazu,  um  nicht  völliger  Gleichgültig- 
keit anheimzufallen  und  aus  der  Welt  zu  gehen,  wie  man 
in  sie  gekommen,  mit  eingeschlagenen  Daumen.  Aber 
arbeiten,  d.  h.  noch  mehr  thun,  als  blos  denken!  Bild- 
hauern, Schriftstellern,  Malen,  Träume  verwirklichen  und 
Lorbeeren  erringen  wollen,  heute, 
neun  Jahre  vor  dem  Ende  des 
kupfernen  Jahrhunderts,  wo  es 
Niemanden  einfällt,  den  kleinsten 
Schelmenstreich  zu  verüben,  ohne 
dass  er  zwölftausend  Livrcs  Rente 
bringe  —  oh  la,  la,  mein  Lieber, 
in  solcher  Zeit  zum  Märt>'rer  werden! 
Und  doch  giebt  es  Uner- 
schrockene, die  es  thun,  ja  bei 
Gott,  die  Tapfem  stehen  nicht 
allein  unter  den  Fahnen,  mögt  Ihr 
.\lle  daran  glauben! 

Soll  ich  ein  Beispiel  nennen, 
nur  eines ;  z.  B.  ein  Werk  wie  der 
cUntergang  von  Babylon>! 
Ist  es  nicht  geradezu  tollkühn, 
Solches  zu  unternehmen  in  einer 
Zeit,  wo  eine  wohlangebrachte  Telephonmittheilung  dem 
grössten  Schafskopf  oft  Millionen  in  den  Sack  wirft? 
Ich  stand  vor  diesem  Werke  einfach  sprachlos,  ich  ver- 
stand meine  Zeit  nicht  mehr. 

Bedenke  man,  dass  Der  es  schuf,  noch  keine  zwei- 
unddreissig  Jahre  zählt  und  man  ihn,  ginge  er  die  ge- 
wöhnlichen Wege  des  Lebens  und  unserer  gesellschaft- 
lichen   Verhältnisse ,    wenigstens     in     den    Folies  •  Ber- 

geres  suchen  müsste,  wenn 
er  schon  bei  Bullier  etwa 
nicht  mehr  zu  finden  wäre. 
Das  nenne  ich  mir  einen 
vollen  Mann!  Woher  er 
es  haben  mag?  Eine 
Leinewand  von  neun  Meter 
bewältigen ,  eine  Leine- 
wand, vor  der  selbst  ein 
Rubens  oder  Paul  Veronese 
vielleicht  verdutzt  stehen 
geblieben  wäre!  Und  was 
wird  er  von  der  Republik, 
oder,  um  mich  besser  auszudrücken,  von  seinem  Lande 
erwarten  können? 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


139 


Otto  Greiner.     Unterwelt. 


18* 


140 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Er  erwartet 
nichts ,  rein  nichts, 
nicht  einmal  ein 
Zündholz  für  seine 
Cigarette  —  das  hat 
er  mir  selbst  gesagt, 
vielmehr  trieb  es  ihn 
eben  ganz  einfach 
dazu,  an  die  Verwirk- 
lichung eines  Traum- 
gesichtes zu  gehen, 
das  er  eines  Abends 
beim  Lesen  der  Heiligen  Schrift  hatte  und  an  diese 
Verwirklichung  drei  Jahre  seines  Lebens  zu  setzen,  ganz 
abgesehen  von  den  vierzigtausend  Francs,  die  er  bei 
dieser  Gelegenheit  geradezu  zum  Fenster  hinauswarf  und 
von  denen  er  im  Grunde  genommen  keinen  rothen 
Heller  besass!  Und  dazu  lacht  er  noch  —  das  ist  bei- 
nahe unheimlich ! 

sWa.s,    vierzigtausend  Francs  —  vier — zig  —  tau- 
send? —   ich   war  starr   —   da  muss   man  ja  Capitalist 


Ott»  Crtiner.     Stadie. 


sein   oder  —  das  ist  ja  förmlich  zum 
Närrischwerden ! » 

«  Die  Probe  der  Rechnung  ist  un- 
schwer zu  machen*,  erwiderte  der  un- 
geheuerliche Mensch,  ich  möchte  ihn 
am    liebsten     ein    junges    Ungethüm 
nennen   —   <  hören   Sie   die   einzelnen 
Posten  und  zählen  Sie  dann  selbst  zu- 
sammen, es  wird  wohl  ungefähr  heraus- 
kommen,   was  ich  sagte.     Ich   selber 
habe  eigentlich  die  Addition  noch  nie 
gemacht,  denn  vom  Rechnen  verstehe 
ich  im   Grunde  genommen  blutwenig. 
Daran  ist  mein  Erzieher  schuld,    ein 
Mensch,   ein   Poet,  der  die  Wäsche- 
rechnung an  den  Fingern  abzählte ;  Sic 
haben  ihn  wohl  gekannt:  Tlieodor  de 
Bauvillc  —  er  war  mein  Pflegevater ; . 
<  Dann   wundert   mich   überhaupt 
nichts  mehr  von  Ihnen  —  so,   so  — 
1  'er  hat  Sie  in's  Leben  eingeführt  — 
ja  —  so  ein  Stück   Leinewand,   neun 
Meter  lang,  und  dazu  der  Spass,  vierzigtausend  Francs 
für  ein   antitelephonLsches  und,    im  Grunde  genommen, 
völlig  überflüssiges  Kunstspielzeug  —  das  ist  schlie.sslich 
auch  eine  Lebensaufiassung,  aber  es  will  mir  immer  noch 
nicht   in    den  Kopf  mit  der  Summe;    nein,    nein,    Sie 
irren  sich  gewiss;  nennen  Sie  mir  einmal  Ihre2^hlen!> 
c  Zuerst  mein  Atelier  I     Es  ist  zwar  ein  colossaler 
Raum,  aber  es  kostet  dennoch  blos  drcitau.send  Francs 
jährlich,  das  macht,  wenn  ich  nicht  irre,  in  drei  Jahren 
so  etwas  wie  neuntausend,   nicht  wahr?     Und  dann  die 
Heizung  —  nackte  Modelle   haben  Wärme  nöthig,   ich 
musste  also  heizen,  ob  ich  wollte  oder  nicht,  und  wenn 
ich  nun  dafür  pro  Tag  fünf  Francs  ansetze,  so  ist  das 
gewiss  nicht  zu  hoch  g^riflen.     Haben  Sie  's?», 
cja,  das  macht  circa  dreitausend  F'rancs  ausl> 
< Achttausend  etwa»,  fuhr  George  Rociugrosse  fort, 
c  kosten   mich   Leinewand    und   Farben.     Manchen  Tag 
hatte  ich  für  mindestens  fünfundzwanzig  Francs  Farben- 
brei auf  der  Palette ;  was  das  Gewicht  angeht,  so  könnte 
man  darüber  auch  ein  Wörtchen  sprechen  » . 
c  Und  die  Modelle?» 

c  Sagen  wir  wenig :  achttausend  Francs !  Der  Stoff 
zwang  mich,  nach  Gruppen  zu  arbeiten.  Besonders 
gegen   das  Ende   hin  waren   diese  Sitzungen   manchmal 


Otbrltl  M»z  pini 


Phft     f.    H&uf«tncugl,   Müiu 


Eine  Vision. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


141 


geradezu  fürchterlich,  so  dass  ich  nachher  wie  eine 
willenlose  Mcisse  zusammenknickte  und  auf  dem  ersten 
besten  Sopha  einschlief.  Dabei  hätte  sich  die  ganze 
Welt  umstülpen  können,  es  wäre  mir  doch  nichts  Anderes 
eingefallen  als  immer  all'  das  Zeug,  was  ich  noch 
nebenher  bedurfte,  Stoffe,  Geschichten  aller  Art,  neben- 
sächliches oder  nothwendiges  Zeugs,  das  mir  meine 
Specialisten  lieferten,  Spielereien,  wenn  Sie  wollen,  aber 


Dinge,  deren  ich  absolut  bedurfte.  Oft  habe  ich  mir  diese 
Geschichte  an  der  Hand  von  Mustern  reconstruirt,  Manches 
auch  direct  erfunden  —  umsonst  habe  ich  schliesslich  all' 
das  auch  nicht  bekommen,  es  werden  wohl  weitere  vier 
Tausendfrancsbillete  dabei  herauskommen». 

« Aber  das  sind  doch  schiesslich  Dinge,  die  Ihnen 
bleiben  ? » 

«Wollen  Sie  sie  haben?    Wenn  ich  damit  wenigstens 


Olto  Grciner.     Gartenwirthschaft. 


meinen  Perspectivicus  hätte  zahlen  können !  Der  Mann 
versteht  seine  Sache  aus  dem  ff,  aber  er  lässt  sich  auch 
entsprechend  zahlen  —  fünfundzwanzig  Francs  per  Tag, 
neunzig  Tage  brauchte  er,  also  —  ja,  ich  glaube  mich 
zu  entsinnen ,  dass  ich  -ihm  so  etwas  wie  zweitausend 
und  einige  hundert  Francs  bezahlte ;  der  hat  seinen 
Schnitt  gemacht!     Und    schliesslich    ist    der   Transport 


von  so  einer  Leinewand  auch  gerade  keine  Kleinigkeit, 
man  braucht  Schienen,  man  braucht  ein  Gehäuse,  um 
die  Rolle  unterzubringen  und  andere  derartige  Kleinig- 
keiten. Das  Kistchen,  was  ich  dazu  benutzte,  glich 
einem  hohlen  Baum,  neun  Meter  lang,  einen  halben 
Meter  im  Durchmesser.  Dahinein  wurde  die  Leinewand 
eingerollt  und  so  nach  dem  Salon  spedirt.    Der  Rahmen 


142 


DIE  KUNST  UNSERER  ZETF. 


0U9  Greiner.     Portrait  •  Studien. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


143 


macht  dann  auch  noch  eine  Kleinigkeit  aus,  und  halt, 
dass  ich  es  nicht  vergesse,  die  Rechnung  für  gebrauchtes 
Antipyrin  gegen  Kopfschmerz  und  Migraine  hat  auch 
eine  ganz  anständige  Höhe  erreicht.  Schliesslich  muss 
ich  noch  dazu  rechnen,  dass  ich  jährlich  dreissig  bis 
vierzigtausend  Francs  verlor,  weil  ich  absolut  an  nichts 
Anderem  arbeitete  als  für  die  Unsterblichkeit,  von  der 
man  bekanntlich  nicht  lebt!» 

c  Und  das  Resultat  ?  »   Wofür  all'  die  Anstrengung, 
die  Mühe,    die  Kosten  dieses  Unternehmens,  wofür?» 
Er   blies   eine  Rauchwolke    in   die  Luft 
und  er\viderte :  «  Bah  —  Vive  la  France  >  I 


cNun  und? 
das  Alles?» 

€  Ja,  was  möchten 
Sie  denn  eigentlich 
sonst  noch  ?  Ich 
dächte,  was  Roche- 
grosse gethan  hat, 
kann  nur  ein  Mensch 
thun,  der  die  glühen- 
den Gefühle  seines 
ganzen  Wesens  der 
Kunst  und  seinem 
Vaterlande  weiht  1 
Uebrigens  scheint  in 
Frankreich  auch  all- 
mählig  die  Idee  Platz 
zu  greifen,  dass  man 
nur  dann  ein  Mensch 
sei,  wenn  man  die 
Uniform  getragen 
hat.  Eines  geht  ihnen 
noch  ab:  Sie  haben 
keine  Corpsstuden- 
ten! Uebrigens  was  hilft  das  Alles!  Ich  wiederhole, 
was  ich  anfangs  sagte:  Wer  die  Kunst  nicht  um  ihrer 
selbst  willen  ausübt,  der  ist  kein  Künstler,  und  wenn  er 
weiss  Gott  was  für  Auszeichnungen  erfährt!  Diese  sind 
gar  oft  blos  die  Zinsen  des  krummen  Buckels,  nicht  der 
Kunst  und  wer  darob  sich  zu  grämen  das  Zeug  hat,  kommt 
aus  dem  Trübsinn  nicht  heraus.  Freilich  kann  er  nicht  so 
leichten  Herzens  «  Vive  la  France  »  sagen,  wie  Rochegrosse. 
Aber  dem  ist  die  Legion  d'honneur  doch  sicher!» 


« Die  zählt  nach  Zehntausenden »  ! 
«Ja,  sie  wird  etwa  soviel  Mitglieder  haben,  als  bei 
uns  zusammen  genommen  Professoren,  Commercien-  und 
Geheime  -Räthe  existiren,  die  weder  zu  unterrichten  noch 
irgendwie  zu  rathen  haben.  Apropos,  kennen  Sie  Gr einer}  t 
«.Greiner}     Nein.     Ist  er  auch  Künstler?» 
«  Da,  die  fliehenden  Faune  sind  von  ihm  (siehe  S.  1 36), 
und  hier  eine  ganze  Reihe  von  Zeichnungen,  famose  Ge- 
schichten, an  denen  man  sieht,  mit  welcher  Liebe  er  die 
Natur  studirt,  wie  er  jede  Kleinigkeit  in  ihrer  charakteristi- 
schen Erscheinung  versteht  und  weiss,  wie  erst  das  richtige 
Zusammenwirken    aller    richtigen  Einzelnheiten    zu   dem 
führt,    was  wir  heute  wieder  wollen,  und  wogegen  sich 
alle  zünftigen  A-B-C- Schützen  mit  Händen  und  Füssen 
wehren.     Die  führen  uns  immer  als  Repräsentanten  einer 
«poetischeren    Zeit»    Leute    wie  Schwind  und  ähnliche 
an,    als  ob  wir  nicht  allezeit  vor  solchen  Meistern 
den    Hut    abzögen!      Was    der    von    der    grossen 
Menge    seiner    handwerklichen    Zeitgenossen    und 
Collegen  hielt,  ist  genau    das   Nämliche ,   was    wir 
heute    von   ihnen  halten.     Er  hat 
vor     den    Modell  -  Fuchsern    und 
Gliederpuppen  -  Copisten 


Otto  Greiner.     l'ortrait  -  Studie. 


verdammt  wenig  Respect 
gehabt,  er  war  eine  zu  tief 
angelegte  Natur.  Dass  sich 
aber  ein  durchaus  gründ- 
liches Streben  nach  Wahr- 
-\  heit  mit  ganz  phantastisch- 
erfundenen Dingen 
famos  verträgt,  dafür 
sprechen  Leute  wie 
Greiner  1  Wissen  Sie, 
dass  das ganze  blond- 
bärtige Männchen 
einundzwanzig  Jahre 
alt  und  im  Grunde 
genommen  völlig  Autodidact  ist,  der  lediglich  die  Modelle 
der  Academie  sich  zu  Nutzen  zog,  weil  er  sich  selbst 
keine  halten  konnte.  Er  war  zuvor  Lithograph.  Sie 
müssten  einmal  seine  Skizzenbücher  sehen  aus  dieser 
Zeit!  In  den  Mittagstunden  zeichnete  er  seine  Mit- 
Lehrlinge  und  machte  allerlei  Compositionen,  im  grossen 
Style  natürlich,  das  thut  man  ja  immer,  bevor  man  sich 
selbst  ernstlich  verstehen  lernt,  was  man  eigentlich  als 
Künstler    will    —    aber    das    ist    nicht    der    wesentliche 


144 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Gnindzug  seiner  künstlerischen  Backfischperiode,  wenn 
ich  für  das  Alter  von  fünfzehn,  sechszehn,  siebzehn 
Jahren  diesen  Ausdruck  anwenden  soll.  Ich  habe  sein 
Skizzenbuch  aus  jener  Zeit  oft  durchgeblättert  und  mir 
die  eingeklebten  Sachen  angeschaut !  Lenau's  Savonarob 
hat  ihn  begeistert,  Mephisto  spielt  keine  unbedeutende 
Rolle,  apocaly-ptische  Reiter  spuken  da  herum  und  die 
Paralipomena  zu  Goethc's  Faust 
beschäftigten  ihn  stark.  Daneben 
finden  sich  humoristische  Tisch* 
karten,  Kegelbahnbilder,  Affen- 
studien  und  andere  Errungen- 
schaften eines  Menagcriebesuchcs. 
Aquarellskizzen  nach  der  Natur. 
die  das  Hinneigen  zum  intimen 
Formenstudium  bereits  völlig  klar 
zeigen,  andere  aus  offenbar  weit 
vorgeschrittenerem  Stadium,  weiter 
in  mehrfachen  Exemplaren  das 
Portrait  seiner  Grossmutter,  als 
Sterbende  und  als  Leiche,  daneben 
geschrieben  schmerzliche  Betracht- 
ungen über  das  Dahingehen  der 
offenbar  sehr  von  ihm  geliebten 
Frau,  allerlei  zweiflerische  Frage- 
zeichen über  die  Schwelle  zum 
Unbekannten,  die  der  Tod  bildet, 
dann  Portraits  von  Altersgenossen, 
deren  treffende  Charakteristik  frap- 
pirend  wirkt.  Köpfe  in  den  ver- 
schiedeasten  Beleuchtungen  und  — 
Copien  nach  Litzen  -  Mayer  idncn 
Zeichnungen  oder  eigentlich  Holz- 
schnitten zu  dem  Liede  von  der 
Glocke.  Er  ist  noch  in  der  Schule 
Liesen-  Mayer' s  und  hat  diesem 
kürzlich  ein  reizendes  Blatt  ge- 
zeichnet, das  als  P>widcrung  auf 
eine  Mahnung  des  Lehrers  entstand. 
Greintr's  Phantasie  ist  diesem  vielleicht  manchmal  etwas 
unzeitgemäss  erschienen  und  er  ermahnte  den  jungen 
Künstler,  sich  mehr  an  die  reale  Welt  zu  halten.  Eine 
-solche  Scenc  illustrirtc  G. :  Der  Lehrer  (wir  geben  diese 
ganz  ausgezeichnete  Portraitstudie  wieder  und  sind  be- 
scheiden der  Meinung,  dass,  wer  die  Natur  so  aufzu- 
fassen   im    Stande   ist.    die    reale    Weit    .sicherlich    nicht 


Otto  Grtiner.     <  Auch  ein  Akademiker 


verkehrt  anschaut)  sitzend.  G.  vor  ihm  stehend  und 
nebenher,  durch  die  Luft  purzelnd,  ein  Heer  von  Geistern, 
auf  die  des  jungen  Künstlers  Entschuldigungsgründe 
gehen.  *  Aber  Herr  Professor ,  es  nützt  Alles  nichts, 
wenn  ich  auch  Geistliche  und  Hausknechte  zeichne,  so 
kommen  doch  schliesslich  lauter  Satyre  heraus !  >  Ob 
der  Lehrer  nicht  eine  Riesenfreude  über  diese  liebens- 
würdige Entgegnung  gehabt  haben 
mag?  In  Greiner  steckt  vielleicht 
ein  Stück  Rochegrosse  ^  er  ist  ein 
wirkliches  Jeune  monstre',  wenn 
er  sich  auch  noch  nicht  mit  einer 
neun  Meter  langen  Leinewand  zu 
schaffen  gemacht  hat  —  das  wäre 
in  Deutschland  noch  eine  viel, 
viel  .schlechtere  Speculation  als  in 
Frankreich,  und  Greiner  hat  weder 
unter  den  Fahnen  gestanden,  noch 
•luf  der  Mensur  den  Schläger  ge- 
schwungen —  nein ,  er  war  ein 
armer  Lithographenlehrling,  des.sen 
Vater,  wie  er  mir  treuherzig  sagte, 
■  mich  und  meine  Mutter  verlassen 
hat.  ohne  dass  wir  weiter  von  ihm 
wissenii.  Es  berührte  mich  fa.st 
traurig ;  man  hört  dergieichenWorte 
ungleich  stärker,  wenn  sie  aus 
einem  Munde  kommen,  der  zu 
einem  sympathischen  Gesicht  mit 
ein  paar  guten  blauen  Augen  ge- 
hört. Greiner  hat  zuweilen  zu  er- 
fahren geglaubt,  dass  das  Wort 
f  Entgegenkommen  >  gerade  man- 
chen Collegcn  offenbar  nur  dem 
Hörensagen  nach  bekannt  sei  I  Ach 
—  wir  wollen  gar  nicht  von  Ent- 
gegenkommen .sprechen,  nein,  nur 
von  freier,  rückhaltloser  Anerkenn- 
ung !  Wie  viele  Menschen  bringen 
das  freudigen  Herzens  fertig,  ohne  dass  ihnen  dabei  der 
Gedanke  aufsteigt,  sie  könnten  am  Ende  an  ihrer  eigenen 
höchst  werth-  und  ehrenvollen  Persönlichkeit  gar  etwa 
Schaden  erieiden!  Brodneid  —  es  klingt  unschön,  das 
Wort,  aber  es  ist  eigentlich  der  Grundbegriff  der  Mensch- 
lichkeit und  der  gesellschaftliche  Kitt  Alier  oder  wenigstens 
der  Meisten,    die   im   gleichen   Fahrwasser   dahinsegeln, 


P&nl  Botk»r  plnx. 


i'Uoi.    f.  liüiJ^iauiiitl.  MUucheu. 


1 


Holländisches  Mädchen  mit  Katze. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


145 


Brodneid  kann  z.  B.  auch  jene  beleidigend  herablassende 
Haltung  genannt  werden,  die  ein  zwar  Höhergestellter, 
nichtsdestoweniger  aber  nicht  höher  Begabter  einem 
jungen  Menschen  gegenüber  beobachtet,  von  dem  er 
im  innersten  Herzen  bereits  die  Ueberzeugung  hegt, 
dass  er  ihm  «über»  sei!  Dergleichen  Leute  giebt  es 
—  und  zwar  die  schwere  Menge  —  auch  unter  den 
Künstlern,  ach,  vielleicht  da  gerade  erst  recht,  besonders 
unter  Jenen ,  deren  Firma  auf  dem 
Weltmarkt  unbedingten  Credit  ge- 
niesst.  Was  soll  nun  da  so  ein  junger 
Kerl  anfangen,  Einer,  in  dem's  gährt, 
in  dem  sich  das  Drängen,  das  Treiben 
innewohnender  Kräfte  Luft  machen 
will!  D'reinschlagen  kann  man  doch 
nicht  gleich ,  auch  wenn  man 's  zu- 
weilen gern  thäte.  Es  ist  auch  un- 
höflich, vor  Allem  unpolitisch;  also 
was  thun?  Auf  den  Richterspruch 
eines  Verehrten,  eines  Gewaltigen  im 
Reiche  der  Kunst  vertrauen,  sich 
offenherzig  an  ihn  wenden  und  ihm 
sagen ,  wo  einen  der  Schuh  drückt  ? 
Manchmal  glückt's !  Greiner  wandte 
sich  in  einer  solchen  Stimmung  an 
Menzel.  Wär's  nicht  unbescheiden, 
ohne  Erlaubniss  solch  einen  Brief  ganz 
wiederzugeben,  so  wäre  hier  vielleicht 
der  recht«  Platz  dafür;  Greiner  wurde 
in  seiner  Hoffnung  nicht  getäuscht. 
Menzel  antwortete ,  antwortete  wie 
ein  Erfahrener,  der  es  mit  dem  Un- 
erfahrenen ehrlich  meint  und  ferne 
jeder  Hochnäsigkeit  steht: 

c .  .  .  .  Und  wie  sollte  Ihr  Weg 
ein  falscher  sein!  Das  täglich  Um- 
gebende, wie  Sie  ja  sagen ,  ist  am 
besten,  am  gründlichsten  zu  studiren. 
Die  alte  Kunst  ist  ja  auch  auf  keinem  andern  Wege  zu 
Flor  gekommen.  Die  alten  Künstler  waren  noch  ganz 
anders  auf  ihr  Zuhause  angewiesen. 

Aber  noch  was  macht  Ihnen  zu  schaffen! 
Sie  werden  doch  wohl  schon  an  andern  Ihrer 
Cameraden  mit  angesehen  haben,  dass  das  Keinem, 
der  nicht  gerade  in  Coupons  emballirt  zur  Welt  kam, 
erspart  wird.  Das  Ding  hat  viele,  überall  andere  Namen. 
Bei  Ihnen  heisst's  also  , süsses  Zeug',  im  Leben  heisst 
das  bittere  Kraut  ,Muss',    auch  ,Friss  Vogel  oder  stirb'. 


Otto  Greiner.     Portrait -Studie, 


Man    weiss   von  Leuten,    und    zwar  die    heute    ziemlich 
was  gelten,  an  die  in  ihren  hilflosen  Jugendtagen  noch 
andere    Ansinnen    gestellt    wurden.     Und    musste    Alles 
als    Gelegenheit    zum    Ueben,    zum    Lernen    mitbenutzt 
werden.   Es  ist  da  kein  anderer  Weg,  als  der  da  heisst: 
Sich  aus  Allem    eine   künstlerische  Aufgabe  machen   — 
sofort  hält  man  nichts  mehr  für  seiner  unwürdig,    auch 
süsses    Zeug   wird    interessant,    lehrreich,    sogar   schwer. 
Das    Leben    hat    für    verneinende    Gesinnungstuchtigkeit 
der  Jugend  wenig  übrig  nach  solcher 
Seite  hin.    Un  verdrossene  Leist- 
ung    ist    werth  voller,     früher    oder 

später  auch  fördernder 

Ich  bin  nicht  Mentor,  sonst  würde 
ich  rathen,  auch  hübsch  was  zu  lesen, 
nicht   lauter    Dichtung,    auch    nicht 
lauter  Künstlergeschichte,   aber  Ge- 
schichte —  auch  nicht  etwa,  um  Ge- 
schichtsmalerei zu  treiben!  etc.  etc.  > 
Daran  erkennt  man  vielleicht 
auch  so  hin  und  wieder  die  Aechtheit 
des  Künstlerthums    vom  Gegentheil, 
und  wenn  schliesslich  auch  eintnalein 
Wahrhaftiger  unliebenswürdig  ist,  so 
sind    die    unliebenswürdigen    Comö- 
dianten     und    Selbstbeweihräucherer 
deswegen     nicht     um     Haaresbreite 
weniger  unausstehlich  und  widerlich. 
Item,   Greiner  war  glücklich  über  den 
Mensel 'sehen    Bescheid  und  arbeitet 
nun  eben  tapfer  d'rauf  los,  zeichnet, 
malt,    radirt    und    versteht   seine   ur- 
sprüngliche Brodkunst,  das  Lithogra- 
phiren, dermassen  zu  behandeln,  dass 
man  glauben  möchte,  Radirungen  vor 
sich  zu  haben.    Und  was  die  Zukunft 
bringen  wird,  ist,  geb's  Gott,  hofifent- 
lich  gut.    Greiner,   Greiner,  nur  nicht 
überschnappen,  es  giebt  schon  sonst 
genug  Narren,  und  der  Grössenwahn 
ist  bekanntermaassen    eine   der   häufigst  vorkommenden 
Arten   geistiger  Gestörtheit,  an  einzelnen  Menschen  wie 
an  einheitlichen  Vielheiten ! 

«Was  liegt  denn  da  noch  neben  den  Greiner'schen 
Satyrn,  ein  Gabriel  Max,  was?» 

Ja,  und  ein  schöner  obendrein.  Mag  das  Bild  heissen 
wie  es  will,  das  bleibt  sich  für  mich  ziemlich  gleichgültig, 
offenbar  ist  es  ein  Thema,  das  mit  dem  Wesen  einer 
uns    vorerst    noch    ungreifbaren    Welt    zusammenhängt. 

19 


148 


t)IF  KT-X^T  l'X^Fi.'FU'     -1 


anderthalb  Decennien  zuvor  über  die  Schlachtfelder  auf 
Frankreichs  Boden  an  der  Spitze  seiner  siegreichen  Armee 
vordrai^  und  den  herrlichsten  Schlus&stein  in  sein  ruhm- 
reiches Leben  einsetzte.  Rocholl  war  Schüler  von  Piloty 
in  München,  ist  später  nach  Düsseldorf  übergesiedelt 
und  hat  militärische  Episoden  zur  eigentlichen  Aufgabe 
seiner  Thätigkdt  gemacht.  Von  ihm  war  u.  A.  das 
famose  Bild  der  letzten  Münchener  internationalen  Aus- 
stellung: {Die  Rückkdir  des  Restes  der  Cuirassier- 
Schwadronen  von  ihrem  Todesritte  bei  Mars  la  Tour>. 
Dann  ist  da  ein  anderes  ganz  reizendes  Ding  von  Paul 
Hoecker  in  München,  das  kleine  holländische  Mädel  mit 
dem  riesigen  schwarzen  Kater  im  Arme.  Man  möchte 
beinah  sagen,  dass  die  beiden  eine  gewisse  Aehnlichkeit 
mit  einander  haben.  Hier  dann  ein  Fächer  von  Gtprg 
Papperits,  eine  schöne  Schläferin  von  den  Göttern  des 
Traumes   still   durch  die  Himmclsräume   dahingetragen. 


umspielt  von  Amoretten,  die  vielleicht  nicht  den  unwesent- 
lichsten Theil  Dessen  ausmachen,  was  die  Sinne  des  ruhen- 
den Menschenkindes  umgaukeit  und  im  Traume  rosige 
Zukunftsbilder  erstehen  lässt.  Und  last  not  least  ein 
vorzügliches  Blatt  von  Hans  voh  Barttls,  der  zuerst  unter 
den  Malern  unserer  Tage  in  München  der  Aquarell-Farbe 
jene  Geltung  verschaffte,  die  ihr  gebührt.  Seine  Arbeiten 
sind  von  einer  Kraft  und  Sattheit  des  Tones,  wie  sie 
von  Manchem  kaum  in  Oel  erreicht  werden;  er  ist.  wenn 
auch  ganz  modern,  doch  keiner  von  Jenen,  welche  die 
Farbe  erst  dann  für  interessant  halten,  wenn  sie  etwas 
Schwindsüchtiges  hat,  vielmehr  weiss  er  seine  ganze 
Palette  zu  gebrauchen  und  ihr  Dinge  zu  entlocken,  die 
ebenso  malerisch  als  gesund  gesehen  sind.  Genug  für 
heute.  Demnächst  öffnen  sich  die  Hallen  des  Glaspalastes, 
und  dann  wollen  wir  sehen,  was  dort  an  allen  möglichen 
Herrlichkeiten  zu  schauen  sei. 


Ott»  Griintr.     Füchend«  Kiuoe. 


'•"^^^ 


(f"j 


:ä^l 


^" 


-i^  ./^ 


>S&r): 


i(. 


V 


y 


r 


N 
3 
K86 

Bd. 2 
Halb.l 


Die  Kunst  unserer  Zeit 


\\ 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 


UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


^1 


'^ 


-r- 


>c 


Cf?^ 


>^i  a'*' AV 


3^ 


•^: 


im 


W-. 


■:^x: 


^^j  ^«^^fif-j-