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Full text of "Die Kunst unserer Zeit; eine Chronik des modernen Kunstlebens"

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KUNST 

UNSERER 

ZEIT 

EINE  CHRONIK  DES      > 
\/A°DERNEN   KUN5TLEBEN5 


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PURCHASED  FOR  THE 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 

FROM  THE 

CANADA  COUNCIL  SPECIAL  GRANT 


FOR 

Hl  STORY  OF  ART 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT. 


EINE  CHRONIK 


DES 


MODERNEN  KUNSTLEBENS. 


IV.  JAHRGANG  (1892—93.) 
I.   HALBBAND. 


MÜNCHEN 
FRANZ  HANFSTAENGL. 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


^ 


JÜN  2o  19/0 

5^S/Ty  OF  TO^ 


E.  MÜHLTHALER'i  KGL.  HOF-BUCH-  UND  KUNSTDRUCKEREI,  MÜNCHEN. 


INHALTS-ANGABE. 


.A.  VI  fs  ä -t  z  e. 


Seite 

Bernstein,  Max,  Schlangenspiel 79 

Ebers,    Georg,    Der  Abschiedskuss    von    Lorenz 

Alma-Tadema 11 

—   —   Leopold  Carl   Müller 57 

Gurlitt,   Cornelius,  Die  amerikanische  Malerei  in 

Europa 21 

Helferich,  Hermann,  Radiiungen  und  Bilder  des 

Freiherrn  L.  von  Gleichen-Russwurm     ...  82 


Seite 

Rosmer,  Ernst,  Medusa 90 

Spier,  A.,  Hermann  Kaulbach i 

Spiro,  Dr.  Friedrich,  Italienische  Musikbriefe       .  13 

Unsere  Bilder 18 

Walt  her,    Ferd.,    Unkritische  Künstlerportraits: 

III.  Thure  F"reiherr  von  Cederström   ....  101 

Zimmern,  Helen,  George  Frederick  Watts     .    .  92 


^V^olltoilcier. 


Seite 

Alma-Tadema,  L.,  Der  Abschiedskuss  ....  12 

Bokelmann,  Ch.  L.,  Eine  Testaments- Abfassung  110 

Bracht,  Eugen,  Die  Klause 20 

Brütt,  Ferd.,    Die  Entscheidung 86 

Cederström,  Th.  von,  Quartett 102 

Chase,  W.  M.,  Meditation 28 

Dewing,  Thomas  W.,  Musik 32 

Galofre  yGimenez,    B.,  Heimkehr  vom  Feste  102 

Gaugengigl.  J.  M.,   Concert 48 

Gut  herz,  Carl,  Der  Grabesengel 32 

Hartwich,  H.,   Märzschnee 28 

Hassam,    Childe,    Die    5.   Avenue   in   New -York 

im  Schnee 3Ö 


Seite 

Haug,  Rob.,  Spaziergang 1 10 

Henner,  J.  J.,  Mädchen  aus  dem  Oberelsass  .    .  98 

Kaulbach,  Hermann,  Das  Ende  vom  Lied     .    .  4 

Knaus,  Ludwig,   Katzenfreundin 18 

Koehler,  R.,  Portrait      40 

Lenbach,  F.  von,  Schlangenspiel 82 

Malczewski,   J.,    Letzte  Etappe     .    ,        .    .^  .  94 

Marr,  C,  Sommernachmittag 44 

Meyer -Mainz,  P.,   Hubertustag 106 

Müller,   Leop.  Carl,    Palmenzweigverkäuferin  auf 

einem  arabischen  Friedhofe   zu  Kairo    ...  60 

—  —  Mädchen  aus  Kairo.   —  Trauernde  Wittwe  64 

—  —  Messe  zu  Tanta 68 


Seite 

Müller,  Leop.  Carl,  Markt  in  Desuk.  —  Moschee 

des  heiligen  Ibrahim    zu    Desuk 72 

—  —  Orangenverkäuferin 74 

—  —  Mariettes   Haus   in   Sakkara.    —     Kameel- 

markt.    —     Damm    im    Delta    zur   Zeit    der 

Ueberschwemmung 78 

Oppler,  E.,  Träumerei 86 

Peck,  Orrin,  Stiefmütterchen 5^ 


Seite 

Pötzelbergcr,    Robert,    Fränkische  Landschaft  8 

Pradilla,    F.,    Seebad  an   der  adriatischen  Küste  16 

Rolshoven,  J,,  Meditation 54 

Stuck,   Franz,   Medusa go 

Ulrich,  Charles  J.,  Idyll  in  Sotto-Marina  ....  24 

Vonnoh,  R.  W.,  Klatschrosen 52 

Wen  gl  ein,  J.,  Kinderfriedhof 94 

Whist  1er,  J.  M.  N,  Träumend 24 


TTe  X 1 13  i  1  d  e  1-. 


Seite 

Bridgman,  F.  A.,  Das  Negerfest  zu  Blidah    .    .  41 

Bunker,  Portrait  der  Mrs.  Bunker 29 

Cederström,  Th.  von,    Studien  und  Skizzen   loi 

102   103   104  105    106  107 

Chase,  William  Merrit,  Eine  Parkszene      ....  53 
Dewing,   W.  Thomas,    Bildnis  der  Mrs.  Stanford 

White     .    .    .    .   • 40 

Gleichen-Russwurm,    L.    von,     Studien    und 

Skizzen  82  83  84  85  86  87  88  89 

Hitchcock,    George,  Mutterglück  .......  47 

Innes,  George,  Landschaft 45 

Jones,  Francis  C,  Ich  spiele  nicht  mehr      .    .  51 
Kaulbach,    Hermann,    Studien    und  Skizzen  2  3 

4  5  6  7  8  9  10   13   18   19  20 


Seite 

Kengon    Cox,    Bildnis   des   Bildhauers  Aug.  H. 

Gaudens 23 

Mac  Ewen,  Walter,  Allerseelentag 25 

Mos  1er,  Henry,   Der  Kesselflicker 38 

Müller,    Leo]>.  Carl,    Studien   und  Skizzen  58  59 

6i    62    63    64   65    6]    68   69   71    73    74   75 

1(>  77  ■    78 

Part(5n,  Ernest,  Im  Mai 49 

Portrait  des  Malers  Leopold  Carl  Müller    ....  57 

Thaycr,  Abbot  H.,  Männliches  Bildnis     ....  33 

Tryon,  Dvvight  William,  Tagesanbruch     ....  31 
Weeks,    Edwin  Lord,  Die  Elephanten  des  Maha- 

rajah  in  Jehorc 43 


1=^5^^- 


So  oft  ich  einem  grösseren  Publitcum  einen  Maler, 
I  einen  wahren  Künstler,  mit  Worten  darstellen 
soll,  kämpfe  ich  mit  der  Ueberwindung  des 
Gefühls,  dass  ich  einer  halben  Sache  diene.  Nur  die 
Hoffnung,  dass  das  gesprochene  Wort,  nun  gar,  wenn 
es  von  anziehenden  und  beweisführenden  Illustrationen 
unterstützt  wird,  da  und  dort  zur  näheren  Betrachtung 
der  Gemälde  des  Künstlers  und  ihrer  Reproduktionen 
veranlasst,  belebt  den  Willen  zu  reden,  wo  man 
zeigen  möchte.  «Sehen  Sie»,  sollte  man  sagen,  nicht 
«hören  Sie! » 

Bei  Hermann  Kaulbach  bleibt  die  Aufgabe  der 
Vermittlung  und  Anregung  nicht  in  dieser  Einseitigkeit 
stecken.  Das  Anschauungsmaterial  ist  vorausgegangen. 
Viele  kennen  einen  kleineren  oder  grösseren  Theil  seiner 
so  verbreiteten  und  geschätzten  Werke,  aber  doch  nur 


einen  Theil!  Da  liegt  der  Vortheil  und  die  Gefahr. 
Viele  beurtheilen  ihn  eben  nur  nach  dem  populär  Ge- 
wordenen und  ahnen  Nichts  von  dem  ganzen  Umfang 
seiner  künstlerischen  Individualität.  Von  ihm  ist  viel 
zu  sehen  und  viel  zu  hören!  Er  malt  aus  dem  Vollen 
eines  reichen ,  durch  glückliche  Umstände  mit  den 
mannigfaltigsten  und  feinsten  Eindrücken  genährten 
Lebens!  — 

Ist  er  doch  der  Sohn,  der  einzige  Sohn  von 
Wilhelm  von  Kaulbach,  von  jenem  genialen  Künstler, 
der  mit  seiner  gemalten  Geschichtsschreibung,  mit  seinen 
Goethe-Ilhastrationen ,  mit  seiner  Satire  seine  Zeit  auf 
das  Stärkste  beeindruckte,  —  ich  dürfte  wohl  sagen, 
beherrschte!  Heute  in  der  merkwürdigen  Phase  des 
künstlerischen  «jüngsten»  Gerichts,  aus  nur  allzu 
menschlichen  Menschengruppen   zusammengesetzt,    ver- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


kleinert  man  die  Verdienste  dieses  bedeutenden  Mannes 
und  scheint  gründlich  zu  vergessen,  dass  er  in  der 
organischen  Entwicklungsgeschichte  der  deutschen 
Malerei  ein  Bahnbrecher  war,  ohne  den  der  deutsche 
Maler  von  heute  noch  ein  schönes  Stück  Weges  vor 
sich  hätte.     Er,  Wilhelm  von  Kaulbach,  war  eben  auch 


Aus  dieser  Sphäre ,  die  ein  solcher  Geist  schuf 
und  belebte,  in  der  täglich  hervorragende  Menschen 
verkehrten  und  gute  Gespräche  geführt  wurden,  er- 
wuchs Hermann  Kaulbach.  Nicht  in  einer  den 
Wissenskram  in  den  Mittelpunkt  stellenden  Schulluft 
wurde  sein  Geist  wach,    nein,  in  einem  Hause,   in  dem 


der  Sohn  seiner  Zeit.     Das   rhetorische  Pathos   seiner     gefühlt,  gedacht,  geplaudert,  gelacht  wurde,  in  dem  ein 
Kunst  weckte  die  damaligen  Geister  zu  einer  begeisterten      glücklicher  Gatte  seiner  schönen  Frau  die  Leiden  seiner 


Betrachtungsweise  und  gabdem 
schulhaften,  trockenen  Bildungs- 
wesen eine  schwungvollere  An- 
schauung. Die  Wilhelm  Kaul- 
bach'schen  Bilder  waren  es,  die 
zu  jener  Zeit  die  leicht  in  den 
Vernunft  -  Egoismus  verfallende 
deutsche  Familie  wieder  für  das 
Grössere  des  Menschenlebens  zu 
interessiren  wussten.  Wo  heute 
noch  Menschen ,  die  auf  dem 
Entwicklungs  -  und  Kunststand- 
punkt jener  Jahre  stehen,  seine 
Bilder  kennen  lernen,  wirken  sie 
ebenso  stark  wie  damals.  Eine 
Reise  durch  die  Zimmer  gebil- 
deter Provinzler  beweist  das. 

Unter  den  akademischen 
Falten  der  Wilhelm  Kaulbach- 
sehen  Gestalten  pulsirt  wohl  auch 
ein  gutgesehenes  menschliches 
Leben,  —  oft  versteckt,  oft  fast 
erdrückt  von  der  Komposition 
und  der  überreichen  Absicht, 
■  aber  —  es  ist  da! 

Wilhelm  von  Kaulbachs  rc- 
flektirende  und  spiritualistische 
Bilder  täuschen  über  sein  eigent- 
liches Wesen.  An  der  Staffelei  strebte  sein  vulkanischer 
Geist  nach  einer  konzentrirten  Weltsprache.  In  seinem 
Familienleben  trat  sein  warmes  Interesse  an  der  Natur, 
wie  an  den  Menschen  im  Kleinen  und  im  Grossen  kräftig 
zu  Tage.  Man  braucht  nur  wenige  Briefe  an  seine  Frau 
und  seine  Kinder  zu  lesen,  um  zu  wissen,  welch'  ein 
gefühlvoller  Mensch  er  war,  wie  gern  er  mit  den  Noth- 
leidenden  theilte ,  wie  lustig  er  mit  den  Kindern 
scherzte,  —  und  dass  er  mit  den  Philistern  nichts  ge- 
mein haben  wollte. 


Kindheit  und  Jugend  erzählte, 
und  die  Huldigungen  der  Liebe 
zu  ihr  bis  in  die  Zeit  der  grauen 
Haare  fortsetzte,  in  einem  Garten, 
den  der  besitzfrohe  Künstler  seine 
«Kirche»  nannte,  an  dessen 
Blumen  und  Vögeln  er  zärtlich 
hing ,  unter  den  Augen  eines 
Vaters,  der  jedem  Kinde  an  dessen 
Namenstag  die  unbeschränkteste 
Verfügfreiheit  über  Küchenzettel 
und  Zeiteintheilung  liess.  So 
lenkte  W.  von  Kaulbach ,  ein 
Gärtner  von  Neigung,  auch  die 
Entwicklung  seiner  Kinder  mit 
gärtnerischer  Weisheit. 

Sie  sollten  ein  freies  Wachs- 
thum  geniessen  und  auf  den  Ruf 
ihrer  inneren  Natur  warten.  Selbst 
die  Wunderwerke  Hermanns,  die 
verschiedensten,  merkwürdigsten 
Gedichte,  die  derselbe  als  sechs- 
jähriger Junge  verfasste,  veran- 
lassten ihn  zu  keiner  Spezial- 
pflege. 

Der  Vater  liess  Alles,   was 
Triebkraft  hatte,   unbeirrt    gross 
werden  und  meinte  zuversichtlich 
von  seinem  Sohne :   «  Der  wird  gut ! » 

Als  der  Anspruch  einer  schärferen  Schuldisziplin 
laut  wurde,  schickte  er  ihn  in  ein  Weinheimer  Pensionat. 
Die  welligen  Hügelketten  der  Bergstrasse  wirkten  wohl 
stärker  auf  den  Geist  des  Knaben,  als  die  Aufgaben 
der  Grammatik ,  aber ,  er  lernte.  Später  kam  er  von 
dort  auf  das  Gymnasium  nach  Nürnberg,  in  das  Haus 
seines  Schwagers  Kreling,  des  verdienten  Direktors  der 
Kunstgewerbeschule.  Nürnberg,  das  romantische  Nürn- 
berg, mit  seinen  Gässchen,  Thorbögen,  Winkeln,  Thürmen 


Hermann  Kaulbach.     Studie, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Hermann  Kaulbach.     Studie. 


und  Brunnen,  das  lockt  Bilder  in  das  Auge,  hilft  sinnen  und  dichten 
und  stimmt  die  junge  Seele  zum  Lieben  1  —  Dort  entdeckte  der 
Jüngling  sein  Herz  und  das  rechte  «andere»  und  Hermann 
Kaulbach  ist  einer  der  wenigen  Glücklichen,  die  mit  dem  ersten 
Liebesglück  ihr  Lebensglück  gründeten. 

Im  Kreise  Krelings  setzten  sich  die  Kunsteindrücke  seiner 
Kindheit  fort  und  mit  der  entschiedenen  Absicht  Mediziner  zu 
werden,  zeichnete  er  doch  da  und  dort  was  Auge  und  Geist 
beschäftigte.  In  München  trat  er  als  Student  der  Medizin  ein  und 
hörte  Jolly,  Liebig  und  andere  Autoritäten.  Diese  Wissenschaft, 
welche  der  Humanität  ein  so  breites,  unmittelbares  Gebiet,  täglich 
Mittel  und  Wege  zum  Bethätigen  der  Menschenliebe  gibt  und 
in  das  Studium  der  Naturwissenschaft  voll  einführt,  schien  den 
Bedürfnissen  seines  Wesens  zu  entsprechen.  — 

Aber,  der  geerbte,  in  der  Tiefe  eingesessene  Künstlergeist 
rüstete  sich  zum  Appell,  —  die  Kämpfe  zwischen  Malen  und 
Mediziniren  erwachten ,  beunruhigten ,  tobten.  .  .  .  Die  Studien- 
köpfe, die  Hermann  Kaulbach  zur  selben  Zeit  in  dem  Atelier 
seines  Vaters  malte,  gelangen,  aber  —  der  väterliche  Meister 
scheute  vor  dem  entscheidenden  Wort.  Piloty,  kein  Geringerer, 
sprach  es  aus,  —  als  konfliktbefreiender,  kategorischer  Imperativ 
erklang  sein  Befehl : 

«  Du    m  u  s  s  t   Maler  werden  I  » 

Piloty  nahm  ihn  unter  den  freiesten  Bedingungen  als  Schüler 
auf,  verfolgte  mit  dem  intensivsten  Antheil  die  vielversprechende 
Entwicklung,  welche  mit  jeder  neuen  Arbeit  die  Berechtigung  der 
Piloty'schen  Initiative   bestätigte. 

Der  Vater  selbst  —  stellte  dem  Sohne  die  Aufgabe,  sich  sein 
Heimathsrecht  und  sein  Heimathsgut  zu  ermalen.  Das  erste  in 
dieser  Hoffnung  ausgestellte  Bild  Hermann  Kaulbachs ,  ein  gut 
gezeichnetes,  fein  getöntes  Stillleben,  verkaufte  sich  sofort  und 
zwar  für  ein  hundert  baare  Gulden.  Der  Jubel  des  Anfängers 
war  gross,  und  als  er  eben  seinen  Triumph  dem  Vater  mittheilen 
wollte,  findet  er  denselben  vor  dem  von  ihm  erworbenen  Gemälde 
sitzend,  wie  er  sein  Kaufobjekt  lächelnd  prüft  .  .  . 

Das  erste  grosse  Bild,  mit  welchem  Hermann  Kaulbach  vor 
die  Oeflentlichkeit  trat,  war  «Der  sterbende  Mozart». 

Es  bewies  innerhalb  der  schulgerechten  Komposition  ein 
erstaunlich  schnell  erwachsenes  Können,  und  noch  viel  mehr:  ein 
Auftauchen  feiner,  individueller  Details,  ein  Sich-nicht-genügenlassen 
an  der  historischen  Scenerie,  ein  Streben  nach  wahrheitsgetreuer 
Darstellung ,   ein  seelisches  Eindringen  in  die  seelischen  Vorgänge. 

Und  in  dieser  Richtung  sollte  sich  Hermann  Kaulbachs  ganze 
grosse  Stärke  entwickeln.  Es  entstand  eine  grosse  Wechselwirkung 
zwischen  der  Bereicherung  seines  so  schön  angelegten  Geisteslebens 
und  seiner  künstlerischen  Ausdrucksweise.    Er  stellte  an  sich  selbst 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


die  Ansprüche  eines  kritil<befähig- 
ten  Elitemenschen,  dem  nicht  das 
eine  oder  das  andere  Bruchtheil 
des  Erstrebten  genügte,  der  nicht 
für  das  Bravo  des  Marktes  arbei- 
tete, sondern  seinem  hohen  Ziele 
nah  und  näher  kommen  wollte. 
Er  sah  neben  dem  Malerischen 
auch  das  Innerliche,  das  Bedeut- 
ungsvolle der  Situation  und  zählt 
heute  in  gesteigerter  und  gereifter 
Kraft  zu  den  Bekennern  der  Drei- 
einigkeitslehre von  der  Farbe-, 
Form-  und  Gedankenschönheit 
eines  Gemäldes.  — 

Sein  Vorjahren  in  der  Berliner 
Ausstellung  mit  grossem  allgemei- 
nem Beifall  aufgenommenes  Bild: 
«Die  Krönung  der  heiligen 
Elisabeth  durch  Friedrich  II, 
in  der  Deutsch-Ordenskirche 
in    Marburg»    ist    ein     grosser 

Zeuge  der  Hermann  Kaulbach'schen  Kunst.  Gerade 
dieses  Bild,  in  seinem  Stoff  uns  scheinbar  so  fern  stehend, 
zeigt  in  deutlicher  Weise  seine  Kraft,  das  Historische 
menschlich  näher  zu  rücken. 

Im  Mittelpunkte  des  grossen  Bildes  steht  der  Sarg, 
auf  dem  die  heilige  Elisabeth  im  Ordensgewande  auf- 
gebahrt liegt.  Vor  dem  Sarge  knieen  ihre  Töchter, 
neben  ihnen  steht  der  Kaiser  mit  dem  Sohne  und 
hält  eine  kostbare 
Krone  auf  ihr  todtes 
Haupt.  «Da  ich  Dich 
auf  dieser  Erde  nicht 
als  Kaiserin  krönen 
konnte,  so  will  ich 
Dich  doch  mit 
dieser  Krone  als 
eine  ewige  Königin 
in  Gottes  Reich 
ehren  » .  Ein  Son- 
nenstrahl fällt  von 
den  hohen  Bogen- 
fenstern des  Domes 
auf  diese  Gruppe, 
der     ganze     Raum, 


llermaini  Kaulbach,     Studie. 


Hermann  Kaulbach.     Studie. 


den  eine  bunte  Menge  füllt,  ist 
weit  und  hell ,  —  Farben-  und 
Stimmungsakkorde  packen  den 
Beschauer. 

Nur  dieses  Bild,  das  Eigen- 
Üium  der  Stadt  Wiesbaden  wurde, 
sei  in  dieser  Ausführlichkeit  be- 
schrieben ;  es  ist  insofern  typisch 
für  alle  historischen  Bilder  Her- 
mann Kaulbachs,  weil  es  trotz 
seines  Figurenreichthums  jeden 
Einzelnen  individualisirt  und  zu 
einem  Bilde  für  sich  gestaltet. 
Die  Priester,  die  Nonnen,  die  sin- 
genden Klosterkinder,  die  Fürsten, 
Alle  auf  diesem  Gemälde  würden 
als  Einzelbilder  wirken.  Ein  inter- 
essantes Detail,  das  die  Freunde 
des  zu  früh  verstorbenen  Dichters 
wehmüthig  berühren  wird,  ist  ,die 
Thatsache,  dass  Karl  Stieler  zu 
der  Figur  des  Kaiser  Friedrich 
Modell  stand,  er,  eine  typische  Deutschengestalt. 

Hermann  Kaulbachs  künstlerisches  Produktions- 
vermögen ist  ungemein  ergiebig.  Die  jüngsten  zwei 
Jahrzehnte  hat  er  enorm  und  vielseitig  gearbeitet.  Zu 
den  beliebtesten  Opern  und  zu  einem  Theil  der  Gustav 
Freytag'schen  Werke  lieferte  er  phantasiereiche,  fein 
gestimmte  Illustrationen;  er  betheiligte  sich  an  der 
Konkurrenz    für   ein  Friesgemälde   des   grossen  Berliner 

Rathhauses,  und  lieh 
in  diesen  Entwürfen 
der  Geschichte  von 

der  Einigung 
Deutschlands  als  ein 
begeistert  Mitfühlen- 
der pathetische,  ju- 
belnde Gestalten  in 
sinnreicher  Zusam- 
menstellung ;  er  gab 
in  den  achtziger  Jah- 
ren einen  Cyclus 
Narrentypen  heraus, 
eine  lustige  Reihe 
entzückender,  humo- 
ristischer   Gruppen ; 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


die  gesammten  Blätter  gingen  sofort  in  Privatbesitz  über, 
die  Reproduktionen  sind  weit  über  Deutschland  hinaus 
verbreitet. 

Die   deutsche   Familie,    diese   grosse  staatbildende 
Gemeinschaft,      die 

Theil  ~     ~_~  — 'r  ™,^   , 


Originalge- 


zum  guten 
keine 
mälde  kaufen  kann, 
sie  kennt  ihren 
Hermann  Kaulbach. 
Seine  Bilder  wenden 
sich  an  die  natür- 
liche Schönheits- 
freude des  Auges, 
an  die  natürlichen 
Gefühle  des  mensch- 
lichen Herzens.  Die 
Anmuth  und  Poesie, 
mit  welcher  er  die 
Ereignisse  glück- 
hcher  und  unglück- 
hcherLiebe  darstellt, 
machen  ihn  zum  oft 
herbeigeholten  Illu- 
strator gefühlvoller 
Beziehungen.  Zu 
jungen,  gefahrlosen 
Liebesfreuden     und 

Liebesschmerzen 
spricht  das  Bild 
Margarethen's  «Jetzt 
ist  er  hinaus  in  die 
weite  Welt»;  Ent- 
täuschte betrachten 
sich  die  schöne  Kol- 
legin, welche  dem 
weltflüchtigen  Ein- 
siedler im  Walde  die 
warnende  Lehre  ab- 
nimmt: «Lass  ab, 
lass     ab     von      der 


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Hermann  Kaulbach.     Studie. 


welcher  das  Kind  aus  der  Höhe  bringt  und  mit  der 
Weisung  «Von  Gott»  jungen  Eltern  an 's  F"enster 
klopft,  wer  kennt  ihn  nicht?  Er  ist  das  edle,  ganz 
ebenso   populär  gewordene    Pendant   zu    dem   Wilhelm 

von  Kaulbach'schen 

^.— ,    ,. '"~  "'"'^  *2^    Gott»!     und 

hat  geschmackvoller 
Weise  den  Storch 
auf  das  Gebiet  des 
Scherzes    gedrängt. 

—  Dieser  Engel 
mit  dem  Kinde, 
der  Schutzengel 
und  der  Weih- 
nachtsengel von 
H.  Kaulbach  sind 
erlesene ,     herzliche 

Familienbilder, 
welche  durch  ihren 
sinnvollen  Inhalt 
schon  derart  Eigen- 
thum  der  Allgemein- 
heit geworden  sind, 
dass  die  verschieden- 
sten Besitzer  den 
Maler  nicht  kennen, 

—  namenlos,  wie  ein 
gutes,  allgemein  ge- 
liebtes und  gesun- 
genes Lied!  —  Mit 
diesen  Schöpfungen 
hat  H.  Kaulbach, 
unbewusst,  wie  alle 
echten  Poeten  ,  ei- 
genthch  einen  Akt 
der  Gerechtigkeit 
geübt.  Er  hat  seine 
feine  Kunst  in  den 
Dienst  einer  grossen 
Zukunftsträgerin,  der 
Kinderphantasie, 


Lieb!»  und  oben  bei  den  Thurmfalken  im  Zwinger,  da  gestellt    und    in    mittelbarer  Weise   von    den   selbst   so 

wird    ein   holdseliges  Beispiel   gegeben ,   da  singt  frohe,  reich  genossenen  Schönheitseindrücken  seiner  glücklichen 

einige  Liebe  ihr  Nest-  und  Festduett !   —  Kindheit   wieder  Schönheitssamen   in   die    Kindersphäre 

Und  nach  den  lieblichen  Momenten  aus  dem  Liebes-  gesandt.     Wie   mancher  unter   den  kleinen  Leuten    hat 

frühhng  die  Bilder  aus  dem  Liebessommer!    Den  Engel,  sich    wohl    schon    bei    diesen  Engeln    seine    poetischen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


/{ermann  Kaulbach.     Studie  aus  Capri. 


Träume  und  seinen 
stärkeren  Drang  zum 
Schönen  geholt.  Der 
wahre  Künstler  unter- 
schätzt solche  Zu- 
kunfts  -  Sämannsarbeit 
nicht. 

Neben  seiner  bil- 
derreichen Welt,  der 
welthchen  und  himmli- 
schen, mit  ihrem  Gros- 
sen und  Kleinen  schil- 
dert H.  Kaulbach  auch 
mit  Vorliebe  in  leben- 
digen, pointirten 
Scenen  und  feinen 
Lichtern  das  Kloster- 
leben. Da  lehrt  eine 
Nonne  in  freigewählter 
mütterlicher  Pflicht  die  Kleinen,  dort  füttert  ein  Mönch  ein 
herrenloses  Findelkind,  da  öffnet  ein  in  der  Kutte  Gefan- 
gener mitfühlend  einem  Vogel  den  Käfig,  der  Kollege 
flieht  nicht,  er  will  nicht  befreit  sein  und  sein  Helfer  simulirt 
und  seufzt  «Verschmähte  Freiheit»!  Und  einanderes 
Bild  zeigt  eine  Nonne  in  einsamer  Zelle,  die  mit  weh- 
müthiger  Sehnsucht  in  die  Ferne  schaut  und  sucht, 
was  Andere  fahren  lassen,  «O  Freiheit!»  Jedes 
H.  Kaulbach'sche  Blatt  schlägt  einen  dichterischen  Text 
an,  jedes  bietet  auch  dem  einfachsten,  schönheitsfrohen 
Gefühlsmenschen,  dessen  Auge  nicht  für  die  Feinheiten 
der  malerischen  Qualitäten  geschult  ist,  einen  Reiz,  — 
eine  Anregung  zur  Mitempfindung. 

Für  alle  Freunde  einer  veredelten  Darstellungsweise 
war  das  H.  Kaulbach'sche  Bild,  «Die  Opferkerzen», 
ein  Anziehungspunkt  der  vorjährigen  Ausstellung.  Seine 
harmonische,  einfache  Farbengebung,  seine  kräftige  Be- 
leuchtung, sein  rührender  Inhalt  fanden  einstimmige 
Bewunderung.  Der  sofortige  Verkauf  versteckt  es  nun 
im  Privatbesitz,  die  Reproduktionen  erhalten  es  im  Ge- 
dächtniss  eines  weiten  Kreises. 

Das  diesjährige  Ausstellungsgemälde  H.  Kaulbachs, 
«Das  Ende  vom  Liede»,  zeichnete  sich  durch  die- 
selben Vorzüge  in  Zeichnung,  Farbe  und  Beleuchtung 
aus,  —  es  dringt  wie  die  Töne  eines  wehmüthig  auf- 
seufzenden Ave  Maria  zu  Herzen.  Seine  fromme  Sängerin 


steht    schon   nah   an    dem  Himmel,   an    den   sie  glaubt, 
und  nimmt  ihr  «inneres»   Leiden  mit  hinüber. 

Dieses  Gemälde  beweist  aufs  « Neueste »  ,  dass  die 
Schönheitsvorstellung  Hermann  Kaulbachs  nicht  vor  der 
impressionistischen  Helle  der  neuen  Malart  zerstiebt, 
sondern  auch  im  «neuen»  Lichte  lebendig  und  lebe- 
fähig bleibt.  —  Es  wurde  von  dem  kunstsinnigen  Gross- 
herzog von  Oldenburg  erworben. 

Ja,  wer  in  der  Kaulbachstrasse  an  die  Atelierthüre 
Hermann  Kaulbachs  klopft  —  und  aufgemacht  be- 
kommt, der  findet  kaum  einen  Bildervorrath ,  aber 
immer  etwas  auf  der  Staffelei,  was  den  Maler  selbst 
gefangen  hält  und  gemalt  werden  mussl  — 

Es  ist  unmöglich ,  die  ganze  Reihe  seiner  Werke 
aufzuzählen.  Wohl  über  hundert  sind  schon  Zeugen 
seiner  mannigfaltigen,  sicheren,  bescheidenen  Kunst. 
Der  Bezeichnung  « bescheiden »  möchte  ich  den 
stärksten  Nachdruck  geben,  Hermann  Kaulbach  füllt 
dieses  viel  gemissbrauchte  Eigenschaftswort  als  Mensch 
und  Künstler  mit  seinem  vollen  Goldwerthe  aus!  -t- 

Barrengold  I  Im  Verkehre  nicht  giltig  und  nicht 
nützlich,  —  aber  Gold!  —  Er  bescheidet  sich  that- 
sächlich  in  selbst  ungerechter  Weise.  Er  kann  viel 
mehr  als  er  herausgiebt,  steckt  sich  zum  Theil  selbst 
die  Bescheiden- 
heitsgrenze, zum 
Theil  steckt  sie 
ihm  die  Zeit,  die 
er  so  fleissig  aus- 
braucht und  die  nie 
reicht.  —  Er  kann 
modernst  malen 
und  in  seinem  ge- 
heimsten Atelier- 
Kämmerlein  sind 
Bilder  verborgen, 
die  mancher  Schot- 
tenkenner ruhig  den 
Schotten  —  und  an- 
dere ,  die  mancher 
Sezessionist  Uhde 
zuschreiben  würde. 
Das  hat  er  nach- 
gemacht und  es  ist 

ein  Kunststück 
seiner  vielgewand- 


Hermann  Kaulback.     Studie  aus  Capri. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEri", 


Hermann  Kaulbacli.     Studie  aus  Capri, 

ten  Technik.  Aber  —  er  hat  eigene,  kräftige  Ideen, 
gewinnt  die  künstlerische  Macht  über  sie  und  hoffent- 
lich erstehen  sie  bald  in  Freilichthelle.  Er  besitzt 
als  moderner  Mensch,  der  Herz  hat,  dessen  Geistes- 
leben aus  den  günstigsten  Faktoren  der  Vererbung, 
des  Milieus  und  der  Erziehung  heraus  gebildet  wurde, 
ein  grosses  Interessegebiet,  auf  dem  keine  Phrase,  keine 
Parteiphrase  und  keine  Renommirphrase,  wuchert.  Un- 
kraut könnte  nur  der  Botaniker  entdecken,  welcher  die 
märchenhaft  schöne,  hoch  aufstrebende  Pflanze  des 
Idealismus,  die  so  viel  Kraft  aufbraucht  und  so  selten 
Früchte  bringt,  zu  jener  Sorte  rechnet. 

Hermann  Kaulbach  kann  auch  Proletarier  mit  dem 
Heiligenschein  des  Märtyrerthums  malen,  er  hat  jetzt  eine 
Skizze  fertig:  ein  Junge  sitzt  in  einer  öden  Kammer  an 
einem  Krankenbett,  —  da  ist  das  ganze  Grau  des  Dach- 
stubenelends malerisch  ausgedrückt.  —  Er  hat  vermöge 
seiner  Vielseitigkeit  ein  weites  Feld  vor  sich  und  ist  zu  jung 
an  Jahren  und  im  Geiste,  zu  ernst  denkend  und  zu  ernst 
strebend,  als  dass  er  sein  Malgebiet  nicht  erweitern  sollte. 


Seine  feinen  Portraite  sind  nur  im  engsten  Kreise 
bekannt.  Die  weitere  Welt  kennt  ihn  bis  jetzt  haupt- 
sächlich nur  als  malenden  Dichter ;  lyrisch  und  legendär 
erzählte  er  ihr  die  liebenswürdigsten ,  harmonischsten 
Geschichten  in  klangvollen,  süssen  Reimen. 

Die  reizenden  Skizzen  in  diesem  Hefte,  die  aus 
einer  der  verborgenen  Mappen  des  Künstlers  hervor- 
geholt sind,  erzählen,  wie  lieblich  seine  ersten  Ent- 
stehungsideen in  die  Erscheinung  treten.  Die  Fee  in 
der  Mondsichel,  welche  Sterne  streut,  die  Nonne  in  der 
Waldeinsamkeit  und  in  der  Kirchenstille,  die  Gestalt, 
welche  mit  Lampe  und  Kranz  in  die  Gruft  steigt,  welche 
liederhafte  Lyrik,  aber  auf  der  Höhe  eines  unserer  ersten 
Liederdichters ! 

Aus  dem  Kreise  dieser  Phantasien  führen  die  Por- 
traitskizzen ,  diese  schwarzäugigen  Köpfchen  in  die 
Capreser  Sonne.  Das  sind  Typen,  typisch  und  charakte- 
ristisch wiedergegeben,  wie  sie  um  Soldi  in  allen  Blick- 
arten betteln  I 

Die  humoristischen  Blätter,  der  Schornsteinfeger  auf 
des  Daches  Zinne  mit  seiner  neuesten  Nachricht  vom 
Schatz,  «ich  mag  Dich  nimmer»,  der  Ständchensänger, 
dessen  Guitarre  mit  dem  hohen  C  seiner  Kehle  und 
seiner  Seele 
zu  wachsen 
scheint,  der 
Fastnachts- 
clown, der 
ihrenFächer 
findet,  der 
Amor,      der 

den  alten 
Kutscher  ein- 
schläfert und 
die     Lieben- 
den    hübsch 

langsam 
fährt,  die  Kin- 
dergruppe 
hinter  dem 
Briefcouvert- 
verschlag,das 
Amorl ,  das 
als  modern- 
ster unter  den 
modernen  Hermann  Katäbach.  Studie  aus  CaprL 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


/ 


Strebern  sich  an  den  Luftballon  hängt,  der  Carneval- 
brief bogen,  —  sind  das  nicht  erlesene  Zeugen  eines 
geistvollen,  liebenswürdigen  Humors? 

Die   beigegebenen  Illustrationen   stellen   meine  An- 
erkennung auf  die  Probe,   und    ich  glaube,    sie   werden 
mir  Zustimmungen  in  Menge  einbringen ,   —   indem  sie 
gefallen,    nie  ermüden,    sondern  anziehen,  anregen  und 
lieb  gewonnen  werden.     Der  sinnvolle  Briefbogen  «Dem 
Glücklichen  schlägt  keine  Stunde»,  die  Fee  mit  den  sing- 
enden Kindern  und  der  Engel,  der 
eben  als  Weltkind  auf  dem  Blitz 
zug  einer  Sternschnuppe  angereist       [ 
kommt,  —  das   sind  Boten   eines 
reichen  Künstler-Geistes ! 

Es  giebt  Parteileute,  welche 
behaupten ,  Hermann  Kaulbach 
gehöre  einer  «älteren,  früheren» 
Schule  an. 

Zum  Glück  ist  es  eine  Un- 
möglichkeit, die  Kunst  durch  Partei- 
gesetze zu  tyrannisiren.  Sic 
braucht  viele  und  vielerlei  Köpfe 
und  wird  vielseitig  bleiben,  wie 
laut  auch  die  Einseitigen  um 
die  Herrschaft  schreien  mögen.  Sie 
ist  der  Spiegel  des  Lebens  und  so 
tausendfach  verschiedenartig  die 
Lebensgestaltungen  sind,  so  tau- 
sendfach verschiedenartig  dürfen 
auch  ihre  Nach-Schöpfer  sein! 

Warum  will  man  gerade  auf 
dem  Gebiete  der  Malerei  Barrikaden 
bauen  und  Die,  welche  dahinter 
bleiben  möchten,  nicht  gelten 
lassen.''  Ein  müssiges  Beginnen, 
das  kein  Gelingen  krönen  wird. 

Wer  möchte,  weil  er  Tristan  und  Isolde  mit  Be- 
geisterung hört ,  die  Schubert'schen  Lieder  entbehren  ? 
Ja,  wer  möchte  diese  überhaupt  an  irgend  etwas  Neuestes 
opfern?  Niemand,  der  ihre  ganze  Anmuth  und  ihre 
ganze  Seelentiefe  je  empfunden  hat! 

Etwas  von  dem  unvergänglichen  Reiz  der  Schubert- 
schen  Lieder  liegt  in  den  Hermann  Kaulbach'schen 
Bildern.     Man    muss    ihn    sehen   und  fühlen!    —  —  — 

So  klar  Hermann  Kaulbach  in  seiner  Ideenführung 
ist,  so  wenig  reizt  ihn  der  Kampf-  und  Vertheidigungs- 


Hermann  Kaulbach.     Studie  aus  Capri. 


Standpunkt.  Das  Gerauf  um  eine  Tagesansicht,  um  Mein- 
ungen, die  ein  meist  unverkennbarer  Egoismus  treibt  und 
peitscht,  geht  seiner  vornehmen  Natur  entgegen.  Seine 
Wesens-Einheit,  die  ihn  immer  wieder  zum  Malen  zwingt 
und  seinen  Geist  auf  beständige,  künstlerische  Bethätig- 
ung  und  Klärung  hindrängt,  lässt  ihn  den  Tages- 
kampf nur  aus  der  Ferne  betrachten.  Die  Arbeit  selbst 
schliesst  seine  Erholung  in  sich  und  charakteristisch 
für  ihn  ist  bei  seinem  grossen  Talent  zur  Geselligkeit, 
bei  all  den  ehrenden  Sympathien, 

;  die  er  geniesst,  seine  zunehmende 

Vorliebe  für  einen  engeren  Kreis, 
charakteristisch  insoferne,  als  es 
in  seiner  Art  liegt,  einer  Erkennt- 
niss  die  logische  That  folgen  zu 
lassen. 

Vor  Jahren  baute  er  sich  auf 
einer  Höhe  am  Schliersee  ein  wirk- 
lich liebliches,  ländliches  Haus, 
Luginsland  genannt.  Als  ihm 
die  schöne  Lage  und  der  Klang 
seines  Namens  zu  viel  Fremdes 
über  seine  Schwelle  führte,  malte 
er  in  neckischer  Laune  als  Leit- 
und  Leidmotiv  über  die  Haus- 
thüre  den  nicht  sehr  einladenden 
Spruch : 

«Wir  wollen  hier  nicht 
gasten,    nur   rasten!» 

Die  liebe  Welt  nahm  ihm 
diese  Aufrichtigkeit  übel,  aber 
seine  guten  Freunde  wussten,  auf 
wen  der  Spruch  gemacht  war. 

Nun  steht  indirekt  dasselbe 
dort: 

Friede!     Friede! 

Diesen  Schatz  trägt  er  mit  den  Seinen  selbst  ins 
Haus.  Alles ,  was  den  inneren  Frieden  stören  könnte, 
Ruhmsucht  und  wie  sonst  die  Feinde  heissen,  —  kennt 
dieser  Künstler  nicht;  —  mit  dem  gesunden  Katzen- 
jammer, der  zwischen  glücklichen  Schaffensperioden  liegt, 
wird  er  tapfer  fertig;  —  was  von  Aussen  kommt  und 
ihn  angreift,  behandelt  er  mit  Würde  und  Kraft,  wo  es 
sich  wehren  heisst,  —  mit  schmerzbekämpfender  Philo- 
sophie, wo  es  sich  ums  Stillhalten  handelt.  Er  hat 
unversiegbare    Erfrischungsquellen    in    der    Familie ,    in 


■m^^i 


:**• 


R.  Poctzelbirser  pinx. 


Phot.  r.  BkuriUenfl.  Haneb*o 


Fränkische  Landschaft. 


y 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Hermann  Kaulback.     Studie. 

der  Natur,  in  seinem  Empfindungsreichthum!  Das  Leben 
hat  es  bisher  so  gut  mit  ihm  gemeint:  Ein  Kaulbach- 
kind, dann  selbst   «Einer!» 

Jedes  liebe  Mal,  wenn  ich  solche  Menschen 
schildere,  komme  ich  in  die  Gefahr  der  Indiskretion, 
weil  ich  die  Phrase  verachte  und  die  Beweise  liebe.  Ich 
möchte  genau  erzählen  dürfen  ,  mit  wie  lauten  Thaten 
der  besondere  Mann  in  der  Kaulbachstrassc  die  hier 
von  ihm  behaupteten  Eigenschaften  schon  bewiesen  hat, 
und  welche  schöne  Menschlichkeit  hinter,  besser  gesagt, 
i  n  diesem  Künstlerthum  steckt. 

Aus  diesen  Beweggründen  verrathe  ich  einen  Brief- 
passus von  ihm,  der  sich  um  die  Rechtsfrage  der  neuesten 
Kunst  dreht;  er  lautet: 


« Wenn  ich  mitkämpfe ,  (und  jeder  Ueberzeugungs- 
treue  thut  das)  so  geschehe  das  von  mir  aus  mit  dem 
Pinsel,  nicht  mit  der  Feder.  Das  ist  mein  Handwerks- 
zeug, ein  anderes  giebts  für  mich  nicht,  und  mit  diesem 
will  ich  auch  fUrderhin  mein  Glaubensbekenntniss  nieder- 
schreiben ,  in  der  stillen  Hoffnung ,  dass  auch  Andere 
dasselbe  mit  mir  beten  werden.  Das  kann  ich  aber 
sagen,  dass  ich  den  für  einen  Blinden  und  Thörichten 
halte,  der  ohne  rechts  noch  links  zu  sehen,  seinen  Weg 
des  Schaffens  verfolgt.  Es  ist  thöricht,  einen  schmalen 
holperigen  Fusswcg,  der  nicht  parallel  mit  dem  unseren 
läuft,  als  falsch  und  verfehlt  zu  bezeichnen.  Auch  dieser 
kann  Reize  bieten ,  die  uns  bisher  unbekannt  waren. 
Ich  glaube  Der,  der  es  ernst  mit  seiner  Kunst  meint, 
der  nicht  nur  nach  alten  Rezepten  arbeiten  will,  soll 
stets  die  Augen  offen  halten,  denn  er  kann  und  wird 
überall  lernen.  —  Sei  es  Knaus,  Stuck,  Uhde,  Thoma, 
Menzel ,  Jeder  wendet  in  seiner  Kunstsprache  Worte, 
Wendungen  und  Systeme  an,  die  nur  ihm  eigen  sind, 
und  die  für  Jeden  von  uns  von  Interesse  und  Wcrth 
sein  können,  wenn  wir  dieselben  auch  ganz,  ganz  anders 
verwerthen  als  sich  diese  Künstler  denken  mögen. » 

Hermann  Kaulbach  steht  in  den  Jahren  voller 
Schaffenskraft  und  hat  das  grosse  Vermögen,  dem  Neuen, 
das  ihn  anregt,  kritisch  und  sichtend  nachzugehen,  ohne 
der  Eigenartigkeit  seiner  Individualität  Eintrag  zu  thun. 
Sein  bewegtes,  aufnahmfähiges  Geistesleben  erzeugt 
immer  frische  Kräfte,  neue  Pläne  und  in  der  Freilicht- 
helle   der   künstlerischen  Wahrhaftigkeit   giebts    ein  ge- 


sundes Wachs- 
thum.  Die  Liebe 
macht  erfinder- 
isch —  und  Her- 
mann Kaulbach 


liebt     seine 
Kunst ! 

In  dem 
schönen 
Münchner 


Hermann  Kaulbach.     Studie. 


10 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Rathhause  liegt  das  sogenannte  goldene  Buch.  Als 
Hermann  Kaulbach  im  Jahre  1890  aufgefordert  wurde 
ein  Blatt  einzuzeichnen,  stellte  er  die  Mal-Kunst  in 
einer  symbolischen,  lorbeerbekränzten  Gestalt  dar,  Palette 
und  Pinsel  in  der  Hand.  Auf  dem  naturalistischen 
Piedestal  eines  Bierfässchens  streckt  sich  das  Münchner 
Kindel,  das  goldene  Buch  unter  dem  Arm,  zu  ihr  empor 
und  reicht  ihr  mit  den  gelobenden  Worten:  In  alle 
Ewigkeit!  Amen!  den  Mund  zum  verbindenden  Kusse, 
eine  entzückende,  innige  Darstellung  von  Münchens  Ver- 
hältniss  zur  Malerei. 

Auch  Hermann  Kaulbachs  Liebe  zur  Malkunst  ist 
zärtlich,  hingebend,  einheitlich.  So  oft  man  ihn  auch 
schon,  auf  seine  hervorragende  dichterische  Begabung 
hinweisend,  zur  zeitweisen  Schriftstellerei,  also  zurTheilung 


der  Kraft  bereden  wollte,  —  nein,  alle  seine  geistigen 
Elemente  streben  nur  zu  ihr,  —  auch  er  betet  und 
schwört:  In  alle  Ewigkeit!  Amen! 

Und  er  hält  Wort.  Sein  Schwur  ist  vielverheissend 
für  die  Zukunft ! 

So  schlicsst  dieser  Versuch  eines  Bildes,  welches 
den  hoffentlich  kleineren  Theil  eines  Künstlerlebens 
schildern  wollte,  mit  zwei  Worten,  —  aber  diese  liesse 
ich  gerne  von  Hermann  Kaulbach  illustriren,  jeder  Buch- 
stabe eine  Amorette  mit  einem  verhängten  Bild,  ernst, 
gemüthlich,  tragisch,  schelmisch  keck,  ja,  auch  satirisch, 
—  im  Ausdruck  den  Inhalt  der  kommenden,  verhüllten 
Bilder  andeutend  und  die  von  indiskreten  Engeln  ge- 
tragene Botschaft  hiesse : 

Fortsetzung  folgt! 


'   /  / 


Der  Abschiedskuss  von  L.  Alma-Tadema. 


VON 

GEORG   EBERS. 


Wie  viel  Schönes  doch  ein  so  kleines  Bild  um- 
fassen kann!  Nicht  viel  breiter  ist  es  als 
meine  Hand  und  nur  um  die  Hälfte  länger.*) 
Dennoch  giebt  es  auf  diesem  beschränkten  Räume  gar 
Verschiedenes  zu  sehen :  Figürliches,  Architektonisches, 
Landschaftliches ,  und  voll  und  ganz  widerfährt  jedem 
Motive  sein  Recht. 

«Ein  Abschiedskuss»  nennt  Alma  Tadema  selbst 
sein  Bild,  und  es  muss  so  heissen. 

Der  Maler  ist  kein  Erzähler,  doch  die  fluchtige 
Handlung,  die  er  hier  zum  Stillstand  zwang,  führt  den 
Dichter  in  Versuchung,  sie  neu  in  Bewegung  zu  setzen, 
ihr  eine  Vergangenheit  zu  schenken,  sie  in  die  Zukunft 
fortzuspinnen ,  kurz  dies  Gemälde  zu  einer  Szene  aus 
der  Novelle  zu  machen,  die  es  ihm  bei  jeder  neuen 
Betrachtung  eingehender  erzählt. 

Schön  und  interessant  genug  ist  sicherlich  Alles, 
was  sich  auf  diesem  kleinen  Räume  zusammendrängt, 
um  es  poetisch  zu  verwerthen.  Doch  der  Leser  dieser 
Zeitschrift  will  nicht  wissen,  was  der  Dichter  an  ein 
Gemälde  knüpfte.  Es  genügt  ihm,  die  Schönheit  des 
Dargestellten  zu  geniessen  und  sich  Rechenschaft  über 
den  Vorgang  zu  geben,  zu  dessen  Zeugen  das  Bild  ihn 
macht. 

Dieser  Vorgang  bedarf  eigentlich  keiner  Erklärung ; 
denn  Tadema  steht  an  der  Spitze  der  Maler,  die  beim 
Denken  nicht  nur  mit  Farben,  sondern  auch  mit  klaren 
Vorstellungen  arbeiten. 

«Der  Abschiedskuss»  versetzt  uns  an  eine  der 
Buchten  des  Mittelmeeres ,  etwa  an  die  des  alten 
Neopolis.  Der  bärtige  Mann,  dessen  Büste  auf  der 
Marmorherme  links  steht,  besitzt  eine  stattliche  Villa 
am  Strande.     Er   ist  reich    mit  Gütern  gesegnet;    denn 


*)  Es  misst  26,5  :  13,75  cm. 


schon  im  Atrium  seines  Landhauses  tritt  der  Fuss  auf 
schön  geglätteten  Marmor,  und  ein  feiner  Mosaikrand 
umgibt  das  Bassin  in  Mitten  des  Estrichs.  Ueber 
der  Thür  hängt  ein  schwerer  syrischer  Teppich,  und  es 
fehlt  in  der  Villa  auch  nicht  an  Sklaven.  Der  köst- 
lichste Besitz  des  Hausherrn  ist  indess  die  holdselige 
Gattin  mit  dem  röthlich  schimmernden  Goldhaar  und 
das  Töchterchen,  das  sie  ihm  schenkte. 

Die  Eltern  der  anmuthig  in  der  Blüthe  weiblicher 
Schönheit  prangenden  Mutter  wohnen  wohl  an  einer 
anderen  Stelle  der  Bucht,  vielleicht  in  Herculanum,  und 
die  junge  Frau  will  sie  besuchen.  Der  Sklave  hat  bereits 
den  rechten  Flügel  der  Thür  zurückgeschlagen.  Dadurch 
ist  es  dem  Blicke  vergönnt ,  ins  Freie  zu  schauen. 
Auf  der  Strasse  wartet  der  Wagen.  Der  junge  Lenker 
hält  das  Ross  fest  am  Zügel,  und  die  Schaffnerin,  die 
die  Herrin  begleiten  soll,  sitzt  schon  in  dem  leichten 
Fuhrwerk  und  schaut  ungeduldig  nach  ihr  aus.  Sie 
wird  bald  erscheinen,  und  es  gilt  nur  noch  von  dem 
Töchterchen,  das  sie  zurücklässt,  Abschied  nehmen. 
Die  beiden  haben  einander  lieb !  Wie  die  Zwölfjährige 
mit  dem  schwarzen  Haarschmuck  zu  der  schönen  blonden 
Mutter  aufstrebt  und  sie  umhalst,  wie  innig  die  junge 
Frau  das  Kind  an  sich  zieht  und  ihm  die  Stirn  über 
dem  hellen  Auge  küsst,  das  so  liebevoll  und  als  wolle 
es  sagen  :   «  vergiss  mich  nicht ! »  das  ihre  sucht. 

Die  Tochter  bleibt  gewiss  nicht  freiwillig  zurück; 
denn  auch  sie  besucht  die  Grosseltern  gern.  Dazu  lockt 
Alles  ins  Freie.  Die  Sonne  scheint  draussen  so  schön, 
und  das  Meer  glänzt  in  so  köstlichen  Azurfarben  wie 
der  Himmel,  der  sich  in  seiner  leicht  gekräuselten  Fläche 
spiegelt.  Schon  bevor  der  Sklave  das  Atrium  geöffnet 
hatte,  war  sein  wolkenlos  lichtes  Blau  durch  die  breiten 
offenen  Maschen  des  Gitterwerkes  über  dem  Thore  ge- 
drungen. 


2* 


12 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Dies  Licht  ist  uns  wohl  vertraut.  So  wirkt  es  in 
Süd -Italien  unter  freiem  Himmel,  und  es  ist  von  dem 
sogenannten  « Atelierlicht »  so  weit  entfernt  wie  auf 
Fromentins  gleichfalls  älteren  Motiven  aus  dem  Orient. 
Für  Alma  Tadema  scheint  uns  überhaupt  das  sogenannte 
« Freilicht »  nichts  Neues  zu  sein.  Schon  vor  vier 
Lustren  sah  ich  von  ihm  im  hellsten  Glanz  der  Mittags- 
sonne des  südlichen  Europa  leuchtende  Ufer  und 
Gartenszenen.  Sie  wirkten  damals  überraschend,  weil 
andere  es  noch  nicht  gewagt  hatten,  eine  so  starke 
Lichtwirkung  mit  gleich  rücksichtsloser  Treue  wieder- 
zugeben. 

«Treue»  ist  überhaupt  die  vornehmste  Eigenschaft 
unseres  Meisters.  Ich  kenne  nichts  von  ihm,  was  gegen 
sie  verstiesse.  Und  wenn  sie  ihn  dennoch  in  keinem 
Fall  über  die  Grenzen  des  Schönen  hinausführt,  die 
für  ihn  die  der  Kunst  sind,  so  sichert  ihn  davor  der 
angeborene  Geschmack,  den  er  in  der  vornehmsten  der 
Schulen  zur  Ausbildung  brachte.  Bei  dem  griechischen 
Alterthum  ging  er  in  die  Lehre,  und  er  gehört  zu  den 
Sonntagskindern,  denen  es  gestattet  ist,  in  dem  erhabenen 
Tempel  der  hellenischen  Kunst  ihren  Genius  von  Ange- 
sicht zu  Angesicht  zu  schauen.  Darum  wachsen  ihm 
aus  seinem  Herrschaftsgebiete  die  meisten  und  schönsten 
Stoffe  entgegen. 

Die  Forderung,  dass  wer  solch  ein  Motiv  aus  ver- 
gangener Zeit  behandeln  will,  nichts  geben  darf,  was  in 
ihr  nicht  zu  den  herrschenden  Gedanken,  Gefühlen  und 
Gewohnheiten,  zu  den  bekannten  und  gebrauchten  Gegen- 
ständen gehörte,  finden  wir  wie  auf  jedem  Alma 
Tadema 'sehen  Gemälde,  so  auch  auf  dem  «Abschieds- 
kusse» erfüllt.  Um  dahin  zu  gelangen,  genügt  es  frei- 
lich nicht  Kostümwerke  zu  studiren,  und  eine  Reise  an 
das  Mittelmeer  zu  machen;  es  erfordert  vielmehr  eine 
tiefe  Vertrautheit  mit  dem  Lokal  und  ein  liebevolles 
Mitleben  mit  der  Gesellschaft  der  zu  behandelnden  Epoche. 
Jene  hat  Alma  Tadema  sich  durch  rastlosen,  von  warmer 
Neigung  beflügelten  Fleiss  ejworben,  zu  diesem,  dem 
Mitleben,  drängt  ihn  ein  starker  congenialer  Zug  mit  der 
Antike.  So  ist  denn  das  Alterthum  gleichsam  seine  künst- 
lerische Gegenwart  geworden,  und  von  allen  Zeitgenossen 
möchte  ich  keinen  lieber  «einen  Griechen»  nennen  als 
ihn,    der    sich    auch    im    Nebel    der    Themsestadt    das 


sonnige  Gemüth,  den  Aufschwung  der  Seele,  ein  durstiges 
Schönheitsverlangen  und  den  liebevollsten  Zusammenhang 
mit  der  Natur,  kurz  die  vornehmsten  Eigenschaften  des 
hellenischen  Wesens  bewahrte. 

Deswegen  stellen  seine  Bilder  auch  nicht  nur  Szenen 
aus  dem  heidnischen  Griechenland  oder  Rom  dar,  sie 
sind  vielmehr  griechisch  oder  römisch.  Das  gilt  auch 
von  dem  unseren.  Wenn  einer  der  verschütteten  Be- 
wohner Pompejis  aus  der  Asche  zu  neuem  Leben  er- 
stünde, er  würde  nichts  darauf  finden,  was  ihm  nicht 
vertraut  wäre,  was  er  nicht  als  möglich  in  seiner  Zeit 
anerkennen  müsste. 

Der  tief  unterrichtete  Archäolog  Alma  Tadema 
begeht  keine  Irrthümer,  sein  Griechenthum  bewahrt  ihn 
aber  auch  vor  dem  Missgriff,  die  für  die  Zeit  in  die  er 
sein  Bild  verlegte  charakteristischen  Dinge  mit  pedan- 
tischem Gelehrtenstolz  zu  weit  in  den  Vordergrund  zu 
rücken.  Auf  unserem  Gemälde  will  das  archäologische 
Beiwerk  erst  aufgesucht  werden. 

Man  solL  kein  Buch  zur  Hand  nehmen ,  das  man 
nicht  zweimal  lesen  könnte  und  keinem  Bilde  in  seiner 
Nähe  einen  Platz  einräumen,  das  man  nicht  oft  mit  dem 
gleichen  Genuss  betrachten  möchte.  Dies  kleine  Meister- 
werk, auf  dem  sich  ein  so  freundliches  Stück  Menschen- 
leben mit  dem  Ausblick  in  eine  der  heitersten  Stätten 
der  Natur  harmonisch  verbindet,  hat  zwölf  Jahre  lang 
die  Probe  bestanden.  Mit  jedem  Winter,  in  dem  ich 
den  Himmel  Neapels  mit  sonniger  Bläue  durch  die  Oeff- 
nungen  über  der  Thür  des  Atriums  in  der  Villa  bei 
Neopolis  auch  in  mein  Zimmer  leuchten  sah,  hat  es  mir 
grössere  Freude  bereitet. 

Mit  der  Bemerkung,  wie  viel  Schönes  solch  ein 
kleines  Bild  umfassen  kann,  beginnen  diese  Zeilen.  Ich 
schliesse  sie  mit  der  Wahrnehmung,  wie  viel  Liebes  es 
auf  engem  Raum  zu  vereinen  vermag.  Die  junge  Mutter 
trägt  die  Züge  der  reich  begabten  schönen  Frau,  die 
der  Künstler  sein  eigen  nennt;  ihr  Kind  stellt  des 
Meisters  Tochter  Ane  dar,  die  Büste  auf  der  Herme 
aber  zeigt  Lorenz  Alma  Tademas  eigene  Züge.  Was 
ihm  das  Theuerstc  ist,  führte  er  auf  diesem  Gemälde 
zusammen.  Es  steht  auch  meinem  Herzen  nahe,  und 
darum  liebe  ich  den  Abschiedskuss  so  sehr,  wie  ich  ihn 
bewundere. 


S|§" 


L.  Alma-1  aücma  pinx 


Phot.  P.  HanftUAiicl,  MQnehen. 


Der  Absehiedskuss. 


ITALIENISCHE  MUSIKERBRIEFE. 


VON 


DR-  FRIEDRICH  SPIRO. 


ötm.  CjlitK^lul(tw,  »0\Vi^t  l\ii.vvi^tu.vi.^e. . 


r" 


ffermann  Kaulbach,     Studie, 

Die  Publikationen  von  Musikerbriefen  sind  sich 
in  den  letzten  Jahrzehnten  schnell  gefolgt.  Wie 
in  allen  wissenschaftlichen  Disziplinen  hatte  auch  hier 
Deutschland  den  Anfang  gemacht;  bald  schloss  sich 
Frankreich  an,  und  es  ist  begreiflich,  dass  Italien  wieder 
einmal  in  der  Reihe  der  führenden  Mächte  nicht  fehlen  will, 
sondern  auf  sein  reiches  Material  loswirthschaftet.  Aber 
der  Zweck  ist  im  Norden  und  Süden  nicht  der  gleiche. 
Während  dort  die  musikhistorischen  Studien  allmäh- 
lich zur  Blüthe  gedeihen  und  sich  denen  über  die 
bildende  Kurst  an  die  Seite  stellen,  haben  sie  hier  noch 
kaum   begonnen.     Italien    hat    der  modernen   Welt    die 


Formen  und  Mittel  der  Musik,  ja  so  zu  sagen  die  Musik 
selbst,  so  weit  sie  Kunst  ist,  gegeben,  aber  Italien  be- 
sitzt weder  ein  Buch  noch  einen  Lehrstuhl  für  Musik- 
geschichte. Wenn  die  Briefe  der  deutschen  Meister  er- 
scheinen, denkt  der  Herausgeber  zunächst  an  das  wichtige 
Hilfsmittel,  das  er  damit  der  Wissenschaft  an  die  Hand 
giebt ;  der  Gelehrte  weiss,  wie  viel  neue  Aufschlüsse  ihm 
bevorstehen,  wie  viele  Fragen  im  einzelnen  ihrer  Lösung 
entgegen  gehen.  Der  italienische  Herausgeber  will  sein 
Publikum  unterhalten,  will  die  Neugier,  mit  der  wir  uns 
gewohnheitsmässig  in  das  Privatleben  der  grossen  Männer 
einmischen,  annähernd  befriedigen,  mit  einem  Wort,  eine 
Künstlerindividualität  unmittelbar  vorführen ,  dass  sie 
als  solche  wirke.  So  haben  denn  die'Briefe  Donizettis, 
welche  die  Uniotie  cooperativa  editrice  in  Rom  soeben 
zum  ersten  Male  der  Oeffentlichkeit  übergiebt,  einen  An- 
spruch auf  Beachtung  überall  da,  wo  man  sich  für 
italienische  Musik  interessirt ;  und  das  thut  man  ja  aller 
Orten,  selbst  in  Deutschland,  dessen  Prinzipat  gerade  in 
musikalischer  Beziehung  endlich  von  allen  einsichtigen 
Bewohnern  unseres  Planeten  anerkannt  ist.  Das  vorlaute 
Geschrei  derer,  welche  seit  dem  Durchdringen  Wagners 
das  Ende  der  Oper  gekommen  meinten,  ist  gegenüber 
den  Thatsachen  und  Wagners  eigenen  Aeusserungen 
verstummt.  Man  gewöhnt  sich  allmählich  daran,  dass 
Wagner  der  Welt  noch  etwas  zu  schaffen  übrig  gelassen 
hat;  und  so  lange  Derjenige  sich  nicht  findet,  der  es 
leistet,  muss  man  sich  wohl  oder  übel  mit  den  An- 
deutungen der  Vorgänger  begnügen.  Eine  stilistische 
Hauptsache  mag  das  Verhältnis  andeuten:  Wagner  ver- 
half dem  dramatischen  Accent  zur  Alleinherrschaft,  aber 
er  unterdrückte  die  gesungene  Cantilene;  so  lange  wir 
also  das  deutsche  Drama  und  den  italienischen  Canto 
nicht  vereint  geniessen  können,  suchen  wir  sie  getrennt 
auf,  ohne  das  eine  über  dem  anderen  zu  vernachlässigen. 
Es  sind  vier  Italiener,  welche  für  Deutschland  so 
weit  in  Betracht  kommen,  dass  man  ihre  Werke  als  zur 
Kultur  unserer  Zeit  gehörig  ansehen  kann,  Rossini,  Bellini, 
Donizetti  und  Verdi.  Die  Briefe  des  letzteren  entziehen  sich 
einstweilen  noch  der  Publikation,  wie  denn  seine  Charakte- 
ristik im  ganzen  erst  dann  versucht  werden  darf,  wenn  er 


14 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


sein  letztes  Wort  gesprochen  haben  wird ;  allerdings  dürfte 
sich  dann  diese  Biographie  von  der  seiner  Landsleute 
merklich  unterscheiden,  denn  er  ist  der  einzige,  welcher 
sich  energisch  an  das  Ausland  anschloss  und  daher  mit 
den  europäischen  Strömungen  des  Jahrhunderts  Schritt 
hielt.  Dagegen  tritt  Bellini  in  völlige  Indifferenz  zurück; 
der  weichliche  Sicilianer  hatte  nicht  einmal  das  Feuer 
seines  Himmelsstriches  im  Blute,  und  nachdem  seine 
Persönlichkeit  lange  Zeit  nur  durch  den  Spott  Heines 
bekannt  gewesen  war,  gaben  die  wenigen,  in  die  Zeitungen 
gekommenen  Briefe  nur  e  i  n  bemerkenswerthes  Detail :  der 
Mann  sprach  von  dem  Effekt  seiner  Instrumentation, 
was  ungefähr  so  viel  bedeutet,  wie  wenn  einer  unserer 
Nazarener  sich  seines  Colorites  rühmen  wollte.  Ganz 
anders  schon  Rossini.  Dieser  König  der  Faune,  der 
raffinirte  Lebemann,  der  sich  mit  der  Kunst  nur  so 
lange  abgab,  wie  er  sie  brauchte  und  selbst  bei  seinen 
glühendsten  Verehrern  mehr  durch  die  Bonmots  zündete 
als  durch  die  Opern  —  von  ihm  konnte  man  etwas  er- 
warten. Wirklich  sind  aus  seinem  «Epistolario»  wenigstens 
einige  frappante  Züge  zu  entnehmen.  Zunächst  unter- 
scheidet er  sich  von  seinen  meisten  Fachgenossen  da- 
durch,  dass  er  seine  Muttersprache  tadellos,  ja  sogar 
mit  Gewandtheit  schreibt.  Sein  Styl  ist  fliessend,  seine 
Ausdrucksweise  natürlich  und  fehlerfrei.  Man  sieht  auf 
den  ersten  Blick,  dass  man  es  mit  einem  vernünftigen 
Menschen  zu  thun  hat.  Nicht  minder  unterscheidet  ihn 
von  seinen  Kollegen  die  Fähigkeit,  sich  auch  für  andere 
Komponisten  zu  interessiren ;  er  gehört  nicht  zu  denen, 
welche  im  Bewusstsein,  selber  Noten  zu  schreiben,  jeden 
der  dasselbe  wagt  wie  ein  verirrtes  Schaf  ansehen.  Er 
nimmt  Stellung  zu  den  Zeitgenossen  und  vermag  es 
sogar  sich  mit  einigen  von  ihnen  anzufreunden.  Er 
sucht  Mercadante  und  Donizetti  gute  Aemter  zu  ver- 
schaffen, freilich  nicht  ohne  sich  mit  dem  ersteren  wegen 
seiner  Unfolgsamkeit  zu  überwerfen.  Er  berichtet  theil- 
nehmend  über  Bellinis  Leichenbegängnis,  freilich  durch 
eine  leichte  Indisposition  verhindert,  bei  dem  schlechten 
Wetter  persönlich  zu  erscheinen.  Er  zeigt  sich  aufrichtig 
dankbar  gegen  Pacini,  der  ihm  so  nachdrücklich  bei  der 
Instrumentation  geholfen  hatte.  Er  liebt  von  Herzen 
den  bei  canto,  und  richtet  noch  1866  an  seinen  ama- 
tissimo  Pio  IX.  ein  Gesuch  um  Zulassung  der  Frauen  zu 
gemischten  Chören  in  der  Kirche.  Ja,  er  hat  sich  einiger- 
massen  mit  den  Klassikern  beschäftigt  und  ist  so  weit 
gekommen,    sich  über  die  Musik  und  ihre  neueste  Ent- 


wickelung  eine  Ansicht  zu  bilden.  Diese  Ansicht  ist  es  eben, 
welche  der  Welt  aufbewahrt  zu  werden  verdient.  Er  schreibt 
am  1 2 .  Februar  1 8 1 7  an  Leopold  Cicognara  unter  anderem : 

«  Hier,  mein  lieber  Leopold,  hast  Du  meine  Ideen  über 
die  gegenwärtigen  Musikzustände.  Seitdem  das  Klavier 
um  fünf  Tasten  bereichert  worden  ist,  habe  ich  erklärt,  dass 
sich  in  dieser  Kunst,  die  damals  auf  ihren  Höhepunkt  ge- 
langt war,  ein  unheilvoller  Umschwung  vorbereite.  Denn 
die  Erfahrung  hat  gezeigt,  wenn  man  das  Beste  übertreffen 
will,  kommt  man  zum  Schlimmsten.  Schon  Haydn 
hat  die  Reinheit  des  Geschmackes  zu  verderben  begonnen, 
mit  all  den  seltsamen  Accorden,  künstlichen  Uebergängen 
und  gewagten  Neuerungen,  die  er  in  seine  Kompositionen 
einführte ;  aber  immerhin  bewahrte  er  so  viel  von  der  Grazie 
der  Vorzeit,  dass  seine  Verirrungen  verzeihlich  erscheinen 
können.  Indes  nach  ihm  kamen  Gramer  und  schliesslich 
gar  Beethoven,  die  mit  ihren  Musikstücken  ohne  jede 
Einheit  und  Natürlichkeit,  ihrer  Menge  von  Bizarrerie  und 
Willkür  den  Geschmack  vollends  verdarben.  Gleich- 
zeitig setzte  Mayr  im  Theater  an  Stelle  der  einfa,chen 
und  vornehmen  Weisen  eines  Sarti,  Pa'i'siello  und  Cimarosa 
seine  genialen,  aber  fehlerhaften  Harmonien,  indem  die 
singende  Oberstimme  durch  den  Schwall  der  Begleitung 
erstickt  wird,  und  an  die  neue  deutsche  Schule  schlössen 
sich  alle  die  jungen  Operncomponisten  an.»  —  Es  folgen 
einige  Bemerkungen  über  die  berühmtesten  Sänger,  unter 
denen  die  Catalani  als  Beweis  dafür  citirt  wird,  dass  nichts 
jammervoll  genug  sei,  um  nicht  noch  die  Möglichkeit 
einer  Verschlimmerung  zuzulassen.    Dann  heisst  es  weiter: 

«  Seitdem  wurde  der  Takt,  ein  so  wesentlicher  Be- 
standtheil  der  Musik,  ohne  welchen  die  Melodie  unver- 
ständlich bleibt  und  die  Harmonie  in  Unordnung  verfällt, 
von  den  Sängern  nachlässig  und  gewaltsam  behandelt. 
Sie  überraschen,  statt  zu  rühren,  und  während  in  der 
guten  Zeit  die  Orchesterspieler  sich  bemühten,  mit  ihren 
Instrumenten  zu  singen,  suchen  jetzt  die  Sänger  mit 
ihren  Stimmen  zu  spielen.  Aber  die  Menge  klatscht 
solchem  ganz  elenden  Stile  zu  und  macht  aus  der 
Musik,  was  die  Jesuiten  aus  der  Dicht-  und  Redekunst 
machten,  als  sie  Lucan  dem  Vergil  und  Seneca  dem 
Cicero  vorzogen.  —  Dies  sind  meine  Anschauungen, 
und  offen  gestanden,  scheint  mir  wenig  Hoffnung  vor- 
handen ,  dass  die  göttliche  Kunst  aus  ihrem  jetzigen 
Elend  ohne  gänzliche  Umwälzung  der  socialen  Verhält- 
nisse herauskomme.  Du  siehst,  das  Heilmittel  wäre 
schlimmer  als  das  Leiden.     Lebe  wohl.» 


DIE  KUNST  UNSER  KR  ZEIT. 


15 


Das  Dokument  ist  kostbar,  der  wichtigste  Brief, 
den  wir  von  Rossini  besitzen,  jeder  Satz  bezeichnend. 
Grundzug  ist  die  Klage  um  die  gute  alte  Zeit;  der 
schüchternste  aller  deutschen  Autoren  wird  bereits  als 
verhängnisvoller  Neuerer  hingestellt,  eine  Erweiterung 
des  technischen  Könnens  als  Gefahr  empfunden,  Beet- 
hoven aber  als  der  Gipfel  aller  Barbarei  perhorrescirt.  Die 
Vorwürfe  sind  Willkür,  Eigenart  und  das  gegen  jeden 
Neuerer  von  den  Reaktionären  wiederholte  Hervortreten 
des  Orchesters  gegen  die  Singstimmen.  Das  Ideal  ist 
die  alte  Armuth  und  Regelmässigkeit;  um  angeerbte 
Regeln  handelt  es  sich,  «die  Keiner  soll  verletzen», 
damit  sich  in  der  Kunst  nur  um  Gottes  willen  nichts 
weiter  entwickele,  keine  Gewalt  das  häusliche  Behagen 
unterbreche.  Das  Philisterium,  wie  es  im  Buche  steht, 
hat  diesen  Brief  eingegeben ;  und  sein  Verfasser  war 
nicht  etwa  in  jenes  würdige  Alter  eingetreten,  dem  man 
das  Philisterium  allenfalls  verzeiht,  sondern  er  stand 
im  Beginne  seiner  Thätigkeit,  an  der  Schwelle  des 
eigentlichen  Lebens,  in  jener  Periode,  wo  der  trägste 
Mensch,  geschweige  denn  ein  Künstler,  den  Kopf  von 
Umsturzplänen  voll  hat.  Dieser  Mensch  war  als  Philister 
geboren.  Wohl  meinte  er  es  ernst  mit  seiner  Sache,  und 
am  Schlüsse  kommt  er  zu  demselben  Resultat,  das  so 
vielen  ernsteren  Männern  aufgegangen  ist,  wenn  sie  die 
Sklavenstellung  der  Musik  und  die  Unfähigkeit  des  Publi- 
kums sich  ewig  gleich  bleiben  sahen.  Aber  der  schleunige 
Zusatz,  das  Heilmittel  wäre  schlimmer  als  das  Uebel, 
zeigt  am  deutlichsten,  welchen  Rang  die  Kunst  bei  dem 
Philister  einnimmt,  dessen  Hauptsorge  die  Erhaltung  der 
häuslichen  Bequemlichkeit  bleibt.  Man  begreift,  dass  er 
sich  von  der  Musik  zurückzog,  als  sie  ihm  die  nöthigen 
Mittel  zu  einer  Pariser  Existenz  abgeworfen  hatte,  und 
dass  in  seinen  späteren  Briefen  weniger  von  Theater  und 
Gesang  als  von  Salami  und  Gorgonzola  die  Rede  ist. 
Die  Zeitgenossen  erhoben  diesen  Satyr  zum  Olympier, 
und  selbst  Richard  Wagner,  dem  diese  olympische 
Heiterkeit  so  lange  geschadet  hat,  lieferte  in  seiner 
« Erinnerung  an  Rossini »  wieder  einmal  ein  Beispiel 
seiner  vielverkannten  kindlichen  Gutmüthigkeit.  Die 
Nachwelt  ist  etwas  strenger  gewesen;  sie  hat  gefunden, 
dass  Behagen  und  Regelmässigkeit,  Taktstrenge  und  jene 
«Reinheit  des  Geschmacks,  welche  ausschliesslich  in  Italien 
wohnt»,  mit  der  Hoheit  der  Kunst  recht  wenig  zu  thun 
haben.  Sie  hat  nur  einem  Werke  Rossinis  das  Leben 
gegönnt ;  die  harmlose  Farce,  zu  welcher  Beaumarchais' 


unverwüstlicher  und  keineswegs  harmloser  «Barbier  von 
Sevilla»  zurechtgestutzt  wurde,  vertrug  die  ungetrübte 
Heiterkeit  der  altfränkischen  Salonmusik.  Hier  hatte  das 
Philisterium  keine  Gelegenheit  üppig  zu  werden,  und  so 
zeigte  es  einen  Augenblick  seine  gute  Seite,  die  welt- 
männische Liebenswürdigkeit. 

Völlig  anders  tritt  uns  Donizetti  als  Mensch  wie  als 
Künstler  entgegen.  Bei  ihm  ist  alles  einheitlich ;  man 
mag  diese  Natur  einseitig,  ja  beschränkt  und  schwächlich 
finden,  sie  ist  konsequent,  und  weniger  als  je  braucht 
man  hier  den  Menschen  vom  Künstler  zu  trennen.  Er 
lebte  vom  ersten  Erwachen  des  JUnglingsgeistes  bis  zum 
letzten  Athemzuge  nur  der  Kunst  und  zwar,  wenn  man 
genauer  zusieht,  nur  seiner  Kunst  im  allerstrengsten 
Sinne.  Bei  Rossini  sehen  wir  eine  starke  Negation, 
scheinbar  den  Kampf  eines  Stiles  gegen  den  andern, 
in  Wahrheit  den  Kampf  der  Ideenlosigkeit  gegen  die 
Idee;  bei  Donizetti  stets  nur  ein  Positives,  ein  Hindrängen 
auf  einen  Punkt,  eine  Betonung  desselben  Wesens.  So 
kommt  es,  dass  Rossini  in  allen  seinen  Lebensphasen 
durch  eine  Manifestation  charakterisirt  wird,  deren  Heraus- 
gabe seinen  Biographien  zur  Ergänzung  dient.  Donizetti 
pflegte  dagegen  überhaupt  keine  Manifeste  zu  erlassen, 
seine  Briefe  gehören  alle  zusammen,  keiner  ist  wichtiger 
als  der  andere,  keiner  für  sich  oder  im  Auszuge  mittheil- 
bar ;  dafür  aber  giebt  dieses  Ensemble  seine  volle  Persön- 
lichkeit, so  dass  sie  eine  Biographie  geradezu  ersetzen. 
Was  man  über  Donizetti  wissen  will  und  wissen  muss,  lernt 
man  aus  diesem  Bändchen,  und  man  lernt  es  schneller  als 
aus  irgend  einer  erzählenden  Bearbeitung.  Man  sieht  seine 
musikalische  Ausbildung  einseitig  aber  rapid  sich  voll- 
ziehen ,  man  sieht  seine  Entwickelung  durch  allerlei 
Stellungen,  die  ihn  mehr  oder  weniger  kalt  lassen,  seinen 
Taumel  von  einem  Siege  und  einem  Triumph  zum  andern, 
sieht  seine  Art  zu  schaffen,  zu  empfinden  und  zu  denken, 
sieht  vor  allem  seine  Reizbarkeit,  welche  genährt  durch 
eine  rückhaltlose  Hingabe  an  den  Strudel  des  gross- 
städtischen Treibens  seinen  tragischen  Untergang  zur 
Folge  haben  musste.  Diese  Lebendigkeit ,  mit  der  er 
sich  tummelt ,  die  Frische ,  mit  der  er  jeden  Eindruck 
empfängt ,  verhindert  auch ,  dass  die  Leetüre  dieser 
Briefe  langweilig  wird,  obgleich  ihr  sachlicher  Inhalt  im 
Grunde  ein  recht  bescheidener  ist.  Wieder  und  wieder 
handelt  es  sich  um  Bestellungen  und  Verträge,  Proben 
und  Aufführungen,  Hofgesellschaft  und  Theaterklatsch; 
unzählige   Male    kehrt    die  Situation    wieder,    dass   der 


16 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Komponist  durch  die  Unpünktlichkeit  der  Textlieferanten 
in  peinliche  Verlegenheit  geräth,  sein  Wort  dem  Director 
dennoch  um  jeden  Preis  halten  will  und  so  in  unglaublich 
kurzer  Zeit  Unsummen  von  Musik  zu  Tage  fördert.  Uns 
ist  es  ja  schliesslich  gleichgiltig,  ob  eine  Oper  Fiasco 
macht  oder  nicht,  ob  ihn  der  König  von  Neapel  zum 
Konservatoriumsdirector,  der  Kaiser  von  Oesterreich  zum 
Kapellmeister  ernennt  oder  nicht,  ob  ihn  das  Institut 
de  France  auszeichnet,  der  Chauvinismus  verfolgt  oder 
Victor  Hugo  aus  Eifersucht  über  sein  literarisches  Eigen- 
thum  geschäftlich  schädigt.  Ja  selbst  der  Schmerz  über 
den  Tod  der  Gattin  während  der  Cholera  oder  die  Freude 
über  einen  türkischen  Orden  für  neue  Militärmärsche 
entlocken  uns  kaum  mehr  als  ein  flüchtiges  Interesse. 
Die  biederen  Herausgeber  der  Sammlung  allerdings 
preisen  in  ihren  Einleitungs-  und  Begleithymnen  diese 
Züge  als  etwas  göttliches  und  erschütterndes ;  aber  mit 
ihrer  Rührung  beweisen  sie  nur,  dass  die  schmachtende 
Sentimentalität  allmählich  den  Weg  über  die  Alpen 
gefunden  hat  wie  das  Biertrinken  und  das  Spazieren- 
gehen. Solche  Ergüsse  könnte  sich  die  Unione  coopera- 
tiva  editrice  getrost  ersparen ;  die  Briefe  sprechen  für 
sich  selbst.  Sie  zeigen  ganz  im  Gegensatze  zu  denen 
Rossinis  eine  kindliche  Natur,  die  niemandem  etwas  thut 
und  sich  um  niemanden  recht  kümmert.  Wendet  sie 
einmal  den  Blick  bestimmt  auf  ein  Objekt,  so  erkennt 
sie  es  auch,  und  man  kann  einer  treffenden  Bemerkung 
sicher  sein.  Aber  das  geschieht  selten,  z.  B.  bei  Er- 
scheinungen wie  Meyerbeer  und  Liszt,  und  dann  halb 
apathisch,  wie  im  Traume;  unbewusst  geht  sie  durch's 
Leben,  ohne  klare  Erkenntniss  ihrer  Umgebung  wie  ihres 
eieenen  Innern.  Daher  auch  die  oft  kindischen  Redens- 
arten,  die  knabenhafte  Ausgelassenheit,  die  man  aus 
Mozarts  Briefen  kennt ;  die  Aehnlichkeit  mit  Mozart  tritt 
auch  sonst  hervor,  und  die  Unterschiede  beider  Er- 
scheinungen erklären  sich  vielmehr  aus  der  Erziehung 
als  aus  dem  Charakter.  Oft  würde  man  nach  der  Sprache 
glauben,  den  ungebildetsten  Musikanten  vor  sich  zu 
haben,  wenn  nicht  wieder  andere  Stellen  eine  ent- 
schiedene Sprachroutine  bewiesen.  Die  bösesten  Knittel- 
reime  wechseln  mit  eleganten  Gedichten,  und  man  ver- 
steht, wie  dieser  Mensch  die  Texte,  die  er  französisch 
komponirte,  italienisch  übersetzen  konnte  oder  um- 
gekehrt. Seine  Stellung  zu  den  Textdichtern  ist  aber 
am  überraschendsten.  Man  erwartet  bei  einem  Italiener 
dieser    Zeit,    noch     dazu    bei    einem    solchen    Engros- 


komponisten, eine  absolute  Gleichgiltigkeit  gegen  den 
Inhalt;  denn  darin  liegt  der  Hauptunterschied  zwischen 
den  deutschen  und  italienischen  Meistern,  dass  jene  Dramen 
schaffen  wollen,  diese  dagegen  Arien  und  Finales,  also 
Musiksätze,  bei  denen  man  vor  lauter  Canto  vom  Text 
so  gut  wie  nichts  vernimmt.  Donizetti  war  gewiss  ein 
echter  Italiener,  der  von  seinen  Romanzen  und  Duetten 
nicht  anders  spricht,  als  ein  Pianist  von  seinen  Rondeaux 
und  Variationen;  er  schreibt  für  Sänger  und  Freunde 
schönen  Gesanges ;  aber  unbewusst  arbeitet  in  ihm  doch 
der  Dramatiker.  Häufig  weist  er  einen  Text  zurück,  und 
zwar  stets  aus  inneren  Gründen;  ja  er,  der  fortwährend 
berühmte  Schauspiele  zu  Opernlibretti  umgemodelt  werden 
sah  und  selbst  mit  einer  derartigen  Herrichtung  von 
V.  Hugos  Lucrezia  Borgia  ungeheueres  Aufsehen  erregte, 
lehnte  so  manches  Drama,  manchen  Roman  ab,  der  damals 
die  Gemüther  beherrschte.  Unter  den  letzteren  befand 
sich  auch  Bulwers  Rienzi,  derselbe  den  nachher  Wagner 
mit  so  viel  Begeisterung  in  Angriff  nahm.  Auch  in  diesen 
Intentionen  Donizettis  lag  sichtlich  etwas  unbewusstes; 
im  tiefsten  Grunde  seiner  Seele,  da  wo  ihm  jene  Melodien 
erstehen ,  die  bis  heute  populär  geblieben  sind,  wohnt 
auch  ein  Ringen  nach  Ausdruck,  nach  Poesie,  nach  Idee, 
—  alles  das  was  die  Handwerksmusiker  nicht  verstehen 
und  so  ausdauernd  verfolgen.  Die  Behauptung  ist  berech- 
tigt, dass  auf  diesem  Grundzuge  zum  grossen  Theile 
der  Erfolg  und,  was  mehr  ist,  der  bleibende  Werth  der 
Donizetti'schen  Musik  beruht.  In  Deutschland  gehört 
heutzutage  vielleicht  etwas  Muth  dazu,  überhaupt  von  einem 
bleibenden  Werthe  dieser  Musik  zu  sprechen :  dort  herrscht 
nun  einmal  die  Wagnerpartei  —  zum  Heile  unserer  Kultur 
und  Politik  hat  sie  die  Gegner  endlich  überwunden  —  und  sie 
negirt  in  übertriebenem  Eifer  die  italienische  Musik,  am 
meisten  vielleicht  diesen  Donizetti,  den  Wagner  selbst 
gern  für  breit  und  altmodisch  erklärte.  Ja  es  bedurfte 
nicht  erst  Wagners  zu  diesem  Verdikt;  ein  ausser- 
deutscher  und  in  jeder  Hinsicht  unparteiischer  Beurtheiler, 
Gustave  Flaubert ,  hat  in  einem  Roman  und  zwar  in 
seinem  glänzendsten  Werke  gerade  die  Lucia  gewählt, 
um  durch  Beschreibung  eines  Opernabends  das  schablonen- 
hafte und  sinnlose  unseres  Musiktreibens  zu  persifliren. 
Aber  weder  dem  einen  noch  dem  anderen  ist  es  ge- 
lungen, eben  diese  Lucia  todt  zu  kriegen;  sie  hält  sich 
nach  wie  vor,  und  diejenigen  Freunde  der  Wagner'schen 
Kunst,  welche  aus  ihrem  Empfinden  keine  Parteisache 
gemacht  haben,  kann  man  mit  derselben  Begeisterung  das 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


17 


berühmte,  von  Liszt  arrangirte  Des-dur-sextett  geniessen 
sehen,  wie  etwa  ein  Ensemble  aus  dem  Lohengrin. 
Damit  nicht  genug:  eine  Fähigkeit  muss  ihm  die  Geschichte 
lassen,  welche  ihn  über  alle  italienischen  und  die  meisten 
übrigen  Theaterkomponisten  erhebt  und  welche  sich  noch 
jetzt  in  ihrer  ganzen  Folgenschwere  zeigt :  er  hat  es  ver- 
mocht, den  ernsten  und  den  heitern  Stil  auf  der  Bühne 
gleichmässig  walten  zu  lassen,  während  uns  Rossini 
immer  nur  als  Komiker  und  der  um  so  viel  tiefere 
Verdi  immer  nur  als  Tragiker  gelten  wird.  Das 
Thema  gewährt  ja  ungeheure  Ausblicke;  bedenkt  man, 
dass  Sokrates  der  erste  Mensch  war,  welcher,  unter 
allgemeinem  Widerspruch  selbst  seiner  ergebensten 
Schüler,  die  Schöpfung  von  Lustspielen  und  Trauer- 
spielen durch  einen  Dichter  für  möglich  erklärte,  und 
dass  zwei  Jahrtausende  vergehen  mussten,  bis  Shakespeare 
diese  Prophezeiung  erfüllte,  dann  wird  man  jeden  Künstler 
mit  Achtung  nennen,  der  sie  irgendwie  von  neuem  wahr 
zu  machen  wusste.  Richard  Wagner  gehört  zu  diesen 
wenigen ;  sein  Antipode,  der  Schöpfer  des  Don  Pas- 
quale  und  Elisire  (Taviore  nicht  minder.  Beiden  gebührt 
ihr  Platz  im  Kunstleben  der  Gegenwart,  ohne  dass  sie  in 
Parallele  gesetzt  werden  sollen,  und  es  ist  sehr  zu  be- 
zweifeln, ob  die  Zukunft  im  Stande  sein  wird,  den  einen 
ohne  den  andern  zu  eliminiren. 

Die  blosse  Thatsache,  dass  es  anging,  Donizetti  bei 
Betrachtung  seiner  Briefe  in  einem  Athcm  mit  Wagner 
zu  nennen,  zeigt  ihre  eminente  Bedeutung.  Alles,  was 
sie  uns  für  die  Natur  ihres  Verfassers  lehren,  alle  jene 
Charakterzüge  von  der  höchsten  Inspiration  bis  zur  nied- 
rigsten Spielerei,  verrathen  das  eine:  das  Genie.  Es  ist 
ein  Künstler,  welcher  schafft,  ohne  zu  ahnen,  wie  und 
was  er  .schafft.  Eine  Oper  nach  der  andern  entsteht, 
ihr  Autor  lebt  nur  für  sie ;  dennoch  ist  dieses  Interesse 
nur  ein  mattes,  als  ob  eine  durchsichtige  aber  unzerstör- 
bare Wand  ihn  von  jenen  trennte.  Er  komponirt,  wie 
er  lebt,  eilig  und  doch  halb  im  Schlafe.  Seine  Werke 
fesseln  ihn  halb,  nichts  fesselt  ihn  sonst;  worin  lebt  dieser 
Mensch  ganz?  Nirgends;  die  Erscheinung  ist  ein  Räthsel, 
jenes  Räthsel,  welches  durch  das  Wort  Genie  stets  von 
neuem  gelöst  und  wieder  gestellt  wird.  Auch  hier  darf 
an  die  Aehnlichkeit  mit  Mozart  erinnert  werden;  doch 
sind  Mozarts  Briefe  nicht  die  einzigen,  welche  eine  Ana- 
logie bieten.   Ist  es  denn  mit  Schumanns,  Webers,  ja  selbst 


mit  Beethovens  Briefen  wesentlich  anders?  Finden  wir 
nicht  dieselbe  Verlorenheit,  dieselbe  Unsicherheit  gegen- 
über der  äusseren  Welt,  denselben  ungleichen  Kampf 
von  zwei  inneren  Mächten,  die  sich  nie  fassen  können? 
Ja ,  vielfach  stimmen  selbst  die  Aeusserlichkeiten  überein. 
Schumann  schafft  und  schafft,  aber  im  Momente  der  Voll- 
endung steht  er  seinem  Werke  fremder  gegenüber  als  der 
phlegmatischeste  Tagesmensch,  als  der  erbittertste  Geg- 
ner; denn  der  Gegner  nimmt  Stellung  zu  dem  Werke, 
der  Schöpfer  kann  es  nicht,  denn  er  weiss  nicht  was  es 
ist.  Und  Beethoven,  der  gewaltigste  unter  ihnen  allen, 
der  Riese,  vor  dessen  Erscheinung  eine  ganze  Civilisation 
erbebt,  dessen  michelangeleske  Faust  zertrümmert  wo 
sie  nur  anpackt ,  um  aus  den  Trümmern  Kolosse,  und 
aus  den  Kolossen  eine  neue  Welt  zu  fügen  —  ach ,  mitten 
unter  den  hehrsten  Emanationen  seines  Geistes,  in  Briefen, 
die  wie  seine  Adagios  rühren  und  erheben ,  verfällt  er 
plötzlich  in  eine  Art  von  Albernheiten,  dass  man  die 
Selbstkarrikatur  nicht  als  komisch,  ja  nicht  einmal  lächer- 
lich, sondern  nur  erbärmlich  empfindet.  Es  ist  das  Kains- 
zeichen des  Genies,  das  alle  diese  unheimlichen  Gestalten 
an  der  Stirne  tragen;  das  Genie  das  in  ihnen  sitzt  und 
Werke  erzeugt,  hat  ihrer  Menschlichkeit  die  Kraft  aus- 
gesogen, so  dass  nur  der  leere  Schemen  eines  Menschen 
übrig  bleibt  zu  einem  menschenunwürdigen  Dasein.  Aber 
Wagner?  und  Berlioz?  Gewiss  geht  bei  dem  französi- 
schen Farbenmeister  alles  höchst  klar  und  korrekt  zu, 
selbst  wenn  er  haufenweise  Inkorrektheiten  an  einander 
reiht  um  desto  sicherer  Sensation  zu  machen.  Ja,  wer 
seine  Schriften  und  Briefe  liest,  wird  eher  einen  geist- 
reichen Abenteurer  als  einen  echten  Künstler  vor  sich 
zu  haben  glauben ;  und  sollten  dem  die  Partituren  wirk- 
lich Unrecht  geben  ?  —  Das  Wagnerkapitel  ist  natürlich 
so  leicht  nicht  zu  erledigen;  aber  die  Zeit  dürfte  nicht 
allzu  ferne  mehr  sein ,  wo  die  Analyse  der  Dramen 
bestätigt,  was  die  Briefe  sehr  offen  aussagen,  nämlich 
dass  er  grosse  weite  Strecken  seiner  Werke  ausarbeitete 
nicht  wie  ein  Dichter,  sondern  wie  sein  Kommentator, 
nicht  wie  ein  Künstler,  sondern  wie  ein  Philosoph.  Er 
beobachtete  sich  —  zum  Glück  nicht  immer,  denn  das 
Genie  beobachtet  überhaupt  nicht.  Dass  aber  der  arme 
Donizetti,  den  so  viele  für  einen  Faiseur  ausgeben,  viel- 
mehr unter  die  wirklichen  Genies  gehört,  das  zeigen 
dem  aufmerksamen  Beobachter  seine  Briefe. 


-»»»t«g«(- 


UNSERE  BILDER. 


In  einer  Berliner  Kunst- 
handlung war  unlängst 
ein    Bild   von    Francisco   de 
Pradilla  ausgestellt.   Vor  dem 
Bilde  stand  lange  Zeit  ganz 
vertieft  in  alle  Einzelheiten  ein 
älterer   Herr   von 
~'^*''^°^  sehr  kurzem  Kör- 
per mit  schwerem 
Kopf  und  auf  die 
Brust  niederge- 
drücktem 
Kinn.       Es 
war     Adolf 
Menzel.  Der 


■'"y-£~ --.^^^ \i\^^^=:^\_    Saaldiener 
•"""^"^^  '     "-"  erzählte,  er 

Hermann  Kaulbach.     Studie.  sei     schon 

Öfter  wieder- 
gekommen und  habe  immer  lange  vor  diesem  Bilde  sinnend 
verweilt.  Ich  trat  auch  an  das  Bild  heran.  Der  deutsche 
Meister  schüttelte  den  Kopf  und  brummte  etwas  vor  sich  hin : 

«Der  hat  Augen,  der  hat  Augen!!  Der  sieht  so 
scharf»  —  Menzel  suchte  sichtlich  nach  einem  Ver- 
gleich —   «der  sieht  so  scharf,  wie  —  ich!» 

Wir  führen  unseren  Lesern  eine  Wiedergabe  von 
Pradillas  kleinem  Bilde  «Seebad»  vor.  Der  spanische, 
meist  in  Rom  lebende  Meister,  welcher  oft  auf  gewaltiger 
Leinwand  in  lebensgrossen  Gestalten  sich  erging,  liebt  jetzt 
die  kleinsten  Formate.  An  der  Behandlung  des  lockeren 
Strandkieses  auf  unserem  Bildchen  sieht  man,  dass  er  mit 
breitem  Pinsel  zu  malen  weiss.  Das  Ganze  erweckt  aber 
keineswegs  den  Eindruck  des  Spitzen,  Mühseligen, 
Loupenhaften.  Doch  ist  bei  aller  Breite  des  Vortrages 
jede  Kleinigkeit  im  Bilde  sicher  und  klar  gegeben.  Man 
sehe  zum  Beispiel  die  drei  Paar  nach  dem  Klang  der 
Ziehharmonika  und  der  Guitarre  tanzenden  Schiffer- 
mädchen: Welcher  Schwung  in  der  Bewegung  1  Wie  fest 
packt  die  Hand  der  Einen  die  Schulter  der  Andern  I 


Und  das  ganze  zwischen  den  acht  italienisch  sorglos 
erbauten  Hütten,  an  den  rasch  aufgeschlagenen  Tischen 
lachende,  trinkende,  schwatzende  Badepublikum  in  seiner 
eleganten  Ungenirtheit,  der  Blick  auf's  tiefblaue  Meer 
und  auf  die  ihm  eben  Entsteigenden,  dieses  ganze  keines- 
wegs an  die  langweiligen  Modebäder  Ostende,  Trouvillc 
oder  Brighton  mahnende,  sondern  noch  unbefangene 
lustige  Treiben.  —  AU'  dies  ist  mit  einer  erstaunlichen 
Schärfe  erfasst  und  mit  einer  Kraft  des  Sonnentones 
durchgeführt,  die  schier  einzig  in  ihrer  Art  sind. 

Lustig  flattert  die  italienische  Fahne  über  den 
belebten  Strand  hinaus,  der  endlosen  See  zu. 


Hermann  Kautbach.     Studie 


Ludwig  Entui  plox. 


J'i.n!       K      H  inf-tii-U/l.    Mü 


Katzen  fr eundin. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


19 


Hermann  Kaiäbach.     Studie. 

Unser  Ludwig  Knaus  nennt  eines  seiner  jüngsten 
Werke  «Die  Katzenfreundin».  Das  Bildchen  ist  zweifel- 
los Portrait :  Die  weitstehenden,  etwas  geschlitzten  Augen, 
das  kecke  Naschen,  den  kunstgerechten,  lächelnden  Mund 
und  das  keineswegs  klassische  aber  herzige  Rund  des 
Lockenköpfchens  erfindet  man  nicht,  malt  man  nicht, 
ohne  es  in  der  Natur  gesehen  zu  haben.  Sie  strickt,  die 
anmuthige  Kleine,  und  die  gefleckte,  auf  ihrem  Schooss 
liegende  Katze  schnurrt  dazu.  Der  Meister  aber  verglich 
beim  Skizziren  das  Charakteristische  der  beiden  Köpfe  und 
er  fand,  wie  bei  dem  einschmeichelnden  Mädchen,  bei 
der  Katze  weitstehende,  etwas  geschlitzte  Augen,  ein 
keckes  Naschen,  ein  feines,  reinliches  Mäulchen  und 
kugelrundes  Köpfchen.  —  Und  er  mag  wohl  gelächelt 
haben,  indem  er  der  Katzenfreundin  im  Bild  die  Katze 
in  den  Schooss  legte. 


Auf  der  letzten  Münchener  internationalen  Aus- 
stellung erregte  R.  Pötzelbergers  «Thallandschaft» 
grosses  Aufsehen.  Man  war  von  dem  Künstler  fein  ge- 
stimmte, tiefempfundene  figürliche  Arbeiten  gewöhnt,  man 
wusste  wohl,  dass  er  seine  Gestalten  in  eine  landschaftliche 
Umgebung  zu  stellen  wusste,  die  das  ergänzende  Wider- 
spiel der  sie  bewegenden  Stimmungen  bildete.  Aber 
eine  so  farbentiefe ,  ernste  und  sinnige  Landschaft  war 
aus  Pötzelbergers  Werkstatt  noch  nicht  hervorgegangen. 
Es  scheint  fast,  als  habe  die  Kunst  des  Hans  Thoma, 
diese  frische,  einfache  Naturaufiassung  auf  ihn  befruch- 
tend gewirkt.  Denn  so  wenig  sein  Bild  einem  Thoma 
ähnelt,  so  sehr  ist  es  von  der  sinnigen  Tiefe  der  Natur- 
beobachtung beherrscht,  welche  den  Frankfurter  Künstler 
so  eigenartig  von  anderen  Meistern  unterscheidet. 

Es  ist  Abend  und  die  Gegend  liegt  schon  in 
dämmerndem  Zwielicht.  Pötzelberger  schaut  vom  Hügel- 
rande zur  Mühle  in's  Thal  hinab,  auf  die  mit  Wiesen, 
Feldern,  Busch  bestandenen  Lehnen,  auf  die  Auen  am 
Bach,  auf  die  Heuernte,  in  welcher  man  den  letzten  Wagen 
einzubringen  sich  müht,  und  die  zum-Stall  heimziehenden 
Gänse.  Es  ist  keine  «  romantische  »  Gegend,  keine  solche, 
welche    der    Tourist  «malerisch»,    oder,   wenn    er  sich 


Hermann  Kautbach.     Studie. 


20 


DIE  KUiNST  UNSERER  ZEIT. 


Hermann  Kaulbach.     Studie. 


besonders  kunstgebildet  erweisen  will,  «pitoresk»  nennt  —  es 
ist  nur  ein  Blick  in  deutsches  Land,  ein  eindringlicher,  liebe- 
voller Blick,  dem  ein  echter  Meister  Dauer  und  Nachdruck 
zu  geben  verstand. 

In  einem  seiner  geistvollen  Briefe  sagt  Karl  Stauffer-Bern : 
«Es  giebt  nur  eine  Kunst,  nämlich  die,  welche  hervorgebracht 
wird  durch  die  Freude  an  der  Natur  und  die  nichts  weiter 
sucht,  als  diesem  Gefühl  Ausdruck  zu  geben »  —  Pötzelberger 
hat  diese  eine  Kunst  .  .   . 


Der  Berliner  Akademieprofessor  Eugen  Brachlist  im 
vorigen  Jahre  wieder  einmal  tief  unten  im  Orient  herumgeritten, 
um  am  todten  Meere  und  in  Baalbeck,  in  Syrien  und  Palästina 
nach  jenen  Gegenden  zu  suchen,  welche  ihn  besonders  maler- 
isch anregen:  Wilde  Berggruppen,  gewaltige  Steinmassen, 
eine  ernste,  feierliche  Felseneinöde  oder  die  unerfassbare 
Weite  einer  Wüste,  der  See  —  das  sind  die  Dinge,  in  welchen 
sein  Pinsel  schwelgt.  Es  ist  noch  ein  Zug  der  Kunst  des 
alten   Schirmer   oder   Lessings   in  ihm.  '  . 

Er  wirkt  durch  Stimmungen  auf  das 
Gemüth,  durch  scharf  hingestellte  Gegen- 
sätze auf  den  Verstand.  So  in  unserem 
Bilde  «Die  Klause». 


Die  Wohnung  des  Eremiten  ist  prachtvoll  gewählt.     Ein  schmaler  Weg,  den 
er  sich  selbst  baute,   führt  zu  einer  Schlucht  im  gewaltigen  Felsen.     Der  manns- 
hohe Steindamm,    der    über   dem  jähen  Abhänge  aufgeführt  wurde,  schützt  den 
Alten    und    seinen    kleinen    Vorhof    vor    dem    wildesten   Anprall    des    Sturmes. 
Durch  eine  schlichte  Mauer  ist   unter  dem  überhängenden  Felsen  die  Klause 
abgeschlossen.     Ein  Kreuz   ziert  die  Thüre.     Dort,    unter  dem  Schutz  der 
überhangenden  Felsenmassen,  sitzt  der  Alte  trocken  und  sicher.     Riesenhaft 
thürmt  sich   das   Felscndach   über   seine  Lagerstätte.     Von  unten, 
vom  Meeresufer  herauf  aber  schlängelt   die   üppige  Kleinwelt   des 
Südens    in  Blumen   und  Sträuchern  ihr  buntes  Netz  empor,   jeden 
Vorsprung,   jede    handvoll    fruchtbare    Erde    benützend,    um    den 
starren  Fels  zu  schmücken,  an  dessen  Fuss  die  See  sich  in  blauer 
Weite  dehnt. 


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Hermann  Kaulbach.     Studie 


Ka^en  Brftcht  pinx. 


Pbol.  f.  BanrsUMBl,  MQnchrn. 


Die  Klause. 


DIE  AMERIKANISCHE  MALEREI  IN  EUROPA. 

(MIT  BERÜCKSICHTIGUNG  DKR  MÜNCHKNER  AUSSTELLUNG   1S92.) 


Von 


CORNELIUS    GURLITT. 


An  einem  Junitage  des  Jahres  1760  rollte  ein 
feierlicher  Zug  von  dreissig  schweren  Pracht- 
-  wagen  die  Rampe  zum  Kapitol  hinauf.  Es 
waren  die  Mitglieder  der  berühmten  und  vornehmen 
Gesellschaft  der  Dilettanten,  das  ganze  kunstgelehrte  und 
kunstsinnige  Rom ,  welches  einem  jungen  Maler  das 
Geleit  gab,  um  ihm  die  damals  vor  Allen  hoch  ge- 
feierte Statue  der  alten  Kunst,  den  Apoll  von  Belvedere, 
zu  zeigen  oder  richtiger ,  um  ihn  selbst  zu  beobachten, 
welchen  Eindruck  wohl  das  kostbare  Werk  griechischer 
Meisterschaft  auf  den  Jüngling  ausübe ! 

Das  schmale,  schlanke  Männchen  von  nun  zweiund- 
zvvanzig  Jahren,  welches,  leicht  in  Verlegenheit  gebracht, 
roth  wurde  wie  ein  Mädchen,  machte  keineswegs  seiner 
selbst  willen  den  Eindruck,  als  sei  es  von  so  besonderer 
Bedeutung.  Das  Einzige,  was  ihn  von  seinen  Be- 
gleitern unterschied,  war  die  Einfachheit  seiner  schwarzen 
Kleidung,  die  fremdartig  hässliche  Form  seines  Hutes, 
die  Schlichtheit  seiner  Erscheinung.  Der  junge  Mann  war 
vor  wenig  Tagen  in  Livorno  auf  einem  geraden  Weges 
von  Nordamerika  kommenden  Schiff  gelandet.  Er  hatte 
wenig  Empfehlungen  mitgebracht,  aber  die  Kunde  von 
der  Ankunft  des  Jünglings  hatte  sich  merkwürdig 
schnell  verbreitet.  Benjamin  West ,  der  Sohn  eines 
Quäkers  und  Penn'schen  Kolonisten,  war  ja  «drüben» 
schon  eine  bekannte  Persönlichkeit.  Er  hatte  vor  vier 
Jahren  in  Philadelphia  und  New- York  Bildnisse  zu  malen 
begonnen,  nachdem  er  in  der  unmittelbaren  Nähe  der 
Indianer  gemeinsam  mit  den  von  seinem  Vater  aus 
christlicher  Liebe  in  Freiheit  gesetzten  Sklaven  auf- 
gewachsen war.  Es  galt  als  ein  Wunder,  dass  in 
solcher  Umgebung  künstlerische  Begabung  zu  Tage  ge- 


treten sei.  Und  wenn  West  gleich  für  fünfzig  Mark  ein 
Bildnis  und  für  hundert  ein  solches  in  ganzer  Figur  lieferte, 
so  war  er  doch  einer  der  ersten  Künstler,  den  die  neue 
Welt  gebar.  Diesen  kennen  zu  lernen,  reizte  die  römischen 
Kenner.  Nicht  seine  malerischen  Leistungen  empfahlen 
ihn  vor  Anderen,  sondern  der  Sagenkreis,  der  sich  um 
ihn  gebildet  hatte 

Man  hörte  von  dem  wilden  Leben ,  weiches  seine 
Jugend  umtobte,  von  Kämpfen  mit  den  Indianern,  von 
dem  an  den  Zug  des  Germanicus  in  den  Teutoburger 
Wald  mahnenden  Begraben  der  Reste  des  Braddock'schcn 
Heeres,  welche  ihn  zur  bildlichen  Darstellung  angeregt 
hatte,  von  seinem  Versuche ,  dort  hinten  in  den  fernen 
Wäldern  des  Westens  ein  Bild  vom  Tode  des  Sokrates 
zu  entwerfen.  Man  erwäge  wohl,  welche  Gedanken- 
verbindungen dies  für  die  Römer  bot :  Der  Kenner 
der  grossen  Stoiker  des  Westens,  der  Mohikaner  und 
Dclawaren,  malt  den  Stoiker  der  Griechen!  Es  schien, 
als  stelle  dieser  Mann  aus  dem  schlicht  frommen,  streng 
sittlichen  Kreise  der  Quäker  den  Anfang  einer  Kunst- 
verjüngung dar;  als  bringe  dieser  Jüngling  das  ersehnte 
Neue,  er  der  Künstler  wurde,  obgleich  ihm  erst  die  Ge- 
meinde das  Malen  hatte  gestatten  müssen.  Denn  dies 
galt  ihr  als  weltlicher  Tand,  der  aber  doch  wohl  nicht 
gottlos  sein  könne,  wenn  Gott  einem  der  Ihren  so  viel 
Kraft  dazu  verliehen  habe.  Man  muss  eben  bedenken, 
dass  kurz  vorher  der  junge  Jean  Jacques  Rousseau  sich 
im  Sinne  von  Fox  und  Penn  in  seinem  « Discours  sur 
les  arts  et  sciences  »  dahin  geäussert  hatte,  Kunst  und 
Wissenschaft  brächten  keineswegs  eine  Verbesserung  der 
Sitten  mit  sich ;  dass  das  eben  erschienene  Buch  « La 
nouvelie  Hcloise»  damals  die  gebildete  Welt  tief  erregte. 


22 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


in  welchem  Rousseau  die  Rückkehr  zur  Schlichtheit 
eines  Naturzustandes,  die  Ueberlegenheit  der  Unver- 
bildeten über  die  Träger  der  alternden  Kultur  zu 
predigen  begann  —  gerade  in  diesem  Augenblick  trat 
den  Männern,  welche  sich  als  Vertreter  eines  über  zwei- 
tausendjährigen Geisteslebens,  als  Herren  auf  dem  alt- 
heiligen römischen  Kunstboden  fühlten,  der  Jüngling 
aus  der  neuen  Welt  entgegen:  Die  Zukunft  meldete 
sich  an  den  Thoren  der  Vergangenheit! 

Deshalb  war  man  so  gespannt  auf  den  jungen 
Amerikaner.  Der  blinde  Cardinal  Albani  betastete  ihn 
körperlich,  nachdem  er  sich  vorher  neugierig  erkundigt 
hatte,  ob  er  schwarz  oder  weiss  sei.  Geistig  betastete 
ihn  ganz  Rom.  Wie  wird  er  sein,  wie  wird  auf  ihn  das 
Höchste  wirken  was  die  Kunst  je  geleistet  hat?  So 
frisch  und  durch  Schulen  unverdorben  als  dieser,  kam 
nicht  leicht  ein  Künstler  an  die  Tiber! 

Der  Quäker  war  aber  trotz  seiner  jungen  Jahre 
und  seines  schüchternen  Aussehens  ein  formgewandter 
Mann,  der  sich  zu  beherrschen  wusste  und  mit  der  Be- 
dächtigkeit seiner  Glaubensgenossen  sich  wohl  hütete, 
als  thöricht  zu  erscheinen.  Jedenfalls  schlug  er  den  ihn 
bevormundenden  gelehrten  Herren  ein  Wippchen,  als  er 
sein  Examen  zu  bestehen  hatte.  Diese  drängten  sich  rings 
um  ihn,  neugierig  seine  Mienen  erforschend,  als  die  Statue 
des  Apoll  plötzlich  vor  ihm  enthüllt  wurde.  Mit  freudigem 
Erstaunen  rief  er  aus:  «Mein  Gott,  ein  Mohikaner 
Krieger!»  und  hatte  damit  gerade  Das  getroffen,  was 
viele  von  Jenen  zu  hören  wünschten.  Andere  schüttelten 
freilich  den  Kopf  zu  diesem  Vergleich ,  bis  ihn  West 
mildernd  erklärte:  er  habe  oft  pfeilschiessende  Indianer- 
helden in  dieser  Stellung  gesehen.  Nun  war  man  aber 
auch  allgemein  befriedigt  von  dem  Eindruck.  Denn  man 
lebte  in  der  Zeit  der  beginnenden  Sentimentalität,  in  der 
das  Ferne  an  Zeit  und  Raum  als  das  Bessere,  Glücklichere 
zu  preisen  beliebt  war:  Der  zweitausend  Jahre  alte  Gott 
erschien  dem  fremden  Jüngling  wie  ein  zweitausend 
Meilen  entfernter  Wilder  aus  jenem  Stamme,  der  doch 
« bessere  Menschen »  zeitigte.  Es  war  sein  Ausspruch 
ein  Vorgreifen  der  bald  darauf  durch  Jean  Jacques 
Rousseaus  «Emile»  verkündeten  und  von  aller  Welt 
mit  Begeisterung  erfassten  Erkenntnis,  dass  allein  die 
einfache  Natur  die  wahre  Schönheit  und  die  schöne 
Wahrheit  in  sich  berge.  Der  Quäker  aus  dem  neu 
entdeckten,  von  europäischer  Verbildung  unbeleckten 
fernen  Westen  hatte  es  verkündet:    Die  wilden  Mohawks 


gleichen  dem  Apoll  von  Belvedere!  Dort  wandelte  also 
die  göttliche  Vollendung  in  klassischer  Nacktheit  auf 
Erden,  dort  im  neu  erschlossenen  Lande  der  Einfachheit 
und  Natürlichkeit! 

So  führte  sich  durch  West  Amerika  in  die  euro- 
päische Kunst  ein.   — 

Freilich  so  ganz  Neuland  für  die  Kunst,  wie  man 
in  Rom  glaubte,  war  damals  die  westliche  Küste  des 
Oceans  doch  nicht.  Was  der  englische  Stich  schon 
damals  leistete,  was  von  Holland  ausgeführt  wurde, 
führten  schon  die  Schiffe  über  das  Meer.  Schon  hatte 
die  schottische  Einwanderung  einige  Künstler  mitge- 
bracht. Das  älteste,  als  «  drüben »  entstandene  bekannte 
Kunstwerk  dürfte  die  Zeichnung  in  Sepia  sein,  welche  der 
seit  171 5  in  Perth  Amboy  N.J.  wirkende  Maler  John 
Watson  schuf:  Es  ist  eine  Venus  mit  dem  Cupido,  also 
wahrlich  kein  geistig  auf  amerikanischem  Boden  erblühtes 
Erzeugnis.  Ein  anderer  Schotte,  John  Smybert, 
brachte  die  Kopie  eines  Van  Dyck ,  die  er  in  Italien 
gemacht  hatte,  1728  mit  über  das  Meer.  Nicht  seine 
eigenen  Bildnisse,  sondern  dieses  des  Kardinal  Bentivoglio 
kann  man  den  Quell  nennen,  von  welchem  die  Kunst 
der  Vereinigten  Staaten  ausging.  Zwei  der  bedeutendsten 
ihrer  Künstler,  John  Trumbull  und  Washington 
Alls  ton,  leiten  auf  die  Anregungen,  welche  von  diesem 
farbenkräftigen  Bilde  ausgingen,  zurück,  dass  sie  selbst 
in  der  Malerei  vorwärts  kamen.  Henry  Bembridge 
hatte  bei  Mengs  und  Battoni  studirt,  ehe  er  in  die  neue 
Welt  fuhr. 

Freilich  bot  das  Land  drüben  zunächst  noch  harten 
Boden  für  die  Kunst.  Robert  Feke  hatte  um  seiner 
sündigen  Kunstliebe  willen  schwere  Kämpfe  mit  seinen 
Glaubensgenossen,  den  Quäkern,  zu  bestehen,  bis  er 
abenteuernd  in  spanische  Lande  auswanderte.  Aber  er 
wusste  seine  Zeitgenossen  im  Bilde  festzuhalten  mit 
tüchtigem ,  nüchternem  Ernst ,  und  es  war  immerhin 
ein  erfreulicher  Zug,  dass  die  Malerei  auf  das  That- 
sächliche,  auf  den  lebenden  Menschen  hingewiesen, 
und  von  den  Kolonisten  das  Bildnis  der  «Venus  mit 
dem  Cupido »  vorgezogen  wurde.  Denn  das  Bildniss 
bildet  das  Rückgrat  aller  echten  Kunst!  — 

West  wusste  sich  bald  in  Italien  noch  auf  andere 
Weise  als  blos  durch  sein  Amerikanerthum  eine  Stellung 
zu  machen.  Sein  erstes  in  Rom  gemaltes  und  ohne  seinen 
Namen  ausgestelltes  Bild  gefiel  so,  dass  man  es  anfangs 
für  einen  Rafael  Mengs  hielt.     Man  muss  wissen,  was 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEIT. 


23 


Kengon   Cox.     Bildnis  des  Bildhauers  Aug.  H.   Gaudens. 


das  hiess:  Mengs,  der  damals  die  Villa  des  Cardinal  Albani 
ausmalte,  galt,  obgleich  er  selbst  erst  einige  Dreissig  zählte, 
für  einen  der  ersten  Meister  aller  Zeiten,  um  dessen 
Werke  sich  die  Fürsten  und  Reichen  stritten.  Er  war 
Direktor  der  Kunst-Akademie  auf  dem  Kapitol.  Als  es 
bekannt  wurde,  der  junge  Amerikaner  habe  das  Werk 
geschaffen ,  erfasste  fast  ganz  Italien  ein  Rausch  der 
Begeisterung.  Die  sonst  so  verzopften  Akademien  von 
Parma,  Bologna,  Florenz  machten  den  Jüngling  zu 
ihrem  Mitglied;  der  König  von  England,  damals  noch 
Herr  der  Kolonien,  bewilligte  ihm  durch  seinen  römi- 
schen Gesandten  weitgehenden  Kredit.  Man  begann 
auf  sein  Urtheil  zu  hören  und  er  durfte  es  wagen,  Michel 
Angelos  Gestalten  für  unwahrscheinlich  zu  erklären ,  ja 
man  freute  sich  mehr  für  Rafael  als  für  West,  als  dieser 
erklärte,  dass  ihm  jenes  Werke  täglich  mehr  als  sehens- 
werth ,  natürlich  und  vornehm  erschienen.  Die  neue 
Welt  trat  stolzen  Schrittes  in  die  Kunst  ein ! 

Im  Jahre  1763   ging  West    nach    London.     Es  war 
damals  dort  zweifellos  der  heisseste  Boden  für  Künstler 


in  Europa.  Denn  die  englische  Malerei  hatte  plötzlich 
ihren  stolzen  Lauf  begonnen.  Freilich  der  erste  An- 
sturm war  vorüber.  Hogarth  war  schon  den  Siebzigen 
nahe,  er  hatte  eben  sein  Buch  über  die  Schönheitslinie 
als  den  Auszug  seines  ganzen  künstlerischen  Denkens 
herausgegeben.  Der  Kritiker  der  Weltsitten,  der  Swift 
unter  den  Malern,  hatte  nun  alle  Hände  voll  zu  thun, 
sich  der  Kritiker  seiner  Ansichten  zu  erwehren.  In 
seinem  letzten  grossen  Werke,  der  jetzt  im  Saone-Museum 
in  London  befindlichen  Reihe  von  vier  Bildern  « Die 
Wahl » ,  waren  die  Farben  schon  sehr  grau ,  der  so  be- 
liebte « opake »  Ton  der  Holländer  schon  sehr  gläsern, 
der  Aufbau,  ja  selbst  die  Perspektive  nicht  ohne  Mängel. 
Schon  lange  empfand  man  in  London  das  Sinken  von 
Hogarths  Stern.  Reynolds  stand  zwar  auf  der  Höhe 
seiner  Kunst  wohl  als  der  grösste  Maler  der  Zeit ,  aber 
er  schuf  nur  Bildnisse  und  hatte  es  aufgegeben,  Geschichts- 
bilder zu  malen,  obgleich  diese  für  die  höchste  Leistung 
der  Kunst  gehalten  wurden;  Gainsborough  lebte 
noch   in    Bath    als   ein    in    seinem    Werth    unerkannter 


24 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Landschafter;  Wilson,  sein  Vorbild  im  Erfassen  der 
leblosen  Natur,  der  ijrosse  Stilist  im  Sinne  Claude 
Lorrains  unter  den  Engländern,  fand  bei  seinen  Lands- 
leuten keinen  Anklang,  so  dass  er  dem  Elende  nahe 
war  —  es  fehlte  England  augenblicklich  an  einer  führen- 
den Kraft.  Nachdem  es  mit  dem  überderben  Realismus 
Hogarths  begonnen  hatte,  mit  einer  Kunst,  welche  vor 
Allem  im  unerbittlich  wahren ,  ja  übertriebenen  Aus- 
druck selbst  des  Hässlichsten  ihr  Ziel  sah ,  die  aber 
dieses  unkünstlerischer  Weise  für  sittliche  Zwecke  dienst- 
bar machen  wollte,  war  es  in  Reynolds  und  Wilson  einer 
reinen  Schönheit  zugefallen,  einem  starken  Streben  zu 
idealisiren,  die  Natur  über  sich  selbst  in  Ton  und  Zeich- 
nung zu  erheben.  Der  Reichthum  und  die  geistige  Höhe 
des  Landes,  das  eben  auch  in  der  philosophischen 
Fortbildung  des  freiheitlichen  Gedankens  und  in  der 
dichterischen  Durchgeistigung  der  Sittlichkeitsbestreb- 
ungen die  Führung  in  Europa  in  die  Hand  genommen 
hatte,  auf  Frankreich  vorzugsweise  politisch,  auf  Deutsch- 
land dichterisch  anregend  zu  wirken  begann,  bot  den 
besten  Boden  für  einen  neuen  künstlerischen  Geist. 
Damals  war  der  letzte  Widerstand  der  Jacobiten  gebrochen, 
hatte  in  Amerika,  wo  die  Franzosen  unterlegen  waren, 
das  Ringen  noch  nicht  begonnen,  weitete  sich  der  ost- 
indische Besitz  Grossbritanniens  und  mit  diesem  trotz 
der  grossen  Staatsschuld  der  Unternehmungsgeist  und 
der  Wohlstand  des  Landes.  Die  politischen  Kämpfe 
unter  Georg  III.,  das  Hereinziehen  der  Volksmassen  in 
das  öffentliche  Leben,  der  tiefgehende  nationale  Schwung, 
all'  diese  Zeichen  einer  starken  wohlthätigen  Erregung 
des  Volksgeistes  führten  die  Hauptstadt  Englands  immer 
mehr  an  die  Spitze  der  europäischen  Kunststätten, 

Auch  in  London  schaffte  sich  West  in  raschem 
Anlauf  einen  vollen  Sieg.  Heute  ist  er  freilich  auch 
dort  für  die  Menge  fast  verschollen  und  von  den  Kunst- 
gelehrten vernachlässigt.  Während  man  jetzt  auch  in 
Paris  und  in  Deutschland  immer  mehr  die  Grösse 
Reynolds  und  Gainsboroughs ,  Romneys  und  Raeburns 
und  aller  der  englischen  Bildnismaler  aus  der  Zeit  des 
Swift  und  Walter  Scott,  des  Pitt  und  Wellington  er- 
kennen lernt,  fällt  nur  wenig  Ruhm  auf  den  Amerikaner. 
Aber  seine  Zeitgenossen  sparten  mit  diesem  nicht,  L^nd 
sie  thaten  sehr  wohl  daran,  denn  West  brachte  that- 
sächlich  Neues  und  Eigenartiges  nach  London,  Zwar 
seine  Farbe  war  so  klassisch  akademisch,  wie  man  sie 
nur   immer  damals   in  Rom    sich   aneignen  konnte.     Es 


ist  jene  Farbe,  welche  Goethe  in  seinen  späteren 
Jahren,  als  auch  er  ihrer  fahlen  Buntheit  satt  geworden 
war,  «  nebulistisch  »  nannte.  Der  englische  Maler  Haydon 
nannte  sie  Ziegelstaub,  unerfreulich  für  Einbildung  und 
Herz ;  der  Rammbär  im  Hafen  von  Portsmouth ,  sagte 
er,  könne  ebenso  gut  malen  als  West!  Und  ein  neuerer 
englischer  Kunsthi.storiker  nennt  ihn  den  König  der 
Mittelmässigkeit,  einen  durch  und  durch  handwerks- 
mässigen,  akademischen  Mann ,  der  den  Rezepten  der 
Rococokunst  folge,  und  sie  anwende,  wie  die  Köchin 
die  ihrigen  am  Herde. 

Damals,  als  er  in  London  auftrat,  war  man  anderer 
Meinung,  Die  kalten,  hellen,  dünnen  Töne,  in  welchen 
er  malte,  wirkten  überraschend  gegenüber  der  malerisch 
viel  feineren  aber  tiefen,  saucigen  Farbe  des  Reynolds 
und  der  harten,  gläsernen  des  Hogarth,  Sein  erstes  in 
London  gemaltes  Bild  «  Pylades  und  Orestes  als  Geissein 
vor  Iphigenia  gebracht»,  jetzt  in  der  Londoner  National- 
gallerie  —  wahrlich  kein  «amerikanischer»  Vorwurf  — 
zeigt  alle  Eigenschaften  jener  Schule,  welche  wir  als 
die  des  David  zu  bezeichnen  uns  gewöhnt  haben.  Es 
ist  ein  David  vor  David,  sauber  gezeichnet,  mit  einem 
dem  klassischen  Relief  abgelauschten  Schönheitsgefühl 
für  die  Linie,  einer  der  Auffassung  der  Zeit  entsprechenden, 
sinnig  weichen  Behandlung  antiker  Gegenstände,  einem 
zwar  seichten,  aber  in  der  Gesammtstimmung  des  be- 
ginnenden «iEmpire»  höchst  passenden  hellen  Ton  der 
Färbung. 

Und  so  ist  denn  West ,  wie  mir  scheint,  einer  der 
ersten  Vertreter  des  abgeklärten  Klassizismus,  während 
gleichzeitig  in  Mengs  und  Battoni  die  Barockkunst,  in 
Grenze  und  Reynolds  das  Rococo  noch  mitspricht.  Er 
steht  auf  einer  Stufe  mit  den  englischen  Architekten 
Adams,  welche  ja  auch  zuerst,  früher  als  die  Franzosen, 
den  Stil  schufen,  den  wir  fälschlich  «Empire»  nennen, 
weil  er  erst  dreissig  Jahre  später  durch  die  Franzosen  des 
Kaiserreichs  bei  uns  zum  herrschenden  gemacht  wurde. 

Dieser  Klassizismus  ist  freilich  so  wenig  echt  antik, 
als  es  etwa  der  des  Palladio  oder  Schinkel  war.  Er  ent- 
wickelte sich  aus  Vorhandenem.  Die  Gesetze  des  Auf- 
baues in  seinen  Schöpfungen  mahnen  an  die  Meister  der 
Renaissance,  ihre  mechanische  Durchführung  mehr  noch 
an  Lebrun.  Aber  von  diesen  Gesetzen  haben  auch 
die  Deutschen  der  Folgezeit  sich  beherrschen  lassen. 
Man  lege  einmal  einen  Stich  nach  Lebrun,  nach  West, 
nach    Cornelius    und    nach    Kaulbach    neben    einander. 


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Träumend. 


DIR  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Man  wird  bald  erkennen ,  dass  Cornelius  zwar  die 
stärkste  Persönlichkeit,  dass  aber  seine  apokalyptischen 
Reiter  aus  denselben  Anschauungen  über  künstlerischen 
Aufbau  hervorgingen  wie  Wests  «Tod  auf  dem  weissen 
Ross->,  welches  1817  entstand;  man  wird  ferner  sehen, 
dass  all'  die  ungezählten  Geschichts-  und  Heiligenbilder, 
welche  der  Amerikaner  während  seiner  langen  Thätigkeit 
in  London  schuf,  mit 
den  Werken  Kaulbachs 
eine  ausserordentliche 
geistige  Verwandtschaft 
besitzen  —  nur  mit 
dem  Unterschied,  dass 
West  früher  da  war 
als  Kaulbach.  Auch 
das  äussere  Leben  der 
vier  Maler  verlief  ent- 
sprechend ihrem  geist- 
igen Werthe.  Corne- 
lius, der  tiefste  und 
grösste  unter  ihnen 
hatte  sein  Leben  lang 
Kämpfe,  die  drei  seich- 
teren und  der  Welt  sich 
anbequemenden  kann- 
ten den  Kampf  nur  als 
den  raschen  Uebergapg 
zum  Siege.  Sie  waren 
die  Lieblinge  ihrer  Zeit, 
ihnen  huldigten  die 
Grossen,  jubelte  die 
Menge  zu.  Bei  Jenem 
überwog  die  Stärke  und 
Eigenart  des  Mannes, 
er  forderte  Unterord- 
nung  vom  Geschmack 

der  Beschauer.  Diese  wussten  meisterhaft  ihre  Zeit 
idealistisch  darzustellen ,  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
realistisch  wahr  zu  erscheinen  und  doch  etwas  darzu- 
bieten, was  sich  über  die  für  platt  gehaltene  Wirk- 
lichkeit erhob.  Indem  sie  ihre  Gestalten  systematisch 
ordneten,  ihren  Figuren  eine  mit  dem  antiken  Kanon  ab- 
gemessene Musterform  gaben ,  die  Farbe  im  Einzelnen 
leidlich  richtig,  im  Ganzen  aber  nach  dekorativen 
Gesetzen  umgestimmt  anordneten ,  erschienen  sie  den 
Zeitgenossen  wahr    und  schön  zugleich ,    als  vollendeter 


Walter  Mac  Eiven.     Allerseelentag, 


Ausdruck  der  nach  Schönheit  ringenden  Welt.  Nur 
leider  erkannte  regelmässig  die  nachfolgende  Zeit,  dass 
die  Wahrheit  nicht  ganz  wahr  und  die  Schönheit  nicht 
ganz  aus  der  Zeit  selbst  geboren,  sondern  entlehnt  war 
und  feierte  daher  Lebrun  wie  West  wie  Kaulbach 
nicht  mehr  als  Schöpfer  einer  neuen,  sondern  im  besten 
Fall  als  Fortbildner  der  alten  Renaissancekunst.  Ja,  zu- 
meist folgte  bitterer 
Hohn  dem  über- 
schwänglichen  Lobe  1 
Allen  dreien  war 
emeinsam ,  dass  sie 
vorzugsweise  durch  den 
Inhalt  ihrer  Bilder  wirk- 
ten, nicht  durch  die  rein 
künstlerischen  Eigen- 
schaften. Sie  verstan- 
den ihre  Zeit  und  wuss- 
ten, was  dieser  behagte. 
Gerade  in  der  Sicher- 
heit des  Gefühles  für 
das  « Aktuelle »  liegt 
ein  gut  Theil  ihrer  Be- 
liebtheit. Sie  wussten 
in  der  Kunst  wie  im 
Leben  sich  in  die  Welt 
zu  schicken ,  wie  sie 
diese  nun  einmal  vor- 
fanden. Wie  Lebrun 
und  Kaulbach  wurde 
auch  West  Präsident 
der  Akademie.  Alle 
drei  waren  wie  berufen 
zum  Herrschen  über 
die  Kunst,  da  ihre  Ge- 
dankenwelt eine  durch- 
aus auf  das  Gegenständliche  gerichtete  war.  Auch 
West  war  eine  kalte ,  verständige ,  betriebsame  Natur. 
Schnell  war  er  bei  Hofe  eingeführt  und  heimisch  ge- 
worden. Je  mehr  er  stieg,  desto  mehr  erschien  er  bei 
vollendeten  Hofsitten  doch  als  der  einfache  Quäker. 
Lehrte  ihn  sein  Bekenntnis  äussere  Bescheidenheit,  so 
wuchs  tief  im  Inneren  sein  Stolz.  Die  Geistlichkeit  wendete 
sich  dem  frommen  Manne  zu,  der  Erzbischof  von  York 
warf  sich  zu  seinem  Beschützer  auf.  Es  war  damals  die 
Zeit  jener  Kunstfreunde,  die  man  in  Paris  «donneurs  des 


26 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


id^es»  nannte.  Weil  man  den  Inhalt  im  Kunstwerk 
über  Alles  schätzte,  glaubte  man  mit  einem  guten  Ge- 
danken dem  Künstler  ein  grosses  Geschenk  zu  machen, 
an  seiner  Arbeit  den  wichtigsten  Antheil  zu  haben.  Der 
König  forderte  von  West  den  «Abschied  des  Regulus 
von  Rom » :  West  überstürzte  sich  in  Entzücken  über 
diesen  Gedanken, 

Er  selbst  aber  ging  doch  seine  eigenen  Wege. 
Lange  Zeit  nach  seinem  Tode  pries  der  Genremaler 
Leslie  ein  Bild,  welches  West  in  seiner  Heimath 
gemalt  hatte.  Es  stellte  seine  Familie  dar.  Der  sauer- 
töpfische, langweilige  aber  ehrliche  Vater,  die  klein- 
liche, beschränkte  aber  brave  Schwägerin,  der  Bruder 
mit  dem  etwas  pfäffisch  gekniffenen  Gesicht,  das 
hilflose  Kind  beider,  der  Maler  selbst  als  feiner  Mann, 
mit  gepuderten  Locken,  Spitzenhemd,  Palette,  der  mit 
vornehm  gefälligem  Lächeln  auf  die  feierlich  trocken  zur 
Schau  gestellte  Gruppe  schaut  —  AU'  das  hat  einen 
Zug  von  unbefangener  Wahrhaftigkeit,  der  den  Hochton 
und  die  gespreizte  Würdigkeit  der  grossen  Geschichts- 
bilder weit  überragt. 

Diese  Wahrhaftigkeit  aber  gelegentlich  auch  in's 
Geschichtsbild  hineingetragen  zu  haben,  das  ist  das  eigene 
Verdienst  Wests.  Das  wäre  vielleicht  zu  seiner  Zeit 
einem  Europäer  in  gleicher  Weise  nicht  möglich  ge- 
wesen. 

Bei  besonders  feierlicher  Gelegenheit,  bei  Eröffnung 
der  seither  so  bedeutungsvoll  gewordenen  königlichen 
Akademie  der  Künste  zu  London  im  Dezember  1768, 
stellte  West  sein  berühmtestes  Bild  aus:  «Der  Tod  des 
General  Wolfe  in  der  Schlacht  bei  Quebeck»  (13.  Sept. 
1759).  Schon  während  des  Malens  war  ein  Streit  mit 
Reynolds  ausgebrochen,  welcher  forderte,  bei  einem  so 
erhabenen  Gegenstand  müsse  die  erhabenste  künstler- 
ische Form  gewählt  werden,  müsse  also  Wolfe  und 
seine  Umgebung  in  antikem  Gewände  geschildert  werden. 
Solche  Fragen  gaben,  wenn  einmal  aufgeworfen,  endloses 
Wasser  auf  die  Mühlen  der  Kunstfreunde.  West  blieb 
bei  seinem  Vorsatze,  den  sterbenden  Helden  und  seine 
Soldaten  so  zu  malen  wie  sie  waren,  mit  all'  den  für  ächte 
Schönheit  damals  als  unwürdig  geltenden ,  auf  einem 
erhabenen  Bilde  als  lächerlich  wirkend  verschrieenen  Ein- 
zelheiten ihrer  Kleidung  und  Ausrüstung.  Er  mochte 
sich  abermals  bei  Lebrun  und  dessen  Schilderung  der 
Schlachten  Ludwigs  XIV.  Muth  geholt  haben.  Aber 
der   amerikanische    Quäker   überragte   den    in    Rom    ge- 


bildeten Franzosen  ganz  erheblich  an  Kraft  des  Real- 
ismus. Es  entstand  hier  wirklich  eines  jener  Bilder  aus 
der  Tagesgeschichte  von  wahrheitlicher  Absicht,  wie  wir 
sie  fälschlich  als  die  Erfindung  des  Horace  Vernet  und 
der  Maler  der  napoleonischen  Zeit  ansehen.  Wieder  er- 
weist sich  in  einem  Gebiet  des  Kunstschaffens,  welchem 
bisher  Frankreich  als  die  frühere  Heimath  galt,  England 
als  Führer  —  oder  vielleicht  gar  Amerika! 

Noch  kennt  bei  uns  fast  Jedermann  das  West'sche 
Bild  in  dem  Stiche  von  Woollet,  welches  die  Zeit- 
genossen mit  Jubel  als  eines  der  grössten  Werke  aller 
Kunst  aufnahmen.  Zwar  hat  der  Aufbau  noch  die 
Gebundenheit  der  klassisch-historischen  Schule,  aber  der 
Ernst  mit  dem  der  Realismus  durchgeführt  wurde ,  ist 
erstaunlich.  Das  Bild  hat  sich  in  seiner  Wirkung  nun 
durch  fast  anderthalb  Jahrhunderte  erhalten  —  es  wird 
für  alle  Zeiten  seinen  Werth  behaupten ,  wie  es  denn 
von  Reynolds  vom  ersten  Tage  an  als  Vorbote  einer 
Revolution  in  der  Kunst  bezeichnet  wurde. 

Noch  einen  Kampf  focht  West  siegreich  durch.  Er 
hatte  den  Quäkern  sein  Recht  abgerungen,  Maler  zu 
werden,  seine  Gottesgaben  für  die  Kunst  zu  ver- 
werthen:  er  rang  ferner  der  englischen  Hochkirche 
das  Recht  ab ,  diese  Gaben  auch  für  sie  zu  ver- 
werthen,  indem  er  somit  den  kunstfeindlichen  Geist 
des  Puritanismus  besiegen  half.  Die  Briten  sollten  ihm 
dauernd  dankbar  dafür  sein.  Er  war  es,  der  durch 
den  König  die  Frage  aufwerfen  Hess ,  ob  das  Aus- 
malen der  Kirchen,  wie  man  bisher  zumeist  behauptete, 
gegen  deren  Würde  und  gegen  den  Ernst  der  Religion 
sei;  und  sein  Einfluss  bewirkte  es,  dass  die  Bischöfe 
diese  Frage  verneinten.  So  konnte  er  denn  in  achtund- 
zwanzig Bildern  die  heilige  Geschichte  für  die  Kirche 
darstellen  und  —  fast  eine  halbe  Million  Mark  dafür 
einstreichen. 

Dem  Gange  der  geistigen  Entwicklung  Europas 
mit  feinem  Gefühl  für  deren  Walten  vorauszugreifen  — 
das  verstand  West  ganz  vortrefflich.  Als  die  Romantik 
aus  den  düstern  Bergen  Schottlands  nach  London  herab- 
stieg, als  Spensers  Ritterromane  aufs  Neue  die  Geister 
zu  bewegen  begannen,  Macpherson  den  Ossian  heraus- 
gab. Bums  den  Naturton  der  schottischen  Berge  zu 
Versen  ausgestaltete,  war  er  gleich  dabei,  der  neuern 
Richtung  bildliche  P'orm  zu  geben.  Die  «Einführung 
eines  Bischofs»,  «Den  Ritter  Bayard»,  «Die  Höhle 
der  Verzweiflung»    (nach  Spensers  «Ritter   vom  rothen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


27 


Kreuz»)  sind  romantische,  rein  auf  die  Gemüthsstimmung 
berechnete  Schauerscenen ,  welche  sich  von  den  An- 
fängen deutscher  Romantik  nur  durch  das  frühere  Er- 
scheinen auszeichnen. 

West  ist  nach  all'  dem  nicht  etwa  ein  Künstler 
ersten  Ranges.  Er  selbst  freilich  hielt  sich  dafür,  er 
betrachtete  sich  als  das  Gefäss  göttlicher  Sendung,  als 
ein  geheiligtes  Wesen,  als  den  Gründer  und  Führer  der 
englischen  Kunst  und  einer  neuen  Kunst  überhaupt. 
Nur  in  Napoleon  sah  er  einen  Mann ,  mit  dem  er  sich 
zu  messen  habe.  War  doch  auch  sein  Leben  ununter- 
brochener Erfolg :  Stellte  es  doch  ihn,  den  Quäker  und 
Republikaner,  trotz  aller  kriegerischen  Wirren  zwischen 
alter  und  neuer  Heimath,  an  einen  glänzenden  Hof,  seit 
1792  an  die  Spitze  der  Akademie  und  verschaffte  es 
doch  dem  am  11.  März  1820  Verstorbenen  ein  ehren- 
volles   Grab    in    der    Ruhmeshalle    Grossbritaniens ,    im 

St.  Paulsdome. 

*  * 

* 

Als  Jüngling  hatte  West  seine  alte  Heimath  ver- 
lassen, ein  halbes  Jahrhundert  in  seiner  neuen  gewirkt. 
Man  würde  die  in  ihm  wirkende,  von  drüben  stammende 
Anregung,  das  Amerikanische  in  seinem  Wesen,  nicht 
hoch  einzuschätzen  geneigt  sein,  hätte  sich  nicht  neben 
ihm  ein  zweiter  Künstler  unter  gleichen  Verhältnissen 
ähnlich  entwickelt:  John  Singleton  Copley. 

Copley  ist  in  seiner  Entwicklung  amerikanischer  als 
West.  Er  lebte  als  geschätzter  Maler  in  Boston  und 
gab  im  Jahre  1760,  dem  dreiundzwanzigsten  seines 
Lebens,  in  welchem  West  nach  Italien  übersetzte,  sein 
Jahreseinkommen  schon  auf  6,300  Mark  unseren  Geldes 
der  Steuerbehörde  an.  Unterrichtet  hatte  ihn  wohl  sein 
Stiefvater,  der  sehr  unbedeutende  Schabkunst -Stecher 
Peter  Pelham,  denn  schon  mit  sechs  Jahren  begann 
er  in  kalten,  grauen  Tönen  mit  unbeholfener  Hand  Bild- 
nisse zu  malen.  Das  meiste  von  dem ,  was  der  junge 
Künstler  konnte,  war  aus  ihm  selbst  hervorgekommen.  Es 
stellt  also  in  einer  gewissen  Reinheit  den  Höhepunkt  des 
eigenen  Kunstschaffens  der  nordamerikanischen  Kolonien 
dar.  Bis  zu  seinem  dreissigsten  Jahre  sendete  Copley 
seine  Werke  nach  London  zur  Ausstellung,  bis  deren  Erfolg 
ihn  endlich  ermuthigte,  selbst  Europa  zu  besuchen  und  der 
Drang  nach  Fortbildung  ihn  veranlasste,  1774  England 
und  Italien  zu  bereisen.  Im  Jahr  1775  Hess  er  sich  in 
London  nieder  und  wurde  hier  bald  ein  gesuchter  Maler 
der  vornehmen  Welt,  der  er  selbst  gesellschaftlich  immer 


näher  trat.  Sein  Sohn  ist  sogar  als  Lord  Kanzler  Lynd- 
hurst  zu  den  höchsten  Ehren  emporgestiegen. 

In  der  Londoner  Nationalgallerie  befinden  sich  zwei 
der  Hauptwerke  des  Künstlers:  cDer  Tod  der  Grafen 
von  Chatham»,  d.  h.  jener  Vorgang,  als  am  7.  April  1778 
William  Pitt,  Graf  von  Chatham,  mitten  in  seiner  Rede 
gegen  die  Besteuerung  der  amerikanischen  Kolonisten 
tödtlich  erkrankte;  und  «Der  Tod  des  Major  Pierson», 
der  im  Augenblick  der  siegreichen  Entscheidung  im 
Kampf  von  St.  Heliers,  Jersey,  am  6.  Jan.  1781  von  den 
Franzosen  erschossen  wurde.  Die  Bilder  wurden  1780  und 
1783  vollendet.  Ich  nenne  diese  Daten,  um  zu  zeigen, 
dass  auch  Copley  «aktuell »  zu  sein  bemüht  war  im  Gegen- 
satz zu  den  von  der  damaligen  europäischen  Kunst  mit 
Vorliebe  betriebenen  Versuchen  die  « Alten »  immer 
wieder  auf's  Neue  zu  beleben. 

Auch  David  hat  ja  in  ähnlicher  Weise  Tages- 
ereignisse darzustellen  versucht  —  freilich  später,  zu 
einer  Zeit,  in  welcher  die  Stiche  nach  West  und  Copley 
schon  in  den  Händen  aller  Welt,  also  wohl  auch  in  seinen 
waren.  Aber  David  hat  sich  nie  von  der  klassischen 
Regel  so  weit  frei  machen  können,  als  eben  Copley  in 
seinen  ausgedehnten  Werken,  figurenreichen,  lebhaft  be- 
wegten Bildern  von  2,5  zu  3,4  Meter  Grösse  that.  Dazu 
hat  dieser  keineswegs  die  dünne,  spitze  Farbe  des  Empire, 
wie  sie  West  nie  ganz  abzulegen  vermochte.  In  seinem 
«  Tod  Chathams  »  ist  auf  die  wohl  sechszig,  meist  Perücken 
tragenden  Köpfe  der  Lords  ein  kräftiges  Licht  ge- 
worfen, sind  die  tiefgefärbten  Wände  des  Raumes, 
die  Purpurmäntel  mit  starkem,  von  Titian  und  Reynolds 
beeinflusstem  Ton  gemalt.  Man  sieht  die  Absicht,  den 
tagesgeschichtlichen  Gegenstand  mit  der  Farbe  der  besten 
Kunstzeiten  zu  versöhnen,  die  Errungenschaften  des  eng- 
lischen Bildnisses  für  das  Massengemälde  zu  verwerthen. 
In  dem  anderen  Bilde  fällt  die  rein  illustrative  Absicht, 
das  Fehlen  alles  beziehungsweisen  Beiwerkes  auf  Da 
ist  weder  falscher  Pathos  und  theatermässiges  Helden- 
thum,  da  fliegen  keine  Genien  in  der  Luft  herum  und 
lagern  keine  Flussgötter  in  den  Ecken.  Es  ist  das  Ganze 
das,  was  man  bei  uns  in  den  fünfziger  Jahren  noch  mit 
einem  Beigeschmack  von  Tadel  als  «historisches  Genre > 
und  damit  als  eine  Neuerung  bezeichnete. 

Nun  ist  aber  eins  zu  beachten  :  Ausser  bei  den  beiden 
Amerikanern  findet  diese  bildnisartige  Auffassung  der 
Zeitgeschichte  in  England  weder  bei  den  Einheimischen 
noch    bei  den   zahlreich  zuwandernden  Meistern  gleiche 


28 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEll'. 


Pflege.  Der  Schweizer  Heinrich  Füssli  war  wohl 
ein  tiefer  Romantiker,  ein  Verehrer  Shakespeares,  in 
seinen  märchenartigen  mehr  als  in  seinen  geschichtlichen 
Werken.  Seine  Zeit  realistisch  zu  schildern  lag  ihm  aber 
völlig  fern,  ja  er  wies  den  Gedanken  als  unedel,  unkünst- 
lerisch von  sich  ab.  Der  Frankfurter  Johann  Zoffany 
und  die  Oesterreicherin  Angelica  Kauffmann,  der 
Strassburger  Philipp  Johann  von  Lauterburg 
(Loutherbourg).  sie  alle  halten  sich  innerhalb  der 
Grenzen  einer  stilvollen  Naturnachahmung  und  — 
sobald  es  sich  um  Werke  der  Einbildungskraft  han- 
delt —  innerhalb  jener  des  klassischen  Gedanken- 
kreises. Nicht  minder  James  Barry,  dessen  Kunst 
selten  von  dem  ihr  heimischen  Olymp  auf  englischen 
Boden  herabsteigt.  Die  Kraft  des  brittischen  Kunst- 
schaffens liegt  im  Bildnis:  Von  den  kostbaren  Werken 
Reynolds ,  Gainsboroughs ,  Raeburns  und  Romneys 
ging  eine  tiefgreifende  Anregung  aus.  Es  ist  kein  Zu- 
fall, dass  die  Sybille  der  in  England  zur  inneren  Vollend- 
ung gelangten  Angelica  Kauffmann  sich  in  der  Dresdner 
Gallerie  neben  den  höchsten  Meisterwerken  als  rein 
malerische  Leistung  besser  als  das  meiste  Spätere  zu  be- 
haupten vermag  1  Wenn  unsere  Aesthetiker  die  Zeit,  in 
welcher  Houdons  und  Schadows  Büsten  entstanden,  Graff, 
Vogel  und  die  Kauffmann  Bildnisse  malten ,  die  Kunst 
in  London  zu  so  hoher  Vollendung  gelangte,  die  Vaugier- 
Lebrun  in  Paris  mit  Grenze  wetteiferten,  jetzt  als  die 
Zeit  des  tiefsten  « Verfalles »  der  Kunst  bezeichnen,  so 
mag  man  nicht  allzusehr  erstaunen,  wenn  eine  kommende, 
den  Schwerpunkt  der  Malerei  in  das  Malen  verlegende 
Aesthetik,  die  Tage  des  Cornelius  mit  diesem  viel  niiss- 
brauchten  Worte  belegen  wird. 

Dass  die  frische  Auffassung  der  Bilder  aus  der  Tages- 
geschichte gerade  in  Amerika  ihren  Boden  hat,  das  be- 
weisst  am  klarsten  das  Schaffen  des  John  Trumbull, 
der  mit  19  Jahren  in  die  Armee  eintrat,  jedoch  fünf  Jahre 
später,  1780,  in  London  in  Wests  Werkstätte  eintrat  und 
dann  gemeinsam  mit  John  Blake  White  bis  1817  das 
Capitol  von  Washington  mit  grossen ,  die  Thatcn  des 
Krieges  verherrlichenden  Bildern  schmückte.  Diese  be- 
kunden ganz  die  kräftige,  realistische  Zeichnung  und 
den  gesunden  Blick  für  die  Wirkung  der  thatsächlichen 
Vorgänge,  welche  Wests  bessere  Arbeiten  auszeichnen. 
Das  ist  meines  Wissens  selbst  von  amerikanischen  Kunst- 
historikern nicht  genügend  hervorgehoben  worden.  Die 
Heldenthaten  der  französischen  Könige  vollführten  diese 


und  ihre  Nachahmer  nicht  selbst:  Die  Schlachtenbilder 
jener  Zeit  sind  daher  kalt,  sobald  sie  aus  der  Dar- 
stellung Wouvermann'scher  Plänkeleien  zur  Vorführung 
grosser  geschichtlicher  Ereignisse  werden.  In  Amerika 
tritt  das  Volk  in  Krieg  und  Frieden  in  Mitthätigkeit. 
Die  Menschen  sind  nicht  mehr  blos  Staffage  für  einen 
« göttlichen »  Helden ,  sie  wirken  wie  im  Leben  so  im 
Bilde  selbstthätig  mit.  Wie  bei  den  Holländern  aus 
der  Zeit  ihrer  Freiheitskriege  entsteht  aus  der  Wieder- 
gabe vieler  zu  gemeinsamen  Handeln  Verbundener  eine 
achtere  tiefere  Art  des  Geschichtsbildes.  Und  auch 
drüben ,  wie  in  Holland ,  waren  es  die  Bildnismaler, 
waren  es  Gilbert  Stuart,  Charles  Wilson  Peale, 
Joseph  Wright  und  Trumbull,  welche  dem  in 
den  Fernen  klassischer  Götterlehre  herumschwankenden 
Europa  einen  starken  Realismus  entgegenhielten.  Frei- 
lich ist  ausser  in  Stichen  wenig  oder  nichts  von  dem, 
was  damals  in  New-York ,  Boston  und  Washington  ge- 
malt wurde,  nach  Europa  gelangt. 

*  * 

* 

Die  amerikanische  Rückwanderung  nach  England 
hat  mit  West  und  Copley  noch  nicht  abgeschlossen.  West 
wurde  nach  Reynolds  Tod  Präsident  der  Akademie,  zu 
deren  Gründern  er  gehört  hatte,  Copley  Akademiker 
und  Mitglied  der  vornehmen  Gesellschaft  Londons,  ob- 
gleich damals  der  Befreiungskrieg  in  Amerika  wüthete 
und  eine  für  die  englische  Macht  bedenkliche  Bot- 
schaft nach  der  andern  über  das  Meer  nach  London 
drang.  Die  Politik  schied  damals  selbst  im,  dem  öffent- 
lichen Leben  früh  erschlossenen  England  die  Menschen 
noch  weniger  als  heute.  Der  Krieg  unterbrach  zwar 
die  geistigen  Verbindungen  des  Muttervolkes  mit  seinen 
in  den  Westen  ent.sendeten ,  sich  befreienden  Kolo- 
nisten, aber  er  zerstörte  sie  nicht.  Dafür  waren  in  der 
Kunst  zwei  Männer  lebendige  Beispiele,  welche  gewisser- 
massen  die  Ueberlieferung  der  West'schen  Anregungen 
darstellen,  Newton  und  Leslie. 

Gilbert  Steward  Newton  kam  als  26  Jähriger 
nach  London,  in  jenem  Jahre  1820,  in  welchem  West 
starb.  Er  lebte  nur  1 5  Jahre  in  der  britischen  Hauptstadt, 
fand  aber  Zeit,  in  diesen  ein  für  ihre  Kunstaufifassung 
höchst  bezeichnender  Künstler  zu  werden ,  nicht  nur 
durch  seine  Bildnisse,  sondern  namentlich  durch  seine 
Sittenschilderungen.  In  diesen  nahm  er  sich  ein  damals  fiir 
sehr  veraltet  geltendes  Vorbild:  Dem  Watteau  suchte  er 
nachzustreben.   Man  bedenke  wohl :  Der  Mann  der  neuen 


Phot.   F.  Hsnf«l««n|t,  üaiicbMl 


Meditation. 


0) 

C 

N 

2 


DIR  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


29 


Welt  suchte  rückwärts  anzuknüpfen  an  eine  Zeit,  welche 
man  selbst  in  Paris  und  sonst  überall  als  eine  zopfige, 
jammervolle  zu  verhöhnen  gewohnt  war.  Es  bewährt  sich 
hierbei  die  Erkenntnis,  dass  der  Aussenstehende ,  dem 
Kampfplatze  Entrückte  besser  Werth  und  Unwerth  der 
Ringenden  zu  würdigen  vermag,  als  die  sich  bekämpfen- 
den Gegner  selbst.  Newton  blieb  der  freie  Blick  für  die 
Schönheit  des  Rococo  in  einer  Zeit,  in  der  es  die  Maler 
des  festländischen  Europa  fast  für  eine  Beleidigung 
hielten,  wenn  man  von  ihnen  Beifall  für  Watteau 
forderte.  Nun  erreichte  zwar  Newton  sein  Vorbild 
nur  in  bescheidenem  Maass:  Seine  Farbe  ist  viel  zu 
schwer,  seine  Anmuth  hat  viel  zu  viel  vom  Spiess- 
bürgerthum  der  Biedermännerzeit,  zu  viel  von  Reitstiefeln 
und  Cylinderhüten.  Aber  Bilder  wie  der  dem  Dow  nach- 
empfundene «  Fensterflügel » ,  «  Capitain  Macheath  »  das 
etwa  einem  Terbourgh  entsprechen  soll  u.  a.  m.  zeigen, 
dass  in  England  und  drüben  in  Amerika  die  Absicht 
bestand,  die  malerischen  Errungenschaften  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  nicht  einfach  in's  Wasser  zu  werfen, 
sondern  sich  die  Kunstfähigkeiten  zu  erhalten,  welche 
jene  Zeiten  so  überreich  besassen. 

Und  neben  der  Form  ist  der  Inhalt  der  Bilder  Newtons 
bemerkenswerth :  «Cordelia  pflegt  den  König  Lear», 
eine  Gruppe,  als  sei  sie  unmittelbar  Nachbildung  einer 
Aufführung  auf  der  Bühne,  alle  Personen  in  schöner 
Stellung,  schöner  Kleidung,  dem  Beschauer  angenehm 
sichtbar  zugewendet;  die  Zeit  rühmte  das  tiefe  Gefühl, 
mit  dem  der  Arzt  den  Puls  des  Königs  fühlt.  Oder 
«Der  Vikar  of  Wakefield  und  seine  Familie»,  ein  Bild, 
gestellt  wie  eine  Familienphotographie,  durchsichtig  bis 
zur  Gläsernheit  in  der  Komposition,  mit  einem  hübschen 
Alten,  hübscheren  Töchtern  und  viel  Beiwerk  an  Blumen, 
Bibeln,  Lauten  und  Gethier.  Oder  der  «  Prinz  von  Spanien 
besucht  Catalina»  nach  Gil  Blas;  «Jorrick  und  die  Hand- 
schuhhändlerin »  nach  Sterne  und  dergleichen  Werke 
mehr ,  die  zumeist  der  Literatur  entnommen  und  nach 
dem  Theater  empfunden  sind.  Schon  Reynolds  malte 
gern  Mrs.  Sheridan  als  heil.  Cecilia  oder  Miss  Pott  als 
Thais,  Miss  Hart  als  Bacchantin  oder  Mrs.  Abington 
alsRoxalana;  das  heis.st,  er  malte  lieber  Menschen  in  der 
Verkleidung,  so  dass  sie  etwas  anderes  darstellen  als  sie 
sind;  oder  richtiger,  er  Hess  sich  gerne  durch  schauspiele- 
rische Leistung  die  Idealisirung  scheinbar  real  vorführen, 
um  im  Darstellen  des  Idealen  realistisch  bleiben  zu  können. 
Daraus  entwickelte  sich   eine  wahre  Lust  für  das  kom- 


TTT 


ßunker.     Portrait  der  Mrs.  Bunker. 

mende  «aufgeklärte»  Zeitalter,  durch  die  Dichter  sich 
die  Räthsel  des  Lebens  erläutern,  durch  den  Schauspieler 
sie  sich  vorleben  und  dann  durch  den  Maler  das  Ergebniss 
verewigen  zu  lassen  und  zwar  eines  nach  dem  andern, 
so  da.ss  der  Maler  nicht  Sohn  der  Natur  wurde,  sondern 
deren  Urenkel.  Die  durchaus  literarische  Zeit  schuf  eine 
literarische  Kunst. 

Air  diese  Eigenschaften  sind  nicht  besondere  Merk- 
male Newtons.  Er  ist  einer  der  Besten  dieser  Richtung, 
doch  hebt  er  sich  aus  der  gleichzeitigen  englischen  Kunst 
nicht  allzu  scharf  hervor.  Als  ächter  Amerikaner  greift 
er  nur  fest  zu  und  wirkt  frisch  im  Vorderkampf  der 
Meinungen,  so  dass  ihm  das  Gefallen  der  Menge  sein 
Bemühen  reichlich  belohnt. 

Ungleich  bedeutender  war  Newtons  Landsmann 
Charles  Robert  Leslie,  der  neben  David  Wilkie 
lange  Zeit  als  der  gefeiertste  Sittenmaler  Englands  galt, 
bis  erst  der  jüngste  Umschwung  des  britischen  Ge- 
.schmackes  seine  Werke  entwerthetc.  Solche  Wande- 
lungen drücken  sich  in  London  am  beweiskräftigsten  in 
Zahlen  aus:  Von  Leslies  Bilder,  die  bis  an  seinen  Tod 
heran  —  er  starb  1859  —  mit  etwa  8 — 10,000  Mark 
unseres  Geldes  gezahlt  wurden,  brachte  cDie  Erbin» 
1863   26,500  Mark,   1886  aber  blos  5800  Mark,   «Sancho 


30 


DIE  KUNSI"   UNSKRKR  ZEIT. 


Pansa  in  den  Zimmern  der  Herzogin»  1874  i  5,000  Mark, 
1888  jedoch  3150  Mark.  Trotzdem  würde  ich  den  Be- 
sitzern seiner  Schöpfungen  nicht  rathen,  die  Arbeiten 
zu  verschleudern.  Die  besseren  Zeiten  für  Leslie  werden 
vielleicht  wieder  kommen! 

Denn  er  war  ganz  zweifellos  eine  kräftige  Persönlich- 
keit. Freilich  steht  es  mit  seinem  Amerikanerthum  nicht 
eben  stark.  Sein  Vater  war  aus  Amerika  nach  England 
heimgekehrt,  so  dass  London  Leslies  Geburtsstadt  wurde. 
In  seinem  fünften  Jahr  kam  er  nach  Philadelphia,  in 
seinem  lyten  begann  er  wieder  an  der  Londoner  Aka- 
demie, noch  unter  Wests  Direktion,  zu  studiren;  im  sgsten 
(1833)  folgte  er  einem  Ruf  an  die  Kunstschule  zu  Westpoint 
über  den  Ocean ,  aber  nach  Jahresfrist  kehrte  er  von 
Amerika  wieder  nach  England  zurück,  um  die  Vereinig- 
ten Staaten  nie  wieder  zu  sehen.  In  Lebensgewohn- 
heiten und  Kunstanschauungen  war  er  Engländer  geworden, 
und  sein  Ringen  vollzog  sich  innerhalb  der  London  be- 
wegenden Gedanken. 

An  ihm  äusserte  sich  zum  ersten  Mal  der  Einfluss 
deutschen  Geistes  auf  einen  amerikanischen  Künstler. 
Füssli  war  der  Lehrer  an  der  Londoner  Akademie, 
dem  er  am  meisten  zu  verdanken  hatte.  Vielleicht 
findet  sich  einmal  Gelegenheit,  von  diesem  höchst 
merkwürdigen  Künstler  eingehender  zu  sprechen,  dessen 
Namen  man  in  allen  britischen  Kunstbüchern  aus  der 
ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  unzählige  Male  mit 
billigem  Spott  über  seine  schlechte  Aussprache  des 
Englischen,  aber  doch  mit  einer  herzlichen  Bewun- 
derung seiner  knorrigen  Kernnatur  genannt  findet.  Von 
ihm  stammt  das  weise  Wort,  welches  die  Erfolge  seiner 
Schule  erklärt:  «Kunst  müsse  gelernt,  nicht  gelehrt 
werden».  Er  war  einer  von  Jenen,  die  Individualitäten 
erkennen  und  zu  pflegen  wissen.  Ob  er  gleich  sich  .selbst 
am  liebsten  in  phantastischen  Welten  und  romantischen 
Fernen  bewegte,  ist  sein  Unterricht  doch  der  Ausgangs- 
punkt des  englischen  Genre  und  der  englischen  Kolo- 
ristik  geworden.  Ausser  Leslie  nannten  sich  Wilkie 
und  Mulready  seine  Schüler,  also  jene  Männer,  welche 
den  Uebergang  von  den  letzten  Ausläufern  der  nieder- 
ländischen zur  deutschen  Genremalerei  bilden.  Es  ist 
wohl  kein  Zufall,  dass  im  Empfangszimmer  unseres 
Ludwig  Knaus  die  Stiche  nach  Wilkies  besten  Bildern 
hängen  I  Jenen  Künstlern,  welche  das  deutsche  Volk  in 
dem  Geiste  schilderten,  in  welchem  es  Immermann,  Auer- 
bach,   Gustav   Freytag    und    Fritz    Reuter    beschrieben, 


gehen  die  Maler  unmittelbar  voraus,  welche  das  englische 
Volk  mit  den  Augen  des  Walter  Scott  und  Dickens 
betrachteten. 

Leslie  folgte  mehr  dem  Scott:  Er  malte  englische 
Geschichte  und  Vorgänge  aus  der  Weltliteratur  mit 
leichtem  Humor,  oder  malte  den  Don  Quixote  mit  so 
eifrigem  Bemühen  nach  Wahrheit,  dass  alle  seine  Spanier, 
ebenso  wie  die  F"ranzosen  aus  seinen  Scenen  nach  Moliere, 
zu  Briten  wurden.  Man  rühmte  seinen  Bildern  grossen 
Verstand  nach,  ferner  Leben  und  unübertreffliche  Sicher- 
heit im  Neubilden  dichterischer  Gestalten.  Es  ist  sehr  lehr- 
reich, dies  Urtheil  mit  seinen  Werken  zu  vergleichen.  Seine 
Individualisirung  hatte  ihre  Stärke  darin,  dass  er  die  ge- 
schichtlichen Gestalten  seinen  Zeitgenossen  geistig  nahe 
führte.  Er  zeigte,  dass  das  Leben  früherer  Jahrhunderte 
in  seinem  innersten  Wesen  dem  heutigen  verwandt  sei. 
Das  hat  allen  guten  Leuten  bisher  immer  aufs  Neue  Freude 
bereitet.  Es  ist  doch  zu  interessant,  aus  Ebers  zu  lernen, 
dass  schon  die  alten  Aegypter  die  Liebe  kannten !  Der 
fleissig  herbeigetragene  äussere  Tand  von  Kleidungen 
und  Geräth ,  Bildnisähnlichkeit  und  geschichtlichen  An- 
knüpfungen, macht  dem  ersten  Blick  das  Alter  der  Vor- 
führungen glaubhaft:  sie  erscheinen  erstaunlich  echt! 
Der  innere  Drang  zur  Unechtheit ,  die  unwillkürlich  in 
das  geschichtliche  Bild  einschleichende  Modernität  ist 
es  aber,  die  dem  Kunstwerke  den  unmittelbaren  Reiz 
giebt.  Der  Reiz  verschwindet  mit  der  Zeit  mehr  und 
mehr;  die  Bilder  des  Leslie  missfallen  jetzt,  weil  sie 
gestern  modern  waren,  also  heute  unmodern  sind.  Erst 
wenn  sie  so  unmodern  sein  werden,  dass  an  den  Kampf 
unserer  Zeit  gegen  das  Theatralische  der  Genremalerei 
kein  Mensch  mehr  denkt,  werden  sie  als  höchst  ergötz- 
liche Zeitbilder,  freilich  nicht  aus  den  Tagen  des  Cervantes 
oder  Moliere,  sondern  aus  den  des  Leslie  wieder  Geltung 
erhalten.  Eine  Frau  von  Geschmack  trägt  alten,  aber 
nicht  veralteten  Schmuck.  Diesen  lässt  sie  für  ihre 
Tochter  liegen ,  bis  er  alt  wird.  Einst  werden  Leslies 
Bilder  für  eben  so  echt  als  Werke  von  1830  oder  1840 
gelten ,  wie  sie  einst  für  echt  im  Geiste  früherer  Jahr- 
hunderte genommen  wurden. 

Es  war  eine  idealistische  Kunst,  welche  Leslie  ver- 
trat und  doch  eine  solche,  die  im  Lande  des  Idealismus, 
in  Deutschland,  zu  ihrer  Zeil  kein  Ansehen  genoss. 
Zwar  sind  Stiche  nach  seinen  Arbeiten  in  gewaltiger 
Zahl  bei  uns  verbreitet  gewesen  und  in  mancher  klein- 
städtischen Wirthsstube  und  in  vielen  Bürgerwohnungen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


31 


findet  man  sie  noch  heute,  ohne  dass  Jemand  danach 
frage,  wer  der  Meister  des  «englischen  Stiches»  sei. 
Leslie  suchte  die  Natur  zu  verschönen,  obgleich  er  viel 
derbe  Karrikatur  schuf.    Er  ahnte  etwas  von  jener  Schön- 


heit, die  in  der  Eigenart  liegt. 


Hogarth  hatte  der  eng- 


lischen Kunst  hierfür  den  Blick  geöffnet.     Auch  Leslies 
Figuren   galten   für    «rein  der  Natur  abgelauscht,    doch 


sich  umsehen.  Dort  finden  sie  es  geschickt  gruppirt 
zum  Kampf  gegen  eine  neue  Weltanschauung,  dort  können 
sie  auch  sehen,  wie  der  Kampf  endet,  welcher  jetzt  die 
deutschen  Geister  bewegt.  Denn  neben  dem  etwa  an 
unseren  Carl  Becker  mahnenden  Leslie  stand  Wilkie, 
der  englische  Knaus;  neben  Etty,  dem  englischen 
Makart,  Eastlake,  der  englische  Piloty;  neben  Stanfield, 


Lhvight  William    Tryon.     Tagesanbruch. 


mit  aristokratischem  Sinn».  Er  besass  eine  «reiche  und 
harmonische  Farbe»,  schuf  «klare,  nie  überfüllte  Kom- 
positionen » ,  wusste  « Licht  und  Schatten  meisterhaft 
zu  vertheilen»  und  beherrschte  vor  Allem  das  «Clair 
obscur».  Auf  dies  legte  er  das  Schwergewicht.  Als 
zu  Ende  der  vierziger  Jahre  der  Sturm  losbrach,  welcher 
England  den  Prärafaelitismus  brachte,  stand  er,  seit 
1851  Lehrer  an  der  Kunstakademie  in  London,  im 
Vorderkampf  gegen  die  neue  «Sekte».  Er  hielt  1855 
Vorträge  und  veröffentlichte  sie  darauf  im  Druck,  um  der 
Kunst  jene  Gesetze  des  Clair  obscur  zu  erhalten,  die  ihm 
als  ihr  höchstes  Besitzthum  galten.  Denn  die  verschwindend 
feinen  Schwankungen  im  Tone  seien  schwerer  zu  finden, 
als  richtige  Linien  des  Zeichners.  Ich  empfehle  das 
Buch  —  «A  Handbook  for  Young  Painters»  —  jenen 
Leuten,  welche  nach  Rüstzeug  gegen  die  moderne  Kunst 


dem  englischen  Achenbach ,  Landseer,  der  unvergleich- 
liche englische  Thiermaler.  Alle  diese  waren  Meister 
von  ernstem  Streben ,  von  her\'orragendem  Können, 
Männer,  welche  der  Nation  behagten  und  deren  junge 
Gegner  von  dieser  mit  Abscheu  als  Frevler  und  Unfähige 
verworfen  wurden.  Und  doch  siegte  der  neue  Realismus 
gegen  alle  Feinheiten  des  Clair  obscur,  das  die  jungen 
Streber  kecklich  als  « braune  Sauce »  zu  verhöhnen 
wagten!  Und  es  ist  nicht  ohne  Witz,  dass  es  diesmal 
ein  Amerikaner  war,    der   das  Veraltende   mit  aus  alter 

Kunst   entlehnten  Gründen    und  Beispielen  vertheidigte. 

•  * 

Lange  Jahre  trennte  der  Ocean  die  Kunstbestreb- 
ungen der  beiden  Welttheile,  ohne  dass  die  immer  zahl- 
reicher ihn  kreuzenden  Schiffe  starke  geistige  Anregungen 
hinüber  und  herüber   getragen  hätten.     Von  dem   was 


5* 


32 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


z.  B.  Washington  Allston,  der  «amerikanische 
Titian»,  ein  Schüler  Wests,  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
schuf,  haben  wir  Europäer  nur  eine  mittelbare  Kennt- 
nis. Die  Abbildungen  lassen  eine  in  sich  begründete 
starke  Kraft  vermuthen.  Die  Zeichnung  ist  schön  und 
gross,  die  dargestellten  Gedanken  sind  einfach  und  tief. 
Eine  fremdartige  Derbheit  liegt  über  den  Gestalten. 
Es  ist  vielleicht  in  diesen  Werken,  wie  in  den  zu  Anfang 
des  Jahrhunderts  drüben  entstehenden  Bildnissen  ein 
Zug  zu  origineller  Entfaltung  zu  finden.  Jedenfalls  hat 
Allston  die  Seelen  der  Besten  seiner  Heimath  mit  grosser 
Kraft  zu  erfassen  verstanden,  so  dass  es  sich  wohl  der 
Mühe  lohnte,  den  Wurzeln  und  den  Blüthen  seines 
Schaffens  nachzugehen.  Aber  über  das  Meer  herüber 
reichte  seine  Kraft  nicht. 

Ein  zweiter  Künstler  von  amerikanischer  Eigenart, 
Bass  Otis,  der  sich  vom  Lithographen  zum  gefeierten 
Bildnismaler  emporschwang,  bildete  drüben  eine  eigene 
Schule  aus  der  Peter  Frederick  Rother mel  als 
kraftvolle  Erscheinung  hervorragt.  Neben  ihm  ver- 
trat Thomas  Prichard  Rossiter  die  romantische 
Richtung  im  Geschichts-  und  Heiligenbild ;  Thomas 
S  u  1 1  y ,  dessen  Schulung  noch  unmittelbar  auf  West  zurück- 
greift, zugleich  das  Bildnisfach.  Loring  Charles 
E 1 1  i  o  t ,  TrumbuUs  Schüler,  der  Miniaturenmaler  Edward 
William  West  haben  sich  jenseits  des  grossen  Meeres 
einen    Namen    gemacht,    ohne    dass    er    sich    für    uns 

Europäer  seinem  Werthe  nach  abschätzen  Hesse. 

*  * 

* 

Mit  Allstons  Tode  (1843)  scheint  auch  seine  Richtung 
in  den  Vereinigten  Staaten  auf  die  Geister  zu  wirken 
aufgehört  zu  haben.  Es  vollzog  sich  vielmehr  eine 
Art  Rückfall  des  amerikanischen  Schaffens  in  gewohnte 
Geleise.  Die  Kunstart  Wests  fand  nämlich  durch 
einen  Deutschen  erneute  Anregung:  durch  Emmanuel 
Leutze.  Wie  der  Quäker  die  Malerei  der  Vereinigten 
Staaten  mit  der  Londoner  Akademie  verknüpft  hatte, 
so  fesselte  sie  Leutze  an  die  Düsseldorfer  Schule.  Die 
deutschen  Maler  der  rheinischen  Akademie  haben  es 
durch  Jahrzehnte  wohlthätig  empfunden,  dass  ihr  Schaffen 
den  Yankees  am  meisten  behagte.  Düsseldorf  wurde 
bis  in  die  sechziger  Jahre  der  beliebteste  Markt  für  den 
überseeischen  Kunsthandel. 

Leutze  war  kein  Pfadfinder  in  der  Kunst,  aber 
doch  eine  bedeutende  Künstlererscheinung.  Deutscher, 
Württemberger,    von    Geburt,  früh    nach  Amerika    ge- 


kommen, hatte  er  dort  seine  malerische  Begabung  ent- 
deckt, so  dass  er  fast  noch  als  Knabe  eine  um- 
fassende Thätigkeit  auf  der  Leinwand  entwickelte.  «Ein 
Indianer,  der  in  die  untergehende  Sonne  blickt», 
war  sein  erstes  grösseres  Bild.  Der  beschaulich  be- 
deutungsreiche Gegenstand:  ein  untergehender  Volks- 
stamm und  vor  ihm  das  Abendroth !  —  das  war  Düssel- 
dorfer Geist  ehe  Leutze  nach  Düsseldorf  ging  (1841). 
Dort  am  altheimischen  Rheine,  unter  Lessings  Leitung, 
entwickelte  er  sich  mit  erstaunlicher  Geschwindigkeit.  Er 
malte  mit  Vorliebe  die  Geschichte  seiner  neuen  Heimat : 
Columbus ,  Washington,  Scenen  aus  der  Normannischen 
Besetzung  und  den  Freiheitskriegen  —  und  malte  sie 
mit  dem  vollen,  tiefen  Einzeltone,  welcher  der  Schule 
des  Schadow  und  Lessing,  in  der  ganzen  gedanken- 
schwangeren Zeit  der  Düsseldorfer  Geschichtskunst 
üblich  war.  Und  innerhalb  der  Schule  haben  ihn 
wenige  übertroffen;  ja  ihm  ist  es  wohl  gelungen,  das 
Werk  zu  schaffen ,  welches  aus  ihr  die  weiteste  Ver- 
breitung und  die  längste  Dauer  erlangte:  «Washington 
über  den  Delaware  setzend».  Die  sichere  Ruhe  des 
Helden  inmitten  des  wilden  Eisgangs,  die  psychologische 
Vertiefung  in  dessen  Wesen,  die  malerische  Kraft,  die 
in  der  Steigerung  der  Einzelfarbe  sich  kundgiebt,  die 
Geschlossenheit  der  Komposition ,  haben  dem  Werk 
einen  ebenso  ehrenvollen  Platz  erobert,  wie  es  die 
männliche  Lebensführung  des  Künstlers  unter  seinen 
Genossen  im  alten  und  neuen  Vaterlande  that.  War  er 
doch  der  Gründer  des  Düsseldorfer  «Malkasten»  und 
einer  der  Anreger  für  das  Zusammentreten  der  «  Deutschen 
Kunstgenossenschaft » .  Er  brachte  somit  etwas  von  dem 
frischen  Geist  der  Selbsthilfe  mit  über  das  Meer  nach  dem 
aus  der  Bevormundung  sich  heraussehnenden  Deutsch- 
land herüber,  während  er  nach  Amerika  die  hohe 
Schaffenslust  trug,  welche  damals  am  Rhein  blühte. 

Vergleicht  man  seine  Bilder  mit  jenen  der  Ameri- 
kaner, welche  in  England  zu  Ansehen  gekommen 
waren,  namentlich  auf  den  Stichen ,  so  zeigt  sich  eine 
tief  gehende  innere  Verwandtschaft.  Man  würde  manch- 
mal einen  Entwurf  des  Leutze  mit  einem  solchen  des 
Copley  verwechseln  können :  Dieselbe  Auffassung  des 
Geschichtlichen ;  dasselbe  Bestreben ,  die  Nebendinge 
richtig  zu  geben,  aber  ihre  realistische  Erscheinung 
durch  klassische  Form  und  eine  über  die  Wirklichkeit 
hinaus  gesteigerte,  verschönte  Farbe  zu  mildern ;  dieselbe 
Art  nicht  nur  durch  das  Kunstwerk  als  solches,  sondern 


CO 


Cftrl  Outban  piOK 


Phnt.  V    llftnfaU*acl.  MöncAan 


Der  Grabesengel. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


33 


durch  dessen  Inhalt  auf  das  Gemüth  der  Menschen 
wirken  zu  wollen;  dieselbe  Absicht,  durch  die  Darstel- 
lung grosser  Thaten  das  Vaterlandsgefühl  zu  stärken 
und  die  Begeisterung  aller  Edelgesinnten  zu  erwecken. 
Der  Deutsche  ist  der  jüngere,  aber  er  ist  kein  Nach- 
ahmer der  Londoner,  höchst  wahrscheinlich  kannte  er 
West  und  Copley  nur 
wenig  und  fühlte  er  sich 
von  ihnen  trotz  aller  in- 
neren Verwandtschaft  nicht 
eben  angezogen.  Denn  es 
ist  die  Eigenart  aller 
Künstler,  dass  sie  das  un- 
mittelbar vor  ihnen  Ent- 
standene, aus  dessen  Ein- 
fluss  sie  sich  erst  mit 
Mühe  lossreissen  mussten, 
am  bittersten  hassen, 
gleichviel  ob  dieser  Ein- 
fluss  thatsächlich  völlig 
überwunden  ist  oder  nicht. 
Wenigstens  erinnere  ich 
mich,  selten  die  Lebens- 
schilderung eines  bedeu- 
tenden Künstlers  gelesen 
zu  haben ,  welche  nicht 
beginnt  mit  einer  Verur- 
theilung  jener  Kunst,  aus 
der  er  hervorging!  Jene 
sentimentalnaturalistische 
Naturanschauung  kam  auch 

keineswegs  unmittelbar  aus  England  nach  Düsseldorf, 
sondern'  auf  dem  Umwege  über  Paris;  sie  stellt  die 
erste  Stufe  des  Sieges  der  französischen  Romantik 
über  die  deutsche  dar.  Gerard,  Gericault,  Delacroix, 
Delaroche,  Wappers,  Gallait  sprechen  aus  ihr.  Deutsch 
ist  an  ihr  nur  die  psychologische  Vertiefung. 

Leutzes  Einfluss  auf  Amerika  war  ein  sehr  grosser. 
Eine  ganze  Schaar  amerikanischer  Kunstbeflissencr 
folgte  ihm  nach  Düsseldorf.  Der  schon  genannte  Rot- 
hermel  gehört  zu  ihnen.  Edwin  White  vervoll- 
kommnete, nachdem  er  in  Paris  und  Florenz  studirt 
hatte,  dort  1869 — 75  seine  Studien,  um  später  in  seiner 
Heimath  historische  Bilder  in  der  deutsch-sentimentalen 
Auffassung  zu  schaffen;  Henry  Peter  Gray  schuf 
in    ähnlicher    Richtung    tüchtige    akademische    Werke; 


Abbat  H.    'l'hayer.     Männliches  Bildnis 


einem  heimischen  Kritiker  lockt  freilich  das  Wort 
« Amerikanische  Schule »  auf  dem  Täfelchen  ihrer 
Rahmen  nur  ein  Lächeln  ab,  er  hält  sie  kurzweg  für 
deutsch;  William  Henry  Powell  malte  im  gleichen 
Sinne  die  Rotunde  des  Kapitols  in  Washington  aus; 
Thomas  Bachanan    Read    verband   die    Farbe   der 

Düsseldorfer  mit  einer  po- 
etisch weichen  Empfindung ; 
und  J.  B.  Irwing,  ein  un- 
mittelbarer Schüler  Leutzes 
folgte  mit  Geschick ,  doch 
bescheidener  Selbstständ- 
igkeit den  Bahnen  seines 
Lehrers.  Auch  bei  ihm 
greift  das  Genre  schon 
mächtig  in  die  Geschichts- 
malerei hinein;  ebenso  wie 
bei  Eastman  Johnson 
und  Richard  Caton 
Woodville;  bei  dem  in 
England  geborenen ,  in 
Paris  bei  Paul  Meyerheim 
gebildeten  Thomas  Hill ; 
bei  Daniel  Huntington; 
bei  dem  Elsässer  Chri- 
stian Schussele,  der, 
obgleich  Schüler  Yvons 
und  Delaroches,  doch  so- 
wenig wie  sein  Pariser 
Landsmann  Brion  seine 
Mutternation  verleugnete. 
Manche  der  Arbeiten  dieser  Künstler  ist  im  Stich  zu 
uns  herübergekommen,  doch  würde  es  schwer  sein,  in 
Europa  nur  aus  diesen  Hilfsmitteln  sich  sein  Bild  ihres 
Wesens  zu  machen. 

In  zwei  acht  amerikanischen  Genremalem,  in  William 
Morris  Hunt,  der  bis  1846  in  Düsseldorf  die  Bild- 
hauerei .studirte ,  dann  aber  sich  dem  Couture  in  Paris 
und  endlich  dem  Millet  und  der  Schule  von  Barbison 
anschloss,  sowie  in  dem,  englische  Anregungen  verarbei- 
tenden William  Sydney  Mount  offenbart  sich  dann 
die     Hefreiung     der     nordamerikani.schen     Kunst     von 

deutscher  Vormundschaft. 

*         »         » 

Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  überragte  Deutsch- 
land Frankreich  ganz  erheblich  in  der  Landschaftsmalerei^ 


34 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Während  in  Paris  selbst  bis  in  die  fünfziger  Jahre  eine 
kalte  formaHstische ,  von  Claude  Lorrain  abhängige 
Naturbehandlung  an  der  Akademie  gelehrt  und  von 
den  hervorragenden  Künstlern  geübt  wurde,  begannen 
die  feineren  Beobachter  der  Luftwirkungen  erst  in  der 
Folgezeit  sich  Boden  unter  den  Künstlern  zu  schaffen. 
Der  deutschen  Landschaft  aber,  wie  sie  damals  in 
stilistischer  Form  Rottmann  und  Preller,  mit  einem  Hauch 
von  Sentimentalität  Schirmer  und  Lessing  und  in  kräftig 
fortschreitendem  Realismus,  Dahl,  Morgenstern,  Gurlitt, 
Achenbach,  Schleich  u.  A.  pflegten,  konnte  nur  die 
englische  sich  ebenbürtig  gegenüber  stellen.  Aber  jen- 
seits des  Kanales  waren  die  leitenden  Meister  bereits 
im  Niedergehen:  Turner  starb  1851,  Constable  1837, 
Callcott  1844,  Collins  1847,  Müller  1845,  Bonington  1828. 
Nach  grossartigen  Leistungen  war  in  London  ein  Still- 
stand eingetreten.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern, 
dass  auch  in  diesem  Kunstgebiet  die  findigen ,  Europa 
von  der  Ferne  mit  prüfender  Klugheit  zu  vorsichtiger 
Wahl  überblickenden  Amerikaner  den  Deutschen  sich 
vorzugsweise  anschlössen. 

Die  Ueberführung  der  Düsseldorfer  Auffa.ssung  der 
Landschaftsmaler  erfolgte  hauptsächlich  durch  zwei 
deutsche  Meister:  Paul  Weber  und  Albert  Bier- 
stadt. 

Weber  hielt  sich  von  seinem  25.  Jahre  an,  1848 
bis  1858  in  Amerika  auf.  Später  kehrte  er  nach  Europa 
zurück,  ohne  dass  er,  wie  es  scheint,  sich  als  Ameri- 
kaner gefühlt  hätte.  Aber  es  war  ihm  doch  sichtlich 
gelungen,  die  Augen  der  Kunstfreunde  auf  die  deutsche 
Malerei  zu  lenken. 

Bierstadt  machte  dagegen  den  umgekehrten  Weg. 
In  Düsseldorf  geboren,  als  Kind  mit  seinen  Eltern  nach 
Amerika  ausgewandert,  bezog  er  1853  bis  1857  die 
Düsseldorfer  Akademie,  kehrte  wiederholt  nach  Europa 
zurück,  blieb  aber  in  Amerika  sesshaft.  Sein  Arbeits- 
gebiet und  der  Schwerpunkt  seines  Lebens  liegt  also 
drüben  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Bierstadts  Bilder  haben  seiner  Zeit,  namentlich  auf 
der  Pariser  Ausstellung  von  1 867 ,  grosses  Aufsehen 
erregt.  Er  hatte  in  Düsseldorf  scharf  und  sicher  zeichnen 
gelernt  und  besass  ein  klares  Auge  für  das  Eigenartige 
der  Naturerscheinung.  Es  ist  daher  kein  Zufall,  dass 
das  Ethnographische  ihn  in  der  Landschaft  anzog.  Er 
reiste  in  den  Westen  und  brachte  von  dort  die  ge- 
wissenhaftesten Wiedergaben  der  gewaltigen  Bergmassen 


und  riesigen  Bäume,  der  endlosen  Wiesenflächen  mit 
ihren  Büffelheerden ,  meisterhafte  Darstellungen  des 
Landes,  die  bei  aller  Genauigkeit  in  der  Wiedergabe 
doch  die  ordnende  Künstlerhand  nicht  verläugneten. 
Der  Ton  war  etwas  spitz,  im  Sonnenlicht  etwas  gelb, 
die  Malweise  manchmal  glatt.  Aber  trotzdem  errangen 
die  Bilder  in  den  sechziger  Jahren  sehr  grosse  Erfolge, 
die  sich  freilich  nicht  wiederholten,  als  Bierstadt  1891 
wieder  mit  mehreren  grossen  Werken  in  Europa  auftrat. 
Seine  Kunst  ist  zwar  die  alte  geblieben:  In  einem 
Museum  würden  sich  seine  Arbeiten  neben  Jugendwerken 
Andreas  Achenbachs  sehr  wohl  gehalten  haben,  aber  die 
Zeit  ist  inzwischen  fortgeschritten  und  die  ruhige  Beschau- 
lichkeit, die  Vielseitigkeit,  welche  aus  seinen  Bildern 
spricht,  einer  nervösen  Schärfe  und  Unmittelbarkeit  des 
Beobachtens  gewichen. 

Die  Amerikaner,  welche  selbst  von  der  Düsseldorfer 
Landschaftsmalerei  ausgingen,  haben  zumeist  jenen  Um- 
schwung früh  mitgemacht.  Maler  wie  John  B.  Bristol 
scheinen  mir,  nach  den  Nachbildungen  ihrer  Bilder,  die 
ich  sah,  einer  der  deutschen  verwandten  Richtung  zu 
huldigen.  Nicht  minder  ist  dies  der  Fall  mit  dem  in 
Deutschland  bekannter  gewordenen,  meist  in  Mexico 
lebenden  Frede  rick  Edwin  Church,  wenn  ich  mich 
gleich  nicht  erinnere,  Bilder  von  ihm  in  europäischen 
Ausstellungen  gesehen  zu  haben.  Wohl  aber  sah  man 
in  der  Nachbildung  Landschaften  mit  starken  Effekten, 
Ansichten  des  Chimborasso,  des  tropischen  Mondlichtes 
in  Mexiko,  aus  Palästina  und  der  Havanna,  stets  mit  der 
Absicht  ausser  durch  die  rein  künstlerische  Bildwirkung 
noch  durch  den  Gegenstand  anzuziehen.  Weit  verbreitet 
ist  der  Stich  nach  seinem,  im  Edinburgher-Museum  häng- 
enden &  Niagarafall »,  der  seine  Art  auf's  Klarste  versinn- 
bildlicht. John  Frederick  Kensett,  obgleich  in 
England  gebildet  und  Sanford  R.  Gifford  waren  ihm 
verwandt,  der  Erstere  stärker  als  Kolorist,  der  Letztere 
ein  Maler  von  Lichterscheinungen  und  Ansichten  aus 
aller  Herren  Länder.  Ein  Holländer  Albert  van 
Beest,  der  in  den  40er  Jahren  nach  New-York  kam, 
war  ihr  Lehrer,  ebenso  wie  des  die  arktischen  Land- 
schaften bevorzugenden  William  Badfort. 

James  M.  Hart  ging  1851  nach  Düsseldorf  in 
Schirmers  Schule  und  schuf  seitdem  fein  empfundene 
Waldbilder  mit  Vieh,  von  denen  ich  in  englischen  Zeit- 
ungen manchmal  Abbildungen  sah.  Aehnlich  arbeitete 
sein    älterer  Bruder  William    Hart,    der    in  England 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


35 


seine  Schule  gemacht  hatte  und  wohl  auch  einigen  An- 
theil  an  der  auf  malerische  Verfeinerung  mehr  als  auf 
weiche  Stimmung  gerichteten  Bestrebungen  seines  Bruders 
gewann.  Worthington  Whittredge,  seit  1850 
Andreas  Achenbachs  Schüler,  gehört  derselben  Richtung 
an ,  wusste  jedoch  bereits  seine  Heimat  und  deren 
Bewohner  mit  der  anfangs  fremdartig  erscheinenden 
deutschen  Auffassung  zu  versöhnen.  Otto  Grund  man, 
Lehrer  an  der  Kunstschule  zu  Boston,  wirkte  in  gleicher 
Weise. 

James  Fairman,  wie  jene  Brüder  Hart,  Schotte 
von  Geburt,  wenn  gleich  von  schwedischen  Eltern  ab- 
stammend ,  unterstützte  die  Richtung ,  welche  von  den 
grossen  englischen  Aquarellisten  De  Wint  und  Cox 
ausging.  Von  England  her  kam  auch  die  Neigung,  die 
Radierung  zum  Ausdruck  der  Kunstempfindungen  zu 
wählen.  So  findet  man  an  deutschen  Schaufenstern  oft 
Radirungen  nach  Hamilton  Hamilton,  schöne,  fein 
gefühlte  Ausblicke  über  einen  Waldweg  auf  ferne  Hütten 
oder  an  einem  Bache  entlang  auf  die  Wiesengründe. 
William  Morgans  Radirungen  sind  gern  gesehene 
Gäste  in  unseren  Sammlungen ,  Proben  einer  starken 
Empfindung  für  Lichtwirkung.  Als  bedeutende  Kraft 
tritt  Edward  Moran  uns  entgegen,  Engländer  von 
Geburt,  doch  Schüler  Paul  Webers,  später  in  London 
und  Paris  thätig,  ebenso  seine  Brüder  Peter  und 
Thomas  bei  denen  immer  stärker  die  englische  von 
Turner  ausgehende  Auffassung  hervortritt. 

Was  ich  sonst  an  Nachbildungen  nach  den  Werken 
amerikanischer  Landschafter  aus  den  sechziger  und  sieb- 
ziger Jahren  sah,  zeigte  zumeist  als  Hauptverdienst  der  dort 
blühenden  Schule :  Warmen  sonnigen  Ton ,  geschickte 
Gruppirung  der  Massen,  reiche  Gegenständlichkeit  ent- 
weder in  Fernblicken  auf  als  schön  und  merkwürdig  be- 
rühmte Gegenden  oder  in  anmuthigen  Einblicken  in  das 
Kleinleben  der  Hügel-  und  Uferlandschaften  der  Vereinigten 
Staaten:  John  W.  Casilear,  Albert  F.  Bellows, 
Alfred  T.  Bricher,  Eugene  Benson,  Edward 
Gay,  ein  Schüler  Schirmers  aus  dessen  Karlsruher  Zeit, 
John  Adam  Parker,  George  Loring  Brown, 
eine  Art  amerikanischer  Claude,  William  Stanley 
Haseltyne,  Charles  Temple  Dix,  Jervis  Mc 
Entee,  der  Maler  tiefgestimmter  Naturausblicke,  Asher 
Brown  Durand  fielen  mir  auf,  ohne  dass  ich  ohne 
genauere  Sachkenntnis  ihr  Wesen  durch  das  Wort  auch 
nur  annähernd  zu  umschreiben    oder  ohne   dass  ich    sie 


von  den  sonst  auftauchenden  Künstlererscheinungen 
ihrem  Werthe  nach  abzuschätzen  vermöchte.  Denn  gewiss 
giebt  es  drüben  noch  manchen  tüchtigen  Meister,  der 
uns  Europäern  unbekannt  blieb.  Sehen  wir  doch  hier 
wenig  oder  nichts  selbst  von  jenem  Manne,  der  als 
eigentlicher  Anreger  der  Richtung  gilt,  von  Thomas 
Cole,  der  von  Claude  Lorrain,  Salvator  Rosa  und 
Poussin  ausgehend ,  selbständig  zur  Behandlung  ameri- 
kanischer Landschaften  gelangte,  und  in  den  White 
Mountains  New  Hamphires  oder  den  Catskills  am 
Hudson  eine  der  neuen  Welt  eigenartige,  idealer  Auf- 
fassung zugängliche  Natur  entdeckte. 

Die  eigeijtlichen  Seemaler,  welche  in  Amerika  zur 
Geltung  kamen,  knüpfen  an  Holland  an:  A.  van  Beest 
gilt  als  ihr  Lehrer;  die  beiden  Brüder  de  Haas  aus 
Rotterdam  setzten  die  Schule  fort;  Harry  Chase, 
dessen  Seestücke  drüben  sehr  beliebt  sind,  studirte  in 
den  siebziger  Jahren  unter  Mesdag  und  später  in 
München  unter  Kaulbach;  Kruseman  van  Elten, 
der  1864  sich  in  New-York  niederliess,  brachte  dahin 
die  feinere  Beobachtung  der  Stimmung,  den  breiteren 
Vortrag,  die  Neigung  für  düstere,  in  Halbtönen  wirkende 
Beleuchtungen. 

In  dem  Zusammenströmen  verschiedener  Richtungen 
dürften  die  Skandinavier  nicht  fehlen:  John  E.  C. 
Petersen  kam  kurz  nach  Elten  in  New-York  an  und 
führte  dorthin  die  kräftig  vorwärts  strebende  Richtung 
seiner  dänischen  Heimath  ein;  Alexander  H.  Wyant, 
Amerikaner  von  Geburt,  wurde  in  den  sechziger  Jahren 
Schüler  von  Hans  Gude  in  Karlsruhe.  Die  Münchner 
Ausstellung  von  1892  brachte  ein  feines  Bild  von  ihm, 
einen  Blick  in  grünes  Gelände  und  über  einen  Streifen 
Wald  ganz  im  Geist  der  grossen  Gruppe  von  Malern, 
welche  so  lange  Deutschland,  England  und  Skandinavien 
mit  ihrem  auf  zeichnerischer  Vollendung  und  malerischer 
Gründlichkeit  beruhenden  Realismus  entzückten. 

Freilich  ist  dieser  schon  wesentlich  anders  geartet 
als  jener  der  alten  Düsseldorfer  Landschaft :  Die  Stim- 
mungswerthe  überwiegen  bedeutend  diejenigen  der 
gegenständlichen  Komposition.  Es  handelt  sich  viel 
weniger  darum  eine  Gegend  darzu.stellen ,  als  einen  Be- 
leuchtungston festzuhalten.  Die  jetzt  in  Amerika  vor- 
herrschende Schule  holte  sich  bei  den  Franzosen  in 
Barbison  die  Anregung:  Mit  unverkennbarer  Deut- 
lichkeit lehrt  uns  der  Umschwung  in  Amerika ,  dass 
wir  zu    lange   uns    mit   der   in   den  vierziger  Jahren   er- 


36 


DIE  KUNST  UNSERER.  ZEIT. 


oberten  leitenden  Stelle  in  der  Kunst  selbstzufrieden  be- 
gnügten und  dass  es  den  französischen  Landschaftern 
gelang,  uns  auf  einige  Jahrzehnte  aus  der  Führerrolle 
herauszudrängen. 

Ganz  hat  freilich  der  deutsche  Einfluss  bis  heute  in 
Amerika  nie  nachgelassen.  Zum  Beispiel  zeigen  die 
Landschaften  eines  Schülers  von  D  i  e  z  in  München, 
Charles  Henry  Miller,  deutlich  noch  heute  ihre 
geistige  Herkunft.  Auch  seit  er  aufhörte  Alpenmühlen 
und  das  Dachauer  Moos  zu  malen,  suchte  er  drüben 
im  alten  Sinne  malerische  Gegenstände:  Die  «alte  Mühle 
bei  Springfield ,  Long  Island »  ,  welche  er  in  den  sieb- 
ziger Jahren  darstellte,  konnte  ebenso  gut  auf  dem  alten 
Kontinent  zwischen  Buchen  am  Weiher  klappern.  Es 
deckt    sich    diese  Richtung    mit    der   vorzugsweise    von 

England  beeinflussten. 

*  * 

* 

Den  breitesten  Boden  in  der  amerikanischen  Kunst 
gewann  die  Genremalerei,  in  der  sich  wieder  englische 
mit  deutschen  Einflüssen  kreuzten.  Und  zwar  sind  es 
hier  die  jüngeren  Künstler,  die  mit  Eifer  an  der  deutschen 
Kunst  hangen. 

Da  ist  ein  feiner  Beobachter,  Robert  Köhler, 
der  zwar  in  Hamburg  geboren  ist ,  doch  von  seinem 
vierten  bis  2  3ten  Jahre  in  Milwaukee  lebte,  ein  Schüler 
von  Loefftz  und  Defregger.  Obgleich  er  1883  und  1888 
die  amerikanische  Ausstellung  in  München  leitete ,  hat 
er  jetzt  selbst  seine  Bilder  der  deutschen  Abtheilung 
eingefügt,  der  er  nach  seiner  ganzen  Schaffensart  an- 
gehört. Selbst  das  feine  Frauenbild,  welches  er  zur 
Ausstellung  brachte ,  scheint  mehr  in  der  Absicht  ge- 
schaffen, genrehaft  von  einem  edlen,  anmuthigen  Weibe 
zu  erzählen,  die  sinnend  vor  sich  hinschaut,  und  die 
intimen  Töne  im  Licht  und  Halbschatten  zu  studiren, 
als  um  das  kräftige  Profil  portraitmässig  festzuhalten. 

Als  ich,  meiner  Gewohnheit  gemäss,  ohne  den 
Katalog  nach  Namen  und  Wohnort  der  Künstler  zu 
befragen,  meine  Notizen  über  die  Werke  der  Ameri- 
kaner in  der  Münchner  Ausstellung  machte,  bemerkte 
ich  zu  « Hartnäckig  1 »  von  Louis  Charles  Möller: 
«Nach  der  Tiefe  des  braunen  Tones,  der  redlich  charakte- 
risirten  Zeichnung,  der  Fülle  von  Nebendingen  und  der 
Art,  wie  der  Vorgang,  ein  Streit  zwischen  zwei  Spiess- 
bürgern  am  Tische  der  Wohnstube,  geschildert  ist,  scheint 
das  Bild  von  einem  Düsseldorfer,  etwa  von  einem  Ge- 
nossen Fagerlins  zu  sein».     Ich  hatte   mich  geirrt,    der 


junge,  in  New-York  geborene  und  dort  lebende  Künstler 
ist  ein  Schüler  des  Münchener  Meisters  Feodor  Dietz. 

Nicht  minder  mahnen  die  zierlichen,  sauber  und 
feinfühlig  durchgebildeten  Kleinbilder  des  in  München 
gebildeten,  seit  etwa  12  Jahren  in  Boston  lebenden 
Ignaz  Marcel  Gaugengigl  an  unseren  Simm,  Löwith 
oder  Ehrentraut  und  über  diese  hinaus  ein  wenig  an 
Meissonnier.  «Die  erste  Aufführung»  nennt  er  eines 
seiner  Bildchen  in  München,  «Das  Duell»  das  zweite. 
Beide  legen  den  Schwerpunkt  in  die  feine  psychologische 
Beobachtung;  es  sind  Kabinetstücke  für  den  Fein- 
schmecker, der  sich  nicht  gern  einen  Zug  in  der 
Charakteristik  des  jungen  begeisterten  Musikers,  seines 
eifrigen  alten  Begleiters,  der  Schaar  kunstsinniger  Hörer 
entgehen  lässt. 

Zwei  Deutschamerikaner,  beide  noch  jüngere  Männer, 
sind  jetzt  im  Begriff  mit  kräftiger  Hand  das  sich  lockernde 
Band  zwischen  dem  alten  Vaterland  und  dem  neuen 
durch  künstlerische  Thaten  aufs  neue  anzuziehen,  Ulrich 
und  Marr. 

Charles  Fred.  Ulrich,  New  Yorker  von  Geburt, 
gehört  im  Wesentlichen  noch  zu  uns ,  obgleich  der 
junge  Künstler,  dessen  Wirken  diesmal  das  Zusammen- 
kommen der  schönen  amerikanischen  Abtheilung  der 
Münchener  Ausstellung  vorzugsweise  zu  danken  ist, 
nachdem  er  bei  Loefftz  und  Lindenschniit  studirte, 
längere  Zeit  in  Holland  und  Venedig  lebte.  Das 
beweist  sein  feines ,  liebenswürdiges  Bild  « Idyll  in 
Sotto  Marino».  Ist  es  italienisch  in  Haltung  und  Ton, 
dieses  Bild,  wie  es  italienisch  im  Gegenstande  ist?  Ge- 
wiss, man  könnte  es  für  ein  Bruderwerk  von  Zezzos, 
Nono,  Tito  oder  sonst  einem  der  Meister  Venedigs 
halten.  Aber  man  wird  auch  an  die  Oesterreicher 
Cecil  van  Haanen,  Franz  Rüben  und  den  allzu- 
stark in  Schönheit  arbeitenden  Eugen  Blaas  erinnert. 
Und  die  Engländer  William  Logsdail,  Henry 
Woods,  der  Russe  Roussoff ,  der  Amerikaner  Charles 
Gifford  Dyer,  der  1871  in  München  .studierte,  —  alle 
diese  gehören  auch  in  diesen  Reigen.  Der  Ursprung 
der  internationalen  Schule  liegt  einestheils  in  der  maler- 
ischen Kraft  der  Lagunenstadt  selbst.  Neben  den 
Niederlanden  ist  sie  zu  allen  Zeiten  Heimath  des  Kolor- 
ismus  gewesen :  Hier  herrscht  die  Farbe ,  oben  an  der 
Nordsee  der  Ton !  Aber  die  eigentlichen  Entdecker 
der  modernen  venetianischen  Farbe ,  jenes  wohlausge- 
glichenen feinen  Spieles  zwischen    dem  Goldton  Titians 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


37 


und  dem  Silberton  des  Canaletto  sind,  wenn  ich  recht 
sehe,  Deutsche:  Der  Leipziger  Karl  Werner,  der 
Vater  deutscher  Aquarelltechnik ,  und  nach  ihm  der 
Wiener  Ludwig  Passini. 

Von  diesen  hängt  Ulrich  allem  Anschein  nach  in 
seiner  ganzen  malerischen  Art  ab.  Selbst  bei  seinem 
Oclbilde  glaubt  man  an  der  Feinheit  und  Weichheit  der 
Uebergänge,  am  milden  Glanz  der  Farbe,  an  der  vor- 
nehmen Gehaltcnheit  des  Gesammttones  die  Herkunft 
vom  Aquarell  zu  verspüren.  Der  junge  Meister  be- 
währt sich  als  ächter,  schnell  in  die  Sachlage  einge- 
führter, umsichtiger  Amerikaner,  indem  er  mit  sicherer 
Hand  dort  eingreift,  wo  der  Weg  nach  Vorwärts  weist. 
Er  ist  an  nationale  Eigenart  noch  weniger  gebunden 
als  die  in  Venedig  lebenden  Europäer,  er  bewegt  sich 
völlig  frei  in  dem  selbstgewählten  Elemente. 

Anders  ist  es  mit  Karl  Marr.  Seit  dieser  feine 
Künstler  in  seinen  «  Flagellanten  »  jenes  grosse  Historien- 
bild geschaffen  hatte,  durch  welches  man  lange  Zeit 
in  München  glaubte,  sich  in  die  Kunstgeschichte  ein- 
führen zu  müssen,  ein  Bild,  welches  gewaltiges  Können 
und  ernsteste  Studien  verrieth,  ist  Marr  in  dem  hastigen 
Vorwärts  innerhalb  der  Münchener  Schule  stets  als  mit 
an  der  Spitze  des  Fortschrittes  wandelnd  erschienen. 
Seine  Schilderung  unserer  nationalen  Schmach  in  dem 
tiefen,  ernsten  Bilde  «Deutschland  1806»  hat  ihn  als  einen 
der  Unseren  seinem  ganzen  Empfinden  nach  erkennen 
lassen ,  als  einen  Mann  von  deutscher  Innigkeit  des 
Gefühles.  Es  ist  durchaus  bezeichend,  dass  ein  mit 
deutschem  Kunstwesen  so  eng  verflochtener  Mann  wie 
der  Kritiker  Pecht,  gerade  Marr  für  den  bedeutendsten 
amerikanischen  Maler  erklärte:  Er  ist  eben  der  dem 
deutschen  Kunstgelehrten  am  nächsten  stehende! 

Dann  kamen  die  Schilderungen  aus  der  Bieder- 
meierzeit, aus  dem  Freiheitskriege  und  dieses  Jahr  in 
München  «Ein  Sommertag»,  ein  deutsches  Familien- 
leben: Mädchen,  Mütter,  Kinder,  Hühner  im  Garten, 
unter  der  Laube.  Aber  die  eigentliche  Absicht  all' 
dieser  Bilder  ist  es  nicht ,  die  weichen  Saiten  des 
Deutschthums  anzuschlagen,  die  Thränendrüse  in  Pflicht 
zu  nehmen.  Marr  ist's  münchnerisch  und  amerikanisch 
modern  um  die  Farbe  zu  thun,  um  Ton  und  Licht- 
wirkung ,  um  den  Glanz  der  im  Blättergrün  spielenden 
Sonne,  um  das  Spiel  der  Lichtflecke  auf  dem  Boden, 
auf  den  menschlichen  Gestalten.  Und  mit  grosser  Kraft 
setzt  er  seine  Absicht  durch:  Es  blitzert  auf  dem  Bilde 


von  durchbrechenden  Glanzlichtern,  die  von  grünen 
Reflexen  eingehüllten  anmuthigen  Frauen  und  Mädchen 
schimmern  in  dieser  bewegten  Lichtmasse.  Wer  mit 
Maleraugen  sehen  gelernt  hat,  erkennt  die  Kühnheit  der 
Leistung,  neben  die  verhältnismässig  geringen  Schwank- 
ungen der  Lokaltöne  solche  Blender  zu  setzen  —  und 
doch  die  künstlerische  Einheit  des  Ganzen  festzuhalten ! 

Ihm  nahe  steht  der  wieder  in  München  gebildete 
Orrin  Peck,  der  durch  sein  vor  drei  Jahren  ausge- 
stelltes Bild  «Von  ihm»  so  rasch  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  lenkte.  Denn  sicher  und  frisch  hatte  er  die 
Hellmalerei  erfasst,  Tüchtiges  in  ihr  geleistet  und  da- 
bei eine  hübsche  Amerikanerin  in  das  weissliche  Grün 
des  sonnendurchleuchteten  Gartens  gestellt.  Nach  dem 
System  der  Schule  braucht  ein  Bild  um  schön  zu  sein, 
nicht  etwas  in  der  Natur  Schönes  darzustellen.  Es 
kann  ein  hässlicher  alter  Mann  den  Gegenstand  eines 
köstlichen  Bildes  abgeben.  Dies  zu  beweisen ,  plagte 
man  sich  redlich.  Dem  Amerikaner  kam's  weniger  auf 
das  System  als  auf  die  Wirkung  seines  Bildes  an. 
Er  malte  seine  anmuthige  Landsmännin ,  die  Parteien 
durch  ihr  niedliches,  im  hellsten  Licht  strahlendes  Ge- 
sichtchen versöhnend.  Und  er  malte  jetzt  wieder  ein 
holländisches  Kind  mitten  unter  Blumen  im  Schatten 
einer  Kastanie  sitzend  —  kein  Kampfbild ,  doch  eines 
welches  sich  Freunde  wirbt! 

Die  Mitte  zwischen  Genre  und  Landschaft  hält  zu- 
nächst Hermann  Hart  wich  inne.  Bald  .schildert  er 
ein  Gespann  Ochsen  auf  frischem  Blachfeld,  bald 
Bleicherinnen  auf  sonniger  Wiese,  bald  Italien  mit  seinen 
warmen  Stimmungen,  bald  —  wie  in  seinem  letzten 
Bild  —  eine  beschneite  Märzlandschaft,  durch  die  ein 
Viehhändler  mit  seinem  Hunde  auf  schlickeriger  Strasse 
hingeht  —  der  schwere  graue  Wolkenhimmel  lastet 
über  der  stillen  Ebene,  der  angeschwollene  Fluss  zieht 
gurgelnd  dahin ! 

Es  siedelte  sich  in  neuerer  Zeit  wieder  ein  ganzes 
Malergeschlecht  in  München  an:  R.  Gross  hat  sich  den 
Genremalern  eingereiht,  William  A.  Leigh  stellt  sogar 
unter  den  Münchnern  mit  aus,  denen  er  sich  seit  einiger 
Zeit  ebenso  wie  der  auch  auf  der  Kupferplatte  ge- 
fällige Sion  Wenban,  der  Historienmaler  Hermann 
Urban  und  A.  V.  Renouf  Whelpley  mit  seinem 
sehr  beachtenswerthen  Frauenbildnis  anschloss. 

Es  zeigt  sich  in  diesen  Vorgängen  deutlich  der 
Erfolg  von  Münchens  entschiedenem  Eintreten   für  den 


38 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Henry  Mosler.     Der  Kesselflicker 


Fortschritt  in  der  Kunst:  Die  Amerikaner,  welche  in 
Schaaren  vor  vierzig  Jahren  nach  Düsseldorf,  vor  zwanzig 
nach  München  kamen,  dann  aber  nach  Paris  abschwenkten, 
beginnen  wieder  an  der  Isar  sich  heimisch  zu  machen. 
Die  deutsche  Genremalerei,  überhaupt  die  starke 
Seite  unserer  älteren  Kunst,  ragt  weit  in  das  ameri- 
kanische Schaffen  hinein.  Die  Münchener  Ausstellung 
zeigte  eine  Reihe  von  Namen  in  dieser  Richtung  schaff- 
ender Künstler,  denen  man  die  deutsche  Abkunft  an- 
zuhören glaubt:  Mosler,  Gutherz,  Thayer,  Rols- 
hoven.  Aber  so  ganz  ohne  Weiteres  dürfen  wir  diese 
nicht  für  uns  in  Anspruch  nehmen,  wie  ja  überhaupt 
die  Lage  der  Kunst  und  die  Irrgänge  ihrer  Entwicklung 
nirgends  schwerer  zu  klären  zu  sein  scheinen,  als  in 
jener  grossen  Republik  drüben:  Sie  stellt  noch  ein  frisch 
gepflügtes,  offenes  Feld  dar,  in  welchem  Samen  aller 
Arten  Nahrung  und  Gedeihen  finden. 


Man  kann  deutlich  bei  den  amerikanischen  Figuren- 
malern ,  wie  bei  den  Landschaftern  ein  langsames  Ab- 
schwenken von  Deutschland  bemerken  zu  Gunsten  einer 
Annäherung  an  Frankreich.  Dieser  Umschwung  voll- 
zog sich  etwa  in  der  Mitte  der  sechziger  Jahre  und 
wurde  durch  unsere  Siege  von  1870/71  nicht  aufge- 
halten. Die  Amerikaner  kamen  wahrlich  nicht  in  das 
Gebiet  des  Deutschen  Bundes  aus  besonderer  Hoch- 
achtung für  die  Bewohner  und  Verhältnisse  seiner  sechs- 
unddreissig  Staaten  und  wurden  durch  unsere  Einigung 
nicht  verdrängt;  sondern  sie  kamen,  weil  sie,  Europa 
von  fern  übersehend,  den  Werth  der  Kunstschulen  am 
besten  abzuwägen  vermochten,  unbeeinflusst  von  euro- 
päisch nationalen  Anschauungen.  Sie  gingen  eben  ein- 
fach dorthin,  wo  sie  am  meisten  zu  lernen  hofften. 
Kaulbach  und  Piloty  zogen  sie  lange  Zeit  an.  Da- 
mals genoss  Deutschland  die  Früchte   einer  ruhmvollen 


DIK  KUNST  UNSKRKR  ZKIT. 


39 


Kunstentwicklung.  Das  hohe  geistige  Walten  des  Cor- 
nelius wirkte  mächtig  nach,  vielfach  zogen  strebende 
Künstler  damals  München  allen  anderen  Kunststädten 
vor.  Deutschlands  Kunstruhm  überflügelte  ganz  jenen 
Englands  und  Italiens.  Die  auf  höchste  malerische  Voll- 
endung dringende  romantische  Schule  Frankreichs  stand 
noch  aliein  in  Europa,  abgesondert.  Aber  das  jüngere 
Künstiergeschlecht  empfand  den  Deutschen  gegenüber 
bald  überall ,  da.ss  diese  die  zeichnerische  Schule  des 
Cornelius  abzulösen  bestimmt  sei.  An  den  Akademien, 
wo  die  Selbstgefälligkeit  in  veraltenden  Sy.stemen  stets 
behäbig  den  Thron  und  die  Köpfe  einnimmt ,  begriff 
man  dies  zuletzt.  Dort  hielt  man  fest  an  der  Ueber- 
lieferung,  auch  seitdem  sie  immer  inhaltsärmer  wurde. 
Man  kann  deutlich  verfolgen ,  dass  die  amerikanischen 
Maler,  welche  vorzugsweise  München  als  Studienort 
wählten ,  ihre  letzte  Ausbitdung  in  Paris  anstrebten, 
namentlich  seit  sie  die  Deutschen  selbst  in  hellen 
Schaaren  nach  Paris  wandern  sahen.  Piloty  war  als 
Lehrer  auch  in  New- York  und  Boston  hoch  gefeiert, 
aber  wenn  man  von  ihm  die  Technik  des  Malens  er- 
lernt hatte,  suchte  man  in  Paris  die  künstlerische  Voll- 
endung. Da  die  Deutschen  selbst  zumeist  so  verfuhren, 
so  kann  man  es  den  Ausländern  nicht  verargen.  Diese 
gaben  zunächst  den  Akademikern  der  Ecole  des  beaux 
arts,  den  Trägern  der  von  David  ausgehenden  strengen 
Schulung  den  Vorzug.  Sehr  früh  aber  erkannten  die 
Amerikaner  den  höheren  VVerth  der  Stimmungsmalerei: 
Corot  fand  zunächst  in  New-York  und  Boston  begeisterte 
Aufnahme,  die  Hellmalerei  unter  den  Söhnen  der  Ver- 
einigten Staaten  eifrige  Verfechter. 

Ein  einflussreicher  Führer  schon  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Lehrer  an  der  New -Yorker  Kunstschule 
scheint  nach  dieser  Richtung  Lemuel  Everett  VVil- 
warth  gewesen  zu  .sein,  der  1859 — 1863  bei  Kaulbach 
stuflirte  und  dann  bis  1867  bei  Gcröme  arbeitete.  Ihm 
folgte  eine  grosse  Reihe  später  berühmt  gewordener 
Künstler  gerade  in  die  Werkstätte  dieses  Künstlers, 
denn  dieser  übertraf  hinsichtlich  des  .< Raffinements»  in 
der  Farbe  selbst  jene  Pariser,  welche  \  on  den  Deutschen 
vorzugsweise  als  Lehrer  aufgesucht  wurden,  den  Couture 
oder  Glayre. 

Einen  ähnlichen  Weg  schlug  Henry  M  Osler 
ein ,  einer  der  in  Deutschland  am  besten  bekannten 
Amerikaner.  Deut.schen  Kunstfreunden  werden  zu- 
nächst   die    Bilder :     «  Die    letzten    Momente »     aus    der 


vorjährigen  Berliner  und  «Der  Kesselflicker»  von  der 
diesjährigen  Münchener  Ausstellung  in  bester  Erinn- 
erung sein.  Sein  «  Herbstfest  ^ ,  welches  man  in  München 
1888  sah  und  manches  tüchtige  Werk,  welches  hier  und 
dort  erschien,  lassen  die  Richtung  des  Künstlers  deutlich 
erkennen.  Prüft  man  Mo.slers  Bilder  darauf  hin ,  was 
an  ihnen  amerikanisch,  was  deutsch  und  was  französisch 
sei,  -SO  wird  man  zunächst  nicht  eben  sehr  viel  mehr 
von  der  Nachwirkung  seiner  Jugendbildung  spüren. 
New -Yorker  von  Geburt,  früh  nach  Cincinnati  und 
Nashville  verzogen,  erwuchs  er  im  kunstarmen  Westen, 
angeregt  nur  durch  die  örtlichen  Grös.sen.  Nachdem  er 
als  Zeichner  den  Secessionskrieg  mitgemacht,  und  sich 
als  Ilhustrator  bethätigt  hatte ,  kam  er  dreiundzwanzig- 
jährig  nach  Düsseldorf  zu  Mücke  und  Kindler.  Das  war 
ein  etwas  jäher  Uebergang  aus  der  rauhesten  Wirk- 
lichkeit in  eine  sehr  sanfte,  abgeglättete  Welt.  Bald 
verwechselte  daher  auch  Mosler  seine  Lehrstätte:  Er 
ging  nach  Paris  in  das  vielbesuchte  Atelier  von  Hebert, 
in  dem  er  namentlich  mit  den  vorwärtsstrebenden  jungen 
Engländern  zusammentraf  Dann  lebte  er  mehrere  Jahre 
in  seiner  Heimath,  bis  er  1874  abermals  nach  Deutschland 
und  zwar  nach  München  zu  Piloty  und  dann  1877  wieder 
nach  Paris  ging,  wo  er  seitdem  sich  heimisch  machte. 

In  der  psychologischen  Auffassung  des  Menschen 
verräth  Mosler  die  deutsche  Anschauung.  Ohne  die 
Vorarbeit  von  Knaus,  Vautier  und  der  ganzen  deutschen, 
auch  für  Frankreich  bestimmenden  Genreschule  hätte 
der  nun  etwa  fünfzigjährige  Künstler  nicht  seine  jetzige 
Richtung.  Die  liebenswürdige  Versenkung  in  das  Leben 
der  verschiedenen  Stände  ist  durchaus  germanisches 
F>btheil ,  welches  wir  mit  den  Engländern  und  Skan- 
dinaviern zu  theilen  haben:  Wilkic,  CoUins  dort,  Mar- 
strand  in  Kopenhagen  waren  die  Anreger  für  uns  ebeaso 
-sehr,  wie  Chodowiecki  und  Ludwig  Richter.  So  i.st 
denn  auch  der  «Kesselflicker»  im  Grunde  nichts  an- 
deres als  ein  gutes  deutsches  Genrebild ,  auch  wenn 
es  von  einem  Amerikaner  in  Paris  gemalt  ist.  i  Die 
letzten  Momente»  mahnten  an  die  Düsseldorfer  Schule, 
sie  stehen  etwa  Brütt  oder  Bokelmann  nahe.  Nur  in 
dem  tief  gewählten  Ton  und  in  der  farbigen  Behandlung 
erkennt  man  die  Nachwirkung  von  Breton  und  anderen 
Franzosen,  welche  in  der  keltischen  Bretagne,  in  den 
vlämisch  germanischen  Landen  ein  darstellensw-erthes 
Volksthum  suchten :  Denn  das  romanische  Frankreich 
bot  ihnen  ein  .solches  nicht. 


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40 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


IV.    7'/wmas  Dewing.     Bildnis  der  Mr5.   Stanford   White. 

Auch  bei  Carl  Gut  herz,  einem  Schweizer  von 
Geburt,  der  aber  schon  1851  als  Knabe  nach  Amerika 
kam,  täuscht  der  Name.  Er  schreibt  sich  drüben 
«Guthers»  und  wird  daher  wohl  «Gössers»  ausge- 
sprochen. Er  studirte  1868  bei  Cabasson  und  Pils  in 
Paris,  später,  wie  es  scheint  mit  besonderer  Vorliebe,  in 
Brüssel  bei  Stallaert  und  in  Antwerpen  bei  Robert. 
1873  nach  Amerika  zurückgekehrt,  machte  er  sich 
namentlich  um  das  Museum  zu  St.  Louis  verdient,  trat 
aber  1884  wieder  in  Paris  in  Julians  Werkstätte  ein  und 
lebt  jetzt  dort  seiner  eigenartigen,  koloristisch  glänzen- 
den, mit  spitzem  Pinsel  vorgetragenen  Kunst.  Wir 
können  den  Mann  keineswegs  national  für  uns  in  An- 
spruch nehmen.  Im  Gegentheil :  Es  bekundet  sich  in 
ihm  wieder  die  Bevorzugung  der  Franzosen  selbst  bei 
uns  Stammverwandten. 

Wie  Leutze  und  Bierstadt  die  Wegbahner  für  die 
deutsche  Kunst  waren,  so  scheinen  Franzosen  diesen 
Umschwung  zu  Gunsten  von  Paris  in  Amerika  selbst  her- 
beigeführt zu  haben:  So  ein  Schüler  des  Ingres,  Pierre 


Chasserieau;  ein  aus  Lyon  stammender,  von  1844 
bis  1870  aber  in  New-York  thätiger  Schüler  des  Dela- 
roche,  der  Landschafter  Frangois  Regis  Gignon; 
und  der  schon  genannte,  einer  alten  Hugenotten-Familie 
entstammende  As  her  Brown  Durand,  den  man  drüben 
als  einen  der  Väter  der  heimischen  Landschaftsmalerei 
feiert.  Welche  Wege  diese  Männer  gewiesen  haben, 
erkennt  man  aus  den  Werkstätten,  welche  von  nun 
an  die  jungen ,  aus  den  Vereinigten  Staaten  herüber- 
kommenden Maler  bevorzugen :  Es  sind  jene  der  grossen 
Koloristen  Geröme,  Bonat  und  Carolus  Duran. 

Es  war  sehr  lehrreich ,  in  München  die  dort  aus- 
gestellten Arbeiten  der  französischen  Meister  mit  jenen 
ihrer  amerikanischen  Schüler  zu  vergleichen.  Da  war  das 
farbenprächtige,  tief  gestimmte,  mit  vollendeter  Sauber- 
keit bis  ins  letzte  Ornament  durchgeführte  «Türkische 
Frauenbad»  von  Gerome.  Die  Schönheit  in  der  Dar- 
stellung der  Fliesen,  des  Marmors,  des  Beiwerkes,  die 
Weichheit  und  Durchbildung  der  nackten  Frauenkörper, 
der  entschiedene  Zug  zum  Sinnlichen,  ein  Zug,  der  durch 
ernstes  Studium  geregelt,  wahrlich  nichts  Verwerfliches 
in  sich  hat;  aber  die  trotz  alles  feinen,  den  Raum  durch- 
ziehenden Duftes  doch  etwas  harte ,  auf  Betonung  der 
Einzelwerthe  begründete  Färbung  zeigen  den  Franzosen, 
den  Meister  aus  Napoleonischer  Zeit,  jener  Zeit  einer 
überfeinerten  Romantik ,  welche  weniger  die  Gemüther 
bewegen,  als  die  im  Tagesgetriebe  abgestumpften  Nerven 
in  den  Tiefen  aufpeitschen  sollte.  In  den  Jahren, 
in  welchen  amerikanische  Künstler  wie  Bridgman, 
Moore,  Weeks,  Cox  Kenyon,  Pickneil,  Stewart 
und  Andere  bei  Geröme  studirten,  war  diese  Richtung 
der  französischen  Kunst  noch  die  in  Paris  fast  allein 
herrschende.  Die  Landschafter  der  Schule  von  Fon- 
tainebleau  und  Barbizon,  der  gewaltig  anregende,  aber 
grosssprecherische  und  deshalb  uin  so  mehr  \'erhöhnte 
Courbet ,  die  vielverlachten  ersten  Versuche  der  Hell- 
malerei hatten  noch  keinen  Boden  bei  den  Künstlern 
gefunden.  Es  entzückte  Paris  vor  Allem  die  technische 
Meisterschaft,  die  eigentliche  Kunst  des  Malens,  welche 
von  den  Romantikern  den  italienischen  Grossmeistern 
abgelauscht  und  von  Künstlern  zweiten  Ranges,  wie 
Couture,  Glayre,  Lefebvre,  Bouguereau  zu  einem  sicheren 
Besitzstande  der  Pariser  Schule  gemacht  worden  war. 
Und  dann  lockte  der  prickelnde  Geist,  der  vom  Napo- 
leonischen Paris  ausging,  dies  Leben  auf  dem  Vulkan, 
dies  frohe  tolle  Treiben   im  Angesicht   des  Untergangs, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


41 


welches  sich  in  der  Kunst  in  Darstellungen  der  Freuden 
des  Lebens  oder  der  diesen  entgejjentretenden  schreck- 
lichen Ereignisse  äusserte.  Derselbe  Geröine,  welcher 
mit  Vorliebe  Sklavinnen  auf  dem  Markt  und  Phryne 
vor  den  Richtern  darstellte,  malte  den  Marschall  Ney, 
der  im  Festungsgraben  zusammengebrochen  liegen 
bleibt,    während   die  Mannschaften,    welche   das  Stand- 


Hierin  liegt  schon  eine  Art  Programm,  äussert  sich  der 
in  Paris  mächtig  werdende  Zug  nach  engerer  Ver- 
bindung mit  dem  eigentlichen  Volksthum.  Man  war 
die  grossen  Schauervorstellungen  und  die  prickelnde 
Sinnlichkeit  müde,  man  ging  hinaus  aus  Paris,  auf  das 
Land,  wo  die  grossen  Erneuerer  der  französischen  Kunst 
eben  damals  ihre  wunderbaren  Entdeckungen  im  Reiche 


/.   /I.  Briagman.     Das  Negerfest  zu  Clidah. 


recht  an  ihm  vollzogen ,  theilnahmlos  abziehen :  Grau- 
samkeit war  ja  jederzeit  das  letzte  Vergnügen  der 
sinnlich  Ermüdenden. 

Ein  so  fein  beanlagter  Künstler  wie  Frederick 
Arthur  Bridgman  musste  bald  die  Schwäche  an 
der  Kunst  seines  Meisters  merken.  Zwei  Jahre  nach- 
dem er  1866  in  dessen  Atelier  eingetreten  war,  führte 
er,  obgleich  er  erst  die  Zwanziger  kaum  überschritten 
hatte ,  Bilder  aus ,  welche  schon  im  Gegenstand  eine 
Abschwenkung  von  seinem  Lehrer  darstellten.  Er  malte 
zunächst  vorzugsweise  die  Bretagne  und  ihre  Bewohner. 


der  Stimmung  machten.  Und  als  dann  Vielen  und  so- 
mit auch  Bridgman  des  Malens  von  Bauern  aus  der 
Normandie  und  aus  den  Pyrenäen  zu  viel  wurde,  als 
sie  sahen ,  dass  ihre  verfeinerte  Natur  sich  nicht  Tür 
diese  Aufgabe  eigne  —  da  war  es  der  Orient,  der  sie 
alle  mächtig  lockte,  dort  wo  Pracht  und  Einfachheit, 
Schönheit  und  Grausamkeit,  sanfte  Stimmung  und 
wilder  Ernst,  glänzencle  Farbe  und  blendendes  Licht  so 
eng  beisammen  stehen,  wo  das  Volksthum  wenigstens 
für  uns  europäisch  Gebildete  ein  wunderbarer  Hauch 
des  Dichterischen  umzieht;  aus  Schmutz  und  Elend  der 


42 


DIE  KUNST   UNSERER   ZEl'C. 


Reichthum  an  Ton,  aus  verkommenen  Sitten  der  Glanz 
früherer  Tage,  aus  versinkenden  Städten  höchste  künst- 
lerische Pracht  hervorspricht. 

Und  dorthin  wendeten  sich  auch  die  Amerikaner. 
Bridgman  hat  sich  Aegypten  und  Nordafrika  zur  künstler- 
ischen Heimat  gewählt.  Seine  Bilder  sind  in  Deutsch- 
land verhältnissmässig  oft  au.sgestellt  worden.  Auf  der 
Berliner  Ausstellung  von  i8gi  waren  deren  allein  fünf, 
in  München  ist  er  ein  gern  gesehener,  regelmässig  er- 
scheinender Gast,  unsere  illustrirten  Zeitungen  bedienen 
sich  gern  seiner  Meisterschaft.  Unter  der  Hand  des  Ameri- 
kaners hat  sich  Gerömes  Schule  gewandelt.  Bridgman 
ist  heller  im  Ton,  klarer  in  der  Farbe,  weisser  im  Licht. 
Die  Entdeckungen  der  Jüngeren,  der  Hellmaler,  haben 
ihn  nicht  ganz  für  sie  bekehrt,  aber  er  hat  von  ihnen 
viel  aufgenommen.  Ja  in  seinem  Bilde  «Das  Fest  des 
Propheten  zu  Blidah»  liegt  in  dem  Spiel  mit  dem 
Weiss  der  die  Frauen  umhüllenden  Tücher,  des  Marmors 
und  des  Stuckes  der  Baulichkeiten  als  Gegensatz  zum 
Ton  der  Abendluft,  der  brennenden  Lichter  und  der 
dunklen  Hautfarbe  der  südlichen  Frauen  der  eigentliche 
künstlerische  Vorwurf  In  dem  « Negerfest  zu  Blidah » 
tritt  neben  dem  Zug  zum  ethnographisch  Genauen  noch 
die  im  Ganzen  nicht  völlig  zur  Wirkung  gelangende 
Buntheit  hervor;  und  in  dem  nebenbei  vorgeführten 
«Opfer  der  Tugend»,  jener  in  drei  Bildern  dargestellten 
Erzählung  vom  Ueberfall  einer  Harems-Schönen  durch 
einen  lüsternen  Mörder,  erkennt  man,  dass  auch  die  alte 
Neigung  zu  Geröme'schen  Vorwürfen  doch  noch  nicht 
ganz  überwunden  ist. 

Eben.so  ist  die  Vorliebe  für  das  Topographische, 
Bildnis-sartige  noch  bei  den  Schülern  Gerömes  stark. 
Wenn  uns  Bridgman  gewissenhaft  die  Orte  nennt,  die 
er  darstellt  —  Orte,  deren  Dasein  ihm  nur  die  ge- 
lehrten Geographen  oder  Orientreisende  nachzuprüfen 
vermögen  —  so  ist  auch  dies  wieder  eine  Art  Programm. 
Man  sieht ,  dass  er  noch  im  Sinn  der  alten  Schule  den 
Gegenstand  bevorzugt,  dass  es  ihm  nicht  lediglich  auf 
die  Darstellung  eines  Natureindruckes ,  sondern  auch 
vorzugsweise  auf  den  sachlichen  Inhalt  ankommt. 

In  gleicher  Weise  schafft  der  1849  i"  Boston  ge- 
borene Edwin  Lord  Weeks,  der,  nachdem  er  bei 
Geröme  und  Bonnat  seine  Studien  gemacht  hatte,  Bridg- 
man nach  Nordafrika  folgte ,  ihn  aber  bald ,  Indien  zu- 
strebend, weit  hinter  sich  liess.  Auch  in  seinen  Bildern, 
deren  in  Berlin  und  München  mehrere  zu  sehen  waren. 


tritt  die  sonnenhelle  Oricntmalerci  mächtig  hervor.  In 
vielen  Arbeiten  wird  man  an  den  Russen  Wereschtschawin 
gemahnt ,  erscheint  Weeks  gewissermassen  als  dessen 
Eideshelfer,  indem  er  die  glanzvolle  Wirkung  weis.sen 
Lichts  in  weissen  Marmortempeln,  wie  in  jenem  von 
Walkeshwur  bei  Bombay,  mit  ähnlicher  Kraft  des  Sonnen- 
tones schildert  und  dazu  all  das  Flimmern  der  reichen 
Farben  auf  den  Gewändern,  auf  der  blanken  braunen 
Haut  der  Menschen,  auf  den  bunten  Behängen  und 
Gefiedern  der  Thiere.  Ein  echtes  Sonnenbild  dieser  Art, 
so  recht  der  Beweis,  wie  weit  man  es  in  der  Darstellung 
tropischen  Lichtes  zu  bringen  vermag,  sind  die  «  Elefanten 
des  Maharajah  in  Jehore». 

Ein  dritter  Gcröme-Schüler,  Harry  Humphrey 
Moore,  hat,  ehe  er  zur  selbständigen  Künstlerschaft 
gelangte,  eine  zweite  Lehrzeit  durchgemacht,  die  starken 
Einfluss  auf  ihn  ausübte  Er  war  in  Spanien  und  später 
in  Rom  Schüler  des  Fortuny.  Bei  seinen  kecken,  farben- 
frohen, bei  höchster  Buntheit  doch  einheitlichen  Bildern, 
mit  Vorliebe  Darstellungen  aus  Japan ,  kommt  ihm  die 
scharfe,  geistreiche,  zugespitzte  Art  des  grossen  Führers 
der  modernen  Spanier  und  Römer  ausserordentlich  zu 
statten :  Ein  so  keckes  Roth ,  ein  so  blitzendes  Gelb 
hat  eben  nur  die  Schule  Fortunysl 

Den  umgekehrten  Weg,  von  den  Spaniern  zu 
Geröme  wanderte  Julius  L.  Stewart,  der  im  ver- 
flossenen Jahre  in  Berlin  trefflich  vertreten  war.  In  die 
Werkstätte  des  Zamagois  und  des  Madrazo  führte  ihn 
die  genaue  Kenntniss  der  Malweise  des  Fortuny:  Ist 
doch  Stewarts  Vater  der  glückliche  Besitzer  einer  Reihe 
der  besten  Werke  des  Spaniers.  Die  Farbenfreudigkeit 
der  Bilder  des  jungen  Meisters  erklärt  sich  trefflich  aus 
diesem  Zusammentreffen:  Die  ausgeglichene  Kraft  des 
farbigen  Tones  dankt  er  der  Schule  Gerömes;  die 
heitere  Buntheit  den  spanischen  Anregungen;  und  die 
innere  Vornehmheit  seiner  Gestalten,  der  freie  Anstand, 
welcher  sie  beseelt,  ist  sein  eigenstes  Gut  —  oder  das 
seiner  amerikanischen  Herkunft. 

Auch  Kenyon  Cox  studirte  bei  Geröme,  nach- 
dem er  vorher  Carolus  Duran  nahe  gestanden  hatte. 
Schon  als  26jähriger  kehrte  er  1882  nach  New  York 
zurück.  Das  ist  vielleicht  der  Grund,  dass  er  sich  von 
dem  übermächtigen  Einfluss  der  Franzosen  frei  machte, 
welcher  in  seinen  ersten,  venetianischen  Studien  noch 
vorherrschte.  Jetzt  erscheint  er  eher  den  Engländern 
verwandt.     Sein  «Abend»,  eine  wundervoll  gezeichnete 


DIE  KUNST  UNSKRKR  ZKIT, 


43 


und  gemalte,  eigenartig  stilisirte  Frauengestait  vor  einer 
titianisch  tiefen  Baumgruppe ,  darf  sich  vielleicht  der 
geistigen  Pathenschaft  von  Sir  Frederick  Leighton  rühmen, 
während  in  dem  prächtigen  Bildniss  dos  berühmten  ameri- 
kanischen Bildhauers  A.  St.  Gaudens  die  freie,  selb- 
ständige Richtung  kräftig  sich  äussert!  Man  sehe,  wie 
prächtig  der  Kopf  auf  der  grauen  Wand  steht,  selbst 
in  grauen  Tönen  schlicht  hingemalt,  und  wie  intim  die 
modellirende    Hand    gezeichnet    ist:     In    dieser    Arbeit 


ausserordentlich  Bonnat  als  Maler  starker  Lichtwirkungen, 
kräftig  geschlossener  Tonkompositionen  auf  seine  Zeit 
Einfluss  nahm,  der  begreift  auch,  dass  die  Amerikaner, 
stets  bereit,  in  den  Vorderkampf  des  Schaffens  zu  treten, 
ihn  gerne  zum  Lehrer  wählten.  Frank  Hill  Smith, 
Albert  Po  well  Ryder,  Charles  Gardley  Turner. 
William  Anderson  Coffin  und  gewiss  noch  viele 
andere  ältere  unter  seinen  Schülern  leben  und  wirken 
jetzt    in    den    Vereinigten    Staaten.      George    Innes, 


Etiviin  I.orJ  iVetks.     Die  Klephanten  des  Maharajali  in  Jeliore. 


steckt  etwas  Besonderes,  Amerikanisches,  dem  zu  be- 
gegnen dem  aufmerksamen  Beschauer  eine  Freude  .sein 
wird.  Abbot  Henderson  Thayer,  der  ausser  von 
Gerome  noch  von  dem  international  gewordenen  Hol- 
steiner Heinrich  Lehmann  angeregt,  anfangs  Genrebilder 
malte,  aber  bald  von  dem  «Kind  mit  der  Katze»  zur 
« Leda  mit  dem  Schwan »  und  endlich  ganz  von  der 
Lyrik  zur  Realistik  überging,  hat  in  Amerika  auch  eine 
bemerkenswerthe  Ruhe  des  Tones  und  Breite  des  Vor- 
trages sich  angeeignet ,  die  seine  beiden  in  München 
ausgestellten  Bildnisse  als  Werke  von  kräftiger  Eigenart, 
als  amerikanisch  erscheinen  Hessen. 

Wer  sich  des  Aufsehens  erinnert,  welches  zu  Ende 
der  sechziger  Jahre  und  in  der  Folgezeit  Bonnats  Bild- 
nisse erregten,  namentlich  sein  «Thiers»,  wer  weiss,  wie 


des  ausgezeichneten  New- Yorker  Landschafters  1854  in 
Paris  geborener  Sohn,  ein  tüchtiger  Thiermaler,  gehört 
auch  in  diesen  Kreis.  Andere  verliessen  Paris  nicht 
auf  die  Dauer:  So  Walter  Gay,  welcher,  seit  er 
1876  in  Bonnats  Werkstatt  eintrat  und  Paris  nur  zu 
Studienzwecken  verliess;  Charles  Sprague  Pearce. 
welcher  1873,  22  Jahre  alt,  sich  dem  Meister  anver- 
traute und  seitdem  als  einer  der  feinsten  Künstler 
der  amerikani.schen  Kolonie  an  der  Seine  lebt.  Beide, 
zu  den  fortgeschrittensten  Hellmalern  gehörig,  waren 
wohl  vortrefflich  in  Berlin ,  nicht  aber  in  München 
vertreten.  Nicht  blos  um  den  Vorwurf  mangelnder 
Höflichkeit  gegen  Frauen  von  mir  abzuwenden,  nenne 
ich  gleich  hier  drei  in  Paris  lebende  Malerinnen :  die 
an    männlicher    Breite    des    Vortrages    mit    der    Polin 


44 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Bielinska  und  der  Holländerin  Schwartze  wetteifernde 
Anna  Elizabeth  Klumpke  und  Lucy  Lee 
Robb  ins,  welche  durch  ihr  in  Berlin  ausgestelltes 
Selbstbildniss  den  Männern  bewies ,  dass  man  ein  vor- 
nehmes und  anmuthiges  Mädchen  bleiben  kann,  selbst 
wenn  man  eine  sehr  ernst  zu  nehmende  Malerin  wurde; 
und  den  Frauen,  dass  man  mit  vollster  Hingebung  sich 
einem  Berufe  widmen  und  doch  dabei  in  schönster 
Weiblichkeit  sich  erhalten  kann ;  und  endlich  Emma 
Chadwick,  die,  so  viel  ich  weiss,  Schwedin  von 
Geburt,  schon  zu  Anfang  der  achtziger  Jahre  bei 
Robert-Fleury  und  Cazin  studirte  und  seither  Werke 
von  sicherer  Meisterschaft  zur  Schau  brachte. 

Alle  diese,  sowie  die  jüngeren  Mitglieder  der 
amerikanischen  Malergesellschaft  in  Paris  machten  sich 
früh  von  Geröme  und  Bonnat  frei,  geführt  von  einem 
ihrer  grössten  Talente  John  Singer  Sargent.  Sargent 
ist  in  Florenz  1856  geboren  und  Schüler  des  Carolus 
Duran  in  Paris.  Seine  Bedeutung  liegt  in  der  erstaun- 
lichen Thatkraft,  mit  der  er  die  impressionistischen 
Bestrebungen  der  siebziger  Jahre  vertrat,  hierin  neben 
Bastien-Lepage  einer  der  glänzendsten  Vertreter  der 
Hellmalerei  werdend. 

Das  Programm  dieser  Maler  ist  tausendfältig  be- 
sprochen! Es  heisst  für  sie,  die  Welt  sei  herrlich  überall, 
der  zu  malende  Gegenstand  daher  gleichgiltig,  wenn  nur 
die  Natur  in  ihrer  vollen  Wahrheit  getroffen  werde. 
Der  Kampf  gegen  veraltende  Ideale  führte  sie  bis  zur 
grausamsten  Entschiedenheit  im  Realismus.  Aber  Eines 
verklärte  ihre  Bilder:  das  Licht,  die  strahlende  Sonne. 
Die  Wirkungskraft  der  Farbe  durch  sie  wurde  erstaunlich 
gesteigert,  die  Empfindung  für  die  zarten  Halbtöne  so 
verfeinert,  dass  man  der  schweren  Schatten  der  alten 
Malerei  nicht  mehr  bedurfte.  In  der  geringen  Tonver- 
schiedenheit zwischen  höchstem  Licht  und  tiefstem 
Dunkel  im  Bilde  offenbart  sich  die  Feinheit  des  maler- 
ischen Empfindens,  eine  andere,  künstlerischere  Art  jener 
«Beschränkung»,  in  welcher  doch  die  Aesthetiker  so 
lange  die  Vorbedingung  der  Schönheit  erblickten.  Man 
mu.ss  ein  Bild  wie  Pearces  «Schäferin»,  George 
Hitchcocks  «Mutterglück?,  Walter  Mc  Ewens 
«Allerseelentag»,  Sargent  Kendalls  «Milchhänd- 
lerin», man  muss  ferner  die  prächtigen  Arbeiten  des 
diesmal  in  München  nicht  vertretenen  Gari  M elchers 
auf  diese  Werthe  hin  prüfen,  um  den  Malern  gerecht 
zu  werden.     Es  ist  da  eine  Anspannung  des  malerischen 


Auges,  eine  Vorsicht  in  der  Wahl  des  Tones,  eine  Zart- 
heit in  der  Empfindung  für  die  koloristischen  Werthe, 
wie  sie  vor  der  unserigcn  kaum  eine  andere  Zeit  besass. 
Und  gerade  in  den  Werken ,  welche  die  an  alten 
acsthetischen  Werthen  Hängenden  am  stärksten  ab- 
schrecken, tritt  die  ausserordentliche  Steigerung  des 
malerischen  Könnens  oft  am  deutlichsten  hervor. 

Zwei  Bilder  seien  nach  dieser  Richtung  hervor- 
gehoben ,  ausgedehnte  Leinwandflächen ,  welche  in 
München  viel  besprochen  wurden:  Alexander 
Harrisons  «Badende»  und  William  T.  Dannats 
«  Spanierinnen ». 

Von  Harrison  soll  später  noch  weiter  die  Rede  sein. 
Hier  gilt  es  die  Werthe  eines  Bildes  abzuwägen,  welches 
einen  grünlichgelben  Abendhimmel,  eine  fast  bewegungs- 
lose grüngelbe  Meeresfläche  und  in  dieser  einige  nackte, 
ganz  von  grüngelben  Reflexen  umspielte  Frauen  dar- 
bietet :  Viele  Quadratmeter  Fläche,  in  welchen  nur  das 
Haar  und  die  Augen  der  Frauen  einen  etwas  tieferen 
Ton  haben,  sonst  fast  ein  Einerlei  oder  doch  so  beschei- 
dene Schwankungen  in  der  Farbe,  dass  der  ungewohntere 
Blick  ihrer  kaum  sich  bewusst  wird.  Und  trotzdem  oder 
besser  wegen  dem :  welche  Tiefe  der  Perspektive,  welche 
Klarheit  in  der  Raumgestaltung,  welche  endlose  Fülle 
feiner  sich  durchdringender  Reflexe,  welche  Wahrheit 
und  welch'  tiefes  aus  dieser  hervordringendes  Gefühl  der 
Ruhe  und  des  Wohlseins! 

Dannat  hat  es  erreicht,  dass  seine  Arbeit  wohl  die 
am  häufigsten  genannte  der  Münchener  Ausstellung 
war.  Aber  neunundneunzig  von  hundert  Besuchern  be- 
zeichneten es  einfach  als  das  «scheusslichste»  aller 
Bilder.  Es  ist  ja  eine  Eigenthümlichkeit  der  meisten 
braven  Leute ,  dass  sie  sich  besonders  freuen ,  etwas 
gefunden  zu  haben ,  worüber  sie  sich  von  Grund  der 
Seele  entrüsten  können.  So  war  es  hier,  vor  Dannats 
Bild:  Eine  Anzahl  aufgeregter,  geschminkter  Spanier- 
innen sitzt  aut  einer  Bank  an  der  Wand ,  von  elek- 
trischem Licht  beleuchtet.  Alle  Farben  sind  durch 
dieses  Licht  ebenso  verzerrt,  wie  die  Leiber  der  zweifel- 
haften Schönheiten ,  alle  Glieder  umspielt  von  wunder- 
lichen ,  immer  in  ein  violettes ,  weissliches  Roth  über- 
gehenden Farbenmischungen.  Beobachtet  ist  das  Bild 
aber  mit  ausserordentlicher  Schärfe  und  gemalt,  in 
leichtem  Auftrag  alla  prima  gemalt ,  dass  einem  ge- 
radezu die  Haare  zu  Berge  stehen ,  wie  vor  einem 
.schreckhaften  Wunder  1 


CO 
CO 


C 


o 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


45 


Mit  einer  gewissen  Sicherheit  kann  man  annehmen, 
dass  dieses  Bild  von  der  grössten  Mehrzahl  europäischer 
Aufnahme-Juroren  würde  abgelehnt  werden.  Wie  man 
in  Amerika  darüber  denkt,  weiss  ich  nicht.  Diesseits 
des  Oceans  ist  es  nur  in  München  und  Paris  möglich. 
Dannat  ist  kein  Anfänger  mehr:  Jetzt  ein  Mann  nahe 
den  Vierzigern ,  hat  er  einst  an  der  Akademie  in 
München  seine  Studien  begonnen  und  lebt  nun  in  Paris. 
Dort  hat  man  ihn  mit  Ehren  aufgenommen  und  eine 
Lehrstelle  an  der  Kunstschule  überwiesen:  Es  ist  eben 
wunderbar,  wie  «dem  ein  sin  Uhl  is,  wat  dem  annern 
sin  Nachtigall  is. »  Ich  erzählte  einem  deutschen 
Akademieprofessor  vor  dem  Bilde,  dass  es  von  einem 
seiner  Kollegen  in  Paris  stamme :  Er  sah  mich  lange 
an ,  ob  ich  scherze  — 
dann  ging  er  schwei- 
gend und  den  Kopf 
schüttelnd  weiter. 

Schon  vor  einem 
anderen  Bild  hatte  er 
mir  nicht  recht  glauben 
wollen ,  dass  meine 
Freude  eine  unge- 
heuchelte  sei ,  vor  je- 
nem von  Robert 
William  V  o  n  n  o  h : 
Ein  Blick  über  ein  Feld 
blühenden  Mohnes,  in 
dem  ein  Kind  herum- 
spielt ,     dahinter     eine 

Wiese,  etwas  Wald,  ein  Hof;  Alles  im  bläulichen 
Sonnenlicht  spielend,  eine  grosse- Bildfläche.  Er  wollte 
nicht  einmal  zugestehen,  dass  es  meisterhaft  gemalt 
sei!  Es  lohnte  sich  aber  das  Mohnfeld  genau  anzu- 
sehen: Ein  Mosaik  in  Oelfarbe;  das  völlig  reine  Roth 
steht  in  breiten  Haufen  unmittelbar  aus  der  Tube  auf 
die  Leinwand  aufgedrückt  da,  die  blaugrünen  Blätter 
stehen  in  breiten  Flächen  daneben.  Zwischen  beiden 
Farbenklumpen  sieht  man  bis  zu  einem  Centimeter 
breit  die  blanke  weisse  Leinwand.  Diese  Amerikaner 
scheuen  sich  wenigstens  nicht,  mit  aller  älteren  Technik 
zu  brechen  und  zu  thun,  was  ihnen  nöthig  scheint,  um 
die  erstaunliche  Lichtwirkung  zu  schaffen ,  welche  sie 
anstreben.  Ist  dies  Streben  ein  falsches  —  nun  dann 
ist  selten  auf  Fehlwegen  mit  solcher  Kühnheit  gewandelt 
worden  I 


Charles  Edmond  Tarbeil,  gleich  Vonnoh 
«drüben»  lebend,  nimmt  eine  ähnliche  Richtung  ein. 
Ihm  ist's  darum  zu  thun,  wechselnde  Beleuchtungen 
im  Antlitz  des  Menschen  zu  zeigen:  Und  da  wird  der 
Kopf  ihm  kurzweg  zum  Versuchsfeld  für  koloristische 
Kontraste  —  selbst  ein  hübscher  Mädchenkopf:  «Ein 
Opal»  und  «Ein  Amethyst»  nennt  er  seine  wuchtig 
durchgeführten  Studien  nach  dem  Ton  des  sie  um- 
spielenden Lichtes. 

Minder  auffallend,  malerisch  aber  von  hohem  Werth, 
sind  die  Bilder  des  unlängst  von  Paris  nach  New-York 
übergesiedelten  Childe  Hassam:  Die  Arbeit  «Das 
Blumenmädchen ,  eine  Erinnerung  an  Paris »  ist  so 
viel  mehr  französisch  als  die  ausgezeichnete  Darstellung 

der     « 5.    Avenue     im 


George  Innes.     Landschaft, 


Schnee » ,  dass  man 
sehr  wohl  erkennt,  der 
kräftigere  Ton  sei  das, 
was  die  neue  Welt 
dem  Künstler  hinzu- 
brachte. In  Emil 
Carlsens  Stillleben 
sieht  man  die  französ- 
ische Schulung  deut- 
licher. Es  könnte  das 
Bild  für  einen  VoUon 
gelten.  G.  D.  F.  Brush 
und  D e n n i s  M.  Bun- 
ker neigen  auch  in 
ihrer  Kunst  Pariser  An- 
regungen zu.  Eugene  Vail  datirt  seine  fein  em- 
pfundene Darstellung  des  Themselebens  im  Nebel  so- 
gar französisch,  mit  «Londres». 

Henry  Muhrmann,  zumeist  in  München  gebildet, 
jetzt  in  London  lebend,  verzichtet  mit  seinen  düsteren 
Klippen  bei  Hastings  in  noch  höherem  Grade  auf 
das  Zeichnerische  der  Naturdarstellung;  und  wenn  er 
gleich  sein  Bild  nach  einem  bestimmten  Landschafts- 
ort benennt,  ist's  ihm  doch  nicht  um  das  Landschafts- 
bildniss,  sondern  lediglich  um  koloristische  Werthe  zu 
thun.  In  den  beiden  anderen  Bildern,  welche  er  nach 
München  brachte,  erinnert  die  «dämmernde  Tiefe,  der 
.schwermüthige  Ernst  zumeist  an  L'Hermittes  pracht- 
volle Werke. 

Eine  grosse  Hinneigung  zu  Mesdag  zeigt  das  Bild 
von  H.  W.  Ranger  «Flusslandschaft»,  während  sich  in 


46 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


den  « Gebäuden  im  Madisonsquare-Garten »  Rauch  und 
Nebel,  elektrisches  und  Gaslicht  mit  einem  Schimmer 
von  Tag  zu  einer  fein  beobachteten  Gesammtstimmung 
meisterhaft  vereinen.  Aehnlich  neigt  Alexander  van 
Laer,  wohl  selbst  Niederländer,  obgleich  seine  Aus- 
bildung sich  ganz  in  New-York  vollzog,  zu  den  graueren 
Tönen  der  holländischen  Malerei  hinüber;  mischen  sich 
in  William  Henry  Howe,  in  Hugh  Bolton  Jones, 
von  dem  ich  Bilder  aus  der  Bretagne  gesehen  zu  haben 
mich  entsinne,  der  also  wohl  selbst  in  Paris  geschult 
wurde;  in  Horatio  Walker,  in  Francis  C.  Jones 
mit  seinem  prächtig  gemalten  an  Tadema  erinnernden 
Interieur,  die  amerikanische  Feinheit  der  Naturempfindung 
mit  den  aus  Europa  und  besonders  aus  Frankreich  über 
das  Meer  hinübergreifenden  Anregungen.  Dieselben 
zeigen  sich  bei  einem  Künstler,  dessen  Ausbildung,  so 
viel  ich  weiss,  sich  ganz  in  seinem  Wohnort  New-York 
vollzog,  bei  John  Francis  Murphy  aus  dessen 
reizendem  Landschaftsbilde,  einer  Hütte  am  schilfigen 
See  im  tiefsten  Walde,  man  ersöhen  kann,  dass  auch 
am  Hudson  Luft  und  Licht  ihre  wunderbaren  Schleier 
um  die  dämmernde  Erde  breiten,  genau  so  wie  im 
Walde  von  Barbizon  und  an  den  Ufern  der  Seine. 

In  diesen  Bildern  macht  sich  bereits  eine  gewisse 
Sonderung  von  der  Kunst  geltend,  welche  in  Paris  vor- 
herrscht. Sichtlich  beruht  diese  nicht  auf  zufälligen 
Eigenschaften  der  amerikanischen  Landschaft. 

Auf  der  Münchener  Ausstellung  machten  die  Werke 
von  George  Innes  in  New-York  eine  sehr  starke 
Wirkung.  Sein  «Sonnenaufgang»  wurde  mit  einer  Medaille 
ausgezeichnet.  Das  schon  1888  gemalte  Bild,  ein  paar 
dürre  Bäume  über  einer  Haide,  ein  zerrissener  tiefblauer 
Himmel,  aus  dem  tiefroth  die  Sonne  hervorbricht,  ein 
paar  rothe  Flecken  als  Staffage :  Dies  einfache  Werk 
machte  den  Eindruck  einer  farbengewaltigen  Ton- 
dichtung. Es  trat  den  europäischen  Künstlern  hier 
eine  stark  eigenartige  Persönlichkeit  entgegen ,  und 
dies  ist's  wohl,  was  sie  zumeist  an  dem  Werke  anzog. 
Daneben  hatte  der  Künstler  einen  «Wintermorgen» 
vorgeführt,  eine  Art  Vorfrühling  vor  dem  Ergrünen  der 
Natur,  in  dem  das  Braun  der  Bäume  und  Sträucher 
sich  mildert  und  durch  die  Reste  des  Schnees  unter 
dem  bereits  wärmenden  Himmel  eine  Ahnung  künftigen 
Sprossens  hervorlugt.  Und  dann  einen  «Stillen  Tag» 
ein  Paar  Bäume  am  See,  in  der  Dämmerung,  mächtig 
vorgetragen,    als    gälten    dem    Maler    die    Formen    der 


Natur  nur  als  das  Mittel  um  an  ihnen  das  Spiel  der 
fein  abgewogenen  Farben  zu  schildern.  Es  spricht  aus 
diesen  Bildern  eine  ganz  veränderte  Auffassung  dessen, 
was  malerisch  sei.  Die  Menschen  im  Bilde  sind  ihrem 
Schöpfer  nicht  «Staffage»  im  Sinn  der  alten  Land- 
schafterei, Personen,  welche  zur  Erklärung  des  Gegen- 
ständlichen dienen  sollen ,  sondern  Mittel  ein  paar  leb- 
hafter Töne  auf  der  von  prächtigen  Lichtblicken  durch- 
furchten Leinwand  anzubringen,  welche,  mit  einer  rück- 
sichtslos breiten  Weise  gemalt,  von  Wirkung  strotzt: 
.  Man  sehe ,  wie  die  düsteren  Bäume  auf  der  warm 
grauen  Wolke  stehen! 

Es  giebt  Künstler  —  und  es  hat  deren  besonders 
in  Deutschland  sehr  grosse  gegeben  —  welche  in  der 
Natur  unter  der  Farbe ,  unter  dem  Ton  zunächst  die 
Form  sehen.  Sie  führte  die  wachsende  Erkenntniss 
ihrer  Stellung  zur  Natur  immer  mehr  dahin ,  von  der 
Farbe  ganz  abzusehen  und  in  der  reinen,  völlig  des 
Tonspieles  entzogenen  Form  den  Höhepunkt  der  Kunst 
zu  erblicken.  Ein  ganzes  Volk,  die  Hellenen,  wahrlich 
nicht  das  Kleinste  in  künstlerischen  Dingen ,  baute  auf 
diesem  Empfinden  seine  stolze  Kunst  auf. 

Bei  einem  Maler  wie  Innes,  erscheint  das  volle 
Gegentheil.  Er  strebt  der  reinen  Farbe,  dem  reinen 
Tone  zu.  Ihm  wird  das  Landschaftsbild  zur  Ton- 
symphonie. Ob  die  einzelnen  Gegenstände  Form 
haben,  ob  sie  für  die  Beschauer  deutlich  erkennbar 
sind  —  das  kümmert  ihn  wenig.  Er  ist  zu  einer  philo- 
sophischen Abklärung  in  der  Kunst  gelangt,  die  jener 
an  Entschiedenheit  entspricht,  welche  die  rein  plastisch 
empfundene ,  weisse  Statue  für  die  vollendetste  Form 
der  Kunst  hält.  Und  er  ist  in  Amerika  sichtlich  nicht 
der  einzige  seiner  Anschauung. 

Der  Umschwung  im  Geschmack  der  Amerikaner 
kam  gegen  Ende  der  siebziger  Jahre  scharf  zum  Aus- 
druck. Er  stellt  sich  treff"lich  dar  in  dem  Urtheil, 
welches  zwei  Landschafter  über  Corot  fällten.  Jervis 
Mc.  Entee,  Mitglied  der  alten,  wesentlich  von 
Düsseldorf  beeinflussten  Schule,  fand  des  französischen 
Meisters  Bilder,  deren  es  drüben  sehr  viele  gibt,  nach- 
lässig und  unfertig,  nicht  Landschaften,  sondern  Ge- 
spenster von  Landschaften,  Werke  der  gehetzten 
französischen  Schaffensweise,  des  Dranges,  sich  durch 
Sonderbarkeit  auszuzeichnen.  Innes  aber  fasste  seine 
Stellung  zur  Kunst  merkwürdig  pantheistisch.  Er  will 
nicht    seine   Person    in    das    Mittel    der    Kunst    stellen, 


DIE  KUNS'l'  UNSERER  ZEIT. 


47 


«*-        \ 


iSH:f'-^ , 


George  Hitchcock.     Mutterglück. 


sondern  betrachtet  Gott  als  ihren  Ausgangspunkt;  die 
ganze  Kraft  des  ächten  Künstlers  sei  darauf  zu  richten, 
dass  er  im  Kunstwerk  verschwinde,  dass  er  die  Natur 
allein  und  in  dieser  Gott  darstelle.  Ihm  ist  die  Kunst 
Gebet ;  Wahrheit  und  Schönheit  sind  ihm  Gottes- 
Darstellung.  Beide  aber  gehen  aus  der  Hingabe  seiner 
selbst  hervor.  « Ich  gebe  keinen  Pfifferling » ,  sagt  er, 
«für  einen  künstlerischen  Gedanken,  der  nicht  darstellt, 
was  ich  fühle.  Ich  will  nur  den  Eindruck  auf  Andere 
übertragen,  den  ein  Gegenstand  auf  mich  machte.  Ein 
Kunstwerk  soll  nicht  belehren,  erbauen,  sittlich  heben 
—  es  soll  das  Gemüth  erregen.  Diese  Erregung  mag 
sein  welcher  Art  sie  will.  Die  wahre  Schönheit  be- 
ruht auf  der  Schönheit  und  Stärke  dieser  Gefühls- 
erregung. Wer  sie  erreicht,  der  hat  das  Höchste  ge- 
leistet. Zu  wenig  kann  ebenso  stören,  wie  zu  viel.  Ein 
Bild  mag  noch  so  gut  gemalt,  noch  so  realistisch  sein  — 
es  braucht  darum  noch  kein  gutes  Bild  zu  sein.  Hierin 
überragt  Corot  z.  B.    den   Meissonier.     Dieser   hat  eine 


wissenschaftliche,  jener  eine  dichterische  Wahrheit,  dieser 
ist  analytisch,  jener  aesthetisch». 

So  zeigt  Innes  die  amerikanische  Kunst  auf  dem 
Wege  der  Schule  von  Barbizon.  Erst  als  diese  Bewegung 
die  jüngeren  Amerikaner  erfasst  hatte,  konnte  sie  sich 
auf  weitere  Kreise  erstrecken.  Wyatt  Eaton  war  es, 
der  ihr  nach  aussen  sichtbaren  Ausdruck  gab.  Noch 
Schüler  Leutze's,  doch  zugleich  des  Amerikaners  Edwin 
White  und  später  des  Bildnismalers  J.  O.  Eaton, 
dann  aber  durch  Turner  angeregt  und  von  Millet 
als  Freund  behandelt,  kam  er  nach  Amerika  mit 
dem  Kraftgefühl  zurück,  endlich  den  rechten  Weg 
gefunden  zu  haben.  Ein  unbedeutender  Vorgang  gab 
die  Veranlassung,  dass  die  beiden  Schulen  kampflustig 
sich  entgegentraten.  Die  National  Academy  of  Arts 
sah  schon  lange  die  « nachlässigen  und  unfertigen » 
Bilder  der  aus  Barbizon  Heimkehrenden  ungern  in 
ihren  anderen  Idealen  geweihten  Hallen.  Sie  traf  eine 
Bestimmung ,    um    die  Beschickung    in   ihre  Ausstellung 


48 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


durch  solche  Werke  zu  beschränken,  indem  sie  be- 
schloss,  jedem  ihrer  MitgHeder  zunächst  acht  laufende 
Fuss  Wand  der  Ausstellungssäle  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Am  i.  Juni  1877  gründete,  durch  diesen 
Schritt  äusserlich  veranlasst,  Eaton  mit  dem  in 
Deutschland  gebildeten  Genremaler  Walter  Shirlaw, 
mit  der  Malerin  Helena  de  Kay  Gilder  und  dem 
Bildhauer  Augustus  St.  Gaudens  die  «Society  of 
American  Artists».  Sie  erklärte  sich  und  den  neuen 
Kunstverein  als  streng  modern.  Die  Form  dieser  Er- 
klärung ist  sehr  bezeichnend :  Sie  seien ,  sagten  die 
Mitglieder  der  schnell  sich  vergrössernden  Genossen- 
schaft, zwar  Verehrer  der  alten  Meister,  aber  sie  wollen 
Front  machen  gegen  Jene ,  deren  Bewunderung  ein- 
seitig gerichtet  sei  auf  Lambinet,  Bouguereau,  Cabanel, 
Delaroche    und  —  Meyer  von  Bremen. 

Eine  lehrreiche  Zusammenstellung!  Also  die  Jung- 
Amerikaner  bekämpften  den  französischen  Classicismus 
und  das  deutsche  Genre,  die  Korrektheit  und  die  Süss- 
lichkeit,  die  rein  formale  Schönheit  und  die  Gemüths- 
verzärtelung  1 

Ausser  auf  Innes  richtete  sich  in  der  Münchener 
Ausstellung  die  Aufmerksamkeit  Jener,  die  amerikanischer 
Kunst  näher  treten  wollten,  vorzugsweise  auf  das  Bild  von 
W  i  n  s  1  o  w  Homer,  auf  «  Märzwinde  >; :  Unter  grauem 
Himmel  eine  weisslich  blaue  Ferne  und  davor  eine  grau- 
braune Ackerhalde;  darauf  ein  paar  Sträuche  —  das 
Ganze  eigentlich  in  drei  Tönen  gehalten,  einfach  und 
doch  eindringlich  dargestellt.  Homer  vertritt  in  seiner 
ganzen  Art  so  recht  eigentlich  das  Amerikanerthum. 
Seine  Ausbildung  erlangte  der  den  Sechzigern  sich 
nähernde  Bostoner  durch  jenen  John  La  Farge, 
der  die  grossartige  figurale  Kunst  des  Washington 
Allston  fortsetzte  und  sie  mit  William  Morris 
Hunt  auf  den  Weg  der  Selbständigkeit  lenkte.  Es 
ist  kein  Zufall,  dass  La  Farge  als  einer  der  ersten 
auf  die  japanische  Kunst  als  auf  eine  auch  für  uns  vor- 
bildliche hinwies.  Als  ein  Maler  sentimentaler  Kriegs- 
bilder beginnend  und  als  solcher  sich  den  Beifall  seiner 
Landsleute  erringend,  trat  Homer  schon  1867  mit  Er- 
folg in  Paris  auf,  ehe  er  selbst  nach  Europa  ging, 
mehr  um  dort  die  Alten,  als  um  die  Modernen  zu 
Studiren;  denn  in  sich  war  er  damals  bereits  fertig. 
«Sein  Stil  i.st  frei,  kühn  und  gross»,  sagte  ein  englischer 
Kritiker  schon  in  den  siebziger  Jahren,  «realistisch  und 
geht  gerade  zu  aufs  Ziel.     Seine  Werke  behalten  etwas 


von  der  in  freier  Natur  gemachten  Skizze,  sind  sie 
doch  thatsächlich  im  Sonnenlicht,  im  Freien  gemalt,  in 
der  unmittelbaren  Anschauung  der  Natur».  «Es  steckt», 
erklärt  jener  weiter,  «so  viel  vornehme  Schlichtheit,  Ruhe 
und  Nüchternheit  in  ihnen,  dass  man  den  Reichthum 
an  Gefühl  und  die  Feinheit  der  Empfindung  dankbar 
auch  bei  der  Schwäche  der  Beziehung  der  F"arbe  zum 
Gedanken  hinnehmen  müsse »  :  Der  alte  Vorwurf  gegen 
die  Freilichtmalerei,  als  deren  erster  und  eigenartigster 
Vertreter  Homer  in  Amerika  gelten  muss. 

Was  ihn  seinen  Landsleuten  aber  besonders  em- 
pfiehlt, ist,  dass  er  Amerika  und  die  Amerikaner  malt. 
Seine  Negerstudien,  seine  Darstellung  von  Land  und 
Leuten ,  die  Verschmelzung  des  Bodens  mit  dem  auf 
ihm  heimischen  Menschenschlage  lässt  ihn  den  Patrioten 
der  Vereinigten  Staaten  in  besonderem  Sinne  als  den 
Ihrigen  erscheinen. 

Tritt  in  Homer  eine  durch  die  Besuche  in  Paris 
verstärkte  innere  Verwandtschaft  mit  den  modernen 
Franzosen  deutlich  zu  Tage,  so  noch  mehr  bei  Dwjght 
William  Tryon,  dessen  «Dezember»  die  Münchener 
Preisrichter  die  grosse  goldene  Medaille  zuerkannten. 
Der  im  Anfang  der  Vierziger  stehende  Künstler,  seit 
1885  Direktor  der  Hartfort-Kunstschule,  ist  selbst  that- 
sächlich in  Paris  bei  Daubigny  in  die  Lehre  gegangen, 
nachdem  Louis  Jacquesson  de  la  Chevreure  und  Guillemet 
ihn  zu  Anfang  der  siebziger  Jahre  vorgebildet  hatten. 
Sein  zartes  Bildchen  «Aufgehender  Mond»  hat  denn 
auch  alle  Merkmale  der  Schule  von  Barbizon,  den  feinen 
blaugrünen  Ton  der  Landschaft ,  den  zarten  Hauch  des 
hinscheidenden  Abendrothes ,  ja  selbst  den  Heuschober 
wie  ein  Millet ;  während  der  « Tagesanbruch » ,  ein 
Blick  über  den  See  auf  eine  noch  in  Nacht  liegende 
Stadt,  ganz  in  der  derben,  gesunden  und  doch  tief 
empfundenen  Malweise  seines  Lehrers  gehalten  ist. 
Die  selbstständige  Kraft  des  Amerikaners  kommt  im 
«Dezember»  klar  zum  Durchbruch:  Die  Luft  ist  grau, 
durchzogen  von  gelblichen  Lichtstreifen ;  der  dunkle 
Wald  am  Horizont,  die  grauen  Brachfelder,  das  schilfige 
Moor  im  Vordergrund  sind  die  Gegenstände,  über 
die  die  malerisch  feinen  Werthe  sich  ausbreiten;  das 
Ganze  erscheint  als  ein  Ausblick  in  eine  kühle,  ernste 
Natur,  aber  als  der  Ausblick  eines  auf's  Aeusserste  für 
Stimmungwerthe  geschärften  Auges. 

Mit  besonderer  Aufmerksamkeit  habe  ich  Julian 
Alden  Weir  «  Wachsende  Schatten  »  betrachtet.    Trägt 


G 
o 
o 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


49 


der  junge  Künstler  doch  einen  in  Amerika  weit  bekannten 
Namen:  Robert  Walter  Weir  gilt  drüben  als  einer 
der  ersten  Historienmaler  im  Sinne  der  Engländer.  Es 
hat  auf  die  beginnende  Laufbahn  des  1824  in  Florenz 
und  Rom  gebildeten  Künstlers  schon  einen  gewissen 
Glanz  geworfen,  dass  er  der  Nachfolger  Leslies  an  der 
Kunstschule  zu  Westpoint  wurde,  einen    Glanz,    den  er 


Ein  Künstler  wie  J.  Appleton  Brown,  dessen  Arbeiten 
in  den  siebziger  Jahren  im  Pariser  Salon  Aufsehen  machten, 
beweist,  dass  Amerika  mit  am  frühesten  verstand,  wo 
Daubigny,  Millet,  Duprc  hinaus  wollten.  Peter  Moran, 
der  ausgezeichnete  amerikanische  Thiermaler,  schwenkte 
früh  von  Landseer  zu  Rosa  Bonheur  und  Troyon  hinüber 
und  von  diesem  zu  der  immer  mehr  auf  Stimmung  hin- 


Ernest  Part(f.n.     Im  Mai. 


durch  eigene  Arbeiten  und  durch  seinen  Einfluss  auf  die 
amerikanische  Kunst  wesentlich  erhöhte.  Aber  wie  sein 
älterer  Sohn  John  Ferguson  Weir,  der  namentlich 
als  Genremaler  geschätzt  ist,  selbst  mit  derFeder  für  Millets 
Kunst  eintrat,  ging  Julian  Alden  nach  Paris  und  wendete 
sich,  wenn  er  gleich  Geromes  Schüler  wurde,  der  Stimm- 
ungsmalerei zu.  Sein  Bild  —  ein  eine  Anhöhe  zwischen 
Wiesen  hinaufführender  Weg  und  ein  paar  gegen  die 
Luft  stehende  Bäume  —  sonst  nichts  —  sind  an  Stimm- 
ungswerth  einem  Cazin  gleichzusetzen. 

Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  in  den  Vereinigten 
Staaten  längst  heimisch  gewordenen  Kunstweise  zu  thun. 


drängenden  Art  seiner  Brüder  Edward  und  Thomas; 
George  Bernard  Butler,  einst  Coutures  Schüler, 
folgte  dem  Vorgange  seiner  Landsleute  in's  Gebiet  der 
lyrischen  Dichtung  mit  der  Farbe.  Es  geht  also  durch 
die  ganze  moderne  amerikanische  Kunst  jener  Zug  in 
der  Natur  weniger  Form  als  Farbe,  weniger  Gegenstände 
als  Stimmung  zu  sehen.  Aber  den  vollen  Ton  für  diese 
Richtung  fand  erst  ein  in  England  lebender  Amerikaner: 
James  Abbott  Mc  Neil  Whistler. 

Es  wird,  ehe  wir  diesem  ausserordentlichen  Manne  uns 
widmen,  nöthig  sein,  die  Vorbedingungen  seines  Schaffens 
kennen  zu  lernen.    Whistler  ist  zwar  in  Amerika  geboren 


50 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


als  der  Sohn  eines  hervorragenden,  vielfach  mit  Hahn- 
bauten in  Russland  beschäftigten  Ingenieurs.  Früh  aber 
kam  er  nach  Europa ,  studirte  in  Paris  unter  Glayre, 
dem  glatten  Koloristen,  und  ging  dann  nach  London, 
der  Heimstätte  seiner  eigentlichen  Lebensarbeit. 

Als  er  dorthin  kam,  fand  er  nicht  eben  viel  Ameri- 
kaner unter  den  tüchigeren  Künstlern  vor.  Seit  Newtons 
und  Leslies  Tode  hatte  sich  die  Sachlage  in  England 
so  völlig  geändert,  dass  dies  nicht  eigentlich  zu  ver- 
wundern war.  Der  deutsche  Einfluss  war  hier  mächtig 
geworden,  der  strenge  historische  Sinn,  wie  er  aus 
Cornelius  und  Overbeck  spricht,  hatte  hier  Wurzel  ge- 
schlagen. Die  Monumentalkunst  wenigstens  war  deutsch 
beeinflusst:  Dyce,  Eastlake,  der  Präsident  der  Aka- 
demie, Armitage  kamen  nach  München  und  Berlin, 
um  bei  Kaulbach  die  Freskotechnik  zu  erlernen.  Der 
Prinzregent  Albert  lenkte  mit  Ziclbewusstsein  und  Sach- 
kenntniss  die  Aufmerksamkeit  auf  das  Kunstleben  seiner 
deutschen  Heimat,  auf  die  Gegenständlichkeit,  die  Ge- 
dankentiefe der  Cornelianischen  Schule.  Diese  Art  des 
künstlerischen  Geistes  war  völlig  dem  entgegengesetzt, 
was  die  Amerikaner  anstrebten.  Es  bildete  sich  zwar 
in  den  Vereinigten  Staaten  eine  kleine  Gruppe  der 
sogenannten  Praeraphaeliten ,  von  deren  Kunst  wir  in 
München  in  Albert  P.  Ryders  «Pegasus»  eine  Probe 
sahen.  Aber  es  bot  das  Bildchen  nicht  genug,  um  zu 
erkennen,  ob  die  Naivetät  echt  sei,  welche  bei  unbe- 
holfener Komposition  und  stumpfer  Farbe  doch  be- 
achtenswerth  aus  ihm  hervorsprach. 

Unter  den  in  England  lebenden  Amerikanern  nehmen 
meines  Wissens  neben  Whistler  nur  der  Historienmaler 
George  Henry  Boughton  und  die  Landschafter 
Ernest  Parton  und  C.  W.  Wyllie  eine  hervor- 
ragende Stellung  ein.  Boughton  ist  zwar  in  England 
geboren,  doch  erst  mit  19  Jahren  aus  Amerika  dahin 
zurückgekehrt,  war  seit  1860  Schüler  von  Fr^re  in 
Paris.  Wie  Bridgman  und  mancher  andere  amerikanische 
Künstler  jener  Zeit,  begann  er  mit  seiner  dortigen  Lauf- 
bahn mit  Bildern  aus  dem  Landleben  aus  der  Bretagne. 
Nach  England  zurückgekehrt,  malte  er  mit  Vorliebe 
Szenen  aus  Shakespeare  in  fein  empfundenen  Land- 
schaften mit  eifrigem  Bestreben,  die  Gestalten  in  weiten 
Raum  zu  stellen,  die  Luftwirkung  zu  vergegenwärtigen. 
Boughton  geniesst  als  Kolorist  in  London  die  höchsten 
Ehren,  sie  werden  ihm  auch  als  feinem  Beobachter  der 
menschlichen  Eigenthümlichkeiten  und  einem  dichterisch 


empfindenden  Manne  mit  Recht  zuerkannt.  Der  leicht 
bläuliche  Ton ,  der  durch  seine  zarten  Schöpfungen 
zieht ,  die  zeichnerische  Sicherheit  und  nicht  zum  ge- 
ringsten Grade  die  Wahl  seiner  Gegenstände  machen 
ihn  an  beiden  Ufern  der  grossen  See  beliebt.  Aber 
das  eigentlich  Amerikanische  tritt  an  ihm  kaum  er- 
kennbar hervor. 

Ernest  Partan  ,  über  welchen  das  «  Art  Journal » 
in  letzter  Nummer  ausführlich  berichtete,  hat  die  feine, 
liebenswürdige  Beobachtungsweise  des  über  Englands 
Grenzen  kaum  bekannten ,  aber  darum  nicht  zu  unter- 
schätzenden Birket  Foster  zu  seiner  Kunstreise 
angeregt.  Er  ist  in  Grossbritanien  zu  der  festen,  klaren 
Darstellungsweise  gekommen,  die  ihn  jetzt  neben  David 
Murray  und  Vicat  Cole  zu  einem  der  beliebtesten 
Londoner  Landschafter  machte.  Er  strebt  die  Feinheit 
des  Tones  auch  bei  durchgeführter  Darstellung  inne  zu 
halten  und  wenn  er  gleich  ein  paar  Weiden  am  Bach 
und  ein  Birkenholz  im  Abenddämmern  grossen  Fem- 
blicken, ruhige  Stimmung  bewegter  Natur  vorzieht,  so 
ist  er  doch  englisch  genug,  um  immer  sich  fest  an  das 
Gegenständliche  zu  halten. 

Mehr  ist  dies  noch  bei  Wyllie  der  Fall,  dem  gleich 
Boughton  schon  längst  in  London  zu  akademischen 
Ehren  gelangten  Seemaler.  Seine  in  hellem  klarem  Ton 
gehaltenen  Bilder,  so  jene  Darstellung  der  «  Flottenschau 
zu  Spithead  »  am  4.  August  1 889  durch  unseren  Kaiser, 
ziehen  immer  auf  die  Schilderung  thatsächlicher  Vorgänge, 
oft  sogar  auf  die  bildnisartige  Darstellung  eines  bestimmten 
Schiffes  hinaus.  Und  wenn  auch  gelegentlich  fantastische 
Gegenstände,  allerhand  Seemärchen,  fliegende  Holländer 
und  Ausblicke  aus  der  Taucherkammer  auf  den  See- 
grund seine  Werkstätte  verlassen,  so  wird  das  immer 
ganz  glaubwürdig  erzählt,  bleibt  Wyllie  doch  immer  der 
aufs  Sachliche  gestellte  Künstler. 

Anders  mit  Whistler,  der,  obgleich  auch  er 
schon  seit  Jahrzehnten  mitten  im  britischen  Kunst- 
leben steht,  doch  eine  ganz  scharf  umgrenzte  Einzel- 
gestalt darstellt. 

Es  war  sehr  lehrreich ,  dies  Jahr  in  München 
neben  Whistlers  reifen  Arbeiten  das  Bild  c  Träumend  > 
zu  sehen,  welches  unverkennbar  einer  früheren  Zeit 
angehört  und  es  zu  vergleichen  mit  seinen  besten 
Werken:  Dem  schon  1873  entstandenen  Bildniss  des 
Carlyle  und  dem  Hauptwerk  dieses  Jahres,  jenem 
seiner  Mutter.     Der    Ton    der   älteren    Arbeit  ist    sehr 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


51 


Francis  C.  Jones.     Ich  spiele  nicht  mehr. 


eigenartig,  namentlich  zeigt  das  Weiss  einen  Stich  in's 
Röthlichgelbe,  der  mich  darauf  schiiessen  lässt,  dass  von 
allen  Künstlern  der  grosse  englische  Farbendenker 
George  Frederick  Watts  auf  Whistler  den  grössten 
Einfluss  hatte.  Jedenfalls  spürt  man  an  dem  Werke 
nichts  von  französischen  Künsten ,  von  der  Art  des 
Glayre.  Watts  wird  zu  den  englischen  Praeraphaeliten 
gerechnet.  Aber  diese  sind  ihrem  Ursprünge  nach  vor- 
wiegend Realisten  der  Zeichnung,  Männer,  welche  das 
Erschaute  mit  möglichster  Genauigkeit,  genau  bis  zur 
letzten  Rippe  des  Blumenblattes ,  bis  zu  jedem  Faden 
des  Gewebes  darstellen  wollten.  Das  hat  Watts  nie 
beabsichtigt.  Ihm  ist  das  Bild  eine  symphonische 
Farbendichtung,  er  ist  einer  der  frühesten  unter  den 
modernen  Lyrikern  des  Kolorits.  Wenige  haben  ihn 
anfangs  verstanden,  aber  bei  den  Künstlern  wächst 
sein    Ansehen     Zusehens.       Als     sein     gewaltiges    Bild 


«Hoffnung»  vor  einigen  Jahren  in  München  ausgestellt 
wurde,  musste  das  Wort  seines  Eigners,  Sir  Leighton, 
es  sei  dessen  herrlichster  Besitz,  ihm  erst  die  Achtung 
schaffen ,  welche  es  verdient ,  aber  den  deutschen 
Kritikern  nicht  abzugewinnen  vermochte.  Heute  würde 
man  es  schon  um  seiner  selbst  willen  zu  schätzen  wissen. 
Whistler  stand  früh  den  Praeraphaeliten  nahe.  Er 
war  es,  der  in  dem  kostbaren  Wohnhause  des  Mr.  Ley- 
land  das  berühmte  « Pfauenaugenzimmer »  ausmalte ,  in 
welchem  die  herrlichsten  Werke  der  Schule  und  ihrer 
Vorgänger  aus  dem  1 5.  Jahrhundert  bis  vor  Kurzem 
vereinigt  waren.  Und  doch  ist  er  es  wieder ,  der  gegen 
den  ästhetischen  Vertreter  jener  Schule ,  gegen  John 
Ruskin,  den  entscheidenden,  dessen  Einfluss  nach  so 
glänzenden  Erfolgen  brechenden  Angriff  machte,  der  zu- 
erst ein  neues  System  in  die  englische  Kunst  brachte,  ein 
neues  Gefühl  für  das,  was  malerisch,  was  künstlerisch  sei. 


52 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Whistler,  der,  je  mehr  ich  die  Entwicklungsgeschichte 
der  modernen  Kunst  kennen  lerne,  desto  mehr  mir  als 
einer  der  wichtigsten  Merksteine  einer  neuen  Zeit  er- 
scheint, hat  sich  wiederholt  als  ein  entschiedener  Gegner 
dessen  ausgesprochen,  was  Ruskin  Realismus  nannte, 
gegen  das  rücksichtslose  Wiedergeben  der  Gottesnatur 
so  wie  sie  ist,  ohne  Auswahl,  ohne  Verschönerungs- 
versuche, in  der  Meinung,  die  Natur  biete  stets  und 
allein  das  Gute,  Schöne.  Auch  hierin  folgte  Whistler 
den  Anschauungen  Watts,  welcher  erklärt  hatte,  wahre 
Natur  sei  in  unserer  verfeinerten  und  verderbten  Welt 
nicht  zu  finden,  müsse  daher  vom  Künstler  erst  neu 
geschaffen  werden. 

«Die  Natur»,  sagte  Whistler,  «birgt  in  Farbe  und 
Form  den  Inhalt  aller  möglichen  Bilder  in  sich,  wie  der 
Schlüssel  der  Noten  alle  Musik.» 

«  Aber  des  Künstlers  Beruf  ist  es » ,  fährt  er  fort, 
«diesen  Inhalt  mit  Verstand  aufzulesen,  zu  wählen,  zu 
verbinden ,  damit  er  das  Schöne  schaffe  —  wie  der 
Musiker  die  Noten  vereint  und  Accorde  bildet,  aus  dem 
Missklang  ruhmreiche  Harmonien  hervorfördert. » 

Selbst  dass  die  Natur  immer  ein  richtiges  Bild  gebe, 
selbst  dies  nennt  er  eine  im  künstlerischen  Sinne  völlig 
irrige  Behauptung.  «Die  Natur  ist  so  selten  richtig, 
dass  man  meist  sagen  kann,  Natur  sei  gewöhnlich 
falsch:  das  heisst,  die  Beschaffenheit  der  Dinge,  welche 
den  vollendeten,  eines  Bildes  würdigen  Einklang  her- 
vorbringen soll,  begegnet  uns  sehr  selten;  sie  ist 
keineswegs  gemein.  Es  gelingt  der  Natur  selten ,  ein 
Bild  zu  schaffen. » 

Nach  alledem  scheint  es,  als  wenn  Whistler  zur 
alten  idealistischen  Schule  zurückzukehren  gedenke.  Seine 
Schilderung  eines  unmalerischen  Naturanblicks  erscheint 
wie  ein  Angriff  auf  die  englischen  Landschafter  des 
Praeraphaelismus,  wie  zum  Beispiel  der  treffliche  John 
Brett  einer  ist. 

«  Die  Sonne  brennt»,  sagt  er,  «  der  Wind  weht  vom 
Osten,  der  Himmel  ist  wolkenlos  und  alle  Dinge  .stehen 
fest  umrissen  da,  wie  aus  Eisen.  Die  Fenster  des  Cristall- 
palastes  erkennt  man  deutlich  von  allen  Theilen  Londons 
aus ,  die  Sonntags-Spaziergänger  freuen  sich  des  herr- 
lichen Tages  —  und  der  Maler  geht  abseits  und  schliesst 
die  Augen.» 

«Wie  selten  der  Künstlerblick  verstanden  und  wie 
gehorsam  das  Zufällige  in  der  Natur  als  das  Erhabene 
genommen  wird,   das  mag  man  an  der  unbeschränkten. 


täglich  erneuten  Bewunderung  für  den  unbedeutendsten 
(a  very  foolish)  Sonnenuntergang  erkennen.  Die  Grösse 
eines  schneebedeckten  Gebirges  verliert  sich  mit  der 
Klarheit:  Aber  es  ist  der  Spass  des  Bergfexes,  wo- 
möglich von  unten  den  Besteiger  auf  der  Spitze  zu 
erkennen :  Den  Wun.sch  zu  sehen,  blos  um  zu  sehen,  will 
die  Menge  befriedigt  haben ;  daher  ihre  Freude  am  Detail ! » 

«Doch  wenn  der  Abendduft  die  Ufer  dichterisch 
umschleiert  und  die  kleinen  Häuschen  sich  in  einem 
weichen  Nebel  verlieren,  die  niederen  Schornsteine  wie 
Glockenthürme,  die  Speicher  wie  Paläste  in  die  Nacht 
emporwachsen,  die  ganze  Stadt  mit  dem  Himmel  ver- 
knüpft und  Geisterland  vor  uns  eröffnet  wird  —  dann 
eilen  die  Spaziergänger  heim,  der  Arbeiter  wie  der 
Gebildete,  der  Reiche  und  der  Vergnügungssüchtige 
hören  auf  zu  verstehen,  weil  sie  aufhören  genau  zu 
sehen.  Die  Natur  aber,  welche  nun  in  Tönen  zu  uns 
redet,  bringt  ihr  schönstes  Lied  dem  Künstler  allein 
dar,  ihrem  Sohn  und  Meister  —  ihrem  Sohn,  weil  sie 
ihn  liebt,  und  ihrem  Meister,   weil  er  sie  kennt. » 

« Für  ihn  sind  ihre  Geheimnisse  entwirrt ,  füi'  ihn 
ist  ihre  Unterweisung  nach  und  nach  eine  klare  ge- 
worden. Er  sieht  auf  ihre  Blumen  nicht  durchs  Ver- 
grösserungsglas ,  um  botanische  Beobachtungen  zu 
machen,  sondern  mit  dem  Blicke  eines,  der  in  ihr  die 
feine  Auswahl  glänzender  Farben  und  leuchtender  Töne 
erkennt,  Anregungen  künftiger  Harmonien. » 

« Er  giebt  sich  nicht  zwecklosem ,  gedankenlosem 
Nachahmen  jedes  Grashalmes  hin,  sondern  er  lernt  aus 
der  gestreckten  Kurve  eines  kleinen  Blattes,  dem  straffen 
kleinen  Stiel,  wie  Anmuth  und  Würde  sich  eint,  Stärke 
die  Zartheit  vermehrt,  damit  endlich  ein  wahrhaft  ge- 
schmackvolles Kunstwerk  entstehe. »  *) 


*)  «That  elegance  shall  be  theresult»,  sagt  Whistler.  Was  ist 
Elegance?  Sicher  nicht  das,  was  das  Wort  ursprünglich  in  sentimen- 
talem Sinne  bedeutet,  die  Fähigkeit,  elegischen  Stimmungen  sich  zu  er- 
schliessen,  elegische  Dichterwerke  zu  schaffen  oder  zu  verstehen.  Sicher 
auch  nicht,  was  wir  unter  Eleganz  verstehen,  und  was  nicht  viel  mehr  ist, 
als  das  Geschick,  sich  gut  anzuziehen  und  die  gesellschaftliche  Form  gut 
zu  wahren.  Soll  Eleganz  das  Ergebniss  der  Kunst  sein,  oder  Nettigkeit, 
Zierlichkeit,  Feinheit,  Geschmack?  Diese  Worte  alle  übersetzen  nicht, 
was  Whistler  will.  Ich  wüsste  ein  Wort,  welches  es  tbäte :  Hübschheit. 
Freilich  ist  der  Begriff  hübsch  bei  uns  heruntergekommen  dahin,  dass 
er  soviel  gilt  wie  «fast  schön».  Das  Wort  stammt  von  c  höfisch  >  und 
bezeichnete  einst  Alles,  was  den  Stätten  höchster  Bildung  angemessen 
war.  Unsere  demokratisirende  Zeit  wird  allerdings  nicht  zugeben  wollen, 
dass  alle  Kunst,  um  echt  zu  sein,  höfisch,  aristokratisch  werden  müsse! 


DIR  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


53 


« In  dem  gelben  Flügel  eines  Schmetterlings  mit 
seinen  zarten  Orange-Flecken  sieht  er  vor  sich  stolze 
Hallen  in  reinem  Gold  mit  ihren  schlanken  safranfarbigen 
Pfeilern.  Er  ist  durch  sie  darüber  belehrt,  wie  die  zarte 
Zeichnung  hoch  oben  an  der  Mauer  in  den  feinen  gelb- 
lichen Tönen  und  am  Sockel  in  solchen  von  schwerer 
Färbung  gehalten  werden  muss. » 

«Hier  findet  er  die  Zartheit  und  findet  liebliche 
Winke    für   seine    eigenen    Gestaltungen;    und    auf  diese 


stehen  ihm  bei  und  staunen  und  erkennen,  wie  viel 
weiter  die  Schönheit  der  Venus  von  Milo  als  jene  ihrer 
eigenen  Eva  reicht!» 

Das  sagte  Whistler  vor  einer  ausgewählten  eng- 
lischen Gesellschaft  im  Jahre  1885.  Viel  früher  schon 
hatte  er  es  malerisch  empfunden  und  ausgedrückt.  In 
der  für  die  englische  Kunst  so  bemerkensvverthen  Gros- 
venor-Exhibition  von  1877,  jenem  ersten  Auftreten  einer 
neuen  Kunst  neben  dem  der  veraltenden  Akademie,  er- 


William  Merrit  Chase,     Eine  Parkszene. 


Art  wird  die  Natur  zu  seiner  Quelle  und  ist  sie  ihm 
stets  zu  Diensten.  Alles  Unwürdige  weist  er  von 
sich. » 

« In  seinem  Hirn  klärt  sich  der  verfeinerte  Duft  der 
Gedanken  ab,  welcher  von  den  Göttern  ausging  und  die 
sie  ihm  hinterliessen,  damit  er  sie  zu  Ende  führe  (which 
they  left  him  to  carry  out).  ^ 

«Lasst  ihn  ihr  Werk  vollenden!  Er  wird  jenes 
wunderbare  Ding  erzeugen,  welches  man  ein  Meister- 
werk nennt.  Dies  übertrifft  in  seiner  Vollendung  alles 
das,    was  jene  in  der  Natur  ersannen.     Und  die  Götter 


schien  der  Meister  schon  in  seinen  wunderbaren  Werken: 
« Nachtstück  in  Schwarz  und  Gold  »  ;  oder  *  Harmonie 
in  Blau  und  Silber»;  oder  «Arrangement  in  Braun»; 
;( Variation  in  Fleischton  und  Grün».  Und  das  sind 
dann  Bildni.sse  von  Menschen  oder  Landschaften  oder 
ein  Stück  Architektur  —  irgend  etwas  Körperliches  aus 
der  Natur  als  Unterlage  für  die  mit  erstaunlicher  Fein- 
heit empfundene  Stimmung.  In  der  Farbe,  oder  richtiger 
im  Ton  liegt  die  Kraft  des  Malers.  Es  ist  kein  Zufall, 
dass  er  ein  Meister  der  Aetzkunst  geworden  ist,  in  der 
er   mit    einigen    Linien   und    völliger  Beherrschung  des 


8 


54 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEH'. 


Tones  in  höchster  Abklärung  eine  Welt  von  Licht,  von 
Stimmung,  von  Poesie  auszudrücken  vermag. 

Und  da  muss  man  denn  sehen,  welcher  Ernst  und 
welche  Kraft  in  Whistlers  Malerei  durch  die  vorwiegend 
symphonische  Auffassung  der  Farbenwerthe  kam.  Das, 
was  in  den  Arbeiten  von  Miilet  und  Daubigny  noch 
gebunden  und  vorbereitend  auftritt,  nämlich  die  rein 
dichterische,  die  Natur  frei  ausgestaltende  Auffassung 
der  Beleuchtungswerthe,  das  wird  bei  ihm  beabsichtigtes, 
klar  gewolltes  Künstlerthum.  Namentlich  im  Bildniss 
wird  er  zu  einem  der  grössten  Künstler.  Als  ich  in 
Glasgow,  aus  den  Werkstätten  der  jungen  schottischen 
Maler  kommend  ,  in  einer  Ausstellung  vor  Whistlers 
wunderbar  tiefes  und  mächtiges  Bildnis  des  Carlyle 
trat  —  da  begriff  ich  die  Begeisterung  jener  für  den 
Amerikaner  und  erklärte  sich  mir  mit  einem  Hlicke, 
wie  tiefgehend  dessen  Einfluss  auf  das  moderne  Schaffen 
ist.  Er  hat  den  Realismus  gebrochen,  das  heisst,  er  hat 
die  Maler  davon  abgebracht  nur  die  Natur  zu  malen,  die 
Wahrheit  zum  Selbstzweck  zu  erheben.  Er  ist  dabei 
aber  das  vollendete  Erzeugniss  der  realistischen  Schule. 
Ohne  diese ,  ohne  die  kühnste ,  klarste ,  sicherste  Los- 
reissung  von  aller  alten  Kunst  wären  er  und  sein 
Schaffen  nie  und  nimmer  möglich  gewesen.  Aber  er 
hat  die  gefundenen  koloristischen  Werthe  frei  zu  ver- 
wenden gelernt.  Seine  Bilder  sind  losgelöst  von  aller 
zeichnerischen  Auffassung,  sind  rein  malerisch  geworden. 
Hierin  geht  er  weiter  als  Rembrandt,  an  dem  er  vor 
Allem  liebt,  dass  er  «das  Schöne  in  allen  Lagen  und 
Zeiten  suchte  und  fand,  dass  er  Grösse  und  vornehme 
Würde  im  Amsterdamer  Juden  viertel  sah  und  nicht  klagte, 
dass  dort  keine  Griechen  wohnen. »  Die  alten  Schulen 
sahen  den  Gegenstand  und  gaben  ihm  ein  koloristisches 
Kleid:  Whistler  sieht  die  Farbe  und  legt  ihr  einen 
Gegenstand  unter.  Die  Menschen ,  von  welchen  er  ein 
Bild  gibt,  erscheinen  ihm  als  Farbengruppen,  nicht  als 
Linienzusammenstellungen.  Er  malt  die  Tonwirkung,  die 
sie  in  ihm  erwecken  und  trifft  sie  dadurch  sicherer  als 
mancher  brave  Zeichner.  Denn  wir  erkennen  den 
Menschen  von  ferne  nicht  an  den  Einzelheiten  seines 
Gesichts,  sondern  an  den  Massenverhältnissen  in  seinem 
Kopf,  seinem  Körper.  Das  wusste  und  sprach  schon 
zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  der  deutsche  Bildhauer 
Schadow  aus.  Später  vergass  man  diese  Wahrheit  und 
.  hat  es  mit  dem  Niedergang  der  Bildnissplastik  büssen 
müssen,  die  im  Kleinen  genau,  im  Grossen  unwahr  wurde. 


Es  ist  etwas  Gewaltsames  in  Whistlers  Auftreten. 
Mit  Kopfschütteln  sieht  der  altgläubige  Kunstfreund  de.ssen 
«Schmierereien»;  da  er  den  Faden  der  Umrisslinie  nicht 
findet,  vermisst  er  die  Zeichnung;  er  sieht  nicht  die 
Bewegung  im  Bild,  und  wenn  ihm  schon  recht  ist,  dass 
bei  einem  bewegten  Rad  das  Blitzen  der  Speichen  ge- 
malt wird,  nicht  etwa  die  Erscheinungsform,  welche  die 
Momentphotographie  hervorbringt,  so  muss  der  Mensch 
nach  seiner  Meinung  im  Bilde  doch  still  stehen.  Hat  er's 
doch  in  zahllosen  langweiligen  Sitzungen  beim  Portrait- 
malen  an  sich  selbst  schaudernd  erfahren.  Aber  der 
koloristisch  Gestimmte  sieht  gerade  in  der  Bewegung 
den  entscheidenden  Fluss  der  Linien,  die  ächte  Leben- 
digkeit der  Erscheinung.  Er  will  den  Menschen,  nicht 
seine  Salzsäule.  Der  Mensch  zeigt  ja  sein  Leben 
durch  Bewegung!  Und  Bewegung  äussert  sich  im 
Verschwimmen  des  Umrisses.  Die  Speichen  eines 
Wagens  müssen  blitzen ,  soll  er  als  fahrend  erscheinen, 
der  Mensch  muss  sich  bewegend  im  Bilde  erscheinen, 
soll  er  leben!  das  ist  Whistlers  malerische  Logik.,  — 

Im  Ton  hat  Whistler  längst  die  hellen  Kampffarben 
aufgegeben.  Er  sucht  Tiefe  in  der  Farbe,  Farbe  in  der 
Tiefe.  Die  Feinheit  der  koloristischen  Abstufungen  seiner 
Bilder  ist  ausserordentlich.  Durch  das  ganze  neueste 
Kunstschaffen  geht,  nachdem  das  Erstaunen  über  die 
Lichtentdeckungen  der  Franzosen  überwunden  ist ,  ein 
Streben  koloristischer  Art.  Man  blickt  in  das  Halb- 
dunkel und  sucht  in  ihm  die  gesteigerte  Farbe.  Man 
kämpft  um  neue  für  die  Malerei  zu  erobernde  Reiche 
in  der  Natur.  Die  Schatten  sind  nicht  schwarz,  sie  sind 
nur  voller  im  Ton;  das  Licht  ist  wohl  in  der  Sonne 
weiss,  aber  es  gibt  im  Waldesdunkel,  im  Mondschein, 
im  dämmernden  Räume  auch  ein  Licht,  welches  leuch- 
tend farbig  ist.  Dies  Licht  entzückt  den  Amerikaner, 
dies  lässt  er  um  die  leicht  bewegten,  in  ihren  Umriss- 
linien daher  verfliessenden  Gestalten  spielen.  Das  ist 
neue  Kunst,  eine  Kunst  ohne  geschichtliche  Vorgänger. 
Mögen  sie  kommende  Zeiten  achten  oder  verwerfen,  diese 
Kunst  gehört  rein  der  unsrigen  an ;  das  was  wir  so  lange 
in  Europa  ersehnten,  ein  Schaffen  lediglich  mit  dem 
Blick  nach  vorwärts,  ohne  stilistische  Hintergedanken, 
ohne  Umsehen  nach  weit  entlegenen  Vorbildern  —  hier 
haben  wir  es  in  starken  männlichen  Zügen  vor  uns. 
Die  Zeit  der  Nachahmerei  ist  durch  den  Naturalismus 
überwunden,  dieser  beginnt  kräftig  zum  Stil  sich  zu  ent- 
wickeln: Es  gibt  einen  Stil  unserer  Zeit! 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


55 


Zur  Theilnahme  an  dem  Marsch  in  die  neue  Weit 
der  Kunst  haben  die  Amerikaner  sich  sofort  muthig 
entschlossen.  In  ihm  äussert  sich  geradezu  der  Kern 
ihrer  Kraft.  Es  ist  lehrreich,  ihre  Vorführungen  auf  den 
Weltausstellungen  zu  verfolgen.  Im  Jahre  1855  waren 
sie  noch  unfähig  zu  selbständigem  Auftreten,  1867  füllten 
sie  einen  massigen  Raum  nur  zum  Theil,  1878  begannen 
sie  Aufsehen  zu  erregen,  1889  war  ihr  Saal  einer  der 
beliebtesten  in  Paris.  Damals  wog  noch  der  Ton  der 
Holländer  in  diesem  vor,  wie  ihn  Hitchcock  vertrat. 
Dieser  hatte  kurz  vorher  mit  einem  Bilde  grossen  Erfolg 
gehabt,  das  ein  junges  Weib  inmitten  einer  Tulpen- 
anpflanzung darstellte,  in  dem  also  die  Ueberwältigung 
der  grösstmöglichen  Farbenbuntheit  durch  den  Sonnenton 
aufs  Programm  geschrieben  erschien.  Er  war  eben  mit 
Gari  Melchers  in  Holland  gewesen  und  hatte 
M  es  dag  beim  Malen  fleissig  über  die  Schulter  gesehen. 
Dort  hatten  sie  gelernt,  was  ihnen  vorher  weder  in  der 
Londoner  Southkensington  -  Schule ,  noch  im  Atelier 
Julians  in  Paris  gesagt  worden  war,  dass  Holland  das 
harmonischste  aller  Länder  der  Welt  sei,  nie  hart  in 
Sonne  oder  Schatten,  immer  ein  Bild  hinsichtlich  der 
köstlichen,  alle  Gegensätze  mildernden  Harmonie  des 
Tones.  Und  sie  malten  Holland :  Dünen  und  holländische 
Frauen,  das  Land  in  seiner  durchaus  nicht  «pittoresken» 
Natur,  sie  malten  es  anders  wie  Andreas  Achenbach, 
nicht  Seestürme,  alte  Hafenbauten  und  gewaltige  Wolken- 
ballen, sondern  mit  dem  Blick  auf  die  Düne,  auf  die 
geradlinige,  abwechslungsarme  Ferne :  denn  nicht  der 
Gegenstand  beschäftigte  ihre  Phantasie,  sondern  das 
Licht,  die  Sonnennebel,  der  silberne  Ton  durchfeuchteter 
Meeresluft. 

Und  dann,  als  Melchers  «Lootsen»  1890  in  Berlin 
auftauchten,  da  zeigte  sich  mir,  dass  auch  unter  den  in 
Holland  angeregten  Amerikanern  die  Erkenntniss  durch- 
gebrochen sei,  der  weisse  Sonnenton  sei  nicht  der  allein 
malenswerthe.  Da  war  eine  Feinheit  der  blaugrünen 
Reflexe  in  dem  von  ihm  geschilderten,  farbig  ausge- 
statteten Raum,  welche  zeigte,  dass  hier  ein  mit  feinsten 
Organen  ausgestatteter  Mann  auf  rechter  Fährte  sei. 

Nicht  minder  tritt  dies  bei  Sargent  hervor.  Der 
Rivale  des  Bastien-Lepage  in  der  rücksichtslosen  Wieder- 
gabe weissen  Lichts,  der  Künstler,  welcher  einst  als 
Hellmaler  den  Sturm  der  Entrüstungs-Eifrigen  auf  sich 
lenkte,  dessen  Bilder  voll  waren  von  kecker  Kampf- 
stimmung,   der  dann    in  der  Ueberwältigung   der  Farbe 


durch  den  Ton  schwelgte,  —  er  ist  so  still  und  ruhig 
geworden  wie  ein  «Alter».  Es  wird  vielleicht  deutsche 
Ae.sthetiker  lachen  machen  —  aber  es  ist  aus  dem 
Munde  dieser  Maler  selbst  wiederholt  bekundet:  Sie 
lieben  vor  Allem  Sandro  Botticelli !  Auch  sie  halten  sich, 
wie  Overbeck  und  Rossetti,  wie  Hippolyt  Flandrin  und 
Puvis  de  Chavanne  für  «  Praeraphaeliten  » ,  das  heisst  für 
Leute,  welche  mit  ihrer  Kunst  dort  beginnen,  wo  Rafael 
begann,  nicht  dort,  wo  dieser  endete.  Von  der  reinen 
Unbefangenheit  aus  ging  der  göttliche  Urbinate  seinen 
Weg  —  wir  folgen  seinem  Geiste,  indem  wir  unserer 
Zeit  und  Natur  gemäss  ebenso  selbständig  einen  anderen 
gehen  1  So  etwa  lautet  ihr  malerisches  Glaubensbekenntniss. 
Vor  einigen  Jahren  noch  galt  es,  seine  Berechtigung  zu 
vertheidigen,  jetzt  gilt  es  schon,  zu  zeigen,  welche 
Früchte  es  zu  bringen  vermag.  Und  seit  der  «  Goldton  » 
der  Altai  glücklich  überwunden  und  die  « Schönheit » 
der  Zeichnung  hinfällig  geworden  ist,  beginnt  die  un- 
mittelbare Wahrheit  in  Farbe  und  .'\usdruck  wieder  sich 
zu  einer  stilistischen  Verfeinerung  abzuklären,  die  in 
der  Schönheit  und  Tiefe  des  Tones  sich  gipfelt. 

In  Alexander  Harrisons  ausgezeichnetem  Bilde 
«Sumpf»  spielt  dieser  neue  Ton  in  hoher  Feinheit 
und  mächtiger  Kraft  um  Waid  und  Bach,  Schilf 
und  gurgelnde  Wasserwirbel.  W.  Thomas  Dewing, 
einst  ein  Schüler  Boulangers  und  Lefebvres,  lässt  in 
seinem  schönen  Bildniss  einer  jungen  Dame  die  gleiche 
malerische  Richtung  erkennen.  Mehr  noch  spielt  sie  um 
sein  wunderbar  feines  Bild  «Musik».  Ich  möchte  glauben, 
dass  Dewing  der  Schotten  Orchardson  und  Sir  Fettes 
Douglas  Werke  studirt  habe ,  ehe  er  dies  auf  kleiner 
Fläche  merkwürdig  raumgrosse  Gemälde  schuf  Denn 
diese  cigenthümliche  Kunst  sah  ich  kaum  bei  Anderen 
so  hoch  entwickelt.  Aber  zu  deren  koloristischer  Feinheit 
brachte  der  New- Yorker  Künstler  noch  eine  berückende 
Kraft,  einen  Vollklang  des  Tones,  der  spezifisch  ameri- 
kanisch zu  sein  scheint.  In  Berlin  sah  man  ein  Bildniss 
von  Marr  in  entzückender  Tontiefe  —  es  war  noch  fast 
das  einzige  Bild  dieser  Art  in  der  letzten  Ausstellung 
und  wurde  von  Wenigen  verstanden  und  gewürdigt. 
Mächtig  wirkte  auch  des  in  Cincinati  und  1879  in 
der  Schule  des  Duvaneck  in  Florenz  gebildeten  Julius 
Rolshovens  «Ave  Maria»  :  Ein  Mädchen  hingesunken 
in  dämmernder  Anbetung ,  oder  sein  « Dogenpalast  in 
Chioggia».  Was  doch  Verschiedene  im  gleichen  Land 
sehen.?     Ulrich  die  Sonne,    die  bunte  Vielfarbigkeit,  die 


56 


UIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


blitzernde  Fröhlichkeit  der  Lichtspiele;  Rolshoven  den 
Ton ,  mächtige  grüne ,  blaue  Reflexströme ,  dunkelen, 
feierhchen  Ernst!  Und  beide  sind  Realisten!  Und 
beide  sind  voll  Stil! 

Als  der  stärkste  Genosse  des  Whistler  stellt  sich 
aber  auf  der  Münchener  Ausstellung  William  Merrit 
Chase  dar.  Chase  war  1872  bis  1878  Schüler  Pilotys 
und  hat  eine  Anzahl  Bilder  gemalt ,  denen  man  diese 
Eigenschaft  sehr  deutlich  anmerkt.  Was  er  jetzt  schafft, 
seitdem  er  in  New- York  lebt ,  zeigt  ihn  völlig  aus  der 
alten  Lehre  herausgewachsen.  Da  ist  eine  Feinheit  der 
Empfindung  für  Tonwerthe,  eine  Klarheit  in  dem  fest 
erstrebten  Ziel,  eine  Intimität  für  das  Erfassen  der  Be- 
wegung, eine  durchaus  eigenartige  Kraft  der  Farben- 
gebung,  welche  deutlich  lehrt,  dass  es  da  drüben  in 
Amerika  doch  Leute  giebt ,  die  ihre  eigenen  Wege 
wandern,  unbekümmert  um  jene,  welche  in  Europa 
eingeschlagen  werden. 

Wie  bei  den  meisten  dieser  modernen  Künstler  ver- 
lieren sich  hier  ganz  die  alten  Gattungsbegriffe,  welche 
man  sich  einst  abtheilte.  Ist  Chase  Genremaler.'  Wohl 
schuf  er  einst  ein  Bild,  «  der  Hofnarr » ,  welches  ihn  als 
solchen  im  deutschen  Sinne  erkennen  lässt.  Aber  bald 
folgten  Landschaften    und  Bildnisse,    Darstellungen    aus 


allen  malerischen  Gebieten.  Was  der  Maler  sieht,  muss 
er  auch  malen  können,  heisst  eben  die  Losung !  Und 
Chase  sowohl  als  seine  Freunde  können  es :  Wer  in 
München  das  kleine  Bildniss  «Meditation»  sah,  wer  in 
die  bunte,  sichere  und  doch  so  wohl  abgewogene  Dar- 
stellung sich  gründlich  vertiefte,  wer  dann  die  Parkscene 
daneben  hielt,  der  sieht,  dass  hier  die  Kunst  zu  einer 
hohen  Abrundung  gelangte,  dass  sie  eine  vollendete  ist, 
wenn    anders  Vollendung    in    der   Kunst    das  Erreichen 

des  vorgesteckten  Zieles  heisst. 

* 
*  * 

Mit  Achtung  folgen  wir  den  Vorgängen  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika.  In  der  Kunst 
herrscht  zwar  ununterbrochener  Kampf.  Sie  ist  ein  Ringen 
ohne  Ende,  ohne  Hoffnung  auf  endgiltige  Siege.  Dafür 
gewährt  sie  aber  die  Freude ,  dass  man  sich  in  ihr  an 
fremden  Thaten  neidlos  zu   erheben  vermag. 

Es  wäre  Thorheit,  zu  sagen,  die  Amerikaner  seien 
im  Begriff,  Europa  zu  überflügeln.  Sie  sind  aber  im 
Begriff,  neben  Europa  selbständig  und  eigenartig  sich  zu 
entwickeln.  Das  ist  für  sie  und  für  uns  das  Wichtigere. 
Mögen  sie  das  Bild  der  Weltkunst  immer  reicher  ge- 
stalten helfen,  indem  sie  mehr  und  mehr  die  Kraft  zum 
Fortschreiten  in  sich  selbst  suchen! 


V 

© 


S 


Leopold  Carl  Müller. 

EIN  KÜNSTLERBILDNIS  NACH  ERINNERUNGEN  UND  BRIEFEN 


VON 


GEORG    EBExRS. 


Leopold  Carl  Müller. 

Die  Kunst  spricht  eine  eigene,  der  ganzen  Mensch- 
heit verständliche  Sprache.  Sie  wendet  sich 
nicht  an  ein  Volk,  sondern  an  die  ganze  der 
Kultur  erschlossene  Welt.  Die  Würdigung  des  einzelnen 
Künstlers  ist  aber  oft  genug  von  gewissen  äusseren 
Grenzen  umhegt,  wenn  unsere  Zeit  des  Verkehrs  diese 
auch  recht  weit  zu  ziehen  pflegt. 

Als  es  vor  wenigen  Monaten  hiess,  Leopold  Carl 
Müller  sei  todt,  empfand  in  Wien  und  in  Oesterreich, 
was  nur  ein  offenes  Auge  und  Herz  für  die  Kunst  be- 
sitzt, die  Schwere  dieses  Verlustes.  Auch  noch  in 
München,  wo  er  mancherlei  ausgestellt  und  ihm  eines 
seiner  Gemälde  die  goldene  Medaille  errungen  hatte, 
beklagten  ihn  viele ;  in  Norddeutschland  war  er  dagegen 


nur  den  Kunstgenossen  und  Freunden  bekannt  gewesen. 
Das  grössere  Publikum,  das  von  seinem  zu  frühen  Ende 
hörte ,  wusste  mit  seinem  Namen  nur  selten  eine  feste 
Vorstellung  zu  verbinden ;  denn  es  hatte  meistentheils 
nur  Zeichnungen  von  ihm  gesehen ,  die ,  mit  anderen 
vermischt,  in  dem  gleichen  Werke  erschienen  waren, 
und  es  gibt  ja  da  der  «Müller»   viele. 

Aber  auch  in  seiner  Heimath  Wien  waren  die  ausser- 
halb der  Kreise  der  Maler  stehenden  Kunstfreunde  nur 
selten  dazu  gekommen,  sich  an  einer  seiner  Schöpfungen 
zu  erfreuen.  Wohl  besitzt  die  k.  k.  Akademie  in  dem 
grossen  « Markt  in  Kairo »  eines  der  besonders  in  kolo- 
ristischer Hinsicht  voUendesten  Gemälde  Müllers,  und  sein 
letztes,  ein  arabischer  Gaukler,  ward  für  den  Baron 
Königswarter  (gleichfalls  in  Wien)  gemalt;  in  den  Aus- 
stellungen pflegte  man  jedoch  vergebens  nach  einem 
seiner  Werke  zu  suchen.  So  kam  es,  dass  er  auch  in 
der  Heimath  weniger  allgemein  bekannt  wurde  als  irgend 
ein  anderer  Meister,  dessen  Gemälde  auf  den  Welt- 
ausstellungen die  höchsten  Ehren  und  auf  dem  Markte 
die  ansehnlichsten  Preise  errangen.  Er  hat  das  auch 
selbst  gefühlt  und  bedauert;  da  aber  Oesterreich  und 
Deutschland  in  der  äusseren  Werthschätzung  seiner 
Gemälde  weit  hinter  England  zurückblieben,  musste  er 
ihm  die  meisten  überlassen.  Von  der  Zeit  seiner 
vollen  Reife  an  war  es  besonders  der  Kunsthändler 
Wallis,  der  schon  auf  die  halbvollendeten  Schöpfungen 
Müllers  die  Hand  legte  und  sie  dann  nach  London  führte, 
wo  sie  meistentheils  die  Häuser  reicher  Privatleute  dem 
Blicke  der  Kunstfreunde  entziehen. 

Die  Mehrzahl  der  Bilder  aus  den  Meisterjahren  des 
Verstorbenen  behandelt  morgenländische  Stoffe,  und  sie 
fanden  unter  den  Engländern,  die  in  näherer  Fühlung 
mit  dem  Orient  stehen  als  jede  andere  Nation,  eine  um 
so  höhere  Werthschätzung,  je  glücklicher  Müller  jede 
Regung   des   ihm   tief  vertrauten    orientalischen  Lebens 


9 


58 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wiederzugeben  verstand.  Die 
Kunstkenner  in  Grossbritannien 
sahen  in  ihm  vielleicht  den  vorzüg- 
lichsten Orientmaler  unserer  Zeit, 
und  wer  die  Blätter  studiert,  die 
hier  wiedergegeben  werden  sollen 
und  sich  dazu  in  das  Wiener  Ge- 
mälde des  uns  beschäftigenden 
Künstlers  « Markt  in  Kairo  »  ver- 
senkt, der  wird  ihnen  Recht  geben 
müssen. 

Doch  es  ging  mit  Müller 
nicht  nur  ein  grosser  Meister 
auf  einem  interessanten  Gebiete 
der  Malerei ,  sondern  auch  ein 
Mensch  dahin,  in  dem  sich  die 
besten  Eigenschaften  des  Mannes 
vereinten.  Sie  gewannen  ihm  Herz 
und  Geist  der  Freunde  und  wurden 
geadelt  von  der  seltenen  Gabe, 
die  die  Unsterblichen  nur  den 
Edelsten  unter  ihren  Lieblingen 
gewähren  :  jenes  menschliche  und 
doch  göttliche ,  schwer  zu  ver- 
kennende    und     noch      schwerer 

definirbare  Etwas,  das  den  genialen  von  dem  talentvollen 
Menschen  und  Künstler  unterscheidet. 

Die  Gemälde  des  Freundes  einer  kritischen  Würdig- 
ung zu  unterziehen,  steht  mir  nicht  zu.  Ne  sutor  supra 
crepidam !  Andere ,  Berufenere ,  reichten  ihm  längst 
den  Lorbeer,  und  eine  spätere  Zeit  wird,  denke  ich, 
dem  bescheidenen  Meister,  dessen  Gesamtthätigkeit  zu 
überblicken  so  schwer  ist,  eine  noch  höhere  Stelluncf 
unter   den  Malern   seiner  Epoche  anweisen. 

Den  Bildern,  für  deren  mustergiltige  Reproduktion 
der  Herausgeber  Sorge  trug,  überlasse  ich  es,  für  den 
Künstler  Leopold  Carl  Müller  das  Wort  zu  führen. 
Was  den  Menschen  angeht,  bleibt  es  mir  erspart,  mich 
durch  eine  eingehende  Würdigung  seiner  Eigenschaften 
dem  Verdachte  auszusetzen,  dass  es  nur  der  Freund 
sei,  der  hier  am  Grabe  des  Freundes  Weihrauch  ver- 
brennt; denn  auch  die  mitzutheilenden  Abschnitte  aus 
den  theils  an  die  Seinen,  theils  an  mich  gerichteten 
Briefen  werden  dem  Leser  gestatten,  sich  eine  Vorstellung 
von  dem  inneren  Sein  und  Wesen  ihres  Schreibers  zu 
bilden. 


Ausgestopftes  Krokodil 
Hauses  in 


Die  einzige  Stelle,  an  der 
sich  unseres  Wissens  viele  (einige 
vierzig)  ausgeführte  Kompositionen 
Müllers  zusammenfinden  —  sie 
beziehen  sich  grösstentheils  auf 
das  Voll<sleben  am  Nil  —  ist  das 
bei  Eduard  Hallbcrger  erschienene 
Prachtwerk  « Aegypten  in  Bild 
und  Wort »  ,  wozu  ich  den  Text 
schrieb. 

Ihm  danke  ich  die  Bekannt- 
schaft mit  dem  Wiener  Künstler, 
und  auf  dies  Werk  bezieht  sich 
ein  grosser  Theil  des  Inhaltes  der 
an  mich  gerichteten  Briefe.  Es  ist 
darum  nöthig,  ihm  und  seiner  Ent- 
stehung einige  Worte  zu  widmen. 
Die  hervorragendsten  Maler 
in  Deutschland  und  Oesterreich 
—  ich  nenne  nur  Gustav  Richter, 
Gentz,  von  Lenbach,  Makart  — 
sowie  meine  englischen  Freunde 
L.  Alma  Tadema  und  Frank 
Dillon  hatten  mir  Beiträge  ver- 
sprochen oder  gegeben. 
Unter  Tausenden  von  Skizzen  und  Bildern  in  jeder 
Ausführungsart  hatte  ich  zu  wählen,  und  doch  fehlte 
eine  lange  Reihe  von  Darstellungen  der  wichtigsten 
Szenen  aus  dem  morgenländischen  Leben ,  ohne  die 
das  Werk ,  das  nur  Originale  der  berufensten  Maler 
bringen  sollte,  unvoll- 
ständig geblieben  wäre. 
Da  galt  es  Aus- 
hilfe schafien  und  einen 
Künstler  an  den  Nil 
schicken,  von  dem  wir 
erwarten  durften,  dass 
er  das  Bestellte  in 
unserem  Sinne ,  das 
heisst  in  künstlerischer 
Vollendung  herstellen 
werde. 

Ich     wusste      auch 
schon    wen;    denn    im 

«TT.    .  o  ^  Phantasiecemälde  eines  arabischen 

Wmteri875 — 76 waren       ,.      ,       7      j     -.-,  ,-  „■ 

'  ^       '  Künstlers  über  der  Thür  eines  Kaflee- 

Makart  ,      \.      Lenbach,  hauses  in  Kairo. 


über  der  Thüre  eines 
Kairo. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


59 


Gnauth,  Huber 
und  Leop.  Carl 
Müller  zusam- 
men in  Kairo 
gewesen ,  und 
was  mir  von 
Arbeiten  des 
Letztgenann- 
ten aus  jener 
Zeit  zu  Ge- 
sicht 

men  war, 
zeichnete    sich 

durch  die 
höchste  Treue 


gekom- 


Vater  und  Sohn. 


fand  sich  damals  in  Venedig,  und  obgleich  er  sich  gegen- 
über einem  der  besten  Kunsthändler  verpflichtet  hatte 
das  Bild,  woran  er  malte,  bis  im  Oktober  fertig  zu 
stellen,  enthielt  seine  Antwort  auf  meine  Anfrage  doch 
die  Erklärung,  dass  er  bereit  sei  in  unserm  Auftrag 
nach  Aegypten  zu  gehen. 

Er  war  mir  noch  nicht  persönlich  begegnet,  doch 
sein  Brief  steigerte  mein  Verlangen  nach  seiner  Bekannt- 
schaft. Ich  gebrauchte  eben  die  Quellen  des  Württem- 
berger Wildbad ,  und  da  es  mir  darum  unmöglich  war 
Müller  in  Venedig  aufzusuchen,  schlug  ich  ihm  vor,  ent- 
weder in  dem  grünen  Schwarzwaldthale  oder  in  Nürn- 
berg ,  das  ich  auf  der  Heimreise  nach  Leipzig  ohnehin 
berühren  musste,  mit  mir  zusammenzutreffen. 

Nachdem  er  mir  auseinandergesetzt,  wie  es  sich  mit 
in    der  überall      dem  begonnenen  Bilde  und  dem  Kunsthändler  verhalte, 
eigenartigen        schliesst  er  den  ersten  Brief: 

Auffassung   und    die   ernsteste  Sorgfalt   in    der   Wieder-  « Während    ich    hier    schreibe ,     bin    ich     an    der 

gäbe  aus.      Seine  Bilder  aus   dem  Kairener  Volksleben     schwierigen  Arbeit  des  Sichentschliessens. 

waren  ausser  mehreren  Gentz'schen  die  ersten,   die  mir  «Soll  ich  das  Bild  erst  fertig  machen,  wenn  ich  aus 

völlig  genügten  und  die  besonders  auch  die  Hand  eines     Egypten  wieder  zurück  bin? 

vollendeten  Zeichners  verriethen.     Ich  hatte  nur 

wenige  gesehen,    doch  jedes  bewies,    dass   ihr 

Schöpfer  den  Orient  durch   und  durch  verstehe 

und  dass  sein  Können  genüge ,    aus  jedem  ihm 

zusagenden  Motiv   ein  Kunstwerk    zu  gestalten. 
Ich  verdankte  die  Kenntnis  dieser  Arbeiten 

dem  Architekten  Gnauth,  der  eben  zum  Direktor 

der     Nürnberger    Kunstgewerbeschule     berufen 

worden  war.     Diesen  ideenreichen,  feinsinnigen 

Künstler    hatte    Eduard    Hallberger    gewonnen, 

um  die  Wiedergabe  des  Bildermaterials  in  Holz- 

.schnitt  'ZU    leiten.     Keiner    durfte    als  vollendet 

in    die    Druckerei    gehen ,    dem    er    nicht    das 

« Placet »     gegeben ,     und    der    Verleger    hatte 

später  oft  genug  den  Kopf  zu  schütteln,   wenn 

für     das     Laienauge      recht      wohl     gelungene 

« Stöcke  J  durchstrichen  oder  mit  der  Be- 
merkung « Holzhackerei »  nach  Stuttgart  zu- 
rückgesandt wurden.     Trotzdem  machte  dieser 

wahrhaft  grosse  Geschäftsmann  nicht  einmal  den 

Versuch,   einen  der  Verurtheilten  zu   retten. 

Gnauth    bezeichnete    die    Idee,    Müller    zu 

gewinnen ,     als     « die    glücklichste    unter    allen 

denkbaren»,    und    Ed.    Hallberger    ertheilte    mir 

die   Vollmacht     mit   ihm    zu    verhandeln.      Er   be-  Schwarzer  Hausknecht,  der  die  europäische  Herrin  auf  den  Markt  begleitet. 


60 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


«Soll  ich  einpacken,  nach  Wildbad  oder  Nürnberg 
kommen,  um  dann  gleich  weiter  nach  Kairo  zu  reisen? 
Uf!  Wer  mir  das  sagen  könnte! 

« Das  Knöpfezählen  ist  auch  nicht  die  beste  Me- 
thode, um  zu  einem  vernünftigen  Entschlüsse  zu  kommen 
in  ernsten  Fragen. 

«Mein  Verstand  sagt  mir:  Bleibe  so  lange  in 
Venedig,  bis  du  das  Bild  fertig  gebracht  hast,  und  sollte 
das  auch  bis  Mitte  Oktober  dauern.  Du  bist  ietzt  im 
Zuge  mit  dieser  Arbeit,  und  da  es  ein  venetianisches 
Bild  i.st,  so  ist  es  Dir  doch  leichter  dasselbe  in  Venedig 
zu  vollenden  —  statt  in  Wien ,  wohin  du  ankommst, 
die  Einbildung  voll,  übervoll  von  den  ägyptischen  Ein- 
drücken ! 

«Doch,  haben  Sie  schon  einen  wirklich  Verliebten 
kennen  gelernt,  der  seinem  Verstand  folgen  würde  ? 

«Mein  Herz,  das  zieht  mich  nach  Kairo! 

« Ich  komme  entweder  nach  Wildbad  oder  nach 
Nürnberg.     Was  ist  Ihnen  lieber  ? » 

Ich  wählte  Nürnberg;  denn  der  Schluss  des  Briefes 
enthielt  den  Satz,  dass  Müller  auch  den  «lieben  sym- 
pathischen Gnauth »  gern  wiedersehen  möchte. 

Leider  wurde  dieser  durch  etwas  Unaufschiebbares 
abgehalten,  zu  uns  zu  stossen :  seine  Vermählung.  Aber 
Müller  kam ,  und  wir  verlebten  mit  einander  unvergess- 
liche  Tage  in  der  ehrwürdigen,  mir  schon  früh  so  lieben 
Dürerstadt. 

Es  war  im  Anfang  des  September  1877.  Müller 
stand  damals  in  der  Blüthe  der  Manneskraft;  denn  er 
zählte  dreiundvierzig  Jahre ;  bei  der  ihm  eigenen  Leb- 
haftigkeit und  jugendlichen  Frische  war  man  indes 
versucht,  ihn  für  einen  mittleren  Dreissiger  zu  halten. 
Den  hoch  gewachsenen,  damals  noch  etwas  knochigen 
und  beweglichen  Körper  krönte  ein  Kopf,  den  man 
unter  vielen  bemerkt  haben  würde;  nichts  in  seinem 
Aeusseren  hätte  aber  genöthigt,  den  Künstler  in  ihm 
zu  erkennen;  denn  er  trug  das  Haar  kurz  geschnitten, 
und  das  rasirte  wohlgebildete  Antlitz  zierte  nur  ein 
schlichter  blonder  Schnurrbart.  Und  doch  1  Welchem 
anderen  Stande  hätte  dieser  Mann  mit  den  jeden  Augen- 
blick neu  belebten  Zügen,  auf  denen  fröhlicher  Humor 
mit  sinnigem  Ernste  so  schnell  wechselten ,  angehören 
sollen .'  Die  Stirn,  die  sich  wulstig  über  der  Nasenwurzel 
erhob,  um  dann  als  glatte,  faltenlose  Fläche  aufzusteigen, 
hätte  veranlassen  können,  ihn  für  einen  denkenden  Ge- 
lehrten zu  halten,    dafür  aber  trieb  an  Mund  und  Nase 


der  Schelm  zu  fröhlich ,  ja  bisweilen  ausgelassen  sein 
Spiel. 

Und  dem  Aussehen  entsprach  das  gesamte  Wesen  des 
neuen  Freundes.  Meine  P'rau  begleitete  mich,  und  während 
wir  uns  bei  Tisch,  im  Wagen  oder  wenn  die  Verabredung 
über  das  von  ihm  zu  Schaffende  zum  Stillstand  gekommen 
war ,  daheim  unterhielten ,  riss  uns  seine  Heiterkeit  so 
unwiderstehlich  mit  fort ,  dass  uns  oft  genug  die 
Thränen  über  die  Wangen  liefen.  Beim  Gespräch  über 
ernste  Gegen-stände  und  die  Aufgabe,  der  er  sich  zu 
unterziehen  gedachte ,  zogen  sich  dagegen  die  Muskeln 
auf  dem  Stirnhügel  über  der  Nase  zusammen,  und  bald 
gelassen,  bald  schwungvoll  bewies  er  dann,  mit  wie  reifer 
Ueberlegung  er  durchdacht  hatte,  was  ihm  zu  leisten 
oblag,  wie  ernst  er  es  mit  der  Kunst  nahm,  wie  strenge  An- 
forderungen er  an  sich  selbst  stellte  und  über  welche 
Fülle  von  Kenntnissen  er  gebot.  —  Schon  am  zweiten 
Tage  Hess  er  uns  auch  in  sein  Inneres  schauen,  und 
ein  wie  tiefes  Gemüthsleben  offenbarte  sich  uns,  wenn 
er  von  den  trefflichen  verstorbenen  Eltern  und  lieben 
Schwestern  erzählte. 

Diese  gestatten  mir  nach  seinem  Tode  Theil  zu  haben 
an  ihrem  Schmerz  und  ergänzten  in  zuvorkommender 
Weise,  was  ich  von  dem  Freunde  zu  wissen  begehrte, 
theils  durch  werthvolle  Notizen ,  theils  durch  bezeich- 
nende Schreiben.  Zu  diesen  Quellen  gesellt  sich  die 
grosse  Zahl  der  schon  erwähnten  an  mich  gerichteten 
Briefe. 

Halte  ich  das  Alles  mit  den  persönlichen  Erinner- 
ungen an  Müller  und  seine  Werke  zusammen ,  so  er- 
gibt sich  daraus  ein  Künstler-  und  Menschenbild ,  wie 
es  freundlicher  und  ernster,  arbeitsvoller  und  fröhlicher, 
bewegter  und  gesammelter ,  unermüdlicher  in  dem 
Streben  nach  immer  höherer  Entfaltung  der  ihm  ver- 
liehenen Kräfte,  liebreicher  und  williger  zu  fördern  und 
zu  beglücken  kaum  gedacht  werden  kann. 

Leopold  Carl  Müller  war  ein  Oesterreicher,  und  doch 
darf  auch  Sachsen  ihn  den  seinen  nennen ;  denn  er 
wurde  zu  Dresden  geboren.  Freilich  gab  die  Mutter 
ihm  nur  auf  einer  Reise,  die  sie  1834  unternahm,  in 
dieser  Stadt  das  Leben.  Der  Vater  war  in  Wien  heimisch, 
und  dort  verbrachte  der  Knabe  denn  auch  die  gesammte 
Kindheit  und  Lehrzeit.  Schon  auf  der  Realschule,  die 
er  dort  absolvirte,  machte  sich  sein  Talent  in  über- 
raschender Weise  geltend.  Jede  Mussestunde  widmete 
er    dem   Zeichnen ,    und   früh    schon   brachte   er   es    zu 


j(cAL>ruu£2, 


Leop.  C«rl  Illlar 


rhot.  K.  Uanfflttengt,  HQadMB. 


Palmenzweigverkäuferin  auf  einem  arabischen  Friedhofe 

zu  Kairo. 
Alles  ist  eitel!  — 


■  ^  jr 


I.euclitlnirm  auf  Ras  et-Tin  am  Eingange  des  Hafens  von    Alexandria. 
Vom  Schiffe  aus  gezeichnet. 


Aus  dem  Trtimmergebiete  des  alten  Alexandrien. 


62 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


solcher  Fertigkeit,  dass  ihm  der  Vater  gestatten  konnte, 
ihm  bei  der  Arbeit  in  seinem  lithographischen  Atelier 
behilflich  zu  sein.  Als  er  später  auf  dem  Technikum 
studirte,  und  dem  Vater  die  lithographische  Ausführung 
des  artistischen  Theiles  von  Tschudis  Werk  über  Peru 
übertragen  worden  war,  machte  es  dem  Sohne  Freude, 
daran  mitzuhelfen.  Dabei  trat  hohe  seine  Begabung  in 
so  augenfälliger  Weise  zu  Tage,  dass  ihm  gestattet 
wurde,  das  Technikum  zu  verlassen  und  dem  heissen 
Seelendrange  zu  folgen,  sich  mit  voller  Kraft  der  Kunst 
zu  widmen. 

Blaas  war  damals  nach  Wien  gekommen,  zog  in 
dasselbe  Haus,  das  die  MüUer's  bewohnten,  und  vom 
achtzehnten  Jahre  an  ward  Leopold  Carl  sein  Schüler. 
Mit  dem  zwanzigsten  trat  er  dann  in  die  Meisterklasse, 
die  der  ältere  Rüben  leitete. 

In  einem  seiner  Briefe  schreibt  er,  dass  er  bei  seinem 
Eintritt  in  ^  die  Akademie  schon  recht  gut  gezeichnet 
habe.  Er  bekennt,  dass  er  den  Lehrern  vieles  verdanke, 
dass  aber  «das  eigene  Ausschauen,  das  Leben,  das  Sichs- 
sauerwerdenlassen  auf  eigenen  Füssen  und  die  Erkennt- 
niss  dessen,  was  Kunst  sei»,  ihm  doch  das  Beste  gegeben. 

Vor  mir  liegt  ein  Blatt  mit  tabellarisch  geordneten 
Notizen,  die  er,  schon  im  Angesicht  des  Todes,  nieder- 
schrieb ,  und  dessen  Benutzung  mir  seine  Schwestern 
gestatteten.  Es  kann  von  grosser  Wichtigkeit  für  den 
Kunsthistoriker  werden  ;  denn  er  führte  darauf  gleichsam 
das  Facit  seines  Lebens  zusammen.  Es  lehrt,  was  er 
in  jedem  Jahre  schuf,  wo  er  sich  aufhielt,  was  das  Leben 
ihm  an  bedeutsamen  Ereignissen  brachte.  Leider  ist  es 
mir  hier  versagt,  ihm  Schritt  für  Schritt  zu  folgen,  es 
geht  aber  aus  jenen  Aufzeichnungen  hervor,  wie  mächtig 
ihn,  den  auf  Reisen  geborenen,  das  Wanderblut  anfänglich 
von    einer  Stadt    der  österreichischen  Monarchie    in    die 


Strassenhunde. 


Tugendprobe  in  der  Moschee  des  Anir. 

Nur  wer  sich  zwischen  den  Säulen  hindurchdrängen  kann,   darf  auf  das  Paradies  hoAen. 

andere  zog ,  wie  er  bald  in  Ungarn ,  bald  in  Böhmen, 
bald  in  Steiermark  und  am  liebsten  und  häufigsten  in 
Venedig  die  Staffelei  aufstellte.  Sie  gestatten  uns  seinen 
Reisen  durch  Oesterreich  und  Italien  und  seinen  Fahrten 
über  das  Meer  nach  Aegypten  zu  folgen,  und  staunend 
ersehen  wir  daraus,  wie  zahlreiche  und  grundverschiedene 
Stoffe  seine  Kunst  sich  zur  Ausführung  wählte. 

Als  zweiundzwanzigjähriger,  lehrt  das  Gedenkblatt, 
ergab  er  sich  den  ersten  landschaftlichen  Studien,  und 
im  nämlichen  Jahre  zog  er  über  München  und  Dresden 
nach  Venedig,  um  dort  einen  Stoff  zu  behandeln ,  der 
vom  Landschaftlichen  wahrlich  weit  genug  abliegt ;  denn 
er  vollendete  das  Gemälde  « Friedrich  der  Schöne  im 
Kerker».  1857  copirt  er  in  Venedig  alte  Meister.  1860 
verliert  er  die  geliebte  Mutter,  und  in  den  folgenden 
beiden  Jahren  finden  wir  ihn  in  Ungarn  und  sehen 
ihn  Genrebilder  malen,  wie:  «Bettelnde  Zigeuner», 
«Fischende  Knaben»,   «Mädchen  mit  Enten». 

1862  ward  ihm  auch  der  treffliche  Vater  entrissen, 
ein  hochgebildeter  kunstverständiger  Mann.    Die  an  ihn 


DIE  KUNST   UNSERER  ZEIT. 


63 


gerichteten  Briefe    athmen    die   wärmste  Liebe   und   bc-  Studium,  dass  in  diesem  einzigen  Jalire  keine  selbständige 

weisen,  wie  schön  der  Sohn  auf  sein  Verständnis  rechnen  Arbeit  von  ihm  entstand. 

durfte.    Der  junge  Künstler  berichtet  ihm  alles,  von  den  Nach  der  Heimkehr  fühlte    er,    dass  die  Vcrpflich- 

erstaunlich  billigen  Preisen,    die    er   in   den  kleinen    un-  tungen.    die    ihn  an    den  Figaro  banden,    ihn   doch  zu 

garischen  Städten  für  Essen  und  Wohnung  zahlt,  bis  zu  viele  Stunden  kosteten,  die  der  Malerei  hätten  gewidmet 

den   politischen  Wahrnehmungen ,     die    er  mit   Humor,  werden    sollen ,    und   so  entsagte    er   denn   dem  reichen 

aber  auch  mit  scharf  satirischer  Missbilligung  wiedergibt,  und    sicheren    Gewinn    und    begann     das   alte    Wander- 


Schon  vor  dem 
Ende  des  durch 
die  letzte  schwere 
Krankheit  an  jeder 
eigenen  Thätigkeit 
verhinderten  Vaters 
lässt  er  sich  fest  in 
der  Burggasse  zu 
Wien  nieder  und 
nimmt  die  Sorge 
für  die  Familie  auf 
sich.  Er  widmet 
sich  dort  einer  Auf- 
gabe, die  ihm  nicht 
nur  viel  einbringt, 
sondern ,  wie  er 
mir  selbst  mit- 
theilte, seiner  zeich- 
nerischen Fertigkeit 
ausserordentlich  zu 
gute  kommt.  Das 
Witzblatt  Figaro 
hatte  ihn  zum  Illus- 
trator gewonnen, 
und   es    ist   mir  von 


Fellachenfrau  mit  ihrem  Kinde  auf  dem  Trilmmergebiete  von  Alexandria. 


leben  von  Neuem. 
Besonders  gern  er- 
zählte er  von  den 
Wintern,  die  er 
von  1870  an  mit 
dem  trefflichen  Pet- 
tenkofen  im  Palazzo 
Rezonico  zu  Vene- 
dig verlebte.  Ein 
schönes  von  Liebe 
und  neidloser  An- 
erkennung gewo- 
benes Band  ver- 
einte die  Freunde. 
Sie  lernten  von  ein- 
ander, und  Müller 
vollendete  damals 
eine  Reihe  der 
verschiedenartigsten 
Gemälde.  Von  Ve- 
nedig aus  bereiste 
er  auch  das  übrige 
Italien.  Im  Winter 
1872  kam  er  bis 
nach    Sicilicn.     Auf 


Wienern  versichert  worden,  dass  man ,   so  lange  Müller  all  diesen  Wanderungen  blieb  er  im  engsten  Zusammen- 

an  diesem  Blatte  thätig  war,  von  Nummer  zu  Nummer  hang   mit  den  Schwestern  daheim,    und   es  ist  rührend 

seine   mit  dem  frischesten  Humor  erdachten   und  künst-  zu  sehen,  wie  eingehend  er  sie  in  den  an  sie  gerichteten 

lerisch  ausgeführten  Bilder  begierig  erwartet  habe.  Briefen  an  allem  theil  nehmen  lässt,  was  ihm  begegnet 

Doch  so  bequem  diese  Thätigkeit  ihm  auch  zu  leben  und  ihm  die  Seele  bewegt ,    obgleich  die  schon  damals 

gestattete,  Hess  er  sich  doch  keineswegs  an  ihr  genügen,  empfindlichen  Augen  ihm  viel  zu  schaffen  machen  und 

Er  malte  vielmehr  fleissig,  und  ausser  zahlreichen  Portraits  das  Schreiben  sie  angreift. 

zu  denen  ihm  auch  hervorragende  Persönlichkeiten  Ich  kann  mir  nicht  versagen  wenigstens  von  einem 
sassen ,  schuf  der  Vielseitige  auch  Gemälde  wie  das  dieser  Briefe  eine  Stelle  mitzutheilen.  Sie  gibt  ein  tref- 
einer  Ueberschwemmung  und  einer  Prozession.  Dazu  fendes  Bild  des  empfänglichen  Künstlers,  dem  es  ge- 
fand er  Zeit  zu  allerlei  Reisen.  1867  ging  er  nach  geben  ist,  was  ihm  begegnet,  nicht  nur  mit  Stift  und 
Paris ,  und  wie  fruchtbringend  ihm  der  Aufenthalt  da-  Farben ,  sondern  auch  in  Worten  anschaulich  zur  Dar- 
selbst wurde,  weiss  ich  von  ihm  selbst.  Er  ergab  sich  Stellung  zu  bringen.  Dabei  fühlt  man  heraus,  dass  er 
dort  von  Neuem    mit    so    ausschliesslichem    Eifer    dem  sich    an    ein   junges  geliebtes  Wesen  wendet,    dem    er. 


64 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Verkäufer  von  gepressten  Datteln. 

während  er  es  an  der  eigenen  Freude  theilnehmen  lässt, 
auch  die  Vorstellung  zu  bereichern  trachtet.  Spätere 
Briefe  werden  zeigen,  dass  es  nur  das  Gemüth  ist,  dem 
dies  Schreiben  den  naiv  freundlichen  Ausdruck  verdankt. 

«Du  wirst  bereits  aus  meinem  Briefe  an  Eduard 
vernommen  haben»,  schreibt  er  am  17.  Dec.  1872  der 
jüngsten  Schwester  aus  Palermo,  «dass  es  mir  ausge- 
zeichnet gut  geht,  dass  ich  überglücklich  bin,  hier  zu 
sein  und  dass  ich  auch  bereits  zu  arbeiten  begonnen 
habe.  Ich  möchte  Dir  gern  all  die  schönen  Gegenden 
und  Dinge  schildern,  die  ich  auf  meiner  Reise  nach 
Sicilien  gesehen  habe,  müsste  jedoch  dazu  einen  Brief 
schreiben,  der  so  dick  werden  möchte,  dass  man  ihn 
auf  der  Post  gar  nicht  mehr  annehmen  würde.    .  .  . 

«Es  wird  Dich  interessiren,  dass  ich  den  Vesuv  be- 
stiegen habe,  und  da  wenige  Reisende  diese  anstrengende 
Tour  unternehmen,  so  will  ich  hier  Einiges  zum  Besten 
geben: 

« Du  hast  auf  Gemälden  den  Vesuv  schon  oft  abge- 
bildet gesehen  und  weisst,  dass  er  ein  ziemlich  bedeu- 
tender Berg  ist,  von  dessen  Spitze  eine  Rauchwolke 
aufsteigt. 

cSo  sieht  man  ihn  von  Neapel  aus,  wenn  man  am 
Hafen  dieser  Stadt  spazieren  geht.  In  der  lachenden 
Natur  Neapels  steht   dieser  Gottseibeiuns   und   sieht  so 


aus  der  Ferne  von  duftigem  Aethcr  umgeben,  mit  dem 
silbenveissen  Wölkchen  an  der  Spitze  gar  nicht  bös- 
artig aus. 

«Kommt  man  diesem  Berge  jedoch  näher,  dann 
gewinnt  er  ein  ganz  anderes  Au.ssehen.  Ernst,  schreck- 
lich, fürchterlich  diabolisch  ist  der  Eindruck,  den  er  dann 
macht. » 

Das  Bergansteigen  über  die  Lavaschichten  hin  über- 
gehe ich,  obgleich  seine  Beschreibung  den  meisten,  die 
ihr  vorangingen,  an  lebendiger  Anschaulichkeit  nicht 
nachsteht. 

« Endlich  » ,    fährt  er  fort ,    « ist  die  Spitze  erreicht. 

«Man  steht  athemlos,  schweisstriefend ,  todtmüde 
am  Kraterrande,  und  dort  wird  Jeder  für  den  Augenblick 
auf  all  diese  Beschwerden  vergessen,  vor  dem  Schau- 
spiele, das  sich  hier  vor  seinen  Augen  entrollt. 

«Aus  dem  Kraterrande  ragen  weise  Felsen  herauf 
Schwefelgeruch  erfüllt  die  Luft.  Dünne  weisse  Rauch- 
wolken entsteigen  ohne  Unterbrechung  der  Tiefe ,  und 
dort  und  da  schlagen  Flammen  aus  der  Asche  und 
zwischen  den  F"elsspalten  hervor 

«  Und  wendest  Du  diesem  fürchterlich  grossartigen 
Schauspiele   den  Rücken ,   so  siehst  Du  hinaus  auf  den 


mmW: 


Iläniller  mit  unbenennl)aren   Waaren. 


n. 


%. 


Mädchen  aus  Kairo. 

(iileistiftzeichnung.) 


* 


j5w 


\ 


I 


ß*,:i. 


•»s« 


Leop.  Carl  Müller. 


Phat    r.  Hsnfs<ft«nff),  Manchta. 


Trauernde  Witwe. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


65 


Golf  von  Neapel,  so  siehst  Du  das  herrliche  blaue  Meer  oder  ins  Freie,  Sie  werden  sich  an  meine  Seite  denken 

mit  den  schönen  Inseln  Capri,  Ischia  und  Procida,   das  und    mich    hier   anfeuern,    dort   mir  abwinken  können.» 

herrliche  Sorrento  in  der  Ferne.     Ausgebreitet  liegt  hier  Darauf  unterrichtet   er  mich   über  den  Lauf  der  Schiflfe, 

vor  Dir   die   herrlichste   lieblichste   Landschaft    mit   der  macht    den    vortrefflichen    Vorschlag,    unsere   Briefe   zu 

üppigsten  Vegetation.  nummeriren,  damit  der  Verlust  des  einen  oder  anderen 

« Es  ist  ein    nicht  zu  schildernder  Contrast  für  das  festgestellt  werden  könne,  und  spricht  endlich  die  frohe 

Auge,  von  dem  rauchenden,  schwarzen,  giftige  Schwefel-  Erwartung  aus,  dass  bei  diesem  geistigen  Beisammensein 


dünste  aushauchenden  Krater 
hinweg  in  dieses  Paradies  hinab- 
zuschauen. » 

Sicilien,  der  Aetna,  besonders 
Syracus  wurden  in  ähnlicher  Weise 
beschrieben.  Wie  lieb  muss  er 
die  gehabt  haben,  denen  er  mitten 
im  Genüsse  und  der  Arbeit  einen 
so  grossen  Theil  seiner  Zeit 
widmet,  um  sie  an  dem  Schönen 
mit  Theil  nehmen  zu  lassen,  das 
ihm  selbst  die  Seele  bewegt! 

Die  an  mich  gerichteten 
Briefe  sind  in  einem  anderen 
Tone  gehalten.  Der  Mann  wendet 
sich  in  ihnen  an  den  Mann,  mit 
dem  er  ein  wichtiges  Interesse 
theilt,  den  er  über  seine  Thätig- 
keit  auf  dem  Laufenden  zu  er- 
halten hat  und  dem  er  zu  zeigen 
wünscht,  wie  er  sich  zu  gewissen 
Fragen  stellt,  die  jener  in  seinen 
Schreiben  berührte. 

Während  eines  ganzen  Win- 
ters wechselten  wir  allwöchentlich 
Briefe:  Nachdem  wir  in  Nürnberg 
Rath  gehalten  hatten,  machte  er 
den  Vorschlag,  mit  Hilfe  dieser 
Correspondenz  unseren  inneren 
Zusammenhang  lebendig  zu  er- 
halten. «Nur  so»,  schreibt  er  am  28.  September  1877  ihnen  zu  gestatten,  darin  Ateliers  einzurichten.  Es  war 
aus  Venedig,  «  werde  ich  meine  Pflicht  gegen  Sie  recht  das  ehrwürdige  Mamlukenschloss,  worin  der  Vicekönig  das 
erfüllen  können,  werden  Sie  von  meiner  Sendung  das  Licht  der  Welt  erblickt  hatte.  Was  Künstler  binnen 
haben,  was  Sie  erwarten.  Ich  melde  Ihnen,  was  mir  Kurzem  aus  Nichts  hervorzuzaubern  vermögen,  sollte  sich 
an  Stoffen  begegnet  und  was  ich  zu  zeichnen  gedenke,  hier  erweisen ;  denn  in  wenigen  Tagen  verwandelten  Müller 
Sie  sprechen  sich  darüber  aus  und  geben  mir  beiläufig  und  Makart  leere  Säle  in  kleine  Heim.stätten  der  Kunst,  die 
zu  wissen,  was  Ihnen  Neues  in  den  Sinn  kam.  So  wird  das  Entzücken  der  Besucher  erweckten.  —  Was  sie  vor- 
die  Gemeinsamkeit  der  Arbeit  gewahrt.  Mir  wird  es  sein,  fanden,  kam  freilich  ihrer  dekorativen  Aufgabe  aufs 
als    gingen    oder   ritten   Sie   mit   mir    durch    die    Stadt      Beste    entgegen;    denn    die  Fussböden    waren    tin    den 


^c-  -"--  - 


Saugbrunnen  in  Kairo. 


des  Schrift.stellers  und  Illustrators 
etwas  Rechtes  zu  Stande  kommen 
werde.  «Von  manchem,  wovon 
mir  drüben  (in  Aegypten)  die 
ersten  Noten  ans  Ohr  klingen, 
pfeifen  Sie  mir  die  ganze  Melodie 
herüber,  ich  weiss  es. » 

Das  Alles  sagte  mir  aufs 
Beste  zu,  und  es  hat  sich  be- 
währt. 

Er  war  kein  Neuling  im 
Morgenlande;  denn  er  hatte  schon 
1873  Smyrna  und  Konstantinopel 
und  in  den  drei  folgenden  Wintern 
Aegypten  bereist  und  sich  dort 
längere  Zeit  aufgehalten.  Als 
besonders  fruchtbringend  und 
genussreich  bezeichnet  er  den 
von  1875  —  76,  denermitLenbach, 
Makart,  Huber  und  Gnauth  in 
Kairo  verlebte.  Der  entthronte 
Chediw  Ismael ,  dessen  guter 
Wille,  sich  förderlich  zu  erweisen, 
nie  versagte,  wo  er  von  Männern 
in  Anspruch  genommen  wurde, 
die  man  ihm  als  Koryphäen  der 
europäischen  Wissenschaft  oder 
Kunst  bezeichnet  hatte,  war  gern 
bereit  gewesen,  ihnen  einen  arabi- 
schen Palast    zu    überlassen   und 


10 


06 


DIE  KUNST  UNSP:RER  ZEIT. 


schönsten  Marmormosaiken  ausgeführt»  und  von  dem 
Saale,  den  er  sich  zur  Werkstätte  wählte,  konnte  Müller 
seiner  Schwester  Mali  am   18.  Dec.   1875  schreiben: 

«Ich  habe  mir  einen  Raum  ganz  reizend  dekorirt. 
Die  Wände  und  der  Plafond  sind  mit  Holzschnitzereien 
bedeckt,  die  200  Jahre  alt  sind,  und  nun  habe  ich 
9  Teppiche  gekauft  und  einige  Einrichtungsgegenstände. 
Ich  habe  viel  ausgegeben,  komme  mir  aber  jetzt  dafür 
wie  ein  Pascha  vor. 

« Makarts  Atelier  ist  beinahe  so  gross ,  wie  jenes, 
das  er  in  Wien  hat.    Er  richtete  es  prachtvoll  her 

«Niemand  ausser  uns  wohnt  jetzt  in  dem  Palaste. 
Wir  haben  uns  eine  Menge  Diener  aufgenommen,  auch 
einen  Portier  (einen  schönen  braunen  Abyssinier),  denn 
wir  haben  auch  eine  grosse  Verantwortung,  dass  an  dem 
Hause  nichts  geschieht.  Dieser  Tage  gehe  ich  zum 
Polizeidirektor  del  Negro,  den  ich  gut  kenne,  und  werde 
einen  Wachposten  verlangen,  der  immer  vor  dem  Thore 
zu  stehen  hat. 

« Es  macht ,  wie  Du  Dir  denken  kannst,  kein  ge- 
ringes Aufheben  unter  den  Arabern,  dass  vier  Europäer 
Herren  dieses  Palastes  sind.  Das  Wetter  hier  ist 
immer  herrlich ,  immer  Sonnenschein  bei  wolkenlosem 
Himmel.  Hier  gibt  es,  Gott  sei  Dank,  keinen  Schnee! 
Es  überläuft  mich  gruselig,  und  ich  fühle  eine  Gänsehaut 
über  meinem  Körper,  wenn  ich  an  Wien  denke.  Ich 
weiss  nicht,  was  geschehen  müsste ,  damit  ich  wieder 
einmal  einen  Winter  in  Wien  zubrächte ! » 

Müller  hatte  eben  mehrere  Jahre  hintereinander 
den  Dunst  mit  jenem  Nilwasser  gelöscht,  das  Champoliion 
« den  Champagner  unter  den  Wassern  »  nennt,  und  das 
in  jedem,  der  es  trinkt,  unauslöschliche  Sehnsucht  nach 
Aegypten  wach  erhalten  soll.  Seiner  nervösen  Natur 
that  die  Wärme  der  Palmenzone  wohl,  sein  Auge  und 
Gemüth  hatten  sich  dem  Zauber  des  Morgenlandes  ge- 
öffnet, und  er  war  tiefer  als  viele  andere  in  das  Leben  der 
muslimischen  Bevölkerung  Aegyptens  eingedrungen,  weil 
er  es  wie  wenige  verstand ,  auch  den  gemeinen  Mann 
an  sich  zu  ziehen.  Der  ihm  eigene  Sprachsinn  hatte 
ihn  verhältnissmässig  schnell  dahin  geführt,  arabisch  zu 
verstehen  und  mit  denen  zu  reden,  deren  Thun  und 
Treiben,  deren  Land  undL^mgebung  er  zum  Gegenstand 
seines  Studiums  und  zum  Objekt  seiner  Kunstübung 
gemacht  hatte.  Was  schön  oder  charakteristisch  ist  im 
Orient ,  entging  ihm  so  wenig  wie  das  Ergötzliche.  So 
hat  wohl  kein  Maler  vor  ihm  die  Schmiererei  eines  seiner 


arabischen  CoUegen  über  der  Thür  eines  Kaffeehauses, 
das  ausgestopfte  Krokodil,  das  der  Aberglaube  über  den 
Eingang  eines  alten  Gebäudes  hängte  oder  ähnliches 
wiederzugeben  für  werth  der  Mühe  gefunden.  Und  der 
Oelhändler  mit  seinem  rachitischen  Jungen,  der  schwarze 
Hausknecht  der  seiner  Herrin,  einer  europäischen  Dame 
folgt,  und  aufgeblasen  ihre  Haltung  nachahmt ! 

Der  erste  Brief,  den  ich  aus  Alexandrien  von  ihm 
erhielt,  ward  am  12.  Oktober  1877  geschrieben.  Ihm 
folgten  andere  vom  20.,  28.,  31.  Oktober,  9.,  17.,  22., 
28.  November  etc.  aus  Kairo.  So  treu  hielt  er  an  unserer 
Verabredung  fest,  so  ernst  war  es  dem  Illustrator  darum 
zu  thun,  mit  dem  Schriftsteller  in  engem  Zusammenhang 
zu  bleiben. 

Als  er  am  12.  Oktober  1877  in  Alexandrien  ein- 
traf, fand  er  die  lange  Reihe  von  Stoffen  noch  nicht 
vor,  die  ich  auf  seinen  Wunsch  dorthin  gesandt  hatte 
und  die  ihm  zwei  Tage  später  zuging.  Das  beweist 
die  folgende  Stelle  aus  seinem  ersten  Briefe: 

«Vor  einer  Stunde  hier  angekommen,  machte  ich 
mich  gleich  daran,  Ihnen  zu  .schreiben.  Den  heutigen 
und  morgenden  Tag  werde  ich  vorerst  benützen,  um 
die  kleinen  Illustrationen  für  die  erste  Lieferung  zu 
skizzieren.  Den  Leuchtthurm  ihabe  ich  gleich  vom 
Dampfer  aus  gezeichnet.  Am  Sonntag  gehe  ich  nach 
Kairo  und  führe  dort  die  mitgebrachten  Skizzen  aus.  .  .  . 

« Ich  erwarte  nun  von  Ihnen,  v.  Freund,  dass  Sie 
mich  in  Kairo  baldigst  mit  Aufgaben  überschütten.  .  .  . 

« Ich  bitte  Sie  also,  mir  recht  bald  eine  recht  grosse 
Anzahl  von  jenen  Bildermotiven,  die  Sie  wünschen,  be- 
kannt zu  geben,  damit  ich  in  der  Lage  bin,  jede  Gelegen- 
heit, die  sich  mir  darin  bietet,  gleich  am  Schöpfe  fassen 
zu  können.  Was  mir  an  interessanten  Dingen,  die  sich 
gut  illustrieren  lassen,  auffällt,  werde  ich  dann  auch  Ihnen 
mittheilen. 

«Entschuldigen  Sie  dies  konfuse  Geschreibsel.  Es 
tanzt  mir  der  Boden  unter  den  Füssen,  als  ob  ich  noch 
auf  dem  Schiffe  wäre,  und  die  bunten  Eindrücke  aut 
der  Fahrt  durch  die  Stadt  in's  Hotel  haben  mich  ganz 
betrunken  gemacht  vor  Freude.  ^ 

Kairo,  20.  Oktober  1877.  «Ich  bin  nun  in  Ordnung, 
mein  Atelier  ist  eingerichtet,  und  die  Arbeit  kann  los- 
gehen. Zwei  Zeichnungen  habe  ich  bereits  beendigt, 
und  zwar  den  Leuchtthurm  von  Alexandrien  und  eine 
andere,  die  Sie  gewiss  werden  brauchen  können.  Ich 
habe    nämlich    ein    malerisches   Stück    der    alten    Ring- 


ÜIK  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


67 


mauer  des  antiken  Alexandrien  gefunden  und  die  an 
Ort  und  Stelle  entworfene  Skizze  getreu  hier  ausgeführt. » 
Dies  schöne  Blatt  machte  mir  grosse  Freude,  denn 
CS  stellte  etwas  Interessantes  dar,  das  noch  keinen  Maler 
zur  Nachbildung  gereizt 
hatte. 

In  seinem  Schreiben 
vom  28.  Oktober  geht  er 
auf  meine  Gedanken  über 
die  für  das  alte  Alexan- 
drien herzustellenden  Illu- 
strationen ein.  Er  hatte  es 
abgelehnt,  sie  herzustellen 
und  mir  am  30.  September 
von  Venedig  aus  darüber 
geschrieben :  «  Die  meisten 
Illustrationen  für  das  alte 
Alexandrien  werden  Zeich- 
nungen sein,  bei  welchen 
es  sich  darum  handelt, 
dass  derjenige ,  welcher 
sie  ausführt,  das  alt- 
griechische  und  zum  Theil 
das  ägyptische  Kostüm  so 
wie  die  Architektur  jener 
Zeit  genau  kennt.  Ich 
habe  nie  etwas  in  dieser 
Richtung  gemacht  — 
habe  es  mit  gutem  Willen 
und  guter  Absicht  ver- 
sucht ,  und  gesehen  — 
dass  ich  es  nicht  treffe. 
Ich  h^be  mich  in  Aegypten 
nur  um  die  jetzige  dort 
hausende  arabische  Welt 
gekümmert,  die  ich  durch 
und  durch  kenne,  und  da 
glaube  ich,  wäre  es  weit 
besser,  wenn  Sie  die 
Zeichnungen  für  das  alte 

Alexandrien   einem  andern  übertrügen  ,    der  dieser  Aut- 
gabe besser  gewachsen  ist  als  ich. » 

Diesem  Wunsche  war  ich  sogleich  nachgekommen, 
indem  ich  mich  an  Ferdinand  Keller  in  Karlsruhe  ge- 
wandt hatte,  von  dem  ich  wusste,  wie  wohl  er  sich  mit 
dem     Leben,    dem    Kostüm    und    der    Architektur    des 


Ziehbrunnen  in  Kairo. 


hellenischen  Alterthums  bekannt  gemacht  habe.  Er 
sagte  zu,  und  Müller,  dem  für  unser  Werk  nichts  gut 
genug  war,  und  der  Einwand  gegen  die  Mitwirkung 
manches  wohlberufenen  Meisters  erhoben  hatte,   schrieb 

darüber :  « Dass  Herr 
Keller  die  Illustrationen 
zum  antiken  Alexandrien 
ausführen  wird ,  freut 
mich ;  es  war  dieses  eine 
glückliche  Wahl.» 

In  meinem  folgenden 
Briefe  hatte  ich  einer 
Verschlimmerung  meines 
Befindens  erwähnt.  Da- 
rauf bezieht  sich  der  An- 
fang des  folgenden  Briefes 
vom  31.  Oktober: 

«Wenn  man,  1.  P'reund, 
noch  so  viel  Humor  hat, 
wie  Sie  ihn  in  Ihrem  letzten 
Schreiben  an  mich  zeigten, 
dann  kann  das  Uebel  ja 
nicht  tief  stecken,  und  in 
dieser  meiner  Hoffnung 
freue  ich  mich  auf  den 
Tag,  an  dem  wir  einmal 
zusammen  herumlaufen 
werden.  In  Kairo ,  in 
Wien  oder  gar  Leipzig 
—  es  ist  ja  einerlei  wo! 
Ueberall  wird  es  schön, 
vorausgesetzt ,  dass  wir 
etwas  in  uns  mitbringen, 
das  erheitern  und  beleben 
kann  .... 

Mein  Hausherr  führt 
einen  wohl  versehenen 
Keller  —  auf  Ihre  bal- 
dige und  vollständige  Ge- 
nesung trinke  ich  öfters 
mit  Bircher,  der  Ihre  Werke  kennt  etc.  manch  volles 
gutes  Glas. 

«Die  Zeichnung  «Rast  der  Meccapilgerkarawane 
auf  der  Abbasieh»,  die  eine  lange  und  reiche  Erzählung 
ist,  betrachte  ich  als  die  weitaus  beste  Arbeit,  die  ich 
für   das  Werk    bis  jetzt  gemacht  habe.     Mit   einer  der 


10* 


68 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Nilmesser. 


notirten  Send- 
ungen schicke 
ich  Ihnen  dann 
die  Fortsetz- 
ung dieser  Er- 
zählung, näm- 
lich die  Schil- 
U|'  i  derung  jener 
Theile  des  aus- 
gedehnten La- 
gers, auf denen 
man  die  Zelte 
des  Führers 
der  Karawane 
sieht ,  ferner 
die  Tragbahre, 
in  welcher  der 
Teppich  einge- 
schlossen ist, 
die  militärische 
Eskorte  etc. 
Während  des 
dreitägigen  La- 
gers der  Kara- 
wane auf  dem 
Abbasiech  war 


ich  natürlicherweise  immer  unter  den  Pilgern.  Auf 
frischer  Anschauung  beruhen  auch  der  Dattelverkäufer, 
die  Brunnenbilder,  das  Bad  (ein  reizendes  Motiv)  und 
die  Händler  mit  den  Waaren,  für  weiche  ich  keinen 
Namen  weiss. 

Ich  sah  in  alle  seine  Töpfe ,  doch  ich  blieb  so 
klug  wie  vorher. 

Sie  werden  an  den  Zeichnungen  sehen ,  welch 
grosser  Unterschied  zwischen  den  Sachen  ist ,  die 
man  im  Atelier  aus  der  Erinnerung  zeichnet,  und 
jenen ,  zu  denen  man  an  Ort  und  Stelle  die  Studien 
machen  kann.  » 

Leider  ist  der  zweite  Theil  des  köstlichen  Lager- 
bildes nie  vollendet  worden ;  denn  schon  im  nächsten 
Briefe  sah  sich  Müller  zu  schreiben  gezwungen : 

«Acht  Tage  musste  ich  aussetzen  mit  dem  Zeichnen, 
weil  ich  wieder  Augenentzündung  hatte. 

Es  ist  noch  der  alte  Katarrh  aus  Venedig,  an  dem 
ich  leide. 

Um    mich    zu  heilen ,    ging   ich    in   die  Wüste  und 


brachte  sechs  Tage  in  Helwan  *)  zu.  Ich  befinde  danach 
mich  besser.  Von  dort  aus  machte  ich  eines  Tages  einen 
Ausflug  nach  den  Apisgräbern.  Ich  habe  eine  Skizze 
von  denselben  und  von  Mariettes  Haus  gemacht. 

«Als  ich  nach  Sakkara  ritt  von  Helwan  aus  und 
auf  dem  Damme,  der  zur  Wüste  führt,  mich  dem  Wege 
näherte,  der  zur  Stufenpyramide  führt,  sah  ich  ein  Bild, 
das  ergreifend  schön  war. 

«  Mit  gellendem  Schreien  lief  ein  Mädchen  von  etwa 
i6  Jahren  mir  entgegen,  das  die  Hände  hoch  in  die 
Luft  hielt  und  in  denselben  ihren  Schleier  flattern  lie.ss. 
Die  schmerzlichen  Ausrufe  des  Mädchens  gingen  mir 
sehr  zu  Herzen,  und  ich  ahnte  gleich,  dass  der  Aermsten 
etwas  Trauriges  begegnet  sein  müsse.  Und  so  war  es 
auch.  Als  das  hübsche  Kind  mir  näher  und  näher  kam, 
da  vernahm  ich  die  Worte,  die  es  ausrief:  Mein  Bruder 
ist  tot ,  mein  Bruder  ist  tot !  Ohne  mich  zu  beachten, 
flog  die  Arme  an  mir  vorbei,  immer  den  Schleier  mit 
beiden  Händen  hoch  in  der  Luft  haltend. 

«  Bald  daraufbrachten  zwei  Männer  den  todten  Bruder. 
Es  war  ein  hübscher  Knabe,  der  vor  wenigen  Momenten  noch 
gelebt  haben  muss;  es  waren  selbst  seine  Hände  noch  warm. 

« Ich  versichere  Sie,  dass  mir  dies  Bild  unvergcss- 
lich  bleiben  wird,  so  schön  war  es.  Die  schöne  Silhouette 
des  Mädchens,  die  ernste  Gruppe  mit  dem  Todten  mit 
dem  prächtigen  Hintergrunde,  der  starren,  leuchtenden 
Wüste  nämlich,  war  aussergewöhnlich  packend. 

« Das  Bild  werde  ich  einmal  malen ,  oder  will  es 
mindestens  versuchen. — 1> 

Es  ist  leider,  so  viel  ich  weiss  und  aus  seinen  Aufzeich- 
nungen ersehe,  nie  zur  Ausführung  gekommen.  In  ähnlicher 
Weise  ergreifend  ist  aber  das  Bild  der  trauernden  Witwe,  die 
mit  einem  hohen  Palmenwedel  im  Arm,  der,  wie  kummer- 
voll, die  Spitze  nach  vorne  neigt,  auf  dem  Grabe  des  verstor- 
benen Gatten  seiner  gedenkt.  —  Wer  die  arabischen  Fried- 
höfe kennt,  wird  sich  nicht  wundern,  dass  ein  warmempfin- 
dender Künstler,  ein  Kolorist  wie  Müller,  sich  gerne  daran 
wagte,  sie  und  ihre  Besucher  wiederzugeben.  Vielleicht  das 
schönste  von  allen  Blättern,  die  wir  dem  Verstorbenen  ver- 


*)  Das  Helwan,  wo  Müller  Heilung  suchte,  ist  ein  kräftiges  Schwefel- 
bad auf  dem  östlichen  Nilufer,  wenige  Meilen  südlich  von  Kairo.  Es  liegt  in 
der  zum  Fuss  des  arabischen  Gebirges  gehörenden  WUste  und  ist  jetzt  ein 
bequem  eingerichteter  Bade-  und  Luftkurort.  Kranz  Pascha,  ein  Nassauer, 
der  trelTliche  Architekt  des  Chedlw,  ist  der  Schöpfer  der  stattlichen  dort 
entstandenen  Hauten.  1877  halte  der  Sacfase  Dr.  Reil  und  der  Schlesier 
Dr.  Sachs  erst  eben  angefangc-n  es  in  .\ufnahme  zu  bringen.  Ein  kleines 
sauberes  deutsches  Gasthaus  «  zum  Waldesel  undPfifficus  t,  das  eine  muntere 
Gesellschaft  unserer  Landsleute  so  benannt  hatte,  nahm  die  Europäer  auf. 


I.eop.  Carl  Müller- 


rhot.  r.  H>nrilaen|l.  XlmcbMl 


Messe  zu  Tanta. 

(Delta.) 


DIE  KUNS  r  UNSERER  ZEIT. 


60 


Die  Apisgräber  in  Sakkara. 

danken ,  zeigt  einen  solchen  und  die  Verkäuferin  von 
Palmenzweigen,  die  sich  mit  einem  Kunden  unterhält. 
Die  Handbewegung,  die  das  arabische  «Wer  kann's 
ändern»  oder  das  salomonische  «Alles  ist  eitel»  begleitet, 
ist  mit  unvergleichlichem  Feingefühl  getroffen. 

Am  9.  Nov.   1877  schreibt  Müller: 

«Das,  was  Sie  in  Ihrem  Schreiben  VI  von  den  so- 
genannten Genies  sagen,  stimmt  ganz  mit  meinen  An- 
schauungen überein.  Ich  habe  z.  B.  noch  keinen  Maler 
kennen  gelernt,  der  von  Bedeutung  gewesen  wäre,  und 
doch  zu  jener  Gattung  mit  den  «struppigen  Haaren  und 
ungewaschenen  Hemden»  gehört  hätte.  Die  jetzt  lebenden 
grossen  Künstler  Europas  sind  beinahe  durchgehend  fein- 
gebildete Menschen,  die  den  äusseren  Formen  unserer 
Gesellschaft  Rechnung  tragen. 

«Ich  gehöre  z.  B.  sogar  zu  denen,  die  eine  Art  Miss- 
trauen in  die  Befähigung  aller  jener  setzen,  die  in  ihrem 
Aeusseren  sich  absichtlich  von  den  anderen  Menschen- 
kindern unterscheiden  wollen.  Und  Ihre  Anschauung 
über  die  Bedeutung  des  Fleisses  theile  ich  ebenfalls. 
Wenn  ich  meinen  Wirkungskreis  an  der  k.  k.  Akademie 
antreten  werde,  wird  es  eine  meiner  Hauptbestrebungen 


sein,  meine  Schüler  zu  rastloser  Thätigkeit  anzu- 
halten. Besonders  in  den  bildenden  Künsten  ist 
Vi  einlachen  von  grosser  Bedeutung.  In  den 
bildenden  Künsten  spielt  die  Fertigkeit  in  der 
Technik  eine  unglaublich  grosse  Rolle.  Neben 
der  Technik  ist  es  dann  der  Geschmack,  der  aus- 
schlaggebend ist.  Nun  frage  ich  Sie  aber,  ob 
Sie  glauben,  dass  die  Menschen  schon  mit  gutem 
Geschmack  auf  die  Welt  kommen?  Grössere  oder 
geringere  Anlage  zur  Ausbildung  bringt  man  mit; 
guter  Geschmack  wird  aber  zum  grösseren  Theile 
erworben  durch  Arbeit,  rastlose  Arbeit. 

«Es  ist  eine  Thatsache,  dass  der  grössere 
Theil  aller  schon  an  der  Akademie  bewunderten 
Talente  gewöhnlich  verschwindet  von  der  Weltschau- 
bühne, während  sehr,  sehr  viele  gegenwärtig  als 
bedeutende  Künstler  auf  derselben  wirken,  die 
während  ihrer  Schülerzeit  als  Ochsen  ohne  Talent 
verspottet  und  verlacht  wurden.  Der  so  berühmt 
gewordene  Overbeck  wurde  von  drei  Akademieen 
fortgeschickt  als  gänzlich  talentlos.  Der  Pole  Mateiko 
wurde  weder  in  Wien  noch  in  München  beachtet. 
« Eine  ganze  Reihe  von  Studenten  an  der 
Akademie  in  Wien ,  die  ich  seiner  Zeit  beneidete, 

mit  deren   Arbeiten  die   damaligen  Professoren   grosses 

Wesen  trieben    und  von  denen  man  erwartete,  dass  sie 

die  alten    Meister  übertreffen  würden,  sind  heute  spurlos 

verschwunden. 

«Ganz  verschwindend    klein  ist    die  Zahl  der  alten 

und  der  modernen 

grossen  Künstler, 

die     von     Hause 

aus  reich  gewesen 

wären.  Alle  waren 

sie    arme   Teufel, 

die    durch    uner- 
müdlichen   Fleiss 

und    Arbeit    sich    :^0 

das  Leben  fristen 
mussten.       Der 

Zwang  zur  Arbeit 

ist       die      beste 

Schule     für     das 

Talent.    Es  plagt 

sich  selten  Einer, 

der  es  nicht  nöthig  Gazelle. 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


hat;  daher  kommt  ein  vom  Hause  aus  reicher  Maler 
nur  selten  zu  jener  Vollkommenheit  in  der  Technik, 
welche  die  Ausführung  bedeutender  künstlerischer  Auf- 
gaben ermöglicht. 

«Es  ist  dies  ein  Thema,  das  mich  sehr  interessirt, 
und  ich  schwatze  da  fort,  ohne  zu  bedenken. 

Kairo,   17.  Nov.   1877. 

«  Gestern  erhielt  ich  Ihren  Brief  und  es  freut  mich 
zu  vernehmen,  dass  Ihnen  die  Arbeiten  Alma  Tademas 
so  sehr  gefallen.  Es  zeigt  dies,  dass  Sie  Geschmack 
haben,  denn  Tadema  ist  ein  durch  und  durch  origineller, 
echter  und  tüchtiger  Künstler. » 

In  dem  folgenden  Briefe  spricht  sich  Müller  auch 
über  die  Reproduktion  seiner  Bilder  aus.  Er  hatte  .schon 
mit  Gnauth  darüber  verhandelt. 

«Mir  ist  nämlich  immer  leid»,  fährt  er  von  Kairo 
aus  am  22.  Nov.  1877  fort,  «wenn  ich  gut  Geschriebenes 
lese  und  verdammt  werde  auf  jeder  Seite  schlechte 
Bilder  anschauen  zu  müssen.  Ich  war  einmal  viel  strenger 
in  meinem  Urtheile ,  als  ich  es  heute  bin  (es  kommt 
dies  glaube  ich  daher,  dass  man  je  mehr  man  leistet, 
desto  besser  beurtheilen  kann,  wie  schwierig  es  ist.  Vor- 
treffliches zu  machen)  und  ging  so  weit  zu  behaupten, 
dass  wenn  in  einem  Werke  die  Illustrationen  schlecht 
waren,  auch  der  Text  nicht  gut  sein  könne.  Ich  nahm 
an,  dass  ein  guter  Schriftsteller  so  viel  Geschmack  haben 
müsse,  dass  er  schlechte  Illustrationen  nicht  dulden  könne 
und  ich  legte  ein  derartiges  Buch  immer  weg  ohne  es 
zu  lesen. 

«Ein  gut  geschriebenes  aber  schlecht  illustrirtes 
Buch  macht  mir  denselben  widerlichen  Eindruck  wie 
z.  B.  eine  schlecht  kolorirte  Photographie  eines  Portraits. 

«Es  gibt  nicht  leicht  etwas  Widerlicheres  als  so 
eine  kolorirte  Photographie,  welche  im  Grunde  die  absolute 
Wahrheit  in  Form ,  Linie  und  Beleuchtung  zeigt  und 
obenauf  mit  der  Lüge  in  Farben  prangt.  An  Hallbergers 
Stelle  hätte  ich  die  Illustrationen  mittels  Heliotypie  her- 
zustellen gesucht,  wie  im  Journal  l'Art. 

«Ich  bin  sehr  neugierig  auf  die  nächsten  Schnitt- 
proben. Am  besten  sind  geschnitten  der  Wechsler  und 
der  Läufer,  und  darum  scheue  ich  nun  jetzt  die  Mühe 
nicht,  all  meine  Zeichnungen  nur  mit  der  Feder  auszu=^ 
führen,  so  wie  es  jene  beiden  waren.  Es  kosten  mich 
diese  Federzeichnungen  viel  mehr  Zeit,  doch  ich  erwarte 
mir  ein  günstiges  Resultat,  wenn  man  darauf  dringt,  dass 
diese    Zeichnungen    facsimile    geschnitten    werden.     Bei 


einer  Federzeichnung  hat  der  Xylograph  gar  keine  Aus- 
rede, dass  er  die.ses  oder  jenes  nicht  klar  gesehen  hätte. 
Hier  gilt  es  eben  jeden  Strich  wieder  nachzuschneiden. 

«Mit  diesem  Briefe  sende  ich  auch  des  Beduinen 
Morgen  gebet,  eine  Zeichnung,  die  ich  auch  einmal 
malen  werde,  weil  ich  glaube,  dass  mir  die  andachtsvolle 
Stimmung  in  derselben  gelungen  ist.  Selbst  das  Kameel 
ist  andächtig. » 

So  verhält  es  sich  in  der  That;  ich  sah  aber  aus 
dieser  Zeichnung  kein  Gemälde  entstehen.  «  DenWechsler » , 
dessen  Schnitt  ihn  befriedigte,  führte  er  aber  in  Oel  aus, 
und  dieses  herrliche  Bild  wurde  im  Glaspalaste  zu 
München  mit  der  goldenen  Medaille  gekrönt. 

Wegen  der  Reproduktion  seiner  Arbeiten  schreibt 
er  auf  einen  besonderen  Zettel :  «  Meiner  Zeichnungen 
braucheich  mich  nicht  zu  schämen,  Ihr  Text»  (es  folgt 
das  Lob  desselben)  .  .  .  «und  so  müssen  wir  Schulter  an 
Schulter  durchsetzen,  dass  alles  aufgeboten  werde,  damit 
der  Schnitt  nichts  verderbe.  Auch  Gnauth  wird  helfen. 
Ed.  Hallberger  ist  ein  Verleger,  der  es  ernster  nimmt 
als  andere  und  einen  kleinen  Schaden  ertragen  kann. 
Da  muss  verworfen  und  vernichtet  werden,  was  nicht 
die  Nummer  i  verdient.  Die  muss  auch  das  ganze  Werk 
noch  erwerben. » 

Kairo,  30.  Nov.  1877.  «Habe  Schreiben  VIII  er- 
halten ,  und  hoffentlich  erhielten  Sie  auch  inzwischen 
meinen  wöchentlichen  Schreibebrief.  Sie  können  mit 
Sicherheit  auf  meine  Briefe  rechnen ;  denn  was  ich  ver- 
spreche, das  halte  ich  .  .  —  Ich  habe  zur  Abwechs- 
lungf  wieder  ein  bischen  Augenleiden,  So  oft  ich  zu 
lange  des  Abends  lese,  ist  der  Teufel  wieder  los.  Nun 
habe  ich  mir  vorgenommen  bei  Lampenlicht  gar  nichts 
mehr  zu  lesen.  .  .  . 

«  Dr.  Reil  und  Sachs  lassen  Sie  bestens  grüssen  .  .  . 
In  Helwan  lernte  ich  einen  weiteren  Doktor  kennen, 
der  kein  uninteressanter  Mensch  ist.  *j  P>  betreibt  in 
Helwan  etwas,  was  für  Aegypten  eigentlich  neu  ist.  Er 
sucht  und  gräbt  nämlich  nach  Geräthschaften  aus  der 
Steinzeit.  Seine  Sammlung  ist  sehr  interessant  und  reich. 
Er  hat  an  mindestens  1000  Stück  Messer,  Lanzenspitzen, 
Sägen  u.  s.  w.  Die  Sägen  sind  merkwürdig  gut  ge- 
macht,   bewundernswerth.     Aller    Orten,    wo    er    diese 


*)  Er  meint  den  Dr.  Mook.  Dr.  Reil  hatte  schon  früher  eine 
schöne  Sammlung  dieser  Art  angelegt.  Auch  die  Franzosen  Hainy, 
Arcelin  und  Lenormant  wiesen  lange  bevor  MuUer  am  Nil  war,  auf  eine 
Steinzeit  in  Aegypten. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


71 


Feuersteingeräthe  findet, 
gibt  es  auch  immer  eine 
gute  Ausbeute  an  Knochen 
aller   möglichen   Thiergatt- 

ungen 

« Dass  Sie  mich  um 
meinen  Aufenthalt  be- 
neiden ,  begreife  ich  voll- 
kommen. Heute  war  es 
tüchtig  heiss,  und  vor  zwei 
Monaten  hätten  wir  zu- 
sammen ohne  Feuer  im 
Ofen  und  ohne  die  Reibung 
der  Geister  erbärmlich  in 
Nürnberg  gefroren.  Dass 
es  Gnauth  in  dem  kalten 
Norden  so  geduldig  aus- 
hält, ist  mir  ein  Räthsel. 
Ich  werde  ja  vielleicht 
auch  in  Wien  Schnee  und 
Eis  ertragen  müssen,  aber 
wie  ungeduldig  ich  dabei 
sein  werde ,  weiss  ich 
schon  im  Voraus.  Das 
ist  auch  gut;  denn  wenn 
der  bekannte  Faden  reisst, 
werde      ich      wieder      frei. 


Gärtnerbursclie  mit  Bouquet  am  'l'iirban. 


worden ,  der  eigentlich 
.schon  den  Namen  der 
kalten  verdiente.  Wo  es 
warm  ist,  ist  meine  eigent- 
liche Heimat.» 

Kairo,  7.  Dez.  1877. 
«  Vor  einigen  Tagen  wurde 
hier  ein  Wohlthätigkeits- 
Bazar  zum  Besten  der 
verwundeten  Türken  im 
Esbekije-Garten  abgehalten. 
Der  Garten  war  schön 
dekorirt.  Die  schönsten 
Damen  hatten  verschiedene 
Buden,  worin  sie  alles  Mög- 
gliche und  Unmögliche  ver- 
kauften. Je  schöner  die 
Dame,  desto  gefährlicher 
war  es  begreiflicherweise 
bei  ihr  einzukaufen.  Uns 
armen  Männern  wurde 
mit  allen  erdenklichen 
Schmeicheleien  das  Geld 
aus  den  Taschen  geholt, 
und  ich  möchte  wetten, 
dass  manche  Dame,  um 
nur  mit  recht  vielem  Gelde 


Dann  sage  ich  den  Eisbären  gute  Nacht  und  den 
Krokodilen  und  meinen  lieben  Kameelen,  zu  denen  ich 
gehöre,  guten  Morgen.  Ich  bin  glaube  ich  aus  Ver- 
sehen in    dem   Theile    der   gemä.ssigten    Zone    geboren 


vor  dem  Comite  erscheinen  zu  können ,  ihren  Kunden 
Dinge  versprach ,  die  sie  dann  ihres  Mannes  wegen 
nicht  wird  haben  einhalten  können.  Der  Vizekönig 
war  splendid ,    bezahlte  jede  Blume,    die    ihm    gegeben 


~\  -^ 


.  r^:fi^>^>r;~:^^^^i5^fel^r^': 


^(^ 


Beduinenzelt. 


72 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


wurde,  mit  i  5  Pfund  Sterling,  und  bekam  —  recht  viele 
Blumen.  Die  Haremsdamen  coquettierten  reizend  aus 
ihren  Equipagen.  Zu  verkaufen  hatten  sie  jedoch 
nichts.  Die  Armen  würden  sich  gewiss  auch  gern  so 
manchem  der  anwesenden  Männer  als  Wohlthäterinnen 
erwiesen    haben. 

«Noch  eine  Bemerkung  erlaube  ich  mir  über  das 
beiliegende  Bild.  Ich  hörte  es  « Pyramidenbeduinen  ;> 
nennen*).  Da  erlaube  ich  mir  die  Bemerkung,  dass 
dieser  Titel  nicht  passend  wäre.  Die  Beduinen  bei  den 
Pyramiden  haben  ein  anderes  Costüm,  lagern  nicht  im 
Freien  und  besitzen  keine  Kameele.  Auch  ist  die  Distanz, 
in  welcher  die  Gruppe  der  Lagernden  auf  dem  Bilde 
von  den  Pyramiden  entfernt  ist,  sehr  bedeutend.  Das 
Original,  das  ich  vor  mehr  als  fünf  Monaten  in  London 
verkaufte ,  dankt  seine  Entstehung  einem  Spaziergange 
bei  den  Pyramiden.  Ich  sah  nämlich  bei  Gelegenheit 
dieses  Spazierganges  am  Rande  der  Wüste  eine  Karawane 
lagern  mit  vielen  Kameelen,  Zelten  u.  s.  w.  Die  Leute 
waren  meistens  Zigeuner  und  Beduinen  aus  der  Libyschen 
Wüste.  Beim  Malen  des  Bildes  konvenirte  es  mir  besser, 
auch  im  Vordergrunde,  wo  in  der  Natur  bereits  bebauter 
Boden  war,  ebenfalls  Wüstenterrain  zu  machen.  In 
London  war  das  Bild  mit  dem  Titel :  «Caravane  en  repos» 
ausgestellt. » 

Der  folgende  Brief  bezieht  sich  auf  meinen  Roman 
« Homo  sum »  den  ich  ihm  gesandt  hatte.  Die  ein- 
gehende kunsthistorische  Betrachtung,  die  er  enthält, 
wäre  wohl  werth,  hier  mitgetheilt  zu  werden,  doch  ver- 
bietet das  der  uns  bewilligte  Raum. 

Aus  unseres  Künstlers  Brief  vom  18.  Jan.  1877  ent- 
nehme ich  die  folgenden  Sätze :  «  Was  das  Kapitel  Be- 
wunderung angeht,  so  vertheidigen  Sie  Ihre  Position 
mit  Waffen  der  die  meinigen  nicht  gewachsen  sind. 
Mit  Worten  verstehe  ich  schlecht  zu  fechten,  und  ich 
lasse  Sie  also  auf  dem  verlorenen  Posten. 

« Ich  habe  von  der  Kunst  einen  so  hohen  Begrift, 
dass  ich  mich  nicht  einmal  zu  den  Künstlern  rechne. 
Ein  einfach  bürgerlicher  Maler  bin  ich,  der  sein  täglich 
Brod  mit  dem  Malerhandwerk  verdient.  Es  gibt  in  ganz 
Europa  nur  10  oder  12  Künstler  —  mehr  oder  weniger 
geschickte  Maler  aber  einige  Tausende.  Auch  der  von 
Ihnen  bewunderte  ...  ist  nur  ein  Handwerker.  Alma 
Tadema  z.  B.  einer   der  hochbegnadeten,  ein  Künstler. 


*)  Man  hatte  es  in  Stuttgart  so  bezeichnet. 


« Da  steht  vor  mir  ein  grosses  Bild.  Ich  möchte 
das  Farbengaudium  des  Orients  auf  ihm  nur  einiger- 
massen  treffen  und  zur  Anschauung  bringen.  Glauben 
Sie,  ich  brächte  es  zu  wege?  Jeden  Tag  der  letzten 
Zeit,  den  ich  am  Bilde  arbeitete .  entspricht  es  weniger 
den  Anforderungen,  die  ich  an  das.selbe  stelle,  —  und 
so  leide  ich  nun  schon  seit  geraumer  Zeit  an  einem  un- 
erträglichen moralischen  Katzenjammer.  Ich  bin  in 
einem  Zustande ,  in  welchem  man  selbst  das  was  man 
kann ,  zu  können  bezweifelt.  Ich  werde  darum  auch 
vielleicht  eine  Einladung  zu  einer  kleinen  Erholungs- 
reise, die  mir  der  ältere  (Heinrich)  Brugsch  gemacht  hat, 
annehmen.  » 

Gerade  dieses  sich  nie  an  der  eigenen  Leistung 
Genügenlassen ,  dies  Verzweifeln  an  dem  eigenen  in 
Wirklichkeit  erstaunlichen  Können  charakterisirt  den 
bescheidenen  Müller  als  den  grossen  Künstler,  der  er 
war.  Wer  das  Gemälde  kennt,  das  ihn  in  eine  so  ver- 
zweifelte Stimmung  versetzte  —  es  ist  das  der  Wiener 
Akademie  —  der  wird  meiner  Meinung  beipflichten,  dass 
es  wenigen  gelang,  das  « Farbengaudium  des  Orients  •» , 
das  Müller  zum  Ausdruck  zu  bringen  begehrte,  auch  nur 
halb  so  glücklich  wiederzugeben. 

Später  am  7.  Februar  1878  schreibt  er  in  Bezug 
auf  das  nämliche  Bild :  « Die  Politik  und  die  Unzu- 
friedenheit über  meine  Malerei  verstimmen  mich  sehr. 
Um  so  mehr  bin  ich  verstimmt,  als  mir  an  meinem 
Bilde  gerade  das  nicht  gelingen  will ,  worin  eigentlich 
mein  Können  besteht.  Sowohl  aus  eigener  Erfahrung  als 
durch  meine  kunstverständigen  Freunde  weiss  ich,  dass 
meine  Stärke  nicht  in  der  Zeichnung  und  Composition 
(sie  r),  sondern  in  der  Farbe  besteht.  Gut  gezeichnete 
und  komponirte  Bilder  existiren  viele  von  Gerome, 
doch  gut  gemalte,  ich  will  sagen,  kolori.stisch  gute,  gibt 
es  meines  Wissens  gar  keine.  Fromentin  hat  die 
Farbe  des  Orients  getroffen,  doch  er  gab  eben  nur  kleine 
Landschaften  init  Staffagen.  Mein  Ehrgeiz  bestand  aber 
darin,  ein  grosses  figurenreiches  Bild  zu  schaffen,  das 
auch  den  Farbenzauber  des  Orients  wiedergeben  sollte. 
Ach,  um  das  schwache  Fleisch!» 

Am  15.  Februar  (Kairo)  sagt  er  unter  anderm: 
«  Einen  guten  Brief  zu  schreiben  halte  ich  für  schwierig. 
Ein  Brief  soll  ja  keine  Abhandlung  sein ,  sondern  soll 
auf  3  oder  4  Seiten  recht  viel  sagen.  Von  den  vielen 
Freunden  und  Bekannten,  die  mir  schrieben,  treffen  es 
nur  wenige,  gute  Briefe  zu  schreiben,  obwohl  sie  sonst 


Markt   in   Desuk. 

(Delta.) 


I.«>l>.  t;>tl  Malier, 


PbM.  r.  UM>bU>llcl.  MAMti«. 


Moschee  des  heiligen  Ibrahim  zu  Desuk. 

(Delta.) 


Eine  Strasse  von  Tanta  während  der  Messe. 


Wahrsagerei  aus  der  Hand. 
Der  Fragende  driickl  die  innere  Handfläche  auf  Brodleig  ab. 


74 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


ganz  ausgezeichnet  mit  der  Feder  umzugehen  wissen. » 
Dann  geht  er  wieder  auf  die  Holzschnitte  über : 

«Es  thut  mir  wohl»,  sagt  er,  «dass  ich  Ihnen  nun 
schon  zweimal  von  guten  Schnitten  berichten  kann,  denn 
nur  zu  oft  habe  ich  Ihnen  etwas  vorjammern  müssen. 
« Bilder  sind  die  Bücher  der  Ungelehrigen »  hat  der 
heilige  Augustin  gesagt,  und  er  hatte  sehr  Recht.  Mit 
welcher  Leidenschaft  studiren  Kinder  nicht  Bilder- 
bücher I 

«  Und  wir  Erwachsenen,  sehen  wir,  sobald  wir  ein 
illustrirtes  Werk  in  die  Hand  bekommen,  nicht  auch 
immer  zuerst  alle  Bilder  drinnen  an.?  Und  verderben 
wir  uns  nicht  um  etwas  die  Lust  das  Buch  zu  lesen, 
wenn  uns  die  Illustrationen  nicht  gefallen  haben.'  Und 
darum  habe  ich  von  jeher  die  Anschauung  gehabt,  dass 
ein  Buch  sich  immer  besser  repräsentirt,  wenn  es  nicht, 
als  wenn  es  schlecht  oder  auch  nur  mittelmässig  illustrirt 
wird.  So  wie  der  Text  zu  dem  Werke,  so  müssen  auch 
die  Bilder  werden,  müssen  Sehnsucht  nach  dem  Zauber- 
lande erwecken.  .  .  .  Bei  einem  Werke,  das  mich  nicht 
interessirt,  hätte  ich  überhaupt  nicht  mitgethan.  Nun 
ich  aber  mitthue,  erlaube  ich  mir  immer  offen  und 
schonungslos  die  Meinung  zu  sagen,  und  das  verübeln 
Sie  mir  ja  gewiss  nicht.  .  .  .  Fahren  Sie  fort  mein 
Sekundant  und  Mitkämpfer  zu  sein,  und  es  wird  schon 
so,  dass  man  F"reude  daran  haben  kann. » 

Einige  vierzig  Bilder  hatte  er  für  unser  «  Aegypten  » 
vollendet,  nun  aber  verhinderte  ihn  die  Berufung  an  die 
Wiener  Akademie,  als  deren  Direktor  er  starb,  und  ein 
Augenleiden  einstweilen  weiter  für  uns  zu  schaffen.  Er 
empfahl  das  noch  Fehlende  von  Huber  herstellen  zu 
lassen.  Zu  unserer  Freude  willigte  dieser  ausgezeichnete 
Künstler  ein,  und  auch  die  von  ihm  hergestellten  Bilder 
sind  Zierden  des  Werkes;  denn  es  vereint  sich  in 
ihnen  treffliches  Können  mit  genauer  Kenntnis  des 
morgenländischen  Lebens. 

Der  Zustand  der  Sehkraft  Müllers  war  ein  wahrhaft 
beklagenswerther  geworden,  und  dass  er  trotzdem  so 
Vieles  und  Schönes  auch  noch  später  vollenden  konnte, 
ist  den  ihm  am  nächsten  Stehenden  kaum  fasslich 
erschienen. 

Am  22.  Februar  schreibt  er  darüber  aus  Kairo: 

« Wie  gerne  gäbe  ich  Ihnen  einen  Theil  meiner 
Schenkelkraft,  wenn  Sie  mir  dafür  etwas  von  der  Kraft 
Ihrer  Augen  ablassen  möchten.  Der  (kleinen)  Schrift 
Ihrer  Briefe  sieht  man  die  beneiden.swerthen  Augen  an, 


Kalleeliaub.     (^FcUerzeicIinung.) 

über  die  Sie  verfügen.  Während  ich  jetzt  schreibe, 
sitzen  doppelte  Augengläser  auf  meiner  Nase.  Wie  mich 
diese  beiden  Krüppel  von  Augen  bei  meinen  Arbeiten 
hindern ,  davon  machen  Sie  sich  keinen  Begriff.  Bei 
kleinen  Dingen,  die  ich  male  oder  zeichne,  ist's  mehr 
meine  Hand,  welche  sieht,  als  meine  Augen.  Hätte  ich 
nicht  eine  .so  empfindsame  Faust,  so  wäre  ich  unmöglich 
als  Maler.  Und  diese  elend  konstruirten  Augen  sind 
nun  seit  langer  Zeit  zum  Ueberflusse  noch  krank. 

«  Geht  es  besser  damit  und  bin  ich  in  Wien ,  will 
ich  gerne  wieder  die  frühere  Thätigkeit  für  das  Pracht- 
werk entwickeln.  Ausser  meinem  grossen  Bilde  habe 
ich  hier  noch  einige  Studien  für  zwei  mir  von  Wallis 
in  London  bestellte  Bilder  zu  machen.» 

Diesen  Kun.sthändler  erwähnt  er  oft  in  seinen  spä- 
teren Briefen  als  eines  verständnisvollen,  ihm  persönlich 
sympathischen  und  auch  aufsein,  des  Künstlers  Interesse 
bedachten  Herrn. 

Wie  schwer  er,  mit  solchen  Aufgaben  im  Sinne,  das 
Augenleiden  trug,  geht  aus  jedem  der  folgenden  Schreiben 


L«op.  CftrI  Müller. 


f  kot.  r.  Banhumcl,  ■•■rkH. 


Orangen  Verkäuferin. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


75 


Ein  Kopte. 

(Christlicher  Nachkomme  der  allen   Aegyptcr.) 


hervor.  Wer  da  hört ,  dass  er  in  einem  Winter  etliche 
vierzig  Zeichnungen,  unter  denen  sich  auch  viele  aufs 
Sorgfältigste  ausgeführte  Compositionen  befinden  und 
daneben  noch  mehrere  grössere  Gemälde  vollendete, 
wird  es  kaum  glauben,  dass  er  langsam  arbeitete. 

Dies  zu  begreifen  fällt  doppelt  schwer ,  wenn  man 
bedenkt,  dass  er  während  jenes  Winters  keineswegs  fort- 
während sesshaft  in  Kairo  blieb,  sondern  ausser  mancher 
Fahrt  zu  den  Pyramiden  und  dem  Aufenthalt  in  Hei  wan  auch 
einer  Reise  in  das  Delta  mehrere  Tage  widmete.     Wäh- 


rend derselben  entwarf  er  zwei  schöne  Bilder,  die  den 
Markt  und  die  Moschee  des  Ibrahim  zu  Desuk  darstellen, 
eine  figurenreiche  Scene  aus  der  Messe  zu  Tanta,  das 
Beduinenzelt  und  den  Damm  zur  Zeit  der  Ueber- 
schwemmung,  eine  seiner  stimmungsvollsten  und  wahrsten 
Arbeiten. 

Auf  meine  Bitte  hatte  er  .sich  nach  Tanta,  einer 
grossen  Handels-  und  Wallfahrtstadt  im  Delta,  begeben, 
wo  sich  auf  den  drei  Messen,  die  zu  Ehren  des  hoch- 
angesehenen  arabischen    Heiligen    Sejjid   el-Bedawi    ab- 


11« 


76 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


gehalten  wurden,  bis  an  eine  halbe  Million  von  Muslimen 
zusammen  finden. 

Wenigstens  ein  Theil  des  munteren  Briefes,  den  er 
nach  seiner  Heimkehr  von  dort  aus  Kairo  an  mich 
richtete,  mag  hier  mitgetheilt  werden.  « Viele  Grüsse 
von  dem  Apotheker  Friedrich  aus  Tanta»  schreibt  er. 
« Er  denkt  Ihrer  Anwesenheit  in  Tanta  als  eines  Festes 
bei  seinem  einsamen  Fasten.  Ein  charmanter  junger 
Mann.  Dazu  wie 
mancher  Apotheker 
ein  Naturforscher, 
der  mit  den  geübten 
Händen  manches 
besser  erkennt  als 
der  stolze  Gelehrte 
vom  Fach  es  mit 
den  Augen  fertig 
bringt.  Sie  hatten 
Recht ,  mich  nach 
Tanta  zu  schicken. 
Ich  habe  Brauer- 
und Förster-,  Philo- 
logen- und  Friseur- 
congresse  gesehen, 
dass  aber  auch  die 
Priesterinnen        der 

Venus  Kongresse  abhalten,  erfuhr  ich  erst  hier.  Sie 
haben  gewiss  auch  darin  recht  gesehen.  Die  alte 
Festlust  von  Bubastis  übertrug  sich  auf  das  nahe 
Tanta.  Dank  für  die  Stelle  aus  dem  Herodot.  Und 
das  ist  ein  Treiben.  Man  möchte  sich  loo  Augen 
mehr,  und  hätte  man  sechs  Paar  Ohren,  acht  weniger 
wünschen.  Aber  die  Augen  haben  so  viel  zu  thun, 
dass  die  anderen  Sinne  ohnehin  abgesetzt  sind.  Eine 
hübsche  Zigeunerin  merkte,  dass  ich  sie  zeichnete  und 
schlug  die  Hände  vor  das  Gesicht.  Ich  versprach  ihr 
eine  Menge  Geld,  wenn  sie  mir  still  stehen  wolle,  aber 
sie  wies  es  unbändig  zurück.  Für  die  Hälfte  hätte  sie 
mir  mit  dem  besten  Danke  Alles  gegeben,  was  sie  sonst 
nur  zu  vergeben  hat.  So  mächtig  ist  das  Vorurtheil. 
Oder  ist  es  Aberglaube  oder  der  Koran?  Aber  was  ist 
diesen  Zigeunerinnen  Religion?  Ich  hörte  sagen,  sie 
wären  nicht  einmal  rechte  Anhänger  des  Propheten. 
Ein     Reisebeschreiber     erzählt*),     er     habe     arabische 


Fischauktion  zu  San.     (Tanii ) 


♦)  Es  ist  der  Däne  Niebuhr. 


Mädchen  im  Bade  überrascht.  Die  Mädchen  hätten 
laut  aufgekreischt  und  den  Hinterkopf  schamhaft  in 
die  Handmuscheln  versteckt.  Das  müssen  sie  so 
machen,  nachdem  sie  gewohnt  sind  diesen  Theil  des 
Kopfes  ängstlich  mit  dem  Schleier  zu  verbergen.  Eine 
Europäerin  hätte  wie  die  Venus  von  Medici  zuerst  den 
Busen  versteckt. .  .  .  Die  Araberinnen  sind  doch  kon- 
sequenter als  unsere  Balldamen d 

Das  Bild  nach 
Seite  68  zeigt  eine 
Strasse  von  Tanta 
während  der  Messe. 
Die  schönen  und 
vornehmen  Armbe- 
wegungen der  ägyp- 
tischen Frauen ,  an 
denen  Müller  so 
grosse  Freude  hatte, 
finde  ich  auf  diesem 
Bilde  bei  der  Zucker- 
rohrverkäuferin, der 
Krugträgerin  und 
Gauklerin  wieder. 
Auch  jede  andere 
Figur  verdankt  der 
lebendigen  Anschau- 
ung die  Entstehung,  doch  wurde  das  Bild  ganz  anders, 
als  er  anfänglich  beabsichtigt  hatte. 

«Es  ist  mir  nicht  gegeben, »  schreibt  er  am  i  5.  Sept. 
1 878  aus  Wien ,  « bei  dem  Vorwurfe  zu  einem  Bilde, 
und  sei  es  auch  noch  so  wohl  und  sorgfaltig  erwogen, 
zu  bleiben.  Bei  der  endgültigen  Ausführung  meiner 
Skizzen  verfalle  ich  immer  ins  Aendern,  in  ein  Aendem 
ohne  Ende.  Meine  Veränderungswuth  geht  dann  so  weit, 
dass  es  passieren  kann,  dass  sich  mir  aus  einem  Mekka- 
pilgerzug eine  Ansicht  Venedigs  oder  eine  Glet.'-cherland- 
schaft  entwickelt,  und  so  möglicherweise  auch  umgekehrt. 
Ich  habe  jetzt  für  sechs  Bilder  Kompositionsskizzen 
fertig  gebracht.  Lauter  Darstellungen  aus  dem  ägypt- 
ischen Volksleben ,  Bestellungen  für  London.  Wenn 
mir  das  Ministerium  den  Urlaub  zu  einem  Ausflug  nach 
Kairo  nicht  gewährt,  um  den  ich  es  ersuchte,  so  male 
ich  an  den  Bildern  in  Folge  Studienmangels  für  ver- 
schiedene Typen  u.  s.  w.  mindestens  ein  Jahr,  während 
ich  im  günstigen  Falle,  das  heisst  nach  einem  Abstecher 
nach  Kairo,  in  fünf  Monaten  fertig  werden  kann.  .  . 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


77 


Andere  Briefe  lehren,  wie  gewissenhaft  und  eifrig 
er  seine  Schüler*)  zu  fördern  bestrebt  war.  Es  machte 
ihn  glücklich,  einige  unter  ihnen  zu  besitzen,  deren 
Talent  und  Fleiss  ihnen  ein  schnelles  und  erfolgreiches 
Fortschreiten  gestattete.  Mit  den  Kollegen  stand  er  in 
angenehmer  Beziehung.     Einmal  schreibt  er: 

« Makart  ist  nun  auch  Profes.sor  an  der  Akademie 
und  übernimmt  während  der  Zeit  meiner  Abwesenheit 
die  Leitung  meiner  Schüler.  Makart  spricht  nicht  und 
kann   auch    nicht   sprechen ;    aber    malen    kann    er    wie 


In  einem  dieser  Schreiben  (1878)  gibt  er  seinem 
Verdruss  über  die  Annäherung  Deutschlands  an  Russland 
Ausdruck.  Daran  knüpft  sich  der  folgende  Satz  des 
auf  sein  deutsches  Blut  stolzen  Mannes,  der  auch  in 
vielen  Briefen  ausspricht,  wie  herzlich  er  sein  öster- 
reichisches Vaterland  liebt. 

«Kurz  nach  der  Schlacht  bei  Königgrätz>,  schreibt 
er,  «  als  die  Preussen  schon  vor  Wien  standen,  da  unter- 
nahm ich  und  mehrere  Freunde  von  mir  das  Wagnis, 
in  Wien    einen   deutschen  Verein  zu    gründen.     Es  war 


"^A.-'>:4di 


^ 


Ein  Zigeunerzelt. 


wenige.  Er  bringt  seine  Gedanken  auf  keine  andere 
Weise  gut  zur  Anschauung  als  mit  dem  Pinsel. 
Wer  aus  Makarts  Reden  auf  die  Bedeutung  dieses 
Mannes  schliessen  wollte ,  der  würde  ~  sich  gröblich 
täuschen.» 

Müller  verstand  es  dagegen,  seinen  Gedanken  auch 
in  Worten  Ausdruck  zu  geben.  Das  beweisen  besonders 
die  späteren  Briefe,  in  denen  er  über  sehr  verschiedene 
Dinge  redet;  nicht  selten  auch  über  Politik. 


Diejenigen,  auf  die  er  das  meiste  hielt,  waren  Bacher,  Delug, 
Dragon,  Hirschl,  Jovanowitz,  Krämmer,  Novak,  Ottenfeld,  Rothaug, 
Tötzelberger,  Swoboda,  Tichy,  Wilda,  Wenzel,  Zimmermann,  die 
Prinzessin  M.  A.  Reuss  VII.  und  seine  Schwestern  Marie  und  Bertha 
Müller. 


ein  rein  politischer  Verein,  und  die  Tendenz  desselben 
eine  rein  deutsche.  Wir  wurden  damals  viel  von  den 
Journalen  und  den  spezifischen  Wienern  angefeindet,  ja 
wir  wurden  geradezu  des  Hochverrathes  denunzirt. 
Nichts  konnte  uns  einschüchtern,  und  der  Verein  wuchs 
und  wurde  mächtiger  und  mächtiger.  Eine  grosse  und 
mächtige  Zeitung  verdankte  ihr  Entstehen  diesem  Vereine. 
Es  ist  die  «Deutsche  Zeitung».  —  Unser  Jubel  über  die 
deutschen  Siege  in  Frankreich  war  ein  unermesslicher.  s 
Was  aber  dann  eintrat,  will  ihm  nicht  mehr  gefallen. 
Er  empfand  eine  starke  Abneigung  gegen  Russland 
und  hielt  Oesterreich  für  den  natürlichen  Verbündeten 
Deutschlands.  Diese  beiden  wünschte  er  Schulter  an 
Schulter   und   Hand    in  Hand    zu    sehen    und   ist    auch 


12 


78 


DIE  KUNST   UNSERER  ZEIT. 


noch    Zeuge    des    Deutsch-österreichischen    Bündnisses 
geworden. 

Aber  seine  Briefe  enthielten  keineswegs  nur  ernste 
Betrachtungen.  Oft  fordert  der  dem  daseinsfrohen 
Künstler  eigene  Humor  munter  sein  Recht,  und  zwar 
nicht  nur  in  Worten,  sondern  auch  mit  der  Zeichenfeder. 
Einmal  bemerkt  er,  dass  Menschen ,  die  lange  mit 
bestimmten  Gattungen  von  Thieren  verkehrten ,  ihnen 
mit  der  Zeit  ähnlich  würden.  So  sei  ihm  ein  wunder- 
licher Kauz  begegnet,  der  sich  daran  ergötzt  habe,  ver- 
krüppelte Karpfen  zu  sammeln  und  endlich  selbst  mit 
einer  Karpfenschnute  «  gesegnet »  worden  sei.  Einer  der 
Halbneger,  die  seine  Dromedare  bedienten,  sehe  jetzt 
selbst  aus  wie  ein  Kameel,  und  dazu  zeichnete  er  mir 
den  Kameelkopf  und  daneben  den  jenes  Mannes.  Dies 
heitere  Bildchen  war  so  charakteristisch,  dass  ich  es  in 
meinem  « Aegypten »  wiedergeben  liess.  Ein  anderes 
mal  schildert  er,  wie  er  sich  von  Erkältungen  kurire, 
indem  er  in  «  die  Burg  »  gehe  und  sich  auf  den  billigsten 
Stehplatz  in  einem  dicken  Ueber- 
zieher  unter  die  Menge  mische.  Da 
gerathe  er  in  eine  heilsame  Tran- 
spiration und  gewöhnlich  verlasse  er 
das  Haus  im  Zustand  der  Genesung. 
Sein  Brief  aus  Tanta  ward  auch  in 
heiterer  Stimmung  geschrieben.  Ein 
zoologischer  Freund  hatte  ihn  ge- 
beten, ihm  in  Aegypten  Affengehirne 
zu  schaffen.  Nun  schreibt  er  in  einem 
Brief  an  die  Schwestern  (Kairo,  den 
30.  April  1875),  sie  möchten  dem 
Gelehrten  sagen ,    es  sei   wohl  mög- 


Das  Kammel  und  sein  Doppelgänger 


lieh  solche  zu  bekommen,  «es  sei  mir  aber  zu  um- 
ständlich, Affen  zu  kaufen,  um  sie  umzubringen,  ihrer 
Gehirne  wegen.  Aber  ich  will  ihm  ein  Negergehirn 
senden.    Mohren  werden  hier  täglich  hin  etc.»   .... 

Es  ist  ein  echter  Künstler,  ein  denkender,  pflicht- 
treuer, kenntnissreicher,  heiterer,  durch  und  durch 
sympathischer  Mensch,  der  mir  aus  diesen  Briefen 
entgegenschaut.  Die  an  die  Schwestern  gewähren 
Einblick  in  sein  tiefes  liebevolles  Gemüth.  Sein  Tod 
riss  in  ihr  Leben  eine  unausfüUbare  Lücke.  Die  Kunst 
beklagt  in  Leopold  Carl  Müller  einen  ihrer  edelsten  und 
berufensten  Jünger.  Wenn  von  seinen  Werken  dem 
Vaterlande  nur  wenige  erhalten  blieben,  so  trägt  er 
daran,  wie  gesagt,  keine  Schuld. 

Die  diese  Zeilen  begleitenden  Bilder  sollen  mehr 
derselben  zusammenführen,  als  je  auf  einer  deutschen 
oder  österreichischen  Ausstellung  zu  sehen  waren. 

Die     Reproduktionsweise,      die     der     Herausgeber 
wählte,    ist    diejenige,    welche    der    Verstorbene    selbst 
für  die  Wiedergabe  seiner  sorgfältig 
ausgeführten    Blätter    vorgeschlagen 
hatte. 

Ich  schulde  Müller  viele  genuss- 
reiche Stunden  und  wünsche  mich 
dankbar  dafür  zu  erweisen,  indem 
ich  das  Bild  seiner  in  jeder  Hin- 
sicht hervorragenden  und  liebens- 
werthen  Persönlichkeit  samt  einem 
Theil  derjenigen  seiner  Werke,  die 
er  im  Dienste  eines  auch  mir  werthen 
Zweckes  schuf,  einem  grossen  Kreis 
von  Kunstfreunden  zeige. 


'^Wl^^ 


Mariettes  Haus  in  Sakkara. 


^^ 


Kameelmarkt. 


Leop.  Carl  Müller. 


Pliot.  ¥.  flanfstaaocl.  Httncbeo. 


Damm  im  Delta  zur  Zeit  der  Uebersehwemmung. 


SCHLANGENSPIEL. 


SKIZZE 

VON 


MAX  BERNSTEIN. 


I  ine  Schlangenbändigerin  hatte  in  der  Stadt  ihre 
Künste  gezeigt.  Ein  Meistermaler  hielt  das  Bild 
fest :  das  Weib ,  nackt  beinahe,  das  Haupt 
zurückgebeugt,  ausgestreckt  den  vom  Thiere  umwundenen 
Arm    ihr  Auge  begegnend  dem  Auge  der  Schlange. 

«Ja,  so  sind  sie»  —  sagte  der  Graf,  als  die  Rede  auf 
das  Bild  kam.  «Sie  können's  nicht  lassen,  mit  den 
Schlangen  zu  spielen.  Eva  hat  damit  angefangen  und 
noch  das  letzte  Weib,  eh'  die  Erde  einfriert,  wird  das 
alte  Schlangenspiel  treiben. » 

Er  sah  dabei  die  Baronin  an,  die  ihm  den  Thee 
reichte.  Ihr  Mann  lächelte  vergnügt,  ohne  besonderen 
Grund  —  wie  gewöhnlich,  sein  breites,  gutmüthiges 
Lächeln.     «Ja,  so  sind  sie»    —   sprach  er  nach. 

Sie  -Streifte  mit  einem  flüchtigen  Blick  den  Maler, 
der  wortlos  in  seine  Tasse  starrte.  «  Was  meinen  Sie? » 
frug  sie. 

Er  sah  empor.  Sein  junges  Gesicht  röthete  sich 
ein  wenig.  « Ja  .  .  .  ich  weiss  nicht  viel  von  ...» 
Er  verstummte. 

Jetzt  lächelte  die  Baronin.  « Sie  müssen  mehr  in 
die  Welt,  gehen,  das  Leben  kennen  lernen.  Ein  Künstler 
muss  Alles  kennen,  nicht?» 

«Ja  .  .  .  ich  weiss  nicht  ...»  brachte  er  zögernd 
hervor.  Aber  seine  Blicke  glitten  über  ihre  schwarzen 
Haare,  ihre  zierlich  schlanke  Figur  und  blieben  haften 
in  ihren  Augen. 

« Die  Baronin  ist  eine  gute  Lehrerin »  ,  sagte 
der  Graf. 

«Nicht  für  Jeden » ,  entgegnete  sie  mit  einem  feind- 
seligen Blick  auf  den  Grafen. 

«  Nous  verrons  »  ,  sagte  dieser. 

Der  gute  Baron  lächelte  wieder  —  ohne  besonderen 
Grund. 


«Und  Marier»  frug  er  sich  auf  dem  Heimwege. 
Vor  ihm  stand  die  holde  Gestalt  seiner  Braut:  das 
Mädchen ,  das  seiner  wartete ,  daheim  in  dem  kleinen 
Städtchen,  wo  sie  miteinander  aufgewachsen  waren  als 
Nachbarskinder,  bis  er  auszog,  fort  in  die  grössere 
Stadt.  Da  wollte  er  die  Kunst  lernen,  für  sich  und  die 
Geliebte  eine  Zukunft  bauen.  Deswegen  hatten  sie  sich 
getrennt  —  vorher  aber,  aus  Herzenstiefen,  Treue  ein- 
ander gelobt.  Und  er  wusste,  dass  eher  ihr  Leben 
brechen  würde  als  ihr  Schwur,  dass  er  ihr  Ein  und 
Alles  war.  Mancherlei  Frauen  und  Mädchen  waren  ihm 
begegnet,  aber  Mariens  unschuldig  schönes  Bild  hatte 
in  seiner  Seele  gewohnt;  da  war  kein  Raum  für  die 
Versuchung.  Mit  heisser  Arbeit  rang  er  um  die  Kunst 
und  dabei  klang  es  immer  in  ihm ,  in  die  Gegenwart 
herüber  aus  kommender  Zeit,  wie  eine  leise  sommerliche 
Musik:   «Marie!  Marie!» 

So  brachte  er  sich  rasch  empor.  Sein  neuestes 
Bild  machte  Aufsehen,  man  sprach  von  ihm,  suchte  ihn. 
lud  ihn  ein.  Er  ging,  fast  widerwillig,  denn  ihm  lag 
nichts  an  der  Gesellschaft ;  aber  wohlmeinende  PVeunde 
erklärten  ihm,  dass  er  sich  nicht  selbst  im  Wege  stehen 
dürfe,  dass  er  Rücksichten  nehmen  müsse,  die  Leute 
nicht  kränken  solle  So  war  er  auch  in  das  Haus  der 
Baronin  gekommen. 

Es  ruhte  in  ihm  wie  ein  Vorgefühl  der  Welt,  so 
dass  nicht  leicht  irgend  etwas  ihn  befremdete.  Er  be- 
sass  eine  schnell  entscheidende  Empfindung,  womit  er 
in  Menschen  und  Dinge  sich  hineinfühlte.  Er  sah  bald : 
der  Baron  war  ein  unbedeutender  Mensch,  der  Graf  ein 
feiner  Egoist  von  klugen  Formen.  Und  die  Baronin? 
« Eine  kokette  Frau »  ,  hatte  er  sich  gesagt,  « weiter 
nichts». 

Doch  hie  und  da  ein  Blick,  eine  Geberde,  ein  Wort 
fiel  ihm  auf,    zog  ihn  an,   schien  etwas  Tieferes  zu  ver- 


13 


80 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


rathen.  Er  begann,  sie  eigenthümlich  zu  finden,  merk- 
würdig, räthselhaft.  Er  nahm  sich  vor  —  aus  rein 
künstlerischem  Interesse,  meinte  er  —  sie  zu  beobachten. 
Und  so,  leise,  ganz  leise,  hatte  ihr  Bild  sich  in  ihm  fest- 
gewachsen und  immer  stärker,  alles  andere  verdrängend, 

von  ihm  Besitz  genommen. 

*  * 
* 

Als  er  an  diesem  Abende  nach  Hause  kam,  fand 
er  einen  Brief.  Mariens  Handschrift.  Sonst  waren  ihm 
diese  Briefe  eine  ersehnte  Freude,  mit  eiliger  Hand  hatte 
er  sie  geöffnet,  langsam  sie  durchgekostet;  aus  jedem 
Wort  hatte  ihr  gerader  Sinn,  ihr  gutes  Herz,  ihre  reine 
Neigung  zu  ihm  gesprochen.  Nun  setzte  er  sich  hin, 
den  uneröffneten  Brief  in  der  Hand ,  um  an  Marie  zu 
denken.  Ja,  er  wollte  sich  einmal  zwingen,  an  sie,  nur 
an  sie  zu  denken.  Aber  nicht  mehr  wie  eine  Freude, 
nur  noch  wie  einen  Vorwurf  empfand  er  diesen  Ge- 
danken —  und  wie  ein  Hindernis.  Das  Bild  erblasste 
bald  und  ein  anderes,  mit  lebendigen  Farben,  trat  an 
seine  Stelle. 

In  einem  matthellen  Gesichte  seltsame  Augen.  Es 
liegt  über  ihnen  wie  schieiernder  Dämmer,  unbestimmt, 
verbergend.  Doch  manchmal  —  plötzlich  —  zieht  es 
sich  enthüllend  hinweg  und  ein  dämonischer  Strahl  trifft 
heraus.  Jenes  Meisterbild  kam  ihm  wieder  in  den  Sinn : 
die  Bändigerin ,  der  haftende  und  haltende  Blick  des 
kühnen,  starren  Auges,  in  das  alles  Leben  sich  ge- 
flüchtet hat  und  das  die  Schlange  bezwingt. 

In  ihren  Blicken  aber  —  schauernd  dachte  er  daran 

—  erschien  bisweilen  nicht  nur  Herrschaft,  sondern  eine 
sanfte,   schmeichelnd  werbende  Gewalt.     Als  ob  sie  — 

—  nun  ja:  als  ob  sie  ihn  liebe!  Wenn  es  möglich 
wäre  —  wenn  sie  jemals  sein  werden  könnte,  nur  ein 
Mal,  nur  ein  einziges  Mal  1  Ein  heisser  Strom  des  Ver- 
langens überfluthete  ihn.     Er  glaubte  zu  ersticken. 

Er  sprang  auf,  trat  an's  Fenster  und  sah  in  die 
kommende  Nacht  hinaus.  Jetzt  erst  merkte  er,  dass  er 
Mariens  Brief  noch  nicht  geöffnet  hatte.  Als  hätt'  es 
Jemand  beobachtet ,  so  erschrak  er.  Es  überkam  ihn 
wie  Scham.  Er  schüttelte  sich,  dehnte  sich  stolz:  «Noch 
bin  ich  mein  eigener  Herr !  »     Aber  es  war  ihm,  als  sei 

ein  Netz  über  ihn  geworfen,  unentwirrbar,  unentrinnbar. 

♦  * 

Sie  dachte  sich  nichts  Böses  dabei.  Sie  spielte, 
wie  Kinder  spielen,  ohne  Zweck  und  Absicht,  des  Spielens 
willen,     Sie   nahm   ihn,   weil    er   ihr  gefiel.     Es  war  so 


etwas  Unberührtes  in  ihm  —  das  lockte  sie,  es  zu  kennen 
zu  besitzen  und  zu  zerstören.  Ihre  kleinen  Hände  mussten 
immer  ein  Spielzeug  haben.     War  das  eine  zerbrochen 

—  ein  anderes. 

»  * 

* 

Im  Atelier.  Er  hatte  Pinsel  und  Palette  weggelegt. 
Sie  sass  in  dem  grossen  altprächtigen  Lehnstuhl.  Die  unter- 
gehende Sonne  strömte  durch   das  hohe  F"enster  herein. 

Er  sprach  nicht,  denn  er  fühlte,  dass  er  jetzt  die 
Lippen  nicht  öffnen  dürfe,  wenn  er  sich  nicht  verrathen 
wollte.  Sein  Herz  war  übervoll,  sein  ganzes  Wesen 
gespannt  bis  zum  Aeussersten,  die  verhaltene  Leiden- 
schaft raste  in  seinem  Innern  und  rüttelte,  wie  eine 
gefangene  Bestie  an  den  Gittern  des  Käfigs. 

«Nun  .  .  .  Sie  .sind  heute  nicht  sehr  unterhaltend", 
sagte  sie.  Die  Stimme  kam  zu  ihm  durch  den  Dämmer 
wie  schmeichelnder  Flötenton  in  der  Nacht.  Berauschende 
Musik  durch  die  Stille. 

Als  er  keine  Antwort  gab,  fing  sie  an,  leise  zu 
singen.  Er  stand  unbewegt,  lauschend.  Seine  schweren 
Athemzüge  waren  fast  hörbar.  Plötzlich  ging  ihr  leises 
Singen  in  ein  stilles  fröhliches  Lachen  über,  das  ihn  zu 
verspotten,  herauszufordern  und  zugleich  zu  liebkosen 
schien. 

« Gnädige  Frau »    —    sagte  er   mit  hebender  Brust 

—  dann  brach  er  ab. 

Mit  zärtlichem  Spott  tönte  es  zurück :  «  Gnädiger 
Herr  ? » 

Es  war  finster  geworden.  Er  sah  nur  noch  die 
Umrisse  ihrer  Gestalt,  glaubte  ihre  Augen  durch  das 
Dunkel  leuchten  zu  fühlen.  Da  stürzte  er  zu  ihren 
Füssen,  sie  hauchte  «endlich»,  er  zog  sie  an  sich.     Die 

Sonne  war  untergegangen. 

*  * 

* 

Zwei  Monate.  Heimliches  Glück.  Sie  genoss  — 
er  schwärmte.  Weit  von  ihm  lag  Alles,  was  bis  dahin 
der  Besitz  seiner  Seele  gewesen  war.  Er  lachte  über 
die  Ideale,  die  er  gehegt  hatte.  Idealer  Träume, 
thörichte  Träume !  Hier  war  die  heisse  Wirklichkeit, 
War  sie  gut  oder  schlimm.-  Er  frug  nicht.  Gab  es 
eine  Zukunft?  Er  frug  nicht.  Gegenwart  war  alles, 
Glück,  Leidenschaft,  Rausch.  Wenn  ihr  Blick  auf  ihm 
haftete,  so  forschte  er  nicht  weiter.  Er  war  in  ihrem 
Bann. 

Und  dann  kam  der  Tag,  wo  sie,  harmlos  wie  ein 
Kind,  das  Spielzeug  zerbrach. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


81 


Sie  suchte  mit  gleichgültiger  Neugier  im  Atelier 
herum  und  fand  im  Winkel  einer  Schublade  eine  Photo- 
graphie. Früher  einmal  hatte  er  seiner  Braut  erwähnt. 
Sie  errieth  sogleich. 

«Ah,  sieh  mal,  das  ist  sie  wohl?» 

«Wer?*   frug  er  zurück,  ohne  hinzusehen. 

«  Deine  Braut  ? » 

«Jaj  das  ist  sie»,  erwiderte  er.  Nur  ein  flüchtiges 
Erschüttern  in  seiner  von  der  Leidenschaft  hartgeglühten 
Seele.  « Gieb »  —  sagte  er  dann.  Er  nahm  ihr  das 
Bild  aus  der  Hand  und  wollte  es  zerreissen. 

Sie  hielt  seine  Hand  auf.  «Aber  warum 
denn  ? » 

«  Es  ist  ja  doch  aus ! »   sagte  er. 

«  Aus  ?     Was  ? » 

«;  Meine  Verlobung  ist  längst  aufgelöst ,  selbstver- 
ständlich — » 

€  Aber  warum  denn  ?  » 

Sie  sprach  die  Frage  ganz  ruhig.  Es  traf  ihn  wie 
ein  Schlag. 

«Warum?»  wiederholte  er.  «Du  glaubst  doch  nicht, 
dass  ich  jetzt  noch  —  » 

«  Aber  warum  nicht  ? » 

«  Du  !  T>  schrie  es  aus  ihm  heraus. 

«Ich  sage  ja  nicht,  dass  du  sie  in  vier  Wochen 
heirathen  sollst.  Später!  In  einem  halben  Jahr,  in 
einem  Jahr  —  immer  wird  es  zwischen  uns  doch 
nicht  —  t) 

Er  fasste  ihre  Hand  mit  einem  verzweifelten 
Druck. 

« Du  thust  mir  weh »  ,  sagte  sie.  « Was  fällt  dir 
denn  ein  ?     Lass  mich  los  1  » 

Er- schleuderte  ihre  Hand  von  sich.     «Geh!» 


Sie    wollte    etwas    erwidern 
«  Geh! » 


er   wiederholte  aber: 


Als  sie  nach  Hause  kam,  fand  sie  den  Baron  und 
den  Grafen  Karten  spielend. 

« Sie  sind  rasch  gegangen,  Baronin  ? »  sagte  der 
Graf.  «  Sie  sehen  ein  wenig  echauffirt  aus.  Oder  eine 
Gemüthsbewegung  ? » 

« Sie  rathen  vortrefflich  » ,  erwiderte  sie.  « Mein 
Compliment! » 

«Es  ist  das  erste  Mal,  dass  Sie  mich  anerkennen», 
sagte  der  Graf.     «  Aber  ich  habe  es  ja  gewusst.  t> 

Sie  sah  den  Grafen  freundlich  an.  «Ja,  Sie  sind 
ein  kluger  Mann.    Sie  können  errathen  und  schweigen. » 

«Gewiss»,  sagte  er. 

Der    Baron    lächelte   —    ohne    besonderen    Grund. 

Und  von  Neuem  begann  das  Spiel. 

*  * 

* 

Unterdess  sass  der  Maler  in  seinem  Atelier,  vor 
ihrem  Bilde.  Er  starrte  hinein:  «Ist  es  möglich?»  Es 
zog  an  ihm  vorüber,  wie  alles  geschehen  war  und  was 
er  besessen  und  verloren.  Er  fühlte  es:  die  Jugend 
seiner  Seele  war  dahin.  Der  reine  frohe  Glaube  war 
todt,  der  Frühlingsglaube  an  Liebe  und  Glück,  Schön- 
heit und  Kunst ,  das  Weib,  das  Ideal.  Eine  verwelkte 
Blüthe  —  das  war  alles. 

Einen  Augenblick  dachte  er  daran,  aus  dem  Leben 
zu  gehen.  Dann  sagte  er  sich:  «Wozu?  Das  wäre 
Unsinn.     Alles  ist  Unsinn.  » 

Und  aus  seinem  entgötterten  Herzen  kam  ein  bitteres 
Lachen,  als  seine  Gedanken  auf  jenen  ersten  Abend 
zurückgingen,  wo  es  begonnen  hatte,  und  er  des  Wortes 
sich  erinnerte:  Schlangenspiel 


-7fy 


13* 


Radirungen  und  Bilder 


DES 


FREIHERRN   L.  VON  GLEICHEN-RUSSWURM. 


VON 


HERMANN    HELFER  ICH. 


M-: 


ran  gestatte ,  dass  wir  zur  Eröffnung  einige 
Gieichen'sche  Scenen  zu  skizziren  suchen.  .  .  . 
Kissingen  1882.  Ein  Flüsschen  mit  Win- 
dungen, niedriges  Buschwerk  auf  der  einen  Seite ,  ein 
Baum  auf  der  andern  Seite  legt  seine  Aeste  herüber, 
vorne  ist  eine  Grasscholle  mit  etwas  Schilf,  hier  ist  ein 
Kahn  im  Abstossen  begriffen,  dessen  Schiffer  die  Stange 
hält  und  uns  anblickt,  während  sein  Gesell  das  Netz 
mit  den  Fischen  aufzieht,  barfuss ,  da  er  bereit  ist ,  in 
die  Fluth  zu  springen.  Hinten  schliessen  eine  Wiese  mit 
niedrigem  Buschwerk,  danach  niedrige  Hügel  die  Scenerie 
ab :  es  ist  der  Stoff  in  einer  Radirung  niedergelegt,  aber 
man  ahnt  sehr  kräftige,  entschiedene,  deutliche  Farben, 
eine  durch  Wucht  und  Natürlichkeit,  wie  sie  die  engli- 
schen Landschafter  ausgezeichnet  hat,  hervorstechende 
Individualität.   ... 

Ein  Hirt,  dessen  Schafe  im  Mittelgrund  halten,  vom 
Rücken  gesehen ,  in  einer  Landschaft  im  Höhenformat, 
in  die  rechts  die  Ausläufer  eines  Busches  hineinragen, 
vorne  ein  weisser  belaubter  Stamm  sich  erhebt,  dem 
am  Rand  eines  Wässerchens  zwei  starke  und  hohe 
Bäume  mit  mehr  Astwerk  als  Blatterschmuck  folgen. 
Der  Hirt  steht  in  der  Mitte.  Er  wirkt  ganz  einfach, 
doch  voller  Empfindung.  (Dies  Thema  hat  der  Künstler 
auch  in  einem  Oelbilde  behandelt.)  Die  Empfindung 
der  Scene  ist  einfach,  deutsch  und  eigenthümlich.  Sie 
zeigt  eine  Anschauung  der  Landschaft  in  dichterischem 
Sinne,  fast  pathetisch  stark  und  doch  ländlich.  Ein 
kräftiges  Wehen  der  Luft  dringt  zu  uns,  Athem  der 
Gesundheit ;  es  ist,  wie  wenn  ein  Gutsbesitzer  dichtet,  der 
auf  seinem  Grund  und  Boden  Augen  hat,  den  poetischen 
Stoff  zu  sehen ,    ihn  formt  und  ihm  nur  das  unumgäng- 


lich Nöthige  von  Abänderung  angedeihen  lässt.  welches 
die  Kunstform  verlangt.  .  .  Dies  ist  ein  Pastorale.  .  .  . 
Später  als  diese  Arbeit  enstandene  Werke  in  Oel 
haben  nun  eine  noch  feinere  Tönung  aufzuweisen,  noch 
mehr  Helligkeit,  dabei  Weichheit,  und  Brio ,  mehr, 
man  möchte  sagen,  Jugend  und  Frische  der  Mache.  Sie 
entwickeln    das    Bild    dieses    Meisters    auch    nach    der 


Uci  Ki&äingen. 


!■■     ■.   Ml    Lsiil.i.;!,. 


t'{ii>t-  I-     Il:thf4t4en-4l,   MiknclKi 


Sehlangenspiel. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


83 


Richtung  des  für  Maler  interessanten  Theiles  hin,  der 
Künstler  hat  sich  technisch  interessanter  ausgebildet, 
und  jetzt  schreitet  er  auch  darin  an  der  Spitze  unseres 
Vorwärtsgehens,  wie  er  bezüglich  des  Inhaltes,  bezüg- 
lich der  Vollstän- 
digkeit des  Gebo- 
tenen auf  die  innere 
Bedeutung  hin,  be- 
züglich der  Zusam- 
menfassung eines 
Landschaftscharak- 
ters, in  der  Coni- 
position  und  der 
Durchseelung  und 
Einheitlichkeit  im- 
mer weit  vor  den 
Dutzendmalern  ge- 
standen hatte. 

Und  dann,  wenn 
er  den  im  Tech- 
nischen brillanten, 
aber  in  der  lyr- 
ischen Veranlagung 
schwächeren  meist- 
genannten Malern 
der  «  neueren  Rich- 
tung »  früher  im 
Technischen  unter- 
legen gewesen,  aber 
sie,  als  er  noch 
naiv  war,  durch 
seine  Natürlichkeit 
und  Perspnlichkeit 
um  Haupteslänge 
überragte ,  so  ist 
er  ihnen  jetzt  auch 
im  Technischen, 
innerhalb  des  land- 
schaftlichen Ge- 
bietes, an  die  Seite 
gerückt. 


hinter    der    Rasenhöhe    schickt    seinen    Rauch    in    die 

Luft.  .  .  . 

Um   ein  Jahr  früher  —  und  man  bemerkt  das  auch 

—  ist  ein  Blatt,  über  ein  Motiv  aus  Bonnland  in  Weimar 

ausgeführt ,  ent- 
standen ,  welches 
eine  Landstrasse 
zeigt,  rechts  einige 
Bäume  und  ein 
Haus ,  auf  dem 
Weg  zwei  Kühe, 
links,  die  Höhe 
hinauf  den  Schäfer- 
burschen.  der  sich 
von  der  Luft  ab- 
setzt ,  mit  seinen 
Schafen. 

Im  Hintergrunde 
der  Chaussee  wer- 
den zwei  Kühe 
weitergeführt. 

Dies  Blatt  ist 
noch  mehr  zeich- 
nerisch ,  während 
das  vorher  be- 
sprochene schon 
recht  radirungsge- 
mäss  getönt  war. 
Das  Blatt  von  1 877 
zeichnet ,  erzählt 
und  erinnert  an  die 
deutsche  Behand- 
lung voll  zierlicher 
Details  und  erfreu- 
lich in  seiner  Fülle 
von  Beobachtetem 
und   Zusammcnge- 


Der  Schäfer. 


tragenem.  Es  ist 
noch  ohne  das  Be- 
streben, die  Natur 
in  dem  Verhältniss 

Rein  idyllisch  muthete  noch  ein  sehr  liebenswürdiges  ihrer  Töne  nachzuahmen;  das  fällt  ganz  fort  —  wie 
Blatt  von  1878  an.  Ein  Schäfer  geht,  von  .seiner  Heerde  auch  bei  Ludwig  Richter.  (Immerhin  ist  das  Blatt 
gefolgt,  zum  Bachrand  nieder;  Steine  sind  über  den  schon  ein  guter  Anfang  und  zeigte  auch  für  eine  Art, 
Bach  als  Brückcheh  gelegt;  Weiden  und  andere  die  Gleichen  später  gar  nicht  mehr  pflegen  mochte, 
Bäume  sprossen  aus  der  Niederung.     Ein  Dorfhäuschen      viele  natürliche  Veranlagung.) 


Motiv  aus  Bonnland  von   1S77. 


Eine  Erzählung  wie  dieses  Blatt,  in  der  Behandlung 
auf  Ton  hin  indessen  bereits  den  Fortschritt  von  1878 
(der  uns  etwas  französisches  zu  haben  scheint)  mit  einer 
mehr  der  deutschen  Anschauung  gemässen  Bildabrundung 
combinirend,  ist  das  Blatt  von  1 879 :  der  Ausgang  eines 
Waldes,  in  Breitenformat,  wo  wir  in  die  freiwerdende, 
vor  uns  blauende  Lichtung  hinausblicken,  von  welcher 
sich  die  Silhouetten  zweier  Personen  im  Walde,  die  auf 
einem  Wagen  den  Weg  nach  aussen  mitten  durch  den 
Wald  fahren,  absetzen. 

Wie  weit  dann  von  solchen  Blättern  der  wenn 
auch  bereits  malerischen,  doch  frühen  Entwicklung  die 
gesteigerten,  von  genialem  Schwung  und  Erfindung  ersten 
Ranges  zeugenden  Blätter  verschieden  sind,  aus  des 
Künstlers  jetzigen  Blüthejahren,  unter  ihnen  das  zwischen 
deutschen  Arbeiten  ganz  unvergleichliche  Blatt:  «Auf 
der  Weide»,  wo  auf  einer  Wiese,  die  in  Wenigem 
charakterisirt  ist,  eine  Kuh,  fressend,  von  einer  Menschen- 
gestalt   in    mächtiger    Anstrengung    zurückgezerrt    dar- 


gestellt, eine  prächtige,  monumentale  Gruppe  ergibt,  — 
bei  aller  im  höchsten  Grad  unvorgesehenen,  malerischen 
Wirkung,  —  das  im  Einzelnen  zu  verfolgen,  wird  nur 
dem  möglich,  der  diese  Blätter  der  jetzigen  Blüthejahre 
in  Originalen  vor  sich  liegen  hat  —  denn  die  Kühnheit 
ihrer  Behandlung  ermöglicht  nicht,  sie  auf  photomecha- 
nischem Wege  für  unsere  Leser  zu  reproduciren. 

Gleichfalls  ausserordentlich,  ein  Vorgang  in  wunder- 
voll schillerndem  Lichte  mit  höchster  Feinheit  ausgeführt, 
ist  eine  Frau  im  Korn,  hinten  Hügel;  ein  Blatt,  für  das 
wir  gleichwerthige  Mitbewerber  vergeblich  in  deutschen 
Ateliers  suchen  würden.  Es  gibt  keine  radirten  Land- 
schaftsbilder von  deutschen  Meistern  unserer  Zeit,  die 
mit  diesen  Blättern  in  Vergleich  kommen  könnten.  Sie 
sind  an  Schwung  und  echt  malerischer  Behandlung  unter 
allen  deutschen  Landschaftsradirungen  unserer  Zeit 
unerreicht.  (Unsere  Abbildung  hier  gibt  von  der  Original- 
radirung  kaum  so  viel  wie  von  einem  glänzenden 
Orchesterstück    ein  matter  Klavierauszug  geben  würde.) 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


85 


Prachtvoll  in  der  Empfindung,  im  Ensemble,  in 
Kraft  und  Männlichkeit  des  Tones  ist  auch  jenes  Blatt 
aus  gleicher  Epoche,  wo  das  Licht,  das  über  dem 
Hügel  auflebt  und  sich  rundet,  die  Luft  und  die  drei 
Bäume  ernst  und  gross  sind,  —  eine  enorme,  einfache 
Kraft  liegt  in  dem  Original  dieser  Radirung,  auf  welcher 
rechts  ein  Schäfer  mit  seinem  Hunde  Wache  haltend 
ausblickt    und   von    dessen  Wiedergabe    in  unserm  Heft 


in  den  Bäumen  über  dem  Wasser:  die  Vögel  glauben 
wir  zu  hören  in  dem  Baumschlag  vor  der  hellen  Luft 
(ohne  dass  ein  Vogel  gezeichnet  ist) ,  so  wie  wir  das 
Wasser  schwanken  und  fluthen  sehen. 

Das  « Brücke  bei  Kissingen  t>  bezeichnete  Blatt 
zeigt  sehr  starkes  Licht,  und  die  Personen  auf  der 
Brücke  bewegen  sich,  tummeln  sich  im  Lichte ;  unter 
ihnen    sehen   wir  unter  dem    Brückenbogen   hindurch   in 


Aus  dem  Walde  von   Fontainebleau. 


wir  dasselbe  wie  vom  zuvor  besprochenen  Blatte  sagen 
müssen.  .Bei  dem  « Park  von  Charlottenburg  »  benannten 
ausgezeichneten  Blatte  des  genialen  Künstlers,  ist  ein 
eigenthümliches  Fluthen  und  Wallen  und  Reflectiren  in 
Laub  und  Wasser  das  Excellente,  hinten  sieht  man 
Gras  und  Ferne,  vorne  zwei  Männer  an  dem  Rande  des 
Wassers  hingehend,  unter  den  Bäumen,  die  in  ihrem 
impressionistischen  Ausdrucke  Leben,  Luft  und  Beweg- 
ung haben.  Es  ist  dies  Blatt  eines  der  schönsten  und 
kühnsten  des  Künstlers.  Das  Wasser  wechselt  Farben 
und  Schatten  vor  unseren  erstaunten  Blicken,  welche 
gewähnt  hatten,  dass  solche  Wechsel  empfinden  zu 
lassen,  nur  die  lebendige  Natur  selbst,  nicht  aber  die 
Kunst  vermöchte;  das  Wasser  lebt  ganz  merkwürdig 
fascinirend ;  und   dann  ist  noch  ein  Klingen  und  Singen 


die  helle  Weite  und  kräftig  hebt  sich  ringsum  das  Laub 
der  Bäume  von  der  starkgefärbten,  mit  leuchtenden 
Wolken  durchsetzten  Luft  ab. 

Eine  andere  Arbeit  giebt  die  haarscharfe,  klarkalte 
Wirkung  einer  Baumlandschaft  mit  viel  Zweigen  in 
der  Luft. 

Eine  andere  Landschaft  hat  weichen ,  <  tonigen  > 
Charakter  und  hat  als  Staflage  Rinder,  die  mitten  im 
Bilde,  in  glücklichster  Composition,  von  zwei  Männern 
in  einer  Hügelfurche  dahingeführt  werden ,  nach  oben 
vom  Hügel,  nach  unten  von  Baumschatten,  Baumschlag 
eines  Gesträuches  und  dazwischen  einem  in  Absätzen 
niederfliessenden  Wasserlauf  umgeben. 

Ein  allerliebstes  Blatt  aus  dem  Jahre  1878,  das  uns 
schon    ein    .so    günstiges    Ergebniss    zeigte,    bringt    die 


86 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Darstellung    eines    Wasserrandes    mit   zwei    Kühen    und 
einer    Figur,     —     das    Wasser    spiegelt    sie    und    die 
Luft,    —    rechts   und    links  sind  Weiden  und  niedriges 
Buschwerk ;  es  ist  eine 
allerliebste,  jugendliche 
Arbeit,    und    eine   mit 
allen  Eftecten  des  «  Hell- 
dunkels »       behandelte 
Landschaft     aus    Fon- 
tainebleau      lässt      da- 
gegen   die    Erinnerung 
zu  jenen  grossen  Mei- 
stern, die  wir  die  Maler 
von   1830  nennen,   zu- 
rückgehen, jenen  Class- 
ikern     der     modernen 
Landschaft,    zu   denen 
auch     Millet     gehörte, 
der       der      ländlichen 
Figur       insonderheit 
so      machtvollen     und 
grossen  Ausdruck  ver- 
liehen   hat.      Wie    ein 
Millet,    für   die  Radir- 
ung    verändert ,     dem- 
nach  in   jenes   Weich- 
Melancholisch  -  Traum- 
hafte gezogen,  das  für 
Radirung    ein  so  pass- 
endes   Bette     ist    und 
in    der  Oelmalerei    be- 
sonders    der     neueren 
Schule    der   Holländer 
ihren  Reiz  und  Werth 
gegeben  hat,  wirkt  auf 
uns  das  Blatt  Gleichens, 
das  eine  Frau  mit  einem 
Korb  zeigt,    die  einen 
Weg     in     nur     ange- 
deutetem Terrain,   den 

Kopf  zu  Boden  gesenkt,  dahingeht  —  einen  endlosen 
Weg,  mühselig,  traumhaft  —  als  technisches  Stück  be- 
trachtet eine  Radirung  von  viel  «Sammt»  im  Ton,  sehr 
weich,  sehr  musikalisch  tonschön.  Es  ist  das  Traurige 
des  Gegenstandes  wohl  gewahrt,  doch  in  richtiger  Er- 
kenntniss    der    Dinse    dieser  Stoff   zu    keinem    anderen 


Landschaft  aus  Bonnland. 


Endzwecke  behandelt  worden,  als  zur  Ausbeutung  eines 
rein  malerischen  Gedankens,  zur  Gewinnung  eigenartiger 
Licht-  und  Schattenreize.  .  .  . 

Es  zeigt  sich  auch 
hier  die  natürliche 
Grundlage  aller  Schöpf- 
ungen Gleichens;  wohl 
ist  er  durch  die 
«Meister»  hindurchge- 
gangen, hat  Corot  wohl 
verstanden,  hat  Duprc 
gesehen ,  hat  sich  für 
Millet  enthusiasmirt : 
aber  wie  der  Saft  in 
den  Stämmen  steigt, 
auf  ganz  natürliche 
Weise  ist  die  Poesie 
der  Natur  ihm  sichtbar 
und  freier  und  immer 
freier  von  ihm  gestaltet 
worden,  —  bis  er  jetzt 
so  frei  und  selbständig 
dasteht,  die  zahm  und 
mühselig  schaftenden 
deutschen  Landschafter 
der  Schule,  und  mit 
ihrem  Studienfleisse  und 
ihrer  gebundenen  Hin- 
gabe an  das  Modell 
auch    die    nur    feinen, 

«  geschmackvollen  » 
Meister  seiner  Richtung 
als  ein  souveräner,  die 
Natur    neugestaltender 
Künstler,  überragend. 

Jugendfrisch  und 
grossartig  ist  jetzt 
das  Schaffen  dieses 
Meisters. 

In  seinen  neuesten 
Arbeiten  in  Oel,  in  diesen  Arbeiten,  in  denen  meistens 
nichts  das  Motiv  giebt,  als  ein  Fltwas  von  Frische, 
welches  durch  ein  Gelände  geht,  oder  ein  Grün,  das 
entzückt,  ist  eine  köstliche  Unbefangenheit  und  wirk- 
liche Versenkung  in  die  Naturschönheit  in  einfach 
ländlicher   Gestalt     —     und   mit   diesen    Arbeiten,    die 


CO 


0» 


E 


DIE  KUNST  UNSERKR  ZEIT. 


87 


Studie  zum  Schäfer. 

unerhört  neu ,  weil  voll  der  natürlichsten  Frische  sind, 
erinnert  uns,  ohne  dass  wir  das  genauer  erklären 
könnten,  Herr  von  Gleichen  an  manches  Gedicht  von 
Detlev'  von  Liliencron.     Z.  B.  : 

Ueber  das  Knicktlior  mich  lehnend, 

Pendelt  lässig  mein  Stock 

In  den  übereinander  gelegten  Händen 

So  dicht  steh'n  mir  die  nächsten   Aehren 

Des  bald  sensendurchsurrten   Roggenfeldes, 

Dass  sie  die  Stirn  mir  kitzeln. 

Schon  bräunen  sie  sich; 

Hell  doch  sticht  ihre  Farbe  ab 

Gegen  den  grünen  Heckenzaun, 

Gegen  den  umgrenzenden  Wall, 

Den  rother   Mohn, 

£laue  Kaiserblumen, 

Gelber  Löwenzahn, 

Weisse  Camillen 

In  bunter  Malerei 


Prächtig  Uberflochten  haben. 
(Wahrlich,  ein  reizender  Kranz 
Für  das  grosse   Kornviereck  ; 
Dankbar  gewunden 
Dem  künftigen  Segen.) 
Wie  still  es  ist ; 
^  Wie  die  Lerche  jubelt. 
Wie  die  scheue  Wiesenralle  schnarrt. 
Friede,  deine  Himmelsfahne 
Hängt  breit  und  ruhig 
Uebcr  meinem  Haupte. 

Man  müsste  das  ganze  Buch  der  Gedichte  aber 
abschreiben.  Es  sind  nicht  im  mindesten  Aehnlichkeiten 
im  einzelnen,  aber  die  Naturstimmung,  die  so  sehr  viel 
näher  der  Natur  als  früher  gekommene  Naturfreude 
verbinden  für  uns  diese  Gedichte  und  diese  Bilder;  bei 
beiden  lag  für  die  Autoren  das  höchste  Gefühl,  die 
höchste  Wonne  in  der  Natur;  in  der  Natur  zwischen 
einer  Hecke  und  einem  Fliederbu,sche,  bei  blühenden 
Apfelbäumen,  bei  rothen  und  blauen  Blumen;  unter 
dem  Sommerhimmel,  in  der  morgenlichten  Luft  fühlen 
sie  sich  wohl: 

Der  Hahn  kräht  wieder  und  ich  lausch'   im  Garten  .  .  . 

.\uf  Wiesen  dampft  und  wogt  und  zieht  der  Xebel 

Und  hüllt  mich  ein  und  lässt  mich  wieder  los, 

Und  steigt  und  zischt  sich  von  der  Sonne  frei. 

Erathmend  holt  die  Brust  sich  klare  Ströme. 

(Im  stark  betliauten  Netze  tlickt  die  Spinne,) 

Und  hundert  Lerchen,  mit  gespreizten  Schwänzchen, 

EntschUtteln  ihren  Flügeln  Nacht  und  Reif, 

Der  kecken  Trillerkehlchen  Tirili 

Dem  frischen  Wandrer  um  die  Mütze  schmetternd. 

Und  die  Poesien  über  das  Getreide !  Dieses  ganz 
neue  Jauchzen  über  die  Schönheit  des  Ackers !  Des 
Feldes  !    Der  starken  Farben !    Es  ist  etwas  ganz  Neues. 

Aber  lassen  wir  den  Vergleich  mit  einem  Dichter 
der  neuesten  Zeit  und  wenden  uns  einer  sehr  schönen 
Recension  eines  der  wenigen  verständnissvollen  Kunst- 
kritiker über  Gleichen  zu,  welche  folgendermassen  lautet: 

Nur  der  Maler  kommt  auf  die  Nachwelt  mit  seinen 
Werken,  dessen  Arbeit  die  Kraft  innewohnt,  ihn  denen 
als  einen  Bekannten  vorzustellen,  die  gar  nichts  von 
ihm  wissen.  Sie  empfinden  im  Anblicke  .-meiner  Werke, 
das  ist  Blut  von  unserm  Blute,  Bein  von  unserem.  Es 
genügt  bei  einem  Kunstwerke  nicht  blos  die  ästhetische 
Befriedigung,  unsere  eigene  Existenz  muss  eine  gewisse 
Vermehrung  aus  ihm  ziehen.  Man  muss  sich  sagen,  es 
würde  eine  Lücke  in  uns  entstehen,  wenn  dieses  Werk 
fehlte.  Ich  kenne  einen  Maler  (hier  ist  Herr  von  Gleichen 


14 


88 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Fränkische  Landschaft. 

gemeint),  der  die  Gabe  besitzt,  das  festzuhalten,  was 
den  Blick  fesselt,  wenn  er  über  den  gleichgiltigen  Wechsel 
sanfter  Höhen  und  Senkungen  hinfliegt,  die  den  Charakter 
Thüringens  ausmachen.  Die  dort  herrschende  Mischung 
von  Feld  und  Wald  giebt  er  wieder,  im  Frühling,  im 
Sommer,  im  Herbste,  in  den  letzten  Tagen  des  Herbstes, 
als  ginge  und  stände  man  da  und  genösse  die  Frische 
und  die  Einsamkeit  der  Gegend.     Er  verleiht  all  diesen 


Dingen  Sprache.  Er 
weiss  sie  in  Radirungen 
und  Aquarellen  ebenso 
flüchtig  niederzuschrei- 
ben, wie  man  selber 
flüchtig  ihrer  geniesst. 
Es  wäre  ein  Verlust, 
wenn  ich  diese  Blätter 
nicht  unter  den  Augen 
gehabt  hätte. 

Sie  enthalten  nur  das 
was  ich  nenne,  aber  ver- 
mehren meine  Anschau- 
ungen. Sie  machen  mich 
reicher  .  .  .  Herman 
Grimm  schreibt  das  — 
ein  weites  schönes  Ur- 
theil  über  einen  Maler, 
dessen  Schaffen  ihm  nur 
unter  einem  bestimmten 
Gesichtswinkel ,  unter 
diesem  wundervoll  aber, 
verständlich  geworden. 

So  müssen  wir  nun 
Gleichen  als  einen 
historisch  Gewordenen 
auffassen ,  der  für  die 
Aelteren  Impressionen, 
nur  Impressionen ,  und 
für  Strebende  einer  jün- 
geren Generation  viel- 
leicht auch  nur  Impres- 
sionen ,  doch  dadurch 
für  sie  alles  was  in 
der  Kunst  nur  erreicht 
werden  kann,  erreichte. 
Sein  Schaffen  stellt  sich 
als  ein  durch  und  durch 
gesundes  dar.  So  wird  nicht  in  der  Schule  gearbeitet, 
auf  den  Academien  —  so  arbeitet  der  Liebhaber. 

Die  schönsten  Sensationen  der  Natur  aufnehmen,  das 
Frischeste  vom  Frühling  einfangen,  mit  aller  Poesie  im 
Geist  in  kräftigsten  Accenten  es  ausdrücken ,  leiden- 
schaftlich skizzirend !  Die  Welt  der  Farben  enthusiastisch 
umfassen !  Nach  Regeln  nicht  und  nicht  nach  Conven- 
tionen  gehen  .  .  .     Die  Frische  der  Natur  ...  in  Impro- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


89 


visationen,  muss  man  sagen  ...  in  freier  Herrschaft 
über  das  Gebiet;  ohne  Kleinlichkeit,  ohne  Modelltreiie 
doch  grandios  charaktcrisirend.  Und  stylvoll  in  seiner 
Weise,  sogar  mit  «  Componiren  » ,  mit  «dichterischem» 
Zug  —  aber  ganz,  ganz  anders  als  früher.  Eine  freie, 
rurale  Dichtung! 

Von  der  blumigen  Frische  seines  Colorites  vermögen 
wir  nun  den 
Lesern  keine  An- 
schauung zu  ge- 
ben ;  wie  er  z.  B. 
in  neuester  Zeit 
die  Landschaft 
des  Goethe- Gar- 
tenhauses üppig, 
satt ,  wie  aus 
der  Natur  her- 
vorgegangen, ge- 
malt und  dann 
den  Morgennebel 
über  ihren  Vor- 
dergrund legte 
und  einige  Nym- 
phen in  ihm 
auftauchen  lässt; 

selbst      von      den  Londschaftsstudie. 


Radirungen  konnten  wir  einige,  die  wir  gerne  gebracht 
hätten,  nicht  wiedergeben,  aus  technischen  Gründen, 
weil  es  für  solchen  Druck ,  wie  den  dieser  Zeit- 
schrift, nicht  möglich  war.  Genüge  es,  zu  sagen, 
dass  der  Pinselstrich  Gleichens  von  einer  Breite  und 
Freiheit  ist ,  die  beide  nur  hervorgegangen  sein  können 
aus     der    angespanntesten    fleissigen    Uebung     in     den 

früheren  Jahren, 
und  dass  der 
Rhythmus  seiner 
Werke  wohl  von 
Anfang  an  in 
ihm  geruht  haben 
muss  —  unbe- 
wusst  früher,  und 
erst  allmähHch 
seinem  Besitzer 
zu  Händen ,  der 
erst  allmählich 
auf  die  Stimmen 
in  seinem  Innern 
zu  hören  ge- 
wagt .  weil  er 
zu  bescheiden 
war,  um  an  sein 
Genie  zu  tilauben. 


Frau  im  Korn. 


Medusa. 

(ZU  DEM  BILDE  VON  FRANZ  STUCK.) 


L)er  Erde  Könige 

Ziehen  aus 

Mit  schüttelnden  Lanzen 

Zum  letzten  Kampf. 

Kommen  aus  schwarz 

Ummauerten  Städten, 

Aus  grünen  Thälern, 

Aus  grauen  Wüsten, 

Von  zackigen  Felsen 

Und  schaumweisser  Meerfluth. 

Alle  gerüstet 

In  klirrendes  Erzgold, 

Alle  gestirnet 

Mit  finsterem 

Ahnen  des  Todes. 

»  ♦ 

Morgenröthlicher 
Rauch  der  Nebel, 
Blasse  schauernde 
Dämmerwinde 
Matten,  feuchten 
Die  goldenen  Helme, 
Die  silbernen  Schilde, 
Die  stählernen  Schwerter. 
Und  über  Wolken, 
Menschenunsichtbar 
Schweiget  ein  fremder. 
Ein  weisser  Fremdling 
Mit  Friedensaug' 
Und  gekreuzigten  Armen. 

*  * 

* 

Aber  noch  stehet 
Hoch  auf  dem  Berge 
Götterflammend 
Pallas  Athene, 
Umpanzert  die  Brust, 
Geschildet  den  Arm 
Mit  schrecklichem  Schild, 
Der  das  Entsetzen 


Geschändeter  Schönheit, 
Das  schlangenumlockte 
Entsetzte  Entsetzen 
Mit  steinernden  Augen 
In  Mitten  trägt  — 
Das  Haupt  der  Medusa. 

Erdröhnend  die  Felsen 

Von  dumpfgleichem  Schlachtschritt 

Der  Männergeschlechter, 

Luftstille  verscheuchend. 

Anrasend  in's  bläuliche 

Frühgold  des  Himmels, 

Ein  tausendgezeugter 

Krachender  Schrei, 

Erstdonner  des  Kampfes. 

Blutfunkelnde  Waffen 

Entstreben  den  Händen, 

Blutströmende  Leiber 

Besäen  die  Erde, 

Und  Sterbende  morden 

Den  nebengefall'nen 

Noch  röchelnden  Feind, 

Wuthtrunken  vom  ehernen 

Jauchzen  der  Pallas. 

*  ♦ 

Näher  durch  sonnenlos 

Traurige  Wolken 

Einsam  wandert  der  Gott. 

Nahe  naht  er 

Der  goldenen  Göttin, 

Festgeerzt 

Die  blutenden  Hände 

Am  Rumpfe  des  Kreuzes, 

Das  er  dahinschleppt 

Auf  leidengehagerten  Schultern. 

Nimmer  gesehen 

Ist  ihr  dies  Antlitz, 

Schwach  und  gewaltig, 


Pliut.  F.  HubUlDtl,  NQnrhn. 


Medusa. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


91 


Dornenbekront. 
Ihr,  die  rückschauend 
Vergangnes  durchleuchtet, 
Ihr,  der  vorschauend 
Zukünftiges  hellet, 

Ist  er  ein  Fremder. 

*  » 

Feindliche  Furcht 

Erbebt  ihr  die  Glieder, 

Und  weitschattenden 

Wurfes  die  Lanze 

Schwingt  sie  entgegen 

Der  wehrlosen  Demuth. 

Wehe!     Sein  Athem 

Verwehet  den  Erzschaft, 

Wie  Herbstwind  zum  Sande 

Ein  dürrendes  Blatt  schwächt, 

Wehe!     Sein  Blick 

Reisst  den  Helm 

Ihr  vom  Haupte, 

Wehe!     Er  löset 

Vom  Kreuze  die  Hände, 

Wehe!     Ein  Tropfen 

Gekreuzigten  Blutes 

Rinnt  von  den  Händen, 

Todsegnend  — 

Der  zitternde  Tropfen 

Er  trifft  und  erschlägt 

Die  helmnackte  Stirne. 


Und  schwer  in  die  trotzenden 
Kniee  gebrochen. 
Erblindend  zum  Nachttod 
Hebt  sterbend  die  Göttin 
Hoch  über  den  Scheitel 
Das  Antlitz  der  Gorgo. 

* 
Da  schweiget  die  Erdschiacht. 

Gebannet  zum  Schauen 

Die  reissenden  Kämpfer. 

Es  steinern  die  Lippen, 

Es  steinern  die  Augen, 

Es  steinern  die  Schwerter 

In  steinernen  Händen, 

Es  steinert  das  Blut 

In  steinernen  Wunden, 

Es  steinern  die  Todten 

In  steinerner  Stille. 

*  * 

* 

Aber  hinweg 

Durch  die  sonnebeströmten 
Freudigen  Wolken 
Leuchtet  der  Fremde. 
Schreckenlos  trägt  er 
In  heiligen  Händen 
Gekehret  zum  eig'nen 
Erlösenden  Herzen 
Das  Haupt  der  Medusa. 


Ernst  Rosmer. 


George  Frederick  Watts 


VON 


HELEN  ZIMMERN. 


In  mancherlei  Hinsicht  ist  die  Stellung  des  englischen 
Malers  George  Frederick  Watts,  des  Altmeisters  der 
-  englischen  Künstlerschaft,  eine  ganz  eigenartige  zu 
nennen.  Er  hat  keiner  einzigen  englischen  Schule  Etwas 
zu  verdanken,  und  er  hat  auch  keine  eigene  Schule 
gegründet,  obwohl  er  allerdings  von  bedeutendem  Ein- 
fluss  für  die  zeitgenössische  Kunst  in  England  gewesen 
ist.  Dieser  Einfluss  war  jedoch  mehr  ein  indirecter  und 
hat  hauptsächlich  dazu  gedient,  den  Glauben  an  die 
edlen  Aufgaben  der  Kunst  zu  fördern  und  auf  die 
erhabenen  Ziele  derselben  hinzuweisen.  Das  lange,  von 
eifriger  Arbeit  ausgefüllte  Leben  dieses  Künstlers  ist  ein 
beständiges,  unwandelbares  Festhalten  an  den  hohen 
Idealen  der  Kunst;  in  seiner  schönen  und  seltenen 
Ueberzeugungstreue  hat  er  sich  nie  durch  die  gerade 
herrschende  Mode  oder  Geschmacksrichtung  beirren 
lassen ,  wie  er  auch  auf  pecuniären  Lohn  und  welt- 
liche Ehren  nie  den  geringsten  Werth  gelegt  hat.  Und 
dabei  ist  seine  Laufbahn  eine  glänzende  zu  nennen,  denn 
kein  anderer  Künstler  in  England  hat  eine  Stellung  von 
so  eminenter  Bedeutung  unter  gleich  allgemeiner  An- 
erkennung inne,  trotz  der  immerhin  getheilten  Meinungen 
über  seinen  Stil  und  der  Ungleichheit  seiner  Erfolge. 
Auch  hat  unter  den  lebenden  englischen  Künstlern  kaum 
einer  sich  auf  so  vielen  Gebieten  ausgezeichnet.  In  der 
Fresco-  und  Wandmalerei,  in  Andachts-  und  Heiligen- 
bildern, allegorischen  und  historischen  Gemälden,  Land- 
schaften und  Thierdarstellungen ,  im  Portraitiren  und  in 
der  Bildhauerkunst  hat  Watts  sich  versucht  und  viel 
geleistet;  und  seine  besten  Werke  stehen  so  hoch,  dass 
sie  voraussichtlich  für  alle  Zeit  einen  hohen  Rang  be- 
haupten werden. 

Mr.    Watts    ist   ein   Maler,    der,    obwohl   in   einem 
Zeitalter  des  Luxus  und  der  Ruhelosigkeit  geboren,  die 


einsame  Höhe  einer  strengen  Richtung  anstrebt.  Er 
wünscht  nichts  Geringeres,  als  was  Dante  und  Milton, 
Tizian  und  Phidias  wollten.  Alle  Achtung  vor  seinem 
Ehrgeiz.  «This  high  man,  aiming  at  a  million,  niisses  a 
Unit»  sagt  Browning;  und  dieses  «Zielen  nach  einer 
Million,  mag  auch  ein  Einer  verfehlt  werden»,  dieses 
durch  Nichts  zu  entmuthigende  Streben  nach  dem 
Höchsten  und  Besten  kennzeichnet  die  Stellungnahme 
Watts'  unter  unseren  lebenden  Malern.  Er  ist  Idealist 
durch  und  durch ,  das  ganze  Schaffen  seines  Lebens 
beruht  auf  Grundsätzen,  die  einen  entschiedenen  Gegen- 
.satz  zu  den  Theorien  bilden,  dass  in  der  Kunst  Nichts 
auf  das  Motiv ,  dagegen  Alles  auf  die  Behandlung 
ankomme;  dass  technische  Vortrefflichkeit,  naturgetreue 
Nachahmung  der  Effecte  des  Lichts ,  der  Gewebe 
und  sonstiger  Stoffe  an  und  für  sich  als  künst- 
lerischer Zweck  gelten  könne  oder  doch  als  ge- 
nügende Berechtigung  für  die  Wahl  eines  völlig  un- 
würdigen oder  unbedeutenden  Gegenstandes  zu  erachten 
sei.  Obwohl  Watts  die  Vorzüge  offen  anerkennt,  welche 
Werke  dieser  Richtung  insofern  bieten,  als  sie  leichter 
bei  dem  Beschauer  Verständniss  finden,  so  flössen  ihm 
derartige  Geschicklichkeitsproben  doch  nur  so  wenig 
Bewunderung  oder  Respect  ein,  wie  das  Nachahmen 
von  Naturlauten  in  einem  Musikstück;  glänzend  ge- 
lungene Imitationen  —  die  Frucht,  welche  den  Vogel 
anlockt,  der  den  Sclaven  täuschende  Vorhang  —  haben 
niemals  Reiz  für  ihn  gehabt.  An  seinen  Kunstschöpfungen 
ist  das  Vorherrschende  die  Idee.  Er  hat  seine  Kunst 
mehr  im  Sinne  des  Dichters  als  des  Malers  aufgefasst. 
Seine  Technik  ist  eine  breite  und  einfache,  bei  grosser 
Kraft  der  Zeichnung  und  Composition  nebst  hohem  Ver- 
ständniss für  Wahl  und  Vertheilung  der  Farben.  Nach 
seiner  ausgesprochenen  Ansicht,  von  der  er  niemals  ab- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


93 


weicht,  kann  eine  wirklich  grosse  und  auf  die  Dauer 
erfolgreiche  Kunst  nur  sein:  «Die  Darlegung  irgend  eines 
wichtigen  Grundsatzes  von  geistiger  oder  materieller 
Bedeutung,  die  Illustration  einer  grossen  Wahrheit,  die 
Erläuterung  dessen,  was  im  Buche  der  Natur  steht». 

Gegen  Mr.  Watts'  Entwürfe  ist  oft  der  Einwand 
erhoben  worden,  dass  sie  mehr  ein  literarisches  als  ein 
künstlerisches  Interesse  erwecken.  Der  Maler  würde 
diese  Bemerkung  vermuthlich  nicht  für  unbegründet 
halten,  aber  keinen  Tadel  darin  finden. 

In  der  Verborgenheit  seines  grossen  Ateliers  im 
Little  Holland  House  zieht  Mr.  Watts  gleich  einer 
Zauberspinne  rings  um  sich  her  das  glänzende  Gewebe 
seiner  emsig  schaffenden  Phantasie.  Klatsch  sowohl  wie 
Schmeicheleien  der  «Kunstwelt»  sind  ihm  völlig  gleich- 
giltig.  Für  Ausstellungen  arbeitet  er  nicht;  er  malt 
bald  an  diesem ,  bald  an  jenem  Bilde ,  und  wenn  die 
Zeit  der  Ausstellung  da  ist,  holt  man  ihm  ab,  was  er 
gerade  fertig  hat.  Nichts  was  in  Künstlerkreisen  vor- 
geht, tritt  an  ihn  heran,  er  weiss  nicht,  ob  er  verstanden 
wird  oder  nicht.  Seine  Werke  sind  da,  für  Jeden,  der 
Augen  hat  und  sehen  will. 

Mr.  Watts,  der  1820  in  London  geboren  ist,  be- 
suchte die  Kunstschule  der  Royal  Academy,  worüber 
er  indessen  kurz  und  bündig  sagt:  «da  ich  dort  keine 
Belehrung  fand,  ging  ich  bald  nicht  mehr  hin».  Zu 
jener  Zeit  lag  die  Kunst,  mit  Ausnahme  der  Bildniss- 
und Genremalerei,  in  England  arg  darnieder.  In  Folge 
seiner  entschiedenen  Neigung  zur  Plastik  trat  Watts  in 
das  Atelier  des  Bildhauers  Behnes  ein.  Hier  pflegte  er 
dem  Künstler  zuzusehen ,  eine  andere  Art  von  Be- 
lehrung erhielt  er  nicht.  Die  Antiken  der  Elgin-Samm- 
lung  haben  ihn  von  Anfang  an  entzückt,  und  seinem 
Studium  dieser  vollkommenen  Werke  des  Phidias  sind 
die  grössten  Erzeugnisse  Watts'  zuzuschreiben.  Unter 
dem  Einfluss  dieser  erhabenen  Meisterwerke  arbeitete 
der  Jüngling  bis  1 847,  in  welchem  Jahre  er  zwei  Porträts 
und  ein  Gemälde  «Der  verwundete  Reiher»  genannt,  in 
der  Kgl.  Academie  aus.stellte;  ein  interessantes  Erstlings- 
werk ,  welches  nach  mehr  denn  fünfzig  Jahren  seinen 
Weg  in  das  Atelier  deS  Künstlers  zurückgefunden  hat. 
Die  Leiden,  denen  die  Thiere  ausgesetzt  sind,  die  ent- 
weder in  der  Freiheit  unseren  Jagdflinten  zum  Ziel  dienen 
oder  zahm  Sclavendienste  für  uns  thun,  haben  auf  Watts 
stets  ergreifend  gewirkt.  Und  von  dieser  Stimmung  zeugt 
das  kleine,  dem  jungen  Kunstschüler  vortrefflich  gelungene 


Bild  —  der  graziöse  Vogel  mit  dem  silbergrauen  Ge- 
fieder, die  Federn  gesträubt  und  blutig,  der  zuckend  am 
Boden  liegt,  während  aus  der  Ferne  der  flotte  Jäger 
zu  Pferd  herbeieilt,  um  seine  Beute  zu  holen.  Sein 
Mitleid  mit  der  Thierwelt  hat  der  Künstler  als  Greis 
vor  zwei  Jahren  auch  durch  ein  seiner  sonstigen  Manier 
nicht  entsprechendes  Bild  zum  Ausdruck  gebracht,  das 
freilich  als  Kunstwerk  nicht  .sehr  bedeutende  «  Das  Ende 
eines  Lebens  voll  harter  ungelohnter  Mühen».  (A 
patient  life  of  unrewarded  toil).  Hier  soll  durch  die 
Gestalt  eines  erbärmlichen  zusammengebrochenen  Ar- 
beitsgaules das  Elend  der  beklagenswerthen  Thiere 
geschildert  werden,  die  zur  Sclaverei  verdammt  sind.  Im 
Jahr  1842  ereignete  es  sich,  dass  die  englische  Regierung, 
um  die  Befähigung  der  einheimischen  Künstler  zur 
Frescomalerei  im  Hinblick  auf  die  innere  Ausschmückung 
der  neu  erbauten  Parlamentshäuser  zu  prüfen,  ein  Preis- 
au.sschreiben  für  Cartons  erliess.  Einen  von  den  drei 
ersten  Preisen  im  Betrage  von  300  Pfund  Sterling  bekam 
Watts  für  seine  Composition:  «Caractacus,  im  Triumph 
durch  die  Strassen  Roms  geführt».  Dieses  Jugendwerk  ist 
nicht  mehr  vorhanden,  der  Entwurf  ist  verkauft  worden 
und  später,  in  Stücke  geschnitten ,  in  den  einzelnen 
Theilen  zur  Verwerthung  gekommen. 

Mit  dem  erhaltenen  Geld  ging  Watts  nach  Italien, 
wo  er  sich  mehrere  Jahre  aufhielt  und  in  Rom,  Florenz 
und  Venedig  die  alten  Meister  studirte.  Aus  den  Werken 
von  Tizian,  Tintoretto,  Giorgione  und  Michel  Angelo,  wie 
aus  den  Kunstschätzen  des  griechischen  Alterthums, 
gewann  er  die  Belehrung,  deren  er  bedurfte,  und  die 
er  an  den  Lebenden  vermisste.  Diese  Alten  waren  in 
der  That  für  einen  Künstler  von  so  eigenthümlicher 
Begabung  und  Gemüthsanlage  die  einzig  annehmbaren 
Lehrer. 

Sein  mit  Entschiedenheit  verfolgtes  Streben  galt 
stets  der  edelsten  Formenschönheit  mit  seelischem  Ge- 
halt und  einer  Wiedergabe  des  harmonischen  Farben- 
reichthums,  den  die  Natur  besitzt.  Zu  den  oben 
genannten  Führern  zog  ihn  eine  Art  seelischer  Ver- 
wandtschaft, die  ihn  antrieb,  ihren  Spuren  zu  folgen, 
ihren  Geist  und  ihre  Methoden  in  sich  aufzunehmen. 
Aber  er  ist  ein  Mann  von  einer  zu  stark  ausgeprägten 
Individualität,  um  nur  Nachahmer  sein  zu  können ;  daher 
sind  seine  Compositionen  zwar  von  ähnlicher  Art  wie 
seine  Vorbilder,  jedoch  gänzlich  original  in  Auffassung 
und   Behandlung.      Charakteristisch   ist   Mr.  Watts   eine 


94 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


gewisse,  dem  nordischen  Geiste  eigene  Strenge,  eine 
Herbheit,  welche  seinen  südlichen  Meistern  fehlt;  so- 
dann jenes  Vorherrschen  der  Idee,  das  man  bei  erfolg- 
reichen Künstlern  so  äusserst  selten  findet,  und  vor 
Allem  jene  tief  traurige  Anschauungsweise,  welche  die 
geistige  Signatur  unseres  Jahrhunderts  bildet.  Erinnert  er 
uns  in  mancher  Hinsicht  an  Tintoretto,  diesen,  durch  die 
dramatische  Wirksamkeit  seiner  Kunstschöpfungen  so 
mächtigen  Sittenprediger,  so  ergibt  andererseits  eine 
sorgfältige  Untersuchung  seiner  Kunst,  dass  dieselbe 
ebensowohl  heidnische  wie  christliche  Elemente  aufweist 
und  dabei  etwas  vom  deutschen  Mysticismus  angehaucht 
ist.  Er  gleicht  Kaulbach ,  neigt  jedoch  mehr  zum 
Mysteriösen ,  als  dieser. 

Nach  seiner  Heimkehr  aus  Italien  gewann  Mr.  Watts 
wiederum  einen  vom  Staat  ertheilten  Preis,  500  Pfund 
Sterling,  für  ein  Oelgemälde:  «Alfred,  die  Sachsen 
anfeuernd,  die  Landung  der  Dänen  zu  verhindern». 
Dieses  Werk  und  noch  ein  anderes,  «Echo»,  sind  von 
der  Nation  angekauft  worden  und  hängen  in  den  Vor- 
sälen des  Oberhauses,  wo  sich  auch  ein  später  aus- 
geführtes Frescogemälde  von  ihm  befindet,  dessen  Motiv 
Spenser's  « Fairy  Queen »  (Feenkönigin)  entnommen  ist, 
«The  Rod  Gross  Knight»  (St.  Georg,  den  Drachen 
besiegend) ,  eine  durch  Kühnheit  der  Zeichnung  und 
grosse  Reinheit  der  Farbenwirkung  ausgezeichnete  Com- 
position. 

So  weit  hat  es  dem  ehrgeizigen  jungen  Künstler 
nicht  an  öffentlicher  Anerkennung  gefehlt,  und  trotzdem 
währte  es  dann  noch  zwanzig  Jahre,  bis  er  zum  ausser- 
ordentlichen Mitglied  (Associate)  der  Kgl.  Academie 
erwählt  wurde.  Die  Ehre  der  Mitgliedschaft  wurde 
nämlich,  gemäss  den  Vorschriften  dieses  Instituts  früher 
nur  solchen  Künstlern  gewährt,  welche  sich  vorher 
durch  Namenseintragung  darum  beworben  hatten ;  hierzu 
aber  war  Mr.  Watts,  der  Vieles  an  dem  Regime  der 
Gesellschaft  offen  missbilligte,  durchaus  nicht  zu  be- 
wegen gewesen ;  und  er  stellte  auch  viele  Jahre  lang 
Nichts  in  der  Academie  aus.  Als  endlich  im  Jahre  1 867 
die  besagte  Vorschrift  beseitigt  war,  wurde  Mr.  Watts 
sofort  zum  ausserordentlichen  und  im  darauf  folgenden 
Jahr   zum   ordentlichen  Mitglied   (Academician)  erwählt. 

Keinerlei  äussere  Wechselfälle  konnten  seine  Energie 
vermindern  oder  ihn  im  geringsten  von  seinen  hohen 
Zielen  ablenken,  die  Nichts  mit  persönlichem  Streber- 
thum    gemein    haben.     Ohne    sich    um    jeweilige    Zeit- 


strömungen  zu  bekümmern,  folgte  er  seinen  eigenen 
künstlerischen  Ideen.  Die  beiden  Kunstgattungen,  in 
denen  er  am  meisten  Beifall  erntete,  sind  die  Allegorie 
und  die  Portraitmalerei.  Die  Vorliebe  für  abstracte 
Begriffe  ist  bei  ihm  mit  einer  ausserordentlich  regen 
Phantasie  und  einer  stark-  ausgeprägten  Individualität 
verbunden ,  und  durch  letztere  Eigenschaft  gelingt  es 
ihm  auch,  die  rein  menschlichen  Sympathien  zu  erwecken. 
Schon  im  Jahre  1847  gab  er  seine  Bevorzugung  alle- 
gorischer Darstellungen  in  seinem  Academiegemälde 
«Die  Illusionen  des  Lebens»  zu  erkennen,  welches  uns 
den  menschlichen  Lebensgang  vorführt.  Schöne  Traum- 
gestalten schweben  über  einem  Golf,  der  sich  an  der 
Grenze  des  Daseins  aufthut.  Zu  ihren  Füssen  liegen 
die  zertrümmerten  Embleme  der  Grösse  und  Macht, 
und  auf  einem  schmalen  Streifen  Erde,  der  einen  tiefen  Ab- 
grund überragt,  sind  die  noch  nicht  zerstörten  Illusionen 
sichtbar  —  der  Ruhm  in  Gestalt  eines  geharnischten 
Ritters,  welcher  der  Seifenblase  eines  glänzenden  Namens 
nachjagt;  die  Liebe  als  ein  sich  umschlingendes  Paar; 
die  Gelehrsamkeit  durch  einen  im  Dämmerlicht  über 
Handschriften  gebückten  Greis  und  die  unschuldige 
Lebenskraft  durch  ein  Kind  verkörpert,  das  nach  einem 
Schmetterling  hascht. 

Obwohl  die  allegorischen  Entwürfe  Watts'  niemals 
Illustrationen  zu  irgend  einer  Erzählung  sein  sollen, 
sondern  für  sich  bestehende  malerische  Schilderungen 
sind,  welche  die  lichten  und  dunklen  Seiten  des  mensch- 
lichen Lebens  versinnbildlichen ,  so  kommt  es  doch 
zuweilen  vor,  dass  seine  Motive  für  die  dem  Maler 
zu  Gebote  stehenden  Darstellungsmittel  zu  complicirt 
erscheinen.  Daraus  erklärt  sich  zum  Theil  die  schon 
erwähnte  Ungleichheit  seiner  Erfolge  auf  diesem  Gebiet. 
Anziehend  sind  seine  Werke  jedoch  stets  insofern,  als 
in  ihnen  die  ernste  Geistesrichtung  des  Künstlers  zur 
Geltung  kommt,  der  mehr  nach  Adel  der  Formen,  als 
nach  sinnlicher  Schönheit  strebt,  der  lieber  das  Harmo- 
nische als  das  nur  Schöne  wiedergibt.  Um  Mr.  Watts' 
Bilder  richtig  zu  würdigen,  muss  man  sich  sagen ,  dass 
sie  nicht  allein  zu  dem  Zweck  gemalt  sind,  das 
Auge  zu  erfreuen,  wenn  sie  auch  durch  schöne  Farben- 
gebung  und  Zeichnung  diese  Wirkung  fast  überall 
erzielen.  Was  sie  jedoch  von  dem  denkenden  Beschauer 
verlangen,  ist,  dass  derselbe  in  sein  eigenes  Herz 
blicken  und  so  die  moralische ,  intellectuelle  und  meta- 
physische  Idee    des   Künstlers    erkennen   soll ,    der    bei 


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seinen  Schöpfungen  eben  auf  die  höhere  Empfänglichkeit, 
das  intellectuelle  Verständniss  beim  Publicum  rechnet. 
Und  je  nach  dem  Grade,  in  welchem  der  Beschauer  der 
Werke  Watts'  dieser  Bedingung  entspricht,  wird  er  die- 
selben zu  beurtheilen  und  zu  würdigen  wissen. 

Man  hat  gegen  seine  allegorischen  Bilder  einge- 
wandt ,  dass  ihr  Sinn  oft  nicht  unmittelbar  und  rasch 
genug  zu  erfassen  sei ,  wie  z.  B.  in  « Dedicated  to  all 
the  churches»  (Allen  Kirchen  gewidmet).  Allerdings 
ist  dies  wahr,  aber  ist  es  ein  Fehler.-  Nach  Professor 
Ruskin's  Ausspruch  wird  es  keinem  Autor,  der  über 
eine  grosse  Sittenlehre  schreiben  will,  darauf  ankommen, 
dieselbe  nur  in  platter  Deutlichkeit  aufzustellen,  damit 
Jeder  auf  den  ersten  Blick,  ohne  Nachdenken,  darüber 
im  Klaren  ist,  um  das  Gelesene  sofort  wieder  zu  ver- 
gessen und  sich  dann  mit  etwas  Anderem  zu  beschäftigen. 
Der  Verfasser  wird  es  vielmehr  vorziehen,  seine  Ideen 
nicht  so  ganz  unverhüllt  hervortreten  zu  lassen,  so  dass 
dieselben  sich  Denen,  welche  sie  gern  ergründen  wollen, 
durch  die  Bemühung  des  Denkens  besser  einprägen. 
Wenn  dies  bei  Büchern  zutrifft,  warum  nicht  auch  bei 
Gemälden.'  Unstreitig  sollte  ein  Bild,  das  nur  gemalt  ist, 
um  die  Sinne  zu  erfreuen,  Jeden  sofort  erkennen  lassen, 
was  sein  Titel  besagt.  Vorausgesetzt,  dass  die  Malerei 
überhaupt  berechtigt  ist,  philosophische  Belehrung  oder 
geistige  Bildung  zu  vermitteln,  so  kann  bei  einem  Gemälde 
idealer  Tendenz  diejenige  Behandlungsweise  nicht  tadelns- 
werth  sein,  welche  der  Maler  für  die  beste  hält. 

In  «Zeit  und  Vergessenheit >■  (Time  and  Oblivion) 
—  eine  andere  seiner  Allegorien  —  hat  Mr.  Watts  die 
colossalen  Idealgestalten  über  dem  Erdball  in  den 
Lüften,  zwischen  den  Himmelskörpern  des  Tages  und 
der  Nacht  schwebend,  dargestellt.  Die  «Zeit»,  durch 
den  Typus  unbesiegbarer  Männlichkeit  und  Jugendkraft 
verkörpert,  und  die  «Vergessenheit»,  mit  gesenktem 
Haupt  und  niedergeschlagenen  Augen,  den  Mantel  weit  aus- 
einander gebreitet,  sieht  man  Beide  auf  dem  Wege  zum 
Grabe  schnell  dahin  eilen.  Die  Figuren  sind  von  monumen- 
taler Wirkung,  ausdrucksvoll  in  Haltung  und  Form.  Der 
Künstler  hat  für  die  « Zeit »  eine  originelle  und  edle  Ge- 
stalt erfunden,  er  führt  sie  uns  nicht  als  den  abgezehrten, 
grimmigen  Greis  mit  der  spärlichen  Stirnlocke  vor. 

Das  Bild  «Time,  Death  and  Judgement»  (die  Zeit, 
der  Tod  und  das  jüngste  Gericht),  zeigt  uns  eine  Gruppe 
colossaler  Figuren ,  die  im  Aetherraum  feierlich  dahin- 
schreiten.      Der    «Tod»,    eine    majestätische    weibliche 


Gestalt,  in  silberweLsse  Gewänder  gehüllt,  trägt  eine 
Menge  Blumen  und  Blätter;  die  <Zeit>  ist,  wie  in  dem 
vorerwähnten  Bild,  als  Verkörperung  unerschütterlicher 
Kraft  dargestellt,  und  das  «Gericht»,  eine  schwebende 
Figur,  fährt  mit  ausgestreckten  Armen,  ein  feuriges 
Schwert  schwingend,  aus  der  Höhe  niederwärts.  Auch 
den  Tod  stellt  Watts  in  anderer,  als  der  allgemein 
üblichen  Weise  dar.  Seine  Gestalt  des  Todes  ist  ein 
grosses,  in  Weiss  gekleidetes  Weib  mit  hohlwangigem, 
fahlem  Antlitz  und  eingesunkenen  Augen.  Alle  diese  alle- 
gorischen Figuren  tragen  einen  monumentalen  Charakter. 
Mr.  Watts'  Göttergestalten  fehlt  es  nie  an  Würde  und 
Hoheit,  sie  scheinen  die  Vorstellung  der  Allmacht  zu 
erwecken.  Sein  Sinn  für  die  Plastik  leitet  ihn  bei  seinen 
symbolischen  Darstellungen  und  äussert  sich  in  dem 
einfach  erhabenen  Stil ,  in  welchem  er  das  Uebersinn- 
liche  nur  durch  einen  mehr  als  natürlichen  Grad  von 
Kraft  und  Ruhe  zur  Anschauung  bringt.  Da.ss  seine 
Compositionen  solcher  Art  nur  dem  Geschmack  einer 
kleinen  Minorität  des  Publicums  zusagen,  ist  selbst- 
verständlich. Für  diesen  Maler  jedoch  exi.stirt  die  Er- 
wägung von  Angebot  und  Nachfrage  überhaupt  nicht 
Er  ist  der  Ansicht,  dass  es  in  des  Künstlers  Macht 
steht,  sich  selbst  die  Nachfrage  zu  schaffen,  indem  er 
seine  feinere  Beobachtungsgabe  vorhandenen  Begriffen 
zuwendet ,  diese  dann  in  einer  neuen  Fassung ,  dem 
Ergebniss  seiner  persönlichen  Studien,  wiedergibt  und 
so  die  Phantasie  des  Beschauers  durch  malerische  Ge- 
staltung schöner  poetischer  Darstellungen  bereichert. 
Der  poetisch  philosophische  Hang,  welcher  Watts  inne- 
wohnt, bekundet  sich  in  allen  seinen  Werken,  und  er 
hat  es  aber-  und  abermals  bewiesen,  dass  die  allegorische 
Kunst  noch  lebensfähig  ist.  Freilich  kann  nicht  be- 
stritten werden,  dass  ihre  Motive  ausser  Fühlung  mit 
unserer  Zeit  stehen.  Au.sgenommen  des  Malers  «  Love 
and  Death»  (Die  Liebe  und  der  Tod),  das  den  Geist 
der  letzten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  athmet,  besitzen 
seine  Werke  einen  streng  didactischen  Charakter,  der  nicht 
mit  der  allgemein  herrschenden  Denkweise  harmonirt. 
Mit  « Liebe  und  Tod »  hat  Watts  vielleicht  die  höchste 
Popularität  errungen,  die  je  einem  seiner  Gemälde  zu 
Theil  geworden  ist.  Das  Motiv  ist  ebenso  einfach,  wie 
die  Idee  eine  glückliche  war,  und  wir  finden  in  diesem 
Werke  die  besten  Seiten  seines  Schöpfers  aufs  Höchste 
zur  Geltung  gebracht.  Die  Liebe,  durch  eine  knaben- 
hafte Gestalt  mit  hellen  Flügeln  versinnbildlicht,  trachtet 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


dem  Tode  den  Eintritt  in  ein  Haus  zu  wehren.  Der 
Entwurf  wie  die  Behandlungsweise  sind  ausserordentlich 
wirksam.  Der  «Tod»,  eine  imposante  Figur,  deren 
verhülltes  Haupt  gesenkt  und  vom  Beschauer  abgewandt 
ist,  während  sie  mit  emporgehaltenem  Arm  ruhig  und 
keines  Widerstandes  achtend  geradewegs  vordringt,  be- 
kundet in  allen  diesen  Zügen  eine  durch  Nichts  zu 
besiegende  und  ohne  Anstrengung  geübte  Macht  und 
Stärke,  wozu  die  Geberde  der  anmuthigen,  in  ihrer 
Zärtlichkeit  nicht  minder  ausdrucksvollen  «Liebe»,  des 
verzweifelt  kämpfenden  Knaben,  .  einen  ergreifenden 
Gegensatz  bildet,  wie  er  seine  äusserste  Kraft  daran 
setzt,  die  feindliche  Gewalt  zum  Zurückweichen  zu 
bringen,  die  nur  zu  bald  siegen  wird,  worauf  schon  die 
geknickten  Federn  seiner  Flügel  deuten,  wie  die  fallenden 
Blätter  und  welken  Rosen  vor  dem  von  ihm  beschirmten 
Portal.  Wahl  und  Anordnung  der  Farben  sind  gleich 
vorzüglich  bei  diesem  Bilde,  das  auch  den  dargestellten 
Vorgang  in  einer  so  ergreifenden  Weise  zum  Ausdruck 
bringt,  wie  es  selten  bei  Motiven  dieser  Art  gelingt. 

Den  «Tod»  als  weibliche  Person  hat  Watts  uns 
noch  in  einem  andern  bedeutenden  Kunstwerk  vorgeführt, 
genannt  «Der  Todesengel  »,  der  hier  als  eine  Herrscherin 
auf  dem  Throne  gemalt  ist.  Das  Gemälde  ist  gross- 
artig ,  von  monumentaler  Erhabenheit  und  poesievoller 
Auffassung.  Sein  « Liebe  und  Leben »  ,  obwohl  nicht 
ganz  so  packend  in  der  Wirkung,  ist  eine  Composition 
von  hoher  Feinheit ,  durchaus  zart  in  Stimmung  und 
Behandlung.  Hier  ist  der  Liebesgott  nicht  als  ein 
Kind ,  sondern  als  der  erwachsene  Eros  der  Griechen 
dargestellt;  er  erscheint  als  Schutzgeist  des  Lebens, 
einer  halb  erwachsenen ,  schüchtern  und  furchtsam  auf- 
tretenden Mädchengestalt,  die  im  Begriffe  ist,  einen 
rauhen,  felsigen  Bergpfad  hinan  zu  steigen.  Die  sanfte 
und  gedämpfte  Farbenstimmung  ist  in  subtiler  Weise 
dem  Motiv  angepasst  und  daher  absichtlich  in  weichen 
Tönen  gehalten.  «Fata  Morgana»,  ein  ebenfalls  viel 
bewundertes  Gemälde,  dessen  Motiv  der  Künstler 
Bojardo's  « Orlando  Innamorato »  entnommen  hat,  stellt 
die  fliegende  nackte  Gestalt  der  «Gelegenheit»  dar,  wie 
sie  sich  der  Verfolgung  des  ihr  nachjagenden  Ritters 
entzieht.  Die  Fee  kann  nur  an  der  Stirnlocke  erfasst 
werden,  und  er  greift  vergebens  nach  ihrem  luftig 
weissen  Schleier,  als  sie  an  ihm  vorüberschwebt.  Mit 
dem  linken  erhobenen  Arm  verbirgt  sie  zur  Hälfte  ihr 
liebliches,    spöttisches  Antlitz,    während  der  Wind  ihre 


leichten ,  blonden  Locken  emporstreift.  Die  lebhafte, 
schwingende  Bewegung  der  jugendlichen  Gestalt  bringt 
den  Begriff  der  Illusion  in  äusserst  wirkungsvoller  Art 
zur  An.schauung.  Die  weissen,  feingeformten  Glieder 
heben  sich  schön  von  dem  reich  schattirten  Laubwerk 
im  Hintergrunde  ab,  und  dieses  sowohl,  wie  der  dunkle 
Harnisch  und  das  wettergebräunte ,  geröthete  Antlitz 
des  mit  nutzlosem  Ungestüm  durch  das  Dickicht 
dringenden  Ritters  erinnern  in  ihrer  Farbenpracht  an 
die  alten  venezianischen  Meister.  Wie  ersichtlich,  ist 
bei  den  besten  der  allegorischen  Gemälde  Watt's  eine 
Erläuterung  überflüssig  oder  doch  kaum  erforderlich. 
Besonders  in  dem  zuletzt  erwähnten  Bilde  ist  die  Idee 
so  lebendig  erfasst  und  durch  die  Composition  so  klar 
zum  Ausdruck  gebracht,  wie  es  besser  bei  keiner  Dar- 
stellung irgend  einer  ganz  alltäglichen  Situation  aus  der 
Wirklichkeit  gelingen  kann. 

Ein  diesem  Motiv  verwandtes  Sujet  ist  « Mi.schief » 
(Unheil),  worin  die  verhängnissvolle  Macht  der  irdischen 
Liebe  symbolisirt  ist.  Ein,  in  der  ersten  Kraft  stolzer 
Männlichkeit  stehender  Jüngling  —  die  Figur  der  «jungen 
Menschheit »  ,  ist  bethört  von  der  Leidenschaft,  die  im 
Gewände  der  Liebe  erscheint,  und  sieht  sich  nun,  an- 
statt der  Rosen,  die  er  zu  finden  gehofft,  von  einem 
Dornengestrüpp  umgeben.  Ihm  zu  Füssen  ist  Amors 
Pfeil,  der  zu  kurz  gezielt  war,  im  Boden  stecken  ge- 
blieben. Noch  halb  widerstrebend  beugt  er  den  Nacken 
unter  das  Joch  seiner  Besiegerin.  Sich  ihrer  Führung 
überlassend,  wird  er  ein  Opfer  des  ..Unheils»,  der  be- 
rückenden Zauberin  mit  den  flatternden  Locken ,  dem 
falschen  Lächeln  und  dem  Blendwerk  gaukelnden  Scheins. 
Und  immer  tiefer  in  das  Dornendickicht  geräth  der 
willenlose  Gefangene ,  der  sich  blindlings  in  sein  Ver- 
derben führen  lässt.  In  der  Behandlung  des  landschaft- 
lichen Hintergrundes ,  der  Berge  und  Wälder  verräth 
Watts  den  starken  Einfluss  der  italienischen  Meister, 
welche  er  in  dieser ,  wie  jeder  anderen  Gattung  der 
Malerei  für  die  besten  Führer  hält. 

Auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Kunst  bevorzugt  er 
die  erhabenen  Motive  aus  der  alten  hebräischen  Ueber- 
lieferung,  und  er  hat  gar  manchen  finsteren  Gegenstand 
aus  dem  alten  Testament  mit  Erfolg  zur  Darstellung 
gebracht.  Seltsamer  Weise  zeigt  er  sich  verhältniss- 
mässig  schwach  in  den  wenigen  Fällen,  wo  er  seine 
Inspirationen  aus  den  christlichen  Religionsquellen 
schöpfte.     In  seinem  Ehrgeiz   hat   er   sich    nicht  immer 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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den  Schranken  gebeugt,  die  dem  menschlichen  Streben 
naturgemäss  gezogen  sind.  Zu  einer  Zeit  hegte  er  den 
Plan,  in  einem  Cyclus  von  Fresken  die  Geschichte  der 
Welt  darzustellen,  und  diese  Gemälde  sollten  die  Wände 
eines  eigens  für  den  Zweck  entworfenen  Gebäudes 
schmücken.  In  dem  ersten  Bilde  «Chaos»  beabsichtigte 
der  Künstler  den  Vorgang  symbolisch  zu  veranschau- 
lichen, -wie  unser  Planet  aus  dem  chaotischen  Zustand 
in  den  der  Ordnung  übergeht.  Ueber  die  Unmöglichkeit, 
diesen  Plan  im  Ganzen  durchzuführen,  werden  wohl  die 
meisten  Urtheile  übereinstimmen,  und  Mr.  Watts  selber 
ist  dahin  gelangt,  ihn  als  einen  Traum  zu  betrachten. 
Diesem  Traume  aber  ist  manches  Gute  zu  danken,  da 
einige  der  erfolgreichsten  Entwürfe  des  Künstlers  von 
ihm  ursprünglich  für  den  projectirten  Cyclus  bestimmt 
gewesen  sind.  Als  bewundernsvverth  sind  darunter  die- 
jenigen zu  nennen,  welche  die  Geschichte  der  Eva  dar- 
stellen, «Die  Schöpfung»,  <  Die  Versuchung»,  und  «Die 
Reue».  «Der  Tod  Abel's»  ist  unstreitig  eine  mächtige 
Composition  von  schwungvoller  Zeichnung  und  breiter 
Darstellungsweise.  Kain,  über  die  leblose  Gestalt  seines 
Opfers  gebeugt,  fühlt  schon  die  unerträgliche  Wucht 
des  ihn  treffenden  Strafgerichts ,  welches  durch  über- 
natürliche Wesen  symbolisirt  ist,  die  mit  zur  Rache  aus- 
gestreckten Armen  in  der  Höhe  über  ihm  sichtbar  sind. 
«Der  Tod  Kain's»,  auf  welchem  Bilde  Asrael  zu  dem 
gebeugten,  ermatteten  Riesen  als  Engel  der  Erlösung 
kommt,  ist  ein  Werk  von  so  finsterem  Gepräge,  dass 
zu  seiner  vollen  Würdigung  eine  Seelenstimmung  und 
ein  geistiger  Standpunkt  gehören,  wonach  beim  modernen 
Publicum  auszuschauen  fast  ein  hoffnungsloses  Beginnen 
sein  dürfte.  «Esau»  ist  eine  einfache,  aber  wirkungs- 
volle .Darstellung  der  Gestalt  des  wilden  israelitischen 
Waidmannes.  Das  Motiv  der  Sündfluth  hat  Watts  wieder- 
holt und  mit  wechselndem  Erfolg  behandelt.  Besondere 
Beachtung  fanden  «Die  Rückkehr  der  Taube  zur  Arche 
Noah's»  und  «Die  Taube,  die  nicht  wiederkam  — » 
und  beide  Bilder  —  das  eine  war  1869,  das  andere 
1882  ausgestellt  —  sind  höchst  originelle  Schöpfungen, 
die  nicht  leicht  vergessen  werden  können.  In  der  See- 
malerei sucht  Mr.  Watts  die  Wirkung  stets  nur  durch 
die  Wiedergabe  des  Eindrucks  zu  erzielen ,  den  das 
weite  grosse  Element  in  seiner  einfachen  Erhabenheit 
gewährt.  In  den  beiden  genannten  Werken  ist  es  ihm 
gelungen,  den  an  sich  dürftigen  Vorgang  eigenartig  an- 
ziehend und  lebendig  darzustellen. 


Höher  strebend,  doch  minder  glücklich  war  er  mit 
seinem  Gemälde  neueren  Datums  «  Der  Sündfluth  4 ister 
Tag  > ,  worin  er  den  Anfang  vom  Ende  der  Fluth  schildert 
und  die  gewaltige  Kraft  zur  Anschauung  bringen  will,  mit 
welcher  Licht  und  Hitze,  die  Dunkelheit  verscheuchend 
und  die  Wa.ssermengen  in  Dunst  und  Nebel  auflösend, 
der  erstorbenen  Natur  neues  Leben  einflössen. 

Watts,  der  die  Ansicht  hegt,  dass  die  idealistische 
Malerei  gleich  der  Musik  eine  Kunst  ist,  deren  Publi- 
cum die  Fähigkeit  besitzen  muss,  den  Intentionen  des 
Künstlers  zu  folgen,  beansprucht  eine  Erweiterung  der 
Grenzen ,  innerhalb  welcher  die  Malkunst  ihre  Motive 
zu  suchen  pflegt.  Ein  Bild,  worin  er  diesen  Anspruch 
geltend  macht,  führt  den  Titel:  «Das  Innerste  in  uns» 
(The  Dweller  in  the  innermost).  Kraft  und  Bedeutsam- 
keit sind  diesem  Versuch,  den  inneren  Protest  der 
Seele  gegen  das  Böse  zu  versinnbildlichen,  nicht  abzu- 
sprechen. Das  seltsame  Bild  mit  dem  mystischen,  be- 
flügelten Kopf,  dem  das  Himmelslicht  von  der  Stirn 
strahlt,  dessen  durchbohrende  Augen  die  hinter  falschem 
Schein  verborgene  Wahrheit  erkennen,  mit  der  den  Ein- 
druck des  Geheimnis-svollen,  Ueberirdischen  erhöhenden 
trüben  Farbenstimmung  unterscheidet  sich  zwar  von  den 
übrigen  Werken  Watts'  insofern  es  nur  ein  Phantasie- 
gebilde darstellt,  ist  aber  trotzdem  höchst  charakteristisch 
für  die  Gemüthsrichtung  dieses  Malers. 

Auch  auf  dem  Gebiet  der  Romantik  und  der 
Mythologie  hat  er  sich  versucht.  Sein  schönstes  Werk 
ist  die  ungemein  dramatisch  wirkende  Composition 
«Orpheus  und  Eurydice».  Der  Künstler  hat  für  sein 
Bild  den  Moment  gewählt,  da  Orpheus,  nachdem  er  sich 
umgeblickt  hat,  Eurydice  gewahrt,  wie  sie  erbleichend 
zu  Boden  sinkt,  um  wieder  vom  Hades  verschlungen 
zu  werden.  Wir  sehen  die  eine  Gestalt,  ganz  Leiden 
Schaft  und  Energie,  in  den  Farben  des  warmpulsirenden 
Lebens,  die  andere  dahingegen  in  hülfloser  Haltung  und 
von  der  Blässe  des  Todes  überhaucht.  Voll  poetischer 
Empfindung  sind  auch  die  Darstellungen  von  «  Ariadne  » 
und  «Endymion».  In  der  Scene,  wie  sich  die  entzückte 
Göttin  im  Mäanderthal  über  den  schlafenden  Hirten 
beugt,  finden  wir  durch  die  Haltung  ihres  Körpers  und 
den  Silberschimmer  ihrer  Gewänder  sowohl  die  Sichel- 
form des  Mondes,  wie  das  weisse  Licht  desselben  an- 
gedeutet. 

Manche  seiner  Lieblingsmotive  liebt  Watts  wiederholt 
zu  variiren.     Sehr  häufig  sucht  er  düstere   und  traurige 


15* 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Sujets  zur  Darstellung  zu  bringen,  und  für  solche  besitzt 
er  unstreitig  eine  besonders  hohe  Gabe  des  Ausdrucks. 
Die  intensive  Tragik  seines  «Paolo  und  Francesca  von 
Rimini »  ist  nicht  zu  übertreffen.  Ohne  den  idealen, 
poetischen  Geist,  von  dem  die  Composition  durchdrungen 
ist,  würde  dieselbe  eine  qualvolle  Wirkung  auf  den  Be- 
schauer üben.  Die  Gestalten  des  verlorenen  Liebes- 
paares schweben,  in  wallende  Gewänder  von  bläulichem 
Weiss  gehüllt  und  kraftlos  an  einander  geschmiegt,  in 
mitten  der  fahlen  Schatten  der  Hölle  dahin ,  und  die 
ewige  Tragödie  ihres  durch  sündige  Liebe  verwirkten 
Lebens  prägt  sich  in  ihren  Zügen  aus,  deren  Schönheit 
eine  geisterhafte  —  eine  Schönheit  des  Todes  ist.  Die 
Vorstellung  des  Lebens  im  Tode,  der  ewigen  Qual  und 
Hoffnungslosigkeit ,  durchdringt  dieses  ganze  in  echt 
Dante'schem  Geist  empfundene  und  schön  componirte 
Gemälde.  In  Watts'  «Paolo  und  Francesca»  ist  die 
malerische  Verwerthu.ng  eines  dichterischen  Motives  in 
so  selten  hohem  Grade  gelungen ,  dass  die  Vision  des 
Poeten  und  die  Auffassung  des  Malers  sich  vollständig 
decken.  Die  weinerliche  Sentimentalität  Ary  Scheffer's 
und  die  theatralischen  Attitüden  in  den  Dore'schen 
Illustrationen  sind  gleich  weit  entfernt  von  der  strengen, 
selbst  im  Ausdruck  der  Leidenschaft  bewahrten  Ruhe 
des  grossen  Italieners.  Auf  diesem  Bilde  aber  sehen 
wir,  was  Dante's  Geist  erblickte. 

Als  Darsteller  des  schmutzigen  Elends,  der  gemeinen 
und  hässlichen  Seiten  des  modernen  Lebens  ist  Watts 
nicht  in  seinem  Element.  Er  steht  ihnen  zu  fern,  daher 
fehlt  ihm  für  die  ergreifenden  Momente,  welche  sie 
bieten,  die  rechte  Sympathie.  Trotzdem  hat  er  sich 
mehrmals  in  dieser  Richtung  versucht. 

Ist  nun  Watts  auch  halb  und  halb  zu  den  träumerisch 
beanlagten  Naturen  zu  zählen,  so  lässt  er  sich  doch 
keineswegs  gänzlich  von  der  Phantasie  beherrschen,  was 
besonders  aus  seinen  Darstellungen  lebender  Menschen 
zu  ersehen  ist.  Und  so  hat  er  denn  auch  in  keinem 
Fach  so  viele  Erfolge  zu  verzeichnen,  als  in  der  Portrait- 
malerei.  Natürlich  ist  sein  Stil  sämmtlichen  neuen  und 
neuesten  Richtungen  auf  dem  Gebiet  der  Bildnissmalerei, 
besonders  den  Ideen  der  modernen  französischen  Schule, 
direct  entgegengesetzt.  Dies  zeigt  sich  auch  in  der 
Nüchternheit  seiner  Farbenstimmung ,  seiner  Vorliebe 
für  die  gedämpften  Töne,  seiner  Abneigung  gegen  Alles, 
was  darauf  berechnet  erscheint,  in's  Auge  zu  fallen. 
Sodann  weiss  er  die  Kraft,  welche  in  der  Beschränkung 


liegt,  sehr  wohl  zu  schätzen  und  mit  feinem  Verständniss 
anzuwenden.  Grundsätzlich  hält  er  sich  als  Portrait- 
maler  nicht  an  den  flüchtigen  Moment  oder  das  rein 
Aeusserliche.  Ihm  ist  es  nicht  um  die  sogenannte 
realistische  Wahrheit,  die  auch  der  Photograph  erzielt, 
und  eben  so  wenig  um  coloristische  Geschicklichkeits- 
proben in  der  Wiedergabe  der  Stoffe  und  Farbenreize 
zu  thun.  Er  will  vor  Allem  das  Wesen  der  Persönlich- 
keit erkennen  und  festhalten.  Durch  seine  künstlerische 
Divinationsgabe,  verbunden  mit  seiner  technischen  Meister- 
schaft, gelingt  ihm  dies  vortrefflich,  und  am  besten, 
wenn  er  Menschen  von  hoher  geistiger  Bedeutung  zu 
malen  hat.  Sind  seine  Modelle  weniger  charakteristisch, 
so  zeigt  er  sich,  wo  ihnen  selbst  ein  anziehendes  Aeussere 
nicht  abzusprechen  ist,  oft  unvortheilhafter  und  lässt 
in  Bezug  auf  die  Aehnlichkeit  zu  wünschen.  Aber 
glücklicherweise  haben  gerade  diesem  Künstler,  dessen 
Specialität  gleichsam  die  Wiedergabe  der  Seele  ist, 
sehr  viele  geistig  hervorragende  Männer  seiner  Zeit 
gesessen.  Eine  Sammlung  dieser  interessanten  Portraits, 
welche  er  in  seinem  Atelier  aufbewahrt  und  der  englischen 
Nation  zum  Vermächtniss  bestimmt  hat,  wird  nicht 
allein  einen  künstlerischen,  sondern  auch  einen  historischen 
Werth  behalten.  Zu  den  von  ihm  gemalten  berühmten 
Engländern  gehören  —  um  mit  den  Dichtern  zu  beginnen 
—  Tennyson ,  Browning ,  Swinburne ,  Rosetti ,  Morris 
Matthew  Arnold,  Henry  Taylor;  unter  den  Schriftstellern 
und  Gelehrten  befinden  sich  Carlyle,  Stuart  Mill,  Lecky, 
Leslie  Stephen;  zu  den  Staatsmännern  zählen  Gladstone, 
Dilke,  der  Herzog  von  Argyle,  die  Lords  Salisbury, 
Shaftsbury,  Lyndhurst  und  Sherbrooke;  die  hohe  Geist- 
lichkeit sehen  wir  durch  Dean  Stanley,  Cardinal  Manning, 
Dr.  Martineau  vertreten,  und  von  den  Malern  sind  Burne 
Jones  und  Watts  selber  zu  erwähnen.  Fürwahr  eine 
stattliche  Liste!  Und  bei  jedem  Einzelnen  ist  seine 
specielle  Geistesgabe  als  Hauptmoment  der  Aehnlichkeit 
behandelt.  Dieses  Hervorheben  der  intellectuellen 
Eigenart,  deren  Ausdruck  manchen  auf  der  höchsten 
Stufe  der  Technik  stehenden  Malern  entgeht,  ist 
eben  von  wesentlicher  Bedeutung  für  die  Aehnlichkeit 
eines  Bildnisses,  und  zwar  weit  mehr,  als  naturge- 
treue Detailausführung ;  denn  diese  betrifft  häufig  das 
Nebensächliche  und  Zufällige ,  schliesst  aber  eine 
falsche  Auffassung  des  Wesentlichen  nicht  aus,  ja, 
bedingt  eine  solche  sogar,  wo  sie  in  unmotivirter  Weise 
hervortritt. 


J,  J.   Henner  piiix. 


Phot.  P.  H*nf«t«»nfl,  Manchen. 


Mädchen  aus  dem  Oberelsass. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


99 


Watts'  technische  Vorzüge  in  der  Bildnissmalerei 
sind  kräftige  Pinselführung,  meisterhafte  Beherrschung 
der  gedämpften  Farben,  vortreffliche  Modellirung  und 
in  der  Behandlung  der  Formen  des  Antlitzes  eine  sub- 
tile Verschmelzung  der  Licht-  und  Schattentöne.  Macht 
sich  auch  zuweilen  der  Einfluss  der  alten  venezianischen 
Portraitmaler  bei  ihm  geltend,  so  hat  er  sich  doch  im 
Ganzen  auf  diesem,  wie  auf  den  übrigen  Gebieten  seiner 
Kunst  einen  frischen,  ihm  selbständig  eigenen  Stil  be- 
wahrt, der  in  seltener  Weise  von  Manier  frei  ist  und 
stets  charakteristisch  wirkt.  Sein  vor  25  Jahren  ge- 
maltes Bildniss  Joachim's,  genannt  «  A  lamplight  study», 
berührt  sogar  fast  verblüffend  durch  die  Schärfe  des 
geistigen  Ausdrucks  und  die  Lebenstreue  der  Züge.  In 
den  weiblichen  Portraits  erreicht  Watts  nicht  immer  den 
Höhepunkt  seines  Könnens,  es  sei  denn,  dass  sein 
Modell  im  hohen  Grade  interessant  ist,  wie  z.  B.  Miss 
Tennant,  die  jetzige  Gattin  des  Afrikareisenden  Stanley. 
Aber  keines  von  seinen  Portraits  verleugnet  den  Meister 
in  der  Erkenntniss  der  Menschenseele,  jedes  einzelne 
bekundet  nicht  nur  die  Kunst  eines  grossen  Malers, 
sondern  auch  die  Kraft  eines  hervorragenden  Denkers. 
Es  sind  ganz  aussergewöhnliche  Fähigkeiten  des  Ver- 
standes, wie  des  Gemüthes,  welche  diesem  Manne  mit 
so  vielen  ganz  verschieden  gearteten  Geistern  höchsten 
Ranges  Fühlung  geben.  Unter  allen  diesen,  die  intellec- 
tuellen  Kräfte  im  Leben  der  Nation  vertretenden  Zeit- 
genossen ,  die  Watts  gemalt  hat,  ist  kein  Einziger,  bei 
dem  es  ihm  nicht  gelungen  wäre,  genau  den  Grundton 
zu  treffen. 

Den  Landschaften  Watts'  habe  ich  keine  eingehende 
Besprechung  gewidmet,  wenngleich  er  auch  manchen 
schönen  ■  Erfolg  in  dieser  Kunstgattung  erzielt  hat.  In- 
dessen ist  er  auf  diesem  Gebiet  verhältnissmässig 
weniger  thätig  gewesen  und  hat  sich  mehr  darauf  be- 
schränkt, die  Natur  als  Umgebung  seiner  menschlichen 
und  übersinnlichen  Gestalten  zu  verwerthen.  Es  giebt 
jedoch  kein  Fach  der  Malkunst,  in  welchem  er  sich 
nicht  versucht  und  mehr  oder  minder  ausgezeichnet 
hätte.  Als  ein  grosser  Verehrer  der  Frescomalerei  hat 
er  mehr  als  irgend  ein  Anderer  gethan,  um  diese  Kunst 
in  England  einzubürgern,  obwohl  die  Ungunst  des  Climas 
für  dieselbe  ein  grosses,  wenn  nicht  gar  verhängniss- 
volles Hinderniss  bildet.  Unter  diesem  schädlichen  Ein- 
fluss haben  die  F'resken  im  Westminster-Palast  bedeu- 
tend   gelitten.      Einmal    erbot    sich    der   Künstler,    nur 


gegen  Erstattung  des  Herstellungs- Materials  die  grosse 
Halle  des  Euston- Bahnhofes  mit  Wandgemälden  zu 
schmücken.  Dieser  Plan  ist  indessen  nie  zur  Ausführung 
gelangt,  was  kaum  zu  beklagen  ist,  in  Anbetracht  der 
ungeschützten  Lage  des  Raumes  und  der  daraus  folgen- 
den Gefahr  für  die  projectirte  Malerei.  Er  folgt  der 
Methode  und  Anleitung  Cennini's,  und  seine  in  Privat- 
häusern befindlichen  Fresken,  welche  vor  Gas  und 
Feuchtigkeit  geschützt  sind  ,  haben  sich  in  gutem  Zu- 
stande erhalten.  Die  grosse  Speisehalle  für  die  Juristen 
von  Lincolns  Inn  weist  eines  der  anerkannt  besten 
Frescogemälde  von  Watts  auf,  sein  «The  School  of 
Legislature«.  Das  ausserordentlich  schöne  Werk,  welches 
an  der  nördlichen  Wand,  deren  ganze  Fläche  es  ein- 
nimmt, vortrefflich  zur  Geltung  kommt,  erinnert  etwas 
an  Raphael's  « Schule  von  Athen »  und  führt  uns  die 
grössten  Gesetzgeber  der  Welt  von  Moses  bis  Eduard  I. 
vor.  Die  dreissig  Colossal  -  Figuren  sind  in  höchst 
wirkungsvoller  Gruppirung  auf  drei  Stufenreihen  ver- 
theilt.  Des  Künstlers  glänzende  Gabe  für  Zeichnung 
und  Composition,  seine  edle  und  breite  Darstellungs- 
weise finden  wir  hier  in  einer  Kunstgattung  bewährt, 
von  welcher  England  bisher  nur  wenige  und  zwar  nicht 
hervorragende  Leistungen  besitzt.  Hoffentlich  bleibt 
dieses  Werk  lange  von  dem  verderblichen  Einfluss  der 
Zeit  verschont. 

Watts  erachtet  das  Erlernen  dieser  Art  Malerei 
von  hoher  Wichtigkeit  für  die  Ausbildung  eines  Kunst- 
schülers, und  er  wird  nicht  müde,  private  und  öfiTent- 
liche  Corporationen  auf  die  dringende  Nothwendigkeit 
hinzuweisen ,  dass  zum  Studium  nach  dieser  Richtung 
hin  möglichst  viel  Gelegenheit  geschafft  werde.  Der 
wolkenschwere  Himmel  Englands  indessen  und  die  zer- 
störenden Wirkungen  der  unbeständigen  Temperatur 
daselbst  sind  nicht  ermuthigend  für  eine  Thätigkeit, 
deren  Ergebniss  nur  selten  bei  genügendem  Licht  ge- 
sehen wird  und  bald  nach  der  Vollendung  der  Zerstörung 
anheim  fällt. 

Dass  Watts  auch  der  Bildhauerkunst  viel  Studium 
gewidmet  hat,  davon  zeugen  nicht  nur  seine  Leistungen 
als  Maler,  sondern  auch  die  Proben  seines  Könnens  in 
der  Plastik  selbst.  Unter  seinen  Sculpturen  zählt  zu 
den  bedeutendsten  die  grosse,  in  Bronce  ausgeführte 
Reitergruppe  für  das  dem  Begründer  der  Familie  des 
Herzogs  von  Westminster ,  Hugh  Lupus ,  errichtete 
Denkmal  in  Chester.     Auch  die  Cathedrale  in  Lichfield 


100 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


birgt  ein  von  Watts  modellirtes  Denkmal,  und  seine 
Büste  der  sterbenden  Ciytia  ist  ein  Bildwerk,  das  einen 
hohen  Grad  von  Begabung  und  Feingefühl  für  die 
plastische  Kunst  verräth. 

In  England  sind  die  Künstler  mehr  als  in  anderen 
Ländern  auf  Erfolge  beim  Privatpublicum  angewiesen. 
Dass  hieraus  in  künstlerischer  Hinsicht  manche  Nach- 
theile erwachsen,  liegt  auf  der  Hand,  aber  die  Erfahrung 
lehrt  auch  anderentheils,  dass  die  englische  Regierung, 
wo  sie  Staatshilfe  verfügt  hat,  nur  in  den  seltensten  Fällen 
so  glücklich  inspirirt  gewesen  ist,  wie  s.  Z.  bei  dem  jungen 
Watts.  Sonst  pflegt  sie  oft  die  bedenklichsten  Fehler 
in  dieser  Beziehung  zu  machen.  Die  Kunst  blüht  in 
England  nur  als  exotische  Pflanze.  Mr.  Watts,  der  von 
dem  Wunsche  beseelt  ist,  sie  als  ein  Gut  von  nationaler 
Bedeutung  betrachtet  zu  wissen,  hat  ein  schönes  Beispiel 
von  patriotischer  Gesinnung  gegeben,  um  dieses  Ziel 
fördern  zu  helfen.  Im  Jahre  1886  machte  er  eine  An- 
zahl seiner  berühmtesten  Gemälde  der  englischen  Nation 
zum  Geschenk,  der  er  auch  die  Sammlung  als  Erbschaft 
bestimmt  hat,   welche   sich    in   seinem  Atelier  befindet. 

Nicht  ohne  Interesse  dürfte  ein  Blick  auf  Watts' 
Technik  sein ,  denn  auch  hierin  zeigt  er  sich  ebenso 
originell  und  zielbewusst ,  wie  in  seinen  Entwürfen. 
Seine  Methode  besteht  darin ,  die  Farben  mosaikartig 
eine  neben  die  andere,  zu  setzen,  anstatt  zu  unterlegen 
und  zu  übermalen.  An  den  Umrissen  mischt  er  natür- 
lich, aber  nie  trägt  er  helle  Farben  über  dunklere  auf. 
Er  vermeidet  es  thunlichst,  Weiss  mit  transparenten 
Farben  zu-  vermischen ,  und  wählt  lieber  solche ,  deren 
Substanz  mehr  durchsichtig  als  körperlich  ist.  Er 
glaubt,  dass  sein  bis  auf  den  Grund  transparent  ge- 
haltener Farbenauftrag  mit  der  Zeit  an  Glanz  gewinnen 
und  dann  gleich  dem  leuchtenden  Colorit  der  Glasmalerei 
wirken  wird.  Bei  den  Farben  selbst  legt  er  auf  Schön- 
heit derselben  grossen  Werth,  und  er  nimmt  sie  voll 
und  trocken,  mit  nur  sehr  wenig  Bindemittel.  Für  die 
Richtigkeit  seiner  Ansicht  dürfte  die  Thatsache  sprechen, 
dass  einige  seiner  Bilder,  die  vor  bald  einem  halben 
Jahrhundert  gemalt  sind,  an  Frische  des  Colorits,  ohne 
dass  er  seitdem  irgend  etwas  dazu  gethan  hat,  die 
meisten  seiner  neueren  Gemälde  weit  übertreffen.  Die 
Farben  scheinen  sogar  förmlich  von  innen  heraus  zu 
leuchten,  was  einen  wunderbar  schönen  Effect  ergibt. 

Von  Mr.  Watts'  Privatleben  ist  wenig  zu  berichten, 
er  lebt  fast  nur  in  seiner  Kunst  und  für  dieselbe.     Als 


er  schon  im  reiferen  Alter  stand ,  verheirathete  er  sich 
und  beging  den  Fehler,  ein  ganz  junges  Mädchen,  bei- 
nahe noch  ein  Kind,  zu  erwählen.  Bedrückt  von  dem 
Ernst  ihres  Gatten ,  für  dessen  Streben  es  ihr  an  Ver- 
ständniss  mangelte,  und  der  seinen  Malereien  mehr  Auf- 
merksamkeit zuwenden  mochte  als  ihr,  spielte  sie  ihm 
eine  Menge  toller,  im  Grunde  freilich  nur  kindischer 
Streiche ,  die  den  ernsten  Mann  fast  zur  Verzweiflung 
trieben,  bis  sie  —  selbst  in  Verzweiflung  gerathen  — 
davon  lief.  Sie  wurde  eine  berühmte  Schauspielerin, 
die  beste,  welche  die  englische  Bühne  zur  Zeit  besitzt, 
Henry  Irving's  Mitgenossin  bei  allen  seinen  dramatischen 
Unternehmungen  —  die  gefeierte  Ellen  Terr>'.  Erst 
nach  langen  Jahren  hat  sich  Mr.  Watt  entschlossen, 
ihren  wiederholten  Gesuchen  um  Scheidung  nachzu- 
geben. Und  vor  zwei  Jahren  ist  er,  trotz  seines  Alters, 
eine  neue  Heirath  eingegangen,  ebenfalls  mit  einer  Dame, 
die  bei  weitem  jünger  ist  als  er.  Eine  passendere  Ehe 
scheint  es  dieses  Mal  indessen  zu  sein,  wenigstens  in 
Bezug  auf  das  beiderseitige  Temperament. 

Sein  Heim  befindet  sich  noch  heute,  wo  er  es  vor 
vielen  Jahren  aufgeschlagen  hat  —  im  Little  Holland 
House ,  einer  Art  Filiale  jenes  berühmten ,  grossen 
Holland  House  des  kunstliebenden  Lord  Holland,  welcher 
einer  der  wärmsten  Freunde  Mr.  Watts'  gewesen  ist. 
Hier  hat  der  Künstler  eine  grosse  und  schöne  Gemälde- 
galerie für  sich  eingerichtet,  wo  die  bedeutendsten  seiner 
Bilder  hängen.  Diese  Galerie  hält  er  in  dankenswerther 
Liebenswürdigkeit  für  die  Sonnabend-  und  Sonntag- 
nachmittage dem  Publicum  geöffnet,  er  selbst  aber  ist 
dann  niemals  dort  zu  finden.  Ueberhaupt  zieht  er  sich 
mit  fast  peinlicher  Beflissenheit  in  sein  Privatleben  zu- 
rück, er  will  von  der  Welt  nur  in  den  Werken  gekannt 
sein,  welche  er  für  sie  geschaffen  hat. 

Dass  die  Nachwelt  stets  die  zeitgenössischen  Kunst- 
urtheile  umstösst,  ist  eine  nachgerade  sprichwörtlich 
gewordene  Weisheit.  Trotzdem  dürfte  Mr.  Watts,  nach 
seinen  besten  Schöpfungen  und  seinem  künstlerischen 
Lebensgang  zu  schliessen,  als  einer  von  Denen  zu  be- 
zeichnen sein,  «welchen»,  wie  ein  treffender  Aussprvich 
besagt,  <  ein  bleibender  Sieg  gewährt  ist ;  die,  ob  Realisten 
oder  Idealisten,  stets  mit  Sicherheit  durchdringen,  und 
deren  Werke  den  Streit  der  Schulen  überdauern  werden  » . 
Dieser  Maler  ist  in  der  That  einer  von  den  wenigen 
lebenden  Künstlern,  die  während  ihrer  ganzen  Laufbahn 
ihren  erwählten  Zielen  treu  geblieben  sind. 


UNKRITISCHE  KUNSTLERPORTRAITS 


VON 


FRED.    WALTHER. 


III. 


THURE  FREIHERR  VON  CEDERSTRÖM. 


Seit  Ende  der  Siebzigerjahre  sind  bei  allen 
I  Münchener  Au-sstellungsgelegenheiten,  im  «Glas- 
palast »  und  im  Kunstverein,  Thure  von  Ceder- 
ströms  Genrebilder  gerne  und  oft  gesehen  worden. 
Meist  kleinen  Formats,  erfreuten  sie  schon  von  jeher 
durch  die  unendliche  Sorgfalt  und  Liebe  der  Aus- 
führung, durch  die  Reinheit  ihrer  Zeichnung  und  die 
Gewissenhaftigkeit,  mit  der  Stoffe  und  stilllebende 
Einzelheiten  bis  zum  Eindruck  greifbarer  Plastik  darauf 
durchgebildet  waren.  Meist  waren  es  Kostümbildchen 
und  Klosterszenen,  die  wir  hier  von  Cederströms  Hand 
gesehen  haben ;  vielfach  einzelne  Cavaliere  in  den 
reichen  und  malerischen  Trachten  des  17.  Jahrhunderts, 
oder  Gruppen  zechender  oder  studirender  Mönche  in 
den  faltigen  Kutten  verschiedener  Orden.  Der  Gegen- 
stand stets  einfach  und  für  sich  selbst  redend ,  die 
Köpfe  lebendig  und  charakteristisch  und  Alles  merk- 
würdig ^scharf  gesehen,  mit  offenen,  ehrlichen  Augen 
gesehen.  Der  Künstler  hat  nie  versucht,  die  Dinge  so 
aufzufassen,  wie  es  eine  herrschende  Kunstrichtung 
opportun  erscheinen  Hess,  sondern  er  hat  vollkommen 
seinen  eigenen  klaren  Augen  vertraut.  Und  die  Ehr- 
lichsten in  der  Kunst  sind  doch  die  Besten  —  nicht 
als  ob  alle  Ehrlichen  immer  gut  wären!  Aber  sie  sind 
es  sicherlich  öfter  als  Die,  die  Konzessionen  machen 
und  die  geschmeidigen  Kammerherren  der  Fürstin 
Mode. 

Thure  von  Cederström  ist  geboren  am  25.  Juni 
1843  auf  dem  Gute  seiner  Eltern  Aryd  in  der  Provinz 
Smaland  in  Schweden  als  der  Jüngste  von  fünf  Ge- 
schwistern.    Seines    Vaters ,    den    er    schon    im    fünften 


Lebensjahre  verlor,  erinnert  sich  der  Künstler,  wie  er 
erzählt,  so  gut  wie  gar  nicht;  jener  war  Cavallerieoberst 
und  nur  das  bunte  militärische  Gepränge  bei  seinem 
Begräbnis  blieb  seinem  Sohne  im  Gedächtnis  und  ist 
heute  dessen  erste  und  lebhafteste  Erinnerung  aus  der 
Kinderzeit. 

Von   einem  Hauslehrer  aus  geistlichem  Stande    er- 
hielt Cederström  seine  erste  Erziehung,  dabei  sicherlich 


Th.  von  Cederström.     « Schach  —  matt.  » 


102 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Alles  eher  als  künstlerische  Anleitung  oder  auch  nur 
Anregung  erhaltend.  Früh  bekommener  Anregung  hatte 
er  überhaupt  seine  späteren  künstlerischen  Neigungen 
nicht  zu  danken.  Im  Elternhause  gab  es  weder  Kunst- 
pflege noch  Bilderschmuck ,  noch  irgend  welch  sonst- 
iges Kunstwerk,  wodurch  ein  latent  vorhandener  Maler- 
sinn geweckt  werden  konnte;  nur  die  Mutter  unseres 
Künstlers  hatte  früher,  der  zu  Beginn  des  Jahrhunderts 
herrschenden  Mode  der  Blumenmalerei  folgend,  die 
Pinsel  geführt  und  merkliches  Talent  dabei  verrathen ; 
ein  Moment,  das  doch  vielleicht  nicht  zu  unterschätzen  ist. 
Moderne  Physiologen  behaupten  ja,  dass  bei  den  über- 
wiegend meisten  Künstlern  sich  eine  hereditäre  Veran- 
lagung bei  sorgfältiger  Forschung  nachweisen  lassen 
müsse.  Sonst  war  in  Cederström's  Elternhaus  von  Kunst, 
wie  gesagt,  wenig  die  Rede.  Seine  Einrichtung  war  in 
dem  hervorragend  nüchternen  Stil  vom  Anfang  unseres 
Säkulums  gehalten;  von  Geschwistern  zeigte  Niemand 
irgend  welche  Anlagen  künstlerischer  Art. 

Und  trotz  der  mangelnden  Anregung  zeigte  sich 
des  kleinen  Mannes  künstlerische  Ader  früh  genug. 
Er  war  ein  sehr  lebhaftes  Kind  und  nicht  leicht  zum 
Stillsitzen  zu  bringen.  Da  pflegte  ihm  denn,  wenn  er 
gar  zu  lebendig  wurde,  seine  Mutter  einen  Bleistift  und 
ein  Stück  Papier  zuzuschieben ,  und  man  erzählte  ihm 
später,  dass  dieses  Mittel  die  beabsichtigte  Wirkung 
selten  oder  nie  verfehlte. 

Seltsamerweise  entstand  inmitten  der  nüchternen 
Umgebung  in  dem  Knaben  eine  unerklärliche  aber 
leidenschaftliche  Liebhaberei  für  Alterthümer,  während 
seine  Altersgenossen  Eier  und  Schmetterlinge,  Stahl- 
federn, Käfer  oder  Siegelabdrücke  sammelten,  trug  er 
sich  alterthümliche  Objekte  aller  Art  zusammen.  Das 
trug  ihm  —  der  Sport  war  damals  in  Schweden  noch 
nicht  so  verbreitet,  wie  er  es  heute  allenthalben  ist  — 
Spott  und  Neckereien  von  allen  Seiten  ein  und  er  musste 
sich  den  Spitznamen  «Lumpensammler»  gefallen  lassen. 
Ueber  seine  ersten  Schuljahre  weiss  Thure  von  Ceder- 
ström  nicht  viel  Interessantes  zu  berichten  und  sie 
zeigten  grosse  Aehnlichkeit  mit  denen  anderer  Jungen. 
An  die  Zukunft  und  das  «Werden»  dachte  er  nicht 
viel  und  die  meisten  Lehrgegenstände  erweckten  in  ihm 
nicht  mehr,  als  das  übliche  Interesse.  Nur  die  Zeichen- 
stunde! Und  hätten  seine  damaligen  Lehrer  selbst  was 
Besseres  gekannt,  so,  meinte  er,  würden  sie  ihm  wohl 
auch    was   Besseres   gelehrt   haben ,    als   geschmacklose 


Th.  von   Cederströin.     Aus  dem  Schlosse  Tidö   in   Schweden. 

Vorlagen  in  Strichmanier  zu  kopiren.  Zum  Klassen- 
ersten hat  er  es  nie  gebracht,  das  ist  nachgewiesen. 
Auch  kein  Unglück !  Unter  den  Menschen ,  die  was 
Rechtes  oder  was  Besonderes  erreicht  haben  im  Leben, 
ist  selten  Einer,  den  in  der  Schulzeit  die  Würde  eines 
«  Primus  »   schmückte. 

Auch  Künstlerträume  haben  damals  den  Knaben 
nicht  begeistert.  Und  als  die  Jahre  kamen,  wo  es  galt, 
sich  für  einen  bestimmten  Beruf  zu  entscheiden ,  da 
meinte  er,  sonderbar  genug,  dass  er  nur  als  Marine- 
ofilzier  sein  Lebensglück  finden  könne.  Er  hatte,  im 
Lande  geboren  und  erzogen,  nie  das  Meer  gesehen, 
und  ihm  selbst  war  später  räthselhaft,  wie  er  zu  der 
Idee  kam,  ein  Seeheld  werden  zu  wollen.  In  Wahrheit 
war's  kaum  ein  Räthsel.  Auch  bei  uns  Festländern 
träumt  jeder  wackere  Junge  von  kühner  Seefahrt  und 
allerhand  nautischen  Abenteuern ,  und  Thure  Ceder- 
ström's Grossvater  war  überdies  Generaladmiral  der 
schwedischen  Marine  gewesen ,  hatte  tapfer  für  sein 
Vaterland    gefochten   und   seine  Enkelkinder  hatten    oft 


4^ 

X 

u 

O 


B-   Galofie  j  Gimcuei  pinx. 


Heimkehr  vom  Feste. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


103 


genug  im  Elternhaus  von  seinen  Thaten  und  Erlebnissen 
erzählen  hören.  Ja  die  Vererbung !  Zunächst  kam  der 
Jüngling,  der  noch  nicht  15  Jahre  zählte,  in  eine 
Stockholmer  Erziehungsanstalt,  um  für  das  Cadetten- 
corps ,     wo     jenes 

Alter    als    nächste        

Eintrittsbedingung 
galt,  vorbereitet  zu 
werden. 

Nach  ziemlich 
kurzer  Zeit  gab 
unser  Seeheld  den 
Gedanken,  Marine-  ' 
offizier  zu  werden, 
wieder  auf;  die 
Kauffahrtei  reizte 
ihn  mehr  und  er 
wollte  nun  künftig 
als  Kapitän  eines 
flotten  Handels- 
schiffes die  Meere 
durchschweifen. 

Dies  Verlangen 
wurde  ihm  zu  sei- 
nem Glücke  je- 
doch rundweg  ab- 
geschlagen. Das 
gab  seinen  nau- 
tischen Liebhabe- 
reien einen  schwe- 
ren Stoss.  Den 
Rest  aber  gab 
ihnen  seine  erste 
Seereise  mit  der 
dabei  gekosteten 
Seekrankheit.  Alle 
Marine  und  See- 
fahrerei der  Erde 
war  ihm  nun  auf 
immer  verleidet. 

Er  trat  in's  Cadettencorps  ohne  sonderliche  Lust 
für's  militärische  Fach  und  verbrachte  dort  manches 
Jahr  —  nutzlos,  wie  er  selbt  meint,  aber,  wer  kann  das 
sagen.     Die  Beschäftigung  mit  den  Büchern,  vor  Allem 


schuf  er  sich  selbst  viel  freie  Zeit  und  die  wandte  er 
dann  in  seiner  Weise  an :  zum  Zeichnen  von  Album- 
blättern, Landkarten,  zum  linearen  Zeichnen  von  Block- 
häusern,  Brücken  und  anderen  Architekturwerken,   von 

Festungen  —  ja  in 
Ermanglung  von  et- 
was Besserem  von 
Kanonen  -  Lafetten 
und  dergleichen. 
Alles,  was  Zeich- 
nen hiess,  war  seine 
Lust  und  er  hat  sei- 
nen Kameraden  oft 
damit  ausgeholfen. 
Die  Liebe  zur 
Kunst  war  in  der 
Brust  des  Jünglings 
wach  geworden. 

Es  war  damals 
seine  grösste  Freu- 
de ,  wenn  er  nun 
Sonntags  irgend 
ein  Maler- Atelier 
in  Stockholm  be- 
suchen durfte  und 
die  Leute  vor  ihren 
Staffeleien  sah. 

Selbst  einmal  ein 
Maler  zu  werden, 
daran  dachte  er 
noch  nicht.  Aber 
die  Kunst  freute 
ihn.  Und  so  ging 
er  einmal  —  cha- 
rakteristisch genug 
—  zu  einem  Maler 
und  bestellte  sich 
ein  Oelbild ,  wozu 
er  das  Thema  an- 
gab: es  sollte  Ca- 
detten  darstellen,  die  in  kleinem  Handschlitten  fahren, 
und  er  selbst  wollte  mit  einigen  Freunden  in  einem 
solchen  Schlitten  abkonterfeit  sein.  Recht  ernsthaft  ist 
die.ser  Auftrag  wohl  nicht  aufgefasst  worden.  Denn 
das  Auswendiglernen,  war  nicht  seine  Sache  und  mit  jener  Maler  hat  das  bestellte  Bild  nie  fertig  gestellt 
dem  Examen  stand  er  .stets  auf  gespanntem  Fusse.    So      und  wohl  auch  nie  angefangen. 


Th.  von  Ceäerstroin.     Das  sogenannte  c  Herrenhaus»   Kloster  Maulbronn. 


16 


104 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Th.  von   Cederström.     Die  Sakristei  in  der  Stadtkirche  zu  Rudolstadt. 


Auch  die  Cadettenjahre  gingen  vorbei,  ohne  dass 
Cederström  trotz  aller  Liebe  zum  Zeichnen  und  Malen 
eine  ernsthafte  und  bestimmende  künstlerische  Anregung 
erhalten  hätte  und  so  trat  er  denn  nach  absolvirter 
Schule  in  das  Leibgarderegiment  zu  Pferd  ein.  1869 
bis  1870  nahm  er  einjährigen  Urlaub  nach  Paris  und 
dort  erhielt  er  einen  Einblick  in  das  Leben  und  Treiben, 
das  Ringen  und  Streben  der  Künstler,  sah  verschiedene 
Ateliers,  lernte  einen  Beruf  näher  kennen,  zu  dem  er 
sich  fiir's  Erste  noch  nicht  ganz  heran  wagte  —  aber 
als  Dilettant  wurde  er  in  diesem  Jahre  bereits  Schüler 
bei  Salmson. 

Das  glückhche  Jahr  verging  und  er  wurde  wieder 
Soldat,  kehrte  nach  Schweden  zurück  und  erhielt  ein 
Kommando  zur  Offiziersreitschule,  wobei  er  mit  den 
übrigen  Kameraden  auf  einem  Schlosse  auf  dem  Lande 
in  herrlicher  Lage  einquartirt  wurde.  Sie  hatten  dort 
Pferde  zuzureiten,  Hufbeschlag  zu  studieren,  zu  fechten 
u.  s.  w.  und  im  Uebrigen  viel  freie  Zeit.  Diese  benützte 
er   denn    in   aller  Stille,    seinem    alten    unbezwinglichen 


Hange  zu  folgen,  zu  zeichnen  und  zu  aquarelliren. 
Und  dort  erhielt  der  künftige  Maler  seinen  ersten  künst- 
lerischen Auftrag,  auf  den  er  nicht  wenig  stolz  war. 
Der  Chef  der  Equitation  bat  ihn  eines  Tages,  für  eine 
neuerbaute  Stallung  den  Entwurf  zu  einer  Wetterfahne 
zu  machen.  Sie  erhielt  die  Form  eines  springenden 
Gaules:    ob   sie  sich  nocli  im  Winde  dreht? 

Auf  dem  Lande,  im  Verkehr  mit  der  Natur,  ent- 
stand im  Herzen  des  jungen  Mannes  immer  dringender 
die  Sehnsucht  nach  anderer,  nach  künstlerischer  Be- 
schäftigung. Als  die  Offiziere  nun  gar  nach  Stockholm 
zurückkehrten,  wurde  ihm  der  eintönige  Garni.sonsdienst 
vollends  zum  Ueberdruss.  Er  schrieb  seiner  Mutter, 
die  über  den  abermaligen  Berufswechsel  nicht  wenig 
erschrak,  dass  er  Maler  werden  wolle.  Die  Mutter  rief 
brieflich  seinen  früheren  Vormund,  einen  hohen  Beamten, 
zu  Hilfe,  dem  wankelmüthigen  Sohne  in's  Gewissen  zu 
reden.  Dieser  that  auch  sein  Bestes  in  diesem  Sinne 
—  aber  umsonst!  Da  ging  denn  der  Vormund  zu 
einem  Maler  —   E.  Lundgren  hiess  er  und  war  zu  seiner 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


105 


Zeit  als  Aquarellist  in  England  sehr  geschätzt  —  und 
trug  diesem  die  Sache  vor.  Zuletzt  fragte  er  ihn,  ob 
der  junge  Renegat  auch  genügend  Talent  besässe.  Das 
könne  er  noch  nicht  entscheiden,  meinte  er,  da  er  von 
Cederström  bisher  keine  selbständige  Arbeit  gesehen. 
Aber  das  könne  er  sagen:  «Wenn  er  Maler  werden 
will ,  so  wird 
er  Maler  werden, 
dann  nützt  Ihnen 
alles  nichts,  -n 

Das  gab  nun 
den  Ausschlag 
und  alle  Be- 
kehrungsversuche 
und  Einwendun- 
gen von  Mutter 
und  Exvormund 
verstummten  hin- 
fort. Thure  von 
Cederström  ver- 
langte und  er- 
hielt seinen  Ab- 
schied. 

Leicht  wurde 
es  dem  ange- 
henden Künstler 
von  seiner  übri- 
gen Familie  ge- 
rade nicht  ge- 
macht. Ein  wah- 
rer Sturm  brach 
los  gegen  seinen 
Entschluss ,  jetzt 
Künstler  zu  wer- 
den.    Eine  ältere 

Dame  der  Familie  ging  in  ihrer  Entrüstung  sogar  so 
weit,  dass  sie  sagte,  unser  Mann  sei  «ein  Schand- 
fleck für  die  Familie,  da  er  ein  entehrendes  Handwerk 
ergriffen  hätte».  Er  hat  ihre  Worte  noch  frisch  im 
Gedächtnisse  und  es  möchte  ihm  wohl  Spass  machen, 
wenn  die  würdige  Dame  diese  Zeilen  zu  Gesicht  be- 
käme. 

Cederström  ging  nun  zu  Lundgren ,  zunächst  um 
ihm  zu  danken  für  den  bestimmenden  Einfluss,  den  er 
auf  sein  Leben  gewonnen,  dann  aber  auch,  um  an  ihn 
die  Frage    zu   richten,    was  jetzt   zu    thun    sei.     Seine 


1 


7/5.  von  Ceders/röm.     Aus  Überlingen. 


Sehnsucht  war  Italien,  das  Land  der  Sehnsucht  für  alle 
jungen  Künstler,  wie  überhaupt  für  Alle,  deren  Herzen 
in  lebhafterem  Tempo  .schlagen.  <Da  thun  Sie  recht  !> 
meinte  Jener,  «Bleiben  Sie  aber  auf  der  Durchreise  ein 
paar  Jahre  in  Deutschland».  Und  der  Andere  fuhr 
nach  Düsseldorf,  um  dort  Jemanden  zu  finden,  bei  dem 

er  sich  im  Aqua- 
rellmalen weiter 
ausbilden  konnte. 
Man  lachte  ihn 
aus.  Sie  sagten: 
« Aquarellmalen 
in      Deutschland 

—  das  geben 
Sie  nur  gleich 
auf!  j 

So  ging  er 
denn  zu  dem 
bekannten  Histo- 
rienmaler Albert 
Baur  zu  Aachen 
(geboren  13.  Juli 
1835)  und  fragte, 
ob  er  nicht  des- 
sen Schüler  wer- 
den könne. 

« Zeigen  Sie 
mir  einmal  Et- 
was, was  Sie  ge- 
macht    haben .' » 

—  < Ich  habe 
noch  nichts  ge- 
macht » ,  musste 
der  junge  Mann 
antworten ,  wo- 
Cederström  stand 
Er   trat   übrigens 


rüber  der  Andere  sichtlich  erschrak, 
damals    in    seinem    28.  Lebensjahre, 
nichtsdestoweniger  zu   Albert  Baur  in    die   Schule,   erst 
als  Schüler  und  dann  als  Freund. 

Im  Jahre  1872  wurde  Baur  zum  Professor  an  der 
grossherzoglichen  Akademie  in  Weimar  ernannt,  und  sein 
Schüler  Cederström  folgte  ihm  in  die  ehrwürdige  Musen- 
stadt. Albert  Baur  war  ein  eminenter  Lehrer  und  legte 
seine  Befähigung  zu  seinem  hohen  Berufe  namentlich 
durch  Eines  an  den  Tag:  er  Hess  seine  Schüler  ihre 
eigenen  Wege  gehen.     Wer  deutsche  Akademieverhält- 


16* 


106 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Tli.  von   Cederström.     Der  ehemalige  Kaiserbnmnen  in  Ueberlingen. 

nisse  kennt,  weiss,  was  das  sagen  will.  Viele,  viele 
Talente  sind  getödtet ,  sind  erstickt  worden  durch  das 
vorherrschende  Bestreben  der  Professoren, 
ihre  Schüler  in  den  Bann  der  eigenen  sub- 
jektiven Anschauungsweise  zu  zwingen ; 
manchem  Talente  ist  dadurch  die  Kunst 
überhaupt  verleidet  worden  —  und  die 
waren  noch  fast  am  Besten  daran!  Denn 
ein  grosser  Theil  der  Anderen  ist  in  blöder 
Nachahmung  verflacht  oder  hat  erst  nach 
schweren  Kämpfen  den  Staub  der  Aka- 
demie wieder  von  sich  abgeschüttelt.  Nur 
die  Berufensten  wahrten  ihre  Persönlichkeit 
—  und  die  hatten  sich  genug  darum  zu 
plagen.     Doch  das  führt  weit  ab ! 

Von  Weimar  aus  unternahm  der  junge 
schwedische  Maler,  denn  das  war  Ceder- 
ström nun  aus  einem  Seefahrer  und  einem 
Reilcrsmann  endlich  geworden,  seine  erste 
Studienreise  und  zwar  nach  den  malerischen 
Klosterruinen  von  Maulbronn  und  dem  erz- 


bischöflichen Palais  in  Bruchsal.  Bald  folgten  dieser 
Reise  andere,  grössere,  nach  Italien,  an  die  lieblichen 
Gestade  des  Bodensees,  zurück  in's  Vaterland  nach 
Schweden  u.  s.  w.  Im  Jahre  1876  trieb  das  Heimweh 
den  Freund  und  Lehrer  Professor  Baur  heim  ins 
Rheinland,   er  ging  nach  Düsseldorf  zurück. 

Thure  von  Cederström  zog  1877  nach  München, 
wo  so  viele  nicht  deutsche  Künstler  eine  liebe  und 
geliebte  Heimath  gefunden  haben. 

Als  er  im  Herbst  1871  vom  elterlichen  Hause 
Abschied  nahm,  hatte  er  der  Mutter  versprechen 
müssen,  nach  fünf  Jahren  sein  erstes  Bild  nach  Hause 
schicken  zu  müssen.  Es  ward  ihm  die  Freude,  dieses 
Versprechen  schon  im  dritten  Jahre  einlösen  zu  können. 
Er  schickte  1874  ein  Bild,  von  dem  er  .selbst  sehr 
bescheiden  spricht,  als  Probe  dessen,  was  er  erreicht, 
in  die  Heimath  und  das  Bild  hatte  dort  schönen  Er- 
folg. Der  beste  Erfolg  aber  mag  für  den  Künstler 
darin  bestanden  haben,  dass  sich  von  jenem  Tage  an 
seine  Mutter  mit  seinem  Schicksale  und  seiner  Berufs- 
wahl aussöhnte. 

Seitdem  hat  sich  sein  Kün-stlerleben  glatt  abge- 
sponnen. 

Er   war    stets    der   Fleissigsten   Einer   von    dem 

Zeitpunkte  an,  da  er  seiner  Neigung  folgen  und  dem 

selbstgewählten    Lebensziele    näher    treten    durfte.      So 

folgte  Bild  auf  Bild   —   es  ist  nachgerade  eine  stattliche 


Th.  von  Ceiierslröm.    (Erste  Studie.)     Das  Refektorium  des  Cistercienserklosters  Maulbronn. 


P,   M«y>r'M«ini  pinx. 


Phot.  1*.   IUnr«U*n|l,  Kflnrhen 


Hubertustag. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


107 


Zahl  geworden  und  sie  haben  sich  alle  der  besten  Auf- 
nahme erfreut. 

«Und  nun  male  ich  halt  so  weiten»,  sagt  Thure 
von  Cederström,  die  schlichte  Erzähhuig  seiner  Lebens- 
geschichte beschliessend. 

Keine  wilddramatische  Künstlerbiographie,  aber  ein 
schönes,  erfreuliches,  gesundes  Bild  einer  künstlerischen 
Entwicklung.  Kein  wolkenstürmendes  Talent  —  aber 
eine  warmherzige,  begeisterte,  ehrliche  Malernatur,  die 
wohl  nicht  wie  «Flammenwahnsinn  den  Beruf»  spürte, 
aber  doch  wie  einen  heiligen,  unwiderstehlichen  Drang, 
dem  sie  folgte,  was  auch  entgegenstand ,  sobald  er  er- 
kannt war. 

Der  vorstehenden  Betrachtung  sind  Nachbildungen 
von  Cederström's  Studien  beigefügt,  die  erkennen  lassen, 
mit  wie  durchdringendem  Blick,  mit  wie  eingehendem 
Fleiss  und  mit  wie  sicherer  Hand  er  seine  geliebte  Arbeit 
that.  Auch  gegenständlich  sind  die  ehrwürdigen,  zum 
Theil  hochoriginellen  Architekturbilder  reizvoll  genug. 
Schildern  sie  doch  Ergebnisse  einer  Kultur,  die  unserer 
heimischen  unendlich  nahe  verwandt  ist. 

Am  meisten  bekannt  ist  Cederström ,  wie  gesagt, 
wohl  dem  grossen  Publikum  durch  seine  liebenswürdigen 
und  humorvollen  Schilderungen    aus   dem  Klosterleben. 


Sein  Stoffgebiet  ist  hiebei  mit  dem  Eduard  Grützner's 
ziemlich  identisch,  wenn  er  auch  durchaus  nicht  zu  den 
Nachahmern  dieses  Künstlers  gehört.  Er  schildert  uns 
seine  behäbigen  Klosterherren  beim  Weinglase  und  in  der 
Bibliothek,  musizierend,  beim  Biliardspiel,  im  Kreise 
lustiger  gebetener  oder  ungebetener  Gäste,  am  Schach- 
brett, am  grossen  Globus  der  Klosterbücherei  studirend, 
oder  über  den  weltlichen  Scherzen  der  t  Fliegenden 
Blatten  schmunzelnd  —  kurz  in  allen  möglichen  Phasen 
klösterlichen  Stilllebens.  Neben  den  schon  erwähnten 
Kostümfiguren  hat  der  Künstler  übrigens  auch  eine 
Anzahl  gelungener  bäuerlicher  Typen  aus  seiner  zweiten 
Heimath  im  Bayerlande  gemalt.  Durchdringender  Fleiss, 
Reinheit  der  Zeichnung  und  Klarheit  der  Farbe  sind 
immer  die  Signatur  seiner  Bilder  gewesen. 

Wiederholt  und  im  letztvergangenen  Sommer  hatte 
die  Münchener  « Internationale »  nicht  zum  Wenigsten 
seiner  Mühewaltung  das  Zustandekommen  einer  hoch- 
interessanten «schwedischen  Abtheilung»  zu  danken. 
Leute,  die  mit  ihm  zusammen  dabei  thätig  waren, 
rühmen  die  vornehme,  gerechte  Art  seines  Urtheils, 
das  nicht  nach  künstlerischen  Konfessionen  fragt,  son- 
dern Alles  schätzt  und  Allem  wohl  will,  was  gut  — 
was  Kunst  ist. 


>^ÄI^ 


Th.  von  Cedtrttröm.     Aus  der  MUnsterkirche  zu  Ueberlingen. 


UNSERE  BILDER. 


Wer  am  Inhalte  den  Werth  eines  Bildes  misst, 
dem  könnte  man  wohl  aus  der  Reihe  unserer 
Darbietungen  einen  ganz  anmuthigen  Roman 
erzählen,  einen  solchen,  der  durch  mehrere  Geschlechter 
hindurch  reicht,  aus  dem  verschiedene  Maler  ein  Kapitel 
illustrirten,    Einer    ohne    vom   Anderen  etwas  zu  wissen. 

Er  beginnt  vor  mehr  als  hundert  Jahren,  dieser 
Roman  unserer  Illustrationen.  Der  Sohn  Kaiser  Franz  I., 
Erzherzog  Maximilian  Franz  Xaver  von  Oesterreich,  sitzt 
auf  dem  alten  Throne  der  Erzbischöfe  und  Kurfürsten 
von  Köln.  Er  hat  heute  viel  Gäste.  Aus  Frankreich 
sind  des  armen  gefangenen  Königs  Ludwig  des  XVI. 
Brüder  herüber  gekommen.  Das  ganze  Rheinland  ist 
voller  Emigranten,  vornehme  Herren  mit  sehr  vornehmen 
und  das  heisst  soviel  wie  sehr  schlechten  Sitten,  die 
das  ihnen  unersetzliche  Paris,  soweit  es  an  ihnen  ist, 
auf  deutsche  Erde  zu  versetzen  streben.  Fest  folgt  auf 
Fest  und  die  deutschen  Kirchenfürsten  halten  es  für 
ihre  Pflicht ,  den  Franzosen  zu  zeigen ,  dass  bei  ihnen 
noch  jene  Zucht  und  Ordnung  herrsche,  welche  in  Paris 
die  schreckliche  Revolution  zerstörte,  dass  hier  noch  der 
Fürst,  der  Herr  als  die  von  Gott  eingesetzte  Behörde 
das  Recht  habe ,  durch  reichliches  Ausgeben ,  durch 
Prachtentfaltung  das  in  den  Truhen  seiner  Bürger  faulende 
Geld  in's  Rollen  zu  bringen  und  diesem  am  Glanz  des 
Auftretens  Achtung  vor  der  Majestät  des  Fürsten  zu 
lehren. 

Draussen  im  Forst  ist  ein  Hirsch  gehetzt  worden 
und  schon  meldete  ein  Bote  im  Schlosshof  zu  Brühl, 
dass  soeben  dem  niedergebrochenen  Wild  das  Halali 
geblasen  sei.  Es  gilt  sich  zu  beeilen.  Die  Diener  in 
altmodischer,  ihnen  selbst  nicht  ganz  gewohnter  Gala 
tragen  hastig  die  eben  fertig  gewordenen  Schaugerichte 
auf  die  Tafel:  den  riesigen  Aufsatz  aus  Konfekt,  den 
drei  Mann  kaum  bewältigen,  die  grosse  Fruchtschale, 
den  Schweinskopf  auf  leckerer  Pastete ,  die  Puten  im 
vollen  Federschmuck ,  die  kostbaren  Geschirre  aus 
Höchster  Porzellan,  —  schwitzend,  ängstlich,  ihre  kost- 
bare Last  zu  beschädigen,  gehetzt  durch  den  groben 
Koch,  ziehen  sie  dahin. 


Erst  vor  Kurzem  ist  Schloss  Brühl  fertig  geworden ; 
eine  der  prunkvollsten  Anlagen  in  Deutschland,  zeitlich 
aber  eine  der  letzten  dieser  Art.  An  anderen  Orten  be- 
gann man  schon  an  Stelle  dieses  strotzenden  Prunkes  die 
Zierlichkeit,  .statt  des  Reichsthums  die  vornehme  Ein- 
fachheit zu  bevorzugen  —  hier  an  den  geistlichen  Höfen 
hielt  man  aber  mit  Absicht  am  Alten,  an  den  Formen 
jener  besseren  Zeit,  in  welcher  noch  nicht  das  freche 
«Menschenrecht»  der  Pariser  an  die  Füstenhöfe  zu 
pochen  wagte. 

Und  ^ie  niedlichen  kleinen  Frauen  und  Mädchen 
aus  dem  Städtchen  Brühl ,  die  sich  neugierig  in  das 
Schloss  einschlichen,  staunen  nicht  mehr  über  die 
barocke  Prachtentfaltung,  sondern  lachen  und  kichern 
über  die  schwitzende  Schaar  der  sonst  so  faulen  kur- 
fürstlichen Hofdiener,  sehr  respektlos,  sichtlich  ange- 
kränkelt von  der  bösen  Luft,  welche  von  Westen,  die 
Seelen  vergiftend,  in's  Rheinland  weht. 

Aber  bald  kamen  die  höchsten  Herrschaften ,  die 
jungen  vornehmen  geistlichen  Herren  von  höchstem 
Adel ,  die  weltlichen  Kavaliere ,  die  ausgelassenen 
französischen  Gäste :  das  Kichern  verstummt  und  mit 
weit  aufgerissenen  Augen  sehen  die  Frauen  dieser 
prunkenden  Welt  zu ,  die  ihre  lärmenden  Feste  feiert, 
uneingedenk  des  furchtbaren  Mahnens  seines  Endes, 
der  Heereszüge,  deren  Führer  mit  verächtlichem  Lächeln 
gegen  den  verhöhnten  Feind  marschirten  und  die  dann 
so  kleinmuth,  geschlagen  von  einer  zusammengelaufenen 
Bande  Undi.sciplinirter,  zurückgekehrt  waren.  Der  wilde 
Strudel  der  Lust  erfasst  auch  sie  und  auf  die  Stunde 
der  Freude,  des  Stolzes  über  die  Werbungen  des  vor- 
nehmen Kavaliers  folgen  Monate,  Jahre  der  Trauer: 
O  war  ich  nie  in's  Schloss  gegangen! 

Das  Alles  stellt  uns  P.  Meyer- Mainz  anschaulich 
in  seinem  Bilde   « Hubertusessen »   dar. 


Der  Kurfürst  war  verjagt,  das  Erzbisthum  säcu- 
larLsirt,  die  Pracht  des  Hofes  zerstoben.  Der  grcsse 
Soldatenkaiser  und   seine  Heere  waren   über  den  Rhein 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


109 


gezogen ,  Schlachtenlärm  hatte  die  Welt  erschüttert. 
Die  als  Befreier  Begrüssten  hatten  mit  harter  Gewalt 
die  Macht  an  .sich  geri.ssen ,  man  erkannte  wohl  dank- 
bar an,  was  sie  an  Freiheit  dem  Rhein  gebracht  haben, 
aber  es  waren  fremde  Mächte,  die  auf  deut.schem 
Boden  hausten.  Und  endlich  war  Friede  geworden, 
die  Heere  waren  aus  dem  besiegten  Frankreich  zu- 
rückgekehrt. Zwanzig  Jahre  sind  seit  der  Kurfürsten- 
Zeit  vergangen. 

Das  Töchterchen  einer  jener  Städterinnen,  die  so  keck 
und  doch  so  scheu  auf  die  so  unendlich  hoch  erhabene 
vornehme  Welt  des  Hofes  schauten,  wandelt  an  schönem 
Sommertage  durch  die  gelben  Kornfelder  dem  Buchen- 
walde zu.  Die  Lerchen  schlagen,  wohlige  Wärme  liegt 
über  der  goldigen  Weite.  Und  wieder  naht  sich  ein 
Kavalier  dem  jungen  Mädchen,  ein  Mann  im  schlichten 
Kleid  des  Bürgers ,  das  sie  jetzt  alle  mit  ein  klein 
wenig  aftektirtem  Gleichheitssinne  tragen,  er  nimmt 
ihr  zuerst  höflich  das  Umschlagtuch  ab ,  begleitet  sie 
des  Weges  in  ernstem,  etwas  geziert  klingendem, 
blumenreichen  Gespräch  1  Denn  er  hat  t  Werthers 
Leiden»  gelesen  und  Schiller  klingt  in  seinem  Herzen 
wieder,  die  hohen  Klänge  des  Liedes  von  Menschen- 
würde, von  Gleichheit  aller  Edlen,  von  Beseitigung  der 
Unterschiede  zwischen  hoch  und  niedrig  durch  die 
Liebe  haben  in  ihm  Widerhall  gefunden. 

Und  er  fasst  ihre  Hand,  sie  sagt  zögernd,  hoffend 
und  fürchtend  zugleich  ihr  lispelndes  «Ja!» 

Man   sehe    als   Beleg:    R.  Haug's   treffliches  Bild 

t  Spaziergang. » 

*  * 

* 

Die  Frühlingsträume  der  Nation,  das  Hoffen  auf 
eine.  Zeit  des  Friedens  und  Glückes,  der  ausgleichenden 
Liebe  und  Freiheit  schwanden  dahin.  Der  kühne  Streich 
des  Kavaliers,  die  Namenlose  aus  dem  rheinischen 
Städtchen  zu  heirathen,  zerbrach  sein  Verhältnis  zur 
ganzen  P'amilie.  In  Kampf  und  Sorge  verzehrten  sich 
die  ersten  Jahre  ihrer  Ehe,  die  Jahre,  die  dem  Glücke 
mehr  als  andere  geweiht  sein  sollten. 

Nun  liegt  sie  schon  lang  in  geweihter  Erde. 
Mächtige  Bäume  sind  an  ihrem  Grabe  emporge- 
wachsen, über  dessen  prunkendes  Denkmal  der  Epheu 
wuchert,  bis  hinüber  auf  die  Seite  jenes  Gottesackers, 
in  welchem  die  Kinder  ihre  letzte  Ruhe  finden.  Und 
wieder  ist  ein  heller  Sommertag,  hell  und  leuchtend 
zieht    ein  Gewölk  auf,    das  Grün   hat   eben    seine  volle 


Kraft  erhalten ,  es  summen  die  Käfer  um  Grab  und 
Kreuz,  um  die  Kränze  über  den  Tod  hinaus  sorgender 
Liebe.  —    — 

Das  ist  J.  Wenglein's  «Kinderfriedhof.» 


Den  Zwiespalt,  weichen  die  Verhältnisse  in  diese 
im  Auflodern  einer  weichen  allgemeinen  Menschenliebe 
entstandene  Ehe  hineinbringen ,  endete  auch  der  Tod 
nicht.  Der  junge  Kavalier  hatte  sein  Unrecht  nach 
Wunsch  der  Seinen  gut  gemacht  und  als  Alternder  eine 
sehr  junge  Dame  von  Geburt  an  die  Stelle  der  Ge- 
schiedenen gestellt.  Wohl  hatte  die-se  vom  Schloss  der 
Väter  Besitz  ergriffen,  aber  das  Herz  hatte  sie  nicht 
einzunehmen  verstanden.  Kalt  und  fremd  standen  sich  die 
beiden  gegenüber.  Mit  Missgunst  sieht  die  neue  Herrin 
das  Heranblühen  der  Tochter,  des  letzten  Liebespfandes 
der  Geschiedenen,  der  zu  spät  erblühten  Sehnsucht 
ihrer  Ehe.  Doppelt  feindlich  war  die  neue  Mutter  ihr 
gesinnt,  weil  ihr  selbst  das  Glück  versagt  ist,  ein  eigen 
Kind  auf  dem  Schooss  zu  wiegen.  In  dem  jungen 
Weibe  aber  herrschte  der  Geist  der  Jugendzeit  ihres 
Vaters,  der  Geist  des  Auflehnens  gegen  das  die  Geister 
und  die  Thaten  regelnde  Herkommen,  des  Hingebens 
seiner  selbst  als  Kaufpreis  nicht  nur  für  Vortheil  und 
Gewinn,  für  Geld,  Namen  und  Ehre  —  sondern  als 
Kaufpreis  für  einen  ganzen  Menschen,  für  sein  Herz 
wie  für  sein  Hirn!  Und  so  sind  sie  sich  entfremdet, 
der  vornehme  Vater  und  die  heissblütige  Tochter.  Sie 
ist  mit  dem  jungen,  feurigen,  für  Freiheit  erglühenden 
Polen  in  die  Weite  gezogen  und  sie  hat  ihm  die  Flinte 
in  die  Hand  gegeben,  als  das  nationale  Verzweifiungs- 
ringen  gegen  russische  Übermacht  begann. 

Ja,  sie  hatte  in  den  harten  Kampf  mit  Frauenlist  ein- 
gegriffen. Sie  hatte  Briefschaften  vermittelt,  Waffen 
gekauft,  heimliche  Botschaft  getragen.  Oft  waren  in  ihrer 
Wohnung  ernst  blickende  Männer  zusammengekommen 
zu  heimlicher  Tagung.  Aber  endlich  hatte  man  die 
Verschwörung  entdeckt.  Sie  sass  auf  der  Anklagebank, 
sorgend  um  den  heranwachsenden  Sohn,  die  noch  kind- 
liche Tochter.  Der  alte,  brave  Rechtsanwalt  hatte 
wahrlich  das  Seine  gethan ,  um  die  Richter  für  sie  zu 
gewinnen.  Nun  naht  die  c Stunde  der  Entscheidung». 
Die  Schuld  liegt  klar  vor,  ist  auch  nicht  geleugnet, 
die  «feindliche  Handlung  gegen  befreundete  Staaten > 
wird  mit    Festungshaft    bis    zu    vielen   Jahren   bestraft. 


110 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Werden  die  Richter  Milderungsgründe  zugestehen?  Der 
Präsident  blickt  ernst  und  doch  mitleidig  auf  die  Ver- 
urtheilte:  Was  bringt  er  für  ein  Geschick  in  seiner 
Aktenmappe? 

Man  frage  F.  Brütt's  Bild  selbst  um  die  Antwort. 

*  * 

* 

Tief  einschneidend  wirkte  der  Urtheilsspruch.  Im 
Schloss  des  alten  Vaters  war  der  Bruch  ein  vollständiger. 
Die  junge  Stiefmutter  triumphirte  innerlich,  sie  hatte 
in  ihren  Klagen  über  die  Tochter  aus  unedlem  Blut 
Recht  behalten :  nur  Schande  hatte  sie  dem  Hause  ge- 
bracht ,  eine  verurtheilte  Revolutionärin.  Die  unver- 
heirathete  Schwester  des  alten  Herrn,  eine  Jungfrau  von 
untadeligen  Grundsätzen,  streng,  hart,  unliebenswürdig, 
aber  formvoll  und  adelsstolz,  war  ihre  Verbündete  ge- 
worden. Man  hatte  erreicht ,  dass  die  Entartete  ent- 
erbt werde. 

Und  Jahre  der  Unbefriedigung  und  der  kalten  Vor- 
nehmheit waren  über  das  Schloss  hingezogen.  Den 
alten  Herrn  fröstelte  in  seinem  warmen  Hauspelz.  Die 
Zeit  des  Sterbens  nahte. 

Wem  sollte  das  Erbe  zufallen?  Der  Gattin  allein, 
der  Schwester?  Und  nach  diesen?  —  Er  schaute  sorgen- 
voll vor  sich  hin.  Ja  dort  draussen  blühten  ihm  zwei 
Enkelkinder,  weit  in  der  Ferne,  unter  fremden  Namen. 
Könnte  er  sie  nur  einmal  sehen !  —  Er  schluchzt  leise. 
Schlimme  Nachricht  ist  gekommen.  Seine  einzige  Tochter 
todt,  der  Enkel  in  seiner  neuen  Heimath  in  politische 
Processe  verquickt,  voll  Eifer  den  Vater,  der  auf  dem 
Felde  der  Ehre  fiel,  und  die  beschimpfte  Mutter  zu 
rächen. 

Der  war  schon  draussen  im  fernen  Sibirien.  Er 
sitzt  auf  der  elenden  harten  Pritsche  der  «Letzten 
Etappe»,  ehe  die  neue  furchtbare  Heimath  der  «Ver- 
schickten» erreicht  ist  und  denkt  zurück  in  die  Ferne. 
Der  Grossmutter  und  Mutter  Blondhaar  ist  noch  so 
leidlich  gepflegt,  aber  die  Kleider  nahen  schon  dem 
Verfall.  Neben  ihm  stirbt  ein  braver  Junge,  der  ihnen 
bei  ihren  Sitzungen  Botendienste  geleistet  —  nichts 
mehr!  —  und  der  nun  seine  Gefälligkeiten  mit  endlosen 
Strapazen  und  mit  dem  Tode  zahlen  muss.  Ein  mit- 
leidiger Leidensgenosse  hält  ihm  das  Kreuz,  das  er  auf 
der  Brust  trägt,  vor  die  brechenden  Augen!  Elend 
ringsum,  der  todesähnliche  Schlaf  der  Übermüdung 
lässt  zwar  die  Meisten  augenblicklich  nichts  von  ihm 
spüren,    aber    in    wenigen    Stunden    kommt    der    harte 


Befehl    zum  Aufbruch,  und  in  Lumpen,  mit  zerrissenen 
Schuhen  geht  es  weiter  .... 

Mit  furchtbarer  Kraft  des  Ausdruckes  schildert 
Malczewski  diese  «Letzte  Etappc».  — 

*  » 

* 

Sicher  im  wohnlichen  Heim,  dämmernd  sitzt  die 
Schwester.  Noch  trauernd  um  die  Mutter,  beklagt  sie 
auch  des  Bruders  Geschick.  Sie  allein  in  äusserem  Glück, 
eines  wackeren  Mannes  sicher  geborgene  treue  Gattin. 
Seit  sie  die  Mutter  hinausbegleitet  hatte  auf  den  Kirchhof, 
wo  auch  die  Grossmutter  lag,  unter  das  einst  prunkende, 
jetzt  vom  Epheu  überwucherte  Grab  —  seit  ihr  die 
kurze  Depesche  eines  Freundes  gemeldet,  dass  man  den 
Bruder  gefangen  genommen,  da  fühlte  auch  sie  sich  so 
allein,  trotz  des  Gatten,  trotz  der  beiden  Kinder.  Und 
vor  ihr  liegt  ein  Brief  von  fremder  Hand,  ein  geschäfts- 
mässiges  Schreiben  im  Juristenstil,  welches  sie  auf  das 
Rheinische  Schloss  ladet,  da  der  alte  Freiherr  sein 
Testament  in  Gegenwart  seiner  Erben  zu  machen  wünsche. 

Und  die  Geschichte  ihrer  Mutter,  ihrer  Grossmutter 
geht  im  Dämmerlichte  an  ihren  Augen  vorüber.  Zweier 
Frauen,  denen  das  alte  Schloss  und  sein  stolzer  Herr 
nur  Sorge  und  Noth  brachten,  und  die  doch  Beide  so 
glühend  geliebt  hatten. 

E.  Oppler  zeigt   uns  diese  «Träumerei». 

♦ 

*  * 

Sie  aber  hat  entschlossen  sich  aufgemacht,  ihre 
Kinder  wohlverpackt  mit  auf  den  Weg  genommen,  be- 
gleitet von  der  Mahnung  des  Gatten ,  auf  ihn  zu  ver- 
trauen und  sich  nichts  zu  vergeben.  Aber  so  vornehm 
hatte  sie  sich  das  alte  Haus  doch  nicht  gedacht  und 
so  gütig  blickend,  so  aus  der  eigenen  Mutter  freundlich 
grauen  Augen  schauend,  hatte  sie  sich  den  Grossvater 
nicht  vorgestellt.  Ihr  Trotz  brach  vor  seinem  Alter  und 
seine  Strenge  vor  ihrer  warmherzigen  Schönheit.  Und 
die  fremde  Grossmama,  wie  die  weisslockige  Tante  .sassen 
sehr  steif,  sehr  stumm  dabei,  der  Herr  Justizrath  hatte  sehr 
viel  am  Entwurf  des  Testamentes  zu  ändern  und  zu  schreiben 
und  den  beiden  scheuen  Kleinen  wurde  zum  -Ä.rger  der 
Zeuginnen  sehr  viel  vermacht.  Der  alte  Herr  nahm  den 
Urenkel  auf  seinen  Schooss  und  küsste  ihn  herzlich : 

« Herr  Justizrath ,  könnte  ich  diesem  Knaben  nicht 
auch  unseren  alten  Namen  vererben,  damit  mein  Ge- 
schlecht nicht  mit  mir  ende?» 

Das  lese  ich  aus  L.  Bockelmanns  «Testament» 
heraus.  —  ■^'■ 


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^        Die  Kunst  unserer  Zeit 

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Bd. 4 
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