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Full text of "Die Kunst unserer Zeit"

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DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT. 


EINE  CHRONIK 

DES 

MODERNEN  KUNSTLEBENS. 


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MÜNCHEN. 

FRANZ  HANFSTAENGL 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 
* 


E.  MÜHLTHALER’S  KGL.  HOF -BUCH-  UND  KUNSTDRUCKEREI. 


Inhalts-Angabe 


1898.  I.  HALBBAND. 


Literarischer  Theil 


Seite 

Kirchbach,  Wolfgang.  Religiöse  Kunst  ...  97 

Meissner,  Franz  Hermann.  Franz  Stuck  ...  1 

Radler,  Franz.  Der  Frauentypus  in  der  deutschen 

Jahrhundertmalerei . 81 


Seite 


Rottenburg,  Heinrich.  Eduard  Grützner  ...  33 

—  F.  Klein-Chevalier . 92 

R.  H.  A.  v.  Liezen-Mayer  f . 95 

*  *  Peter  Janssen . 57 


Vollbilder 


Seite 

Botticelli,  Sandro.  Die  Beweinung  Christi  .  .  44.3 

v.  Defregger,  Franz.  Madonna . U-7- 

van  Dyck,  Antonius.  Christus  am  Kreuz  .  .  .  H-3- 

Ekenaes,  J.  F'orellenfischer  am  Ufer . gy. 

Grützner,  Ed.  Nach  schwerer  Sitzung  ...  57 

—  Fallstaff  und  sein  Page . 44 

—  Versuchung . 41 

—  Eritis  sicut  Deus . .  .  .  49- 

—  Kein  Tröpferl  mehr . 49 

—  Die  Wilderer . 5 7- 

—  Fächer . 

Hofmann,  J.  M.  H.  Predigt  am  See . 1-29 

Janssen,  Peter.  Wandgemälde  in  der  Aula  der 

Düsseldorfer  Akademie . 4r5" 

—  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . 6-5" 

—  Deckengemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . jpg 

—  Friedrich  II.  entlässt  deutsche  Ordensritter 

zur  Colonisirung  Preussens  1236  .  .  .  .  .  -fT 

—  Die  hl.  Elisabeth  und  ihr  Zuchtmeister  .  .  Jtri 

—  Spanische  Blumenverkäuferin . 

—  Der  Schweizer  Gebet  bei  Sempach  ....  ß -5 


Seite 

J  anssen,  Peter.  Mönch  Dodde  und  die  bergischen 


Bauern  in  der  Schlacht  bei  Worringen  .  .  .  ^85 

Kau  Ibach,  Hermann.  Maria . 1-29- 

Klein-Chevalier,  F.  Morgendämmerung  im 

Spielsaal  von  Ostende . 85 

KÜnger,  Max.  Kreuzigung . u- f - 

v.  Maffei,  Guido.  Reineckes  Ende  .....  89 

Max,  Gabriel.  Christus . -tsT' 

Reni,  Guido.  Ecce  homo  ....  LD5- 

Roubaud,  Fr.  Lebende  Brücke . J8cr 

Rubens,  P.  P.  Der  Höllensturz  der  Verdammten  KG-" 

Sorbi,  R.  Dante  in  Florenz . 97 

Stuck,  Franz.  Selbstbildnis . ^9 

—  Portraitstudie .  q*- 

—  Kämpfende  Faune . 

—  Das  böse  Gewissen . .2-7' 

—  Tänzerinnen . ^25 

—  Das  verlorene  Paradies . ^25 

—  Bacchantenzug  . 

v.  Uhde,  F.  Das  heilige  Abendmahl . i24- 

Vecellio,  Tiziano.  Der  Zinsgroschen . 4-0-1 

da  Vinci,  Lionardo.  Das  heilige  Abendmahl  . 
Wunderwald,  D.  Flucht  nach  Egypten  .  .  .  L37 


F  extbilder 


Seite  I 

Battoni,  Pampeo.  Magdalena . 114 

v.  Bo  den  hausen,  C.  Madonna  mit  dem  Jesus¬ 
knaben  . 1  3 1 

di  Bondone,  Giotto.  Kreuzigung . 99 

Botticelli,  Sandro.  Der  heil.  Sebastian  ....  105 
Cabanel,  A.  Der  Sündenfall . 126 


Seite 

Die  erste  Christusdarstellung  in  den  Katakomben 

von  San  Calisto  aus  Bosio.  Roma  sotteranea  97 
Cornelius,  Peter.  Das  jüngste  Gericht  ...  .121 

Cranach,  Lucas,  d.  Aelt.  Maria  mit  dem  Jesus¬ 
kinde  . 112 

Aus  dem  Deckengemälde  im  Kloster  Ettal  .  .  .117 


Seile 


Seite 


v.  Flesch-B  runningen,  L.  Golgatha  ....  133 
Führich,  Jos.  Die  Hochzeit  zu  Kana  .  .  .  .118 

Fürst,  M.  Herz  Mariae . 135 

v.  Gebhardt,  E.  Pieta . 123 

Grützner,  Ed.  Die  hl.  Nothburga . 33 

—  Shylock . 35 

—  Requiescat  in  pace . 37 

—  Aus  Eduard  Grützner’s  Skizzensammlung  .  39 

—  Interieur . 4° 

—  Studienkopf . 41 

—  Interieur . 43 

—  Interieur . 45 

—  Aus  Eduard  Grützner’s  Skizzenbuch  ...  47 

—  Interieur . 48 

Studie . 49 

—  Interieur . 51 

—  Studie . 53 

—  Studien . 5  5 

Hofmann,  J.  M.  H.  Ich  bin  der  Weg,  die  Wahr¬ 
heit  und  das  Leben . 1 30 

Holbein,  Hans,  d.  Jüng.  Die  Madonna  des  Bürger¬ 
meisters  Meyer  .  . .  113 

Janssen,  Peter.  Portrait . 57 

—  Hermannsschlacht . 59 

—  Thusnelda  im  Triumphzug  des  Germanicus  61 

—  Prometheus . 63 

—  Die  Begegnung  Friedrich  des  Grossen  mit 

Ziethen  bei  Torgau . 63 

—  Bildniss  des  Inspector  Holthausen  ....  64 

—  Bildniss  Andreas  Achenbach’s  ......  65 

—  Studie  .  . . .  66 

—  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . 67 

—  Studie . 68 

—  Studie . . 69 

—  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . 70 

Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 
Akademie . 71 

-  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . .  72 


—  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer 

Akademie . 73 

—  Sophie  von  Brabant  zeigt  den  Harburgern 

den  jungen  Landgrafen  Heinrich  das  Kind  1248  75 

—  Skizze  aus  Spanien . 76 

Herzog  Heinrich  der  Löwe  vor  Barbarossa  77 


Janssen,  Peter.  Das  tolle  Jahr . 

Skizze  aus  Spanien . 

Kindheit  des  Bacchus . 

Studie . 

Studie . 

Klein -  Chevalier.  Studie  zum  Frescogemälde  im 

Düsseldorfer  Rathhaussaal . 

—  Studie  Ostende . 

Studie  Ostende . . 

Studie  zu  dem  Bilde  « Morgendämmerung 

im  Spielsaal  zu  Ostende» . 

Studie . 

—  Studie . . . 

Studie  Ostende . .  . 

—  Kuppelgemälde  in  der  Berliner  Gewerbeaus¬ 
stellung  . 

Studie  zu  Nero  aus  dem  Gemälde  «Agrippina» 
—  Skizze  zu  dem  Bilde:  «Wiederankunft  des 
durch  Napoleon  vertriebenen  Casseler  Kur¬ 
fürsten  Wilhelm » . 

Küsthardt,  E.  Friede  sei  mit  Euch  .  .  .  .  . 

Lippi,  Fra  Filippo.  Maria  das  Kind. verehrend  . 
Overbeck,  F.  J.  Jesus  wird  gebunden  zum  Hohen¬ 
priester  geführt  *. . 

Palma  Vecchio.  Maria  mit  dem  Kinde  und  zwei 

Heiligen . 

Pi  gl  heim,  B  Grablegung  Christi . 

Plockhorst,  B.  Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen 
Rembrandt  van  Rijn.  Die  Kreuzabnahme  .  . 

Stuck,  Franz.  Aus  Franz  Stuck’s  Atelier  .  .  . 

—  Aus  Franz  Stuck’s  Atelier . 

—  Aus  Franz  Stuck’s  Atelier . 

—  Franz  von  Lenbach  . . 

—  Spielende  Faune . 

— -  Studien  zu  «  Das  verlorene  Paradies »  .  .  . 

Der  Tanz . 

— -  Aktstudien  . . 

—  Aktstudien . 

Herbstabend . 

— -  Aktstudie . 

Beethoven  . ' . 

—  Beethoven  . 

— -  Juliane  Dery  . 

— -  Portraitstudie . 

—  Die  wilde  Jagd  . . 

—  Tänzerinnen . 

Veronese,  Paolo.  Die  Findung  Moises  .  .  .  . 


77 

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129 

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119 

109 
t  27 
134 
1 1 5 
1 

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28 

29 

32 

107 


FRANZ  STUCK 

Ein  modernes  Künstlerbildniss 

von 

FRANZ  HERMANN  MEISSNER 


Worin  beruht  zuletzt  der  verführerische 
Zauber  und  die  unwiderstehliche  Fern  Wirkung- 
der  Antike  auf  die  Jahrhunderte  und  auf 
jene  Völker  vor  allem,  die  dem  Wesen  ihrer 
Rasse  nach  auf  ganz  andere  Pfade  gewiesen 
sind?  Gewiss  war  da  auf  der  kleinen  Halb¬ 
insel  im  Mittelmeer  einst  ein  bewunderns- 
werthes  Volk  in  Wirksamkeit,  dem  in  er¬ 
staunlicher  Vollkommenheit  eine  herbschöne 
Kunst  erwuchs  und  eine  fast  ideale  Gesetz- 

Aus  Franz  Stuck’s  Atelier 

mässigkeit  in  Allem,  was  es  schuf,  zu  Gebote 

stand.  Und  das  Bild,  welches  mit  den  Gestalten  eines  Polygnot  und  Apelles,  —  Phidias,  Praxiteles, 
Skopas,  —  Iktinos  und  Kallikrates,  —  eines  Aischylos,  Sophokles,  Euripides,  —  eines  Sokrates 
Plato,  Aristoteles,  die  allesammt  in  dem  Namen  Perikies  gipfeln,  vor  unseren  Augen  aufgerollt  wird, 
ist  in  der  That  der  glänzendsten  eines  aus  der  Geschichte,  und  berauschend  der  königliche  Natursinn, 
welcher  dem  neueren  Menschen  daraus  emportaucht.  Aber  es  bleibt  doch  eine  kühle  Schönheit  darin, 
die  dem  Verlangen  unserer  Nerven  nach  Fleisch  und  Blut,  nach  den  dunklen  Abgründen  seelischer 
Offenbarungen  nichts  bietet,  .  .  .  das  deutsche  Nachfahren-Gemüth  wird  daran  so  wenig  satt,  wie  das 
der  Langobarden  und  Ostgothen,  die  niemals  in  den  antikischen  Ländern,  so  lange  sie  einst  dort 
hausten,  heimisch  wurden.  Ein  seltsames  Räthsel  scheint  diese  trotz  alledem  unwiderstehliche  An¬ 
ziehungskraft  des  Antikischen  auf  uns  zu  sein!  —  Wo  mag  die  Lösung  liegen?  — 

Aber  da  ist  ja  ein  sonderbares  Gegenstück  dazu  in  der  neueren  Geschichte,  —  nämlich  das 
christlich  -  romantische  Mittelalter.  Auch  dieses  umschwebt  ein  funkelnder  Nimbus;  —  auch  Dante 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  Giotto,  —  auch  das  staufische  Zeitalter,  in  dem  Parsifal,  Tristan,  die  Lieder  Walthers  von  der 
Vogelweide,  das  Nibelungenlied  in  seiner  heutigen  Fassung  gedichtet  wurden,  ist  eine  farbenglühende 
Blumenaue,  auf  der  unerhörte  Thatkraft  und  schrankenloser  Wille,  der  warme  Schwung  ungebrochenen 
Sinnenlebens  und  abenteuerliche  Freiheitslust  sich  verführerisch  tummeln.  Auch  Dante  hat  sechs  Jahr¬ 
hunderte  hindurch,  so  rassefern  er  uns  steht,  über  unserem  Wachsen  wie  eine  wärmende  Sonne  ge¬ 
leuchtet,  und  die  mittelalterliche  Welt,  die  uns  in  ihren  treibenden  Problemen  geradezu  feindlich  ge¬ 
sonnen  ist  und  Jahrhunderte  lang  desshalb  vergessen  war,  zeigt  dennoch  immer  wieder  eine  gleiche 
geheimnissvolle  Anziehungskraft.  Auch  sie  hat  zeitweis  unserem  Wachsen  starke  Anregungen  gegeben, 
und  vor  allem  ruht  unzerstörbar  auf  ihrem  Grunde  das  Phantasieleben  unseres  Volks,  das  seine  Lieder 
und  Sagen  diesem  Geschichtskreise  entnommen  hat.  —  —  —  Worin  liegt  die  räthselhafte  Poesie 
dieser  Kreisläufe,  —  worin  die  tiefe  Einwirkung  auf  stark  bewegte  und  aufwärtsgehende  Jahrhunderte, 
während  hingegen  das  medicäische  Zeitalter  und  künstlerisch  auch  das  parallele  der  Reformation, 

deren  Bild  so  unendlich  reicher,  voller,  abgeschlossener,  gewaltiger  vor  uns  steht,  —  deren  Ideen 
den  Anfangspunkt  unserer  heutigen  Anschauung  bezeichnen,  nur  mittelbare  künstlerische  Anziehungs¬ 
kraft  besitzen  und  besonders  auch  nur  Jahrhunderte  schwächeren  und  wenig  fruchtbaren  Charakters 
befruchtet  haben? 

Mir  will  scheinen,  als  läge  des  Räthsels  Lösung  in  der  Fernwirkung  des  Unbekannten,  Un¬ 
gewissen,  —  in  dem  Eindruck  dämmeriger  Umrisse  und  fahler  Halbtöne  auf  die  schwungvolle 
germanische  Phantasie ! 

Nur  eine  Handvoll  originaler  Kunstwerke  von  Bedeutung  hat  uns  —  paradox  gesprochen !  — 
die  Antike  hinterlassen,  und  ihre  Malerei  sogar  können  wir  uns  nur  durch  Vergleiche  und  Schlüsse 
vorstellen.  Die  Kunst  des  staufischen  Zeitalters  ist  im  Gegensatz  zu  den  1000  Urkunden  der 

Renaissance  auch  nur  ein  kümmerliches  Bruchstück,  —  —  aber  andächtige  stehen  wir  vor  diesen 
Resten  und  schauen  traumversunken  darauf,  —  wir  ahnen  dahinter  eine  berauschende  Blüthe,  die 
unserem  Wissen  noch  ziemlich  verschlossen  ist,  —  und  schwungvoll  baut  die  Phantasie  daraus  ein 
Völkereden,  in  dessen  Bild  unser  eigener  Pulsschlag  mit  heissem  Verlangen  pocht,  - —  Hier  scheint 

des  Zaubers  Lösung  zu  sein ;  —  so  mag  Winckelmann  im  vorigen  Jahrhundert  mit  seherischer  Phan¬ 

tasie  nach  den  reinen  Spuren  der  Blüthezeit  in  dem  Wust  altrömischer  Marmorklopfereien  gesucht 
haben,  —  so  verblutete  sich  Carstens,  als  eine  jugendfrische  Zeit  anhob,  in  homerischen  Träumen, 
—  so  siechte  Genelli  arm  und  einsam  dahin,  indess  er  eine  antike  Umrisskunst  zu  schaffen  suchte. 
So  endete  Feuerbach  an  den  Forderungen  seiner  Pfadfinderseele  tragisch. 

Bis  Arnold  Böcklin  kam.  Der  Träumer  an  sich,  —  der  Verleuener  aller  geschichtlichen  That- 
Sachen.  Antike  und  Romantik,  —  die  beiden  grossen  Stimmungsprobleme,  welche  die  einander 
ablösenden  Krafterreger  in  der  ästhetischen  Kulturarbeit  geblieben  sind,  verschmelzen  sich  bei  ihm 
zu  phantastischen  Hymnen  auf  die  entknechtete  Menschennatur;  in  ihnen  verkörpert  er  die  heisse 
Sehnsucht  nach  einem  Paradies,  wo  Leib  und  Seele  lockender  Frieden  verheissen  ist.  —  Wenig  mehr 
als  ein  Jahrhundert  lang  ist  diese  neue  Art  von  Phantasie  an  der  Arbeit,  ihre  Träume  in  der  Traum- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


3 


weit  der  Antike  und  der  Romantik  zu  spiegeln,  —  immer  bewusster  ist  das  Umgehen  der  archäo¬ 
logischen  Thatsachen  geworden,  —  und  «seherische  Deutung»  der  beiden  gewaltigen  Zeitläufe  das 
Programm  einer  ganz  neuen,  der  Zukunftskunst,  geworden.  Und  Wagner,  Böcklin,  Nietzsche,  Klinger 
sind  ihre  Wahrzeichen.  — 

Antike  und  Romantik  sind  auch  die  Pathen  für  die  originelle  Kunstweise  von  Franz  Stuck, 
dessen  umfangreiche  und  vielseitige  Begabung  ein  feiner  Instinkt  für  das  Lebensvolle  rechtzeitig  auf 
diese  Bahn  grosser  unmittelbarer  Vorgänger  trieb.  Ein  moderner  Künstlertypus  wie  diese  und  ohne 
erhebliche  Reste  von  Ueberlieferung  in  seinem  Anschauungskreise,  ist  er  gleichsam  nur  eine  neue 


Spielart  von  die¬ 
sem  Typus  des 
modernen  Phan¬ 
tasiemenschen. 
Aus  diesem  Ge¬ 
sichtspunkt  er¬ 
klärt  sich  die 
starke  Eigen¬ 
heit  seines  Stils, 

-  die  Frühreife 
seines  Könnens, 

—  ein  grosser 
Erfolg  in  sehr 

jugendlichem 
Alter,  —  das 
Zukunftsver¬ 
sprechen,  wel- 
chesseine  sicher 
anwachsende 
Kunst  von  Zeit 


immer  grösse¬ 
ren  Ergebnissen 
gegen  früher 
giebt.  — 

❖  # 

Für  die  Färb¬ 
ung  wie  das 
innere  Wesen 
eines  eigenar¬ 
tigen  Kunst¬ 
stils  ist  es  nie 
belanglos,  wo 
Fiiner  geboren 
ist  und  zuerst 
spielte  und 
welcherlei  Ver¬ 
hältnisse  seine 
Jugendtage 
umgaben.  Man 
lausche  nur 


Aus  Fratiz  Stuck  s  Atelier 


zu  Zeit  mit 


recht  hinein, 


dann  wird  man  aus  jedem  echten  Kunstwerk  den  Heimathton  des  schaffenden  Künstlers  heraus¬ 
hören,  auf  den  seine  Jugendträume  abgestimmt  waren.  Denn  die  Jugendträume  des  Künstlers  welken 
nicht  und  sind  der  Brunnen  gleichsam,  zu  dem  der  reifende  Mensch  immer  wieder  andächtig  wie  der 
Pilger  zum  Gnadenbild  zurückkehrt,  sintemal  die  ganze  Reife  in  Hinsicht  der  Kunst  nicht  viel  mehr 
als  sündiger  Verderb  an  einem  vollkommenen  wenn  auch  beschränkten  Einst  ist.  Es  ist  dabei  ein 
Unterschied,  ob  man  in  der  Stadt  oder  auf  dem  Lande,  ob  man  in  grossen  oder  kleinen  Verhält¬ 
nissen  seine  ersten  Träume  erlebt.  Das  bunte  Treiben  der  Strassen  und  der  gesichtete  Ton  des 
Elternhauses  bereichern  den  Vorstellungskreis  und  schärfen  den  Witz,  aber  die  Ruhe  und  Einsam- 


l* 


4 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


keit  des  Landes  nährt  andere,  grössere  und  blutvollere,  wohl  auch  schönere  Kindertraumgesichte  und 
das  Sichselbstüberlassensein  der  Landkinder,  die  ja  meist  ungestutzt  in  die  Höhe  wachsen,  stärkt 
dazu  das  Selbstvertrauen.  Franz  Stuck  und  Hans  Thoma,  die  beide  vom  Lande  in  die  Kunst  ge¬ 
kommen  sind,  haben  unverkennbar  davon  die  eigenwillige  Phantasie  mit  dem  seltsamen  Flüpfelschlag-,  — 
sie  haben  auch  daher  den  männlich  -  herzhaften  Stil,  —  ich  möchte  beinahe  sagen:  das  Homerische 
dem  Stoff  gegenüber.  Wie  vollendet  hat  sich  bei  Beiden  dies  in  zwei  Werken  aufgeklärt:  der  süsse 
Heimathton  und  die  schlichte  Grösse  der  Menschenbetrachtung,  —  nämlich  in  jener  herrlichen  Litho- 


Aus  Franz  Stuck' 's  Atelier 


graphie,  in  welcher  der  Frankfurter  Meister  die  Züge  seiner  Mutter  gebildet,  —  und  in  jener  rembrandt- 
tiefen  Radirung,  auf  der  wir  Stuck  s  Mutter,  ihm  so  ähnlich  und  mit  dem  gleichen  Feuer  des  Auges, 
erblicken.  Es  sind  zwei  köstliche  Dankopfer  an  das  Heimath -Jugendglück  und  zwei  prächtige  Kunst¬ 
werke  von  echter  Kraft  zugdeich. 

o 

Fine  schmeichlerische  1  raumhaftigkeit  liegt  über  Stuck  s  schönsten  Erfindungen  und  weht  auch 
durch  viele  Bilder  von  ihm.  Da  spürt  man  Heimatheindrücke.  Er  stammt  aus  einer  Mühle  wie  der 
geheimnissvolle  ionträumer  Rembrandt,  —  wie  Carstens,  der  sein  Leben  lang  in  grauen  homerischen 
Zeiten  hauste  und  sich  nur  in  der  Gegenwart  nicht  zurechtfand.  Der  Schmied,  der  Jäger,  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


b 


Fischer,  der  Müller  sind  die  poetischen,  die 
Ausnahmegestalten  des  Landes,  —  seine 
Elite  gleichsam.  Sie  verkörpern  in  ihrem 
Berufe  die  Sagenmenschen  der  Vergangen- 
heit,  —  ein  feiner  Nimbus  umgiebt  ihr  Thun, 
das  von  allem  Groben  des  Scholienschweisses 
gelöst  scheint  und  seit  uralter  Zeit  durch  die 
Volksdichtung  in  eigenen  Liederkreisen  be¬ 
sungen  ist;  ihren  Berufskreisen  gehören  auch 
zumeist  die  absonderlichen  Ouerköpfe,  die 
«Originale»  des  Landes  an.  Beim  Müller 
selbst  ist  es  mehr  der  Ort  als  sein  Thun, 
mehr  sein  Werkzeug  als  dessen  Bedienung, 
welche  den  poetischen  Reiz  ausüben.  Ob 
sein  Rad  im  freundlichen  Erlenidyll  unter 
gierig  dahinschiessenden  und  funkelnden 
Wellen  sich  dreht  und  mit  seinem  ächzenden 
Gesumm  mystische  Weissagung  aus  Ver¬ 
gangenheit  oder  Zukunft  der  sehnsüchtigen 
Menschenseele  eintönig  zuraunt,  —  ob  er 
sein  Haus  abseits  vom  Ort  auf  einsamer  Halde 
aufgerichtet,  um  den  flüchtigen  Wind  aufzufangen,  —  es  bleibt  immer  etwas  Besonderes  und  den 
empfänglichen  Naturmenschen  Fesselndes  in  seinem  Beruf.  Und  wenn  er  gerade  kein  Trottel  ist, 
dann  kriegt  die  ganze  Natur  phantastisches  Leben  vor  seinem  Auge.  Da  ist  die  brütende  Hitze  des 
Sommermittags  auf  seiner  einsamen  Halde.  Der  Himmel  funkelt  wie  Kristall,  dass  man  kaum  hinein¬ 
schauen  kann,  —  das  Kraut  und  die  Feldblumen  schnaufen  fast  vor  heissem  köstlichem  Duft  und 
tosen  in  lechzenden  Farbenorgien,  —  die  Cikaden  musiciren  wie  toll.  Alles  ist  in  der  höchsten, 
in  einer  begeistert  -  hingerissenen  Erregung,  —  nur  der  Mensch  sitzt  und  träumt  und  ist  still,  und 
vor  den  halb  offen  hinausspähenden  Augen  verwischen  sich  die  Grenzen  des  Sichtbaren  und  phan¬ 
tastische  Vorstellungen  schwimmen  mit  flüchtigen  Stimmen  vorüber.  Oder  der  Regen  rauscht  und 
rattert  auf  dem  Dach  und  mischt  draussen  die  Umrisse  und  Farben  ineinander,  und  so  oft  man  hinaus¬ 
schaut,  fallen  Einem  wehmüthige  Lieder  ein.  Und  dann  die  gluthrothe  Inbrunst  des  Abends  und  die 
weichen  Hände  der  kosend  heranschleichenden  Nacht,  bis  alles  dunkel  und  nichts  mehr  erkennbar  ist. 
Da  schreit  ein  Vogel  oder  ein  verfolgtes  Thier,  —  gleich  rieselt  das  Grauen  über  den  Rücken  des 
Beschauers  und  unheimliche  Bilder  halten  seinen  Athem  an.  Das  sind  nur  ein  paar  Leitstimmen,  die 
viele  Zwischenglieder  haben,  —  das  sind  nur  ein  paar  Farbenklänge,  wie  sie  ein  einsames  Gehöft  fast 
täglich  Hebt,  und  sie  müssen  die  Phantasie  eines  begabten  und  achtsamen  Kindes  stark  machen  und 

ö  o  1  ö 


6 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


seine  Seele  so  durchbilden,  dass  jeder  besondere  Eindruck  zu  einem  inneren  Erlebniss  wird.  Wenn 
man  in  all  die  feineren  Bilder  -  Eingebungen  von  Franz  Stuck  hineinguckt,  kann  man  sich  seine 
Tuo-endtao-e  o-ar  nicht  anders  vorstellen.  Die  Heimath  im  niederbayerischen  Flecken  Tettenweis,  wo 
er  1863  geboren  ist  und  die  erste  Jugend  verlebte,  hat  den  Träumer  genährt  in  seinem  Wesen.  Er 
mag  später  ein  ganz  fideles  Kerlchen  und  zu  allerlei  Streichen  jederzeit  aufgelegt  gewesen  sein,  — 
wer  solche  Bilder  wie  er  erdachte,  der  muss  frühe  schon  das  Träumen  mit  grossen  Kinderaugen  zur 
unbewussten  Kunst  gemacht  haben.  Die  frische  Luft  draussen,  der  weite  Horizont  und  die  —  ach 
so  fröhlichen  —  Keilereien  mit  Schulgenossen  aber  gaben  ihm  einen  gestählten  Körper,  unverdorbene 
Instinkte  und  gelassene  Ruhe  der  Nerven  mit,  durch  die  er  leicht  und  sicher  über  die  Weibmänner 

der  neueren  «  Empfindsamkeits  -  Malerei »  emporstieg.  — 

* 

*  *  «. 

Diese  kecke  Ausbündigkeit  der  späteren  Bubenjahre,  dieser  schwungvolle  Uebermuth  und  das 

Ueberlegenheitsgefühl  des  Landes  dem  bunten  und  vielfach  so  humoristischen  Stadttreiben  gegenüber 
behält  bei  dem  «blutjungen»  Stuck,  als  er  von  der  Realschule  auf  die  Münchener  Kunstgewerbeschule 
und  dann  auf  die  Akademie  übergeht,  so  merkwürdig  stark  die  Oberhand  für  eine  Anzahl  Jahre,  dass 
man  vom  Träumer  keine  Spur  findet.  Diese  Wachsthums -Erscheinung  bei  den  Stärksten  ist  indessen 
keine  Seltenheit.  Da  wird  durch  äussere  Verhältnisse  und  Ausbildung  auf  das  Wesen  etwas  auf¬ 
gepfropft,  was  den  eigenthümlichen  Charakter  desselben  ganz  verdeckt,  bis  ein  glücklicher  Zufall  diesen 
«Ansatz»  eines  Tags  hinwegweht.  —  Dieser  frische  junge  Mensch  fühlte  sich  fremd  in  der  grossen 
Stadt,  —  die  Mittel,  welche  ihm  für  die  Ausbildung  zu  Gebote  standen,  waren  gering,  —  er  musste 
sich  umschaun  und  wacker  rühren,  um  die  bescheidenen  Markstücke  zu  seinem  Lebensunterhalt  auf¬ 
zubringen.  Jugend  hat  keine  grosse  Wahl  in  ihrem  Erwerbskreis.  Was  Stuck  am  Tage  lernte,  mühte 
er  sich  unverdrossen  Abends  auf  Brotarbeiten  anzuwenden,  was  denn  auch  seine  Denkweise  so 
akademisch  etikettirte,  dass  der  frühste  Franz  Stuck  wenig  Eigenart  erkennen  lässt.  Aber  er  entging 
der  Gefahr  des  Untergangs  durch  Handwerksarbeiten  nicht  allein,  sondern  wusste  auch  diese  Zwangs¬ 
beschäftigung  mit  sehniger  Ausdauer  zum  Unterbau  für  seine  Zukunft  zu  machen.  Die  ernsthafte 
Beschäftigung  mit  dem  Kunstgewerbe  hat  ja  als  Vorstufe  zur  Idealkunst  bei  einem  Begabten  noch  nie 
ihren  Segen  versagt,  —  wenn  nicht  etwa  das  allzufrühe  Geldverdienenmüssen  den  Wachsthumskeim 
erstickte.  Denn  in  diesen  Klein-  und  Zierformen  des  Kunstgewerbes,  in  diesen  symbolischen  Urlauten 
der  Kunst  übt  sich  nicht  nur  Stil-  und  Liniengefühl,  sondern  auch  die  Erfindungsgabe,  —  werden  die 
Vorstellungen  gross  ohne  Leere  und  die  Nerven  fest,  weil  Geduld  des  Ausbildens  herangezogen  wird. 
Stuck  verdankt  diesen  Frühjahren  ganz  sicher  das  handwerkliche  Geschick,  das  ihn  später  von  Bild 
zu  Bild  geleitet  hat.  Und  eines  Tags  hatte  der  junge,  zuerst  von  der  Stadtwelt  und  den  akademischen 
Vorbildern  in  seiner  Art  unterdrückte  Künstler  Gewalt  über  den  Stoff  gekriegt.  Der  Ambos  war 
plötzlich  Hammer  geworden.  Oder  besser:  behend  wie  eine  Katze,  die  von  einem  Bullenbeisser  mit 
Zähnefletschen  in  eine  Hofecke  wehrlos  getrieben  und  festgehalten  ward,  sitzt  der  junge  Akademie¬ 
schüler  in  einem  Husch  am  Halse  des  Peinig'ers  und  treibt  diesen  im  Kreise  herum.  Man  kann 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


7 


Franz  Stuck.  Spielende  Faune 

diesen  Umschwung  in  dem  bekannten  Sammelwerk  von  Gerlach  und  Schenk  in  Wien  von  1882: 
«Allegorieen  und  Embleme»,  wo  man  die  ersten  Handspuren  so  vieler  heutiger  Berühmtheiten  findet, 
deutlich  verfolgen.  Von  anderthalb  Dutzend  Stuck’scher  Blätter  sind  die  meisten  noch  im  herkömm¬ 
lichen  Schulstil,  geschickt,  aber  mit  einem  etwas  verblasenen  Schönheitssinn  ausgeführt.  Dabei  ver- 
rathen  aber  doch  schon  die  «vier  Temperamente»,  die  Makart  nachempfundenen  «fünf  Sinne»  ein 
nicht  gewöhnliches  und  entwickelungsfähiges  Geschick.  Eine  eigene  Weise  zu  allegorisiren  wird 
bemerklich ;  ihm  bleibt  aber  dabei  der  unserem  Künstler  bis  zur  Zeit  der  monumentalen  Malerei,  ja 
vielleicht  bis  heute  treu  gebliebene  Zug  zur  Volksthümlichkeit,  welcher  auch  dem  Gevatter  Leineweber 
glückstrahlenden  Angesichts  zum  Entdecker  dessen,  was  der  Künstler  wollte,  zu  werden  erlaubt. 

Was  in  dieser  Sammlung  aber  erster  Versuch  noch  war,  ist  in  der  zweiten:  «Karten  und 
Vignetten »,  die  in  demselben  Verlage  erschien  und  nur  Stuck’sche  Arbeiten  enthält,  gereift;  der  junge 


8 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Akademiker,  der  vordem  mit  Niemand  verkehrte  und  aus  dem  Keiner  recht  klug  wurde,  ist  hier 
plötzlich  ein  Meister  auf  seinem  Gebiet,  der  Aufsehen  machte.  Brotarbeiten,  für  Billiges  im  dunklen 
Drang  nach  Nahrung  geschaffen,  sind  hier  durch  echte  Künstlerlust  an  der  Sache  geadelt.  Es  ist  in 
diesem  Werk  gesammelt,  was  Stuck  im  Laufe  einer  Reihe  von  Jahren  für  Familien-  und  öffentliche 
Gelegenheiten  zeichnete.  Künstler-,  Radler-,  Turner-,  Schützen-Feste,  Hochzeiten,  Kindtaufen,  Jubiläen 
von  einigem  Stil  sind  in  den  So  er  Jahren  in  München  eine  gewisse  Zeit  hindurch  kaum  denkbar, 
ohne  dass  die  Einladung,  das  Fütterungs-Programm,  die  Tanzmarter-Rolle  sein  Zeichen  trüge.  Sie 
athmen  in  köstlicher  Frische  die  Siegerlust  des  jungen  Tettenweiser  Einwanderers  über  die  Münchener 
Stadtwelt;  ein  ausgelassener  Uebermuth,  ein  graziöser,  geistreicher  oder  burlesker  Schwung  lebt  in 
den  Amoretten  und  sonstigen  Figuren,  —  sie  lachen  wie  die  Götter  über  die  dumme  Welt,  —  die 
Vorwürfe  sind  so  einfach,  schlagend  und  gross  in  der  Wirkung,  —  die  Wirkung  sitzt  ersichtlich  so 
auf  den  ersten  «Schmiss»  ohne  langes  Suchen,  dass  ein  Durchblättern  derselben  ein  wirkliches  Ver¬ 
gnügen  ist.  Der  junge  Mann  hatte  Zukunft  und  Namen  als  Kunstgewerbe-Mensch,  —  er  war  ein 
glänzender  Zeichner,  besass  prächtigen  Formensinn,  eine  unerschöpfliche  Erfindung  und  war  künst¬ 
lerisch  in  so  manierlicher  Sauberkeit  erzogen ,  dass  er  gewiss  noch  mal  Künstgewerbe  -  Professor  ge¬ 
worden  wäre.  Dass  er  ein  noch  bedeutenderer  Maler  werden  sollte,  hat  damals  kaum  irgendwer 
vermuthen  können. 

Diese  «seconda  maniera»  (im  Gegensatz  zum  Akademiestil)  des  jungen  Meisters  und  Blüthe- 
zeit  seines  Griffelkünstlerthums  hat  aber  noch  einen  weiteren,  in  geistiger  Hinsicht  sehr  wichtigen  und 
interessanten  Schaffenskreis:  seine  Illustrationskunst.  Der  sehnig-schlanke  und  schwarzäugige  Stuck, 
der  im  gewöhnlichen  Leben  so  ausschaut,  als  gingen  ihn  die  Dinge  und  Menschen  draussen  wirklich 
gar  nichts  an,  bei  dem  Lenbach  in  seinem  bekannten  Bildniss  aber  fein  und  geistreich  den  Schalk  in 
den  prüfenden  Augen  über  der  fidel  ausgeschweiften  Nase  des  Weltkindes  herausgetiftelt  hat,  wird 
hier  in  Charakter,  Meinungen  und  Thaten  intim  -  persönlich  und  nimmt  die  kritische  Stellung  des 
Humoristen  zu  dem  Treiben  um  sich  herum.  —  Damals,  in  den  8oer  Jahren,  war  die  Blüthezeit  der 
deutschen  humoristischen  Illustration  und  die  «Münchner  Fliegenden  Blätter»  wie  heute  noch  der 
Mittelpunkt  dafür.  Oberländer,  Harburger,  Kauffmann,  Busch  u.  A.  standen  in  der  Vollreife  und 
ergötzten  ihre  Zeit  durch  ihre  schnurrigen  Einfälle  und  die  herzlich  lachende  Kritik  an  menschlicher 
Narrheit  und  naiver  Harmlosigkeit.  In  diesen  So  er  Jahren  überschreitet  ja  ein  kerniger  Menschen¬ 
schlag  den  Höhepunkt,  der  im  Bürgerstande  wie  in  der  Gesellschaft  überreich  an  eigenartigen  Er¬ 
scheinungen  war,  einen  wichtigen  Werth  auf  ausgesprochenen  Charakter  selbst  in  verschrobener 
Färbung  legte  und  Vertrauen  zu  sich  wie  Zufriedenheit  hegte.  Diese  genialen  Zeichner  und  Humoristen 
sind  die  besten  Zeugen  dafür.  Harburger  und  Kauffmann  regten  jetzt  auch  Stuck  an,  der  freilich  in 
Allem  dem  jüngeren  Geschlechte  angehörte  und  dessen  Pessimismus  so  gut  als  seine  unbestreitbare 
Beweglichkeit  vertrat.  Es  verlockt  als  psychologisch  interessante  Erscheinung,  aus  diesen  Blättern  die 
mancherlei  Veränderung,  welche  mit  ihm  vorgegangen  war,  herauszulesen.  Der  abgeschlossene,  aber 
frische  und  unverzagt  um  seine  Behauptung  sich  mühende  junge  Zeichner  war  dank  dem  vom  Erfolg 


Franz  Stuck 


I  2 


Studien  zu 


Das  verlorene  Paradies  » 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


gestärkten  Selbstgefühl  und  auskömmlichem  Unterhalt  aus  eigener  Kraft  ein  sehr  gewandtes  Stadtherrle 
geworden.  Er  fand  sich  leicht  und  sicher  in  all  den  Tagesfragen  und  Erscheinungen*  welche  den 
Anschauungsstoff  der  Oberen  ausmachen,  zurecht,  —  war  leidenschaftlich  und  parteiisch  je  nach 
Stimmung,  wie  fröhliches  Künstlerblut  nun  einmal  ist,  und  einmal  warm  geworden  irgendwo,  verlor 
er  seine  Zurückhaltung  und  that  in  Allem  als  Erster  mit,  was  zum  guten  don  gehört.  Er  war  das, 
was  man  noch  heute  anerkennend  oder  spöttisch  —  je  nachdem  —  einen  modernen  Menschen  nennt. 
Misstrauisch  gegen  Alles,  nichts  ernst  nehmend  ausser  sich  selbst,  schnell  und  schneidig  in  Blick  und 
That,  gerissen  durch  und  durch,  beissend  und  schonungslos  in  der  Kritik;  Stuck  aber  hatte  ausserdem 
eine  meisterhafte  Kenntniss  seines  Fachs  und  gesunde  Erinnerung  an  die  Heimath.  Das  hielt  ihn 
sicher  vor  jeder  Ausartung  zurück. 

Dies  Doppelwesen  eines  sorglosen  Sichtreibenlassens  vom  Strom  der  Gegenwart  und  eines 
gewandten  Durchquerens  der  herrschenden  Anschauungen  wie  andererseits  eines  soliden  Heimatherbes 
in  seinen  Nerven  und  Pulsschlägen  giebt  seiner  humoristischen  Illustration  ein  merkwürdiges  Z wiegesicht. 
Da  sind  einmal  jene  stillen  drolligen  Humoristika,  in  denen  Leiden  und  Freuden  des  harmlosen, 
meist  ländlichen  Gemüths  oft  mit  blendendem  Geist  geschildert  sind.  Zu  der  Grazie  in  seiner  Dar¬ 
stellung  und  schlagender  Unmittelbarkeit  fügt  sich  ersichtliche  Liebe  zum  Gegenstand :  was  er  hier 
lächelnd  verspottet,  freut  ihn  selbst  in  dem  drolligen  Zustand  ungemein.  So  ist  die  köstliche  Geschichte 
vom  oberbayerischen  Bäuerlein,  das  bald  mit  offenem  Munde  und  sprachlos  erstaunt,  bald  bis  in  die 
Seele  hinein  vergnügt,  bald  mit  kritischem  Kennerblick  den  Glaspalast  durchwandelt.  Alle  Arten  und 
Stufen  des  Kunstgenusses  sind  greifbar  verkörpert.  Prächtig  ist  das  Schlussbild  dazu :  draussen  steht 
der  krumme  Alte  aufathmend  und  mit  verklärtem  Angesicht;  so  bunt  aber  wie  in  seinem  Kopf  nun 
die  Bildereindrücke  durcheinandergehen,  kreisen  die  einzelnen  Typen  einer  bestimmten  Jahresausstellung 
in  geschickt  behandelter  Aureole  um  seinen  Kopf.  —  Oder  jenes  kleine  rembrandteske  Stück,  auf 
dem  ein  Bauer  und  ein  Viehhändler  die  grosse  Mastsau  gedankenvertieft  betrachten.  Hinter  der 

Denkermiene  des  Einen  birgt  sich  das  gespannte  Lauern  auf  ein  schönes  Angebot,  —  hinter  der  des 
Andern  das  Suchen  nach  Einwanden,  um  das  Kapitalvieh  möglichst  wohlfeil  zu  bekommen.  —  Die 
Studentenkneipe,  das  lustige  Harlekinduell  sind  verwandt  im  Standpunkt  wie  in  der  vollendeten 

I  echnik.  —  —  —  Dann  aber  ist  eine  andere  Reihe  von  Griffelblättern  vorhanden,  welche  den 

geisselnden  Satiriker  zu  Tage  treten  lassen.  Ein  schonungsloser  Hohn,  wie  er  den  Verfallcharakter 

der  modernen  Gesellschaft  kennzeichnet,  verräth  hier  vielfach,  wieviel  Bitterkeit  und  Demüthigung  der 
junge  Künstler  erleben  musste,  ehe  er  hochkam,  —  welche  Verachtung  gegen  die  satte  und  anmassende 
Beschränktheit  der  Welt  er  durchempfunden  hat,  ehe  er  stahlhart  wurde.  Hier  genügt  ihm  sehr  bemerk  - 
licher  Weise  auch  vielfach  eine  skizzenhafte  Ausführung,  weil  er  nur  durch  den  Sinn  der  Satire  wirken 
will.  Da  sind  die  an  Busch  anklingenden  Bilder  zum  «grossen  Mimen  Hans  Schreier»,  —  da  sind  in 
schneidender  Schärfe  seine  Typen  vom  «Knallprotz»,  von  frechen  Halbweltlerinnen,  —  sehr  gut  auch 
jenes  unglaublich  lächerlich  wirkende  Fähnrichlein  mit  dem  Ausdruck  hoher  Anerkennung  vor  einem  Bild, 
dessen  —  Katalognummer  zufällig  mit  der  Regimentsnummer  des  unfehlbaren  Kritikers  übereinstimmt. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  ist  Stuck’s  Thätigkeit  diesen  griffelkünstlerischen  Erzeugnissen 
gewidmet,  unter  denen  Einzelne,  wie  z.  B.  die  « Monatsallegorieen »,  eine  rasche  Volkstümlichkeit  er¬ 
lebten.  Frisch,  originell,  schwungvoll,  fidel,  als  Humorist  und  Satiriker  alle  Lacher  auf  seine  Seite 
ziehend,  —  ein  genialer  Zeichner,  elegant,  bestechend,  aber  Künstler  in  jedem  seiner  Striche  mit  dem 
Blüthenduft  der  Mühelosigkeit  darüber,  —  als  Kunstgewerbler  nicht  minder  bedeutend  und  anscheinend 
umschwungbewirkend  ist  der  Zeichner  Stuck  Mitte  der  80  er  Jahre  eine  der  glänzendsten  Erscheinungen 
und  gilt  in  den  engeren  Kreisen  als  der  Zukunftsmann  des  Kunstgewerbes  und  der  Illustration.  Er 
ist  Welt-  und  Stadtmensch  vom  Scheitel  bis  zur  Zehe  geworden,  —  —  die  Heimath  vergass  er,  — 


Franz  Stuck.  Der  Tanz 


so  scheint  es.  Welche  erschütternde  Offenbarung  kam  einestags  über  den  jungen  Meister,  —  welche 
Ursache  trieb  ihn  plötzlich  aus  sichtbarem  Erfolg  auf  eine  unsichere  neue  Bahn  ?  Er  weiss  es  viel¬ 
leicht  selbst  nicht  zu  sagen.  Es  beginnen  kleine  Bilder  in  der  Art  Böcklin’s  reizvoll  aber  nicht  sehr 
bedeutend  in  seiner  Werkstatt  zu  reifen.  Mit  einem  Male,  —  ich  glaube  1889  war  es,  —  ist  auf 
einer  Jahres- Ausstellung  im  Glaspalast  —  seiner  ersten  !  —  der  vielgenannte  Zeichner  ein  berühmter 
Maler  grossen  Stils.  Nur  gelegentlich  entstehen  jetzt  noch  Griffelarbeiten,  wie  z.  B.  seine  Plakate  für 
die  Münchener  Ausstellungen,  welche  Stil,  Bedeutung  und  Volksthümlichkeit  so  glücklich  vereinigen, 
dass  Einzelne  davon,  wie  das  der  «Secession»,  Jedermann  kennt. 


2* 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wie  eine  glänzende  Turnierstätte  bauen  sich  heute  in  der  Erinnerung  der  Lebenden  die  8oer 
Jahre  auf.  Menzel,  Defregger,  Knaus  boten  in  der  Vollblüthe  des  Schaffens  fesselnde  Probleme  von 
Werk  zu  Werk;  eine  reiche  Blüthe  von  Talenten  um  sie  herum;  daneben  von  einer  blutjungen  Schule 
hochbegabter  Künstler  der  Ruf  nach  unmittelbarer  Naturwiedergabe  und  ernsthafte  Schöpfungen  dieses 
Naturalismus  von  hohem  Können  und  tiefer  Weihe  der  künstlerischen  Stimmung.  Von  der  heutigen 
Verknöcherung  dieser  so  hoffnungsvoll  einst  begonnenen  Richtung,  von  der  ins  Pathologische  verirrten 
Unnatur  noch  keine  Spur.  Dazwischen  schuf  Böcklin  in  diesen  Jahren  seine  mächtigsten  Bilder  un¬ 
bekümmert  um  den  Widerstand  der  Zeit  und  ebenso  unbekümmert  wuchs  still  Max  Klinger,  auf  den 
auch  bereits  eine  kleine  Elitegemeinde  aufmerksam  blickte,  während  die  Kritik  im  Ganzen  ihn  einst¬ 
weilen  verhöhnte  oder  mindestens  verkannte.  Die  schon  genannten  Münchener  Humoristen  blühten 
und  Gabriel  Max  schmiegte  einen  eigenen  Ton  in  dies  reiche  Orchester.  Der  verlockendste  Zauberer 
für  die  Feinnervigsten  aber  war  Arnold  Böcklin,  welcher,  traumversunken  in  blühende  Auen  mit  ver¬ 
schollenen  Fabelwesen,  zwischen  allen  diesen  Erscheinungen  hindurchschritt  und  in  seiner  antiken 
Stoffwelt  die  geheimnissvollste  und  deutscheste  Romantik  offenbarte.  Die  besten  Köpfe  ahnten 
hinter  seinen  merkwürdigen  Bildgesichten  die  neu  erschlossene  Welt,  die  neue  und  tiefe  Art  des 
Träumens  und  die  künstlerische  Eroberung  des  Schweizers  darin,  wie  er  seine  Träume  auszu¬ 
deuten  suchte.  Böcklin’s  Einfluss  auf  das  künstlerische  Seelenleben  unserer  Zeit  ist  thatsächlich 
umfangreicher  als  man  denkt  und  als  sein  immerhin  doch  gewisse  Grenzen  nie  überschreitendes 
Gebiet  vermuthen  lässt. 

Dies  bunte  und  bedeutende  Treiben  hängt  wie  eine  Aureole  um  die  Werdejahre  von  Franz 
Stuck.  Er  war  zu  feinnervig,  weltgewandt,  zu  grüblerisch  und  begabt,  um  davon  unberührt  zu  bleiben. 
Dass  er  diese  Erscheinung  gleich  geistig  erfasste,  scheint  seiner  Entwickelung  nach  ziemlich  aus¬ 
geschlossen,  aber  der  sichere  Instinkt  der  echten  Begabung  liess  ihn  das  Mächtige  und  Lebensvolle 
dieser  neuen  Probleme  sicher  herausfühlen.  Da  kommt  eine  treibende  Gewalt  über  ihn,  liegen  zu 
lassen,  was  das  erfolgreiche  Werk  heisser  Jahre  war  und  einsam  seiner  inneren  Stimme  nachzuziehen. 
Es  ging  ihm  wie  einem  in  fröhlicher  Gesellschaft  Lustwandelnden,  vor  dem  plötzlich  ein  Schlagbaum 
über  den  Weg  hängt;  eine  rauhe  Einöde  schauen  die  Anderen  dahinter,  ihm  aber  'zeigt  sich  in  selt¬ 
samer  Verzauberung  eine  blühende  Aue  drüben,  die  berauschende  Kindheitserinnerungen  aus  halber 
Vergessenheit  plötzlich  hell  werden  lässt.  Eine  verzehrende  Sehnsucht  packt  ihn;  ein  Griff  der  Rechten 
um  das  Holz;  ein  schneller  eleganter  Schwung  hinüber;  ein  flüchtiger  Gruss  an  die  Zurückbleibenden 
und  ein  schnelles  Enteilen.  Die  zwischen  der  Heimath  und  der  eben  gewordenen  Offenbarung  liegen¬ 
den  Jahre  sind  fast  ausgewischt,  und  ganz  anders  wird  nun  seine  Art,  in  der  ihm  zunächst  Böcklin 
Wegweiser  bleibt.  Ein  reiches  dichterisches  Phantasieleben,  das  in  der  Zwischenzeit  nur  tief  ge¬ 
schlummert  hat,  erwacht  und  entfaltet  sich.  Freilich  kam  ihm  die  vorher  erworbene  Meisterschaft  zu 
Gute.  Er  wusste  gleich,  worauf  es  überall  ankommt  und  vermied  die  leicht  verhängnissvollen  Irrthümer 
tastender  Jugend,  —  und  dann  ging  auch  sein  zeichnerischer  Stil  so  in  dem  neuen  malerischen  auf, 
dass  er  dessen  Grundlage  wurde.  —  — 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Franz  Stuck  piux. 


Selbstbildnis 


Krau/  Stuck  piu.v. 


Phot.  F.  Haufstaeugl,  Müucheu 


■STvqc 


Portraitstudie 


Franz  Stuck.  Aktstudien 


14 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Stuck’s  Malerei  hat  einen  bestimmt  ausgesprochenen  Charakter  fast  von  den  ersten  Werken 
an.  Böcklin,  —  liebenswürdig  und  schmeichlerisch  in  seinen  frühen  Kreuzungen  mit  dem  französischen 
Kolorismus,  —  ist  in  der  Reife  wuchtig,  in  der  Freude  wie  im  Leiden  einsam -tief  und  verschlossen. 
Der  Sachse  Klinger  hat  bei  aller  Mächtigkeit  des  Phantasieschwungs  und  aller  Grazie  des  Jugendwerks 
doch  den  ernsten,  manchmal  melancholischen,  oft  düsteren  norddeutschen  Zug.  Stuck  hat  als  sein 
besonderes  Eigenthum  die  helle  Daseinsfreude  der  bayerisch -fränkischen  Phantasie.  Das  hat  viel  zu 
schneller  Volksthümlichkeit  beigetragen.  Da  ist  die  charakteristische  Lichtfreude  und  das  Hängen  am 
dicht  bewachsenen  Heimathboden  mit  den  milden  und  reinlichen  Farben,  —  das  erdenfrohe  Genügen. 
Sein  feiner  Schwung  ist  ohne  starken  Krafteinsatz  erzielt  und  wirkt  ganz  mühelos.  Sein  poetischer 
Schimmer  verliert  sich  nie  in  mystische  Exstasen,  —  sein  warmes  Blut  wird  nur  hier  und  da  leiden¬ 
schaftlich-wild.  Er  bleibt  stets  auf  natürlichem  Boden.  Dazu  ist  er  lyrisch,  — -  hat  immer  eine 
augenblickliche  Stimmung,  —  fordert  keine  gedanklichen  Voraussetzungen  von  Schwierigkeit;  —  man 
weiss  sogleich,  was  er  will.  Und  dann  ist  er  Landschafter  im  Grunde.  Allerdings  hat  er  nur  selten 
blosse  Naturausschnitte  gegeben,  aber  seine  Gestalten  sind  vornehmlich  Gewächse  des  stillen  Hains 
mit  den  arglosen  Trieben  unentweihter  Natur.  Die  Landschaft  allein  bildet  den  Hintergrund  für  seine 
Vorwürfe  und  ich  vermag  mich  nicht  eines  Gemäldes  von  ihm  zu  entsinnen,  auf  dem  das  armseligste 
Bauwerk  zu  schauen  wäre.  Seine  Kunst  ist  Waldkunst  wie  die  deutsche  es  in  ihren  Anfängen  war 
und  die  süddeutsche  Stammesart  es  sich  noch  sichtbar  bewahrt  hat.  Es  sind  ja  auch  die  frühsten 
Eindrücke  in  sein  Jugendseelenleben,  die  hier  verarbeitet  sind. 

In  diesen  Waldträumen  aber  bewegt  sich  ein  moderner  Mensch,  —  was  Stuck’s  Kunst  einen 
pikanten  Beigeschmack  giebt.  Ohnehin  Zeichner  und  Stilist,  ist  ihm  die  Farbe  ein  glänzendes  Mittel, 
um  zu  bestechen,  zu  überraschen,  ein  wenig  auch  —  die  ernsteren  Werke  ausgenommen  —  damit  zu 
spielen.  Es  ist  erstaunlich,  was  für  virtuose  Stücke  er  damit  fertig  kriegt.  Er  ist  niemals  leer  und 
in  der  dämmerigen  Weichheit  niemals  weichlich,  sondern  immer  bestimmt,  graziös,  schmetterlings¬ 
haft  -  gaukelnd,  buntschillernd,  —  er  hat  viele  und  nicht  gewöhnliche  Farben,  die  er  gern  flächig- 
abgegrenzt  wirken  lässt ;  ich  möchte  seine  ungemein  anmuthige,  vornehme,  geschmackvolle  Palette  mit 
dem  bestrickenden  Liebreiz  der  modernen  Französin  vergleichen.  Er  ist  im  heute  landläufigen  Sinne 
so  wenig  Maler  wie  sie  als  echtes  Weib  gelten  kann,  aber  ein  entzückendes  Gemisch  von  feinen 
Künsten  bleibt  sie  wie  vielmals  seine  Palette,  auf  der  die  Verschlagenheit  jahrhundertalter  Erfahrungen 
das  Seltenste  und  Kostbarste  angehäuft  hat.  Wie  gut  aber  passt  dieser  Farbenstrauss  zu  seiner  geist¬ 
reichen  und  eleganten,  alles  bezwingenden  Zeichnung.  Er  baut  sie  auf  die  Natur  auf,  überschreitet 
diese  jedoch  vielmals  mit  kecker  Freiheit.  Denn  auch  das  Freiheitsgefühl,  das  Selbstvertrauen  und 
der  Muth  der  nervösen  Zeitgenossen  erfüllt  ihn,  und  er  treibt  ihn  auch,  alle  ungewöhnlichen  Regungen 
seiner  Seele  und  seines  Temperaments  ruhlos  zu  beobachten  und  für  das  Unaussprechbare  den  Aus¬ 
druck  zu  finden.  Seine  Durchtriebenheit  ist  hier  nicht  selten  erstaunlich  und  bei  manchen  seiner 
erotischen  Vorwürfe  kann  es  prüden  Augen  geschehen,  dass  sie  ahnungslos  mit  etwas  ganz  Bedenk¬ 
lichem  hintergangen  werden,  —  so  geschickt  weiss  er  sie  vom  wunden  Punkt  abzuziehen.  —  —  Zu 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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diesen  virtuosen  Eigenschaften  gesellt  sich  die  Unruhe,  die  Laune,  und  in  der  Romantik  seiner  Vor¬ 
stellungen  ein  gleichfalls  moderner  Zug  des  Misstrauens  gegen  seine  Glaubenssachen.  —  — 

—  —  Reich  und  bunt  wie  seine  Malerei  ist  das  Schaffensgebiet  von  Stuck,  und  auch  sein 
Stil  zeigt  sehr  interessante  Wandlungen.  Am  ungebundensten  und  ganz  persönlich  in  virtuoser  Freude 
an  blinkenden  Einfällen  hat  sich  der  Künstler  in  jener  Bilderreihe  gegeben,  welche  Centauren,  Faune, 
Nymphen  und  ähnliche  Gebilde  antik  -  romantischer  Phantasie  in  ihrem  arglos  -  unbefangenen  Natur¬ 
leben  schildert.  Seine  frühsten  Bilder  gehören  ihr  an  wie  solche  der  letzten  Zeit.  Und  hier  steht  er 
seinen  humoristischen  Zeichnungen  noch  am  nächsten;  denn  er  bildet  leicht  aus  launischer  Freude  am 
Einfall  oder  flüchtiger  Stimmung  als  virtuoser  Künstler.  Die  Antike  in  ihrer  Geschichte,  ihrer  Kunst, 
ihrer  sittengeschichtlichen  Seite  kommt  hier  für  ihn  fast  gar  nicht  in  Frage,  —  nahezu  ist  er  in  jeder 
Weise  antiphilologisch.  Die  stille  Poesie  von  Hain  und  Auen,  die  nie  ein  sterblicher  Fuss  betrat, 
schaut  sein  inneres  Künstlergesicht  und  entdeckt  darin  jene  halbgöttlichen  Gebilde  der  Sage,  die  frei 
von  Zwang  und  Pflicht  der  Gottheit  und  unbekannt  mit  dem  Elend  und  der  Knechtschaft  des  Mensch¬ 
seins  ein  kinderhaft  -  ausgelassenes  und  wildschönes  Dasein  leben.  Vielhundertjährige  Kultur  hat 
einen  Schleier  vor  diese  Welt  gehängt,  so  dass  das  im  reinen  Naturblick  geschwächte  moderne  Auge 
nur  verführerische  aber  unklare  Umrisse  von  diesen  Gestalten  erblickt.  Wie  gut  hat  Stuck  diesen 
uns  fehlenden  richtigen  Standpunkt  der  antik-romantischen  Ferne  gegenüber  durch  seinen  visionären 
malerischen  Stil  auszudrücken  gewusst!  Eine  stimmungsvolle  Dämmerigkeit  ist  über  alle  diese  Tafeln 
gebreitet,  gleichviel  ob  seine  frühe  Farbenweise  das  sonnentrunkene  Flimmern  oder  die  spätere  eine 
warme  Schwarzmalerei  bevorzugt.  Für  das  Phantastisch  -  Nebulöse,  das  Dämmerig  -  Trauliche,  das 
Dämonisch  -  Düstere  hat  er  im  Treffen  die  glücklichste  Hand.  Man  wird  da  in  der  Klangfarbe  der 
Stimmungen  vielfach  an  den  streichelnden,  ins  Formlos-Unbegrenzte  verwehenden  Wohllaut  des  Harfen¬ 
spiels  erinnert  und  findet  oft  eine  Süssigkeit  darin,  die  schon  ins  Märchenhafte  geht.  Er  wird  jedoch 
dort,  wo  er  es  einmal  nicht  trifft,  nie  empfindsam,  viel  eher  handfest,  kalt  überlegt  oder  auch  hier 
und  da  von  etwas  ruppiger  Phantasie  -  Erotik.  Grosse  Gedankenzüge  oder  starke  Leidenschaft  haben 
diese  Tafeln  dazu  nicht;  es  sind  geistreiche  und  launische  Einfälle  eines  glücklichen  Künstlergemüths, 
die  in  grösserer  Anzahl  nebeneinander  betrachtet  mit  ihren  vielen  poetischen  und  malerischen  Reizen 
sinneverwirrend  wie  die  liebliche  Augenweide  des  arabischen  Schmuckstils  wirken.  Hier  ist  Stuck 
Poet  und  Farbenvirtuose,  ist  er  ein  nur  liebenswürdiger  Künstler,  —  was  bei  der  Zahl  gerade  dieser 
Bilder  eine  einseitige  Unterschätzung  von  Stuck’s  Kunst  verursacht  hat. 

Diese  Centauren-  und  Faun -Idylle,  —  welch’  eine  frische  Heiterkeit,  welch’  sonnigen  Humor, 
welch’  eine  jauchzende  oder  wildverlangende  Liebeslust  athmen  sie,  und  mit  wie  lebendigem  Schwung 
sind  sie  gedichtet!  Da  sind  die  «kämpfenden  Faune»,  die  in  einem  sonnigen  Kessel  am  Felshang 
eben  eine  Kraftprobe  im  Scherz  unternehmen.  Sie  rennen  mit  den  vorgebeugten  Köpfen  wie  zwei 
Hirsche  gegeneinander  und  erproben,  wer  den  Anderen  zurückzudrängen  versteht,  —  wobei  der  Eine 
wenigstens  sehr  fidel  lacht.  Dass  der  Kampf  ein  ganz  harmloser  ist,  beweist  der  Kranzj  von  Zu¬ 
schauern  ringsherum,  nämlich  Faunen,  Nymphen,  die  herzlich  über  das  drollige  Aussehen  der  drängelnden 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Kämpen  lachen.  Derselbe  Gegen¬ 
stand  auf  die  Faunenjugend  über¬ 
tragen  zeigt  einen  Kreis  von  fidelen 
Sprösslingen  dieser  Fabelwelt,  in 
deren  Mitte  ein  Genosse  eben  mit 
vorgestrecktem  Kopf  auf  ein  an¬ 
springendes  Böcklein  losgeht.  Ein 
malerisch  sehr  stimmungsvolles  Bild¬ 
chen  führt  uns  im  durchlichterten 
Waldgrund  ein  Faunenpaar  vor,  das 
um  einen  dicken  Stamm  herum  kind¬ 
liches  Haschen  spielt.  Auf  einem 
anderen  sieht  man  unter  dem  kühlen¬ 
den  Schatten  eines  herabhängenden 
Busches  zwei  Faunkerle  zum  Mieder- 

o 

lösenden  Mittagsschlaf  niedergelagert. 
Breite  Lichter  fallen  auf  ihre  Leiber 
und  haben  den  einen  schon  durch 
ihre  lästige  Gluth  zu  einer  unbe- 
quemen  Lage  veranlasst,  was  sehr 
drollig  aussieht.  Ein  anderer  Laun 
auf  einem  ferneren  Bild  liegt,  um 
sicheren  Schatten  in  sonniger  Bach- 
landschaft  zu  finden  oder  vielleicht 
auch  aus  Vorsicht  auf  dem  breiten 
Ast  eines  starken  Baums  mit  herab¬ 
hängenden  Beinen  da.  Launenkinder, 
die  Glühwürmchen  auf  dunkler  Wiese 
haschen,  behandelt  eine  weitere  Tafel. 
Sehr  drollig  ist  ein  Laun,  der  mit 
sichtbarem  Athem ,  verschränkten 
Armen  und  angezogenem  Luss,  vor 
Kälte  zitternd  und  ängstlich  aus¬ 
schauend,  mitten  in  einer  Schnee¬ 
landschaft  steht.  Ist  er  verirrt  oder 
nur  ein  seltener  Schneefrost  über  die 
blühende  Aue  des  Südens  herein- 


Franz  Stuck.  Aktstudien 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Franz  Stuck.  Herbstabend 


gebrochen?  Wie  prächtig  äst  das  Frieren  des  armen  Kerls  und  die  Angst  in  der  fernsichtslosen  Schnee¬ 
ebene  vor  dem  unbekannten  Naturschauspiel  herausgearbeitet!  Dann  traben  auf  einer  neueren  Kom¬ 
position  zwei  Centauren,  von  denen  der  Eine  mit  Geweih  und  zottig-schmalem  Leib  einen  Hirsch¬ 
menschen  vorstellt,  sich  unterredend  durch  einen  Wald,  auf  dessen  Wipfeln  Paradiesvögel  sitzen  und 
Kakadus  ihren  misstönigen  Schrei  ausstossen. 

Ein  prickelnder  Sinnesrausch  erfüllt  andere  Bilder  dieses  Kreises,  welche  das  erregte  Liebes¬ 
ieben  dieser  ungebundenen  Geschöpfe  in  dämmeriger  Hainstille  oder  auf  abendlicher  Aue  zum  Vor¬ 
wurf  haben.  Auch  sie  sind  von  frischem  Humor  gewürzt.  —  auch  sie  psychologisch  interessant  durch 
eine  gewisse  moderne  Schattirung  in  der  Art  des  Liebesspiels*.  Unschuldiges  Getändel  harmloser 
Jugend  und  wortlose  Spiegelung  des  Glücks  in  den  Naturvorgängen  streift  hier  die  Art  der  Gegen¬ 
wart  gerade  so  wie  dort  der  durchtriebene  Kunstgriff  der  Anstachelung  und  Steigerung  der  Leiden¬ 
schaft  durch  Versagen,  welcher  immer  Zeichen  höherer  Kultur  ist.  Die  vielfach  äusserst  anmuthigen 
Tafeln  wirken  dadurch  menschlich  -  intim ,  wie  man  es  sonst  nur  bei  Stoffen  aus  der  Gegenwart 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


findet.  —  In  dieser  Art  ist  auf  der  «Verfolgung»  in  einsamer  Haintiefe  ein  reizendes  Minnespiel  ge¬ 
schildert,  das  zudem  zeichnerisch  in  der  sehr  kühnen  Verkürzung  des  Centaurinnenleibes  bemerklich 
ist.  Wild  im  Kreise  herum,  dass  die  blonden  Haare  nur  so  fliegen,  galoppirt  eine  lachende  Huldin, 
die  sich  nicht  zu  schnell  einfangen  lassen  will,  dem  mit  ausgestreckten  Händen  heranjagenden  Anbeter 
fort;  seine  langgestreckte  Silhouette  und  der  Bewegungsaufriss  verrathen  ein  lohendes  Feuer  in  seinen 
Adern.  Anderswo  schäkert  unter  dem  Gelächter  einer  ausgelassenen  Zuschauerschaft  von  Genossinnen 
ein  ungefüger  Pferdemensch  mit  einer  gefangenen  Nymphe  und  redet  auf  die  sich  Wehrende  halb¬ 
lachend  ein.  Dann  sieht  man  auf  einer  anderen  Tafel  im  Waldschatten  einen  Faun  und  eine  Nymphe 
in  kosender  Gegenwartvergessenheit  gelagert.  Eine  Perle  an  lyrischer  Stimmung  und  feiner  Tonmalerei 
ist  der  « Sonnenuntergang ».  Auf  dunkler  Haide  steht  zärtlich  umschlungen  ein  Centaurenliebespaar, 
—  Rappe  und  Schimmel,  —  und  schauen  dem  letzten  Glast  am  pappelliberschnittenen  Horizont  glück¬ 
versunken  nach.  Welch’  reizendes  theokritisches  Liebesidyll  und  wie  fein  empfunden  ist  dann  jene 
kleine  Malerei,  auf  der  in  tiefem,  aber  belichtertem  Buschschatten  ein  blühendes  Paar  dem  Cupido  ein 

zärtliches  Opfer  bringt.  Da  sitzt  sie  auf  einer  Rasenbank  und  beugt  sich  zu  dem  quer  über  ihren 

Schooss  gelagerten  und  sie  trunken  umschlingenden  Geliebten  herab,  um  Küsse  mit  ihm  auszutauschen. 

Das  Meerweibchen,  welches  am  Strand  auftauchend  mit  grossen  Augen  der  lachenden  Aufforderung 
eines  verschmitzten  Burschen  lauscht,  ist  ein  anderer  Gegenstand.  — -  In  traumhafter  Abdämpfung  eröffnet 
sich  hier  wie  auf  allen  diesen  Vorwürfen  der  Ausblick  auf  ein  schon  mit  Bewusstsein  erfülltes  und  seelisch 
gesteigertes  Naturleben,  das  aber  noch  durch  keine  Kultur  in  seiner  Unerschöpflichkeit  gebrochen  ist.  — 

Dann  sind  auch  tragische  Vorwürfe  in  diesem  Bilderkreise  vorhanden,  und  es  ist  hier  erstaunlich, 
wie  ausgebildet  Sinn  und  Geschick  des  jungen  Künstlers  auf  diesem  Felde  sind,  so  dass  man  auch 

hier  wie  bei  den  leichten  Idyllen  mehr  als  eine  Perle  in  Hinsicht  der  Malerei  wie  schlagender  innerer 

Wahrheit  findet. 

Man  sehe  die  «Phantastische  Jagd»  als  Schlussstück  einer  wilden  Flucht:  dicht  am  schützenden 
Hainrand  ist  der  verfolgte  Hirschmensch  vom  stärkeren  Centauren  erreicht  und  bricht  jetzt  unter 
dessen  wohlgezieltem  Pfeilschuss  todt  zusammen.  Dann  sind  die  «Rivalen».  —  Bei  strömendem  Regen, 
der  einen  milden  Schleier  um  den  grauenhaften  Kraftaufwand  hängt,  zwei  um  eine  Paniske,  die  kaum 
sichtbar  ist,  ringende  Centauren,  —  der  Todesschrei  des  Einen,  dem  eben  Rückgrat  und  Brustkasten 
eingedrückt  werden.  Oder  dort  «Faun  und  Nymphe»  am  sonnigen  Meeresstrand.  Sie  in  jäher  Flucht,  — 
er  in  wildem  Verlangen  hinterher  und  mit  der  niederschlagenden  Wucht  einer  Packträgerfaust  ihr 
Haar  eben  fassend.  Ein  anderes  Drama  spielt  sich  in  einer  Gletscher-Einöde  ab  Da  schaut  eine 
Centaurin  mit  Angst  dem  Kampf  zwischen  einem  jüngeren  und  einem  älteren  Centauren  zu,  der  mit 
herkulischem  Bau  und  wildem  Räubergesicht  begabt  eben  den  Kopf  des  Jüngeren  mit  seinen  Hufen 
zerschmettert.  Ist  es  ein  hintergangener  Ehemann  oder  Vater,  der  das  flüchtige  Paar  hier  überraschte,  — 
ist  es  ein  schweifender  Recke,  der  das  Recht  des  Stärkeren  bei  gefundener  Gelegenheit  geltend 
macht?  —  Man  weiss  es  nicht.  Nur  hat  auch  hier  die  Leidenschaft  etwas  Verbrecherisch-Menschliches, 
von  dem  man  zur  Parteinahme  getrieben  wird. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Eine  eigene  Anmuth  schwebt  über  dieser  kleinen  Welt  centaurischer  und  halbgöttlicher 
Idyllik.  Die  liebenswürdige  Verträumtheit  der  Phantasie,  —  der  leichte  gefällige  Stil  in  der  duftigen 
Malerei  wie  der  sehr  feinen  Zeichnung,  den  man  wegen  seiner  lebendigen  Art  einen  Feuilleton-Stil 
nennen  könnte,  —  der  erotische  Zug  darin  leihen  diesen  Bildchen  einen  merkwürdig  prickelnden 
Reiz  und  geben  ihnen  trotz  des  von  Böcklin  übernommenen  Gegenstandes  eine  würzige  Ursprüng¬ 
lichkeit.  Aber  es  bleibt  doch  nur  ein  Gebiet  und  eine  Stilseite  im  Werk  von  Stuck,  in  denen  er  als 
phantastischer  Lyriker  erscheint.  Betrachten  wir  nur  eine  Abart  dieses  gleichen  Darstellungskreises 
in  seinem  Schaffen,  so  wird  seine  Künstlerphysiognomie  gleich  verändert,  und  man  erkennt  mit 
Ueberraschung,  wie  sehr  und  verschiedenartig  unser  Künstler  wie  kaum  ein  Anderer  der  Gegenwart 
vom  Stoff  beherrscht  und  bestimmt  wird.  Das  Sphinxproblem  z.  B.  steht  innerlich  diesen  Centauren¬ 
bildern  so  nahe,  dass  man  kaum  eine  Aenderung  davon  im  Künstlerstil  erwarten  sollte.  Und  doch 
erscheint  hier  Stuck  in  einer  erheblichen  Temperamentswandlung.  Eine  dumpf-brütende,  fast  lechzende 
Leidenschaftlichkeit  mischt  sich  mit  einem  dämonischen  Zuge  in  der  Auffassung ;  man  mag  sich  kaum 
vorstellen,  dass  ein  sehr  weltgewandter  und  blutjunger  Künstler  und  nicht  ein  reifer  Mann  der  Urheber 
ist,  der  längst  in  seinem  menschenscheuen  Grübeln  über  den  Grund  der  Dinge  zu  selbstvernichtenden 
Ergebnissen  kam.  Die  drei  Behandlungen  des  Gegenstandes  gehören  verschiedenen  Entwickelungsstufen 
an,  was  ihren  Vergleich  sehr  unterhaltend  macht.  Da  ist  die  frühste  Fassung  eine  landschaftliche 
Phantasie.  Eine  schroffe  Klippe  über  dunkel  gähnender  Abgrundtiefe.  Im  Halbdunkel  darüber  erblickt 
man  das  stiere  Gesicht  der  Sphinx  mit  grünen  Augen  und  von  schwarzer  Mähne  umwallt,  während 
der  gelagerte  Leib  undeutlich  verwischt  ist.  Nur  ein  winziger  Punkt  ist  dies  Fabelgeschöpf  im  ganzen 
Raum,  aber  die  äusserst  geschickte  Lösung  drängt  die  unheimliche  Stimmung  des  Ortes  so  auf  diesen 
einen  Punkt,  dass  diese  kaum  sichtbare  Gestalt  zum  Träger  fahlen  Vorweltgrauens  wird.  Stuck  hat 
gewissen  Lieblingsvorwürfen  in  fast  jeder  neuen  Stilperiode  eine  neue  Fassung  gegeben.  So  sehen 
wir  dies  gleiche  Sphinxproblem  auf  einem  anderen  Bild  aus  jener  Zeit,  in  der  einige  Werke 
geschichtlicher  antiker  Kunst  sich  nähern,  in  der  Art  behandelt,  dass  der  weibliche  Dämon  in  einer 
dunklen  Felsnische  neben  einem  Menschenschädel  zum  Todesstreich  bereit  niederhockt,  aber  entsetzt 
auf  den  antiken  Jüngling  vor  ihr  starrt,  der 
mit  grösster  Seelenruhe  des  Räthsels  Lösung 
ausspricht.  Hier  verstärkt  ein  Tropfen 
Humor  die  Kontrastwirkung  und  ist  die 
plastische  Form  gegenüber  der  Landschafts¬ 
phantasie  in  der  vorigen  Fassung  sehr  aus¬ 
geprägt.  Dramatische  Leidenschaftlichkeit 
erfüllt  das  dritte  und  reifste  Bild.  Hier  ist 
der  Mythos  frei  umgedichtet  und  die  Sphinx 
in  das  teuflische  Weib  gewandelt,  welches 
dem  umgarnten  Mann  Blut  und  Leben  aus- 


Franz  Stuck.  Aktstudie 


3* 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


saugt,  —  sie  ist  der  Vampyr  der  orientalischen  Sage.  Als  üppig- wollüstiges 'Weib  liegt  sie  mit  ihrem 
mächtigen,  in  jeder  Muskel  gespannten  Löwenkörper  auf  ihrem  Stein  und  umkrallt  den  schon  bewusst¬ 
losen  Mann ,  dessen  Lippen  sie  gierig  küsst.  Wie  prächtig  sind  diese  Formen  ausgebildet,  —  wie 
knapp  und  dramatisch  erzählt  der  kunstvolle  Aufbau,  —  und  welch’  eine  Leidenschaftlichkeit  lodert 
in  diesen  verknäulten  Linien  und  der  schwärzlich-schwülen  Tongebung.  Die  Kraft  und  Sicherheit  des 
Stils  wie  der  Flammensprache  hat  nichts  mehr  mit  den  phantastischen  Wald-Träumen  der  Centauren¬ 
bilder  zu  thun;  es  gehört  desshalb  auch  zu  den  reifsten  späteren  Schöpfungen  innerlich,  wenn  es  auch 
bereits  hier  im  stofflichen  Zusammenhang  erwähnt  ist. 

Allerhand  reizende  Einfälle  hängen  noch  ausserdem  um  den  antiken  Kreis  im  Stückwerk 
herum.  In  einen  von  Abendlichtern  durchfunkelten  Buschschatten  ist  ein  wandelnder  «Ovid»  mit  der 
Lyra  im  Arm  hingestellt ;  er  mag  in  dem  phantasieauslösenden  Dämmerungsbeginn  gerade  über  dem 
Gedankengang  einer  seiner  «Verwandlungen«  nachsinnen.  Als  eine  von  Stuck’s  sehr  wenigen 
Anlehnungen  an  die  geschichtliche  antike  Formenwelt  wäre  der  prächtig  durchgebildete  «Sieger»  mit 
dem  Lorbeerzweig  in  der  einen  und  der  nachdenklich  von  ihm  betrachteten  Bronzefigur  einer 
Athene  -  Siegbringerin  in  der  anderen  Hand  zu  nennen.  Ein  nicht  minder  echtes  und  köstliches 
Stück  von  Malerei-Hellenismus  ist  auch  der  scharf  gezeichnete,  jugendlich  fesselnde  und  durch  den 
Kontrast  glänzender  P’arben  ausgezeichnete  Profilkopf  der  «Pallas  Athene».  In  das  Plakat  der 
Secession  seitdem  aufgenommen  und  als  ein  Wappen  dieser  Künstlervereinigung  auch  anderswo 
verwendet,  dürfte  dies  dekorativ  gedachte  Werk  Stuck’s  bekanntestes  sein.  Wir  kennen  ja  die 
Malerei  der  grossen  hellenischen  Zeit  nur  aus  so  wenigen  und  unzulänglichen  Resten,  dass  man  sich 
ein  fraglos-zutreffendes  Bild  weder  daraus  noch  aus  den  Beschreibungen  des  Pausanias  machen  kann. 
Aber  wenn  man  sich  schon  eine  Vorstellung  davon  zurechtzuzimmern  sucht,  kommt  man  unbewusst 
auf  diese  Bilder  von  Stuck  zurück,  die  ganz  aus  dem  Geist  der  Zeit  erschaffen  scheinen.  Dass  der 
Künstler  sich  seiner  sonstigen  Art  und  Neigung  entgegen  einige  Male  hierin  versucht  hat,  ist  übrigens 
von  äusserer  Ursache  bedingt.  Wer  Stuck’s  Werkstatt  betrat,  kennt  auch  die  mit  erlesenem  Geschmack 
zusammengebrachte  und  angeordnete  kleine  Sammlung  bemalter  antiker  Bildwerk-Kopieen.  Es  ist  also 
ein  Sammler-Interesse,  welches  diese  prächtigen  Werke  der  Künstler-Phantasie  eingab.  —  Verwandt 
in  der  Art  sind  ausserdem  noch  ein  paar  Vorwürfe  wie  der  «todte  Orpheus»,  die  kunstgewerblich 
gedachte  Arbeit  eines  «Orpheus  unter  den  Thieren»,  dem  der  alttestamentliche  Gegenstand  eines 
«Samson  mit  dem  Löwen»  stilistisch  parallel  läuft.  Ein  gleichfalls  im  Schmuckstil  gehaltener,  sehr 
hübscher  «Tanz»  eines  Paares  auf  rothem  Grunde,  dem  in  den  Seitenstücken  zwei  Faune  aufspielen,  — 
die  bekannten  «Serpentintänzerinnen»,  sind  hier  ebenfalls  zu  nennen.  —  — 

—  Man  stösst  bei  der  aufmerksamen  Wanderung  durch  das  Stückwerk  auf  weite  und 
fruchtbare  Strecken,  in  denen  ein  Geistmensch  mit  hohen  Ideen,  einem  bestimmt  gefärbten  Zeitver- 
hältniss,  einer  litterarisch  gebildeten  Phantasie  helle  Spuren  hinterliess,  —  nicht  immer  ganz  deutlich, 
aber  doch  in  der  erdrückenden  Mehrzahl  aller  seiner  Gebilde  wird  indessen  eine  zarte  Verträumtheit 
in  landschaftliche  Phantasieen  als  der  Untergrund  seines  Seelenlebens  sichtbar.  Das  wurzelt  in  den 


Kämpfende  Faune 


l'Yuuz  Stuck  pinx. 


Pliot.  K.  Haufstaeugl,  Miiucheu 


Das  böse  Gewissen 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


schon  skizzirten  Kindheitserinnerungen,  —  das  verschwindet  in  den  mühseligen  Werdejahren  vor 
dem  Zwang  des  Daseinskampfs,  —  das  taucht  verzehrend  und  schnell  zu  origineller  Malerkunst  aus¬ 
reifend  bei  ihm  auf,  sobald  der  junge  Künstler  den  festen  Boden  des  ersten  Erfolgs  und  wirth- 
schaftlicher  Sicherheit  unter  den  Füssen  spürt.  Die  erste  Stunde  ruhiger  Selbstbesinnung  scheint 
auch  die  künstlerische  Geburtsstunde  dieser  Traumwelt  zu  sein;  er  hat  natürlich  auch  vorher  diesen 
Seelendämmerungen  und  vielleicht  sogar  mit  schmerzlicher  Sehnsucht  nachgehangen ,  aber  erst  jetzt 
wagt  er,  sie  in  Kunst  umzusetzen.  Die  sich  über  seine  ganze  Schaffenszeit  erstreckenden  Centauren¬ 
bilder  sind  eines  der  wichtigsten  Zeugnisse  dafür.  So  leibhaftig,  so  menschlich  seine  Gestalten  hier  sind, 
setzt  dieser  elegante  und  vor  keiner  Schwierigkeit  erschreckende  Zeichner,  dieser  sorgfältig  erzogene 
Formenmensch  sie  malerisch  doch  immer  in  eine  stimmungsvolle  Dämmerigkeit,  —  sie  sind  gleichsam 
der  artikulirte  Fant,  in  den  er  einen  Naturzustand  lasst.  Man  sieht  da,  wie  seine  Bilder  gewachsen 
sind:  als  fliegende  Eindrücke  oder  Erinnerungen  von  einer  Wanderung.  Draussen  im  Wald  ein  nicht 
o-leich  zu  bezeichnender  Faut,  ein  Rauschen  des  Windes,  eine  zufällige  Form  im  Gezweig',  ein 
seltsamer  Umriss  irgendwo,  die  huschenden  und  verzauberten  Dichter  des  Tags  oder  der  Wende 
desselben,  das  geheinmissvolle  Fasten  und  die  verworrenen  Stimmen  der  Dunkelheit,  —  das  fiel  in 
die  Künstlerphantasie  mit  Bildern  und  lieh  ihr  jene  süsse  Beklommenheit,  unter  der  die  grossen 
Eingebungen  in  eine  Menschenseele  schlüpfen.  Wenige  Male  hat  Stuck  sich  auch  begnügt,  nur  den 
ursprünglichen  Natureindruck  ohne  jede  litterarische  Würze  durch  Gestalten  wiederzugeben,  —  aber 
das  sind  eigenartige  Gebilde,  —  ja  Richtpunkte  in  der  neuesten  Fandschaftsmalerei  geworden,  weil 
sie  frei  von  deren  Knieschwäche  sind.  Ficht-  und  Tonwerthe  nach  der  herrschenden  Mode  strebt  er 
so  wenig  als  einen  chronikenmässigen  Realismus  in  der  Wiedergabe  der  Formen  an.  Er  sieht  in  der 
Natur  ein  paar  grosse  Züge ,  —  die ,  welche  ihren  Charakter  ausmachen ,  —  und  sucht  sie 
herauszubringen.  Darum  hat  er  auch  so  reine  und  geheimnissvolle  Stimmungen  darin  und  reizt  mit 
einigen  halben  Andeutungen  von  dem  äusseren  Eindruck  eines  Orts  die  schaffende  Phantasie  zum 
Grübeln  über  das,  was  hier  vorgegangen  sein  mag,  was  etwa  noch  kommt,  was  man  selbst  Aehnliches 
einmal  sah.  Dieser  echte  Fyriker  steckt  in  dem  «Abend  am  Weiher»  mit  den  verschwommenen 
Umrissen  von  Baum  und  Uferlinie,  mit  dem  rosigen  Spiegeln  der  Wasserfläche  zwischen  den  Wucher¬ 
pflanzen  darauf ;  ihn  findet  man  auch  in  der  noch  tieferen,  fast  unheimlichen  Stimmung  des  nächtlichen 
«Forellenweihers».  Ein  kleines  Stück  von  der  tintenblauen  Fläche,  ein  paar  Bäume,  die  fahle  Wiese 
dahinter,  ein  letzter  Funke  ersterbenden  Fichts  am  Horizont,  —  nicht  mehr;  dazu  der  Kunstgriff  der 
paar  Kreise  auf  dem  Wasser,  um  das  unsichtbare  Leben,  die  leisen  Geräusche  der  Nacht  anzudeuten. 
Diese  fein  erlauschte  Seele  der  Natur  offenbaren  auch  die  anderen  Landschaften,  wie  die  sehr 
stimmungsvollen  «Weidenden  Pferde»  und  dann  jener  «Reiter»,  der  unter  fliegenden  Wolken  und 
kreisenden  Krähenschwärmen  durch  eine  Abendlandschaft  dahinzieht,  —  augenscheinlich  die  erste 
Quelle  tür  die  spätere  grosse  Allegorie  des  Krieges  —  — 

-  Diesen  Blick  des  Stilisten  von  Rasse  für  die  ausschlaggebenden  grossen  Züge  einer 

ö  O  O  Ö 

Erscheinung  verrathen  nicht  nur  die  Landschaften,  sondern  auch  Bildnisse  von  Stuck’s  Hand,  deren 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Kenntniss  für  seine  Würdigung-  indessen  nicht  unbedingt  nöthig  ist.  Da  erkennt  man  die  Art  des  früheren 
humoristischen  Zeichners,  mit  ein  paar  Zügen  ähnlich  und  lebendig  hinzusetzen,  ohne  dass  ihm  die 
kleinen  Sorgen  des  soliden  Bildnissmalers  viel  Kopfzerbrechen  verursachen.  Es  sind  fast  nur 
Frauenköpfe  von  schlanken  Gestalten  und  meist  pikantem,  brünettem  Typus.  Reizend,  anmuthig,  keck 
die  Meisten,  —  im  Fluge  sozusagen  erschaut  und  lose  hingestrichen.  Er  muss  ein  feiner  Frauen¬ 
kenner  sein,  denn  diese  Köpfe  sind  oft  schlagend  in  dem  gesehen,  worauf  die  Frauen  beim 


Gemaltwerden  Werth 
le^en  und  was  sie  in 
Miene  wie  Verbesser¬ 
ung  der  Natur  durch 
unschuldige  kleine 
Künste  gern  an  sich  zu 
betonen  suchen.  Mit¬ 
unter  gelang  ihm  dabei 
auch  ein  psychologisch 
werthvoller  Griff,  wie 
im  blutlosen  Verfall¬ 
typus  von  Juliane  Dery, 
und  wie  in  seinem  eige¬ 
nen  interessanten  Kopf, 
der  in  seiner  Art  ein 


Meistergriff  ist.  —  — 


In  den  guten  alten 
Zeiten  der  Kunstge¬ 
schichte  ofab  die  Bilder- 
weit  der  Bibel  dem 
Künstler  weitaus  die 
Mehrzahl  seiner  Vor¬ 
würfe,  was  mit  der 
Parallelität  von  Religion 

grimmige  Realisten,  wie  Menzel  und  Fiebermann,  sich  wenigstens  vorübergehend  einmal  darin  ver¬ 
suchten.  Das  ist  weder  für  die  Kunst  noch  für  die  Moral  einer  Zeit  ein  minderes  Zeichen.  Auf 
welchem  Boden  man  stehen  mag,  —  ob  man  fromm,  lau  oder  zweiflerisch  veranlagt  ist,  —  ob 
man  als  Kirchenläufer  gilt  oder  nie  einem  Gottesdienst  beiwohnt,  —  so  kommt  man  als  gebildeter 
und  urtheilsfähiger  Mensch  doch  in  keinem  Falle  beim  Nachdenken  über  die  Dinge  der  Welt  um 
die  Erkenntniss  herum,  dass  die  Religion  eine  Gemüthsforderung  ist.  Und  gerade  das  macht  es  in 


Franz  Stuck.  Aktstudie 


und  Kunst  innerhalb 
des  Gemüthlebens  zu¬ 
sammenhängt.  Seit  mit 
dem  Verfall  der  Kunst 
die  Fachmalerei  sich 
entwickelte,  hat  sich 
die  frühere  Einseitig¬ 
keit  nur  nach  einer  an¬ 
deren  Seite  gewandt 
und  ein  Mehrgewinn 
aus  der  Eroberung  und 
Pflege  neuer  Kunstge¬ 
biete  für  die  schaffende 
Persönlichkeit  sich  nicht 
ergeben.  Erst  die  letz¬ 
ten  Jahrzehnte  haben 
mit  dem  Auftreten  um¬ 
fassend  begabter  Künst¬ 
ler  wie  Feuerbach, 
Böcklin,  Klinger  hier 
einen  Wandel  gebracht, 
welcher  der  Darstell¬ 
ung  aus  der  christ¬ 
lichen  Legende  so  zu 
Gute  kam,  dass  selbst 


24 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


jeder  Beziehung  interessant,  die  bedeutendsten  Geister  eines  Volks  und  einer  Zeit  in  ihrem  eigen- 
thümlichen  Verhältnis  zur  christlichen  Symbolik  als  die  uns  nächste  Erfüllung  dieser  Gemüths- 
forderunor  zu  beschauen.  Ist  es  z.  B.  nicht  sehr  nachdenklich,  wenn  ein  so  völlig  heidnisch 
empfindender  Künstler  wie  Böcklin  mächtige  religiöse  Stoffe  wie  die  «Kreuzabnahme»,  die  «Pieta» 
in  p-rossartio-er  Auffassung  zu  gestalten  wusste  und  in  seinem  köstlichen  «Eremiten»  uns  gleichsam 
einen  modernen  Kanon  von  der  religiösen  Versenkungsfähigkeit  einer  Menschenseele  schuf?  Wenn 
ein  so  ganz  philosophisch  gebildeter  Kopf  wie  Klinger  in  seiner  letztgeschaffenen  Riesenallegorie  das 
Christenthum  in  einer  wahrhaft  erhabenen  Weise  verherrlichte?  Eine  Zeit,  die  so  entschlossen  in  ihren 
edelsten  Geistern  die  materialistischen  Scheuklappen  abwirft,  ist  fähig  wieder  und  reif  für  höhere 
Stufen  der  Gesittung,  und  man  wird  bei  einiger  Unbefangenheit  denn  doch  wohl  in  seinem  Schlüsse 
weitero-ehend  eingestehen  müssen,  dass  hier  das  Beste  und  Edelste  im  Werk  dieser  Persönlichkeiten 
steckt,  was  die  Gegenwart  hervorbringt. 

Auch  Stuck  hat  reichlich  dieser  Gemüthsforderung  geopfert.  Dieser  geistreiche  Naturträumer 
und  dies  heiter  und  sorglos  dahinwandelnde  Wehkind,  das  gewiss  alles  Andere  eher  denn  ein  frommes 
und  bussfertiges  Gemüth  ist,  hat  in  einer  ganzen  Reihe  von  malerisch  bedeutsamen  Schöpfungen  die 
biblische  Welt  behandelt.  Der  symbolistische  Zug  seines  Wesens  und  seine  hier  allmählich  zu  den 
grossen  Gesichtspunkten  seiner  eigentlichen  Hauptwerke  aufsteigende  Malerkunst  geben  diesen  Werken 
freilich  den  Schwerpunkt  und  bedingen  auch  wohl  ihre  allgemeine  Schätzung,  —  tief-religiös  empfunden 
sind  sie  dagegen  nicht,  und  ich  mag  ihnen  bei  aller  Würdigung  von  Stuck’s  Bedeutung  kein 
übermässiges  Gewicht  beilegen.  Der  Schwerpunkt  liegt  für  mich  in  seinen  Allegorieen,  —  nicht  hier. 

Das  muss  vorausoreschickt  werden!  Dann  aber  ma?  man  trotz  des  auf  diesem  Gebiet  zu  Tag-e 
tretenden  Pathos  des  Künstlers  sich  sorglos  dieser  Werke  freuen  ;  denn  malerisch  anziehend  ist  schon 
der  frühste  «Hüter  des  Paradieses»  als  schlanke  und  gluthäugige  Jünglingsgestalt,  die  den  riesigen 
Zweihänder  feierlich  von  sich  hält  wie  bei  Galaeelesfenheiten  nur  ein  königlicher  Hartschier  seine 
Waffe,  dargestellt.  Hier  ist  auch  geschickte  Sonnenmalerei  mit  ihrer  Fülle  von  lebendigen  Tönen, 
das  frühreife  Formengefühl  wie  die  originelle  Auffassung  hervorzuheben.  —  Derselbe  brünette  und 
sehnige  Jünglingstypus,  der  sehr  olt  im  Stückwerk  wiederkehrt,  ist  auch  auf  der  ersten  Fassung  der 
«Vertreibung  aus  dem  Paradiese»  zu  finden.  Auf  flimmerndem  besonntem  Sandboden  steht  er  hier 
gerade  mit  parademässig  nach  hinten  zusammengeschlagenen  Flügeln  und  drückt  in  seiner  soldatischen 
Abgemessenheit  originell  und  treffend  den  widerspruchslosen  Befehl  einer  höheren  Macht  an  die  in 
dumpfer  Gebrochenheit  dahinschleichenden  Adam  und  Eva  aus;  qualvolle  Müdigkeit  drücken  bei  diesen 
in  künstlerischem  Gegensatz  alle  nach  unten  sinkenden  Linien  aus.  Ein  eigenthümliches  Gebilde  ist 
auch  «Das  verlorene  Paradies».  Eine  enge  und  düstere,  ins  Bild  hineingehende  Felsspalte,  in  der 
hinten  breitspurig  der  Engel  mit  dem  feurigen  Zweihänder  steht.  Was  er  dahinter  bewacht,  ist  nicht 
mehr  als  ein  schmaler  Streif  von  zauberhaftem  Perlmutter-Sonnenglanz,  —  aber  so  geschickt  ist  es 
gemalt,  dass  tausend  unbeschreibliche  Wunder  darin  zu  leben  scheinen.  Es  ist  ein  Malerkunststück, 
wie  sie  nicht  oft  gelingen. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT.  25 

Den  «Luzifer»  betrachten 
wir  hernach.  Die  « Vision  des 
h.  Hubertus»  —  der  Hirsch  mit 
dem  Flammenkreuz  im  Geweih 
—  ist  nur  eine  hochpoetische 
Waldträumerei  wie  die  Centauren¬ 
stücke.  Aber  die  «Kreuzigung» 
hat  ein  Künstler  von  hoher  Eigen¬ 
art  und  Kraft  gemalt.  Leben  und 
Tod  sind  die  herausspringenden 
Gegensätze.  Die  rechte  Seite 
des  Bildes  nimmt  der  hell  be¬ 
leuchtete,  eben  verscheidende 
Heiland  neben  dem  einen  der 
Schächer  ein.  Dieser  ist  dem 
qualvolleren  Tod  des  Hängens 
am  Kreuz  bloss  mittels  fester 
Stricke  überantwortet  und  alle 
seine  Muskeln  sind  krampfhaft 
verzerrt.  Die  linke  Bildseite  zeigt 
die  kühn  aufgefassten  Charaktergestalten  des  Johannes,  welcher  die  ohnmächtige  Maria  in  Gemeinschaft 
mit  der  Maria  Magdalena  hält,  —  des  Petrus  und  anderer  Jünger,  auf  denen  das  nächste  geistige  Fort¬ 
leben  der  Heilandlehre  beruht.  Aller  Blicke  sind  mit  fast  entsetzter  Spannung  auf  die  letzten  Züge  des 
sterbenden  Meisters  gerichtet,  während  der  Himmel  sich  eben  verfinstert  und  die  Sonne  von  schwarzen 
Schatten  überzogen  wird.  Das  ist  mit  ungemein  dramatischem  Leben,  mit  grossen  und  kraftvollen 
Farbengegensätzen  knapp  und  mächtig  herausgekommen.  Zwischen  den  Figuren  hindurch  erblickt  man 
dazu  in  der  Ebene  drunten  in  skizzenhaften  Umrissen  erregte  Köpfe  der  Menge,  —  der  menschlichen 
Herde  mit  den  niederen  Instinkten  des  Hasses  gegen  alles  Grosse  und  Gute.  Alle  Zeichen  einer 
ungewöhnlichen  Darstellung  trägt  das  hochinteressante  Bild,  dem  zu  einer  ernsthaften  Bedeutung  nur 
wenig  weitergeführte  Durchbildung  fehlt.  Es  ragt  aber  auch  so  sichtbar  aus  der  Menge  zeit¬ 
genössischen  Schaffens  hervor.  —  Ein  humoristischer  Zufall  hat  das  Bild  weiter  bekannt  gemacht,  als 
seine  Eigenart  es  sonst  gestattet  hätte.  Ein  reicher  Kunstfreund  wollte  es  vor  einigen  Jahren  in  eine 
der  älteren  Berliner  Kirchen  stiften,  was  aber  die  Geistlichkeit  derselben  durch  öffentlichen  Einspruch 
vereitelte.  Die  Hoffnung,  dass  in  die  trostlosen  Machwerke  der  Berliner  Kirchenmalerei,  in  der  immer 
noch  der  ruhelose  Geist  des  unseligen  einstigen  Akademiedirektors  Rhode  umgeht,  damit  ein  herzhaftes 
Werk  käme,  war  wieder  einmal  verfehlt,  aber  für  Stuck  hat  die  Sache  damals  doch  viel  Propaganda 
gemacht,  sintemal  zelotischer  Hass  der  Finsterlinge  ja  immer  ins  Gegentheil  umschlägt. 


26 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Die  innere  Folgerung-  aus  der  «Kreuzigung»  war  für  den  Künstler  eine  «Pieta»,  die  in  der 
stilistischen  Vollendung  sein  bestes  religiöses  Bild  ward.  Starr  liegt  der  Heiland  auf  einem  Marmor¬ 
sarkophag,  —  in  jener  naturalistischen  Behandlung,  welche  durch  Holbein’s  berühmtes  Werk  im 
Baseler  Museum  geschichtlich  geworden  ist.  Die  Figur  der  schmerzversunken  daneben  stehenden 
Madonna  überschneidet  den  Leichnam  rechtwinklig,  —  sie  drückt  die  prächtig  gemalten  und  gleich 
dem  Heiland  aus  unsichtbarer  Lichtquelle  von  links  oben  scharf  beleuchteten  Hände  gegen  das 
verhüllte  Haupt.  In  seinen  scharfen  Linien  und  dem  Festen  einer  etwas  harten  Malerei  verleugnet  das 
Bild  Grösse  und  Hoheit  nicht,  aber  es  hat  für  meinen  Geschmack  zu  viel  malerisch  gesuchte  Wirkung 
und  zu  wenig  menschliche  Wärme. 

Schliesslich  aber  lag  dem  antiken  Spätling  und  Maler  heiter-naiver  Sinnesfreuden  im  Kleid 
alter  Fabelwelt  der  «Sündenfall»  zu  nahe,  als  dass  er  ihn  nicht  gemalt  hätte;  es  ist  auch  ein 
merkwürdiges  Bild  daraus  geworden,  dem  man  äusserlich  eine  ursprünglich  wohl  vorhanden  gewesene 
kunstgewerbliche  Absicht  anzusehen  meint.  Der  Baum  in  der  Mitte,  den  die  mächtige  Schlange  mit 
ihrem  Schweif  umringelt,  —  der  dunkle  Wipfel  mit  dem  tiefen  Gezweig  geben  haarscharf  zwei  Bildseiten 
von  gleichem  Gewicht.  Die  schlanke  jugendliche  Menschenmutter  reicht  von  links  den  verhängnisvollen 
Apfel  mit  kokett-herausforderndem  Blick  hinüber,  wo  der  wunderschön  gebildete  Adam  zaghaft  nach 
dem  Geschenk  eben  greifen  will.  Was  der  Bildmaler  zu  diesem  ornamentalen  Entwurf  hinzuthat, 
war  die  in  schmeichlerischen  Farben  lockende  Sünde,  und  Hand  in  Hand  mit  ihr  zeichnete  der  moderne 
Psychologe  die  nervöse  Bangigkeit  des  Verlangens  hin,  von  dem  der  Heldenweisenton  der  Bücher 
Mosis  noch  nichts  weiss.  —  — 

*  * 

❖ 

Eine  « .  .  .  .  Schmälerung  und  Herabsetzung  einer  rein  gedanklichen  Richtung  wird  nie  von  den 
führenden,  sondern  stets  nur  von  den  untergeordneten  Geistern  ausgehen»,  sagt  der  Denker  Emerson. 
Ein  merkwürdiges  Wort  im  Munde  eines  Amerikaners,  das  dem  Bildungsgänge  dieses  Idealisten  nach 
aus  der  Betrachtung  deutscher  Geistesentwicklung  abgezogen  scheint.  Betrachten  wir  in  der  That 
nur  unsere  Kunstgeschichte,  so  finden  wir  schon  hier  volle  Bestätigung  dieses  Grundsatzes,  denn 
gedankenlose  Fingerfertigkeit  war  nie  freie  und  blühende  deutsche  Kunst,  sondern  stets  Verfall  in 
entnervten  Zeiten.  Das  muss  man  gerade  heute,  wo  eine  einst  verdienstlich  begonnene  naturalistische 
Handwerksmalerei  mit  der  Verfehmung  von  Geist,  Bildung  und  Herzleben  abgewirthschaftet  hat  und 
sich  noch  mit  letzter  Kraftanstrengung  behauptet,  unbeirrt  um  so  fester  im  Auge  haben,  als  eine 
mächtige  nationale  Geistrichtung  in  der  zeitgenössischen  Kunst  bereits  reich  entfaltet  ist  und 
begeisterter  Anerkennung  durch  die  grosse  Menge  der  Gebildeten  bedarf,  um  auch  mit  ihren  Werken 
weithin  wirken  zu  können.  Der  blinde  Idass  wirft  dieser  vaterländischen  Kunstweise  die  Richtung  auf 
die  ertödtende  Kartonmalerei  vor  und  beschwört  angstvoll  das  Nazarener-Gespenst  herauf,  die 
Urtheilslosen  damit  zu  schrecken?  Haben  wir  etwa  Grund,  uns  des  Namens  eines  Cornelius  zu 
schämen  r  Das  könnte  doch  nur  der  Wahnsinn  behaupten.  Aber  was  ist  uns  Hekuba,  —  was  soll 
das  Gespenst  einer  seit  fünfzig  Jahren  abgetretenen  Schule,  die  Geist  vom  Geist  ihrer  Zeit  war  und 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


27 


eben  dank  der  verkommenen  Ausländerei  ihrer  Vorgänger  nicht  malen  konnte,  weil  es  keine  Technik 
gab?  Seitdem  hat  der  Malerei-Realismus  und  der  in  dieser  Richtung  gewiss  werthvoll  gewesene 
Naturalismus  uns  mit  einer  Palette  von  der  üppigsten  Fülle  und  mit  sicherster  handwerklicher 
Fertigkeit  ausgerüstet,  und  Zeugniss  dafür,  dass  jeder  Verfall  an  die  blasse  Umrisskunst  des 
Jahrhundert-Anfangs  ausgeschlossen  scheint,  sind  die  in  den  wunderbarsten  Farben  glühenden  Werke 
eines  Böcklin,  eines  Klinger,  die  eminente  Malerei  eines  Stuck,  die  freilich  nicht  wie  ihre  naturalistischen 
Genossen  am  Mal-Handwerk  knechtisch  kleben  blieben,  sondern  es  nur  als  untergeordnetes  Mittel  zur 
Gestaltung  ihrer  neuen  grossen  Weltideen  benützten.  Was  soll  der  thörichte  Unkenruf  vom  Umgehen 
des  Kartongespenstes,  —  er  schreckt  die  Urtheilsfähigen  doch  nicht. 

Stuck  hat  in  seiner  Frühwerk-Technik  der  französischen  Eindrucks  Malerei  kurze  Zeit  hindurch 
gehuldigt,  aber  er  hat  nie  darin  geschwankt,  dass  Zeichnung  und  Malerei  nicht  mehr  als  blosse  Mittel 
für  die  Verleiblichung  seiner  Phantasiegebilde  sein  dürfen.  Er  hat  nicht  einmal,  wie  viele  hervorragende 
heutige  Mitstreiter  in  der  Phantasiekunst,  eine  richtige  naturalistische  Entwickelungszeit  durchringen 
brauchen,  weil  sein  Instinkt  ihn  sicher  auf  Erkenntniss  seines  Eigenwesens,  auf  die  Lebensfähigkeit 
desselben  wies.  Er  war  immer  ein  vornehmer  Künstlerpoet.  —  — 

—  —  In  dieser  Bewerthung  der  Kunst  aber  nach  ihrer  geistigen  Beschaffenheit  sind  aus  dem 
Stückwerk  des  letzten  Jahrzehnts  eine  kleine  Reihe  von  Werken  als  sein  Reifstes  und  Vollkommenes 
im  Sinne  ungewöhnlicher  Bedeutung  herauszunehmen  und  als  sein  Höhepunkt  an  das  Ende  unserer 
Betrachtung  zu  stellen.  Es  sind  seine  symbolisch-allegoristischen  Werke  von  monumentalem  Kaliber,  — 
jene  Schöpfungen  von  origineller  Denkart  und  eigenthümlicher  Gestaltungsweise,  welche  allgemeine 
Ideen  aus  der  Weltauffassung,  der  Geschichte,  verkörpern. 

Solche  künstlerischen  Begriffsausdrücke  zu  schaffen,  in  ihnen  die  Auffassung,  die  Bildung,  den 
Pulsschlag  einer  Zeit  niederzulegen,  ist  erst  die  rechte  Aufgabe  einer  hohen  Kunst,  die  erst  hier  die 
Spuren  des  Handwerks  vollständig  abstreift  und  ihre  letzte  Höhe  erklimmt.  Freilich  hat  die  ganze 
Allegoristerei  für  moderne  Ohren  einen  unangenehmen  Beiklang,  aber  das  liegt  an  uns  und  daran, 
dass  das  Barocko  mit  einer  unerträglichen  Unnatur  und  jahrhundertelanger  Ausschlachtung  der 
Vorbilder  ohne  eigene  Erfindung  die  Allegorie  widerwärtigster  Art  breitgetreten  hat.  Wir  werfen 
gern  die  Blüthezeiten  mit  den  Verfallperioden  aus  kritikloser  Bequemlichkeit  zusammen,  —  wir 
vergessen,  dass  die  Grossthaten  eines  Raphael,  Dürer,  noch  mehr  eines  Michelangelo,  ihre  Zeit  nicht 
nur,  sondern  auch  die  Menschheitsideen  in  einer  schöpferischen  Weise  allegorisirten,  während  die 
Zeiten  realistischer  Kunstblüthe  doch  nur  Perioden  zweiter  oder  dritter  Ordnung  gar  waren.  Wie  sich 
die  Denkarbeit,  die  Kultur  eines  Volks  im  Künstlerwerk  spiegelt,  wird  für  den,  dessen  Blick  sich  vom 
Tage  nicht  trüben  lässt,  immer  eine  Cardinalfrage  des  Urtheils  bleiben. 

Und  hier  liegt  der  Punkt,  von  dem  eine  ernsthafte  Würdigung  der  Stuck’schen  Kunst  möglich 
ist.  Der  verführerische  Naturträumer,  der  antike  Sinnenmensch,  der  originelle  Stilist,  der  virtuose, 
unendlich  bewegliche  Maler  ist  gewiss  eine  der  fesselndsten  Erscheinungen  der  Gegenwart,  —  umso 
mehr  als  ein  kunstgewerblicher  Genius  sich  dazugesellt.  Aber  den  grossen  Hintergrund  und  die 


4* 


28 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Zukunfts-Anweisung,  auf  Grund  deren  Stuck  neben  den  grössten  Zeiterscheinungen  zu  nennen  ist, 
kriegt  er  erst  durch  jene  Werke,  in  denen  der  spielende  und  blendende  Causeur  schöpferische 
Denkkraft  offenbart.  Ein  kleiner  Theil  der  religiösen  Darstellungen  lässt  dies  schon  erkennen. 
«Das  verlorene  Paradies»  ist  eine  originelle  Erfindung  dieser  Art,  die  eine  von  der  Ueberlieferung 
fast  ganz  freie  Malerphantasie  offenbart.  Das  Stärkste  und  eine  hochreife  Frucht  ist  aber  hier 
«Luzifer»,  —  die  Verkörperung  der  Hölle,  des  bösen  Prinzips,  des  Widerstands  gegen  das  welt¬ 
erhaltende  Gute.  Die  deutsche  Kunst  hat  dafür  in  humoristischem  Anfluge  bisher  die  Fratze 

des  intriguanten,  grausamen,  Verträge 
schliessenden,  gelegentlich  auch  hinein¬ 
gelegten  dummen  Teufels,  des  mit 
Aiterwissen  prunkenden  Mephistopheles 
ausgebildet.  Ob  Stuck  unmittelbar  sich 
an  Milton  gelehnt,  kann  ich  nicht  sagen; 
mir  schwebt  eine  Stelle  des  «  verlorenen 
Paradieses»  vor,  die  ich  nicht  ermitteln 
kann.  Jedenfalls  aber  kann  er  die  origi¬ 
nelle  Malerauffassung  vom  gefallenen 
Luzifer,  dem  schönen  und  starken 
Erzengel  mit  dem  verirrten  Kraft-  und 
Selbstgefühl,  für  sich  beanspruchen.  Da 
ist  ein  tiefes  Felsgemach,  in  dem  der 
schöne  Höllenfürst  finster  sinnend  auf 
einer  Felsplatte  zusammengekauert  sitzt. 
Das  vorgeschobene  Gesicht  ist  auf  die 
linke,  vom  Knie  gestützte  Hand  ge- 
legt,  —  die  rechte  Hand  zieht  den 
einen  Flügel  an  sich  und  die  phos- 
phorescirenden  Katzenaugen  schauen 
scharf  ins  Dunkel  hinein.  Grünlich  ist 
der  mächtige,  prachtvoll  in  den  Formen 
behandelte  Körper,  grünlich  die  Dämmerung  um  ihn.  Zwei  schmale,  lichtgrüne  Sonnenstrahlen  fallen  aus 
unendlicher  Höhe  herunter  und  prallen  funkelnd  von  der  Sitzplatte  wieder  zurück.  Es  ist  ein  ganz  wunder¬ 
voller  Kontrast  zweier  Welten  —  Licht  und  Finsterniss  oder  Himmel  und  Hölle  —  hier  vorhanden, 
nicht  minder  aber  eine  antikische  Schönheitsempfindung  wirksam,  für  welche  das  Böse  nur  ein  Denk¬ 
fehler,  ein  verirrtes  Gute  ist,  wie  dies  ja  in  der  sokratischen  Lehrbarkeit  der  Tugend  ausgesprochen  liegt. 

Dann  hat  Stuck  um  die  gleiche  Zeit  die  «wilde  Jagd»  in  einer  seiner  bemerklichsten  Malereien 
behandelt.  Nahezu  das  einzige  Mal,  dass  seine  so  tief  aus  dem  Geist  der  Heimath  wirkende  Weise 


Franz  Stuck.  Portraitstudie 


Franz  Stuci.  pliix.  Phot.  F.  HnufStoougl,  München 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


29 


Franz  Stuck.  Die  wilde  Jagd 

auch  einen  Stoff  aus  dem  germanischen  Mythos  wählte.  In  nebliger  Schattenhaftigkeit  jagt  da  der 
heulende  Tross  durch  die  Luft  heran,  — -  nackte,  verzerrte,  gehetzte  wilde  Gestalten  auf  Thiergerippen. 
Der  wilde  Jäger  mit  der  Hetzpeitsche  voran  auf  dem  Gerippe  eines  Büffels,  wie  es  scheint.  Alle  zum 
letzten  Rasen  angetrieben  durch  die  fahl  auftauchende  Tageshelle  rechts  im  Bild.  Das  Ganze  ist  eine 
in  Malerei  umgesetzte  Morgengrauen-Phantasie,  auf  welche  die  klagenden  Stimmen  der  sturmgepeitschten 
Natur  ihren  umheimlichen  Eindruck  ausgeübt. 

Malerisch  gehört  in  der  schwärzlichen  Tongebung  bereits  der  neuen  Art  Stucks  das  erste 
« Furien »-  Bild  an.  Die  schrecklichen  drei  Weiber  mit  den  Schlangenhaaren  erwarten  hier  den 
angstvoll  in  die  regennasse  Felsschlucht  hineinstürzenden  Mörder  schlangentückisch  hinter  einem 
Vorsprung.  Die  Idee  ist  hier  freilich  nicht  neu,  sondern  lehnt  sich  an  Böcklin’s  bekanntes  Bild 
der  Schackgallerie ,  aber  die  Auffassung  ist  doch  wesentlich  gewandelt,  malerisch  eine  starke 
Eigenart  vorhanden  und  die  Wirkung  dramatischer  als  die  vom  unheimlich  -  schwülen  Gedicht  des 
Schweizer  Meisters. 


30 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Auch  einen  «Medusenkopf»  giebt  es  von  ihm,  den  die  Schlangen  des  Haupthaars  in  ornamen¬ 
taler  Verschlino-uno-  mit  ruhigfen  Kurven  ohne  die  Wildheit  des  antiken  Vorbilds  umgeben.  Ein  schmal 
zulaufendes  blasses  Gesicht  mit  offenem  schlaffem  Mund  und  breitgeschwungenen  Nasenflügeln.  Un¬ 
heimlich  die  starren  glasigen  Augen,  die  ins  Leere  starren.  Ein  eisiges  Grauen  schwebt  um  dies 
eigenartige  Bild;  es  ist  geradezu  erstaunlich,  wie  sicher  diesem  so  frohsinnigen  Liebeslyriker  der  ge¬ 
spenstische  Schauer  gelingt. 

Dann  aber  kommen  wir  zu  der  vielgenannten  «Sünde»,  welche  in  der  glänzend-tiefen,  flächigen 
Earbengebung  des  Pallaskopfs  gemalt  ist.  Stuck  hat  den  Vorwurf  —  irre  ich  nicht:  schon  vorher  — 
in  einer  Radirung  als  üppig  -  verbuhltes,  von  einer  Riesenschlange  umstricktes  Weib  aufgefasst,  das 
ersichtlich  der  Venus  vulgivaga  nahesteht.  In  dem  Gemälde  steht  in  hermenartiger  Darstellung  gerade 
an  der  Wand  der  von  einer  Riesenschlange  kranzweis  umgebene  Oberkörper  eines  schlanken  jungen 
Weibes  mit  lang  herabfliessendem  schwarzem  Haar.  Das  feine  schöne  Gesicht  mit  den  edlen  Formen 
und  dem  forschenden  Blick  hat  nichts  Gemeines  oder  Grobsinnliches,  nichts  Herausforderndes,  —  eher 
vielmehr  im  Kontrast  zu  dem  zischend  über  die  Schulter  schauenden  Schlangenkopf  die  metaphysische 
Sinnlichkeit,  die  hervorbringend  und  vernichtend  der  Trieb  alles  Seienden  ist.  Der  Vorwurf  ist  hier 
viel  weiter  und  abgeklärter  gefasst  als  in  der  Radirung  und  das  Weib  nicht  lediglich  als  Verkörperung 
der  menschlichen  Sinnlichkeit.  Auch  hier  ist  eine  originale  Symbolik  Stucks  festzulegen,  für  die  mir 
kein  unmittelbares  Vorbild  in  der  Kunstgeschichte  bekannt  ist. 

Das  Verhältnis  der  Oeffentlichkeit  zum  Wachsen  eines  Künstlers  ist  launischer,  oft  gewalt 
thätiger  Natur.  Hat  ein  Maler  mit  einem  Werk  oder  einer  Richtung  Erfolg  gehabt,  dann  verlangt 
der  Areopag  der  öffentlichen  Meinung,  dass  Jener  in  gleicher  Richtung  fortfahre;  sie  wird  misstrauisch, 
sobald  der  Künstler  neue  Wege  sucht,  und  manche  frische  Kraft  scheiterte  schon  oder  versandete 
an  diesem  stillen  Widerstand.  Kümmert  sich  einer  nicht  darum,  so  widersteht  ihm  die  Oeffentlichkeit 
auf  die  Dauer  nicht,  aber  sie  erkennt  mit  jedem  neuen  und  neuartigen  Werk  nicht  dieses,  sondern 
stets  erst  das  Vorhergehende  an.  Alle  Welt  ist  dann  einig  unter  wohlwollendem  oder  verächtlichem 
Achselzucken,  dass  das  frühere  Werk  besser  war.  Das  ist  eine  oft  zu  beobachtende  Erscheinung, 
die  in  Deutschland  u.  A.  Böcklin  io  Jahre  lang  ausprobirt  hat,  die  Menzel,  Thoma  und  Klinger  sattsam 
erfuhren.  Was  die  weisesten  Leute  sind,  —  die  finden  dann  mitunter,  dass  das  Höchste  eines  genialen 
Künstlers  in  den  Vorschulzeichenheften  seiner  Jugend  begraben  liegt.  Reife  Schöpfungen  begegnen 
fast  immer  sehr  grosser  Sprödigkeit  und  wachsen  nur  allmählich  in  das  Publikum  hinein,  um  dann 
treilich  festzusitzen,  während  die  erfolgreichen  «Schlager»  selten  lange  Vorhalten.  —  Stuck’s  am 
grössesten  gedachte  und  empfundene  Schöpfung  und  seine  reifste  Malerei,  nämlich  seine  Allegorie  auf 
den  «Krieg»,  hat  diese  Erfahrung  gemacht.  Was  für  abfällige  Urtheile  sind  bei  Erscheinen  über 
dies  Bild  gefällt!  Was  ist  Alles  daran  bemängelt  worden!  Als  ich  das  Werk  später  in  der  neuen 
Pinakothek  zuerst  sah,  war  ich  nach  allen  jenen  Aeusserungen  auf’s  Tiefste  überrascht  und  gepackt  von 
seiner  einfachen  Grösse.  Das  Werk  allein  müsste  ihm  eine  der  Hauptführerschaften  in  der  zeitgenössischen 
Kunst  und  die  Unvergesslichkeit  sichern,  hätte  er  auch  sonst  nichts  gemacht.  Stuck’s  Hervorbringung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


31 


ist  ja  allerdings  eine  stossweise,  auf  allen  Gebieten  Ansetzende;  er  geht  hier  und  da  unter  künstlicher 
Hitze  prächtig  auf  und  sinkt  dann  wieder  in  seine  reizvoll-anmuthige  «Alltäglichkeit»  zurück,  wenn 
man  von  einer  sehr  poetischen  Kunst  so  sagen  darf,  —  seine  grossen  Würfe  haben  keinen  ganz  klaren 
logischen  Zusammenhang  untereinander  und  Zufall  wie  glänzendes  Virtuosenthum  im  Handwerk  scheinen 
vielfach  an  ihnen  starken  Antheil  zu  haben.  Wer  aber  so  kraftvolle  und  originelle  Denkkraft  besitzt, 
wie  es  ausser  den  schon  genannten  Allegorieen  dieser  «Krieg»  in  erster  Linie  verräth,  —  so  monu¬ 
mental  zu  schaffen  vermag  und  erst  34  Jahre  alt  ist,  von  dem  darf  noch  viel  erwartet  werden. 
Wie  einfach  ist  dieser  Vorwurf  behandelt  und  mit  welcher  gehorsamen  Vollendung  durchgeführt! 
Der  bei  den  Landschaften  schon  erwähnte  «Reiter»  ist  anscheinend  der  erste  Keim  der  Eingebung. 
Ein  weites  düsteres  Feld  mit  drohenden  Wetterwolken  und  Spuren  fahlen  Horizontlichts.  Nackte 
Männerleichen  mit  verzerrten  Gesichtern  und  erstarrten  letzten  Bewegungen  bedecken  dicht  die  Wahl¬ 
statt,  über  die  langsam  auf  schwarzem,  abgehetzt  schreitendem  Ross  der  finster  blickende  Genius  des 
Kriegs  reitet;  den  blutigen  Zweihänder  auf  der  Schulter  hält  die  Rechte,  —  die  Linke  ist  kalt  in  die 
Hüfte  gestemmt.  Es  ist  der  bekannte  Jünglingstypus  Stucks,  aber  wohl  kaum  Zufall,  dass  in  die 
finsteren  Züge  eine  Maskenähnlichkeit  mit  dem  neueren  Attila,  dem  grossen  Napoleon,  hineingekommen 
ist.  Die  breite  Wucht  des  Aufbaues  ist  durch  eine  ganz  ausgezeichnete  Formen-  und  Fleisch¬ 
behandlung  gesteigert  und  in  keinem  Bild  ist  die  neuere  Schwarzmalerei  Stuck’s  so  aus  der  düster 
lastenden  Stimmung  von  Ort  und  Vorgang  gerechtfertigt  als  hier.  —  —  Der  wie  ein  bunter  Falter 
verführerisch  dahintändelnde  Jugendfrohsinn  des  Künstlers  ist  in  diesem  Gipfelpunkt  seines  Gesammt- 
werks  zu  tiefem  Ernst  gereift,  —  —  betrachtet  man  die  neueren  Werke  daraufhin,  so  will  es  scheinen, 
als  habe  dies  ernstere  Weltverhältniss  und  mächtigere  Leidenschaft  Besitz  von  der  Künstlerseele 

genommen  und  leite  eine  neue  Bahn  seines  Schaffens  ein.  —  — 

*  # 

Unvollkommen  aber  wäre  schliesslich  das  Bild  von  diesem  reichbegabten  und  vielseitigen, 
in  ständiger  Entwickelung  begriffenen  Künstler,  wollte  man  nicht  jene  Werke  anführen,  die  nebenbei 
in  anderen  Techniken  als  Versuche  und  Liebhabereien  enstanden  sind.  Während  er  leicht  und  graziös 
schon  durch  die  reizende  Fabelwelt  der  Frühbilder  schreitet,  wird  noch  einmal  die  Lust  an  seiner 
zeichnerischen  Vergangenheit  lebendig.  Er  greift  zur  Radirnadel,  deren  Technik  so  gut  zu  seiner  Art 
passt.  Das  schon  erwähnte  Bildniss  seiner  Mutter,  —  die  erste  Fassung  der  Sünde,  —  ein  reizendes 
Blatt  mit  der  aus  seiner  Gerlach’schen  Allegorieensammlung  bekannten  Wassernymphe  mit  der  Harfe, 
einem  beigezeichneten  Selbstbildnis  und  anderen  leichten  Aufrissen  entstehen  ihm  rasch  unter  den 
Händen  und  dann  lässt  er  die  Technik  liegen.  Der  Umrisszeichner  vom  Anfang  verliert  sich  bald 
auch  in  den  Werken;  namentlich  in  den  sehr  sorgfältigen  realistischen  Studien  für  die  grossen  Bilder 
sieht  man  jetzt,  wie  immer  sicherer  sich  ein  starker  Sinn  für  die  plastische  menschliche  Form  entfaltet. 
Ein  paar  antike  Vorwürfe,  wie  der  «Sieger»  z.  B.,  scheinen  sogar  ursprünglich  nichts  als  Formen¬ 
übungen  gewesen  zu  sein.  Seine  richtige  Ausklärung  findet  dieser  Formensinn  dann  in  den  neueren 
religiösen  und  allegorischen  Werken,  denn  da  ist  die  meisterhaft  beherrschte  Form  nur  noch  Theil 


32 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


der  grossen  Gesammtwirkung.  Aber  die  Liebe  und  Lust  an  der  runden  Behandlung  der  menschlichen 
Gestalt  hat  Stuck  inzwischen  ein  neues  Gebiet  daneben  erobern  lassen :  die  Kleinplastik.  Ein  paar 
kleinere  Arbeiten  hierin  sind  äusserst  geschickte  Versuche,  —  ein  Aufsehen  erregender  Erfolg  vor 
einigen  Jahren  die  von  fast  allen  grossen  Museen  seitdem  erworbene  kleine  Bronzefigur  eines 
«Athleten».  Er  hebt  eine  schwere  Eisenkugel  langsam  nach  oben  und  er  steht  nicht  nur  ganz 
wundervoll  in  der  Anspannung  aller  Kräfte  breitbeinig  da,  sondern  auch  mit  unendlicher  Liebe  ist  das 
Arbeiten  jedes  Muskelstrangs  und  die  davon  bewirkte  Veränderung  der  Körperfläche  studirt.  Eine 
eiserne  Spannkraft  ist  meisterhaft  in  dieser  Figur  entwickelt,  die  bei  der  ersten  Ausstellung  alle  Künstler 
hinriss.  Stuck  hat  seitdem  noch  ein  sehr  anmuthiges  Relief  zweier  «Serpentintänzerinnen»  geschaffen. 
Aber  man  traut  ihm  seitdem  auch  hier  das  Ungewöhnlichste  zu.  Denn  auch  hier  spricht  die  anscheinende 
Mühelosigkeit  beim  Schaffen  von  einer  glücklichen  Art  und  angeborener  Meisterschaft,  der  jedes  ernst¬ 
haft  Gewollte  gelingt  und  selten  etwas  vorbeischlägt.  Er  geht  ja  glücklich  wie  ein  junger  Dionysos 
durch  seine  Wege,  auf  denen  ihm,  während  er  sich  träumerisch  '  darum  gar  nicht  zu  kümmern  scheint, 
mächtige  Erfolge  und  für  seine  Jahre  ganz  ungewöhnliche  Auszeichnungen  zufielen.  —  — 


Franz  Stuck.  Tänzerinnen 


I 


EDUARD  GRÜTZNER 

VON 

HEINRICH  ROTTENBURG 


Wir  leben  in  einer  Zeit  des  Streber¬ 
thums  und  Cliquenwesens,  in  einer 
Zeit  des  Ruhmes  auf  Aktien,  des  falschen 
Erfolges,  der  künstlich  aufgepäppelten  Be¬ 
rühmtheiten.  die  man  vergisst,  nachdem 
man  kaum  ihre  Namen  gehört.  Auch  viele 
der  Grössten  verschmähen  es  nicht,  auf’s 
Tamtam  zu  schlagen  und  in  die  Lärm¬ 
posaunen  zu  stossen,  in  der  ganzen  Kunst¬ 
welt,  ob  sie  nun  malt,  schreibt  oder  musicirt, 
herrscht  ein  Lärmen  und  Hasten,  dass  einer 
sein  eigenes  Herz  nicht  mehr  klopfen  fühlt, 
sein  eigenes  Wort  nicht  mehr  versteht.  Wer 
noch  erspriesslich  und  glücklich  schaffen  will, 
muss  abseits  gehen  und  abseits  bleiben  auf 
seinen  eigenen  Wegen.  Denn  hier,  und 
nur  hier,  erwächst  der  dauernde  Erfolg. 
Er  ist  eine  von  den  Blüthen,  die  im  Staube 
und  der  Unruhe  der  Landstrassen  nicht  ge¬ 
deihen;  lieber  drüben  in  der  Stille,  wo  der 
Wald  rauscht  und  eine  freundliche  Kühle 

Ed.  Grützner.  Die  hl.  Nothburga 

sorgt,  dass  nichts  vor  der  Zeit  verdorre. 
Der  Erfolg !  Feine  empfindende  und  verstehende  Naturen  haben  nach  und  nach  eine  Scheu 
vor  ihm  bekommen,  eben  wegen  jenes  Hastens  und  Lärmens,  womit  er  gemeiniglich  in  Scene  gesetzt 
wird.  Und  doch  ist  in  Wahrheit  der  Erfolg,  der  wahre  Erfolg,  welcher  ein  flüchtiges  Eintagsfliegen¬ 
leben  überdauert,  ein  sicherer  Massstab  für  einen  künstlerischen  Werth.  Einmal,  weil  ein  solcher 
Erfolg  nicht  künstlich  geschaffen  werden  kann,  weil  nichts  schneller  vergeht,  als  das,  was  durch  die 
Reclame  belebt  wurde,  dann,  weil  er  nur  dem  durch  lange  Zeiten  treu  bleibt,  der  sich  selber  getreu 
ist ;  weil  nur  die  echte  Kunst,  die  vom  Herzen  kommt,  auch  zum  Herzen  geht  und  schliesslich  — 

i  5 


34 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


so  banal  das  klingen  mag  —  weil  in  der  letzten  Instanz  doch  immer  das  Publikum  Recht  behält. 
Das  will  natürlich  sagen,  das  Publikum  im  guten  Sinne,  die  Zahl  derer,  die  wirklich  innere  Beziehungen 
zur  Kunst  haben  und  die  eben  die  Werthung  eines  Künstlers  durch  sein  Volk  bestimmen.  Die  grosse 
Menge  der  Gebildeten  geht  mit  ihnen,  lernt  durch  sie  verstehen.  Freilich  fragt  sich’s  «wann?». 
Es  kann  lange  dauern,  es  kann  mit  einem  Schlage  kommen,  wie  wenn  ein  Blitz  die  Nacht  durchhellt: 
einmal  spricht  dies  vielverlästerte  Publikum,  das  dem  Neuen  oft  so  blöde  gegenübersteht,  das  manch¬ 
mal  wirklich  schwer  von  Begriffen  ist,  doch  ein  Urtheil  aus,  das  bestehen  bleibt.  Denn  der  Künstler 
schafft  für  das  Volk,  nicht,  wie  so  viele  uns  glauben  machen  möchten,  für  sich  und  die  Kunst  als 
Selbstzweck.  Das  «Malen  für  die  Maler»  ist  nichts,  was  Bestand  haben  kann;  es  ist  für  Viele  nur 
ein  unfruchtbares  Modeschlagwort  gewesen,  ein  Vorwand  für  tausend  Halbheiten,  eine  Pose  für  Nichts¬ 
könner;  für  die  aber,  die  es  ernsthaft  treiben,  ist  es  ein  Martyrium  von  Noth  und  Verkanntsein,  von 
Unbefriedigung  und  Selbstvergeudung.  Die  Kraft  eines  Künstlers,  die  nicht  im  Volke  wurzelt,  nicht 
im  fruchtbaren  Leben,  in  nationaler  Eigenart  und  so  vielen  anderen  Dingen,  die  alle  zusammen  auch 
die  Gewähr  geben  für  einen  gesunden  Erfolg,  ist  leicht  verbraucht.  Die  Kunstgeschichte  hat  keinen 
wirklich  Grossen  übergangen,  kein  Genie  hat  ganz  im  Verborgenen  geblüht.  Manchem  Gewaltigen 
ist  der  Lorbeer  erst  auf  seinem  Grabe  gewachsen,  aber  gewachsen  ist  er  immer.  Das  Urtheil  eines 
einzelnen  Idioten,  das  Urtheil  einer  ganzen  Klasse  meinetwegen,  kann  man  verachten  und  muss  es 
verachten,  wo  es  irrt;  das  ausgereifte  Urtheil  einer  ganzen  Zeitepoche  aber  hat  Recht  und  bleibt 
gültig,  wenn  sich’s  auch  im  Laufe  der  Zeiten  noch  immer  mehr  klären  mag.  Und  diejenigen,  welche 
das  Urtheil  ihrer  Zeitgenossen  so  recht  gründlich  gering  schätzen  und  sich  darüber  erhaben  dünken, 
haben  gewöhnlich  das  Gesicht  des  Füchsleins,  das  die  Trauben  nicht  mochte. 

Ephemere  Berühmtheit  beweist  freilich  nicht  Alles.  Wie  viele  Wunderkinder  der  Muse  haben 
wir  in  München  auftauchen  sehen  seit  drei  Decennien!  Wie  hatten  sie  geglänzt,  wie  hat  man  ihnen 
gehuldigt  —  und  was  ist  aus  ihnen  zum  grossen  Theil  geworden  ?  Leute,  die  einer  ganzen  Schule 
ihren  Stempel  aufgeprägt  haben,  sind  selbst  dem  Namen  nach  vergessen.  Andere  sind  um  ihr 
Bestes  gekommen,  nicht  durch’s  Ringen  nach  Erfolg,  aber  durch  das  Buhlen  um  die  Gunst  des  Pöbels, 
dessen  thörichtesten  Instinkten  sie  schmeichelten,  entnervt  vom  Kampf  ums  Dasein,  müde,  abhängig 
vom  Kunsthandel,  demoralisirt  durch  falschen  Ehrgeiz,  der  sich  vor  denen  beugt,  die  Kreuzlein  und 
Ehren  zu  vergeben  haben  ;  von  den  meisten  der  einst  so  glänzenden  Sterne  spricht  man  nicht  mehr, 
man  sieht  ihre  Bilder  gar  nicht,  oder  nur  gelangweilt  an,  als  eisernen  Bestand  der  Kunstvereinswochen¬ 
ausstellungen,  man  kennt  ihren  Namen  vielleicht  nur  noch,  weil  sie  sich  an  jedem  geräuschvollen 
Protest  gegen  irgendwelchen  Fortschritt  in  der  Kunst  unfehlbar  betheiligen. 

Gar  Wenige  nur  haben  still  und  stetig  ihren  Ruf  und  ihre  Eigenart  gewahrt,  sind  gross 
geworden  und  gross  geblieben,  weil  sie  abseits  des  Lärms,  der  jetzt  allüberall  um  die  Thore  der 
Musentempel  gellt,  ihren  Weg  gingen.  Von  denen,  die  vor  dreissig  Jahren  bejubelt  wurden,  besteht 
nicht  mehr  ein  Dutzend  Namen  in  alten  Ehren. 

Eduard  Grützner  gehört  zu  den  Auserwählten,  die  sich  zum  mindesten  in  allem  Guten 
gleichgeblieben  sind,  seit  ihr  Ruhm  bestand:  im  ideellen  und  materiellen  Erfolg,  in  ihrer  Beliebtheit 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


35 


bei  den  Kunstliebenden,  in  ihrer 
selbstherrlichen  Eigenart  als 
Künstler.  Ein  guter  Theil  von 
den  erstgenannten  Dingen  liegt 
im  Letzten  begründet:  in  der 
Beharrlichkeit,  unbeirrt  und  fest 
die  Wege  zu  schreiten,  die  der 
Künstler  einmal  als  die  Seinigen 
und  als  die  Richtigen  erkannt 
hat.  So  hat  es  Grützner  immer 
verschmäht,  etwa  zwischen  die 
fröhlichen  Gestalten,  die  seine 
Welt  bevölkern,  hinein  grosse 
Ausstellungsmaschinen  zu  malen, 
einer  Mode  zu  Liebe  den  Himmel 
roth  und  die  Bäume  blau  zu 
sehen,  auf  «ismen»  und  «ionen» 
zu  schwören, Kunstpolitik,  Kunst¬ 
diplomatie,  Kunstschranzenthum 
oder  sonst  irgend  etwas  Anderes 
zu  treiben,  als  die  Kunst  selbst. 
Und  doch  kennt  und  würdigt 


man  ihn  überall  «oben»  und  Copyright  1897  by  Franz  Hanfstaengl 

Ed.  Grützner.  Shylock 

«unten».  Er  hat  auf  das  Be¬ 
streben  so  vieler  Anderer,  sich  bei  Hofe  zu  den  höchsten  künstlerischen  Würden  hinaufzuantichambriren 
oder  sich  durchzudiniren  durch  alle  strebsamen  Mitbewerber  bis  zu  den  funkelndsten  Kreuzlein  —  er 
hat  auf  alle  diese  Jämmerlichkeiten  immer  mit  dem  stillen  überlegenen  Lächeln  herabgesehen,  das 
ihm  so  wohl  ansteht.  Und  er  ist  doch  geworden,  was  er  ist.  Die  Grossen  sind  zu  ihm  gekommen, 
als  er  nicht  zu  ihnen  kam  und  antichambrirt  wird  auch,  aber  nun  antichambriren  die  Leute,  die  seine 
Bilder  haben  wollen,  bei  ihm. 

Woher  das  kommen  mag?  Die  Genremalerei  ist  doch  eigentlich  aus  der  Mode?  O  ja!  Und 
mit  Recht  sogar.  Es  gab  bis  zum  Ende  der  8oer  Jahre  in  der  deutschen  Kunst  ja  fast  nichts  mehr 
als  Anekdotenbilder  und  grosse  Ausstellungstableaux  und  dabei  war  einem  grossen  Theil  unserer 
Künstler  ein  nicht  unwesentlicher  Theil  der  Malerei  abhanden  gekommen  —  das  Malen.  Die  Anekdote, 
der  Theil  des  Ganzen,  an  dem  der  schlimmste  Schaupöbel  seine  Freude  hatte,  war  alles.  Grimassen 
und  Mätzchen,  Kunststückchen  und  fade  Süsslichkeit,  humorlose  Humoristik  und  romanhafte  Situations¬ 
dramatik,  das  Alles  nahm  man  für  Kunst.  Und  wenn  die  Kunstverständigen  gegen  dies  den  Feldzug 
eröffneten,  so  hatten  sie  Recht,  so  thaten  sie  was  Gutes. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Aber  es  gibt  eine  Genremalerei,  auf  die  wir  Deutschen  nur  stolz  sein  dürfen,  weil  sie  anderen 
Nationen  so  ziemlich  fehlt,  eine  Genremalerei,  die  eben  nur  die  Nation  des  Humors  und  Gemüthes 
haben  kann,  zweier  Eigenschaften,  für  welche  die  romanischen  Völker  nicht  einmal  einen  Namen  haben. 
Und  das  ist  die  Domäne  Eduard  Grützner’s,  es  ist  auch  die  Domäne  von  Franz  von  Defregger, 
Vautier,  Knaus  und  recht  wenigen  Anderen.  Die  sind  echt. 

Es  ist  aber  höchst  lehrreich  zu  sehen,  wie  diese  «veraltete»  künstlerische  Weise  ruhig  ihren 
Weg  weiter  machte  und  gesund  blieb,  während  über-  die  Kunst  im  Allgemeinen  im  letzten  Jahrzehnt 
so  gewaltige  Revolutionen  hingingen  und  für  jene  sogar  sehr  nöthig  waren,  während  die  eingedorrte 
Technik  einen  wahren  Sprühregen  von  neuen  Schlagworten  und  Gesichtspunkten  sich  gefallen  lassen 
musste.  Wer  solche  Stürme  unbeschadet  aushält,  der  hat  Recht.  Und  wie  sehr  er  Recht  hat,  das 
beweist  das  künstlerische  Schicksal  derer,  welche  verspätet  mitthun  wollten  mit  den  Jungen,  die  ja 
auch  Recht  hatten.  Wir  haben  jämmerliche  Geberden  gesehen  von  älteren  Künstlern,  die  darauf 
ausgehen  wollten,  geschwinde  noch  das  Pleinair  zu  lernen  und  das  Violettsehen.  Wer  nun  als  Kunst- 

o  o 

freund  daneben  stand,  der  hat  ihn  ja  auch  mitgemacht,  den  ewigen  Wechsel  von  Enthusiasmus  und 
Enttäuschung,  von  Glauben  und  Zweifel. 

Eduard  Grützner  ist  eine  Säule  der  deutschen  Genremalerei  und  von  allen  Meistern  dieser  Zunft 
vielleicht  der,  dessen  Ruhm  die  weiteste  Verbreitung  gefunden  hat.  Wo  eine  Büchse  knallt,  wo 
echte  Weinkenner  sich  an  der  Rebe  edlem  Blut  erlreuen,  im  traulichen  Forsthaus,  in  hunderttausenden 
von  Bacchustempeln  des  Südens  und  des  Nordens  und  in  ungezählten  Privathäusern  finden  wir  Re¬ 
produktionen  seiner  Bilder  —  aber  auch  wo  Sinn  herrscht  für  deutsche  Kunst,  in  ungezählten  privaten 
und  öffentlichen  Sammlungen  finden  wir  seine  Bilder  selbst.  Nur  die  Berliner  Nationalgalerie,  die 
durch  das,  was  sie  verpasst  hat,  oft  fast  interessanter  ist,  als  durch  das  was  sie  besitzt,  nennt  keinen 
«Grützner»  ihr  eigen.  Seine  prächtige  «Versuchung»,  ein  Bild,  in  dem  er  sich  auf  die  höchste  Höhe 
seiner  Kunst  erhob  und  weit  über  das  hinaufstieg,  was  sonst  «Genre»  heisst,  war  ihr  angeboten  und 
sie  wies  das  Werk,  wohl  aus  «religiösen  Bedenken»  ab.  Desgleichen  seine  «Branntweinschenke»,  in 
welcher  er  den  Teufel  Alkohol  in  ähnlich  gewaltiger  Sprache  an  die  Wand  malt  wie  Zola  im  «L’Asso- 
moir».  Das  war  wohl  wieder  nicht  hoffähig  genug  und  die  betreffende  Commission,  die  ja  Böcklin’s 
«Kreuzabnahme»,  vielleicht  das  tiefste  religiöse  Bild  unserer  Zeit,  ebenfalls  ablehnte,  refüsirte  auch  dies. 

Als  Künstler  ist  Grützner  ein  Münchener.  Hier  hat  er  gelernt  und  hier  ist  er  der  Eduard 
Grützner  geworden,  von  dem  hier  die  Rede  ist.  Geboren  aber  ist  er  am  26.  Mai  1846  zu  Gross- 
karlowitz  in  Schlesien  (Regierungsbezirk  Oppeln)  Er  hat  die  Kunst  nicht  von  seinen  Vätern  geerbt. 
Als  siebentes  Kind  eines  nicht  allzu  wohlhabenden  Vaters  hat  er  wohl  überhaupt  nicht  viel  ererbt,  als 
seine  gesunde  Art  und  seine  stetige  Arbeitskraft.  Wie  bei  allen  Kindern  armer  Landleute  hiess  es 
auch  bei  ihm,  sich  früh  nützlich  machen  —  Vieh  hüten  und  bei  der  Feldarbeit  helfen.  Der  Mann,  der 
sich  heute  in  seinen  Mannesjahren  eines  der  wärmsten  und  behaglichsten  Nester  der  Welt  geschaffen 
hat,  ein  Künstlerheim,  in  dem  Schönheit  und  Gemüthlichkeit  ein  bewundernswerthes  Ganze  bilden, 
hat  in  seinen  Kinderjahren  das  schwer  hinwandelnde  Hornvieh  gehütet  und  dazumal  wenig  von  der 
idyllischen  Poesie  seiner  Hantirung  verstehen  wollen.  Jetzt  freilich  schaut  der  Mann,  der  den  Hafen 


Kd.  Grützner  piux. 


Copyright  1894  by  Franz  Hanlstaengl 


Nach  schwerer  Sitzung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


37 


Ed.  Grützner.  Requiescat  in  pace 


erreicht  hat,  auch  auf  diese  Episode  seines  Lebens  mit  behaglichem  Schmunzeln  zurück  und  möchte 
sie  kaum  herp-eben  aus  der  Summe  seiner  Erinnerunp-en. 


In  der  Einleitung  zu  dem  im  Verlage  dieser 

ist  launig  von  seiner  Hirtenjungenzeit  erzählt : 

Frühe  Arbeit  —  Bauernarbeit !  — 

Flinter  Pflug  und  Egge  laufen, 

Jäten,  mähen,  krumm  sich  bücken 
Und  das  Viehzeug  auf  der  Weide 
Treiben  und  im  Zaume  halten  — 

Meist  war  das  ein  unerfreulich, 

Grämliches  Geschäft  gewesen 

Und  durchaus  nicht  gleich  der  Schild’rung 

Schwärmender  Idyllendichter. 

Damals  musste  unser  Eduard 
Barfuss  über  Stoppelfelder 
Renitentes  Rindvieh  jagen, 


Zeitschrift  erschienenen  Album  «  Meister  Grützner  »  *) 

Das  nun  einmal  —  Menschen  treiben’ s 
Nicht  viel  besser  —  sich  in  fremden 
Aeckern  stets  am  Meisten  wohlfühlt. 

Ganz  besonders  war  da  eine 
Kuh  mit  scheckigt  heit’ rer  Färbung, 

Die  das  Grasen  auf  verbot’nen 
Rüben-  und  Kartoffeläckern 
Zum  Prinzip  erhoben  hatte ; 

Manches  guten  Peitschenhiebs  und 
Manches  wohlgezielten  Steinwurfs 
Brauchte  es,  das  Vieh  zu  meistern ! 


•)  «Meister  Grützner»,  25  Kupferätzungen  nach  seinen  Werken;  mit  begleitenden  Versen  von  Ostini.  München,  Franz  Hanfstaengl. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Endlich  fand  sich  Einer,  der  in  dem  aufgeweckten  Knaben  ein  besseres  Talent  erkannte,  als 
das,  widerspenstige  Kühe  von  dem  Betreten  unerlaubter  Weidegründe  abzuhalten.  Und  dieser  Mann 
wurde  überhaupt  zum  Mäcen  und  Retter  des  Knaben. 

Es  war  der  Ortspfarrer  Fischer,  der  viel  in  dem  Hause  von  des  kleinen  Eduards  Vaters  aus 
und  ein  ging,  weil  dieser  die  Stelle  eines  Kirchenvorstehers  bekleidete.  Der  Pfarrer,  wie  gesagt,  sah 
bald,  dass  der  Knabe  aus  besserem  Holze  sei,  als  aus  dem,  aus  welchem  man  Hüterbuben  schnitzt 
und  erzoe  ihn  für’s  Erste  einmal  zum  Ministranten. 

Von  jener  Zeit  an  wohl  datirt  auch  Grützner’s  künstlerische  Vorliebe  für  die  hohe  Clerisei, 
d.  h.  seine  Erkenntniss,  dass  diese  einen  gar  hohen  malerischen  Werth  besitze.  Was  er  sonst  von 
ihr  hält,  weiss  ich  nicht  recht.  Die  unbändige  Lebenslust  aber,  die  aus  seinen  Bildern  strahlt,  lässt 
wohl  vermuthen,  dass  sein  Verhältniss  zu  Allem,  was  Kutten  und  Soutanen  trägt,  immer  ein  mehr 
platonisches  gewesen  ist  und  dass  er  nie  mit  sehr  heissem  Begehren  nach  der  Tonsur  und  dem 
Klosterfrieden  gestrebt  hat,  trotz  aller  Lockungen  von  Bruder  Kellermeister  und  Frater  Koch. 

In  den  untersten  Stufen  des  geistlichen  Berufes  machte  der  kleine  Eduard  rasche  Fortschritte. 
Anstelliger,  flinker  als  die  Anderen  und  offenbar  auch  mit  empfänglicherem  Sinn  für  den  geheimniss- 
vollen  Zauber  des  katholischen  Kirchendienstes  begabt,  überflügelte  er  seine  Amtsgenossen  und  brachte 
es  bald  zum  Oberministranten.  Drollig  genug  mag  er  ausgesehen  haben  unter  der  Last  seiner 
Würden.  Er  war  sehr  klein  und  die  kleinsten  Ministrantenröcke  waren  ihm  zu  lang  und  mühsam 
schleppte  er  die  schweren  Messbücher  am  Altäre  hin  und  her. 

Der  Freiluftbewegung  auf  den  stacheligen  Stoppeln  ward  Valet  gesagt  und  der  Junge  fühlte 
sich  im  Pfarrhof  bald  heimischer  als  im  Vaterhaus.  Die  Unzahl  kirchlicher  Verrichtungen,  die  sein 
Dienst  mit  sich  brachte,  waren  ihm  bald  geläufig.  Es  war  sein  Stolz,  zu  den  hohen  Kirchenfesten 
das  Gotteshaus  schmücken  zu  helfen  und  dabei  wohl  auch  schon  eigenen  Geschmack  bekunden  zu 
dürfen,  er  diente  oit  halb  erfroren  am  «heiligen  Grabe»,  er  ging  Nachts  mit  dem  Priester  die  schaurig¬ 
ernsten  Gänge  weit  über’s  Land  zu  den  Betten  der  Sterbenden. 

Freude  an  der  Kunst  hatte  er  schon  früher  gezeigt,  noch  als  «Hüterbub».  Den  alten  Kreuz¬ 
weg  in  der  Kirche  hatte  er  fein  säuberlich  in  Wasserfarben  copirt  und  die  greise  Mutter  seines  Pfarr- 
herrn  trug  die  Opuscula  in  ihrem  Gebetbuch  —  immer  schon  ein  künstlerischer  Erfolg. 

Lernzeit  kam,  immer  fester  verwuchs  der  Knabe  mit  dem  Pfarrhaus.  Der  Pfarrer  fing  an, 
ihn  in  die  Geheimnisse  der  Sprache  Cicero’s  einzuweihen.  Hatte  Jung-Eduard  am  Altäre  nichts  zu 
thun,  so  sang  er  mit  auf  dem  Chor,  wo  auch  der  Pfarrer  selbst  mit  musicirte,  wenn  gerade  der  Kaplan 
das  Hochamt  las.  Fischer  war  ein  begnadeter  Musiker  und  namentlich  leidenschaftlicher  Violinspieler. 
Er  zog  die  besser  veranlagten  Lehrer  der  Umgebung  zusammen  und  an  gewissen  Tagen  wurde  im  Plarr- 
hof  fleissig  Kammermusik  getrieben  Auch  die  Liebe  zur  Musik  blieb  dauernd  in  Grützner’s  Seele 
zurück.  Er  ist  selbst  kein  Musikus,  aber  in  seinem  Hause  bekommt  man  so  manches  feine  Stücklein 
Musik  zu  hören  und  die  ersten  Kräfte  der  bayrischen  Musenstadt  haben  bei  ihm  in  ungezwungenem 
Kreise  schon  gesungen  und  gespielt.  —  — 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


39 


Aus  Eduard  Grütaner’s  Skizzensammlung 

Als  Pfarrer  Fischer  mit  seinem  Vorunterricht  weit  genug  war,  setzte  er  es  durch,  dass  sein 
Schützling  an  das  Gymnasium  nach  Neisse  durfte.  Dass  Jener  einmal  ein  strammer  Amtsbruder  werde, 
stand  wohl  fest  bei  dem  guten  Mann.  Als  es  anders  kam,  hat  er’s  auch  verwunden  und  er  sah  ja 
auch,  dass  das  Andere  gut  war.  Aber  zunächst  sandte  er  Jenen  aufs  Gymnasium  Gerade  hier 
sollte  des  Jünglings  künstlerischer  Trieb  reichliche  Nahrung  finden  und  die  Lust  zum  Zeichnen  stieg 
in  dem  Masse,  als  das  Vergnügen  an  den  Humanioribus  abnahm.  Der  künftige  Meister  kam  dazu, 
viele  Zeichnungen  für  den  Lehrer  der  Naturwissenschaften  zu  fertigen,  und  diese  unterstützten  in  jeder 
Weise  die  Neigungen  Eduard  Grützner’s  für  die  Kunst.  Dass  diese  dem  jungen  Pennäler  auch  zu 
allerhand  Allotriis  dienten,  ist  selbstverständlich.  Was  jetzt  die  beinahe  hervorstechendste  Eigenschaft 
des  fertigen  Künstlers  ist,  das  unerreichte  Talent  zu  heiterer  Charakteristik,  zeigt  sich  damals  in 
kecken  Caricaturen  der  Professoren,  die  an  Tischen  und  Wänden,  in  Heften  und  Büchern  erschienen 
und  die  Vergeltung  blieb  nicht  aus.  Die  Freude  am  Studium  wurde  immer  geringer  und  die  Herren 
Professoren  fanden  immer  reichere  Gelegenheit,  an  dem  frechen  Verhöhner  ihrer  Physiognomien  wohl¬ 
begründete  Rache  zu  nehmen. 

Im  Elternhause  war  der  Knabe  indessen  nach  und  nach  fast  ein  Fremder  geworden.  Die  von  ihm 
heiss  geliebte  Mutter  starb,  die  Geschwister  waren  in  die  Welt  verstreut,  das  Gut  ging  zurück.  Wenn 


40 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Ed.  Grützner.  Interieur 

Eduard  in  die  Ferien  ging,  so  brachte  er  diese  im  Pfarrhause  zu;  dass  er  es  aber  in  Ewigkeit 
nicht  zum  Bischof  und  auch  nicht  einmal  zum  Kaplan  bringen  werde,  musste  der  gute  Pfarrer 
Fischer  bald  einsehen  lernen.  Mit  dem  Studium  wollte  es  schliesslich  auch  gar  nicht  mehr  vor- 
wärts  gehen  und  zuletzt  wurde  es  denn  klar,  dass  der  ehemalige  Hüterbub  und  Ministrant  ein  Maler 
werden  müsse. 

Ob  es  viele  solche  Pfarrherren  gibt  in  deutschen  Landen  wie  diesen,  der  sich,  obwohl  ihm  ein 
Lieblingsprojekt  in  Scherben  gegangen  war,  nun  auch  gleich  gründlich  mit  dieser  Wendung  abfand 
und  des  Schützlings  Geschick  in  die  Hand  nahm  ? 

Der  Pfarrer  wendete  sich  an  einen  in  München  lebenden  Baumeister,  der  ihm  verwandt  war, 
und  dieser  liess  sich  dann  bereit  finden,  den  Mammon,  der  zum  Studium  an  der  Akademie  nöthig 
war,  vorzuschiessen.  Er  legte  Arbeiten  des  neuen  Kunstjüngers  in  München  dem  Meister  Piloty 
vor  und  der  erklärte  sich  bereit,  Jenen  in  den  Schooss  der  Münchener  Akademie  aufzunehmen. 
Ganz  goldechtes  Mäcenatenthum  war  es  freilich  nicht,  was  den  Münchener  Baumeister  bestimmte,  den 
Beutel  aufzuthun. 

Er  meinte,  wenn’s  mit  dem  Malerwerden  nichts  würde,  so  würde  er  in  dem  jungen 
Schlesier  einen  gefügigen  Bauzeichner  erhalten  und  in  der  That  hat  Grützner  in  der  ersten  Zeit  seiner 
Malerlaulbahn  manche  Stunde  an  den  Zeichentischen  seines  Gönners  gefrohndet.  Auch  eine  Serie 

O 


w 


...  „  .  Copyright  1894  by  Franz  Hanfstaeugl 

Kd.  GrUtzner  pinx. 


Fallstaff  und  sein  Page 


Ed.  Griltzner  piux. 


Phot.  F.  H;(uf'st:u‘iigl.  Müucheu 


Versuchung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


41 


Plafondbilder  hat  er  für  ihn  gemalt,  Genien  der  Kunst  oder  so  was.  Wie  dem  auch  sei,  ein  treffliches 
Mittel  zum  Zweck  ist  der  Münchener  Baumeister  für  den  jungen  Mann  doch  geworden  durch  sein 
Darlehen,  das  er,  nebenbei  gesagt,  auf  Heller  und  Pfennig  zurückbekam,  als  Jener  das  erste  verdiente 
Geld  einstrich.  Und  das  war  bälder,  als  irgend  einer  erwarten  konnte. 

Also  :  die  Reisekosten  hatte  Pfarrer  Fischer  spendirt  und  mit  dem  Rest  dieser  Summe,  einem 
ganzen  blanken  Thaler  in  der  Tasche,  wandelte  Jung-Eduard  im  September  1864,  achtzehnjährig 
in  München  ein,  um  zunächst  die  Vorschule  der  Akademie  unter  Dyck  zu  besuchen,  einem  der 
trefflichsten  und  originellsten  Zeichner,  den  zu  jener  Zeit  die  «Fliegenden  Blätter»  hatten.  Eine 
Fügung  des  Schicksals  mag  erwähnt  werden :  Grützner  copirte  damals  u.  A.  in  der  Schule  Akt¬ 
zeichnungen  seines  späteren  Freundes  Defregger.  Dieser  Besuch  der  Vorschule  dauerte  nur  von 
Herbst  bis  Weihnachten,  dann  trat  der  Eleve  in  die  Malschule  von  Anschütz  über,  einem  etwas  sonder¬ 
baren  Heiligen ,  der  auch  gar  sonderbare  Heilige  malte  und  mit  der  Natur  auf  höchst  gespanntem 
Fusse  stand.  Er  hatte  eine  conventionelle  Palette  für  Alles.  Diese  war  auf  den  Grundton  Violett 
gestimmt  und  mit  seinem  violetten  Pinsel  fuhr  er  den  Schülern  sinn-  und  erbarmungslos  in  ihre 
fleissig  gemachten  Arbeiten. 

Auch  dieses  Martyrium  dauerte  nicht  lange  und  Grützner  trat  in  die  Piloty’sche  Componirschule 
über,  der  so  viele  der  glänzendsten  Sterne  am  deutschen  Kunsthimmel  entstiegen  sind.  Seltsam  ge¬ 
nug  haben  den  Meisten  diese  «Sterne»  ganz  anders  geleuchtet,  als  Piloty  vermeinte.  Er  hat  eine 
grosse  Aufgabe  in  unseren  Kunstleben  erfüllt: 
dem  Malerischen  in  der  Malerei  wieder  zum 
Rechte  zu  verhelfen ;  das  sichert  ihm  unsterb¬ 
liches  Verdienst.  Aber  die  Schule  von  Histo¬ 
rienmalerei  grossen  Stils  und  noch  grösseren 
Umfangs,  die  er  zu  gründen  hoffte,  hat  er 
nicht  gegründet.  Die  Kunst  hat  sich  zum 
Glück  eben  doch  noch  edlere  und  feinere  Auf¬ 
gaben  gesucht,  als  die,  Tapeten  zu  schaffen 
für  die  Wände  von  Fürstenschlössern  und 
akademischen  Sammlungen. 

In  der  Malschule  war  Grützner  unter 
Andern  zusammengewesen  mit  Leibi,  mit 
Otto  Seitz ,  mit  A.  Oberländer,  der  heute 
noch  mit  Recht  als  Grossmeister  des  Humors 
in  unserer  bildenden  Kunst  gilt,  mit  Rüber, 
aus  dem  später  ein  feinsinniger  Musiker  und 
Kapellmeister  der  Münchener  Hofoper  ge¬ 
worden  ist,  mit  Gura,  der  heute  als  Zierde 
des  gleichen  Instituts,  als  unübertrefflicher 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Hans  Sachs,  Barbier  von  Bagdad,  Wotan  u.  s.  w.  wie  als  der  erste  Liedersänger  seiner  Zeit  bekannt 
ist.  Bei  Piloty  kam  unser  junger  Künstler  mit  Benczur  und  Liezenmeyer,  den  Einzigen  beinahe,  die 
heute  noch  die  Traditionen  Piloty’s  fortführen,  mit  Raupp,  dem  Chiemseemaler,  mit  den  beiden  Lossow, 
die  nun  unter  der  Erde  ruhen,  mit  dem  Thiermaler  Gebier,  dem  Landschafter  Ivnab,  mit  Hans  Makart, 
mit  Alexander  Wagner,  Gabriel  Max  und  Eberle  zusammen.  Sonderbar:  lässt  man  die  erfolgreichen 
Schüler  Piloty’s  Revue  passiren,  so  sieht  man  wieder  so  recht,  wie  das  Wesen  eines  Kunstlehrers  so 
viel  mehr  ausmacht  als  seine  Leistung,  wie  das  was  er  ist,  so  viel  bestimmender  für  die  neue 
Generation  wird,  als  das  was  er  schafft.  Piloty’s  reines  und  edles  Streben,  der  ideale  Mensch  Piloty, 
hat  die  Geister  der  Besten  angezogen  und  festgehalten,  gemodelt  und  zur  Entwicklung  gebracht  Die 
Irrthümer  seines  künstlerischen  Strebens  haben  dabei  keinen  Schaden  gethan. 

Auch  Grützner  hat  natürlich  zunächst  dem  Geiste  der  Pilotyschule  seinen  Tribut  zahlen, 
er  hat  seinen  grossen  historischen  Unglücksfall  wenigstens  anfangen  müssen.  Als  Vorwurf  für  sein 
«grosses  Bild«  ward  die  Scene  gewählt,  wie  Heinrich  II.  von  England  sich  1174  am  Sarkophage 
des  ränkevollen  Erzbischofs  Thomas  Becket  geissein  lässt.  Dass  der  Vorwurf  den  jungen  Maler 
nicht  sonderlich  begeisterte,  ist  unschwer  zu  begreifen.  War’s  doch  vielleicht  der  Grundfehler  der 
ganzen  Schule,  dass  die  Künstler  ihren  weit  hergeholten  Stoffen  kühl  bis  ans  Herz  hinan  gegenüber¬ 
stehen  mussten. 

Der  junge  Grützner  langweilte  sich  kräftig  mit  seinem  gegeisselten  Heinrich  und  als  Meister 
Piloty  eines  schönen  Tages  zur  Cur  nach  Karlsbad  musste,  malte  Jener  heimlich  sein  erstes  Kloster¬ 
stück  :  einen  im  kühlen  Keller  vom  Alkohol  überwältigten  Klosterbruder,  den  seine  geistlichen  Obern 
in  süssem  Schlummer  antreffen.  Und  siehe  da:  das  Bild  wurde  sofort  verkauft.  Gleichzeitig;  fast 
entstand  das  bekannte  kleine  Bild  eines  zahnwehbehafteten  Mönchleins,  das  mit  dem  Weinkrug  zum 
Keller  hinabsteigt,  sich  dort  vom  Mutterfasse  Linderung  zu  zapfen.  Der  Münchener  Kunstverein  hat 
das  Bild  für  seine  Verloosung  um  250  Gulden  erworben  und  der  Gewinner  hat  es  bald  darauf  um 
mehr  als  das  Dreifache  weiter  verkauft. 

So  fand  Piloty  bei  seiner  Rückkehr  den  hoffnungsvollen  Schüler  bereit,  sich  von  der  Historia 
abzuwenden.  Dass  da  nichts  mehr  zu  machen  war,  sah  er  freilich  ein,  denn  die  verpönten  Genre¬ 
bilder  waren  zu  gut.  Und  der  Meister  entliess  den  Schüler  schliesslich  mit  der  Weisung: 

«Mab  Du  in  Gottesnamen  Deine  Pfäfflein  weiter ! « 

Im  Wintersemester  1869  —  70  verliess  Grützner  die  Akademie  und  seine  künstlerische  Existenz 
war  nun  auch  gesichert.  Seine  Bilder  fanden  rasch  Käufer,  die  Zeit  der  Sorgen  war  vorbei  und  ein 
frisches  fröhliches  Schaffen  im  Sonnenschein  des  Erfolges  ging  los. 

Pfarrer  Fischer  hat  die  Kunde  noch  erlebt,  dass  sein  Schützling  ein  grosser  Maler  geworden 
sei  —  gesehen  hat  er  kein  Bild  von  der  Hand  seines  ehemaligen  Ministranten.  Aber  dieser  hat  in 
seinem  Herzen  dem  Wackeren  ein  unauslöschliches  Gedächtniss  bewahrt  und  über  seinem  Bette  hängt, 
in  Kreide  gezeichnet,  das  Bildniss  des  trefflichen  Pfarrherrn  :  ein  kluger,  freundlicher  Kopf  mit  an¬ 
genehmen  Zügen.  Es  ist  ein  alter  Plan  Grützner’s,  den  Mann  doch  noch  einmal  im  Bilde  darzustellen, 
wie  er  fiedelnd  in  seiner  Stube  auf-  und  niedergeht. 


DIEK  UNST  UNSERER  ZEIT. 


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Grützner  malte  übrigens  nach  seiner  Lossprechung  von  der  Akademie  nicht  blos  seine  «  Pfäfflein 
weiter».  Schon  auf  der  Schule  war  Shakespeare  seine  stille  Liebe  gewesen  und  die  prächtigen,  lebens¬ 
vollen  Gestalten  aus  dessen  Dichtungen  beschäftigten  nun  auch  den  jungen  Künstler.  Ein  günstiger  Zufall 
verschaffte  ihm  den  Auftrag  eines  Engländers,  einige  Szenen  aus  Shakespeare’s  «Heinrich  IV.»  im 
Bilde  festzuhalten.  So  malte  er  Falstaff  in  der  Kneipe  der  Frau  Hurtig,  eine  köstliche  Rekruten¬ 
musterung  und  andere  Szenen,  aus  den  «Lustigen  Weibern»  u.  s.  w.  Namentlich  aber  blieb  es  das 
Drama  «Heinrich  IV.»,  das  den  Künstler  besonders  fesselte.  Er  hat  einen  geradezu  klassischen 
Falstafftypus  geschaffen  und  liebt  es  immer  noch,  den  dicken  Sünder  in  den  verschiedensten  Lebens¬ 
lagen,  beim  Sekt  und  beim  Dortchen  Lackenreisser  und  in  anderen  Augenblicken,  zu  malen.  Er 
macht  uns  dabei  den  lüderlichen  Ritter  durch  einen  Zug  fröhlicher  Bonhomie  sympathischer,  als  er 
am  Schlüsse  des  Dramas  vom  jungen  Könige  gezeichnet  wird  und  lässt  uns  schier  hoffen,  dass  in 
günstiger  Stunde  Heinrich  V.  den  Ritter  doch  wohl  wieder  in  Güte  aufnehmen  und  mit  einem  feuchten 
Hofamt,  vermuthlich  dem  eines  Oberstkellermeisters,  begnaden  werde. 

Auch  sonst  hat  sich  Grützner  durchaus  nicht  etwa  der  ausschliesslichen  Spezialität  des  Pfaffen¬ 
malens  ergeben,  im  Gegentheil :  seinem  Pinsel  gehört  so  ziemlich  Alles,  was  ihm  Gelegenheit  gibt, 
seine  unerreichte  Kunst  zu  kräftiger  Charakterisirung  und  seine  Virtuosität  in  der  Ausführung  malerischer 
Interieurs  und  Stillleben  zu  üben.  Kneipenszenen  aller  Art,  Schauspieler,  Jägersleute,  Wildschützen 
—  Alles  hat  er  verewigt,  was  eine  scharfe  Physiognomie  und  darin  einen  heiligen  Funken  von  Humor 
hat.  Jede  Figur, 


die  er  malt,  ist 
ein  Mensch  für 
sich,  die  seicht 
erfassten  verall- 
gemeinertenTy- 
pen,  mit  denen 
sich  so  viele 
Genremaler  be¬ 
gnügen,  findet 
man  auf  seinen 
Bildern  nie.  Und 
das  ist  ein  gros¬ 
ser  Theil  vom 
Geheimnisse  sei¬ 
ner  Beliebtheit. 
Der  Besitz  die¬ 
ser  beseelten 
Menschenschild¬ 


erungen  ermüdet 


Ed.  Grützner.  Interieur 


6* 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


nicht.  Wer  «einen  Grützner»  hat,  kann  ihn  immer  sehen  und  wird  daran  so  wenig  müde,  wie  am 
Gesicht  eines  alten  lieben  Bekannten. 

Unser  Meister  hätte  sich  längst  schon  sein  Stoffgebiet  auch  noch  nach  anderen  Richtungen  des 
menschlichen  Lebens  erweitert,  wenn  er  sich  aber  in  der  Hauptsache  doch  in  einem  engeren  Kreise 
bewegen  muss,  so  hat  das  liebe  Publikum  und  der  Kunsthandel  die  Schuld.  Das  ist  nun  mal  nicht 
anders:  statt  dass  ein  Bilderkäufer  froh  wäre,  von  seinem  Lieblingsmeister  ein  Werk  zu  besitzen,  das 
gewiss  kein  Anderer  neben  ihm  hat,  bestellt  er  sich  sicher  ein  Sujet,  das  der  Künstler  schon  ein  paar¬ 
mal  gemalt,  woran  er  sich  unter  Umständen  schon  ganz  müde  gearbeitet  hat.  Will  er  einen  Grützner 
haben,  so  muss  es  ganz  gewiss  ein  Klosterbruder  sein,  der  sein  Weinglas  im  Licht  karfunkeln  lässt, 
will  er  einen  Gabriel  Max,  so  verlangt  er  eine  blasse  Dame,  die  ein  paar  grosse  Räthselaugen  irgend 
wohin  ins  Unbestimmte,  muthmasslich  in’s  Geisterreich  richtet.  Hat  Einer  einmal  einen  Sonnenunter¬ 
gang  über  einem  Dorfweiher  gemalt,  rechts  eine  alte  Hütte,  links  ein  Schweinestall,  und  hat  er  damit 
Erfolg  errungen,  so  muss  er  fürs  liebe  Publikum  sein  Leben  lang  Sonnenuntergänge  über  Dorfweihern, 
Hütten  und  Schweineställen  malen,  mit  möglichst  geringen  Variationen  noch  dazu.  Böcklin  hat  seine 
«Todteninsel »  drei  oder  vier  Mal  malen  müssen,  seine  «Villa  am  Meer»  noch  öfter,  seinen  Prometheus 
zweimal  u.  s.  w.  Ein  Glück,  wenn  Einer  so  viel  aus  sich  zu  geben  hat,  dass  er  dabei  nicht  monoton 
wird.  Grützner  gehört  zu  diesen  Glücklichen ;  ihm  hat  die  kindliche  Begeisterung  der  Menge,  die 
immer  das  einmal  Dagewesene  und  einmal  Gelungene  wieder  verlangt,  weiter  nicht  geschadet  und  er 
hat  die  Gabe,  das  Alte  doch  immer  wieder  mit  anderen  Worten  zu  sagen. 

Er  hat  freilich,  wie  oben  ausgeführt,  auch  selbst  eine  grosse  Vorliebe  für  das  klösterliche 
Leben  - —  so  weit  es  als  Gegenstand  seiner  Malerei  oder  etwa  als  Gelegenheit  zu  einem  scharfen 
Trunk  im  Klosterkeller  oder  Bräustübel  in  Betracht  kommt.  Den  Maler  ziehen  da  allerlei  Dinge  an  : 
die  durchweg  malerischen  Kutten  der  Mönche,  ihre  charakteristischen  Köpfe,  die  pittoresken  Innen¬ 
räume  der  Klöster,  die  meist  aus  alter  Zeit  stammen  und  reich  an  malerischen  Stillleben-Details 
sind  u.  s.  w.  Das  Leben  der  Mönche,  den  Augen  der  gewöhnlichen  Sterblichen  in  der  Hauptsache 
entrückt,  bietet  ferner  eine  Fülle  fesselnder  Sujets.  Grützner  zeigt  sie  uns  beim  Beten,  beim  Studiren, 
beim  Musiziren,  bei  allen  erdenklichen  häuslichen  Verrichtungen,  beim  Brauen  und  Keltern  und  jeder 
Hantirung,  die  mit  der  Erzeugung  von  Wein,  Bier  und  selbst  Liqueur  zusammenhängt  und  —  ganz 
besonders  gerne  beim  Trinken.  An  allen  feuchtfrohen  Stätten  hat  der  Künstler  von  jeher  ganz  besonders 
gerne  seine  Staffelei  aufgeschlagen  und  von  der  milden  Heiterkeit  eines  rheinweinkostenden  Kirchen¬ 
fürsten  im  Purpurtalar  bis  zur  stumpfen  Verthiertheit  des  Schnapsbruders  in  der  Winkelschänke  hat  er 
wohl  alle  menschlichen  Zustände,  die  der  Verkehr  mit  dem  Becher  mit  sich  bringt,  in  Bildern  festgehalten. 

Er,  dem  selber  weise  Mässigung  als  Grundbedingung  für  wahren  und  menschenwürdigen  Genuss 
gilt,  schildert  die  Trinker  und  Zecher  aller  Art  mit  so  erlesener  Meisterschaft,  dass  man  ihn  den 
Scheffel  unter  den  Malern  nennen  könnte.  Er  hat  selbst  eine  stille  Andacht  für  jeden  guten  Tropfen 
und  weiss  sie  auch  in  die  Mienen  seiner  Mönchlein  auf  der  Leinwand  zu  legen.  Im  wilden  Ueber- 
mass  malt  er  seine  geistlichen  und  weltlichen  Zecher  selten,  lieber  im  behaglich  prüfenden  Gemessen, 
in  der  Freude  an  Gottes  Gabe  —  stamme  sie  nun  vom  Hopfen  oder  vom  Rebstock  her. 


Eritis  sieut  Deus 


Kein  Tröpferl  mehr! 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Ed.  Cri'ttzner.  Interieur 


Eduard  Griitzner  hat  in  seinen  zahlreichen  Klosterbildern  auch  niemals  den  Clericis  irgend  was 
wirklich  Böses  nachgesagt,  er  ging  nie  weiter,  als  bis  zu  einem  Scherz,  den  jeder  vernünftige  Pater 
und  Frater  mit  Schmunzeln  über  sich  ergehen  liess.  Und  in  fleissigem  Verkehr  mit  Klosterherren 
aller  Art  hatte  er  Gelegenheit  genug,  sich  Auskunft  zu  erholen,  wie  viel  jene  vertragen  könnten  in 
dieser  Beziehung.  Längst  war  er  durch  seine  Klosterbilder  beliebt  und  bekannt,  als  er  immer  noch 
in  den  Klöstern  aus-  und  einging,  als  guter  Freund  dort  galt,  manchen  guten  Schluck  dort  mit  den 
Gottesmännern  that  und  manches  schöne  Stück  von  alter  Arbeit  für  seine  Sammlungr  nach  Hause  truor. 
Erst  die  letzten  Jahre  haben  auch  darin  Aenderung  gebracht.  Der  alte  Schlag  von  wackeren  Geist¬ 
lichen,  welche  die  Welt  und  einen  Spass  verstanden,  hat  anderen  Typen  vielfach  weichen  müssen,  und 
das  zelotische  Kaplänchen,  das  in  der  Ordnung  der  Dinge  gleich  nach  dem  lieben  Herrgott  zu  kommen 
vermeint  und  die  leiseste  Berührung  seiner  Person  für  ein  Sakrileg  hält,  ist  eine  häufige  Erscheinung 
geworden.  Aber  keine  für  Meister  Eduards  Pinsel. 

Darum  kommt  jetzt  der  Künstler  selten  mehr  über  Klosterschwellen  und  er  kann  es  auch  ver¬ 
schmerzen.  Selbst  wenn  er  ein  sehr  grosses  Bedürfnis  nach  dem  Verkehr  mit  den  Gesalbten  des 
Herrn  empfindet,  hat  er  nichts  zu  entbehren,  denn  mancher  treffliche  Pfarrherr  oder  Prediger  kommt 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


in  sein  Haus  und  trinkt  mit  ihm  an  gastlichen  Abenden.  Früher  aber  ging  Griitzner,  wie  gesagt, 
in  bayerischen  und  tyroler  Klöstern  als  stets  gerngesehener  Gast  aus  und  ein  und  er  hat  eine  Fülle 
von  Material  für  seine  Bilder  daraus  aufgesammelt.  Pforten,  die  Allen  verschlossen  waren,  thaten 
sich  ihm  auf  und  eine  seiner  merkwürdigsten  Erinnerungen  mag  es  sein,  dass  er  es  einmal  durch¬ 
setzte,  in  einem  durch  strenge  Clausur  bekannten  tyroler  Frauenkloster  mit  der  Frau  Oberin  Kaffee 
zu  trinken ;  freilich  nahm  sein  Töchterlein  mit  an  der  Invasion  theil.  Den  Maler  allein  hätten  sie 
doch  nicht  eingelassen. 

In  die  Männerklöster  kam  man  schon  leichter  und  da  war  der  Bruder  Braumeister  ein  ebenso 
angenehmer  als  zweckdienlicher  Vermittler.  Durch  seine  Stellung  kommt  ein  solcher  ja  ohnehin  mehr 
mit  den  Weltkindern  in  Berührung  und  im  Kloster  spielt  er  eine  Hauptrolle,  wenn  er  auch  kein  hoher 
geistlicher  Würdenträger  ist.  Sie  hatten  einmal  einem  ruhmvoll  bekannten  Braumeister  eines  baye¬ 
rischen  Klosters  wegen  irgend  eines  Excesses  in  Baccho  eine  Strafe  diktirt.  Kamen  aber  schön  an 
bei  ihm!  Er  erklärte,  falls  ihm  nicht  schleunigst  Indemnität  zu  theil  würde,  werde  er  dem  Kloster 
den  Rücken  kehren;  er  wisse  Leute  in  München,  die  sich  die  Finger  ableckten  nach  einem  solchen 
Mann.  Um  Gottes  Willen,  riefen  sie,  nur  das  nicht !  Und  von  einer  Strafe  war  nicht  mehr  die  Rede. 
Wenn  sich’s  um  einen  so  feinen  Haustrunk  handelt,  schweigt  auch  die  strengste  klösterliche  Zucht. 

Mit  Frater  Jakobus,  dem  Braumeister  des  Benediktinerklosters  auf  dem  ebenso  bierberühmten 
als  heiligen  Berg  Andechs  am  Ammersee,  verband  Grützner  wirkliche  Freundschaft  und  sie  standen 
auf  Du  und  Du.  Da  mag  dieser  manchen  tieferen  Blick  in’s  Klosterleben  gethan  haben.  Wenn  der 
Maler  das  fast  «historisch»  zu  nennende  Bräustübchen  betrat,  so  holte  Jakobus  nicht  selten  statt  der 
«frischen  Mass»,  die  man  ohnehin  an  dieser  geweihten  Stätte  bekam,  —  den  Obolus  dafür  legten 
die  Gäste  stillschweigend  unter’s  «Bierfilzl»  —  eine  allerfrischeste  Mass  vom  Mutterfass.  Das  ist 
eine  Ehre,  die  einem  nicht  so  leicht  zu  theil  wird  in  einer  Brauerei.  Nur  ein  Versprechen  nahm 
der  fromme  Mann  seinem  weltlichen  Freunde  ab:  dass  dieser  ihn  nie  auf  einem  Bilde  verewigen 
solle.  Grützner  hat  den  Schwur  gehalten  und  es  mag  ihm  hart  angekommen  sein :  einen  echteren 
und  liebenswürdigeren  Charakterkopf  für  eine  feuchtfrohe  Klosterscene  hat  er  nicht  leicht  wieder 
finden  können. 

Auch  mit  anderen  Klosterbrauherren  stand  er  auf  gutem  Fusse.  Zum  Beispiel  damals,  als  der 
Vatikan  den  Franziskanern  noch  nicht  mit  schnödem  Verbot  das  Bierbrauen  abgewöhnt  hatte,  mit 
dem  Bruder  Benedikt  des  Münchener  Franziskanerklosters.  Der  Trank,  den  Benediktus  braute,  erfreute 
sich  des  vornehmsten  Rufes  in  den  bierkundigen  Kreisen  Münchens  und  eine  kleine  Schaar  von  aus¬ 
erwählten  Bewohnern  dieser  Stadt  durfte  ziemlich  regelmässig  dort  aus-  und  eingehen,  Offiziere  und 
Gelehrte,  Künstler  und  Beamte  und  Bürger  aller  Klassen  des  Census.  Wenn  aber  das  Aveläuten 
anhub,  dann  mussten  sich  die,  welche  dort  Labe  fanden,  auch  zu  einem  Gebet  entschliessen.  Dass 
unser  Künstler  seine  Andacht  nur  mit  Händefalten  markirte  und  nicht  laut  mitthat  in  dem  sonoren 
Chor  der  Beter  und  Zecher,  hat  ihm  der  Frater  Benedikt  nie  recht  verzeihen  können.  «Das  Ave¬ 
läuten  im  Klosterbräustübchen »  hat  Grützner  übrigens  den  Stoff  zu  einem  seiner  besten  Bilder 
gegeben  (gemalt  1875). 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


47 


Nicht  nur  für  künstlerische  Vorwürfe  zu  den  mannigfaltigsten  Bildern  wurden  die  Klöster  für 
Grützner  übrigens  eine  Fundgrube,  auch  noch,  wie  erwähnt,  für  was  Anderes:  für  seine  Alterthümer- 
sammlung.  Gleich  nachdem  er  seine  ersten  Bilder  gut  verkauft  hatte,  fing  der  junge  Maler  zu  sammeln  an  — 
und  heute  pflegt  er  noch  immer  zu  erwerben,  was  er  an  schönen  Stücken  bekommen  kann.  Sein 
Haus,  das  hoch  überm  Isarufer  zwischen  hohen  Bäumen  herausblickt,  heimisch  und  abgeschlossen  und 
allem  Wagengerassel  und  Werktagsgetriebe  so  entrückt  ist,  dass  hier  zu  jeder  Stunde  das  Rauschen 
des  grünen  Bergstroms  den  Grossstadtlärm  übertönt,  dies  Haus  ist  von  oben  bis  unten  ein  Museum. 

Aber  keines  von  denen, 
die  vollgestopft  mit  kun¬ 
terbuntem  Zeug  kaum 
Raum  lassen,  dass  sich 
Eins  dazwischen  be¬ 
wege  ;  es  ist  behaglich 
in  allen  Winkeln,  jedes 
der  schön  geschnitzten 
und  eingelegten  Möbel¬ 
stücke  dient  noch  zum 
gleichen  Gebrauch,  wie 
einst.  Und  darin  ist 
Grützner’s  Haus,  ganz 
abgesehen  von  den  Sel¬ 
tenheiten,  die  es  na¬ 
mentlich  in  gothischen 
Stücken  enthält,  —  ein 
Unikum.  Von  den  Bet¬ 
ten  und  Schränken  an 
bis  herunter  zu  den 
kleinsten  Gebrauchs¬ 
gegenständen ,  zum 
Salzfass  und  zu  den 

Leuchtern,  ist  Alles  alt.  Aber  nichts  wurmstichig,  verbuckelt  und  verbeult  etwa,  Alles  gut  und 
kräftig  und  noch  solid  genug,  ein  paar  weitere  Jahrhunderte  zu  dienen. 

Viele  von  diesen  schönen  Dingen  stammen  aus  Klöstern.  Sie  sind  nicht  etwa  von  ihres  Werthes 
unkundigen  Leuten  verschleudert  worden,  sondern  vollwerthig  bezahlt  —  meist  auf  dem  Weo-e  des 
Tauschhandels.  Das  Glück  des  Sammlers  bestand  nur  darin,  dass  er  hier  Sachen  fand,  die  sonst 
überhaupt  nicht  mehr  zu  bekommen  sind.  Er  gab  den  Mönchen  dafür  Gebrauchsdinge,  deren  sie 
bedurften,  Wäsche  oder  gottesdienstliches  Geräth  u.  s.  w.  Ein  eigenes  Glück,  das  scheinbar  Unmög¬ 
liche  zu  erreichen  und  die  richtige  Sammlerzähigkeit  besitzt  Grützner  freilich  auch.  Einem  Andern 


Aus  Eduard  Grützner  s  Skizzenbuch 


48 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wäre  es  wohl  nicht  gelungen,  aus  einer  alten  Kirche  in  —  in  Dingsda  —  ein  paar  prächtige  alte 
Glasmalereien,  Wappen  eines  berühmten  deutschen  Geschlechts  zu  erwerben.  Ihm  gelang  es  doch;  im 
Jubel  über  seinen  Fang  und  aus  Angst,  die  schönen  Stücke  fremden  Händen  anzuvertrauen,  hat  er 
sie,  so  schwer  sie  waren,  höchsteigenhändig  ein  paar  Stunden  weit  nach  Hause  getragen.  Jetzt  blinkt 
und  funkelt  im  behaglichsten  Winkel  seines  Münchener  Heims  die  Sonne  durch  die  bunten  Gläser. 
Die  Grützner’sche  Sammlung  ist  umfangreich  genug,  dass  sie  auch  die  prächtige  Villa  von  oben  bis 


Ed.  Griitzner,  Interieur 

unten  füllt,  die  sich  der  Meister  in  Tirol  erbaut  hat.  Wer  seine  Gastfreundschaft  da  geniesst,  kann 
in  den  Fremdenzimmern  seine  Sachen  in  prächtige  Rococokommoden  stecken  oder  in  stattliche  Renaissance¬ 
schränke  hängen,  kann  eine  feinfarbige  alte  Seidendecke  von  seinem  Bett  ziehen  oder  den  Blick  an 
altem  Ziergeräth  ergötzen,  das  an  Wänden  und  auf  Tischen  prangt.  Nicht  blos  altes  Geräth  allein, 
auch  manches  gute  alte  und  neue  Bild  ist  des  Künstlers  Eigen  und  er  hat  auch  da  sein  Geschick  im 
Erreichen  des  Unmöglichen  gezeigt,  z.  B.  von  seiner  letzten  Reise  nach  Italien  aus  einer  bekannten 
Galerie  einen  wundervollen  Madonnenkopf  von  Salvi  nach  Hause  gebracht.  Von  Neueren  hat  er 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


49 


u.  A.  süperbe  Spitzweg’s  und  er  hat  den  tiefinnigen,  aber  etwas  weltfremden  Meister  nicht  übel  über’s 
Ohr  gehauen,  als  er  die  Bilder  von  ihm  kaufte.  Nämlich :  damit  der  übermässig  bescheidene  Spitzweg 
ihm  nicht  einen  gar  zu  kleinen  Preis  für  die  Bilder  mache,  hat  er  ihm  vorgemacht,  sie  gehörten  für 
irgend  einen  reichen  Engländer  oder  sonst  Einem,  dem  das  Bezahlen  nicht  weh  thäte.  Spitzweg  ist 
nicht  wenig  erschrocken,  als  er  die  seiner  Ansicht  nach  viel  zu  hoch  bezahlten  Bilder  in  der  Stube 
des  Freundes  hängen  sah. 

An  den  Erwerb  gar  manchen  Stückes  der  Grützner’schen  Sammlung  knüpft  sich  so  eine 
Erinnerung,  die  den  Meister  lächeln  machen  mag,  wenn  er  das  Kunstwerk  oder  Geräth  ansieht. 
Hier  ist  ein  prächtiges  gothisches  Dreiflügelbild,  gemalt  und  geschnitzt,  das  er  einst  missachtet  auf 
dem  Dachboden  eines  Klosters  gefunden  ■  dort  gegenüber  steht  altes  eichenes  Chorgestühl  von  der 
schlichten,  kernigen  Gothik,  wie  sie  die  Münchener  Liebfrauenkirche  aufweist  —  und  richtig :  die 
Stühle  stammen  auch  daher.  Fromme  und  verständige  Hände  haben  diese  schmucklosen  Geräthe  aus 
dem  Dom  entfernt  und  heute  funkelt  und  gleisst  dort  aus  allen  Ecken  der  bunt  und  «geschmackvolle» 
Prunk,  den  die  Anstalten  für  kirchliche  Kunst  liefern.  Heute  stehen  die  alten  Chorstühle  im  «Kirchen¬ 
zimmer  »  des  Grütznerhauses,  neben  etlichen  Prachtstücken  von  Möbeln  mit  gothischem  Masswerk  in 
Flachschnitzerei ;  z.  B.  ist  da  ein  wunderschöner  Katheder  mit  Baldachin,  Arbeit  aus  bester  Zeit  und 
eine  hohe  gothische  Schiebladenkommode,  gefüllt  mit  köstlichen  alten  Stoffen  —  Stücke,  die  wohl 
Unika  heissen  dürfen. 


Ed.  Grützner.  Studie 


50 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Ein  anderer  Raum  neben  dem  «Atelier»  ist  als  Bibliothek  eingerichtet  —  des  Doktor  Faustus 
Zelle  mag  nicht  viel  anders  ausgesehen  haben.  Von  allen  Wänden,  aus  allen  Winkeln  grüssen  alte 
und  eigenartige  Dinge  in  diesem  Hause,  jeder  Blick  trifft  auf  etwas  Schönes  und  das  charakterisirt 
so  recht  des  Künstlers  innerstes  Wesen.  Sein  Heim  wie  sein  ganzes  Leben  hat  er  sich  so  einzurichten 
verstanden,  dass  ihm  das  widerwärtig  Alltägliche,  das  Banale  und  Nüchterne  so  weit  wie  möglich 
entrückt  ist.  Mit  solchen  Absichten  muss  einer  entweder  ein  Einsiedler  werden  oder  ein  Lebens¬ 
künstler  von  allerfeinster  Art.  Und  ich  meine,  den  Letzteren  haben  wir  in  Grützner  neben  dem 
Maler  noch  ganz  besonders  zu  bewundern  ;  dies  ist  das  Element,  das  ihn  jung  erhält,  auch  in  seiner 
Kunst.  Beatus  ille,  der's  fertig  kriegt,  sein  Haus  so  zu  bestellen,  dass  er  mit  seiner  Thür  das  ganze 
dumpfe  und  öde  Geräusch  des  Werktags,  all  den  Wirrwarr,  den  die  Jagd  nach  dem  Erwerb  mit  sich 
bringt,  von  sich  abschliessen  kann,  der  so  weit  vom  Ufer  gebaut  hat,  dass  die  trüben  Wogen  weit- 
städtischen  Lebens  nicht  an  seine  Schwelle  spülen  und  der  doch  geniesst,  was  es  an  Schönem  in 
Heiterkeit  zu  gemessen  gibt.  Das  ist  unserem  Meister  gelungen.  Ihm  ist  all’  das  Garstige  fremd 
geblieben,  das  der  wilde  Concurrenzkampf  im  heutigen  Künstlerleben  sonst  zu  Tage  fördert.  Dieses 
Geschrei  von  Cliquen,  dieses  Intriguiren  und  Miniren,  das  die  fröhliche  Kunst,  die  ein  Paradies  des 
Wohlwollens  sein  sollte,  zum  Tummelplatz  der  wüstesten  Leidenschaften  macht.  Was  ficht’s  ihn  an? 
Die  Zeit,  die  sie  zu  ihren  Intriguen  verbrauchen,  verwendet  er  zum  Schaffen  und  während  die  Anderen 
in  hitzigen  Debatten  und  Sitzungen  sich  die  Köpfe  erwärmen,  erörtert  er  vielleicht  in  seinem  kühlen 
Kneipstübchen  mit  etlichen  guten  Freunden,  ob  der  weisse  Terlaner  in  seinem  Keller  oder  der  rothe 
Kälterer  Seewein  eines  braven  Mannes  Vertrauen  mehr  verdiene.  Und  diese  Ruhe,  die  er  um  sich 
schuf,  hat  ihm  die  Möglichkeit  gegeben,  seine  Arbeit  zu  treiben,  dass  sie  ihm  nie  zur  Last  werden 
kann.  Er  schafft  viel,  aber  in  kurzen  Stunden  und  es  bleibt  ihm  Zeit  genug,  zu  leben.  Während 
der  regelmässig  eingehaltenen  Arbeitsstunden  gelangt  kein  Störer  in  Grützner’s  Atelier.  Und  im 
Uebrigen  ist  sein  Haus  das  gastlichste,  das  es  gibt. 

Selbst  das,  was  jedem  Künstler  zu  Zeiten  die  ITarmonie  seines  Lebens  ein  wenig  stört,  berührt 
Grützner  weniger  als  irgend  einen  Andern :  der  Erwerb.  Die  Kunsthändler  bewerben  sich  um  seine 
Bilder  schon,  wenn  sie  kaum  untermalt  sind.  Die  einzige  Unannehmlichkeit,  welche  die  Käufer  ihm 
bringen,  ist  die,  dass  sie  mehr  von  ihm  haben  wollen,  als  er  malen  kann.  Oder  malen  mag.  Denn 
über  die  gewohnten  Arbeitsstunden,  die  ihm  das  Schaffen  als  Freude  und  nicht  als  Zwang  empfinden 
lassen,  geht  der  Künstler  nicht  hinaus  um  schnöden  Mammons  Willen.  Raubbau  treibt  er  nicht  an 
seiner  Kunst  Auch  seine  behagliche  Sommerruhe  mag  er  sich  nicht  verkürzen  lassen.  Nur  hin  und 
wieder  nimmt  er  dort  den  Pinsel  in  die  Hand  oder  zeichnet  mit  flüchtigem  Stift  einige  besonders 

ö  O 

charakteristische  Köpfe  aus  jener  Landschaft  ins  Skizzenbuch. 

Zu  den  bezeichnendsten  Aeusserungen  von  Eduard  Grützner’s  Schönheitsbedürfniss  und  Lebens- 
freudigkeit  zugleich  gehört  auch  die  intime  Fühlung,  in  der  er  seit  jeher  mit  dem  Theater  und  seinen 
Künstlern  steht  und  seine  tiefgehende  Kenntniss  grosser  Werke  dramatischer  Dichter.  Eine  Reihe 
von  den  bedeutendsten  Werken  des  Künstlers  dankt  diesen  Neigungen  ihr  Entstehen  :  so  hat  er  aus 

o  o 

Goethe's  «P'aust»  die  Scene  in  Auerbach’s  Keller  gemalt  und  den  Meister  Mephistopheles  allein  in 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


51 


verschiedenen  Variationen;  in  diesen  Kreis  gehört  auch  die  Darstellung  einer  Scene  hinter  den  Coulissen, 
wo  Mephisto  mit  einer  Tänzerin  schäkert.  Im  letzten  Jahre  entstand  die  Schülerscene  im  «Faust», 
welche  der  Leser  auch  in  diesem  Hefte  abgebildet  findet  —  die  Herren  Theatermaler  mögen  sich 
diese  malerische  Studirstube  einmal  ansehen.  Der  zahlreichen  Falstaffbilder,  von  denen  ebenfalls 
eines  hier  zu  finden  ist,  haben  wir  schon  Erwähnung  gethan.  Der  feiste  Sir  John  ist  eine  Lieblings¬ 
figur  Grützner’s  geworden.  Um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  entstanden  die  berühmten  grossen 
Falstaff- Cartons,  die  sich  im  Besitze  des  Museums  zu  Breslau  befinden  —  sieben  Stück.  Auch 
eine  grosse  englische  Prachtausgabe  von  Shakespeare’s  « Heinrich  IV. »  hat  Grützner  mit  zahlreichen 
Zeichnungen  o-e- 

o  o 


schmückt;  in  sei¬ 
nem  Atelier  hängt 
ein  schönes 
Silberrelief  mit 
Shakespeare’s 
Kopf  —  eine 
Ehrengabe  sei¬ 
ner  Bewunderer 
in  England. 

Dem  Theater¬ 
leben  im  AlDe- 

o 

meinen  ist  eines 
der  prächtigsten 
Bilder  unseres 
Meisters  gewid¬ 
met,  das  sich 
heute  in  der 
Mannheimer 


Gemäldesamm- 

Eci.  Gril/zjier.  Interieur 

luno-  befindet: 

o 

«Schauspieler  vor  der  Vorstellung».  In  wundervoller  Charakteristik  schildert  er  uns  hier  eine  Truppe 
reisender  Comödianten,  die  sich  für  eine  Vorstellung  « Heinrich  IV. »  zurecht  macht.  Die  Porträts  von 
Haase,  Rüthling,  Kindermann  u.  A.  sind  in  dem  Bilde  zu  finden,  das  so  viel  interessante  Charakter¬ 
köpfe  aufweist,  als  es  Personen  enthält.  Auch  das  humorvolle  «Bauerntheater»  sei  hier  eingereiht. 
Es  schildert  eine  ähnliche  Scene  wie  das  vorige  Bild,  aber  es  sind  derbe  Söhne  und  Töchter  der 
bayerischen  Berge,  die’s  hier  «dilettirt,  den  Vorhang  aufzuziehen». 

Die  Klosterbilder  Grützner’s  und  die  andern,  die  sich  auf  die  weltliche  Clerisei  und  Aehnliches 
beziehen,  sind  so  zahlreich,  dass  nicht  einmal  eine  einigermassen  vollständige  Liste  hier  aufzuzählen 
ist.  Der  « Klosterbrauerei »  wurde  schon  Erwähnung  gethan,  ebenso  des  ersten  Mönchsbildes  von 


52 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Eduard  Grützner,  das  in  verschiedenen  Variationen  gemalt  wurde.  Eine  ganze  Serie  von  Bildern 
behandelt  —  nicht  das  wilde  Zechen,  sondern  die  milde  Freude  an  Gottes  Gabe.  Von  diesen  «Wein¬ 
proben»  sei  namentlich  derer  Erwähnung  gethan,  die  den  Titel  «Goldklar!»  führt  und  zweimal  gemalt 
ist.  «Bei  Hochwürden  zu  Tisch»  zeigt  uns  die  behäbige  Sonntagstafel  eines  Weltgeistlichen.  «Nach 
schwerer  Sitzung»  und  «Angeheitert»  schildert  weinselige  Weltkinder,  die  trunkfesteren  Mönchen 
o-eo-eniiber  den  Geistern  des  Weines  schmählich  unterlegen  sind.  Eine  Anzahl  von  Bildern  stellt 
schlechthin  zechende  Mönche  in  allen  Ivuttenfarben  dar,  ohne  weitere  Pointe;  immer  aber  sind  sie  so 
harmlos  liebenswürdig  erfasst,  dass  wohl  nur  ein  sehr  Unverständiger  darüber  beleidigt  sein  könnte. 

Aus  einer  der  hier  nachgebildeten  Studien  Grützner’s  mag  der  Leser  der  «Kunst  unserer  Zeit» 
ersehen,  wie  pittoresk  eine  Klosterbibliothek  in  Wahrheit  aussieht.  Natürlich  hat  Jener  denn  auch 
gar  manche  Szene  in  dieses  malerische  Milieu  verlegt:  «In  der  Klosterbibliothek»,  «Ein  pikanter 
Klassiker »  u.  s.  w.  Allerhand  studirende  Klosterherren  in  schönen  anheimelnden  Stuben  kommen 
dazu.  Die  foliantenüberladenen  Tische,  das  alte  Getäfer  und  Geräth  hat  Grützner  immer  mit  ganz 
besonderer  Liebe  ausgeführt,  wie  denn  überhaupt  das  Malen  von  Stillleben,  von  Stoffen  in  grossem 
und  kleinem  Format  von  ihm  mit  ganz  besonderer  Meisterschaft  geübt  wird.  Zu  den  Klosterbildern 
gehören  noch:  «Sepp’s  Schnaderhüpfln »  «Klosterschäfflerei»,  «Der  Klosterhecht»  und  ein  anderes 
grosses  Bild  aus  der  Klosterküche,  «Fasttag»,  oder  ähnlich  genannt,  «Rasiertag  im  Kloster»,  «Kneip- 
collegium»,  «Klosterkegelbahn»  und  «Keinen  Tropfen  mehr»,  zwei  Bilder  mit  zahlreichen  Porträts 
bekannter  Münchener  Persönlichkeiten,  «Einst»  und  «Jetzt»,  zwei  prächtige  Pendants,  von  denen  eins 
einen  kunstübenden  Mönch  früherer  Zeit  darstellt,  das  zweite  aber  einen  anderen  Klosterbruder,  der 
mit  dem  "I  Lincherpinsel  ein  altes  Freskobild  zerstört.  Es  liegt  ein  gewisser  grimmiger  Humor  in  dem 
zweiten  Bilde,  indem  der  Künstler  seinem  gerechten  Zorn  darüber  Luft  macht,  dass  oft  gerade  in 
Klöstern  die  köstlichsten  Werke  alter  Kunst  durch  rohen  Unverstand  zu  Grunde  gerichtet  wurden. 
«Zu  Ehren  seiner  Eminenz»  zeigt  musicirende  Mönche  u.  s.  w.  u.  s.  f.  Die  Darstellungen  einzelner 
Brüder,  welche  mit  Wein  oder  Bier,  mit  Beten  oder  Lesen,  mit  stiller  Beschaulichkeit  oder  irgend 
einer  Hantirung,  z.  B.  P lickschneidern,  beschäftigt  sind,  weiss  Grützner  wohl  selbst  nicht  mehr  zu 
zählen.  Feuchtfröhlich  sind  die  Meisten,  doch  gleicht  Keines  ganz  dem  Andern  ;  selbst  dann  wieder¬ 
holt  sich  der  Künstler  nicht  «wörtlich»,  wenn  er  im  Aufträge  eines  Liebhabers  ein  Bild  zum  zweiten 
Male  zu  malen  hatte.  So  sind  auch  die  zwei  Varianten  der  «Versuchung  des  heiligen  Antonius»  in 
allen  Einzelheiten  verschieden.  Die  Neuere  (1895)  davon  ist  hier  abgebildet,  die  Andere,  welche  den 
Asketen  als  Greis  und  nicht  wie  hier  als  jüngeren  Mann  zeigt,  ist  1887  entstanden  und  ist  im  Besitze 
des  Grossherzogs  von  Sachsen-Altenburg.  Der  Künstler  selbst  sagt,  dass  ihm  dieses  Bildes  Vollendung 
die  grösste  innere  Befriedigung  in  seinem  ganzen  Schaffen  gewährte.  Zur  Zeit,  da  diese  Zeilen  in 
die  Presse  gehen,  steht  auf  Grützner’s  Staffelei  wieder  ein  grosses  Mönchsbild,  das  ein  Concert  in 
einem  Bibliotheksaal  darstellen  wird. 

Zu  den  «frommen»  wenn  auch  nicht  klösterlichen  Bildern  des  Meisters  gehört  Eines,  das  zu- 
gleich  seinen  allervollendetsten  Werken  beizählt:  das  Bild  der  heiligen  Nothburga,  für  ein  Bildstöckel 
in  Tirol  gemalt.  Grützner  s  Villa  in  Rothholz  über  dem  Innufer  bei  Jenbach  steht  am  Fusse  des 


pjl* 

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Hanfstaeugl,  Mnucheu 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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tannenumrauschten  Berges,  der  die  Rottenburg  trägt.  Und  in  dieser  Burg  soll  die  Heilige  als  Magd 
gehaust  und  sämmtliche  Unbilden,  welche  die  Dienstbarkeit  unter  einem  richtigen  Hausdrachen  mit 
sich  bringt,  mit  Engelsgeduld  ertragen  haben.  Die  Burg,  die  heute  dem  Bischof  von  Brixen  gehört, 
hat  Grützner  gepachtet ;  sie  enthält  noch  einige  primitive  aber  schattige  Gemächer,  in  denen  sich  ein 
frisches  Glas  rothen  Tirolers  nicht  übel  trinkt.  Am  Fusse  des  Burgberges  nun  hat  der  Maler  vor 
etlichen  Jahren  den  Rothholzern  ein  Bildstöckel  mit  dem  Bilde  der  in  Tirol  sehr  populären  Heiligen 
errichtet,  wie  sich  sobald  nicht 
wieder  Eines  finden  wird,  ein 
Kunstwerk,  das  in  seiner  Intimität 
und  Lieblichkeit  an  Holbein  ge¬ 
mahnt  und  zudem  einen  präch¬ 
tigen  Volkstypus  verkörpert.  Die 
Frauensleute,  die  mit  allerhand 
Anliegen  zu  der  kleinen  Kapelle 
auf  der  Rottenburg  wallfahrten, 
knieen  gerne  zuvor  im  Gebet  vor 
dem  anmuthigen  Bilde  der  heiligen 
Magd ;  wenn  das  einmal  ein  wenig 
die  Patina  des  Alters  hat,  wer 
weiss,  ob  es  nicht  noch  Wunder 
thut.  Der  Boden  in  Tirol  ist 
solchen  geheimnissvollen  Dingen 
ja  recht  günstig  und  Nothburga 
selbst  hat  Wunder  genug  ge- 
than  So  warf  sie,  als  das  Ave- 
läuten  sie  bei  der  Arbeit  über¬ 
raschte,  die  Sichel  in  die  Luft 
und  die  blieb  da  hangen,  und 
auch  das  Rosenwunder  der  hei¬ 
ligen  Elisabeth  soll  sie  mit  ge¬ 
ringer  Variation  copirt  haben.  Ed ■  Grützner.  Studie 

Wird  im  Vorigen  von  einer  Verwandtschaft  mit  Holbein  gesprochen,  so  sei  erwähnt,  dass  noch 
ein  paar  kleine  Arbeiten  des  Künstlers,  für  den  im  Uebrigen  die  alten  Meister  zum  Anschauen  und 
nicht  zum  Nachmachen  da  sind,  auf  solchen  Ehrentitel  Anspruch  haben,  wie  die  Bildnisse  seiner  Gattin 
und  seiner  Tochter,  sprechend  ähnlich  und  wunderbar  beseelt. 

So  wenig  als  die  Klosterbilder  lassen  sich  die  ausschliesslich  «weltlichen»  Werke  unseres 
Meisters  mit  nur  annähernder  Vollständigkeit  hier  aufzählen.  Da  ist  der  humorvolle  « Sonntagsjäger », 
«Einfädeln»,  «Auf  derPürsch»,  «  Schwere  Wahl »,  «Wilderer»  und  zahlreiche  andere  Weidmannsbilder, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


da  sind  die  köstlichen  Typen  der  «Drei  Münchener»,  «Sepps  Schnadahüpfln»,  das  dreitheilige  «Bier, 
Wein,  Schnaps»  (den  Wein  repräsentiren  allerdings  wieder  zechende  Klosterherren),  da  ist  die,  wie 
erwähnt,  mit  vollendeter  Realistik  gemalte  «Branntweinschenke»  mit  den  erschreckend  wahren  Typen 
verkommener  Alkoholiker,  da  sind  verschiedentliche  vergnügte  Landsknechte  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Gar 
oft  hat  der  Künstler  auch  Laienvolk  und  Cleriker  durcheinander  gemengt,  wie  in  seinem  « Falstaff 
im  Kloster»,  «In  der  Klemme»  etc. 

Verhältnissmässig  selten  ist  auf  Grützner’s  Bildern  das  Weib  zu  finden.  Das  mag  ja  zunächst 

an  seinen  Stoffen  liegen;  sicher  ist  die  Ursache  aber  auch  darin  zu  suchen,  dass  er  nichts  Anderes 

als  lebendige  Menschen  malen  mag,  keine  eonventionellen  Typen,  wie  sie  ungezählte  Genremaler, 
wenn  sie  vom  Kapitel  «Weib»  erzählen,  uns  in  zuckersüsser  «  Allerliebstheit»  vorführen.  Solche 
Dämchen  passen  nicht  zu  Grützner’s  Art  und  die  Art,  die  er  gerne  malen  mag,  passt  vielfach  nicht 
zu  seinen  Bildern.  Wer  aber  zweifelt,  ob  Griitzner  Frauen  malen  kann,  betrachte  einmaiseine  «Ver¬ 
suchung»,  seine  Darstellung  des  Dortchen  und  anderer  Shakespearegestalten,  die  kernfrische,  gesunde 
Charakteristik  seiner  Bauernmädchen,  Kellnerinnen  u.  s.  f.  Auch  ein  grösseres  Bild  aus  einem  Frauen¬ 
kloster,  Nonnen,  die  einen  Altar  für  den  Festtag  schmücken,  haben  wir  von  Grützner’s  Fland  zu  sehen 
bekommen,  aber  es  hatte  nicht  das  volle,  kräftige  Leben  seiner  Mönchsbilder.  Und  ganz  natürlich: 

es  ist  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  eine  grössere  Anzahl  von  Frauentypen  im  Nonnenkleid,  das  ja 

allen  individuellen  Charakter  unterdrückt,  in  so  scharfer  Charakteristik  auseinander  zu  halten,  wie  eine 
gleiche  Zahl  unterschiedlicher  Männerfiguren,  Man  müsste  die  Charakteristik  bis  an  die  Grenze  der 
Caricatur  treiben,  die  man  beim  Zeichnen  männlicher  Köpfe  auch  ruhig  einmal  streifen  mag.  Die 
Frau  verträgt  dergleichen  nicht.  Ihr  Reiz  ist  Heiterkeit,  nicht  derber  Humor,  sie  ist  schön,  wenn  sie 
lächelt,  nicht  wenn  sie  lacht. 

Grützner’s  Modelle?  Auch  von  denen  Hesse  sich  mancherlei  erzählen.  Seine  Bekannten  hat  er, 
soweit  sie  irgend  malerisch  verwerthbar  waren,  vielfach  in  Bildern  verewigt,  waren  es  nun  Künstler 
oder  Generäle,  Schauspieler,  Sänger,  Architekten,  Kaufleute,  oder  sonst  was.  Neben  den  Berufs¬ 
modellen  holte  er  sich  manchen  drolligen  Typus  frisch  weg  von  der  Strasse,  von  der  Schenke  und 
so  manche  Urmünchener-Figur  hat  ihn  mit  grossem  Stolze  wiederholt  gesessen,  ob  er  gleich  nicht  im 
Rufe  steht,  zu  «schmeicheln».  Seine  Jägerfiguren,  Leute  mit  sonnenbraunen  Gesichtern,  mit  Falken¬ 
augen  und  schnittigen,  markanten  Zügen,  nimmt  er  sich  in  Rothholz  direkt  aus  dem  Wald  und  an 
Regentagen,  wo  draussen  nicht  gut  sein  ist,  sitzt  dann  der  halbwilde  Holzknecht  oder  Waldhüter  in 
des  Malers  kleinem  Sommeratelier  und  wundert  sich,  was  dieser  wohl  Schönes  an  ihm,  dem  alten 
verwetterten  Loder  finden  ma£. 

Sonst  malt  Eduard  Grützner,  wie  gesagt,  den  Sommer  über  wenig.  Lieber  geniesst  er  in 
behaglicher,  freilich  nur  äusserlicher  Müssigkeit  die  erquickende  Stille  der  Landschaft  und  saugt  die 
wundervollen  Schönheiten  der  Landnatur  in  sich  auf.  Sein  Park,  in  dem  jeder  Strauch  und  Baum 
zu  sehen  ist,  der  in  der  Heimath  gedeiht,  gibt  ihm  leichte  und  schwere  Arbeit  in  Fülle.  Jeden  Stamm, 
der  dort  steht,  bis  auf  ein  paar  riesige  alte  Fichten,  hat  er  selbst  gepflanzt.  Jeder  wuchernden  Hecke 
schreibt  seine  Hand  die  richtige  P'orm  vor.  Aus  einer  wüsten  Grashalde  hat  er  so  ein  Landschafts- 


Ed.  Grützner.  Studie  Ed.  Grützner.  Studie 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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paradies  geschaffen,  in  dem  man  auf  jeden  Schritt  neuen,  abwechslungsreichen  Bildern,  neuen  An¬ 
nehmlichkeiten  und  Reizen  begegnet.  Das  geräumige  Haus  umgibt  zu  allen  Jahreszeiten  der  üppigste 
Blumenflor.  Gaisblatt  und  Kletterrosen,  Glycinien  und  Wein  ranken  sich  bis  zum  Dach  hinauf  in 
unerschöpflicher  Fülle  und  der  Garten  um’s  Haus  strahlt  in  den  buntesten  Farben  in  der  Rosenzeit, 
wie  im  Herbst,  wo  die  Sonnenblumen  und  wuchernden  Astern  sein  Gewand  in  der  herrlichsten  Pracht 
erscheinen  lassen.  Dieses  Tiroler  Heim  ist  auch  ein  Kunstwerk  Eduard  Grützner’s,  keins  seiner 
schlechtesten  noch  dazu  und  überdies  Eines,  aus  dem  der  Mensch  Griitzner  am  Allerdeutlichsten  spricht. 

Dass  seine  grossen  Erfolge  übrigens  Andere  oft  nicht  schlafen  lassen,  kann  man  sich  denken. 
Nicht  viele  Maler  wurden  je  so  systematisch  nachgemacht,  wie  er,  mit  allem  möglichen  Raffinement 
wurden  ihm  seine  Modelle  wegstibitzt,  seine  Klosterszenen  nachgemalt  —  aber  schlecht  genug.  Es 
wäre  für  den,  der  den  Künstler  nicht  ganz  sollte  würdigen  können,  recht  lehrreich,  eine  solche  matte 
Copie  neben  dem  Original  zu  sehen,  wie  da  die  Feinheit  der  Ausführung  zur  charakterlosen  Glätte 
wird,  das  Lachen  zum  Grinsen,  der  Humor  zur  Fratze.  Drüben  im  Lande  der  Dollars  treiben  sich 
genug  von  Stümpern  bemalte  Brettchen  herum,  die  auf  dem  Weg  über  das  grosse  Wasser  ihre  Namen 
gewechselt  haben  und  jetzt  «Ed.  Griitzner»  heissen.  Manche  dieser  Nachahmer  waren  unverfroren 
genug,  den  Modellen,  die  sie  dem  Künstler  weggeschnappt,  auch  noch  aufzutragen,  sie  sollten  sich 
die  echten  Kutten  und  alten  Gewänder  verschaffen,  in  denen  sie  Grützner  gemalt.  Das  ist  doch 
beinahe  schon  so,  als  ob  ein  Falschmünzer  ins  Münzamt  schickte  mit  der  Bitte,  man  möge  ihm  dort 
seine  Zinnplättchen  zu  Thaler  prägen. 

Dem  Künstler  haben  die  Concurrenten,  die  so  gerne  auf  seinem  Acker  pflügten,  weiter  nicht 
geschadet  —  weder  an  seinem  Ruf,  noch  an  seinem  Humor,  noch  an  seiner  fast  beispiellosen  Popu¬ 
larität.  Es  ist  damit,  wie  mit  dem  Wein:  Was  immer  aut  der  Welt  an  gefälschtem  Nass  unter  der 
Marke  Niersteiner  oder  Liebfrauenmilch  getrunken  werden  mag  —  der  echte  Wein  verliert  darum 
weder  an  Köstlichkeit,  noch  an  Werth. 

Was  sollen  wir  hier  noch  von  Eduard  Grützner  erzählen.  Dass  er  auch  in  der  Kunst,  Mensch 
zu  sein,  in  jeder  Form  Meister  ist,  dass  seine  Tage  im  schönen  Gleichmass  hinfliessen  in  wohlthätigem 
und  gesundem  Nebeneinander  von  Arbeit  und  Freude,  ward  schon  gesagt.  Dass  er  mit  Stolz  von 
sich  sagen  kann,  seit  seinen  ersten  grossen  Erfolgen  habe  er  in  seiner  Kunst  und  seiner  Beliebtheit, 
als  deren  Gradmesser  der  Kunsthandel  gelten  mag,  keine  Einbusse  erlitten,  ist  ebenfalls  schon  fest- 
gestellt.  Dass  die  spielende  Leichtigkeit  des  Schaffens  bei  ihm  nicht  abgenommen  hat,  dass  er  trotz 
reicher  Production,  trotz  dem  Zwange,  sich  stofflich  in  gewisser  Einschränkung  zu  halten,  nicht  flacher, 
nicht  gleichgültiger,  nicht  liebloser  in  seiner  Kunst  geworden  ist,  dass  er  sich,  obwohl  die  Nachfrage 
nach  seinen  Bildern  selbst  sein  reiches  Schaffensvermögen  weit  übersteigt,  sich  nie  zum  pietätlosen 
Ausbeuter  verleiten  lässt,  sei  noch  einmal  betont.  Elf  Andere  unter  Zwölfen  im  gleichen  Fall  Hessen 
sich  wohl  das  Gegentheil  nachsagen  und  hätten  sich  dann  auch  längst  ausgegeben.  Er  aber  schafft 
fröhlich  weiter,  unbeirrt  und  mit  alter  Frische,  immer  er  selbst. 


PETER  JANSSEN 


Es  liegt  aut'  der  Hand,  dass  die  grossartigen  Umwälzungen  in  der  deutschen  Kunst  während  des 
letzten  halben  Jahrhunderts  ein  verkleinertes  Spiegelbild  in  jeder  der  deutschen  Kunststätten  gefunden 
haben,  ein  Spiegelbild,  das  je  nach  der  Bedeutung  des  Ortes,  mehr  oder  weniger  getreu  jene  Strömungen  und 
den  unleugbaren  Aufschwung  der  deutschen  Kunst,  insbesondere  der  Malerei,  wiedergiebt.  Es  ist 
ebenso  begreiflich,  dass  im  Laufe  eines  Zeitraums,  der  kaum  ein  Menschenalter  umspannt,  zahlreiche 
schaffende  Männer  von  den  fiuthenden,  vorwärtsdrängenden  Wogen  überholt  worden  sind  und  sich 

heute  einer  Zeit  gegenüber  sehen,  die  sie  nicht  verstehen, 
und  die  sich  ihrer  nur  mühsam  noch  erinnert.  Wenn  in  den 
secessionistischen  Bewegungen  der  letzten  sechs  Jahre  eine 
Generation  über  eine  andere,  nicht  viel  ältere,  zu  triumphiren 
scheint,  so  ist  es  vollkommen  richtig,  wenn  letztere  sich 
damit  tröstet,  dass  sie  es  in  ihrer  Jugend  ebenso  gemacht 
habe.  Ein  Menschenalter  in  der  Kunst  ist  in  diesen  Tagen 
eben  kein  Menschenalter  mehr  lang,  und  nicht  der  alte  Künstler 
ist  es,  der  von  der  vorwärtsdrängenden  Jugend  überholt  wird, 
sondern  nur  zu  oft  der  im  besten  Schaffensalter  Stehende,  der 
kaum  von  seinem  letzten  Siege  sich  ausgeruht  hatte. 

Aber  es  ist  dafür  gesorgt,  dass  die  Bäume  nicht  in  den 
Himmel  wachsen,  und  es  ist  immer  noch  weit  bis  zu  den 
Sternen.  Schneller  als  ehemals  wendet  sich  das  Rad  der 
Kunst,  aber  schneller  auch  kehrt  es  zum  früheren  Standpunkt 
zurück  und  um  in  den  Kreisen,  die  es  zieht,  die  aufwärts¬ 
führende  Spirale  zu  sehen,  bedarf  es  keineswegs  eines  un¬ 
sterblichen,  sondern  nur  eines  aufmerksamen  Auges. 

Denn  ist  es  ungerecht,  in  dem  heissen  Vorwärtsstreben,  das  sich  allerorts,  wo  man  Kunst  pflegt, 
bemerklich  macht,  nicht  ein  wirkliches  Fortschreiten  sehen  zu  wollen,  so  ist  es  freilich  thöricht,  in 
jeder  Ausgeburt  der  erhitzten  Phantasie  jedesmal  das  nunmehr  endlich  glücklich  erreichte,  einzig  Wahre  zu 
erblicken,  um  es  gleich  darauf  fallen  zu  lassen  und  in  schnellerem  Vergessen  und  Missachten  des  eben 
Gewonnenen  nach  immer  anderen  Früchten  zu  greifen,  und  die  letzten  für  die  besten  zu  halten.  Sicher¬ 
lich  ist  in  den  letzten  50  Jahren  die  deutsche  Kunst  schneller  vorwärts  gegangen,  als  je  zuvor  und 


Peter  Janssen 
geboren  am  12.  Dezember  1844 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


die  Kunststadt  am  Rhein  spielt  in  diesem  Fortschreiten  ihre  eigene  und  nicht  unwichtige  Rolle.  Von 
Cornelius  zu  Rethel  scheint  es  wie  ein  Jahrhundert.  Hier  stehen  zwei  Weltanschauungen  einander 
o-eoenüber.  Von  Schadow  zu  Bendemann  war  es  der  normale  Aufstieg  des  akademischen  Malerthums, 
aber  Bendemann,  der  bis  in  die  neue  Zeit  des  überschnellen  Fortschritts  hineinlebte,  hatte  es  schon 

nicht  mehr  vermocht,  sich  dem  Verständniss  des  Neuen  und  Neuesten  zu  erhalten  :  zu  viel  war  in  den 

Jahren  seines  Schaffens  entstanden,  ergriffen  und  wieder  fallen  gelassen  worden.  Nur  wenigen  Künstlern 
in  ganz  Deutschland,  die  an  der  Wende  des  halben  Jahrhunderts  geboren  sind,  ist  es  überhaupt  be- 
schieden,  sich  am  Ende  dieses  Jahrhunderts  noch  auf  der  Höhe  zu  zeigen.  Einigen  gelang  es  nur 
desshalb,  weil  sie  in  der  Jugend  ihrer  Zeit  voraneilten  und  bis  zum  Mannesalter  das  karge  Brod  der 
Verkannten,  und  das  ist  nicht  besser  als  der  Verbannten,  essen  mussten.  So  Böcklin,  Hans  Thoma 
und  der  vornehmste,  dessen  Zeit  noch  immer  nicht  gekommen  scheint,  obwohl  er  der  älteste  ist, 

Feuerbach.  Ganz  Wenige  aber  sind  es,  die  in  der  Jugend  sich  an  die  Spitze  stellten  und  noch  heute 

bei  dem  eiligen  Sturm  die  Führung  nicht  aus  der  festen  Hand  gegeben  haben,  und  dieser  Wenigen 
Einer  ist  der  Maler,  dessen  Werk  die  nachfolgenden  Blätter  gewidmet  sind,  Peter  Janssen. 

Freilich  ein  mehr  äusserer  Umstand  darf  nicht  übersehen  werden,  der  das  Verdienst  einer  so 
langen  und  unbestrittenen  Führerschaft  —  nicht  schmälert,  aber  sie  in  etwas  auch  aus  sachlichen  Gründen 
erklärt.  Peter  Janssens  Feld  ist  die  Monumentalmalerei,  die  Mauermalerei,  wie  die  Belgier  sagen, 
und  dieser  Zweig  der  Kunst  ist  aus  natürlichen  Gründen  den  Tagesströmungen  nicht  so  unterworfen, 
wie  die  Staffeleimalerei:  andererseits  ist  er  aber  auch  wie  kein  anderer  geeignet,  den  Fortschritt  oder 
Rückschritt  in  der  Kunst  eines  Volkes  oder  eines  Meisters  in  grossen  und  unverkennbaren  Zügen 
zu  zeigen.  Schon  die  Länge  der  Zeit,  die  eine  monumentale  Arbeit  in  Anspruch  nimmt,  die  zwingende 
Nothwendigkeit  zu  Vorarbeiten,  welche  die  Staffeleimalerei  gelegentlich  entbehren  oder  sogar  für 
schädlich  halten  zu  können  glaubt,  nöthigen  den  Monumentalmaler  zu  einer  Selbstzucht,  die  den  Stürmern 
und  Drängern  zu  ihrem  eigenen  Schaden  nur  zu  oft  abgeht. 

Ist  so  die  monumentale  Kunst  gewissermassen  das  Rückgrat  der  Malerei,  so  wäre  es  nur  zu 
wünschen,  dass,  wie  es  in  der  goldenen  Zeit  der  italienischen  Renaissance  der  Fall  war,  allen  unsern 
Figurmalern  hier  und  da  Gelegenheit  geboten  wäre,  auf  grossen  Flächen  in  architektonisch  gegebenen 
Rahmen  Entwürfe  auszuführen,  und  nicht  in  der  grössten  Mehrzahl  ausschliesslich  auf  das  Staffeleibild 
beschränkt  zu  bleiben.  — 

Peter  Janssen  wurde  am  12.  Dezember  1844  in  Düsseldorf  geboren,  als  erster  Sohn  des  Kupfer¬ 
stechers  T.  W.  Theodor  Janssen,  der  zum  Studium  der  Malerei  aus  seiner  Heimath  Ostfriesland  hierher 
gezogen  war,  aber  durch  die  Umstände  sich  veranlasst  gesehen  hatte,  statt  der  Malerei,  die,  damals 
noch  in  der  Blüthe  der  Linienmanier  stehende  Kupferstecherkunst  zu  pflegen.  Wie  sehr  aber  das 
malerische  Element  in  dem  Vater  schon  vorwog,  das  bewiesen  die  Stiche,  die  er  ausführte,  die  in  jener 
trockenen  Zeit  schon  eine  farbige  Wirkung  erreichten,  welche  seine  Blätter  auch  heute,  in  den  Tagen 
der  wieder  erwachenden  Malerradirung,  noch  auszeichnen.  Die  Wiedergabe  des  berühmten  «Examen 
des  Candidaten  Hieronymus  Jobs»  nach  dem  Bilde  seines  Schwagers  Hasenclever  wird,  und  nicht  bloss 
als  die  hervorragendste  Leistung  der  Kupferstecherei  zu  jener  Zeit,  für  immer  ihren  Werth  behalten. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Peter  Janssen.  Hermannsschlacht  (Fragment),  Crefeld 


So  war  der  Vater  denn  wie  kein  anderer  und  wahrscheinlich  mit  grösserem  Erfolg,  als  die  späteren 
Lehrer,  der  erste  und  berufenste  Leiter  des  Knaben,  der  schon  ausserordentlich  früh  ein  hervor¬ 
ragendes  Talent  zeigte.  Friedrich  Pecht  erzählt  von  einem  Blatte,  das  der  Dreijährige  entworfen  hat, 
und  das  in  seiner  Eigenart  allerdings  merkwürdig  genug  die  Richtung  andeutet,  welche  das  Schaffen 
des  reifen  Künstlers  genommen  hat.  Es  war  ein  Bild  des  sterbenden  Grossvaters,  der  dem  am  Bette 
stehenden  Arzte  die  Zunge  zeigt.  Aber  hinter  Beiden  steht  der  Engel,  der  die  Seele  des  Gestorbenen 
in  den  Himmel  leiten  soll.  Also  schon  damals  jene  naive,  fast  herbe  Naturbeobachtung,  verbunden  mit  der 
aus  innerster  Seele  geschöpften,  versöhnenden,  echt  künstlerischen  und  geistigen  Lösung  des  Geschauten. 

Der  selbst  hochgebildete  Vater  hielt  den  Knaben  bis  zum  15.  Jahre  in  der  Schule  zurück, 
freilich  nicht,  ohne  ihn  in  den  Nebenstunden  durch  künstlerischen  Unterricht  für  den  künftigen  Beruf 
vorzubereiten,  und  so  legte  der  junge  Maler  in  der  Jugend  schon  den  Grund  zu  einer  umfassenden 
Bildung,  die  ihm  so  in  Fleisch  und  Blut  überging  und  nicht  erst,  wie  von  manchem  andern  Künstler 
in  späteren  Jahren  mühsam  erworben  werden  musste,  nachdem  ihr  Mangel  sich  in  den  ersten  Werken 
unangenehm  fühlbar  gemacht  hätte.  Zu  dieser  Bildung  gehörte  vor  Allem  auch  die  Kenntniss  der 
grossen  Dichter,  die  freilich  nie  in  den  Schöpfungen  des  Malers  als  Hauptmotiv  sich  bemerkbar  macht, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wie  es  zur  Zeit  der  Romantik  gerade  in  Düsseldorf  nur  zu  sehr  der  Fall  war,  und  dadurch  die  Ge¬ 
schichtsmalerei  eeleo-entlich  hat  zur  Buchillustration  werden  lassen. 

Peter  Janssens  akademische  Lehrzeit  begann,  als  der  alt  und  kränklich  gewordene  Schadow  noch 
an  der  Akademie  sein  despotisches  Regiment  führte,  und  die  Kunst  nach  seinen  Doctrinen  zu  züchten 
suchte.  Carl  Müller,  der  erste  Lehrer  Janssens,  obwohl  weicher  und,  wie  die  Folge  gelehrt  hat, 
elastischer  und  gesünder  als  Schadow,  vermochte  dennoch  der  urkräftigen  Natur  des  Jünglings  nicht 
das  zu  bieten,  wonach  sie  verlangte,  jund  auch  Bendemann,  der  wenige  Jahre  später  1863  nach 
Schaclows  Tode  die  Direction  der  Akademie  und  die  Meisterklasse  übernahm,  in  welch’  letztere  Peter 
Janssen  übertrat,  konnte  nur  einen  verhältnissmässig  geringen  Einfluss  auf  den  begabten  Schüler  ausüben. 

War  doch  Bendemann,  der  die  Akademie  aus  dem  Stillstand,  um  nicht  zu  sagen  der  Versumpfung, 
in  die  sie  unter  Schadow  gerathen  war,  zu  neuem  Leben  erwecken  sollte,  seinem  Vorgänger,  seiner  Natur 
und  seinem  Ursprung  nach  zu  ähnlich,  um  mehr  als  äussere  Erfolge  bei  seinen  Schülern  zu  erreichen. 

Schadow  sowohl,  wie  Bendemann  mussten  als  geborene  Berliner  dem  niederrheinischen,  süd¬ 
licheren  Wesen  innerlich  stets  fremd  bleiben.  Jene  ästhetisch-kommerzielle  Richtung,  die  aus  Veran¬ 
lagung,  wie  aus  dem  Berliner  Ursprung  hervorging,  hat  bei  beiden  nicht  verfehlt,  den  äusseren  Glanz 
der  akademischen  Schule  in  Düsseldorf  zu  heben,  für  wahrhaft  künstlerische  Erhebuno-  und  Förderung 
erwies  sie  sich  gelegentlich  als  nur  zu  wenig  günstig.  Dazu  kam,  dass  auch  Carl  Sohn,  der  Janssens 
Lehrer  in  der  Malklasse  war,  Berliner  war  und  so  der  junge  Mann  bei  keinem  seiner  Lehrer  jenes 
geheimnissvolle  Verständniss  finden  konnte,  das  auf  Rasseverwandtschaft  und  Landsmannschaft  beruht. 

So  kam  es,  dass  Janssen,  der  auch  nach  aussen  hin  schon  früh  sich  aul  eigene  Füsse  zu  stellen 
genöthigt  war,  sich  die  Lehrer,  die  Vorbilder  ausserhalb  der  Schule  selber  suchte,  und  er  war  da  in 
der  glücklichen  Lage,  sie  in  zwei  grossen  Geistern  zu  finden,  die  der  Heimath  entsprossen  waren,  von 
denen  einer  gerade  damals  seine  grössten  Werke  in  nächster  Nachbarschaft  zu  schaffen  begonnen  hatte. 

Diese  beiden  Vorbilder  waren  Peter  v.  Cornelius  und  Alfred  Rethel  und  wunderbar  passten 
beide  zu  dem  schon  so  früh  sich  offenbarenden  Doppelwesen  in  der  Künstlernatur  Janssens. 

Mussten  die  tiefsinnigen  Cartons  von  Cornelius  die  Phantasie  mächtig  anregen,  so  waren  es 
doch  vor  Allem  die  Arbeiten  Rethels,  besonders  dessen  eben  vollendeten  Fresken  im  Rathhaus  zu 
Aachen,  welche  in  ihrer  Mischung  von  gewaltigster,  schöpferischer  Composition  und  einem,  zu  jener 
Zeit  noch  unerhörten  Realismus  der  Naturbeobachtung,  einen  unverwischlichen  Eindruck  auf  den  Heran- 
reifenden  machten.  Ein  Eindruck,  der  sich  in  den  ersten  Arbeiten  Janssens,  die  bald  folgten,  sowie 
in  dem  Verhältniss  zu  seinen  akademischen  Studien  bald  genug  aussprechen  sollte. 

Das  erste  grosse  Bild,  das  Janssen  unter  Bendemann  ausführte,  war  eine  Verleugnung  Petri, 
das  im  Carton  1865  fertig  und  in  Düsseldorf  ausgestellt  wurde.  Die  Vollendung  des  Bildes  zog  sich 
aber  bei  den  Widersprüchen,  die  zwischen  der  Natur  janssens  und  der  seiner  Lehrer  immer  mehr  zu  läge 
traten,  bis  zum  Jahre  1869  hin,  wo  das  Gemälde  auf  der  internationalen  Kunstausstellung  zu  München 
ausgestellt  wurde,  zwar  kein  Aufsehen  erregte,  aber  gebührende  Anerkennung  fand. 

Die  erwähnten  Verschiedenheiten  des  Naturells  bei  Janssen  und  Bendemann  hatten  ersteren 
indessen  nicht  gehindert,  bei  dem  allezeit  hochverehrten  Lehrer  alles  das  zu  lernen,  was  Bendemann 


Peter  Jansseu  pinx. 


Pliot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Peter  Janssen.  Thusnelda  im  Triumphzug  des  Germanikus,  Crefeld 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


in  reichem  Maasse  zu  lehren  im  Stande  war,  vor  allem  jene  Gewissenhaftigkeit  sowohl  der  Natur,  als 
auch  der  aufgenommenen  künstlerischen  Arbeiten  gegenüber,  jene  Gewissenhaftigkeit,  die  nicht  nach¬ 
lässt,  bis  alles  Erreichbare  erreicht,  alles  Thunliche  gethan  ist.  Man  wird  nicht  fehl  gehen,  wenn 
man  diese  Eigenschaften,  die  auch  Janssens  Lehrthätigkeit  später  in  so  hohem  Maasse  unterstützen  und 
auszeichnen  sollten,  auf  das  Vorbild  Bendemanns  zurückführt,  während  den  eigentlich  künstlerischen 
Einfluss  Janssen  bei  der  ersten  grossen  Monumentalarbeit,  zu  der  er  den  Auftrag  sich  errang,  wie  gesagt, 
ohne  Zweifel  bei  dem  stamm-  und  we^ensverwandten  Rethel  fand. 

Es  handelte  sich  um  die  Ausmalung  des  Crefelder  Rathhaussaales,  für  die  eine  Conkurrenz 
ausgeschrieben  war.  Obwohl  der  junge  Künstler  den  vorgeschriebenen  Stoff,  «Geschichte  der  Stadt 
Crefeld»,  bei  Seite  liess  und,  wohl  unter  dem  Einfluss  der,  schon  damals  mächtig  sich  regenden, 
deutschen  Einheitsgedanken  eine  Geschichte  Armins  des  Cheruskers  in  mächtigen  Zügen  entwarf,  ge¬ 
lang  es  eben  durch  diesen,  mit  sicherem  Blick  über  die  Köpfe  der  anderen  Concurrenten  hinweg 
ergriffenen  Gegenstand,  die  ganze  Concurrenz  umzustossen  und  die  Ausschreibung  einer  neuen  zu  ver- 
anlassen,  in  welcher  der  Stoff  den  Wettstreitenden  überlassen  werden  sollte. 

Janssen  in  froher  Siegesgewissheit  beschloss,  der  neuen  Concurrenz  den  Carton  eines 
der  Hauptgemälde,  der  Hermannsschlacht,  beizufügen  und,  um  ungestört  daran  arbeiten  zu  können, 
seinen  künstlerischen  Gesichtskreis  zu  erweitern,  begab  er  sich  1869  nach  München,  das  unter  den 
Erfolgen  der  erblühenden  Pilotyschule  eben  begann,  sich  zu  der  ersten  Kunststadt  des  damals  noch 
zersplitterten  Vaterlandes  zu  entwickeln. 

Wie  sehr  aber  Janssen  bereits  auf  eigenen  Füssen  stand,  beweist  der  Umstand,  dass  er  in  der 
Fülle  der  Anregungen ,  die  von  allen  Seiten  auf  ihn  einstürmten,  nicht  das  sich  vorgesteckte ,  im 
Innersten  klar  erkannte  Ziel  aus  den  Augen  verlor,  dass  er  sich  von  der  ganzen  Theaterhaftigkeit 
der  damaligen  Münchener  Historienmalerei  nicht  blenden  und  von  der  herben  Natürlichkeit  und  ur¬ 
wüchsigen  Kraft,  die  er  mit  Rethel  gemeinsam  hat,  nicht  zu  dem  innerlich  hohlen  Pomp  verleiten  liess, 
der  als  Vermächtniss  der  belgischen  Repräsentationsmalerei  nach  München  verpflanzt  worden  war. 
Gerade  diesen  beiden  Richtungen  dürfte  sich  kaum  ein  Werk  als  grundverschiedener  entgegenstellen 
lassen,  als  eben  die  Crefelder  Rathhausbilder,  die,  von  1871 — 73  entstanden,  in  4  grossen  und  4  kleinen 
Gemälden,  die  Geschichte  des  ersten  deutschen  Befreiungskampfes  mit  einem  Feuer  und  einer  hin¬ 
reissenden  Kraft  schildern,  wie  sie  der  grandiosen  Erhebung  jener  Tage  würdig  war. 

Die  beiden  Bilder  der  Längswand  sind,  wenn  auch  durch  eine  Thüre  getrennt,  als  ein  Ganzes 
aufzufassen,  als  die  Entscheidungsschlacht  mit  Hermanns  Sieg  und  der  Legionen  Untergang,  und  nie  hat 
unwiderstehliche,  siegende  Macht  eine  unwiderstehlichere  und  hinreissendere  Schilderung  gefunden.  Wie  ein 
Wettersturm  stürzen  die  deutschen  Kämpfer  vorwärts,  keinen  fürchtend,  kein  Hinderniss  beachtend, 
wie  ein  Bergstrom,  der  Alles  mit  sich  fortreisst,  alles  Widerstehende  niederwirft.  Und  dann  auf  der 
rechten  Schmalwand  die  vom  Vater  verrathene  Thusnelda  im  Triumphzuge  des  Germanicus,  nicht 
pathetisch,  nicht  die  Primadonna  in  ihrem  glänzenden  Abgänge,  wie  bei  Piloty,  sondern  in  schlichtester, 
und  deshalb  nur  um  so  ergreifenderer  Auffassung,  das  in  der  Gefangenschaft  geborene  Söhnchen  in 
rührender  Bewegung  an  sich  drückend,  und  über  ihm  und  im  Vertrauen  auf  die  Zukunft  ihres  Volkes 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT, 


63 


Peter  Jarnsen.  Prometheus.  Wandgemälde  in  der  Berliner  Nationalgalerie  (Carton) 


die  unverschuldete  Schmach  vergessend.  Im  letzten  grossen  Bilde,  der  Leichenfeier  Armins  klingt  das 
ganze  Werk  wie  in  einem  mächtigen  Trauermarsch  aus. 

Hier  war  ein  monumentales  Kunstwerk  geschaffen,  wie  es  ausser  Rethel’s  Bilder  in  deutschen 
Landen  noch  nicht  entstanden  war.  Keine  bemalten  Reflexionen  und  Allegorien,  keine  Theaterhelden 
in  überlegten  Posen  waren  da  auf  die  Wand  geklebt,  nein,  eine  ungestüme  Kraft,  ein  unbändiges 
Leben  spricht  aus  diesen  Bildern,  dass  man  meint,  ihre  Gestalten  müssten  den  stillen  Saal  sprengen 
und  über  die  Mauer  hinaus  ins  Freie  stürmen.  Merkwürdig  ist  auch  die  malerische  und  coloristische 
Behandlung;  in  der  beschränkten  Skala,  deren  Höhepunkt  ein  stumpfes  Roth  und  ein  feinsinnig  farbig 
angewandtes  Weiss  sind,  ist  jene  höchst  farbige  Wirkung  erreicht,  wie  sie  die  allerjüngste  Kunst  in  ein¬ 
fachen,  grossen  Flächen  anstrebt.  Auch  die  Art,  wie  in  der  Todtenfeier  Armins  die  ganze  Farben¬ 
wirkung  durch  kräftige  Silhouettirung,  dunkel  gegen  hell,  auf  der  schlecht  beleuchteten  Wand  erzielt  ist, 
erscheint  als  der  erste  und  zweifellos  höchst  gelungene  Versuch  dieser  Art,  dessen  grosse  Wirkung 
durch  keinerlei  andere  Mittel  hätte  erreicht  werden  können.  Nach  Vollendung  der  Crefelder  Wand¬ 
bilder  Ende  1873  zählte  der  noch  thätigen  Gelegenheit  fand.  Auch 

nicht  30  jährige  Künstler  zu  hier  war  die  Wahl  des  Stoffes 

den  berufensten,  deut-  TV ß  A-  ■  '  .  -  '  charakteristisch  für  den 

sicheren ,  künst- 


schen  Historien¬ 
malern  grossen 
Styls,  der  sei¬ 
nen  jungen 
Ruhm  in  einem, 
schon  während 
der  Crefelder 
Arbeiten  erhal¬ 
tenen  Aufträge 
für  den  grossen 
Saal  derBremer 
Börse  auf’s 
Neue  zu  be- 


lerischen  Takt, 
der  sich  nicht 
genügen  lässt 
an  der  äusseren 
malerischen 
Ausstattung, 
sondern  der 
auch  den  geisti¬ 
gen  Inhalt  mit 
dem  Raum  in 
Einklang  zu 
bringen  sucht. 


Peter  Janssen.  Die  Begegnung  Friedrich  des  Grossen  mit  Ziethen  bei  Torgau. 
In  der  Ruhmeshalle  in  Berlin  (Carton) 


G4 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Als  Motiv  wurde  die  Gewinnung  der  Ostseeprovinzen 
für  die  Kultur  durch  die  Colonisation  der  Hansastädte 
gewählt  und  in  einem  grossen,  reich  componirten  und 
lebendig  bewegten  Bilde  dargestellt. 

Bald  nachher,  Ende  1875,  fällt  die  Vollendung 
eines  der  verhältnissmässig  wenigen  Staffeleibilder,  die 
Janssen  gemalt  hat,  «Das  Gebet  der  Schweizer  bei 
Sempach » ,  das  noch  unter  dem  mächtigen  Einfluss 
Rethels  zu  stehen  scheint,  diesen  an  Wucht  des  histo¬ 
rischen  Eindrucks  fast  erreicht,  an  Wahrheit  der  Ge¬ 
stalten  und  Köpfe  aber  übertrifft.  Das  Bild  ist  im 
Besitze  des  Herrn  Görina-  in  Honnef  am  Rhein. 

Um  diese  Zeit,  im  Juli  1876,  wurde  Janssen  dann 
auch  mit  dem  ersten  Staatsauftrag  betraut,  nämlich 
mit  der  Aufgabe,  zusammen  mit  seinem  Lehrer  Bende- 
mann  die  Corneliussäle  der  Nationalgallerie  in  Berlin 
mit  einem  Freskenfries  auszustatten ,  für  den  er  für 
seinen  H  heil  die  Prometheusmythe  wählte ;  sie  ent¬ 
sprach  stofflich  den  Glyptothek -Entwürfen,  die  der  ihm  zugewiesene  Saal  enthalten  sollte. 

Dieser  Auftrag,  bei  dem  nach  Maassgabe  der  zwingenden  Anordnungen  des  leitenden  Architekten 
nach  allen  Seiten  hin  Rücksicht  genommen  werden  musste,  auf  die  Architektur  und  den  gegebenen  Raum 
nicht  sowohl,  als  vor  allem  auf  die  färb-  und  körperlosen  Cartons  selbst,  denen  doch  die  Hauptwirkung 
bleiben  sollte,  schien  nicht  eigentlich  geeignet,  die  Kunst  Janssens,  dessen  Haupteigenschaften  schon  damals 
gesunde  Kraft  und  ein  fast  herber  Naturalismus  in  Form  und  Farbe  war,  in’s  günstigste  Licht  zu  stellen, 
und  doch  gelang  es  dem  Künstler,  in  seiner  Composition  mit  den  denkbar  einfachsten  Mitteln  einer  an 
wenig  Töne  gebundenen  Palette  und  einer  fast  reliefartig  wirkenden  Composition,  wie  sie  auch  dem 
gewählten  Thema  entsprach,  eine  vollendet  schöne  und  vornehme  Wirkung  zu  erzielen.  Freilich  versuchte 
eine  missgünstige  Beurtheilung,  aus  der  beabsichtigten  Zartheit  der  F'arbe  ein  Unvermögen  zu  folgern, 
aber  schon  in  den  Crefelder  Arbeiten  war  dieses  nur  auf  Unkenntniss  oder  absichtlicher  Nichtbeachtung 
der,  oben  kurz  angedeuteten  Verhältnisse  gegründete  Urtheil,  glänzend  widerlegt.  Uebrigens  brachte 
dem  jungen  Künstler  diese  Arbeit  und  die  Ausstellung  von  Skizzen  und  Studien  zu  ihr  und  anderen 
Werken  im  Jahre  80  die  kleine  goldene  Medaille  ein.  Der  Vorschlag,  ihm  sofort  die  grosse  zu  geben, 
scheiterte  an  prinzipiellen  Bedenken,  ohne  die  es  ja  im  lieben  V aterlande  einmal  nicht  geht. 

Nach  der  Vollendung  der  Prometheusbilder  wurde  Peter  Janssen  von  der  Regierung  1878 
beauftragt,  in  der  Aula  des  Lehrerseminars  zu  Mörs  zwei  Bilder  «aushilfsweise»  zu  malen,  nämlich 
aus  einem  Cyclus  der  deutschen  Geschichte,  den  die  Maler  Kehren  und  Commans  begonnen  hatten,  die 
Zeit  von  der  Reformation  bis  auf  unsere  Tage.  Confessionelle  Gründe  hatten  die  genannten  beiden 
Maler  bewogen,  von  der  Ausführung  dieser  Abschnitte  der  deutschen  Geschichte  abzusehen,  und  Peter 


Peter  Janssen.  Bildniss  des  Inspektor  Holthausen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


65 


Janssen  führte  denn  in  seiner  kraftvollen  Weise  diese  denkwürdigen  Epochen  in  zwei  friesartigen 
Compositionen  aus.  Dieselben  beginnen  mit  Huss  auf  dem  Scheiterhaufen .  es  folgt  das  Auftreten 
Tetzeis,  das  Anschlägen  der  Thesen  an  die  Kirchenthür  in  Wittenberg  durch  Luther  und  die  Auf¬ 
stellung  der  Augsburger  Confession.  Das  zweite  Bild  zeigt  Sigismund  von  Brandenburg,  den  grossen 
Kurfürsten  und  die  preussischen  Könige;  Friedrich  Wilhelm  I.,  der  die  vertriebenen  Salzburger  auf¬ 
nimmt,  Friedrich  den  Grossen,  Friedrich  Wilhelm  III.  als  Stifter  der  Union  und  zuletzt  die  Helden  des 


deutschen  Kaiserthums 
Wilhelm  I.,  den  Kron¬ 
prinzen,  Bismarck  und 
Moltke. 

Diesem  Aufträge  folg¬ 
ten  zwei  für  die  Ent¬ 
wickelung  Janssen’s  und 
seiner  Kunst  wichtige 
Ereignisse.  Nämlich  zu¬ 
nächst  seine  Ernennung 
zum  Lehrer  und  Pro¬ 
fessor  an  der  Düssel¬ 
dorfer  Akademie,  dann 
der  Auftrag,  das  Er¬ 
furter  Rathhaus  mit 
Wandgemälden  aus  der 
Geschichte  der  Stadt 
auszuschmücken.  In  der 
Lösung  dieser  beiden 
hohen  Aufgaben,  einer 
wichtigen  Lehrthätigkeit 
und  eines  wirklich  monu¬ 
mentalen,  durch  keinerlei 
Rücksichten  eingeeng¬ 
ten,  grossen  Auftrages, 


Peter  Janssen.  Bildniss  Andreas  Achenbach’s 


sollte  Janssen  sein  eigent¬ 
liches  Element  nach  zwei 
Seiten  hin  finden:  Jene 
Lehrthätigkeit,  der  die 
neuere  Düsseldorfer 
Malerei  zum  allergröss¬ 
ten  Theil  verdankt,  was 
sie  ist,  und  in  den  acht 
Bildern,  die  im  Laufe 
der  nächsten  Jahre  von 
1 8  7  7  —  8i  entstanden, 
das,  was  er  der  deut- 
schenMonumentalmalerei 
zu  geben  berufen  war: 
die  Farbe,  oder  besser 
gesagt,  den  Colorismus 
im  höchsten  und  reich¬ 
sten  Sinne,  in  einem  auch 
nach  der  technischen 
Seite  seither  noch  nicht 
erreichten  Umfang. 

Betrachtet  man  das, 
was  auf  dem  Gebiete  der 
Monumentalmalerei  von 
Cornelius  an  bis  auf 


Kaulbach  geschaffen  worden  ist,  so  wird  man,  im  Gegensatz  zu  den  altitalienischen  Wandmalern  und 
selbst  zu  den  besseren,  zeitgenössischen  Franzosen  den  Mangel  der  Farbe,  einer  gesunden,  realistischen 
und  doch  dabei  im  edelsten  Sinne  decorativ  wirkenden  Farbe  empfinden  müssen.  Es  scheint  fast, 
als  ob  nach  dem  Vorbilde  der  Cornelianischen  Farbe,  an  der  der  Meister  selbst  bekanntlich  am  wenigsten 
Theil  hatte,  man  es  nicht  wagte,  die  Monumentalmalerei  farbig  so  auszugestalten,  wie  man  es  bei 
Staffeleibildern  wenigstens  anstrebte.  Aber  auch  hier  war,  wie  so  oft,  die  Mutter  der  Beschränkung 
wohl  das  Unvermögen. 

o 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Kaulbachs  mit  Unrecht  so  viel  geschmähte  Fresken  im  Berliner  Museum  entbehren  in  graphischen 
Reproductionen  keineswegs  der  Grossartigkeit,  die  den  Originalen  durch  ihre  entsetzliche  Buntheit 
abo-eht.  Es  fehlte  bei  diesen,  wie  bei  fast  allen  anderen  deutschen  Monumentalmalereien  jener  Zeit 
(Rethel  war  es  leider  nicht  gegeben,  nach  dieser  Seite  in  sich  fertig  zu  werden)  eben  an  dem  künst¬ 
lerischen  sowohl ,  als  an  dem  technischen  Können ,  die  grossen  Flächen  coloristisch  zu  beherrschen. 

Dass  Janssen  beides  in  hohem  Maasse  sich  anzueignen  gewusst  hat,  beweisen  vor  allem  gerade 
die  Erfurter  Wandbilder,  und  in  ihnen  bat  er  gewissermassen  zuerst  die,  auf  Farbe  ausgehende  Neu¬ 
geburt  der  deutschen  Malerei  in  die  Monumentalkunst  eingeführt,  um  bei  seinen  späteren  Arbeiten, 
besonders  in  den  Aulamalereien  der  Düsseldorfer  Akademie,  eine  Höhe  zu  erreichen ,  für  die  man 
würdige  Vergleichsobjekte  in  den  Innendekorationen  der  italienischen  Hochrenaissance  suchen  muss. 

Die  Ausmalung  des  grossen  Festsaales  im  Erfurter  Rathhause  war  von  den  bisherigen  Auf¬ 
trägen  der  umfangreichste,  und  gab  dem  Künstler  Gelegenheit,  in  Darstellungen  verschiedener  Epochen 
aus  der  Geschichte  der  Stadt,  sein  vielseitiges  Können  nach  allen  Richtungen  hin  zu  bethätigen,  wobei 
die  Schwierigkeit  nicht  unterschätzt  werden  darf,  die  in  einem  einheitlichen  Zusammenstimmen  von  zeit¬ 
lich  und  also  auch  costümlich  und  stylistisch  so  weit  auseinander  liegenden  Motiven  zu  überwinden  war. 

Die  Reihe  der  Bilder  beginnt  mit  der  «Bekehrung  Erfurts  zum  christlichen  Glauben  durch  den 
hl.  Bonifacius  um  das  Jahr  719».  Das  dramatische  Moment  fand  der  Künstler  in  der  Fällung  der,  dem 
Götzen  Wage  geweihten  Eiche,  in  dem  jetzigen  Steigerforst  bei  Erfurt,  einer  auch  sonst  schon  dar¬ 
gestellten  Begebenheit.  Seine  Originalität  bewies  er  aber  in  der  Auffassung  des  Bonifacius,  den  er 
nicht  als  den  traditionellen,  sanften  Greis  mit  wallendem  Bart,  sondern  als  den  energischen  Bahnbrecher 
darstellt,  wie  er  dem  Heidenthum  mit  der  unerschütterlichen  Ueberzeugung,  die  an  Fanatismus  grenzt,  und 
dem  Ausdruck  körperlicher  und  geistiger  Ueber- 
macht  entgegentritt,  ohne  die  der  Erfolg  sich  in 

00'  o  t 

den  Mysticismus  des  Wunders  verliert,  an  das 
unsere  heutige  Zeit  nicht  mehr  recht  glauben  will. 

Neben  und  über  einer  Thür  derselben 
Wand,  in  geschickter  Ausnützung  des  Raumes 
wurden  der  heilige  Martin,  dem  in  der  Stadt 
zwei  Kirchen  geweiht  sind,  die  heilige  Elisabeth, 
die  berühmten  Schutzheiligen  von  Thüringen,  und, 
als  charakteristisches  Kennzeichen  der  religiös- 
mystischen  Stimmung  im  Mittelalter,  eine  jener 
Kinderwallfahrten  dargestellt,  wie  sie  um  das 
Jahr  1212,  oder  nach  anderem  Berichte  im  Jahre 
1237,  in  Thüringen  stattgefunden  hatten. 

Das  zweite  Hauptbild,  das  nach  seinem 
Vorwurf  dem  Künstler  wieder  besondere  Ge¬ 
legenheit  zu  psychologischer  Durchbildung  gab, 


Peter  Janssen.  Studie 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


G7 


Peter  Janssen.  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


stellt  «die  Abbitte  Heinrich  des  Löwen  vor  Kaiser  Barbarossa»  dar.  Heinrich  der  Löwe,  der  seinem 
Lehnsherrn  lange  getrotzt,  und  ihn  bei  der  Eroberung  von  Alessandria  im  Stich  gelassen  hatte, 

musste,  nachdem  die  Reichsacht  über  ihn  verhängt  war,  seine  treuesten  Anhänger  ihn  im  Stich  ge¬ 

lassen  hatten,  und  er  zuerst  Bayern,  dann  Sachsen  verloren  hatte,  sich  unterwerfen  und  auf  dem,  nach 
Erfurt  einberufenen  Reichstag  im  Jahre  1 1 8 1  Heinrich  Abbitte  leisten.  Mit  grösster  Feinheit  ist  die 
Rührung  des  grossen  Kaisers  über  die  Demüthigung  des  einst  so  mächtigen  Feindes  geschildert  und 
von  mächtiger  Wirkung  die  Gestalt  des  Besiegten,  die  der  Grösse  nicht  entbehrt. 

Das  folgende  Bild  ist  dem  Andenken  Rudolphs  von  Habsburg  gewidmet,  der,  nach  dem  Inter¬ 
regnum  auf  den  Thron  gelangt,  es  als  seine  nächste  Aufgabe  erkannt  hatte,  dem  in  der  kaiserlosen 
Zeit  eingerissenen  Raubritterthum  zu  steuern.  Er  hatte  in  Erfurt  seinen  Hauptsitz  genommen,  und 
erhob  hier  auf  dem  Reichstage  im  Jahre  1290  den  Gottesfrieden  (treuga  dei)  zum  Gesetz.  Mit  starker 
Hand  nahm  und  zerstörte  er  die  Burgen  der  Raubritter  und  verurtheilte  die  Insassen  unnachsichtlich 

zum  Tode.  Janssens  Bild  stellt  den  Vorgang  dar,  wie  die  gefangenen  Ritter  und  Knechte  einer 

solchen  erstürmten  Burg  gefesselt  abgeführt  werden.  Hier  konnte  er  sich  in  den  markigen  Gestalten, 
den  trotzigen  Gesichtern  der  Gefangenen  kaum  genug  thun,  um  das  wilde  Gesindel  zu  schildern,  dem 
nichts  heilig  war. 

Ein  friedlicherer  Vorwurf  war  für  das  nächste  Bild  angenommen,  das  wiederum  von  einer 
Thüre  durchbrochen  ist.  Es  galt  der  Erinnerung  an  die  im  Jahre  1392  eröffnete  Universität  in  Erfurt, 
der  ersten  in  Europa,  die  alle  vier  Fakultäten  vereinigte,  aus  der  später  das  grösste  deutsche  Geistes¬ 
werk,  die  Reformation  hervorwachsen  sollte.  Hier  musste  der  Künstler,  um  dem  geistigen  Inhalt  ge¬ 
recht  zu  werden,  zur  Allegorie  greifen  und  die  alma  mater  in  der  Gestalt  einer  Frau  darstellen, 
deren  Thron  von  den  Repräsentanten  der  vier  Fakultäten  umgeben  ist.  Die  theologische  vertritt 
natürlich  Luther,  der  zwar  nicht  ihr  Lehrer,  aber  ihr  grösster  Schüler  war.  Die  medicinische  ist  durch 
Ratingh  de  Fago,  genannt  Amplonius  de  Berka,  zweiten  Rector,  Leibarzt  des  Kaiser  Sigismund, 
repräsentirt,  die  juristische  durch  Henning  Göde,  den  Begründer  des  deutschen  Staatsrechtes,  die 
philosophische  durch  Eobanus  Hesse,  den  Naturforscher,  Arzt  und  Dichter,  vertreten.  In  grösster 
Lebendigkeit  erheben  sich  die  Gestalten  dieser  merkwürdigen  vier  Männer  neben  der  hoheitsvollen 
academia,  als  die  kraftvollen  Zeugen  des  ungeheueren,  geistigen  Aufschwungs,  den  die  ganze  Welt 
ihnen  mit  verdankt. 


9* 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Das  vierte  Hauptbild  ist  einem  weniger  ruhmvollen  Blatt  aus  der  Geschichte  Erfurts  gewidmet. 
Der  Rath  hatte  durch  Misswirthschaft  und  eigenmächtiges  Handeln  die  Stadt  in  Schulden  gestürzt. 
Die  Bürgerschaft  empörte  sich  und  nahm  den  Obervierherrn  Heinrich  Kellner,  das  Haupt  der  Raths¬ 
partei  gefangen,  um  ihn  später  umzubringen.  Janssen  führt  uns  in  das  Toben  der  Rathsversammlung, 
wo  Kellner  den  anstürmenden  Spiessbürgern  zurief,  indem  er  an  seine  Brust  schlug:  «Wer  ist  die 
Gemeinde?  Hier  steht  die  Gemeinde.»  Mehr  als  ioo  Jahre  vor  dem  französischen  Sonnenkönig  hatte 
schon  das  Selbstbewusstsein  eines  deutschen  Bürgermeisters  das  stolze  Wort  «l’etat  c’est  moi»  ge¬ 
funden,  und  Janssen  hatte  mit  dem  sicheren  Blick,  der  ihn  bei  der  Wahl  seiner  Motive  auszeichnet, 
diesen  Moment  gewählt,  als  bezeichnend  für  den  Bürgerstolz,  der  den  Beginn  des  XVI.  Jahr¬ 
hunderts  in  Deutschland  kennzeichnet,  bis  der  dreissigjährige  Krieg  ihn  nur  zu  sehr  niederschlug. 

Eine  Folge  dieser  unglücklichen  Zeit  schildert  das  nächste  grosse 
Bild,  nämlich  die  Unterwerfung  der  Stadt  unter  die  Herrschaft  des 
Kurfürsten  von  Mainz,  Johann  Philipp  von  Schönborn,  der  am  12.  No¬ 
vember  1664  seinen  Einzug  in  Erfurt  hielt  und  sich  am  28.  von  der 
Bürgerschaft  huldigen  liess.  Beide  Ereignisse  sind  auf  dem  Bilde  zu¬ 
sammengefasst  und  die  Entfaltung  des  reichen,  costiimlichen  Prunkes 
jener  Zeit  hatte  dem  Maler  Gelegenheit  zu  einer  höchst  farbigen 
Wirkung  gegeben,  die  das  Bild  nach  dieser  Seite  hin  vor  den  anderen 
auszeichnet.  Geschichtlich  bedeutet  dieser  Moment  für  Erfurt  den  Ver¬ 
lust  aller  Selbstständigkeit  und  bisheriger  Freiheit. 

Das  nächste  Gemälde,  wieder  ein  Thürbild,  zeigt  ebenfalls  einen 
bedeutsamen  Abschnitt  in  der  Geschichte  der  Stadt,  nämlich  den  Besuch 
des  Königs  Wilhelm  III.  von  Preussen  und  der  Königin  Luise  im  Jahre 
1803  bei  Gelegenheit  des  Ueberganges  Erfurts  an  die  preussische  Krone 
und  die  Huldigung  der  Stadt,  die  das  Fürstenpaar  mit  grösstem  Glanze, 
aber  auch  wahrer  Freude  und  ächter  Zuneigung  empfangen  hatte. 

Den  Schluss  bildet  eine  Episode  aus  der  grossen  Zeit,  da 
Deutschland  die  Zwingherrschaft  Napoleons  I.  abschüttelte.  Ein,  zur 
leier  der  Geburt  des  Königs  von  Rom  im  Jahre  18 11  errichteter  hölzerner  Obelisk  wurde  beim  Ein¬ 
rücken  der  Preussen  im  Jahre  1814  vom  Volke  verbrannt.  Und  wie  mit  diesem  Gewaltstreich  die 
bewegte  Geschichte  der  Stadt  abschliesst,  die  sich  fortan  in  Frieden  entwickeln  konnte,  so  findet  in 
dieser  lebendigen  Darstellung  der  grossartige  Gemäldecyclus  seinen  Abschluss. 

V  on  umfassenderer  und  direkterer  Bedeutung  als  die,  in  dem,  von  der  grossen  Strasse  etwas 
abseits  gelegenen  Erfurt,  leider  zu  wenig  bekannten  Wandbilder  (die  übrigens  nicht  in  der  alten 
Freskotechnik,  sondern  mit  den,  zwar  coloristisch  ausgiebigeren,  aber  schwer  zu  behandelnden  Wachs¬ 
farben  gemalt  sind,  die  schon  in  Crefeld  angewandt  wurden)  sollte  aber  sehr  bald  die  Lehrthätigkeit 
Janssens  werden,  die  er  seit  dem  Jahre  1877  an  der  Düsseldorfer  Akademie  aufnahm.  Es  war  das 
zu  einer  Zeit,  als  Ed.  Benclemann  die,  unter  Gottfried  Schadow  stark  verknöcherte  Akademie  zu  neuem 


Peter  Janssen.  Studie 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Leben  zu  erwecken  suchte ;  aber  auch  Bendemann  war,  weder  als  Mensch,  noch  als  Künstler  die  ge¬ 
eignete  Persönlichkeit  gewesen,  um  mit  der  nöthigen  Energie  dem  schwächlichen  Zuge,  der  in  der 
Düsseldorfer  Malerei  herrschte,  entgegentreten  zu  können,  und  seine  Kunst  war  selbst  noch  viel  zu 
sehr  von  den  älteren  Traditionen  befangen,  um  neue  Wege  weisen  zu  können.  Hier  musste  eine 
selbstständige,  frische  Kraft  eintreten  und  gerade  Janssen,  der  sehr  wohl  wusste,  was  er  seinerzeit 
auf  der  Akademie  hatte  entbehren  müssen,  der  sein  Können  eigenstem  Ringen  verdankte,  einem  An¬ 
schluss  an  die  Natur,  wie  er  bei  den  damaligen  akademischen  und  nichtakademischen  Figurenmalern 
noch  unerhört  war,  erwies  sich  sehr  bald  als  die  richtige  Persönlichkeit,  um  aus  den  alten,  verfahrenen 
Geleisen  zu  neuen  Bahnen  aufwärts  zu  lenken.  Freilich  hätte  hier  eine,  wenn  auch  künstlerisch  noch 
so  bedeutende  Veranlagung  allein  nicht  ge¬ 
nügt.  Peter  Janssen  vereinigte  aber  mit  ihr 
jenes  Lehrtalent,  das  eigentlich  sehr  selten 
grossen  Künstlern  verliehen  ist,  dessen 
Mangel  die  Schüler  berühmter  Künstler  so 
leicht  auf  falsche  Wege  gerathen  oder  in 
blosse  Nachahmung  verfallen  lässt. 

Die  neue  Lehrmethode,  die  nunmehr 
eingeführt  wurde,  unterschied  sich  wesentlich 
von  den  bisherigen,  die  den  akademischen 
Unterricht  seit  lange  und  auf  lange  hinaus 
nicht  mit  Unrecht  in  einen  gewissen  Miss¬ 
kredit  gebracht  hatten.  Schon  die  Errichtung 
einer  Naturzeichenklasse  neben  dem  bisher 
fast  ausschliesslich  gepflegten  Antikenzeichen¬ 
saal  deutete  die  Richtung  an,  welche  die 
Erziehung  des  Schülers  nunmehr  nehmen 
sollte,  nämlich  einen  möglichst  engen  An¬ 
schluss,  einen  unablässigen  Hinweis  an  und 
auf  die  Natur,  als  die  einzig  richtige  und 
niemals  alternde  Lehrmeisterin  aller  Kunst  und  alles  Könnens.  Dass  dieses  immer  weiter  ausgedehnte 
Naturstudium  nicht  zu  einseitigem  Naturalismus  führte,  dafür  sorgten  unter  anderem  die  Componir- 
abende,  an  denen  der  selbst  noch  junge  Meister  seine  Schüler  in  zwangloser  Weise  um  sich  ver¬ 
sammelte,  um  mit  ihnen  gemeinsam  gewählte  und  ausgearbeitete  Entwürfe  zu  besprechen  und  zu 
beurtheilen.  Wichtiger  aber  noch,  als  die  äusseren  Einrichtungen  der  Zeichenklassen  war  die  persön¬ 
liche  Art  und  Weise  der  Correctur,  die  sich  noch  mehr  von  allem,  was  man  bisher  als  akademisch 
gekannt  hatte,  entfernte;  die  freundschaftliche,  dabei  von  einem  unwiderstehlich  liebenswürdigen  Humor 
begleitete  Art  und  Weise,  mit  kurzen,  oft  scherzhaften  Worten,  einer  einzigen  humoristischen  Bemerkung 
den  Kern  der  Sache  zu  treffen,  den  Schüler  auf  den  Hauptfehler  seiner  Arbeit  aufmerksam  zu  machen. 


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Peter  Janssen.  Studie 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Peter  Janssen.  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Da  war  keine  akademische  Haarspalterei,  kein  Corrigiren  der  Conturen  oder  der  berüchtigten  Halb- 
tönchen,  kein  Wochen,  Monate  oder  selbst  Jahre  langes  Nörgeln  an  ein  und  derselben  Arbeit,  wie  es 
in  der  guten,  alten  Zeit  Gebrauch  war,  wo  es  Vorkommen  konnte,  dass  ein  unglücklicher  Jüngling,  der 
doch  auch  in  seinem  Leben  noch  einmal  Maler  werden  wollte,  zwei  Jahre  an  ein  und  derselben  Antiken¬ 
zeichnung,  —  herauf,  herab  und  quer  und  krumm  —  an  der  Nase  herumgezogen  wurde.  Flotte 
Skizzirlibungen  nach  dem  nackten  Modell,  bei  denen  Janssen  stundenlang  anwesend  blieb,  übten  Auge 
und  Hand  zum  Erfassen  und  Wiedergeben  auch  flüchtiger  Bewegungen,  und  bildeten  die  Grundlage  zu 
lebendigen  Compositionen  und  Erinnerungsskizzen,  die  dem  Cartonstyl  gründlich  den  Garaus  machten. 

Sehr  bald  landen  sich  unter  den  vorgeschrittenen  Schülern  solche,  die  sich  bei  der  Ausführung 
ihrer  selbstständigen  Gemälde  Janssens  Rath  erbaten,  und  so  errichtete  er  etwa  1882  seine  Meisterklasse 
und,  dem  allgemeinen,  dringenden  Wunsch  folgend,  1885  seine  Malklasse.  Die  Naturzeichenklasse 
fand  bald  solchen  Zuspruch,  dass  es  in  der  neuen  Akademie  an  Raum  mangelte,  während  die  Säle  der 
Parallelklassen  leer  standen,  bis  sie  dann  zu  einer  grossen  Klasse  zusammengenommen  werden  mussten. 

Schon  nach  wenigen  Jahren  hatte  Peter  janssen  die  Freude,  bei  trefflichen,  jungen  Künstlern 
die  Resultate  seiner  Erziehungsmethode  sehen  zu  können.  Eduard  Kämpffer,  jetzt  Professor  in  Breslau, 
Arthur  Kampf,  der  zuerst  Janssen’s  Assistent,  dann  sein  Mitarbeiter  als  Professor  in  Düsseldorf  wurde, 
Alexander  Frenz,  Klein-Chevalier  und  manche  andere  sind  Jahre  lang  Schüler  Peter  Janssens  gewesen, 
und  wie  sie  ohne  Schwanken  ihre  so  verschiedenartige  Individualität  ausgebildet  haben,  ist  sicherlich 
der  beste  Beweis  für  die  sachgemässe  und  verständnissvolle  Leitung,  die  sie  erfahren  haben. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


71 


1  In  den  März  des  Jahres  1884  fällt  die  Vollendung  und  Ausstellung  von  Janssens  grossem 
Staffeleibild  «Die  Erziehung  des  Bacchus».  Hier  leistete  der  Künstler  den  vollgültigen  Beweis  da¬ 
für,  dass  er  nicht  bloss  Monumentelmaler  sei,  sondern  auch  Technik  und  coloristische  Durchbildung 
eines  grossen  Atelierbildes  beherrsche.  In  diesem  Bilde  legte  er  gewissermassen  alle  coloristischen 
Errungenschaften  seiner  bisherigen  Thätigkeit  nieder,  und  die  mächtigen ,  in  üppigster  Schönheit 
prangenden,  gleichwohl  aber  von  dem  keuschen  Zauber  hoher  Kunst  umflossenen,  weiblichen  Gestalten 
gaben  ihm  Gelegenheit,  mit  dem  damals  noch,  als  unerreichbar  angestaunten  Makart  in  erfolgreiche 
Concurrenz  zu  treten.  Das,  was  Makart  fehlte,  die  künstlerische  Gesundheit  in  Form,  Farbe  und 
Auffassung,  das  ist  dem,  aus  dem  Vaterlande  des  Rubens  stammenden,  rheinischen  Künstler  im  hohen 
Maasse  eigen,  und  so  vermochte  er  den  sinnlichen  Reiz,  der  in  weiteren  Kreisen  Makarts  Ruf  viel 
mehr  begründet  hat,  als  seine  wirklich  hohen,  künstlerischen  Verdienste,  durch  jene  naive  und  reine 
Freude  an  der  schönen  Natur  zu  ersetzen,  wie  sie  die  Antike,  die  Renaissance  und  ihr  grosser  Schüler 


Peter  Janssen.  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Rubens  in  seinen  mythologischen  Bildern  aussprechen.  Für  die  Düsseldorfer  Malerei  bedeutete  die 
Ausstellung  des  Bacchus  einen  vollständigen  Umschwung  der  ganzen  Malweise.  Das  farbige  Element 
wurde  von  nun  an  vollständig  in  den  Vordergrund  gerückt  und  hat  sich  seitdem  folgerichtig  und 
siegreich  weiter  entwickelt.  Dass  die  niederrheinische  Prüderie  auch  durch  ein  so  vornehmes  und  in 
aller  Heiterkeit  ernstes  Werk  nicht  auf  die  Dauer  besiegt  werden  konnte,  ist  bedauerlich,  aber  kein 
Fehler  des  Bildes,  denn  gerade  diese  Prüderie  gehört  in  erster  Linie  in  das  weite,  weite  Gebiet  dessen, 
wogegen  selbst  die  Götter  vergeblich  kämpfen. 

Immerhin  hatte  die  Erziehung  des  Bacchus  den  Erfolg,  dass  Janssens  Name,  der  durch  die 
ausschliesslich  monumentalen  Arbeiten  des  Künstlers  im  grösseren  Publikum  wenig  genug  bekannt 
geworden  war,  nun  mit  einemmal  unter  die,  der  ersten  deutschen  Maler  gezählt  werden  musste.  Kurz 
vor  Vollendung  dieses  Bildes,  das  auf  den  Ausstellungen  in  Berlin  und  München  berechtigtes  Aufsehen 
erregte,  fällt  der  Auftrag  der  preussischen  Regierung,  für  das,  damals  zur  Ruhmeshalle  umgestaltete 


72 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Peter  Janssen „  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Zeughaus  in  Berlin  drei  Wandgemälde  zu  schaffen ,  die  in  verhältnissmässm  kurzer  Zeit  —  in  den 
Jahren  1S84,  1888  und  1890  —  entstanden  sind,  wobei  zu  bedenken  ist,  dass  Janssen  nicht  nur  seine 
umfassende  Lehrthätigkeit  in  ausgiebigstem  Maasse  versah,  an  anderen  Malereien,  so  denen  der  Aula 
arbeitete,  sondern  allmählich  auch  als  ständiges,  das  heisst  immer  wieder  gewähltes  Mitglied  der 
akademischen  Direction,  einen  grossen  Theil  der  Leitung  der  Anstalt  hatte  auf  sich  nehmen  müssen. 

Dem  Charakter  des  Raumes  entsprechend,  waren  es  ausschliesslich  Kriegsbilder,  die  für  das 
Zeughaus  gefordert  wurden,  und  Janssen  malte  nacheinander  die  Schlacht  bei  Fehrbellin  (1884),  die 
Begegnung  Friedrich  des  Grossen  mit  Ziethen  bei  Torgau  (1888)  und  die  Schlacht  bei  Flohenfriedberg, 
welche  drei  Bilder  ohne  Zweifel  zu  dem  Besten  gehören,  was  die  Ruhmeshalle  an  malerischer  Aus¬ 
stattung  aufzuweisen  hat. 

Bis  zu  dieser  Zeit  hatte  die  Vaterstadt  des  Künstlers  es  noch  nicht  für  nöthig  befunden,  sich 
den  Besitz  eines  Werkes  von  seiner  Hand  zu  sichern.  Im  Jahre  1890  gab  sie'f  ihm,  ihrem  grössten 
Geschichtsmaler,  den  Auftrag,  ein  Bildniss  Andreas  Achenbachs  zu  malen.  Schon  früher  hatte  Janssen 
den  Beweis  geliefert,  dass  er  in  seiner  grossartigen  Auffassung  des  Menschen,  auch  als  Portraitmaler 
das  Vortrefflichste  zu  leisten  im  Stande  war.  Das  Bild  des  alten  Akademie-Inspektors  Holthausen,  das 
auf  der  grossen  Düsseldorfer  Ausstellung  von  1880  allgemeine  Bewunderung  erregte  (jetzt  im  Besitze 
der  Düsseldorfer  Akademie),  ist  in  seiner  malerischen  Auffassung  und  vornehmen  Charakterisirung  das 
Muster  eines  Männerbildnisses,  wie  es  die  Düsseldorfer  Kunst  seit  vielen  Jahrzehnten  nicht  mehr  hervor¬ 
gebracht  hatte.  Die  Nationalgallerie  hatte  nicht  lange  darauf  1883  ein  Portrait  des  Feldmarschalls 
Herwarth  von  Bittenfeld  bestellt,  das  nicht  weniger  vornehm  wirkte,  wenn  auch  der  Kopf  keine  so  be¬ 
sonders  dankbare  Aufgabe  bot.  Aber  schon  vor  Vollendung  des  Achenbachsportraits ,  das  trotz 
einiger  Schwierigkeiten,  die  es  gekostet  hatte,  den  greisen  Künstler  zu  wenigen  Sitzungen  zu  bewegen, 
ebenfalls  als  das  Muster  eines  psychologisch  vertieften  Künstlerportraits  gelten  kann,  hatte  ein  Düssel¬ 
dorfer  Bürger,  Herr  Carl  Weiler,  zum  Gedächtniss  der  Städtegründung  Düsseldorfs,  deren  600  jähriger 
Gedenktag  1888  gefeiert  wurde,  dem  Künstler  den  Auftrag  gegeben,  die  Schlacht  bei  Worringen  zu 


Deckengemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


Peter  Janssen  pinx. 


Phot.  F.  Haufstaengl,  München 


Friedrieh  II.  entlässt  deutsehe  Ordensritter  aus  Marburg  zur  Colonisirung 

Preussens  1236.  Marburg 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


73 


Peter  Janssen.  Wandgemälde  in  der  Aula  der  Düsseldorfer  Akademie 


malen,  an  die  sich  jene  Verleihung  der  Stadtrechte  anknüpfte,  und  im  April  1893  wurde  dieses  grosse 
und  mächtig  wirkende  Bild  in  der  Kunsthalle,  für  die  es  bestimmt  war,  zum  ersten  Mal  ausgestellt. 

Die  Schlacht  bei  Worringen  (einem  kleinen  Orte  unterhalb  Köln,  jetzt  Eisenbahnstation)  ent¬ 
schied  am  5.  Juni  1288  den  Limburger  Erbfolgekrieg.  Herzog  Johann  von  Brabant,  die  Grafen  von 
Jülich,  Cleve,  Berg  und  Mark,  verbündet  mit  der  Stadt  Köln,  besiegten  dort  den  Grafen  Reinald  von 
Geldern  und  den  Erzbischof  Siegfried  von  Westerburg.  Beide  wurden  gefangen,  das  Schloss  des 
Erzbischofs  zu  Worringen  wurde  zerstört  und  der  Brabanter  erstritt  sich  die  Erbschaft  Limburg,  die 
seitdem  bei  Brabant  verblieb.  Den  Düsseldorfer  Bürgern,  die  unter  Anführung  des  Mönches  Walter 
Dodde  mit  den  bergischen  Bauern  an  der  Schlacht  thätigen  Antheil  genommen  hatten,  wurde  zur 
Belohnung  ihrer  Dienste  das  Städterecht  gegeben. 

Der  Künstler  stand  bei  dem  gegebenen  Motiv  vor  keiner  leichten  Aufgabe,  denn  abgesehen 
von  dem  doch  nur  lokalen  Interesse,  ist  die  Begebenheit  durch  wenig  oder  nichts  vor  zahllosen,  ähn¬ 
lichen  Raufereien  des  Mittelalters  ausgezeichnet.  Und  dennoch  gelang  es  Janssen,  durch  die  Betonung 
des  rein  Menschlichen  in  der  Gestalt  des  fanatischen  Anführers,  durch  eine  mächtige  Darstellung  der 
Begeisterung,  die  der  redegewandte  Mönch  bei  den,  von  ihm  aufgestachelten  Landleuten  ent¬ 
flammte,  aus  diesem  so  fernliegenden  Motiv  ein  grossartiges  Kunstwerk  zu  schaffen.  Es  ist  etwas 
darin  von  dem  furor  teutonicus,  von  dem  der  grosse  Kanzler  einmal  gesprochen  hat;  ein  Sturm,  wie 
vor  dem  Gewitter,  bevor  die  ersten  heissen  Tropfen  fallen,  geht  durch  das  Bild,  eine  Bewegung  von 
Kampfesmuth  und  trotzigem  Kraftgefühl,  wie  sie  deutschem  Wesen  seit  Jahrtausenden  eigen  sind. 


1  10 


74 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Die  Schlacht  bei  Worringen  brachte  auf  der  Berliner  Ausstellung  1893  dem  Künstler  die  grosse 
goldene  Medaille  ein,  und  im  Jahre  1 S 9  5  wurde  ihm  dann  endlich  auch  formell  die  Direction  der 
Akademie  übertragen,  deren  Lasten  und  Arbeiten  er  schon  seit  Jahren  fast  ausschliesslich  getragen 
und  erledigt  hatte.  Es  wäre  vielleicht  besser  gewesen,  für  den  Künstler  sowohl,  wie  für  die  Anstalt, 
wenn  man  mit  dieser  äusseren  Anerkennung  seiner  Verdienste  und  Erfolge  etwas  weniger  lange  ge¬ 
zögert  hätte,  und  sich  nicht  durch  allerlei  Bedenken  hätte  bewegen  lassen,  das  nicht  nur  Einzig  Richtige, 
sondern  auch  Nothwendige  so  lange  aufzuschieben,  bis  gar  keine  andere  Möglichkeit  mehr  vorhanden  war. 

Im  fahre  1S96  wurde  dann  endlich  auch  das  Werk,  nicht  vollendet,  denn  das  war  es  in  der 
Hauptsache  schon  seit  längerer  Zeit,  aber  der  allgemeinen  Betrachtung  zugänglich  gemacht,  an  dem 
Janssen  während  der  letzten  10  Jahre  mit  Unterbrechungen  gearbeitet  hatte.  Es  war  dies  die  Malerei 
in  der  akademischen  Aula,  zu  der  die  preussische  Regierung  schon  in  den  80  er  Jahren  den  Auftrag 
ertheilt  hatte.  Die  Bedeutung  dieses  Werkes  beruht  nicht  allein  in  dem  gemalten  Fries,  der  den  Saal 
an  allen  vier  Seiten  umgibt,  und  in  den  drei  runden  Deckenbildern,  sondern  nicht  zum  Wenigsten 
in  der  harmonischen  künstlichen  Ausstattung  des  ganzen  Raumes,  die  in  Deutschland  wohl  zum  ersten 
Mal  wieder  jene  wahrhaft  künstlerische  Gesammtwirkung  erstrebt,  wie  sie  die  Italiener,  vor  allem  die 
Venezianer  in  ihren  Festräumen  zum  vollendeten  Ausdruck  gebracht  haben.  In  dem  Architekten 
Professor  Adolf  Schill  hatte  Janssen  einen  Helfer  gefunden,  mit  dem  vereint  er  ein  Werk  schaffen 
konnte,  das  sich  würdig  an  jene  Vorbilder  anschliesst. 

Unter  der  in  zartem  Rothgold  bekleideten  Wand  zieht  sich  das  eigentliche  Kunstwerk,  der 
gemalte  Fries  hin,  dessen  Motiv  das  menschliche  Leben  ist,  ein  Vorwurf,  wie  ihn  ja  höher  und  grösser 
kein  Künstler  erdenken  kann,  wie  ihn  zahllose  Dichter  und  Maler  zu  lösen  unternommen  haben,  wie 
ihn  Göthe  in  seinem  Faust  poetisch  erschöpft  hat,  wie  er  aber  in  der  bildenden  Kunst  kaum  je  in 
dieser  Weise  aufgfefasst  und  durchgfeführt  worden  ist. 

Die  farbenreichen  Compositionen,  die  in  einem  fortlaufenden  Bilde  die  Schicksale  und  Thaten 
eines  grossen  Menschen  darstellen,  beginnen  an  der  östlichen  Schmalwand.  Wir  sehen  das  Kind  an 
der  Brust  der  Mutter,  umgeben  von  Engeln  und  Waldgenien,  noch  unbewusst  des  Lebens,  es  ge¬ 
niessend.  Dann  versucht  das  Kind  die  ersten  schwachen  Schritte,  gestützt  und  behütet  von  den 
Schutzgeistern  der  Jugend.  Es  wächst  heran.  In  scherzendem  Spiel  versucht  es  schon  den  Kampf, 
der  es  im  Leben  nicht  verlassen  soll.  Den  erstarkenden  Knaben  lehrt  ein  Engel  ernstere 
Thätigkeit.  Hinter  dem  Ackersmann  führt  er  ihn  her  und  lässt  ihn  die  Saat  beginnen,  in  deren  Ernte 
und  Einbringung  er  die  Arbeit  seines  Lebens  vollenden  soll.  Eine  heitere,  offene  Landschaft  begleitet 
die  Figuren;  reicher  und  üppiger  entwickelt  sie  sich,  denn  des  Menschen  glücklichste  Zeit,  die  Zeit 
kraftvoller  Jugend,  erster  Liebe  naht.  Ein  Kranz  von  Liebesgöttern  umgibt  ihn  und  die  Geliebte ; 
weit  zurück  scheint  alles  Irdische  zu  treten.  Coloristisch  erhebt  sich  die  Darstellung  hier  vielleicht  zu 
ihrer  Höhe.  Ein  Reichthum  von  Schönheit  und  Liebreiz  ist  über  die  beiden  Gestalten  ausgegossen, 
wie  es  der  monumentalen  Kunst  kaum  je  gelungen  ist.  Bald  aber  beginnen  die  Kämpfe  des  Lebens. 
Erst  sind  es  die  Thiere  des  Waldes,  die  der  Mann  bekämpfen  muss,  um  die  Seinen  zu  schirmen, 
dann  zieht  es  den,  im  Streit  Erprobten  hinaus  auf  ein  grösseres  Thatenfeld.  Auch  hier  wird  ihm,  dem 
Helden,  der  Sieg,  während  das  gestrandete  Schiff  im  Hintergrund  darauf  hindeutet,  dass  nicht  allen 


10* 


Peter  Janssen.  Sophie  von  Brabant  zeigt  den  Marburgern  den  jungen  Landgrafen  Heinrich  das  Kind  1248,  Marbur 


78 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Schönheit,  seine  Religion  in  der  Phantasie  findet,  und  eines  durch  das  andere  ergänzt.  In  üppiger 
Landschaft  sitzt  die  Allmutter  Natur,  alles  was  lebt,  schmiegt  sich  an  sie  und  allen  lächelt  sie.  Hüllen¬ 
los,  in  überwältigender  Formenpracht  schwebt  die  Schönheit  aus  dem  mittelsten  Deckenbild  hernieder. 
Malerei  und  Bildhauerkunst  begleiten  sie.  Das  letzte  Bild,  das  auch  das  erste  sein  kann,  zeigt  die 
Phantasie,  die  aus  den  Banden  des  Leiblichen  sich  auf  dem  Fabelwesen  des  Greifen  über  das  Sinnliche 
emporhebt  und  das  Liebersinnliche  erreicht  und  zu  umfassen  vermag. 

Auch  diese  Deckenbilder,  die,  gleich  wie  die  Bilder  der  Nordseite,  die  höchsten  Ideen  verkörpern, 
halten  sich  von  frostiger  Allegorie  fern.  Nicht  umsonst  hat  der  Künstler  der  Mutter  Natur  ein  Bild 
gewidmet.  Sie  hat  sein  Auge  gebildet  und  seine  Hand  geführt,  und  so  erscheinen  die  Gestalten  alle 
nicht  als  blutlose  Reflexionen,  sondern  in  lebendiger, 
strahlender  Pracht,  in  blühender  Schönheit. 

Schon  lange  vor  der  Einweihung  der  Aula  hatte 
der  unermüdlich  schaffende  Meister  eine  neue,  grosse 
Arbeit  begonnen,  nämlich  einen  Gemäldecyclus  für 
die  Universität  Marburg.  Es  werden  im  ganzen  sieben 
Bilder  sein,  von  denen  bis  jetzt  drei  vollendet  sind, 
ein  viertes  der  Vollendung  nahe  ist;  ferner  sechs 
Lünetten,  in  denen  die  Sage  von  Otto  der  Schütz 
behandelt  wird.  Die  Motive  der  drei  ersten  Bilder 
sind  folgende:  i.  Friedrich  II.  entlässt  deutsche  Ordens¬ 
ritter  aus  Marburg  zur  Colonisirung  Preussens  1236. 

2.  Die  heilige  Elisabeth,  die  sich  mit  der  Kranken¬ 
pflege  gegen  die  Vorschrift  und  über  ihre  Kräfte 
hinaus  angestrengt  hat,  wird  von  ihrem  Beichtvater 
und  «Zuchtmeister»  Konrad  von  Marburg  mit  der 
Geisselung  bedroht  1231.  3.  Sophie  von  Brabant, 

Tochter  der  hl.  Elisabeth,  zeigt  den  Marburgern  den 

o  o 

jungen  Landgrafen  Heinrich  das  Kind  1248.  Wird 

.  .  .  Peter  Janssen.  Skizze  aus  Spanien 

in  dem  ersten  Bude  ein  geschichtlich  wichtiger,  aber 

künstlerisch  undankbarer  Vorgang  lediglich  durch  den  ernsten  Prunk  der  Gestalten,  eine  malerisch 
interessante  Umgebung  und  originelle  Coloristik  dem  Beschauer  nahe  gebracht,  so  gab  der  Stoff  des 
zweiten  Gemäldes  dem  Künstler  wieder  Gelegenheit  zur  Entfaltung  seiner  reichen  und  umfassenden  Mittel 
eines,  bis  an  die  Grenze  des  malerisch  «Erlaubten»  gehenden  Realismus  einerseits,  der  grössten  Schön¬ 
heit  und  selbst  Zartheit  in  Form,  Farbe  und  Anordnung  andererseits.  Ersteres  gilt  hauptsächlich  von 
der  Darstellung  der  Kranken  und  des  fanatischen  Priester,  Letzteres  in  erster  Linie  von  der  Gestalt 
der  Heiligen,  die  an  einem  der  Betten  zusammengesunken,  mit  einem  so  rührenden  Ausdruck  kind¬ 
licher  Hilflosigkeit ,  verbunden  aber  mit  der  felsenfesten,  schwärmerischen  Ueberzeugung  selbstlos 
frommer  Aufopferung  emporblickt,  das§  dieser  eine  Kopf  genügt,  um  alle  die,  zu  fast  unheimlicher  Lebens¬ 
wahrheit  gesteigerten  Piguren  die  Umgebung  künstlerisch  in  den  Hintergrund  treten  zu  lassen.  Und 


l’eter  Janssen.  Kindheit  des  Bacchus 


80 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


das  Sonnenlicht,  das  durch 
die  Fenster  bricht  und  den 
mit  allen  Schrecken  der 
Krankheit  und  des  Elends 
erfüllten  Raum,  wie  mit 
einem  Strahl  aus  besserer 
Welt  durchflutet,  scheint 
nur  um  ihr,  der  « süssen 
Heiligen»  willen  vom 
Himmel  herabgesandt. 

Nicht  minder  grossartig 
in  der  Composition,  da¬ 
bei  ebenfalls  von  leben¬ 
digstem  Farbenreiz,  ist  das 

o 

grosse  Mittelbild  «Sophie 


von  Brabant  zeigt  den 
kleinen  Heinrich  dem 
Volke».  Der  Gegensatz 
der  schlanken,  fürstlichen 
Mutter,  die  den  Kleinen 
hoch  in  die  Höhe  hebt 
und  der  kernigen  Ge¬ 
stalten  der  Bürger  und 
Bauern  ist  mit  grösstem, 
naturalistischem  Reiz  wie- 
dergegeben.  Die  ganze 
Kraft,  Treue  und  Anhäng¬ 
lichkeit  des  mittelalter¬ 
lichen,  deutschen  Volkes 
spiegelt  sich  in  diesen 


Peter  yanssen.  Studie 

gebräunten,  gesunden  Gesichtern  wieder.  Dass  den  Künstler  auch  hier  sein  hohes  Schönheitsgefühl 
nicht  im  Stich  gelassen  hat,  davon  zeugen  Figuren,  wie  die,  der  sich  umwendenden  Frau  im  Vorder¬ 
grund,  oder  des  lachenden,  blumengeschmückten  kleinen  Mädchens,  das,  helle  Kinderfreude  in  den 
Augen,  sich  zu  seinem  Spielgefährten  wendet.  Das  sind  Gestalten  und  Köpfe,  die  uns  die  geschicht¬ 
liche  Thatsache  zur  menschlich  greifbaren  Wahrheit  werden  lassen. 

Steht  nach  allem  dem,  was  wir  bisher  von  Janssen  gesehen  haben,  das  Bild  des  Malers  in 
imponirendem  Ernst  vor  uns,  so  gewähren  eine  Reihe  von  gemalten  Erinnerungsskizzen  nach  einer  Reise 
in  Spanien  im  Jahre  1896  einen  überraschenden  Einblick  in  eine  Seite  künstlerischer  Thätigkeit,  die  man 
eine  genrehafte  nennen  könnte,  die  gelegentlich  von  einem  so  köstlichen  Humor  erfüllt  ist,  wie  man 


ihn  dem  Monumentalmaler  kaum 
Zutrauen  würde.  Wie  sehr  freilich 
auch  dieser  Humor  dem  Künstler 
aus  dem  Herzen  kommt,  wie  er 
im  Leben  neben  tiefstem  Ernst 
doch  immer  wieder  hervorbricht, 
das  wissen  die,  welche  ihm  per¬ 
sönlich  näher  getreten  sind. 

* 

Ein  Riesenwerk  ist  es,  das 
der  noch  in  voller  Manneskraft 


stehende,  kaum  53jährige  vor  sich 
gebracht  hat,  als  Maler,  als  Lehrer, 
als  Leiter  einer  der  grössten  Kunst¬ 
schulen  und  keineswegs  ist  dieses 
Werk  vollendet.  Von  Bild  zu  Bild 
ist  die  aufsteigende  Linie  erkenn- 
bar,  auf  der  sich  seine  Kunst  be¬ 
wegt.  Grosses  hat  die  deutsche 
Malerei  Peter  Janssen  zu  ver¬ 
danken  ,  Grosses  noch  wird  sie 
von  ihm  empfangen. 


Peter  yanssen.  Studie 


Phot.  F.  H.nfstaengl,  München 


Peter  Jansseu  plnx. 


Die  hl.  Elisabeth  und  ihr  Zuehtmeister.  Marburg 


Peter  Janssen  pinx. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Spanische  Blumenverkäuferin 


DER  FRAUENTYPUS 

IN  DER 

DEUTSCHEN  JAHRHUNDERTSMALEREI 

VON 

FRANZ  RADLER 


Die  Malerei  im  Schwesterreigen  der  bildenden  Kunst  hat  so  gut  eine  eigenthümliche,  ausdruck¬ 
reiche,  unschwer  entzifferbare  Sprache  wie  die  Musik,  wie  in  der  vollkommensten  Form  der 
artikulirte  menschliche  Laut.  Das  giebt  ihr  in  der  kulturhistorischen  Betrachtung  der  Vergangenheit 
einen  nicht  unbedeutenden  objektiven  Werth  als  Thatsachendarstellerin  oder  Thatsachenbeleuchterin, 
den  die  litterarische  Darstellung  nicht  immer  und  zu  Zeiten  sogar  nur  vereinzelt  hat,  —  nämlich  eine 
erhebliche  Unbefangenheit  der  Wirklichkeit  gegenüber  und  eine  Unberührtheit  von  despotischen 
Formeln  und  tyrannischen  Gesellschaftsgesetzen.  Zwar  ist  ihre  Sprache  eine  unschwer  entzifferbare, 
aber  sie  ist  doch  nur  für  eine  Person  von  hoher  individueller  Bildung  lesbar,  —  ihre  feinere  Wort¬ 
bildung  wird  vom  Volk  nicht  verstanden  und  daher  auch,  wo  sie  Revolutionäres  oder  unbequeme 
Wahrheit  mit  einiger  Vorsicht  ausspricht,  von  denen  nicht  gefürchtet,  die  ein  Interesse  an  der  Unwahr¬ 
heit,  der  Erhaltung  gewisser  Kulturlügen,  dem  Nichtaufkommen  neuer  und  vorgeschrittener  Ideen 
haben.  Jedes  unerwünscht  gesprochene  und  geschriebene  Wort  hat  zu  allen  Zeiten  seinen  Staats¬ 
anwalt  gefunden,  der  es  unterdrückte,  —  an  ein  Werk  der  übrigen  Künste  hat  bei  weniger  Be¬ 
sonnenheit  des  Autors  fast  nie  im  Ernst  eine  käufliche  Justiz  herangekonnt.  So  durfte  im  vorigen 
Despotenjahrhundert  Goya  in  Spanien  ungescheut  mittels  seiner  geistreichen  Radirnadel  die  schänd¬ 
lichsten  Zustände  seines  Vaterlandes  festreissen  und  gekannte  Personen  dem  Fluch  der  Lächerlichkeit 
überantworten,  ohne  dass  ihm  eigentliche  Gefahr  drohte  und  sein  um  Jahre  späteres  Verlassen  der 
Heimat  eine  hastige  Flucht  wurde,  —  so  konnte  Hogarth  mit  Pinsel  und  Grabstichel  den  brutalen 
Sittenverfall  des  heuchlerischen  Alt -England  für  die  Nachwelt  aufzeichnen;  die  gleichen  Philippiken 
mittels  des  Worts  hätten  jenen  nicht  vor  dem  gemüthsreichen  Gezwicktwerden  mit  glühender  Zange 
und  diesen  bei  abendlicher  Heimkehr  vom  Skat  kaum  vor  einem  freundschaftlichen  Rippenkitzel  mittels 
eines  sehr  schönen  und  sehr  blanken  Stilets  bewahrt.  Die  Kunst  hat  in  dem,  was  sie  sagt,  eine 
erhebliche  Freiheit  vor  dem  Wort  voraus,  —  man  hält  seit  alter  Zeit  mit  einigem  Recht  die  Oeffentlich- 
keit  in  weiterem  Sinne  bei  ihren  Kanzelreden  für  ausgeschlossen.  — 


Aber  doch  nur  ausnahmsweise  offenbart  die  Kunst  einen  so  unverhohlen  litterarisch  -  kritischen 
Charakter  wie  bei  Goya  und  Hogarth,  wie  bei  Rops  und  Klinger,  die  Sittendarsteller  mit  dem  Griffel 


ii  ll 


82 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


statt  mit  der  Schreibfeder  sind.  Der  allgemeine  kulturgeschichtliche  Wesenszug  der  Kunst  enthüllt 
sich  auf  anderen  Gebieten  noch  häufiger,  und  hier  vielleicht  am  besten  sogar  in  rein  idealen,  der 
Wirklichkeit  abholden  Ideenkreisen,  z.  B.  auch  auf  dem  Felde  der  Frauendarstellung.  Der  erotische 
Hang  zum  Weib  ist  so  stark  wie  der  Wille  zum  Leben ,  — -  er  hat  die  Frauenfrage  in  dem  Augen¬ 
blick  geschaffen,  als  Adam  in  scheuer  Verwunderung  zum  ersten  Male  die  neugeschaffene  Eva 
erblickte,  —  er  nimmt  im  Phantasieleben  des  Jünglings  wie  des  Mannes  so  starken  Raum  ein,  dass 
man  bei  oberflächlicher  Schau  über  die  Kunstgeschichte  vermuthen  könnte,  dass  der  erotische  und 
der  künstlerische  Trieb  zwei  Erscheinungen  aus  derselben  Wurzel  seien,  denn  das  Weib  und  das  Ver- 
hältniss  des  Mannes  zu  ihm  ist  in  erdrückender  Ueberzahl  der  Vorwurf  in  den  geschaffenen  Werken. 
Hier  aber,  wo  der  Künstler  wegen  der  Eigenart  seines  Idioms  ungescheut  vor  Machthabern  und  gesell¬ 
schaftlichen  Ketten  seine  persönlichsten  Anschauungen  und  seine  verborgensten  Empfindungen  aus¬ 
sprechen  darf,  —  wo  sich  unbewusst  zugleich  die  Meinung  seines  engeren  Lebenskreises  hineinmischt, 
ist  jedes  bedeutende  Werk  desshalb  ein  gewichtiges  Zeitdokument.  Und  hier  ist  eine  künstliche  Ver¬ 
deckung  des  Zeitzuges  weniger  leicht  möglich  als  in  der  gleichzeitigen  Litteratur.  Die  Litteratur  des 
deutschen  Rokoko  hat  einen  abstrakten,  last  strengen,  zwitterhaften  Zug  und  verräth  wenig  von  der 
Sinnlichkeit,  die  hinter  der  gemessenen  Würde  der  Zeit  sich  verbarg,  —  in  der  Art  aber  wie  die 
Künstler  dieser  Stilperiode  das  Weib  aufgefasst  und  geschildert,  in  jenen  halben,  scheuen,  verschleierten 
Andeutungen  von  Pose,  Thema,  Strich  und  Farbe  enthüllt  sich  ungewollt  die  geheime  Lüsternheit  der 
Zeit.  Hier  ist  die  Malerei  der  Litteratur  gegenüber  das  zuverlässigere  Dokument.  —  In  anderen 
Zeiten  ergänzen  sich  beide  Kunstzweige.  Wer  fände  in  den  keuschen  und  liebenswürdigen  Bild¬ 
gestalten  der  alten  Aegypterinnen  nicht  Bestätigung  dessen,  was  neuere  Forschung  ergründet,  dass 
nämlich  die  Frau  im  Pharaonenlande  eine  würdige  und  vornehme  Stellung  im  fast  seltsamen  Wider¬ 
spruch  zu  der  geduldeten  Polygamie  eingenommen?  Und  enthält  nicht  die  Aphrodite  von  Melos  in 
der  Quintessenz  den  ganzen  Schönheitskult  des  Hellenen,  für  dessen  Befriedigung  er ,  der  in  der 
praktischen  Frauenfrage  vom  Orient  noch  nicht  frei  geworden  war,  die  einzigartige  naive  Form  des 
Hetärenthums  ersann?  Für  das  finster  brütende  Rom  mit  seinen  verweibischten  Männern  und  dem 
Typus  des  blutgierigen  weiblichen  Dämons  ist  nichts  bezeichnender  als  die  berühmte  sitzende  Agrippina 
und  das  Gorgohaupt,  die  Weiberfurcht  1800  Jahre  vor  den  modernen  schwedischen  Künstlern  ge¬ 
schaffen  hat.  Liegt  nicht  in  Lionardo’s  Mona  Lisa,  Rafael’s  Sixtina,  Michelangelo  s  frühen  Madonnen 
dann  als  eben  aufgebrochene  Blüthe  des  Renaissance  -  Frühling  der  jugendhold  -  naive  Aufstieg  des 
Quattrocento,  —  in  Tizian’s  lüstern  umtasteten  Modellen  nicht  dagegen  deutlich  die  begonnene  Wurm¬ 
stichigkeit  des  Verfalls,  —  und  nicht  das  kalte  Nervenraffinement  künstlich  entflammter  Sinne  in  Watteau’s 
reifrockbekleideten  Grazien  aus  jener  Zeit,  welche  mit  der  Gestalt  des  wahnsinnigen  Scheusals  Marquis 
de  Sade  sich  erschöpfend  charakterisiren  lässt?  So  lässt  sich  mit  Thatsache  um  Thatsache  die  Art  der 
Frauendarstellung  in  der  Kunst  aller  Zeiten  als  ein  wichtiges  kulturgeschichtliches  Symptom  belegen.  — 


Auch  unser  Jahrhundert  bleibt  den  Beweis  hiefür  nicht  schuldig,  —  ja  je  näher  der  Betrachtungs¬ 
kreis  uns  selbst  gerückt  ist  und  Zustände,  Verhältnisse  und  Personen  dem  persönlichen  Augenschein 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


83 


oder  wenigstens  in  lebendigster  Tradition  dem 
sicheren  Urtheil  sich  bieten,  umso  überraschender 
wird  die  Festigkeit  des  Zusammenhangs  zwischen 
der  Frauendarstellung  und  der  Zeit,  umso  reichere 
Beziehungen  thun  sich  auf  auch  durch  Künstler- 
erscheinungen  zweiten  und  dritten  Ranges.  Das 
deutsche  Volk  hat  in  dieser  Zeit  wie  das  fran¬ 
zösische  kulturhistorisch  eine  ausserordentlich  starke 
und  bewegte  Wandlung  erlebt,  —  beide  erhoben 
sich  aus  tiefem  Verfall  zu  einer  durchgreifenden 
Erfrischung,  —  beide  entwickelten  vom  wieder¬ 
aufgenommenen  Vorbild  der  Antike  her  in  kultureller 
Beziehung  einen  neuen  Glanz  des  neueren,  politisch 
freien  Bürgerthums,  —  beide  sind  zuletzt  auf  ein 
dem  Thema  nach  von  der  altniederländischen  Kunst 
theilweis  einst  vorweggenommenes ,  in  Form  und 
Perspektive  aber  neues  Gebiet  gezogen,  das  staats¬ 
politisch  unter  der  socialen  Frage  ebenso  allgemein 
als  ungenau  wie  künstlerisch  als  moderne  Kunst 
bezeichnet  wird  und  noch  ungeklärt  die  verschie¬ 
densten  Strömungen  in  sich  fasst.  Aber  während 
die  französische  Kunst  der  Gegenwart  bis  auf  den 
einen  Puvis  de  Chavannes  lediglich  von  Kunst¬ 
händlern  und  in  den  Ateliers  zu  Tagesberühmtheiten 
gestempelte  technische  Faiseurs  ohne  einen  grossen 
Gesichtspunkt  aufzuweisen  hat,  also  im  Verfall 
begriffen  scheint,  hat  die  deutsche  Kunst  eine 
stattliche  Anzahl  wirklich  bedeutender  Künstler  zu  verzeichnen,  —  sie  liegt  unserem  Interesse  doppelt 
nah  und  soll  desshalb  hier  in  der  Frauendarstellung  ihrer  drei  Perioden  eine  Betrachtung  finden. 

Drei  Kreise  hat  die  deutsche  Kunst  des  Jahrhunderts  durchlaufen :  den  klassizistisch-romantischen, 
den  bürgerlichen,  den  modern-socialen  und  modern-romantischen.  Dort  war  nach  Carstens  antikisirender 
Vorläuferschaft  die  mönchische  Strenge  das  Zeichen  der  nazarenischen  Kunstrichtung,  die  bedeutsam 
genug  von  deutschen  Künstlern  wie  Cornelius,  Overbeck,  Führich,  Veit  in  einem  alten  italienischen 
Kloster  begonnen  ward.  Rethel,  Kaulbach,  Bendemann,  Genelli,  Feuerbach  sind  ihre  weiteren 
Vertreter.  In  der  Litteratur  gab  das  ganz  klassisch  gewordene  Weimar  den  Ton  an,  gegen  dessen 
Macht  die  romantischen  Dichter  schwer  ankämpften  und  der  zügellose  Individualist  Friedrich  Schlegel 
mit  seiner  «Lucinde»  nur  ein  litterarischer  Sturm  im  Glase  Wasser  trotz  der  sonderbar  uns  an- 
muthenden  Knappenschaft  des  hofpriesterlichen  Schleiermacher  blieb.  Der  nationale  Sinn  erwachte 


F.  Klein  -  Chevalier.  Studie  zum  Frescogemälde 
im  Düsseldorfer  Rathaussaal 


11* 


84 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


glühend  trotz  30 jähriger  staatspolitischer  Unterdrückung  und  Verfolgung,  —  er  lenkte  die  durch 
1 8 1 3 — 15  erfrischten  Geister  in  das  ideale  Nirgendsheim  der  Antike  und  des  christlichen  Mittelalters,  — 
die  nothwendige  Resignation  zog  ein  gewisses  tragisches  Märtyrerbewusstsein  gross,  eine  spartanische 
Gleichgiltigkeit  gegen  die  Lebensfülle  und  den  Genuss,  ein  Schicksalspathos  der  Wirklichkeit  gegen¬ 
über,  und  das  selbst  in  der  Betrachtung  der  nächsten  häuslichen  Dinge.  Ein  würdevoller  Patriarcha¬ 
lismus  geht  durch  die  Kunst  von  Cornelius  bis  Feuerbach  und  edle  Menschen  von  fürchterlicher  Ideal¬ 
vollkommenheit  posiren  in  ihr  neben  den  reinlich  davon  geschiedenen  Bösen,  —  und  von  Cornelius 
bis  Feuerbach  lässt  sich  derselbe  Frauentypus  deutlich  verfolgen.  Das  bürgerliche  Gretchen  in  des 
Ersteren  Faust,  die  fürstliche  Brünhilde  in  seinen  Nibelungen,  die  namenlosen  Frauen  in  seinen  Fresken 

und  Kartons  bis  zur  Medea, 
der  Freundin  des  Alkibiades 
im  «Gastmahl»  und  dem 
prachtvollen  Bildniss  der 
römischen  Schusterfrau  des 
Letzteren  bei  Schack  sind 
nur  Wandlungen  derselben 
Form,  die  sehr  wenig  in¬ 
dividuell  gefärbt  bei  allen 
übrigen  Darstellern  dieser 
Reihe  wiederkehrt.  Bei 
Overbeck  ist  sie  nur  an- 
muthiger,  bei  Rethel  liebens¬ 
würdiger,  bei  Genelli  nur 
etwas  ramponirter  von  dem 
ins  Gesicht  geschriebenen 
Lebensberuf  als  Opern¬ 
statistin.  Schon  das  Er¬ 
scheinungsideal,  oder  wie 
die  Künstler  sagen:  das 
Modell,  ist  auffällig  genug  und  einheitlich.  Frau  und  Jungfrau  sind  gross,  breitschulterig,  von  einer 
mässigen  deutschen  Fülle,  als  käme  sie  stracks  aus  dem  germanischen  Urwald  herausgeschritten  oder 
stammte  wenigstens  in  grader  Finie  von  dort  her.  Ihre  Gesichtsformen  sind  von  phlegmatischer 
Grösse,  ohne  Individualität,  gleichmässig  im  Ausdruck  und  nur  im  Zorn  gespannt:  da  aber  scheint  sie 
in  delphischen  Worten  selbst  über  die  Köchin,  die  eine  Suppe  hat  anbrennen  lassen,  alle  Strafen  des 
christlichen  Weltgerichts  oder  die  Rache  sämmtlicher  Schwarzalben  heraufzubeschwören.  Sie  bewegt 
sich  langsam,  feierlich,  mit  geschlossenen  oder  versonnenen  Augen,  bei  jedem  Schritt  des  Helden¬ 
mutterberufs  sich  bewusst.  Sie  hat  keine  Familienmerkmale  in  Wuchs  oder  Physiognomie  und  einen 
Stammnamen  nur  der  Art,  wie  der  Bauer  sein  Pferd  « Liese »  und  der  Handwerksmann  seinen  Pudel 


F.  Klein  -  Chevalier .  Studie.  Ostende 


Peter  Janssen  pinx.  Phot.  P.  Hanfstuengl,  München 


Der  Schweizer  Gebet  bei  Sempach.  Privatbesitz 


Peter  Janssen  pinx. 


Mit  Genehmigung  der  Photographischen  Union  München 


Phot.  F.  Hanfstaeugl,  München 


Mönch  Dodde  und  die  bergisehen  Bauern  in  der  Sehlaeht  bei  Worringen. 

Kunsthalle  Düsseldorf 


Morgendämmerung 


t 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT.  ' 


85 


«Karo»  tauft.  Sie  arbeitet  nicht;  sie  würde  mit  Helden¬ 
miene  das  Kochbuch  um  Rath  fragen,  wenn  sie  Kaffee 
kochen  sollte;  ihr  Spinnrocken  ist  eine  Bühnendekoration 
wie  die  stets  allegorisch  gruppirte  Kinderschaar  zu  ihren 
Füssen,  und  wenn  sie  das  Jüngste  scherzend  aufhebt, 
dann  thut  sie  immer  nur  so,  denn  ihre  herzkalte  und 
strenge  Fugend  schliesst  jedes  intim  -  zärtliche  Band 
zwischen  ihr  und  ihren  Kindern  aus.  Wenn  sie  den 
Geliebten  umarmt,  dann  wird  höchstens  ein  markirter 
Bühnenkuss  daraus  und  selbst  wenn  sie  mit  dem  Schein 
leidenschaftlichen  Abschieds  Romeo  eben  vom  Balkon 
klettern  lässt,  dann  sucht  man  immer  nach  einem  dem 
Liebhaber  befreundeten  Amateur  -  Photographen  unten, 
der  den  Vorgang  festhalten  will  und  von  unten  zuruft: 
«So,  bitte,  einen  Augenblick,  meine  Allergnädigste ! » 
Diese  mehr  dem  alten  als  dem  neuen  Testament  ange- 
hörige  Patriarchenfrau  und  Mutter  ist  unnahbar,  sie 
coquettirt,  redet,  regt  sich  nicht,  ist  unbekannt  mit  den 
Geheimnissen  des  Flirt  und  voll  Verachtung  gegen  den 
nächstniederen  Stand,  ein  gefallenes  Mädchen  oder  eine 
Freundin,  welche  den  grünen  Salat  statt  mit  dem  süssen 
Rahm  mit  Essig  und  Oel  anmacht  oder  durch  Chique  sich 
dem  Vorwurf  der  Leichtfertigkeit  aussetzt.  Sie  ist  mit  einem  Wort  die  vornehme  Herrin,  wie  die  Phantasie 
einer  Stallmagd  sich  diese  vorstellt,  und  sehr,  sehr  oft  scheint 
sie  ein  bischen  arg  beschränkt  zu  sein  und  ihr  Schweigen 
und  ihre  Hoheit  vom  Instinkt  eingegebene  Vorsichtsmassregel. 

Das  Frauenideal  der  Romantik,  in  der  Schwind  der 
oberste  ist,  erscheint  so  sehr  viel  anders  keineswegs.  Die 
grosse  deutsche  Gestalt  kehrt  auch  hier  wieder,  aber  sie 
ist  durchweg  schlanker,  feingliederiger,  zarter  und  beweg¬ 
licher.  An  einer  wahren  inneren  Frauenwürde  im  modernen 
Sinn  fehlt  es  auch  hier,  —  das  Weib  ist  auch  hier  dem 
Künstler  nur  mehr  ein  passives  Spielzeug,  das  die  vom 
Mann  kategorisch  vorgeschriebene  Rolle  zu  spielen  hat. 

Aber  es  ist  doch  schon  eine  nicht  unbedeutende  Erhöhung 
des  Typus,  ein  Studiren,  Schätzen,  Sichweiden  an  lauter 
gewinnenden  Zügen  der  Weiblichkeit  deutlich  bemerkbar. 

Diese  Frauen  sind  menschlich,  sie  leben  ein  Gemüthieben 


F.  Klein  -  Chevalier.  Studie.  Ostende 


F.  Klein- Chevalier.  Studie  zu  dem  Bilde  «Morgendämmerung 
im  Spielsaal  von  Ostende» 


86 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


voll  stiller  Ahnung-  und  verschwiegener  Sehnsucht,  sie  wissen  viel- 
leicht  nicht  sehr  häufig  mehr  als  über  Spinnen,  etwas  Wirthschaft- 
aufsicht  und  ein  paar  Märchen  oder  Ritterrornane  hinausgeht,  aber  sie 
haben  die  echte  Herzensbildung-,  welche  sicher  und  ohne  Verlegenheit 
sich  überall  zu  behaupten  und  dem  sublimen  Denker  so  gut  wie 
einem  faden  Rüpel  zu  imponiren  versteht.  Diese  Herzensgrösse  des 
deutschen  Weibes,  diese  bezaubernde  Monumentalität  des  Gefühls¬ 
lebens,  die  der  echteste  Widerschein  '  erwachenden  Volkslebens  um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  ist,  gelang  nach  meiner  Ansicht  Schwind 
nie  besser  in  der  Darstellung  als  in  seinem  Schackgalleriebild  von  der 
Rückkehr  des  Grafen  von  Gleichen.  —  Auch  der  einst  alle  Welt  so 
sieghaft  blendende  Makart  ist  Romantiker,  aber  ein  Kosmopolit,  der 
nur  die  mit  den  verlangenden  Sinnen  betrachtende  Frau  der  Spät¬ 
renaissance  kennt,  —  jene  Frau,  die  schon  stark  in  die  Derni-Monde- 
Frau  des  zweiten  französischen  Kaiserreichs  hinüberspielt ;  —  sein 
Werk  ist  demnach  lür  die  Kulturbetrachtung  nur  episodisch  interessant, 
aber  ohne  ernsten  Werth.  —  Und  auch  Böcklin  ist  Romantiker. 

Aber  er  ist  Romantiker  der  vorgeschichtlichen  Antike  und  schildert 
das  schrankenlose  Gefühlsleben  kulturloser  Gestalten.  Seine  Meer¬ 
frauen,  Panisken,  Heroinen  existiren  nicht  für  sich,  sondern  sind 
Allegorieen  der  ungebrochenen,  unendlich  fruchtbaren,  brütenden  Naturkraft,  —  sie  gehören  der 
Grundauffassung  nach  viel  mehr  der  Gegenwart  als  der  romantischen  Periode  an,  weil  sie  das  Natur¬ 
recht  vertreten,  um  welches  die  Frauen  der  Gegenwart  zu  kämpfen  begonnen  haben. 

Ist  die  Frau  in  der  mit  dem  Schwergewicht  vor  1848  fallenden  Kunst  unseres  Jahrhunderts 
wesentlich  ein  abstrakter  Begriff  von  der  repräsentirenden  altgermanischen  und  frühmittelalterlichen 
Herrin  des  Hauses,  der  gebietenden  «Frouwe»,  so  kommt  mit  dem  erstarkenden  Bürgerthum  im 
dritten  Viertel  unseres  Jahrhunderts  die  vornehme  Hausfrau,  mehr  noch  die  bürgerliche  Hausmutter, 
mater  familias,  zur  Geltung.  An  die  Stelle  einer  nie  gewesenen  Idealwelt,  für  die  der  praktisch 
thätige  Bürger  niemals  viel  übrig  hat,  treten  Bilder  des  Alltagslebens  und  der  Alltagsstimmungen, 
und  wie  die  Kunst  vorher  eine  Kunst  wesentlich  für  den  akademisch  Gebildeten  war,  so  wird  sie 
jetzt  eine  solche  für  den  dritten  Stand.  Die  Anekdote  und  das  Sittenstück  verdrängen  die  historische 
und  religiöse  Allegorie,  den  romantischen  Traum,  und  Menzel,  Knaus,  Defregger  heissen  nun 
die  führenden  Namen.  Es  erscheint  die  an  Körper  und  Seele  gesunde,  herz-  und  gemüthwarme 
Bürger-  und  Bauerfrau  und  knospende  Mädchenblüthe  voll  Kraft  und  Uebermuth,  deren  Tugend  und 
deren  treustiller  Sinn  ohne  Pathos  und  Herbigkeit,  etwas  ganz  Selbstverständliches  ist.  Die  Häus¬ 
lichkeit,  die  kleine  Alltagssorge,  das  sonnige  Familienglück  oder  das  darauf  Bezug  habende  Leiden, 
die  rührende  Liebe  zu  Mann  und  Kindern  zeigen  den  Frauentypus  jetzt  in  der  ganzen  Vielgestaltigkeit 


F.  Klein  -  Chevalier.  Studie 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


87 


des  Lebens,  aber  mit  dem  einen  gemeinsamen  Grundzuge  der  liebenswerthen  deutschen  Fraulichkeit, 
die  in  allen  Tonarten  bei  diesen  Künstlern  und  ihren  Zeitgenossen  wiederkehrt.  Diese  Frau  ist  so 
wenig  geistig  veranlagt  wie  die  vorige,  —  sie  hat  aber  nicht  deren  Stil;  und  sie  hängt  im  Gegensatz 
zu  jener  am  Nächsten,  das  ihr  Tag  aus  Tag  ein  zahllose  kleine  Freuden  darüber  bietet,  dass  dem 
Mann  die  Suppe  schmeckt,  die  Kinder  eine  gute  Nummer  in  der  Schularbeit  nach  Hause  bringen, 
sich  nicht  schmutzig  machen  und  sie  ein  besseres  Kleid  trägt  als  die  Nachbarin  oder  als  Mädchen  den 


hübschesten  Tänzer 
am  Sonntag  Nach- 
mittag  findet;  sie 
ist  handfest,  gut¬ 
artig,  mitleidig,  von 
einer  gesunden  Sen¬ 
timentalität  der  ner¬ 
venlosen  Kraft  und 
geht  in  ihrem  Häus¬ 
lichkeitskreise  bis 
zur  Bewusstlosigkeit 
auf ;  ob  Schiller  ein 
Dichter  war  oder 
der  wievielte  seines 
Namens  ihr  Landes¬ 
herr  ist,  weiss  sie 
indessen  sehr  selten 
sicher,  wie  sie  ihr 
engeres  Vaterland 
nahezu  niemals  auf 
einer  Landkarte  fin¬ 
det  ,  trotzdem  sie 
dazu  unter  grossen 
Vorbereitungen  eine 
Riesenbrille  aufsetzt. 


F.  Klein  -  Chevalier.  Studie 


Nur  Menzel  fällt  als 
Haupt  dieser  lebens¬ 
freudigen  Realisten¬ 
gruppe  mit  den  ani¬ 
malischen  Kunst¬ 
instinkten  in  der 
Frauenauffassung 
wenigstens  eines 
charakteristischen 
Theils  von  seinem 
Schaffen  heraus.  Im 
Sinne  scharferWirk- 
lichkeitskritik  mo¬ 
dern  weit  vor  der 
Gegenwart  und  mit¬ 
ten  unter  schwär¬ 
menden  Romanti¬ 
kern  hat  er  die 
grosse  W  eltdame 

gebildet, —  die  Frau 
von  hoher  Bildung, 
raffinirtem  Schön¬ 
heitssinn  ,  der  im 
Gebiet  der  Kosme¬ 
tik  zu  Hause  ist,  — 


bei  der  der  Verstand  das  Uebergewicht  hat.  Diese  vornehme  Frau  der  Menzel’schen  Auffassung  ist 
mit  einer  leisen,  an  Schopenhauer  gemahnenden  Boshaftigkeit  gesehen;  sie  ist  international  wie  die 
sich  in  Jahrzehnten  nur  wenig  verändernde  Gesellschaft,  der  sie  angehört,  —  sie  spielt,  intriguirt, 
coquettirt,  —  man  erlauscht  geistesgegenwärtige,  verschlagene,  sinnenheisse  Züge,  während  die  Herz¬ 
kraft  von  einem  übermässig  bewegten  Gehirnleben  aufgebraucht  wird,  —  sie  wahrt  den  Schein,  denkt 
und  handelt  frei,  —  sie  erlebt  Romane  und  spielt  die  ernstesten  diplomatischen  Rollen  auf  den  Wegen 
der  Politik  ganz  ungesehen.  Wenn  sie  jung  ist,  amüsirt  sie  sich  kostbar  in  den  verführerischen 


88 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


F.  Klein- Chevalier.  Studie.  Ostende 


Wogen  der  grossen  europä¬ 
ischen  Welt  und  heirathet  mit 
19  Jahren  einen  steinreichen 
Graukopf,  vorausgesetzt,  dass 
sie  hübsch  und  klug  ist,  —  und 
ist  sie  alt,  dann  bereut  sie  mit 
pietistischem  Augenaufschlag 
ihre  Sünden,  die  mehr  Thor- 
heit  als  Vergehen  waren,  stiftet 
Ehen  und  strickt  Wolljäckchen 
für  afrikanische  Mohrenkinder. 
Dieser  hauptsächlich  in  Menzel’s 
Hof-  und  Staatsaktionsbildern 
vorhandene  Frauentypus  ge¬ 
hört  in  demselben  Geiste  wie  der 
Böcklinische ,  dessen  unmittel¬ 
barer  Kontrast  er  ist,  schon 
stark  der  Gegenwart  an.  Wie 
jener  das  mächtige  Naturrecht 
des  weiblichen  Menschen  mit 
Prophetenwucht  predigt,  packt 
dieser  durch  die  Kritik,  vor  der 
die  Frau  als  höchstes  Erzeug¬ 
nis  individueller  Standesent- 


wi 


ickelung,  als  gesellschaftliches  Kunstwerk  gleichsam  in  gewordener  Stellung  und  Wesensbildung  erscheint. 


Moderne  Probleme  der  Arbeiterfrage  in  Verbindung  mit  der  wirthschaftlichen  Frage  der  Frau 
haben  seitdem  einer  junganringenden  Kunst  die  Physiognomie  aufgedrückt.  Nervöser,  empfängniss- 
voller,  entwickelungsbedürftiger  ist  die  Zeit  geworden,  ihr  Athemzug  hastiger,  brennender  ihr  Puls  und 
greller  ihre  Kontraste.  Der  Erwerb  und  freiheitlicher  Sinn  haben  unter  der  Wirkung  besonderer 
Umstände  die  Frauenfrage  zu  einer  dringenden  und  heftig  umkämpften  gemacht.  Kein  Wunder,  dass 
in  Hinsicht  auf  tiefe  Schattenseiten  der  Gegenwart  heissen  Gemüthern  in  der  Kunst  jedes  Wiegen  im 
schönen  Schein  des  Nirgendsheim  als  ein  verruchter  Optimismus  erscheint,  sie  dem  nach  Brot  brüllenden 
Volk  nicht  beschwichtigende  Spiele  reichen  wollen  und  die  Kunst  zur  Propaganda  für  die  sittliche 
Nothwendigkeit  benützen,  um  die  Augen  der  oberen  Welt  auf  gewisse  Zustände  zu  lenken.  Grosse 
Gebiete  der  neuen  Fitteratur  wie  Kunst  beschäftigen  sich  mit  der  Frau,  die  niemals  in  gleicher  Weise 
im  Vordergrund  stand,  und  man  kann  hier  die  seltsamsten  Entdeckungen  machen,  zieht  man  die  vor¬ 
hergehenden  Perioden  zum  Vergleich  heran.  Z.  B.  dass  die  Frau  ein  ganz  eigenthümliches  Seelen- 


Copyright  1898  by  Frau*  Hanfstacngl 


Lebende  Brücke  (Aus  dem  Kaukasischen  Krieg 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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leben  hat  und  dass  sie  eine  Form  des  Leidens  wie  der  Leidensfähigkeit  offenbart,  die  weitaus  von 


denen  des  Mannes  verschieden  sind.  Um  die  Sache  mit  dem  nüchternen  Namen  zu  nennen :  Die 
junge  Kunst  hat  das  Menschenthum  der  Frau,  nachdem  sie  lange  nicht  mehr  wie  eine  Bühnenfigur, 
eine  Puppe  oder  eine  stilisirte  Magd  in  der  Auffassung  der  Männer  gewesen  ist,  künstlerisch  entdeckt, 
zum  Thema  gemacht,  und  beutet  es  aus.  Die  Kunst  spiegelt  hier  nur  wieder,  was  in  aller  Munde  ist, 
und  wenn  man  näher  zuschaut,  ist  diese  Auffassung  viel  weniger  von  socialer  Tendenz  als  sie  scheint, 
sondern  sie  ruht  viel  mehr  im  künstlerischen  Bedürfniss  einer  nach  unmittelbarem  Leben  durstenden 
Zeit.  So  hat  Liebermann  in  einem  erheblichen  Theil  seines  Werks  die  Arbeiter-  und  I  aglöhner- 
Frau  seiner  Künstlerart  entsprechend  im  allgemeinen  Standestypus,  mit  ihrer  unsympathischen  aber 
naturechten  Hässlichkeit  und  mit  den  kleinseligen  Zügen  der  niedersten  Lebenssphäre  als  das  früh 
gealterte  und  missbrauchte  Lastthier  allerdings  sehr  einseitig,  vertieft 

des  Mannes  geschildert.  und  um  ihn  die  Gloriole 

Durch  Uhde  ist  die-  der  treuen  Gefährtin 

ser  Typus  zum  und  ^er  ^ut^er 

seelischen  7*V  gewebt.  Er 

Leiden,  Ar  <■.  cde 


F.  Klein-  Chevalier.  Kuppelgemälde  in  der  Berliner  Gewerbeausstellung  1896 


Keuschheit,  die  treue  Pflicht,  die  Arbeitsfreude  der  unverdorbenen  Töchter  und  Frauen  der  ländlichen 
und  landstädtischen  Armuth  geadelt,  indem  er  sie  neben  einen  Heiland  von  gleicher  Herstammung  als 
Handelnde  erscheinen  lässt.  Sein  Frauentypus  ist  im  Gegensatz  zu  dem  immer  zierlicher  und  elfen- 
hafter  werdenden  der  Bürgerklassen  stark  und  ausgearbeitet  von  mühseliger  Qual.  Die  unschönen 
Züge  sind  plump,  verquollen,  —  sie  sind  leidensvoll  und  verhärmt  von  der  Sorge  ums  tägliche  Brot, 
und  eine  müde  Entsagung,  die  fast  Hoffnungslosigkeit  ist,  liegt  darin.  Schwerfällig  ist  der  Gang, 
scheu,  ohne  Herrschaft  über  die  Glieder,  und  wo  sie  geht,  stiebt  aus  den  zerschlissenen  Kleidern 
dieses  armselig- bejammernswerthen  Geschöpfs  eine  Wolke  von  Armeleutgeruch.  Sie  ist  bei  einer 
zur  maschinenmässigen  Gewohnheit  gewordenen  Arbeit  begriffen  oder  in  dumpfer  Ruhe,  die  nur  eine 
Poesie  kennt:  die  Predigt  am  Sonntag  Nachmittag,  —  und  nur  ein  grosses  Glück:  das  werdende 


1  12 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


oder  eben  vorhandene  erste  Mutterglück.  Das  erste,  —  denn  beim  zweiten  ist  dies  Weib  schon  zu 
sehr  verstumpft,  um  es  noch  mächtig  empfinden  zu  können.  Uhde  hat  in  seinem  «Schweren  Gang» 
hier  sogar  das  Aeusserste  gewagt,  was  die  bildende  Kunst  wagen  darf,  aber  die  keusche  Auffassung 
darin  stempelt  die  künstlerisch  bedeutende  Darstellung  dieses  Werks  zur  Eroberung  eines  neuen 
Gebiets,  zu  einer  zweifellos  ernsthaften  Vertiefung  des  Frauentypus  in  der  modernen  Kunst.  —  Auch 
in  dem  unendlich  vielgestaltigen  Werk  von  Max  Klinger  spielt  die  Frau  eine  erhebliche  Rolle,  — 
hier  spiegelt  sich  zugleich  in  den  Hauptcyclen  von  des  Künstlers  mittlerer  Periode  ihr  sociales  Milieu 
und  die  Furchtbarkeit  ihrer  dem  Zufall  preisgegebenen  Existenz,  die  in  diesen  Bildungen  meist  vor 


dem  Abschlussdrama 
steht,  auf  breiterer 
Grundlage.  Er  hat 
selbst  in  den  hier  ge¬ 
meinten  ,  von  einem 
vollkommen  reifen 
Realismus  erfüllten 
Radirungen  kein  be¬ 
stimmt  festgelegtes 
Modell  und  kein  fest 
begrenztes  Thema  wie 
die  Vorgänger,  aber 
man  kann  doch  einen 
wiederkehrenden 
Typus  beobachten. 

Da  ist  eine  starkge- 
baute,  mittelgrosse, 
herbe  und  unschöne, 
aber  mit  einem  ge¬ 
wissen  Geschmack  ge- 
kleidete  Frauengestalt 

modernen  Gesellschaft  heraus.  Klinger’s  aus  dem  Kampf  der  Zeit  geschöpfter  Typus,  der  fast  immer  in 
einem  Drama,  fast  nie  im  trüben  Sonnenlicht  eines  hoffnungsvollen  Augenblicks  erscheint,  ist  ein 
fürchterlicher  Zeuge  von  Nachtseiten  der  Gegenwart,  gegen  welche  die  wirkliche  oder  sogenannte 
Arbeiternoth  eine  Bagatelle  ist.  —  Was  Menzel  unter  den  Berliner,  Düsseldorfer,  Münchner  Realisten 
ist,  nämlich  der  genialste  Darsteller  der  Frau  als  feinste  Blüthe  der  zeitgenössischen  Gesellschaft 
vor  und  um  1870,  das  ist  schliesslich  Skarbina  für  die  unmittelbare  Gegenwart.  Er  schildert  mit 
berückender  Kunst  die  feingebildete,  vornehme,  hochsensible,  schlanke,  zierliche  und  anmuthige  Frau 
der  bürgerlichen  Elite  in  ihrer  eigenthümlichsten  Sphäre.  Dieses  duftigzarte,  oft  ganz  Kunst  scheinende 
Geschöpfchen,  das  unter  grellem  Tageslicht  physisch  leidet  und  matt  ist,  in  der  Dämmerung  und 


■ 


■S  '  J  -iC 


F.  Klein  -  Chevalier.  Studie  zu  Nero  aus  dem  Gemälde  <  Agrippina : 


von  wilder  oder  ge¬ 
presster  Entschlossen¬ 
heit:  die  verzweifelt 
mit  dem  Schicksal  um 
ein  ehrliches  Sein 
ringende  halbgebildete 
Arbeiterin,  Näherin, 
Fadenmamsell,  —  die 
an  einen  Säufer  ver- 
heirathete  Frau,  — 
jene  mit  gebundenen 
Händen  dem  Zufall 
überlieferte  Tochter 
der  kleinen  Mittel¬ 
stände,  die  statt  Er¬ 
füllung  der  Sehnsucht 
nach  oben  oder  nach 
Glück  so  oft  Schande 
und  Elend  findet,  aber 
beinahe  nie  eine  hilf¬ 
reiche  Hand  aus  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


91 


F.  Klein-  Chevalier .  Skizze  zu  dem  Bilde:  Wiederankunft  des  durch  Napoleon  vertriebenen  Casseler  Kurfürsten  Wilhelm 


bei  Nacht  aber  mit  grossen  Augen  der  Verwunderung  wach  wird,  wandelt  bei  ihm  durch  dunkelnde 
Strassen  voll  raunender  Winter-  oder  Frühjahrsstimmung  oder  im  Baumschatten  an  sonnigem  Tag 
mit  dem  Lächeln  eines  zufriedenen  Kindes.  Oder  es  sitzt  bei  hörbarer  Stille  im  dämmerigen  und 
hinter  dichten  Vorhängen  von  gedämpftem  Sonnenflimmern  erfüllten  Gemach,  liest,  grübelt,  träumt  über 
einem  Buch  und  belauscht  in  nervöser  Bangigkeit  oder  mit  wohliger  Lust  die  Stimmen  um  sich  und  in 
ihrer  Seele.  Es  ist  ein  ganz  bestimmter  Typus,  der  nicht  Hausfrau,  nicht  Mutter,  nicht  Gattin  in  erster 
Linie  ist,  der  nicht  arbeitet,  sich  auch  nicht  geräuschvoll  vergnügt;  in  der  einzigen  Sorge  um  gute 
Laune  fliesst  sein  Leben  traumhaft  in  einem  feinen  Parfüm  von  lauter  dämmerigen  Stimmungen  dahin, 
die  sich  zum  berückenden  Kunstwerk  gestalten.  — 


12* 


F.  Klein-Chevalier 

VON 

HEINRICH  ROTTENBURG 


Die  Düsseldorfer  Künstlergemeinde  hat  sich  an  den  Kämpfen  und  Stürmen,  welche  das  letzte 
Jahrzehnt  dem  deutschen  Kunstleben  brachte,  nie  mit  lautem  Lärmen  betheiligt,  wenn  auch  der  Gegen¬ 
satz  zwischen  Alt  und  Jung,  zwischen  Fortschritt  und  Reaktion,  hier  so  gut  seinen  Ausdruck  fand, 
wie  anderswo.  Aber  die  Kunst  in  Düsseldorf,  die  weder  durch  die  verwirrende  Erscheinungsfülle 
grosser  internationaler  Ausstellungen,  noch  durch  übermässigen  Zuzug  fremder  Elemente  in  ähnlicher 
Weise  beunruhigt  und  in  Athem  gehalten  wird,  wie  etwa  in  Paris  oder  in  München,  hat  sich  in 
stillerer  und  stetiger  Entwicklung  immer  ihren  vornehmen  Rang  gewahrt  und  gleichzeitig  sind  ihr,  wie 
die  moderne  Künstlergruppe  dort  beweist,  alle  die  positiven  Errungenschaften  jener  Kämpfe  und  Stürme 
zu  Gute  gekommen,  ohne  dass  sie  unter  den  dazugehörigen  Irrungen  und  Wirrungen  schwer  gelitten 
hätte.  So  hat  die  alte  rheinische  Kunststadt  zwar  nicht  viele  von  jenen  Namen  vorzuweisen,  die  zu 
Schlagwörtern  und  Schlachtrufen  im  Kampf  um  neue  Ideale  der  Malerei  geworden  sind,  aber  sie  hat 
einen  strammen  Heerbann  trefflicher,  ernsthafter  und  an  sicherem  Können  reicher  Künstler  aufzubieten, 
an  deren  Bedeutung  auch  das  parteiischste  Urtheil  nicht  rütteln  kann.  So  oft  wir  in  den  letzten 
Jahren  Gelegenheit  hatten,  in  Münchener  Ausstellungen  die  «Düsseldorfer»  collectiv  beisammen  zu 
sehen,  hatten  wir  auch  Gelegenheit,  uns  über  die  grosse  Zahl  hervorragender  Kräfte  zu  wundern, 
welche  die  verhältnissmässig  doch  kleine  Stadt  aufzuweisen  hat:  Da  sind  die  beiden  Achenbach,  Peter 
und  Gerhard  Janssen,  Rocholl,  Hans  Bachmann,  Walter  Petersen,  Alexander  Frenz,  Jul.  Bretz,  A.  Dirks, 
Anton  Henke,  Olaf  Jernberg,  Herman  Huisken,  H.  Hermanns,  G.  Macco,  F.  v.  Wille  u.  s.  w.  u.  s.  f. 
Jede  «Richtung»,  jede  «Gruppe»  hat  glänzende  Vertretung  dort  und  es  ist  immerhin  von  sympto¬ 
matischer  Bedeutung,  dass  in  Düsseldorf  zugleich  der  berühmteste  Landschaftsmaler  der  alten  Schule, 
Andreas  Achenbach,  und  einer  der  kraftvollsten,  markigsten  der  modernsten  Richtung  wohnt,  Olaf 
Jernberg.  So  hat  die  intime  Genremalerei  ebenso  tüchtige  Vertreter  dort,  wie  das  «Freilicht»  und 
die  neuzeitlichen  dekorativen  Bestrebungen  und  die  in  den  letzten  Jahren  so  gewaltig  zur  Blüthe  ge¬ 
kommene  Schwarzweiss-Kunst.  Welchen  günstigen  Boden  solche  Verhältnisse  für  die  Weiterbildung 
eines  jungen,  gesunden  Talentes  bilden,  lässt  sich  am  Werdegang  so  manchen  Düsseldorfer  Künstlers 
mit  erfreulichem  Ergebnisse  verfolgen,  namentlich  auch  an  dem  des  Malers  Klein  -  Chevalier ,  von 
dessen  Schaffen  hier  kurz  die  Rede  sein,  von  dessen  Werken  einiges  besonders  Charakteristische 
wiedergegeben  werden  soll. 

Die  Lebensgeschichte  des  trefflichen  Genre-  und  Historienmalers  ist  weder  besonders  romantisch 
noch  sehr  ungewöhnlich  und  nur  das  Eine  ist  besonders  hervorzuheben,  dass  Klein-Chevalier  die  Lauf- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


93 


bahn  eines  Künstlers  gegen  den  Willen  der  Seinigen  einzuschlagen  den  Muth  hatte.  Er  wurde  vor 
35  Jahren  zu  Düsseldorf  geboren  und  von  seiner  Familie  zum  Offizier  bestimmt.  Aber  der  Beruf  zum 
Maler  siegte  in  ihm  und  er  besuchte  die  Düsseldorfer  Akademie,  wo  er  bei  Professor  Peter  Janssen 
und  dem  Architekten  Adolf  Schill  in  die  Schule  ging  und  sich  den  stattlichen  Schatz  von  Können 
aneignete,  den  wir  aus  allen  seinen  Bildern  erkennen.  Seinem  Meister  Peter  Janssen  war  erst  das 
jüngste  Heft  dieser  Zeitschrift  gewidmet,  so  dass  es  nicht  nöthig  ist,  auf  diesen  Künstler  und  seine 
Bedeutung  hier  näher  einzugehen. 

Der  junge  Maler  hatte  sich  bald  schöner  Erfolge  zu  freuen.  So  ging  er  aus  einer  Concurrenz 
für  den  Vorhang  des  Crefelder  Theaters  als  Sieger  hervor,  desgleichen  aus  einem  anderen  Wett¬ 
bewerbe  für  ein  Frescogemälde  im  Rathhaussaale  zu  München -Gladbach,  darstellend  die  Einweihung 
des  Niederwald  -  Denkmals.  Das  letztere,  figuren  reiche  Gemälde  hält  sich  bei  aller  überzeugenden 
Sachlichkeit  der  Darstellung  auf’s  Glücklichste  frei  von  jenem  conventioneilen  Repräsentationsstil,  der 
leider  für  so  viele  von  den  an  Deutschlands  grösste  Zeit  gemahnenden  historischen  Werken  charak¬ 
teristisch  ist.  Der  Schwierigkeit,  eine  modern  gekleidete  Menschenmasse  im  Augenblick  einer  offiziellen 
Festlichkeit  ohne  Steifheit  und  Convention  darzustellen,  ist  Klein-Chevalier  durch  das  erfolgreiche  Be¬ 
streben  begegnet,  jede  einzelne  Figur  zu  individualisiren  und  in  jeder  dieser  Gestalten  die  ganze 
Begeisterung  des  historischen  Augenblickes  erkennen  zu  lassen.  Vom  Denkmal  selbst  sehen  wir  nur 
den  vorderen  Theil  des  massigen  Sockels.  Rechts  im  Vordergründe  die  Figur  des  greisen  Helden¬ 
kaisers  Wilhelm  I.,  entblössten  Haupts,  den  Helm  in  der  Linken,  in  der  Rechten  einen  Lorbeerkranz. 
Neben  dem  Kaiser  der  Kronprinz,  der  nachmalige  Kaiser  Friedrich,  und  hinter  den  Beiden  eine  Schaar 
von  Fürstlichkeiten,  Militärs  und  Staatsmännern;  auch  Moltke’s  kluger  Kopf  ist  zu  erkennen.  Im 
Gegensätze  zu  diesen,  mit  friedlicherem  Ausdrucke  dargestellten  Herrschaften  sehen  wir  im  Vorder¬ 
gründe  bewegtere  Gruppen  begeisterter  Festtheilnehmer  und  Zuschauer  —  auch  diese  sind  sicherlich 
zum  grössten  Theile  Portraits.  Es  ist  unschwer  zu  erkennen,  dass  eben  ein  stürmischer  Hochruf  die 
Versammlung  durchbraust.  Hüte  und  Helme,  Schläger  und  Fahnen  werden  geschwungen,  ein  Paar 
Riesen  von  der  Garde  in  den  bekannten  Blechmützen  senken  feierlich  ihre  Feldzeichen,  und  das  minder 
offizielle  Publikum,  das  sich  die  Treppen  heraufkämpft,  stimmt  mit  wildem,  ehrlichem  Jubel  ein  in 
den  Festruf.  Und  unten  fliesst  der  Rheinstrom,  belebt  von  einer  Dampferflottille,  majestätisch  dahin. 

Die  Ausführung  dekorativer  Darstellungen  grossen  Stils,  welche  dem  Künstler  stets  die  grösste 
Freude  bereiteten,  wurde  ihm  für  das  Hotel  zum  Löwen  in  Düsseldorf  übertragen.  Dann  malte  er 
—  abermals  als  Gewinner  einer  Concurrenz  —  einen  Theatervorhang  für  Essen,  eine  Arbeit,  die 
Klein-Chevalier  auch  heute  noch  hohe  Befriedigung  gewährt;  ferner  gewann  er  den  ehrenvollen  Wett¬ 
bewerb  um  Ausführung  der  Freskogemälde  im  Rathhaussaale  zu  Düsseldorf,  welche  er  im  vorigen  Jahre 
vollendete.  Mit  der  Darstellung:  «Jan  Willem  werden  die  Baupläne  für  das  churfürstliche  Schloss  vorgelegt », 
hat  der  Künstler  vielleicht  sein  bestes  Werk  geschaffen.  Wenigstens  hält  er  selbst  diese  Arbeit  dafür. 

Eine  weitere  Auszeichnung  erfuhr  unser  junger  Meister  durch  den  Auftrag  des  preussischen 
Cultusministeriums,  den  Sitzungssaal  des  Bergamtes  Halle  a.  S.  mit  allegorischen  Darstellungen  über 
den  Bergbau  zu  schmücken.  In  weiteren  Kreisen  bekannt  und  eine  gewaltige,  Achtung  gebietende 


94 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Leistung,  durch  Schwierigkeit  und  Umfang  der  Arbeit,  waren  die  Kuppel-  und  Glasgemälde  der 
Berliner  Gewerbeausstellung  1896.  Wenn  man  bedenkt,  dass  die  Figuren  die  ungeheuerliche  Grösse 
von  7 1/-2 — 8  Metern  hatten  —  ein  Format,  das  den  berühmten  Evangelistenfiguren  in  der  Peters¬ 
kuppel  zu  Rom  nicht  allzusehr  nachsteht  —  so  kann  man  sich  einen  Begriff  davon  machen,  wie 
schwierig'  es  war,  diese  Riesengestalten  in  Form  und  Malerei  zusammenzuhalten  und  wirksam  zu  machen. 

In  Cassel  gewann  Klein -Chevalier  eine  Concurrenz  der  sogenannten  Wimmelstiftung.  Das 
Sujet  war:  «Die  Wiedereinbringung  des  Churfürsten  Wilhelm  in  Cassel  nach  dessen  Vertreibung 
durch  Jerome.»  Wir  sehen  den  von  Reitern  eskortirten  Wagen  des  Churfürsten,  den  ein  Gespann  von 
Bürgern  zieht,  die  ihm  die  Pferde  ausgespannt  haben.  Am  Portal  einer  Kirche  begrüsst  die  Geist¬ 
lichkeit  den  zurückkehrenden  Landesvater. 

Ein  einjähriger  Aufenthalt  des  Malers  in  Rom  zeitigte,  dem  genius  loci  entsprechend,  ein 
anderes  Werk,  das  auch  in  München  auf  einer  Ausstellung  zu  sehen  war  und  die  verdiente  Aner¬ 
kennung  fand:  «Tod  der  Agrippina,  der  Mutter  Nero’s».  Neuesten  Datums  ist  der  hier  als  Vollbild 
wiedergegebene  «Spielsaal  in  Ostende».  Als  Klein  -  Chevalier  im  vorigen  Jahre  das  flämische 
Luxusbad  besuchte,  interessirte  ihn  das  Leben  in  der  Spielhölle  dort  so  sehr,  dass  er  beschloss,  es 
im  Bilde  festzuhalten.  Auch  in  der  Behandlung  dieses  oft  und  meist  mit  einem  grossen  Aufwand 
theatralischer  Effecte  gemalten  Vorwurfs  erhebt  sich  unser  Künstler  weit  über  das  Conventionelle. 
Nur  wenige  Figuren  sprechen  von  der  Tragik,  die  das  Laster  der  Spielwuth  im  Gefolge  hat,  so  ein 
im  Hintergründe  nach  rechts  sich  entfernendes  Paar,  ein  Mann,  der  mit  krampfhaft  verschlungenen 
Händen  und  gesenktem  Haupte  am  Tische  sitzt.  Die  Anderen  bewahren  äusserlich  die  kühle  Ruhe 
des  Wohlerzogenen  und  folgen  dem  Fortgang  des  Spieles  mit  der  Aufmerksamkeit,  mit  der  man 
etwa  die  Handlung  auf  einer  Bühne  betrachtet.  Das  Ganze,  im  Ton  prächtig  zusammengehalten, 
wirkt  vornehm  und  überzeugend  wahr.  Die  Typen  sind,  weit  entfernt  irgendwie  outrirt  zu  erscheinen, 
eminent  beobachtet. 

Klein -Chevalier  arbeitet  zur  Zeit  an  einem  grösseren  Werke:  «Besuch  Kaiser  Wilhelm  II.  mit 

o 

Krupp  im  Stadtverordnetencollegium  zu  Essen»  —  bekanntlich  hat  Se.  Maj.  der  Kaiser  diese  Körper¬ 
schaft  damals  durch  seinen  unerwarteten  Besuch  überrascht.  Ausserdem  hat  der  Maler  zwischen  den 
aufgezählten  grösseren  Schöpfungen  eine  Reihe  kleinerer  Genrebilder  und  Portraits  fertiggestellt, 
und  sich  namentlich  als  Portraitist  weiblicher  Schönheiten  einen  begründeten  Ruf  erworben.  Wie  er 
selbst  erklärt,  sind  ihm  freilich  monumentale  Aufgaben,  in  denen  er  Architektur  mit  ornamentalem 
Schmuck  u.  s.  w.  vereinigen  kann,  die  Liebsten  und  er  hat  das  seltene  Glück,  sich  diesen  Lieblings¬ 
aufgaben  verhältnissmässig  häufig  gegenübergestellt  zu  sehen.  Bleibt  ihm  dies  Glück  hold,  so  wird 
Klein-Chevalier  in  nicht  ferner  Zeit  einer  der  gekanntesten  und  geschätztesten  Meister  der  dekorativen 
Kunst  in  Deutschland  sein.  Er  hat  das  Können  dazu  und  die  schöpferische  Kraft,  den  grossen  Zug 
für  das  Monumentale  und  jenes  reine,  begeisterte  Künstlerthum,  ohne  das  es  keine  Bewältigung 
grossartiger  Aufgaben  gibt. 


A.  v.  Liezen-Mayer  t 

VON 

H.  R. 


"Wahrend  der  letzten  Münchener  Carnevalstage,  am  19.  Februar  dieses  Jahres,  wurden  die  der 
Kunst  nahestehenden  Kreise  durch  die  Nachricht  vom  Tode  des  Malers  Professor  A.  v.  Liezen-Mayer 
in  tiefe  Trauer  versetzt.  Der  Tod  dieses  Künstlers  bedeutet  einen  Markstein  in  der  Geschichte  der 
deutschen  Malerei:  mit  ihm  stirbt  eigentlich  die  Pilotyschule  aus.  Er  war  ihr  typischster  Vertreter, 
so  sehr  im  Geiste  seines  einstigen  Meisters  aufgegangen,  dass  auch  noch  seine  spätesten  Werke  den 
unverwischten  Stempel  jener  Schule  tragen. 

Alexander  von  Liezen-Mayer  war  ein  Ungar,  am  24.  Januar  1839  zu  Raab  geboren.  Er  wandte 
sich  früh  schon  dem  Berufe  eines  Malers  zu,  begann  1856  seine  Studien  zunächst  an  der  Wiener 
Akademie  und  trat  bereits  anderthalb  Jahre  später  an  die  Münchener  Künstlerhochschule  über.  Hier 
«genoss»  er  zunächst  unter  Hiltensperger  die  Segnungen  des  Antikensaales,  kam  dann  zu  Anschütz 
in  die  Malschule  und  1862  in  Piloty’s  Meisteratelier  selbst.  Direkt  unter  Piloty’s  Leitung  malte  er 
sein  erstes  grösseres  Werk:  «Die  Königin  Maria  von  Ungarn  mit  ihrer  Mutter  Elisabeth  am  Grabe 
Ludwigs  des  Grossen  im  Jahre  1385»,  eine  Arbeit,  die,  trotzdem  sie  eine  treffliche  Talentprobe  war, 
noch  nicht  besonderes  Aufsehen  erregte.  Nicht  viel  besser  ging  es  seiner  «Krönung  Karls  von  Durazzo 
im  Dom  zu  Stuhlweissenburg» ,  die  ebenfalls  1862  fertig  wurde  und  seiner  «Heiligsprechung  der 

Elisabeth  von  Thüringen»,  die  in  den  Besitz  eines  Birminghamer  Sammlers  überging  und  ihm  den 

ersten  Preis  einer  akademischen  Concurrenz  einbrachte.  Seinen  ersten  grossen  Erfolg  brachte  das  Jahr 
1867  mit  dem  Bilde:  «Maria  Theresia  legt  im  Garten  zu  Schönbrunn  das  Kind  einer  armen  Bettlerin 
an  ihre  Brust».  Hier  vereinigt  sich  Alles,  glänzende  Farbe,  prächtige  Composition  und  tiefer, 
seelischer  Ausdruck  zu  einem  Ganzen  von  hinreissender  Wirkung.  Wir  sehen  die  majestätische 
Gestalt  der  schönen  Kaiserin  auf  die  Stufen  einer  Steinbank  hingekauert ;  sie  reicht  dem  winzigen 
Wesen,  dessen  Mutter  ermattet  in  einer  Ecke  der  Marmorbank  schlummert,  die  Brust.  Im  Hinter¬ 
gründe  trägt  die  Kindsfrau  in  reichem  Tragkissen  eben  das  Kind  der  Kaiserin  selbst  heran.  Das 
Bild,  von  dem  Schultheiss  einen  wohlgelungenen  Stich  gefertigt,  fand  allseitigen  Beifall  und  begründete 
mit  einem  Schlag  den  Ruhm  des  jungen  ungarischen  Malers.  Durch  eine  Reihe  vorzüglicher  Bildnisse, 

u.  A.  das  seines  Landsmannes,  Freundes  und  Collegen,  des  Malers  Alexander  Wagner,  hatte  er  sich 

übrigens  ebenfalls  schon  Beifall  und  Anerkennung  erobert. 

Eine  Arbeit  Liezen-Mayer’s,  als  deren  Urheber  der  Künstler  seltsamer  Weise  wenig  bekannt 
war,  ist  der  Vorhang,  den  er  für  das  Theater  am  Gärtnerplatz,  das  damalige  Aktien- Theater  malte. 
Er  zeigt  uns  in  schwungvoller,  prachtvoller  Composition  Allegorien  der  Theaterkünste,  die  Tragödie, 
den  Humor  u.  s.  w.  Der  Vorhang,  den  Alexander  Liezen-Mayer  1897  für  das  Hoftheater  zu  Hannover 
im  Aufträge  des  Kaisers  malte,  und  der  ihm  noch  auf  seinem  letzten  Krankenlager  eine  Ordens- 
Auszeichnung  eintrug,  behandelt  ein  sehr  ähnliches  Motiv. 

Im  Jahr  1867  trat  Liezen-Mayer  aus  der  Münchener  Akademie  aus,  um  als  Bildnissmaler  und 
Illustrator  thätig  zu  sein.  Zunächst  waren  es  die  Gestalten  von  Goethe’s  «Faust»,  die  den  Stift  des 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


begeisterten  jungen  Malers  fesselten,  und  es  entstand  jener  Cyklus  von  50  Illustrationen,  der  den 
Namen  Liezen-Mayer  in  alle  Welttheile  trug,  ein  Prachtwerk,  das  in  den  verschiedensten  Sprachen  und 
Ausgaben  erschien,  in  Stichen  und  photographischen  Nachbildungen.  Es  zählt  den  Besten  der  zahl¬ 
losen  Faust-Cyklen  bei  und  —  trotzdem  es  von  der  Hand  eines  Ungarn  stammt  —  den  «Deutschesten». 
Der  Maler  'ist  mit  tiefem  Verständniss  und  gemüthvoller  Innigkeit  in  den  Geist  der  Dichtung  einge¬ 
drungen.  Auch  einige  seiner  Oelgemälde  entnahmen  ihre  Stoffe  dem  Faust’schen  Gestaltenkreis:  «Martha 
Schwerdtlein  und  Gretchen»,  «Die  Gartenszene»  u.  s.  w.  Ein  nicht  minder  grossartig  angelegtes 
Werk  als  der  Faust-Cyklus  ist  die  aus  etlichen  30  Blättern  bestehende  Bilderreihe,  welche  Liezen-Mayer 
zu  Schillers  «Lied  von  der  Glocke»  gezeichnet  hat  und  des  gleichen  Dichters  «Maria  Stuart»  schmückte 
er  ebenfalls  mit  Illustrationen.  Im  Jahre  1873  entstand  ein  grosses  Oelbild  «Elisabeth  unterzeichnet 
das  Todesurtheil  der  Maria  Stuart».  Illustrationen  zu  Scheffels  «Eckehardt»  zu  Shakespeare’s 
«Cymbeline»  und  zu  Freytag’schen  Romanen  gelangten  ebenfalls  in  jener  Zeit  zur  Vollendung. 

Im  Jahre  1870  begab  sich  Alexander  von  Liezen-Mayer  zu  einem  zweijährigen  Aufenthalt  nach 
Wien,  wo  ihn  hauptsächlich  Porträtaufträge  festhielten.  Er  malte  auch  u.  A.  ein  prächtiges  Bildniss 
des  Kaisers  Franz  Joseph  und  mancherlei  Personen  der  grossen  Welt. 

Dass  es  ihm  an  Auszeichnungen  nicht  fehlte,  ist  begreiflich.  Man  berief  ihn  1880  als  Direktor 
an  die  eben  neu  eingerichtete  Stuttgarter  Kunstakademie  und  hier  verbrachte  er  drei  Jahre  in  reger, 
erspriesslicher  Thätigkeit,  bis  er,  einem  Rufe  an  der  Münchener  Akademie  folgend,  hier  den  Wirkungs¬ 
kreis  fand,  der  ihm  am  Meisten  zusagte.  Was  der  Pinsel  A.  v.  Liezen-Mayer’s  seit  jenen  Jahren  Alles 
schuf,  ist  schwer  in  diesem  knappen  Rahmen  aufzuzählen.  Historische  Stücke,  kleinere  Genrebilder, 
Illustratives  und  Porträts  folgten  sich  in  reichem,  bunten  Wechsel.  Wir  nennen  nur:  «Der  ersten 
Liebe  goldne  Zeit»,  ein  unter  blühenden  Büschen  gelagertes  bäuerliches  Liebespaar,  dem  zu  Häupten 
ein  Genius  der  Liebe  und  des  Frühlings  segnend  vorüberschwebt;  eine  «Flucht  nach  Aegypten»  (ge¬ 
malt  1887)  von  vollendet  schöner,  einfacher  Composition;  «Wozu  die  Blumen  fragen,  ob  ich  Dich 
liebe?»  —  ein  Liebespaar  aus  Goethe’scher  Zeit  in  lichter  Landschaft ;  eine  «Heilige  Elisabeth»,  die 
einer  Bettlerin  ihren  Mantel  reicht  (1885);  «Die  Gratulanten»,  eine  liebliche  Familienscene  aus  dem 
bayerischen  Gebirg;  «Bei  der  Toilette»,  «  Am  Brunnen  »,  «Das  Mädchen  aus  der  Fremde»,  «Plauder¬ 
stündchen»,  «Erste  Liebe»  u.  s.  w.  u.  s  f. 

Zu  A.  v.  Liezen-Mayer’s  bekanntesten  Historienbildern  gehört  unstreitig  seine  «  Philippine  Welser 
vor  Kaiser  Ferdinand  I.».  Hierin  kommt  er  seinem  Meister  Piloty  am  Nächsten.  Den  letzten  grossen 
Erfolg  erzielte  unser  Künstler  mit  dem  1896  auf  der  Pester  Millenniumsausstellung  begeistert  auf¬ 
genommenen  und  auch  im  folgenden  Jahre  in  München  ausgestellten  Werke:  «Die  Erhebung  des 
Matthias  Corvinus  zum  König  von  Ungarn». 

A.  v.  Liezen-Mayer  hat  sich  im  Jahre  1872  mit  einer  jungen  Amerikanerin  verheirathet,  mit 
welcher  er  in  der  glücklichsten  Ehe  lebte.  Ein  interessanter  Kreis  intimer  Freunde  und  vertrauter 
Schüler  umgab  ihn  und  unverhüllter  warmer  Sonnenschein  strahlte  in  sein  Leben,  seine  Kunst  stetig 
reifend  und  jung  erhaltend.  In  einem  späteren  Heft  werden  diese  Blätter  sein  Wirken  noch  ein¬ 
gehender  würdigen.  Ein  abgerundetes  Künstlerleben,  von  Misstönen  frei  und  an  Erfolgen  reich, 
hat  seinen  Abschluss  gefunden  an  dem  Tage,  da  der  Tod  Alexander  von  Liezen-Mayer  den  Pinsel 
aus  der  Hand  nahm.  Möge  er  von  seinem  arbeitsreichen  Leben  ausruhen  in  Frieden! 


RELIGIÖSE  KUNST 

VON 

WOLFGANG  KIRCHBACH 


or  uns  liegt  ein  Bildniss  Christi 
oder  Jesu  von  Nazareth  aus 
dem  Jahre  1 50  nach  der  Geburt 
dieses  grossen  Religionsstifters.  Man 
hat  es  in  den  Katakomben  von  San 
Calisto  gefunden;  1632  hat  Bosio 
in  seiner  Roma  sotteranea  einen 
Kupferstich  darnach  veröffentlicht, 
den  in  diesem  Werke  u.  A.  auch 
die  Kgl.  Hof-  und  Staatsbibliothek 
in  München  und  die  Kgl.  Bibliothek 
in  Berlin  besitzt.  Es  ist  wohl  die 
älteste  Darstellung  des  Antlitzes 
Jesu,  die  uns  überhaupt  erhalten  ge¬ 
blieben  ist.  Und  diese  Darstellung 
macht  durchaus  den  Eindruck,  als 
ginge  sie  auf  noch  ältere  Bildnisse 
Jesu  zurück,  die  im  Stile  der  so¬ 
genannten  Mumienportraits  gehalten 

Die  erste  Christusdarstellung  in  den  Katakomben  von  San  Calisto  .  ...  r  .  ..  ..  . 

gewesen  sein  durften  und  möglicher 

Aus:  Bosio.  Roma  sotteranea 

Weise  thatsächlich  in  ihrer  letzten 
Quelle  nach  der  Natur  von  irgend  einem  syrischen  oder  griechischen  Anhänger  Jesu  gemalt  waren. 
Denn  wenn  auch  in  Judäa  selbst  sich  kaum  Jemand  gefunden  haben  dürfte,  der  ein  solches  Bildniss 
des  berühmten  Meisters  angefertigt  hätte,  so  gab  es  um  so  mehr  Griechen  und  freier  gesinnte  Syrier, 
welche  in  der  Weise  der  damals  allgemein  üblichen  Ahnenbildnisse  oder  jener  egyptischen  Portraits, 
die  wir  noch  massenhaft  auf  den  Mumien  finden,  die  Züge  des  grossen  Volkslehrers  festhalten  konnten. 
Das  Bedürfniss  nach  solchen  Portraits  war  im  Alterthum  ganz  allgemein,  besonders  zur  Zeit  Jesu. 
Nicht  nur  Cäsarenbüsten  und  Kinderbüsten  fertigte  man  an,  sondern  vor  Allem  auch  gemalte  Bild¬ 
nisse.  In  Rom,  in  Athen,  in  ganz  Kleinasien  und  Egypten  blühte  neben  der  Portraitplastik  auch  eine 


1  13 


98 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


nach  unserem  Geschmack  allerdings  primitive  Bildnissmalerei.  Es  wäre  sehr  verwunderlich  gewesen, 
sollte  man  in  einer  griechischen  Stadt,  wie  Caesarea  Philippi  war,  in  der  Jesus  lehrend  auftrat,  nicht 
das  Bildniss  der  Rabbis  festgehalten  haben.  Eine  alte  Sage  berichtet,  dass  in  dieser  Stadt  ein  Erzbild 
Jesu  stand,  welches  eine  Heidin  errichtet  haben  sollte,  die  er  vom  Blutgang  geheilt  hatte.*)  Es  wurde 
unter  Julian  zertrümmert.  Jenes  älteste  Katakombenbild  zeigt  uns  keinen  leidenden  Christus,  sondern 
einen  Mann  in  der  Vollkraft  der  Jahre.  In  der  Stirnmitte  gescheitelte,  lange  Lockenhaare  fallen  auf 
die  Schultern  herab.  Die  Nase  ist  länglich  und  regelmässig,  die  Stirne  oval  abgeflacht  wie  an 
griechischen  Stirnbildungen,  aber  in  den  Schläfen  ziemlich  breit,  individuell  entwickelt,  die  Aucren 
gross;  regelmässig  geformt  die  Augenbrauen.  Der  oval  geführte  Backenbart  ist  in  der  Kinnmitte 
gespalten.  Es  war  diese  Barttracht  sammt  den  gescheitelten  langen  Haaren  die  Tracht  der  vor¬ 
nehmen  jüdischen  Jünglinge,  überhaupt  auch  der  Rabbis,  und  schon  dadurch  trägt  dieses  alte 
Katakombenbild  das  Gepräge  der  Echtheit.  Die  Kinnspalte  im  Barte  Jesu  und  die  langen  Locken 
haben  sich  daher  auch  bis  heute  durch  alle  religiöse  Kunst  erhalten,  die  sich  innerhalb  einer  gewissen 
Ueberlieferung  bewegt  hat.  Auch  ein  frei  herabhängender  Schnurrbart  charakterisirt  das  älteste  Jesus¬ 
bild.  Der  Ausdruck  des  Gesichts  ist  mild  und  heiter  zugleich.  Ueber  der  linken  Schulter  liegt  ein 
Gewandstück,  die  rechte  Schulter  und  Brust  ist  frei  und  zeigt  einen  breitbrüstigen  Mann,  der  sich 
frei  und  offen  zu  bewegen  gewöhnt  ist,  wie  etwa  Michelangelo  in  seiner  Jesusstatue  auch  einen  solchen 
breitbrüstigen  Christus  schuf.  Schlank  und  wohlgenährt  zugleich  ist  der  Hals.  Das  Katakomben¬ 
bild  macht  einen  durchaus  individuellen  Eindruck.  Es  ist  wirklich  ganz  portraitartig,  kein  allgemeiner 
Typus.  Und  eben  dies  lässt  uns  schliessen,  dass  es  auf  noch  ältere  Originalbilder  des  Mannes  oder 
irgend  eines  Mannes  zurückgeht,  den  man  für  Jesus,  den  Sohn  Josephs  und  der  Maria,  angesehen 
hat.  Von  allen  späteren  Typen  ist  Tizian’s  «Zinsgroschen»  diesem  ältesten  Jesuskopfe  am  Nächsten 
gekommen,  nur  dass  er  ihm  jenen  strengen,  beinahe  blasirten  Ausdruck  gegeben  hat,  jenen  Aus¬ 
druck  eines  Mannes,  der  in  scharfsinnigen,  räthselhaften  Gleichnissen  spricht  und  gewöhnt  ist,  seine 
Gegner  zu  vexiren.  Der  Jesus  von  150  blickt  freier  und  heiterer  drein,  er  erinnert  eher  an  den 
Ausdruck  eines  alten  Bildnisses  von  Shakespeare. 

Sei  dieser  Jesuskopf  aus  den  Calixtuskatakomben  nun  wirklich  der  Nachklang  eines  älteren, 
authentischen  Bildnisses  oder  nur  eine  Idealvorstellung,  wie  um  150  die  Nazarener  in  Rom  sich  ihren 
Jesus  vorstellten,  jedenfalls  befinden  wir  uns  vor  einem  der  ältesten  Anfänge  christlich -religiöser 
Kunst,  ja,  vielleicht  vor  ursprünglichen  Anfängen  derselben.  Denn  wenn  wir  im  Folgenden  einen 
allgemeinen  Ueberblick  thun  wollen  auf  die  Entwicklung  der  christlich-religiösen  Kunst  und  die  Stadien 
derselben,  so  müssen  wir  uns  vergegenwärtigen,  dass  diese  religiöse  Kunst  vor  Allem  der  Darstellung 
Jesu,  seiner  Leiden,  seiner  Familie,  seiner  Lebensgeschichte  gewidmet  ist  und  dass  von  diesem  Mittel¬ 
punkte  aus  allmählig  sich  das  Gebiet  der  religiösen  Darstellung  erweitert,  indem  man  nach  und 
nach  den  Schöpfer  und  Gottvater  selbst,  den  heiligen  Geist,  Engel  und  Teufel,  jüngstes  Gericht, 
Sündenfall  und  Sintfluth,  ja,  auch  sonst  die  alttestamentarischen  jüdischen  Schriften  sich  lebendig  illustrirt. 


')  Vergl.  hierzu:  «Das  Urbild  Christi»  von  A.  Matthes  (1896). 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


99 


In  den  Anfängen  des  Christenthums,  wo  es  noch  ganz  in  jungfräulicher  Strenge  vor  Allem  die 
Verbreitung  des  jüdischen  Monotheismus  bedeutete,  konnten  seine  Religionsgemeinden,  die  um  das 
mittelländische  Meer  herum  sich  verbreiteten,  sicher  noch  an  keine  Darstellung  Gottes  selbst  denken. 
Das  Mosaische  Gebot  «Du  sollst  dir  kein  Bildniss  machen»  wurde  von  Judäa  aus  mit  übernommen. 
Dass  man  nur  den  Einen  unsichtbaren  Gott  anbetete,  gegenüber  den  vielen  sichtbaren  Göttern,  war 
das  Wesentliche.  Schon  zweihundert  Jahre  vor  Jesus  war  von  Jerusalem  aus  eine  bewusste  Organisation 
und  eine  bewusste  Propaganda  für  den  Glauben  an  den  einen  Gott  unter  den  Völkern  eingeleitet 
worden,  mit  ihm  aber  auch  für  das  strenge  den  Weltprincip  erhöht  und  zurechtgedacht 

Gebot,  dass  man  sich  von  diesem  einen  worden,  ein  Princip,  das  man  in  jenen  älteren 

Gotte  des  Monotheismus  kein  Bildniss  Zeiten  noch  rein  geistig  und  sozusagen 

machen  dürfe.  Als  durch  das  Auf-  V..  philosophisch  verstand.  Aber  in 


tretenjesu  und  seinerNazarener- 
schule  ein  tieferer  sittlicher 
Gehalt  in  diese  Lehre 
vom  einen  Urwesen 
aller  Dinge  gekommen 
und  damit  der  Sieg 
dieser  edleren  religiö¬ 
sen  Vorstellungen  ent¬ 
schieden  war  auch  für 
die  Gebildeten  des 
Alterthums,  musste  die 
Kunst  sich  zunächst  der 
Persönlichkeitjesu  selbst 
und  seiner  Schicksale 
bemächtigen,  wenn  sie 
überhaupt  religiös  wir¬ 
ken  wollte.  Durch  Pau¬ 
lus  und  seine  Schule 
war  Jesus  sehr  bald  zum 
Christus,  zum  erlösen- 


Giotto  di  Bondone.  Kreuzigung 
Original  in  der  kgl.  Gemälde -Galerie  zu  Berlin 


diesen  Zeiten  gab  es  noch  nicht 
eine  wirkliche  christlich¬ 
religiöse  Kunst,  sondern 
die  Kunst  des  römi¬ 
schen  und  griechischen 
Alterthums  wirkte  noch 
Jahrhunderte  weiter, 
nur  dass  sie  immer  mehr 
der  blossen  Handwerks- 
mässigkeit  verfiel,  bis 
allmählig  Technik  und 
Naturanschauung  völlig 
verloren  gingen. 

Jenes  älteste  Bildniss 
Jesu  gehört  noch  ganz 
der  besseren  Kunst¬ 
weise  des  Alterthums 
selbst  an.  Die  ersten 
Keime  christlich-religiö¬ 
ser  Kunst  tragen  noch 


die  freien  Züge  einer  geübten,  natürlich  beobachtenden  Kunstweise  und  wirken,  so  weit  man  über¬ 
haupt  Gegenstände  des  neuen  Glaubens  an  den  einen  Gott  darstellen  durfte  'und  mochte,  mit  den 
Mitteln  der  um  das  ganze  Mittelmeer  verbreiteten  Technik  der  römisch-griechisch- egyptischen  Cultur- 
periode.  Zu  einer  in  sich  geschlossenen  religiösen  Kunst  als  solcher  sehen  wir  es  indessen  nicht 
kommen.  Das  älteste  Christenthum  wirkte  nicht  kunstbildend,  konnte  es  nicht  thun,  denn  es  war, 
gegenüber  dem  götterbildenden  Heidenthum,  die  Begründung  einer  religiösen  Abstraction,  einer  über¬ 
sinnlichen  Vereinfachung  der  Begriffe.  Was  in  diesen  ältesten  Zeiten  wie  religiöse  Kunst  aussieht,  sind 


13* 


100 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ohnmächtige  Versuche  des  absterbenden  antiken  Kunsttriebes,  den  neuen  Begriffen  eines  alleinigen 
Gottes,  einer  erlösenden  Person,  gerecht  zu  werden.  Eine  Legende,  eine  Lebensgeschichte  Jesu  und 
der  Heiligen,  war  kaum  im  Keime  vorhanden;  sie  musste  erst  selbst  gebildet  werden.  In  den 
Schriften  des  Paulus,  die  zu  den  ältesten  Urkunden  der  neuen  Religion  gehören,  gibt  es  nur  Begriffe, 
dogmatische  Abstractionen  ;  die  Worte  Jesu  selbst,  die  so  reich  an  Anschauung  sind,  die  Gleichnisse, 
welche  nachmals  der  Malerei  so  viel  Gelegenheit  zur  Illustration  boten,  waren  viel  weniger  bekannt, 
obwohl  Matthäus  selbst  diese  schönen  Lehren  aufgezeichnet  hatte.  Sie  blieben  auf  einen  engeren, 
höher  gebildeten  Kreis  beschränkt,  während  das  Propagandawort  vom  gekreuzigten  Lamm  Gottes 
zugleich  mit  dem  Glauben  an  den  einen  Gott  zunächst  popularisirend  voranlief.  Nachrichten  vom 
geschichtlichen  Lebenslauf  Jesu  gingen  wohl  mit  um  ;  aber  die  ältesten  Evangelien,  wie  das  syrische 
Evangelium,  wussten  nur,  dass  Jesus  der  eheliche  Sohn  Josephs  und  der  Maria  war.  Noch  gab  es 
keine  Jungfrau  Maria ;  noch  dichtete  Volksgeist  und  Dogma  an  diesen  neuen  Vorstellungen,  bis  spätere 
Evangelien,  wie  Lukas,  allmählig  den  Schatz  dieser  Volkssagen  und  Ausdeutungen  alttestamentarischer 
Dichterworte  zu  neuen  Kundgebungen  sammelten.  Und  nun  begann  die  weitere  Legendenbildung. 
Als  aber  dieser  Process  bis  zu  einem  gewissen  Grade  poetisch-religiös  vollendet  war,  da  war  auch 
die  bildende  Kraft  der  alten  Künstlervölker  erloschen.  Es  folgt  eine  tausendjährige  Nacht,  wo  es 
keine  religiöse  Kunst  gab,  sondern  nur  ein  plumperes  und  feineres  Mosaikhandwerk  nach  den  mechanischen 
Traditionen  des  byzantinischen  Kunsthandwerks.  Als  solches  hat  dieses  ja  gewiss  viel  Interessantes 
geleistet;  die  künstlerisch -geistige  Ausbeute  des  ganzen  Jahrtausends  aber  ist  beinahe  gleich  Null; 
wir  sehen  nur,  dass  die  conventionelle,  allegoristische  Darstellung  von  dogmatischen  Vorstellungen  der 
triumphirenden  Kirche  die  Hauptsache  war.  In  Miniaturen,  Büchermalereien  finden  wir  wohl  mancherlei 
schönen  und  versteckten  Kunsttrieb,  aber  die  menschliche  Gestalt,  der  dargestellte  Vorgang  bleibt  in 
der  Hauptsache  ein  Ornament  mit  allegorischen  Beziehungen  in  verdorbenen  Reminiscenzen  antiker 
Lormen.  Nur  als  Ornament  zur  Andeutung  der  kirchlichen  Dogmen  durfte  der  menschliche  Kunsttrieb 
sich  äussern  ;  im  Uebrigen  blieb  er  geknebelt,  so  weit  er  vorhanden  war. 

Dass  er  aber  in  der  grossen  Masse  überhaupt  noch  nicht  da  war,  dass  nach  dem  sechsten  Jahr¬ 
hundert  allmählig  auch  die  letzten  Reste  antiker  Kunsttriebe,  die  schon  seit  400  Jahren  schematisirt 
waren,  erstarrten,  dass  sie  völlig  schwanden,  —  woran  lag  wohl  das  ? 

Nun,  halbwilde  Horden  von  Germanen,  Slaven,  Tataren,  welche  die  ewige  Natur  aus  ihrem 
Vorrath  von  ungemodelter  Kraft  nach  Europa  hineinschickte,  hatten  vom  alten  Grund  und  Boden 
Besitz  genommen,  nicht  nur  im  Norden,  sondern  auch  an  den  Küsten  des  Mittelmeeres.  Vandalen 
hausten  in  Afrika,  Gothen  zertrümmerten  in  Athen  die  Götterbilder,  und  sie  schlugen  ihnen  um  so 
vandalischer  die  Köpfe  ab,  je  mehr  sie  auf  ihre  Wildheit  den  Glauben  an  den  einen  Gott  gepfropft 
erhielten  und  bei  allzu  früher  Erstickung  freier  mythischer  Triebe,  die  sich  noch  nicht  ausgelebt  hatten, 
in  eine  Art  von  religiöser  Treibhausluft  versetzt  wurden.  Noch  völlig  roh  im  Gehirn  und  doch  schon 
Monotheisten!  Das  war  der  tiefere  Fluch  dieses  Jahrtausends.  In  Griechenland  und  Jerusalem  waren 
nach  uralter  Culturarbeit,  nach  vollem  Ausleben  aller  ästhetischer  Kunsttriebe  die  Weisen  und  das 
gereiftere  Volk  von  Judäa  zum  tieferen  Begriffe  von  dem  einen  Gotte  vorgedrungen.  Die  jungen,  rohen 


Tiziano  Vecellio  pim. 


Phot.  P.  Hatifstaengl,  München 


Der  Zinsgrosehen 


Original  in  der  kgl.  Gemälde- Galerie  zu  Dresden 


Das  heilige  Abendmahl 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


101 


Völkerschaften  aber,  die  in  die  christliche  Bewegung  hineingeriethen,  hatten  ihren  alten  Heidenglauben 
erst  zur  Hälfte  geschaffen,  von  bildender  Kunst  konnte  keine  Rede  sein,  denn  die  gedeiht  erst  da,  wo 
der  Pflug  lange  die  Erde  aufgeackert  hat.  Und  sie  mussten  erst  ackern  lernen,  um  es  kurz  zu  sagen. 

Tausend  Jahre  dauerte  diese  allmählige  Vorbildung  der  Völker  Europas  zur  feineren  Cultur. 
Da  begegnen  wir  denn  mit  dem  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts  bis  in  seine  Mitte  hinein  den 
ersten  Spuren  eines  künstlerisch-freien  Empfindens.  Die  heiligen  Masken  der  Byzantiner  mit  ihrer  alle¬ 
gorischen  Zeichendeuterei,  mit  dem  embryonenhaften,  mürrischen  Zuge  ihrer  Gesichter  wollen  wieder 
Leben  gewinnen.  Wir  begegnen  um  1207  zum  ersten  Male  am  Dome  von  Spoleto  einem  jugend¬ 
lichen  Christus.  Die  byzantinische  Christusmaske  war  allmählig  zu  einem  Greise  geworden;  die  Gesichter 
sahen  aus  wie  in  Spiritus  gesetzte  Frühgeburten. 

In  Toscana,  mit  Cimabue  und  Giotto,  be¬ 
ginnt  eine  erste  Blüthe  der  christlich -religiösen 
Kunst  wie  der  Kunst  überhaupt.  Und  auch  in 
der  Bildhauerei  regen  sich  die  ersten  Triebe 
künstlerischer  Darstellung  religiöser  Stoffe. 

Rein  geistig  war  zunächst  diese  Erneuerung 
künstlerischer  Triebe.  Man  finor  zum  ersten  Mal 
an  sich  vorzustellen,  wie  etwa  im  wirklichen 
Leben  der  Tod  Christi,  die  Grablegung,  die 
Beweinung,  die  heiligen  Vorgänge  und  Geschichten 
überhaupt  sich  ausgenommen  haben  könnten. 

Man  schuf  nicht  mehr  allegorische  Anspielungen, 
ornamentirte  Dogmen  und  an  den  Kirchenwänden 
versinnlichte  Hieroglyphen  zu  lateinischen  Glau¬ 
benssatzungen,  sondern  man  sah  die  christlichen 
Legenden  und  biblischen  Geschichten  als  eine 
epische  Wirklichkeit  an,  deren  Darstellung  an¬ 
gestrebt  wurde  mit  den  Mitteln  der  Einbildungskraft.  Tausend  Jahre  der  Vermischung  jüdisch-urchristlicher 
Religionslehren  und  Erlösungslehren  mit  heidnischen  Sagenwelten,  die  Umwandlung  griechischer  und 
germanischer  Götter  in  christliche  Heilige  oder  Teufelsgestalten  hatte  einen  grossen  Vorrath  von  neuen 
Stoffen  für  die  Malerei  geschaffen.  Die  germanische  Göttin  Perchtha,  die  mit  den  Longobarden  nach 
Oberitalien  eingewandert  war  sammt  ihrem  «Kinderheer»  (dem  «Mutterheere»  ungeborner  Kindlein),  hatte 
sich  mit  der  Mutter  Jesu,  Maria,  zu  einer  neuen  Götterbildung  vereinigt  im  Volksbewusstsein,  und  die 
ehemals  jüdische  Frau  Mirjam  erschien  nun  in  einer  himmlischen  Glorie,  umgeben  von  geflügelten 
kleinen  Kinderköpfchen,  die  nichts  Anderes  sind,  als  das  Heer  der  Ungebornen  um  Frau  Bertha  «mit 
dem  Gänsefuss»,  Frau  Holle,  zu  welcher  die  Gattin  Josephs  ward,  eine  Gestalt,  in  welcher  Tausende 
die  alte  Heidengöttin  noch  heute  anbeten.  Der  neue  Stoff  war  allmählig  im  Volksbewusstsein  aus¬ 
gereift,  die  Kirche  selbst  wurde  vom  fabelbildenden  Geiste  des  Volkes  fortgerissen.  Aus  den  Fabel- 


102 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


gestalten  altjüdischer  sechsflügeliger  Seraphine,  aus  den  assyrischen  halbmenschlichen  Cherubim  waren 
allmählig  zweigeflügelte  Menschengestalten  geworden  und  die  Kunst  begann  all’  diese  Wesen  mensch¬ 
lich,  natürlich,  als  mythische  Wirklichkeiten  aufzufassen,  die  zum  Theil  von  Haus  aus  nur  Ausgeburten 
allegorischer  Dichterphantasien  eines  Ezechiel,  Jesaia  oder  der  Offenbarung  Johannes  gewesen  waren. 
Aus  dem  Scheol,  der  mythischen  Unterwelt  des  ältesten  Judenthums,  von  dem  die  Propheten  schon 
nur  noch  bildlich  gesprochen  hatten ,  aus  dem  Hades  der  Griechen ,  der  « Hel »  der  Germanen  war 
die  «Hölle»  geworden,  welche  man  für  den  Ort  der  Verdammten  hielt.  Die  Mönchsphantasie  des 
Mittelalters  hatte  dazu  noch  das  Fegefeuer  ersonnen.  Genug,  reich  war  der  religiös-mythische  Stoff, 
welcher  eine  freier  werdende  Einbildungskraft  bewegen  konnte. 

Und  diese  Einbildungskraft  arbeitete  gleichzeitig  auch  dichterisch  daran  sich  frei  zu  machen. 
Dante,  der  gleichzeitig  mit  Giotto  lebte,  hatte  die  Kühnheit,  diese  Vorstellungen  ihrer  dogmatischen 
Bedeutung  zu  entreissen  und  aus  seiner  Hölle,  aus  dem  Inferno  einen  Vorwand  politischer  und  sitt¬ 
licher  Tagessatire  zu  machen.  Die  Auflösungsarbeit  begann,  welche  das,  was  man  dogmatisch  geglaubt 
hatte,  zu  einem  weltlichen  Spiele  der  Phantasie  umbildete.  Und  eben  in  solcher  Zeit  fand  die  Malerei 
die  Kraft,  den  religiösen  Stoffen  zum  ersten  Male  die  menschliche  Seite  abzugewinnen. 

Noch  sind  die  Darstellungsmittel  die  primitiven  einer  eben  beginnenden  Kunst.  Giotto’s  Fresken 
in  Padua,  in  Florenz  und  so  vielen  anderen  Städten  kommen  nicht  über  eine  einfache  Linienzeichnung 
hinaus,  welche  nur  die  allgemeinsten  Eigenschaften  einer  Gestalt  wiederzugeben  vermag.  Noch  ist 
von  einem  ernsteren  Naturstudium  keine  Rede,  noch  werden  nicht  treue  Nachahmungen  der  Natur 
in  Form  und  Farbe  versucht,  sondern  alle  Kraft  dieser  rein  geistigen  Kunstanfänge  legt  sich  in  die 
Auffassung  des  Vorganges.  Der  mimische  Verstand,  beflügelt  von  einer  erwachenden  dichterischen 
Einbildungskraft,  beginnt  sinnig  klügelnd  sich  in  die  dargestellte  Situation  zu  versetzen.  Das  religiöse 
Gefühl  ist  nur  so  weit  mitthätig,  als  man  selbstverständlich  von  der  Heiligkeit  der  Vorgänge  durch¬ 
drungen  ist  und  sich  als  guten  Christen  und  freien  florentinischen  Republikaner  zugleich  fühlt.  Schon 
bei  Cimabue,  noch  mehr  bei  Giotto,  fehlt  jede  Ueberschwänglichkeit  des  Religionsgefühls,  jede  Betonung 
einer  pietistischen  Auffassung.  Wir  werden  sehen,  wie  später,  bei  viel  höher  entwickelter  Technik, 
auf  einmal  ein  ganz  anderer  Zug,  ein  Zug  der  Frömmelei  und  Gefühlsdrückerei  aufkommt ,  bevor 
die  religiöse  Kunst  sich  völlig  zur  Freiheit  des  Historischen  erhebt. 

Bei  Giotto,  wie  gesagt,  spielt  der  geniale  Verstand,  der  Sinn  für  die  Richtigkeit  der  Dar¬ 
stellung  die  Hauptrolle.  Er  stellt  in  seinen  einfachen  Linien  z.  B.  die  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes 
dar.  Die  spätere  italienische  Kunst  macht  daraus  meist  einen  Vorgang  mit  höchst  aufgeregten  Gebärden. 
Bei  Giotto  sitzen  die  Jünger  still  beisammen,  die  Köpfe  sinnig  geneigt,  als  lauschten  sie  einer  inneren 
Eingebung,  tief  concentrirt,  die  Hände  in  verschiedener  Pantomime  der  Nachdenksamkeit  zusammen¬ 
gelegt.  Das  ist  so  einfach,  so  klar,  so  richtig.  Ueberall  sehen  wir  diesen  Meister  und  seine  Schule 
darauf  bedacht,  zu  verfahren  wie  ein  guter  Schauspieler  der  realistischen  Schule  arbeitet,  der  nur 
diejenige  Gebärde  sucht,  die  psychologisch  unmittelbar  richtig  ist.  Die  Verbindung  von  tiefer  Empfindung 
mit  psychologischem  Verstand,  welche  die  moderne  Welt  an  einer  Italienerin  wie  Eleonore  Düse 
bewundert  hat,  sie  ist  das,  was  für  diese  ersten  Anfänge  der  religiösen  Kunst  bei  Giotto  charakteristisch 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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bleibt.  Da  aber  die  Darstellungsmittel  diese  treffend  erfundenen  Gebärden,  diese  ganze  Schule  richtiger 
Mimik  nur  sehr  primitiv  wiedergeben,  so  haben  wir  beim  Betrachten  all’  dieser  Werke  immer  die 
Empfindung  gehabt,  dass  wir  mehr  Püppchen  eines  äusserst  geschickten  Marionettentheaters  sehen, 
dessen  Director  ausserordentlich  erfinderisch  ist  in  frappanten  Gebärden,  Posen  und  Stellungen  seiner 
Figürchen.  Die  Gewandung  all  dieser  religiösen  Gestalten  ist  noch  ganz  ideal ;  ein  Nachklang  gewisser 
griechischer,  antiker  Bekleidungsformen;  der  Gesichtsausdruck  ganz  einfach  schematisch. 

Es  währt  ja  nicht  lange,  so  sehen  wir  in  der  ganzen  kirchlichen  und  religiösen  Kunst  Italiens, 
Deutschlands  und  anderer  Länder  diese  schematische  Bekleidung  schwinden  und  fast  überall  die  Heiligen 
und  Maria,  die  Jünger  in  den  Trachten  der  Zeit,  der  näheren  Umgebung  einhergehen,  in  welcher  die 
Künstler  schufen..  Nur  Jesus  selbst  behält  zumeist  sein  ideales  Gewand  bei,  weil  man  ihn  ja  doch 
stets  als  den  menschgewordenen  Gott  dachte.  Der  gekreuzigte  Christus  dagegen  war  ein  Symbol 
für  sich,  von  dem  wir  noch  besonders  zu  reden  haben. 

Der  allgemeine  allmählige  Fortschritt,  den  nach  Giotto  und  seinen  Zeitgenossen  Plastik  und 
Malerei  überhaupt  in  technischer  Hinsicht  mit  der  allmähligen  strengeren  Ausbildung  der  Gestalt  und 
der  Naturnachahmung  machen,  kommt  auch  der  religiösen  Kunst  zu  Gute.  Man  muss  aber  bedenken, 
dass  kirchliche  Bilder  zumeist  auf  Bestellung  frommer  Kreise  hin  entstanden,  dass  sie  für  Altäre,  für 
Sakristeien,  für  Ausschmückungen  der  Kirchenräume  verlangt  wurden  und  dass  die  Besteller  ihre 
Anschauungen,  ihren  Einfluss  dabei  geltend  gemacht  haben.  Nicht  nur  die  freie  Phantasie  des  Künstlers 
war  dadurch  an  gewisse  Conventionen  gebunden,  sondern  auch  seine  Technik,  die  Freiheit  seiner 
Naturanschauung  unterlag  religiösen,  dogmatischen  Vorurtheilen.  Wir  können  deutlich  verfolgen,  wie 
schwer  der  Kampf  eines  Cimabue  und  Giotto,  sowie  ihrer  Vorgänger,  gegen  die  byzantinischen  Con¬ 
ventionen  gewesen  ist.  Und  auch  weiterhin  sieht  man,  wie  jeder  neue  Schritt  in  der  künstlerischen 
Belebung  der  heiligen  Gestalten  einen  gewissen  Widerstand  zu  überwinden  hat.  Zunächst  beobachten 
wir  aber  in  Italien  von  Giotto  an,  bei  Meistern  wie  Lorenzetti,  und  bis  zu  dem  liebenswürdigen  Fiesoie 
hin,  jenen  sicheren  rationalistischen  Zug  der  mimischen  Darstellung,  der  sich  gewissermassen  realistisch 
in  die  geschilderten  Vorgänge  hineindenkt,  ohne  irgendwelche  Beziehungen  zu  suchen,  die  ausserhalb 
der  reinen  erzählenden  Darstellung  liegen.  Verbunden  ist  mit  dieser  Richtung,  dieser  Schicht  der 
Kunstentwicklung  ein  Absehen  von  jedem  Glanz  und  Pracht  der  Farbe  oder  Kostümirung;  es  wird 
nur  rein  sachlich  verfahren;  man  drückt  mit  tiefer  Empfindung  alle  Situationen  aus,  aber  die  Tiefe 
dieser  Empfindung  ist  nicht  kirchlich  -  religiös ,  sondern  rein  menschlich,  die  unentwickelte  Kenntniss 
der  Natur  aber  macht  mehr  oder  minder  die  Gestalten  zu  geistreich  belebten  Puppen. 

In  eine  andere  Welt  treten  wir  allmählig  ein  mit  der  zweiten  Hälfte  des  vierzehnten  Jahr¬ 
hunderts  und  der  ersten  Hälfte  des  fünfzehnten.  In  Italien  beobachten  wir  in  dieser  Zeit  im  Ganzen 
einen  Rückgang  der  künstlerischen  Empfindung  auf  das  Religiöse  um  seiner  selbst  willen.  Es  ist  auf 
einmal,  als  sei  ein  ganz  anderer  Zug  in  die  Welt  gekommen.  In  Florenz,  in  Perugia,  in  Venedig,  in 
Bologna,  fast  an  allen  Stätten  der  Kunst  sehen  wir  jene  Madonnenbilder  überhand  nehmen,  die  sich  dadurch 
kennzeichnen,  dass  die  Mutter  Gottes  auf  einem  Throne  sitzt  mit  dem  Kinde  und  mit  seitwärts  geneigtem 
Kopfe,  in  einem  Ausdruck  der  demüthigen  Einfalt.  Meist  stehen  zwei  Heilige  zu  Seiten  des  Thrones, 


104 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


gleichfalls  mit  windschief  geneigten  Köpfen.  Engelsgestalten  umgeben  in  anderen  Fällen  den  Thron  ; 
auch  sie  pflegen  ihre  Köpfe  mehr  oder  minder  zur  Seite  hängen  zu  lassen.  Dieser  conventionelle 
Ausdruck,  dem  Minenspiel  pietistischer  Frömmelei  in  den  Kirchen  entlehnt,  nimmt  allgemein  überhand 
und  mit  ihm  dogmatisch -symbolische  Erfindungen.  Während  die  Kunst  in  dieser  Zeit  bereits  mächtig 
vorwärts  schreitet  in  der  natürlichen  Wiedergabe  der  Gestalt,  während  man  sich  bereits  ergeht  im 
Aufsuchen  tiefleuchtender  Farbenwirkungen  und  kostbare  Gewänder  an  Heiligen,  Kardinälen,  Madonnen 
malt,  geht  der  geistige  Ausdruck  in  Gebärden,  Stellungen,  Mienen  in  auffälliger  Weise  wieder  auf  das 
Conventionelle  zurück.  Niemals  sind  diese  Heiligen  naiv  sich  selbst  und  ihrem  Zustande  überlassen. 
Fast  immer  schielen  ihre  Gesichter  aus  dem  Bilde  heraus  auf  den  Zuschauer.  Die  Madonna  neigt 
ihren  Kopf  so  übertrieben  zur  Seite,  ihre  Stirn  ist  so  dumpf  geistlos,  ihre  Augen  stehen  in  so  unnatür¬ 
lichen  Winkeln,  dass  man  in  einer  Gesellschaft  von  Kunstbetern,  von  pietistischen  Heuchlern  zu  leben 
glaubt.  Zum  Theil  erklärt  sich  dieses  Herausschauen  der  Heiligen  aus  dem  Bilde  damit,  dass  die 
betreffenden  Madonnen  und  Heiligen  selbst  Gegenstand  der  Anbetung  für  die  Gläubigen  waren  in 
den  Kirchen.  Man  kniete  ja  vor  dem  Bilde  und  wollte,  dass  der  Heilige  Einen  dabei  sanft  erhörend 
anschaute.  Das  Bild  wird  wieder  vorwiegend  Cultbild,  es  ist  selbst  Gegenstand  der  Anbetung,  während 
Giotto  mit  seiner  Freskomalerei  sammt  der  ganzen  Schule  seiner  Nachahmer  ein  freier  ethischer 

<z> 

Erzähler  gewesen  war. 

So  ergibt  sich  schon  hier  der  Kampf,  dass  das  Bild,  je  mehr  es  dem  Zwecke  der  Kirche,  dem 
Cultus  dient,  je  religiöser  es  im  engeren  Sinne  ist,  desto  mehr  an  seiner  rein  künstlerischen  Qualität 
verliert.  Es  ist  nicht  für  sich  da  und  seine  Figuren  leben  nicht  für  sich,  sondern  für  Andere  ausserhalb. 
Je  mehr  dagegen  innerhalb  der  Religion  das  rein  Menschliche  betont  wird,  je  mehr  im  Christenthum 
die  Fehre  vom  Menschensohn  Christus  sich  Bahn  bricht  und  mit  ihr  das  Princip  der  Humanität  des 
menschgewordenen  Gottes  im  Menschen,  von  der  Vergöttlichung  des  Menschen,  desto  mehr  gewinnt 
die  Kunst  Kraft  auf  sich  selbst  zu  ruhen,  dieses  Menschliche  um  seiner  selbst  willen  zu  bilden  und 
es  zu  einer  höheren  künstlerischen  Naivität  zurückzuführen. 

In  der  ersten  Hälfte  des  Quattrocento  in  Italien  mit  seinen  Wurzeln  im  vorangegangenen 
Jahrhundert  sehen  wir  z.  B.,  dass  das  Ideal  des  Christus  in  gar  keiner  Weise  nach  der  menschlichen 
Seite  neigt.  Vielmehr  überbieten  sich  die  Künstler  darin,  den  Gekreuzigten  so  elend  und  entstellt  als 
möglich  darzustellen.  Häufig  begegnen  wir  einem  krummbeinigen  Jesus  am  Kreuze.  Das  Gesicht 
wird  möglichst  verfallen  gemalt.  Fra  Filippino  Lippi  malt  einen  Gekreuzigten  von  hysterischen  Formen, 
aus  dessen  Händen  und  Herz  das  Blut  herabtrieft.  Engel  aber  schweben  heran  und  fangen  diese 
Blutströme  in  Bechern  auf.  Mehr  wie  irgend  etwas  charakterisirt  dieses  den  symbolisirenden  Zug  des 
Zeitalters  mitten  in  dem  rüstigen  Vorwärtsstreben  aller  Technik  nach  Pracht  und  Natur.  Jesus  ist 
fast  ausschliesslich  als  das  Famm  Gottes  gedacht,  dessen  Opferblut  nach  paulinischer  Fehre  die  Welt 
von  Sünden  erlöst,  und  so  kommt  der  dogmatisirende  Künstler  dazu,  dieses  heilige  Blut  durch  Engel 
sogar  in  Bechern  auffangen  zu  lassen.  Derselbe  Meister  malt  eine  Madonna,  die  ihre  Anbeter  in 
dichten  Gruppen  um  sich  versammelt.  Zur  Symbolisirung  des  Schutzes,  den  sie  den  Ihrigen  ange¬ 
deihen  lässt,  die  Alle  um  sie  knieen,  Geistliche  und  Faien,  Männer,  Frauen  und  Kinder,  hat  die 


Petrus  Paulus  Rubens  pinx. 


Der  Höllensturz  der  Verdammten 


Original  in  der  kgl.  Pinakothek  in  München 


Guido  Reni  j»inx. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Eeee  homo 


Original  in  der  kgl.  Gemälde -Galerie  zu  Dresden 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


105 


Gottesmutter  einen  unendlich  langen  Mantel,  den  rechts  und  links  schwebende  Engel  erheben  und  über 
die  Gruppen  wegziehen  wie  ein  schützendes  Zelttuch.  Auch  hier  spielt  das  Symbolische  eine  künst¬ 
liche  Rolle.  Das  Christuskind  aber  in  den  verschiedenen  Darstellungen  der  Anbetung  der  Hirten, 
der  Madonna  mit  dem  Kinde  bleibt  meist  noch  ein  embryonenhaft  verhutzeltes  kleines  Würmchen  von 
leerem  Ausdruck  und  lediglich  symbolischer  Existenz.  Die  Künstler  entfalten  an  Nebenfiguren,  Heiligen, 
musicirenden  Engeln  zumeist  weit  mehr  Reiz.  In  Meistern  wie  Giovanni  Bellini  wird  hier  schon  das 
entschiedenste  Schönheitsbewusstsein  mächtig,  dass  sich  nun  beginnt  mit  dem  religiösen  Gefühl  zu  paaren. 

Noch  beobachten  wir  in  den  Anfängen  dieser  Periode  im  Norden  wie  in  Italien  an  der  Darstellung 
der  Mutter  Maria  mit  dem  Neugebornen,  dass  die  Madonna  kaum  eine  innere  mütterliche  Beziehung 
zu  ihrem  Sohne  hat.  Meist  sitzt  sie  in  dumpfer  Ratlosigkeit  oder  mit  einem  Ausdruck  des  Staunens 
oder  der  Demuth  da,  dass  sie  gewürdigt  wurde,  in  ihrer  Einfalt  als  sterbliche  Magd  den  Gottessohn 
zu  gebären.  Aber  noch  versagt  alle  Kunst  in  dieses  Kind  irgend  einen  Ausdruck  höheren  Lebens 
zu  legen,  wie  es  nachmals  Raffael  Sanzio  so  wunderbar  vermochte. 

Wir  sehen  in  der  dumpfen  Halbtheilnahme,  der  dienenden  Art, 
mit  welcher  die  Madonna  mehr  als  Aufwärterin  und  fremde 
Amme  das  Kind  respektvoll  behandelt,  das  Vorherrschen  der 
dogmatischen  Ueberlieferung.  Die  Kunst  will  absichtlich  aus- 
drücken,  dass  die  Mutter  nur  das  Gefäss  für  das  Walten  des 
heiligen  Geistes  war  und  so  sehen  wir  dann  erst  recht  natürlich 
die  Gestalt  des  Vaters  Joseph  mit  fremdartiger  Neugier  und 
verschiedenartig  ehrfürchtigem,  auch  gleichgiltigem  Ausdruck  das 
Wunderkind  betrachten. 

Aber  nun,  um  die  grosse  Wende  der  Zeiten,  in  welcher 
der  Humanismus  in  Wissenschaft  und  Poesie  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  Quattrocento  in  das  neuanbrechende  Cinquecento,  in  unser 
sechszehntes  Jahrhundert  und  in  die  Reformation  hineindrängt, 
sehen  wir,  dass  mehr  und  mehr  diese  Madonna  auch  die  Mutter 
des  kleinen  Jesus  wird,  sozusagen  die  rechtmässige  Mutter,  welche 
glückselig  mit  ihrem  Kinde  spielen  darf,  welche  freundlich  auch 
den  Spielgenossen  Johannes  herbeilässt.  Die  Zeit  beginnt,  wo 
die  Künstler  den  Ausdruck  des  Muttergefühles  als  solchen  ver¬ 
herrlichen,  wo  Jeder  aus  seiner  Erfahrung  und  seinen  Beobacht¬ 
ungen  das  verklärte  Auge  der  Wöchnerin  mit  seinem  geheimniss- 
vollen  Zauber  wiederzugeben  sucht.  Raffael  Sanzio  wird  derjenige, 
der  sich  am  Meisten  unerschöpflich  zeigt  in  dieser  Verherrlichung 
der  Mutterschaft  in  all  ihren  natürlichen  Aeusserungen. 


Und  gleichzeitig  mit  dieser  Erlösung  der  Madonna  aus  Sandro  Botticelli.  Der  heil.  Sebastian 

ihrer  dogmatischen  Dumpfheit  und  Befangenheit,  mit  dieser  ver-  0rigmai  m  der  kgl-  Gemälde -Galerie  zu  Berlin 


I  14 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


änderten  Situation,  in  der  die  Gottesmutter  ihr  Kind  menschlich  als  das  ihrige  anerkennt,  sodass  jede 
Mutter  in  der  Heiligen  nur  das  Vorbild  und  Abbild  ihrer  eigenen  mütterlichen  Erlebnisse  erkennt,  thut 
die  religiöse  Kunst  den  weiteren  Schritt  zur  Schönheit,  zur  Erhabenheit  auf  dem  Grunde  der  einfachen, 
ungesuchten,  natürlichen  Wahrheit.  Das  Schöne  wird  Religion;  die  Religion  wird  eine  Religion  der 
Schönheit;  die  menschlichen  Seiten  des  Christenthums  wurden  die  Träger  dieser  weltlichen  Religion. 

Was  Giotto  einst  ersehnt  hatte  und  bei  unendlichem  Reichthum  der  erzählenden  dichterischen 
Phantasie  technisch  nur  unvollkommen  wiedergeben  konnte,  das  tritt  von  Neuem  die  Herrschaft  an. 
Lionardo  da  Vinci  malt  sein  berühmtes  Abendmahl ;  ewig  ehrwürdig  im  Sinne  Giotto’s  durch  den 
klaren  psychologischen  Verstand  der  Auffassung,  die  dramatisch-richtige  Durchführung  der  Situation. 
Allgemein  wird  die  Tradition,  dass  man  die  heiligen  Geschichten  von  Neuem  als  einen  geschichtlich 
möglichen  Vorgang  auffasst,  dass  man  auch  die  Wunder,  sei  es  eine  Himmelfahrt  Jesu  oder  der 
Maria,  sei  es  die  Schöpfung  Evas  aus  der  Rippe  Adams  oder  eine  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes 
als  real,  naturwissenschaftlich  mögliche  Erscheinungen  sich  denkt  und  daraus  nun  alle  möglichen 
Schönheiten  plastischer,  malerischer  Art  entwickelt.  Das  Wunder  wird  zur  Natur  selbst;  es  gibt  sich 
nicht  mehr  als  dogmatische  Allegorie  wie  in  dem  Zeitraum  vorher,  wo  die  religiösen  Künstler  da  und 
dort  immer  noch  glauben,  symbolisirend  nachhelfen  zu  müssen.  Selbst  die  Heiligenscheine  müssen 
sichs  gefallen  lassen,  dass  sie  zu  einer  Art  von  wirklichem  Naturphänomen  werden,  das  die  Häupter 
umgibt.  Die  Künstler  haben  gelernt,  Strahlenbrechungen  der  Sonne,  des  Lichts  in  der  Natur  nach¬ 
zuahmen  ;  sie  haben  die  Strahlenkränze  des  Mondes  und  seines  Hofes  studirt ;  die  Glorienscheine  und 
Verklärungen  werden  nach  natürlichen  Analogieen  dieser  Art  zu  Phänomenen,  wie  wir  sie  etwa  im 
Sanct  Elmsfeuer  auch  in  Wirklichkeit  kennen.  Früher  war  der  Heiligenschein  meist  eine  ziemlich 
massive  Scheibe;  eine  andere  Gattung  —  wie  z.  B.  auf  Botticelli’s  «Beweinung  Christi»  in  der 
Münchener  Pinakothek  —  glich  sonderbaren  Strohdeckeln  oder  Strahlgeflechten,  die  horizontal  über 
den  Köpfen  sassen,  gleich  chinesischen  Basthüten.  Das  Alles  ward  in  der  neuen  Periode  nun  zu  einer 
Art  von  wirklicher,  natürlicher  Erscheinung.  Es  ist  die  Zeit,  in  welcher  Correggio,  Michelangelo, 
Andrea  del  Sarto,  Raffael  Sanzio,  Tizian  als  Zeitgenossen  schufen;  der  Letztere  fast  ein  volles  Jahr¬ 
hundert  durchlebend.  Sie  vollbrachten  das  grosse  Werk,  die  religiöse  Kunst  völlig  zu  einer  Kunst 
der  Schönheit  zu  erheben.  Und  seither  ist  in  das  Christenthum  und  seine  Kunst  das  Bedürfniss  der 
Vereinigung  religiöser  Stimmung  mit  der  Stimmung  der  Schönheit,  ganz  gegen  seine  ursprüngliche 
Natur,  dermassen  hineingewachsen,  dass  bis  heute  gerade  die  frommen  Kreise,  diejenigen,  die  religiöse 
Bilder  auch  gleichzeitig  im  religiösen  Sinne  betrachten,  jede  unschöne  Darstellung  heiliger  Geschichten 
schier  als  Profanation  ansehen.  Jedermann  weiss,  dass  noch  heutigen  Tages  diejenigen  Künstler, 
welche  in  ihrer  religiösen  Kunst  das  Schöne  absichtlich  vermeiden  und  eine  hässliche  armselige  Wieder¬ 
gabe  der  evangelischen  Geschichten  anstreben ,  um  dafür  mehr  eine  Innigkeit  des  Ausdruckes  zu 
erreichen,  gerade  bei  allen  religiös  gestimmten  Seelen  die  heftigste  Gegnerschaft  finden. 

Einstmals  aber  war  es  umgekehrt.  Da  galt  im  Kampfe  gegen  die  alten  conventioneilen  Meister 
gerade  die  schöne  Darstellung  als  eine  Profanation.  Länger  noch  als  in  Italien  hat  sich  in  Deutsch¬ 
land  der  religiöse  Kunstgeist  gegen  die  Schönheit  gesträubt.  Landessitte  brachte  es  in  Deutschland 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


107 


drlickliche  Betonung  all  der  Oualmittel  zu  erwecken,  die  eine  rege  Phantasie  im  Zeitalter  der  Daum¬ 
schrauben  und  der  Folterkünste  erfinden  konnte.  Auch  in  Italien  war  es  ja  so  gewesen.  In  jener 
Uebergangszeit  des  Quattrocento  mit  seinen  Gnadenbildern,  Andachtsbildern,  Familienbildern  finden 
wir  z.  B.  den  heiligen  Sebastian  nie  dargestellt,  ohne  dass  sein  nackter  Leib  mindestens  mit  fünf 
bis  zehn  Pfeilen  gespickt  ist,  die  natürlich  an  den  empfindlichsten  Stellen  durch  den  Leib  geschlagen 
sind  und  womöglich  Arm  und  Bein  noch  an  den  Pfahl  mitanspiessen.  Den  Ausdruck  des  Schmerzes 
und  der  Qual  vermochte  man  noch  nicht  mit  jener  Laokoonkunst  wiederzugeben,  welche  durch  sich 
selbst  schon  das  nöthige  religiöse  Mitgefühl  und  Märtyrerleid  erwecken  konnte.  Den  Unterschied  der 
Zeiten  sieht  man  deutlich  dagegen  an  einem  heiligen  Sebastian  des  Lorenzo  Lotto,  eines  Zeitgenossen 


mit  sich,  dass  z.  B.  die  Gottesmutter  die  Haare  weit  aus  der  Stirn  zurückgekämmt  trug  und  dass  ihr 
Birnenschädel  anmuthslos,  durch  kein  Löckchen  unterbrochen,  im  Ausdrucke  der  geistigen  Leere  hinter 
dieser  übergrossen  Stirne  dreinschaute  mit  dümmlichen  Augen.  Wohl  war  in  Deutschland,  während 
die  Italiener  eine  Periode  des  Pietismus  durchmachten,  die  Kunst  im  Sinne  Giotto’s  naiv  geblieben. 
Man  betete  nicht  so  viel,  auch  nicht  so  mystisch;  in  Italien  waren  viele  Mönche  in  jener  Zeit  Maler 
und  sie  übertrugen  ihre  klösterlichen  Empfindungen  und  die  Gewohnheit  geschäftsmässig  und  aus 
Lebensgewohnheit  zu  beten  auch  in  ihre  Bilder ;  in  Deutschland  und  Niederlanden  kam  das  seltener 
vor;  man  malte  sich  statt  dessen  lieber  die  Situationen  selbst  recht  lebenswahr  aus  und  suchte  die 
Empfindungen  des  christlichen  Mitleids  an  den  Leiden  Christi  und  der  Märtyrer  durch  möglichst  nach- 


Paolo  Veronese.  Die  Findung  Mosis 
Original  in  der  kgl.  Gemälde  -  Galerie  zu  Dresden 


14* 


10S 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


der  grossen  Periode  Michelangelo-Tizian,  den  das  Berliner  «Alte  Museum»  besitzt.  Dieser  Heilige, 
ein  wunderschöner  Jüngling,  fast  in  Formen  gewachsen,  wie  sie  dann  auch  Correggio  liebte,  ist  nur 
von  einem  einzigen  Pfeile  zwischen  Brust  und  Achsel  getroffen.  Was  früher  zehn  Pfeile  leisteten, 
thut  nun  ein  einziger,  denn  die  schmerzhafte  Wendung  des  Getroffenen,  die  Durchführung  der  schmerz¬ 
lichen  Symptome  durch  den  ganzen  Körper  rührt  um  so  mehr,  als  es  ein  schöner  Körper  ist,  dessen 
Zerstörung  unser  Mitgefühl  ungleich  mehr  wachruft,  als  wenn  es  ein  hässliches  Gestell  wäre. 

Tizian’s  «Assunta»,  Raffael  Sanzio’s  «Madonna  di  San  Sisto»,  Michelangelo’s  «Eva  im  Sünden¬ 
fall»  in  der  vaticanischen  Kapelle  bezeichnen  die  Höhepunkte  religiöser  Kunst,  in  welcher  das  Rein¬ 
menschliche  auch  den  höchsten  Gehalt  der  Religion  selbst  ausspricht,  in  welcher  die  Versöhnung  von 
Kunst  und  Religion,  von  Schönheit  und  religiöser  Verklärung  des  Irdischen  erreicht  ist.  Und  die 
Religion,  insbesondere  die  katholische  Kirche,  hat  sich  diese  Errungenschaft,  welche  zugleich  die 
Popularität  der  christlichen  Vorstellungen  mächtig  förderte,  selbst  bei  denen,  die  nicht  mehr  diesen 
Mariadienst  oder  die  Dogmen  ernstlich  glaubten,  nicht  wieder  nehmen  lassen.  Sie  hat  selbst  auf 
schöne  Darstellung  gehalten. 

Von  nun  an  muss  das  Christuskind  vor  Allem  ein  schönes  Kind  sein;  von  nun  an  muss  auch 
der  leidende  und  gekreuzigte  Christus  ein  kräftig  wohlgewachsener  Mann  mit  schönen  Zügen  und 
einem  schönen  Ausdrucke  seines  Schmerzes  sein.  Selbst  ein  so  genialer  Charakteristiker  wie  Albrecht 
Dürer  kann  sich  diesem  allgemeinen  Drange  nach  Schönheit  nicht  entziehen;  seine  Madonna  mit  dem 
Vögelchen  im  Berliner  «Alten  Museum»  ist  eine  blonde  Frau  von  fast  griechisch  regelmässigen  Zügen; 
die  Haare  sind  reizvoll  gescheitelt,  leichte  Löckchen  hängen  in  die  Stirn,  und  was  Anmuth  ersinnen 
kann,  um  diese  schöne  Frau  den  Grazien  verwandt  erscheinen  zu  lassen,  das  hat  selbst  Diirer’s  herbere 
Kunst  nicht  verschmäht.  In  Italien  aber  war  ein  ganzes  Jahrhundert,  das  Jahrhundert  der  Lebenstage 
Tizian’s  (1477 — 1  5 7 6) ,  dem  Drange  nach  sinnreich- wahrer  Erfindung  und  freier  Schönheitsverklärung 
aller  religiösen  Vorstellungen  zugleich  geweiht.  Die  dogmatische  Gläubigkeit  und  ihre  allegorische 
Symbolik  schwindet.  Wenige  Monate,  nachdem  Luther  seine  reformatorischen  Thesen  an  die  Schloss¬ 
kirche  von  Wittenberg  geschlagen  hatte,  vollendete  Tizian  seine  herrliche  «Assunta»,  die  Himmelfahrt 
Mariä.  Raffael  stand  zur  selben  Zeit  auf  der  höchsten  Höhe  seines  Könnens,  um  bald  darauf  zu 
sterben.  Michelangelo  hatte  bereits  die  Ausmalung  des  Deckgewölbes  der  Sixtinischen  Kapelle  hinter 
sich;  Correggio  begann  in  Parma  jene  Reihe  herrlicher  Heiligengemälde ,  unter  denen  die  «heilige 
Nacht»  in  Dresden  der  christlichen  Welt  wohl  am  Meisten  bekannt  geworden  ist.  London,  Wien, 
Dresden,  selbst  München  und  andere  Städte  bewahren  Weiteres  von  dieser  Art  des  Correggio. 
Es  ist  sehr  merkwürdig,  dass  von  all  diesen  Meistern,  welche  künstlerische  Normen  schufen,  die  nach¬ 
mals  durch  die  gesammte  weitere  religiöse  Kunst  massgebend  geblieben  sind,  kaum  ein  einziger  ein 
christlich -katholischer  gläubiger  Christ  gewesen  ist.  Correggio  war  ein  Lreigeist  und  doch  hat  er  die 
lieblichste  Darstellung  des  heiligen  Kindes  in  der  Krippe  geschaffen,  doch  scheint  er  geradezu  mystisch 
gläubig,  indem  er  von  diesem  Kinde,  wie  ein  elektrisches  Leuchten,  einen  Glanz  ausgehen  lässt,  der 
Antlitz  und  Busen  der  Mutter  und  die  Gesichter  der  Hirten  ringsum  beleuchtet.  Der  Freigeist  Correggio 
war  es  auch,  der  in  S.  Giovanni  und  im  Dom  zu  Parma  es  zum  ersten  Male  wagte,  die  ganze  Himmels- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Palma  Vecchio.  Maria  mit  dem  Kinde  und  zwei  Heiligen 
Original  in  der  kgl.  Gemälde-Galerie  zu  Dresden 

weit  des  Ch^stenthums,  das  Jenseits  in  ein  olympisches  Wolkenland  umzuwandeln,  in  das  man  hinauf¬ 
blickt,  um  wie  eine  visionäre  Wirklichkeit  Christus  und  die  Apostel  droben  zu  sehen.  Man  sieht 
die  Madonna  von  der  Erde  her  in  den  Himmel  auffahren  wie  Herkules  in  den  Olymp,  während  Christus 
ihr  aufgeregt  entgegenstürzt.  Zum  ersten  Male  erblicken  wir  hier  die  ganze  heilige  Welt  in  Ver¬ 
kürzungen  der  Untensicht,  zum  Theile  schon  mit  allen  sinnlichen  Reizen  solcher  Untensichten.  Seither 
entwickelte  sich  weiter  ein  ganzer  Zweig  der  religiösen  Kuppelmalerei  in  Italien  und  Deutschland, 
welcher  die  Illusion  für  die  Gläubigen  zu  erwecken  sucht,  Gottvater  und  die  Engel  schwebten  leib¬ 
haftig  über  ihnen  im  Kuppelraume  der  Kirche,  den  perspectivische  Kunst  zur  Vorstellung  eines  unend¬ 
lichen  Raumes  erweitert.  Veronese  ist  diesem  Beispiele  Correggio’s  gefolgt,  Tintoretto  und  Tiepolo 
haben  diese  Kunst  fortgepflanzt.  Sie  ist  bis  in  das  Kloster  Ettal  in  Bayern  gedrungen,  hat  in  der 
Zeit  der  Jesuitenherrschaft  in  Böhmen  zahllose  Kirchen  in  gleicher  Weise  ausgestattet.  Die  Lust  an 
der  Erweckung  der  Illusion,  dass  da  oben  wirklich  die  Engel  schweben  und  einherflattern,  dass  Gott¬ 
vater,  Christus,  Maria  leibhaftig  erscheinen :  eine  Illusion ,  die  man  durch  die  hochgesteigerte  Kunst 
der  malerischen  Verkürzung  und  der  Composition  erreichte,  hat  aus  mancher  Kirchendecke  und  Kirchen¬ 
kuppel  geradezu  ein  Ballet  gemacht,  wo  Engelsbeine,  Engelsfüsse  und  Engelsarme  durcheinander 
schweben  wie  die  Beine  von  Ballettänzerinnen.  Aber  gerade  die  künstlerisch  ausserordentlich  geniale 
Erweckung  dieser  Raumtäuschungen  bedeutete  für  die  Kirche  und  die  Religiosität  der  streng  Gläubigen 
eine  weitere  bedeutsame  Eroberung. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Wie  Correggio,  so  war  auch  Michelangelo  ein  Mann,  der  sich  lieber  an  der  Philosophie  Plato’s 
erbaute,  als  dass  er  den  Dogmen  der  Religion  Glauben  geschenkt  hatte.  Man  muss  bedenken,  dass 
die  katholische  Kirche  sich  innerlich  in  ihren  Hauptvertretern  dermassen  befreit  hatte  von  den  An¬ 
schauungen  der  Dogmatiker  selbst,  dass  Papst  Leo  X.,  der  Zeitgenosse  Luther’s,  mit  hochgestellten 
Geistlichen  wie  Gemisthos  Plethon,  Bessarion,  Cardinal  Bembo  es  offen  aussprach,  «die  Tage  seien 
nicht  mehr  ferne,  wo  Judenthum,  Christenthum  und  Islam  von  der  Religion  der  allgemeinen  Mensch¬ 
lichkeit  überwunden  sein  würden».  In  solcher  Zeit  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  dass  freigesinnte 
Künstler  unter  so  freigesinnten  Geistlichen  und  Päpsten  mit  aller  Kraft  daran  gingen,  diese  «Religion  der 
allgemeinen  Menschlichkeit»  durch  alle  Mittel  der  Schönheit  und  rein  menschlichen  Menschendarstellung 
zu  verkünden.  Und  sie  haben  den  Erfolg  gehabt,  dass  sie  massgebend  geworden  sind  für  alle 
Gattungen  der  religiösen  Malerei  und  ihrer  Composition  bis  zum  heutigen  Tage. 

Raffael  schuf  in  seinen  Stanzen,  auf  den  Londoner  Bildern  zu  den  Tapeten  die  neue  Kunst 
der  realen  Composition,  welche,  nach  Mantegna’s  Vorgang,  Raumtiefe  und  natürliche  Ordnung  der 
Gruppen  aus  ihren  psychologischen  Bedingungen  gab.  Ihm  wurde  die  Gruppirung  nicht  nur  ein  äusseres 
architektonisches  Mittel  der  Anordnung,  sondern  der  zwanglose  Ausdruck  von  inneren  Gesetzen  eines 
leidenschaftlichen  Vorganges  unter  Menschen.  Seither  konnten  die  biblischen  Geschichten  wie  eine 
theatralische  Wirklichkeit,  wie  auf  einer  lebendigen  Bühne  vor  dem  Beschauer  sich  abspielen.  Eine 
neue  Vertiefung  des  Ausdruckes,  eine  neue  sinnliche  Wahrscheinlichkeit  war  gewonnen.  Kaum  ein 
nachkommender  Künstler,  der  eine  Grablegung,  eine  dramatische  Scene  aus  dem  neuen  oder  alten 
Testament  mit  der  nöthigen  Figurenfülle  eines  Vollbildes  gemalt  hat,  konnte  sich  seitdem  der  durch 
Sanzio  gegebenen  Compositionsweise  entziehen,  die  durch  Oeffnung  und  regisseurmässige  Vertheilung 
der  Gruppenmassen  Uebersichtlichkeit  und  dramatische  Wahrscheinlichkeit  der  Vorgänge  steigert.  Raffael 
bildete  weiter  den  reinmenschlichen  Muttertypus  der  Madonna  nach  allen  Richtungen  aus.  Nicht  nur 
der  eben  geborene  Säugling  Christus,  sondern  das  heranwachsende  Kind  mit  seinen  schönen  Formen, 
die  innige  Beziehung  des  Menschenkindes  zur  Menschenmutter,  des  Menschensohnes  zu  seinem  weib¬ 
lichen  Ursprung  wird  die  Aufgabe  der  Kunst. 

Michelangelo  aber  malt  einen  Adam,  der  die  ganze  Fülle  männlich-jugendlicher  Schönheit  und 
Kraft  darstellt  und  sich  darin  als  ein  Vater  des  Menschengeschlechtes  erweist.  Seine  Eva  ist  das 
schönste  Weib,  denn  sie  ist  eine  «Mutter  aller  Lebendigen»,  nicht  mehr  jenes  missgeformte,  brustkasten¬ 
lose,  dürre,  magere  Geschöpf  der  Askese  und  der  sündigen  Betrachtung,  das  noch  Lukas  Cranach’s 
mangelhafte  Kenntniss  des  weiblichen  Körperbaues  schuf  und  das  auch  in  der  ältern  italienischen  Kunst 
geherrscht  hatte.  In  der  Gestalt  eines  Moses  verkörperte  Michelangelo  jede  Energie  des  Sitten¬ 
gesetzes  selbst,  wie  sie  der  Mythus  in  der  Zerschlagung  der  Tafeln  ausgedrückt  hatte  und  wie  nun 
ein  vorgeschrittener  philosophischer  Standpunkt  sich  das  Wesen  des  grossen  Gesetzgebers  selbst  deuten 
durfte.  Ueberhaupt  ist  die  tiefere,  allgemein  menschliche,  wenn  man  will,  philosophische  Deutung 
auch  der  christlichen  und  jüdischen  Sagengestalten  und  Mythen,  die  neue  geistreiche  Auffassung  das, 
was  diese  grosse  Renaissancezeit  so  interessant  macht,  neben  ihrer  Eroberung  aller  Mittel  der  Schönheit, 
der  Grazie,  des  Erhabenen,  sowie  der  äusseren  Technik  und  Wiedergabe  der  Natur.  Denn  Alles 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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geht  vorwärts  in  dieser  gewaltigen  Zeit;  alle  diese  Männer:  Andrea  del  Sarto,  Correggio,  Raffael, 
Michelangelo,  Tizian,  sie  schaffen  wie  in  einem  Rausche,  in  einem  Kunstrausche,  den  dann  im  Norden 
der  geniale  Rubens  erbte  und  um  so  kühner  durchlebte,  je  mässiger  er  bekanntlich  im  Essen  und 
Trinken  war,  «um  seine  Phantasie  nicht  zu  schwächen». 

Alles,  was  in  dieser  grossen  Zeit  die  Kunst  im  Allgemeinen  gewinnt  —  denn  sie  widmete  ja 
gleichzeitig  all  ihre  Kraft  der  Darstellung  weltlicher  Ereignisse,  griechischer  und  römischer  Mythe, 
dichterischen  Gestalten,  dem  Portrait  u.  s.  w.  —  es  kommt  auch  der  religiösen  Kunst  zu  Gute.  Hierbei 
ist  vor  Allem  die  dramatische  Auffassung  das,  was  jeder  von  diesen  Meistern  auf  seine  Weise  auch 
in  der  religiösen  Kunst  bewährt.  Die  alte  Kunst  hatte,  selbst  in  der  Darstellung  des  Leidens,  des 
Duldens  Christi,  in  all  ihren  Auffassungen  mehr  eine  idyllische  Wiedergabe  und  eine  passive  Behandlung 
der  Gestalten  und  ihrer  Situationen  gesucht.  Jetzt  wendete  sich  das  Blatt.  Jetzt  wurde  Alles  activ, 
jetzt  folgte  auf  die  Wirkung  die  Gegenwirkung,  die  Gebärde  wird  zur  Willensgebärde;  sie  sprach 
lauter,  eindringlicher,  kurz,  Handlung  und  Drama  kam  in  die  Kunst,  Kontrast  und  Gegensatz.  Früher 
stellte  man  die  Anbetung  der  Hirten  vor  dem  Christuskind  in  der  Krippe  so  dar,  dass  die  Hirten  zu 
dem  Kinde  wie  zu  einem  höheren  Wesen  demüthig  wallfahren,  ihre  Andacht  verrichten  gleich  den 
Gläubigen  in  der  Kirche  selbst,  die  zur  ausgestellten  Krippe  wallfahren.  Das  Bild  war  gleichsam  nur 
ein  Abbild  der  heiligen  Handlung  in  der  Kirche  selbst.  Jetzt  aber  malte  Correggio  die  Sache  so, 
dass  die  Hirten  wie  ausser  sich  erscheinen  über  ein  unerwartetes,  plötzlich  geschehenes  Wunder,  dass 
mit  anderen  Worten  ein  dramatischer  Affect  durch  das  heilige  Geschehniss  bewirkt  wird.  Noch  ver¬ 
stehen  es  aber  die  grossen  Künstler  dieser  Zeit,  den  Schein  der  Nothwendigkeit  all  dieses  lebhaften, 
dramatisch  aufgeregten  Thuns  zu  erzeugen.  Sie  motiviren  durch  sinnreiche  Erfindungen  ein  solches 
Verhalten,  denn  nicht  umsonst  geht  bei  Correggio  von  dem  Christuskinde  jener  Lichtglanz  in  der 
dunklen  Nacht  aus,  der  so  stark  ist,  dass  er  die  Hirten  blendet,  und  sie  veranlasst,  diese  Blendung 
durch  eine  Gebärde  auszudrücken.  Hatte  doch  der  Heiland  selbst  gesagt:  «Ich  bin  das  Licht  der 
Welt»  und  Correggio  müsste  nicht  der  grosse  Meister  des  Helldunkels  gewesen  sein,  der  malerische 
Kenner  aller  Lichteffecte,  um  aus  einem  solchen  Worte  nicht  malerisch-poetische  Folgerungen  zu  ziehen. 
Die  realistische  Kunst  der  Ausführung  erhob  einen  solchen  Einfall  über  die  blosse,  trockene  Allegorie. 

In  der  Darstellung  der  Mutter  mit  dem  Kinde  sehen  wir  alle  Künstler  emsig  beflissen,  ihrem 
Leben  all’  jene  momentanen  Handlungen  und  Situationen  abzulauschen,  die  uns  als  ewig  wiederkehrende 
auch  in  der  wirklichen  Mutterschaft  entzücken.  Wer  hätte  nicht  schon  gesehen,  wie  eine  Mutter  rasch 
die  Wange  ihres  Kindleins  an  die  ihrige  schmiegt  und  darin  ihre  Zärtlichkeit  ausdrückt?  Nun,  Palma 
Vecchio  malt  es  uns  an  seiner  «Maria  mit  dem  Kind  und  zwei  Heiligen»  in  der  Dresdner  Galerie. 
Die  bildschöne,  blonde  Mutter  aus  longobardischem  Stamme  drückt  die  Wange  eines  bildschönen 
Lockenköpfchens  an  die  ihrige.  Wer  hätte  nicht  gesehen,  wie  lebhafte  kleine  Kinder,  die  man  rittlings 
auf  dem  Schoosse  sitzen  hat,  um  mit  ihnen  zu  «tschaken»,  sich  plötzlich  umwenden  und  rasch  mit 
dem  Händchen  nach  der  gewohnten  mütterlichen  Brust  greifen?  Nun,  dies  hundertmal  erlebte  Geschehniss 
stellt  Michelangelo  an  der  wundervollen,  unvollendeten  Marmorgruppe  seiner  Madonna  dar,  die  wir 
in  der  Medicäerkapelle  zu  Florenz  stehen  sehen.  An  der  Entwickelung  dieses  Künstlers  selbst  sehen 


112 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wir  im  Einzelnen,  wohin  die  künstlerisch-religiösen  Ideale  der  Zeit  drängen.  In  seiner  Jugend  schuf 
er  die  «Pieta»,  jene  herbe  Gruppe,  wo  der  noch  ziemlich  dürre,  unscheinbare  Leichnam  Jesu  im  Schoosse 
der  trauernden  Mutter  liegt.  Noch  ist  der  Heiland  hier  ein  gar  dürftiges  Männchen  im  Verhältnis 
zur  Mutter,  die  den  Todten  quer  über  ihrem  Schoosse  hält.  Das  Motiv  selbst  war  alt;  wir  finden 
bei  Botticelli  und  vielen  Anderen,  dass  die  unglückliche  Mutter  den  Leichnam  im  eigenen  Schoosse 
halten  muss.  Die  allegorische  Beziehung  ist  klar,  grausamer  konnte  die  ältere  christliche  Auffassung 
des  ewigen  Mutterschmerzes  die  Sache  nicht  ausdrücken.  Und  doch  war  das  Motiv  innerlich  unwahr 
und  gezwungen;  recht  mit  den  Haaren  herbeigezogen,  unnatürlich  im  höchsten  Grade.  Wann  hätte 
je  ein  Weib  einen  ausgewachsenen  Mann,  den  Leichnam  ihres  Sohnes  so  auf  dem  Schoosse  tragen 

des  «jüngsten  Gerichts», 


mögen  ?  Es  ist  bezeich- 
nend,  dass  nach  Michel- 
angelo's  Pieta  das  Motiv 
immer  seltener  und  sel¬ 
tener  wird  in  der  neuen 
Kunst.  Michelangelo  selbst 
aber  schuf  später  einen 
ganz  anderen  Christus  so¬ 
wohl  als  Maler  wie  als 
Bildhauer.  Was  für  ein 
starker  Mann  ist  die  Statue 
seines  Jesus  mit  dem 
Kreuz  am  rechten  Arm ! 
Was  hat  er  für  pracht¬ 
volle  Schenkel,  ein  Mann 
gewöhnt  von  Land  zu 
Land  zu  wandern!  Lenden 
hat  er  wie  ein  Held,  der 
seine  Kraft  beisammen 
hat.  Und  auf  dem  Bilde 


welch  ein  Titane  ist  es,  der 
hier  richtet  über  dieTodten 
und  die  Lebendigen  ! 

Sicher  aber  entspricht 
diese  Auffassung  in  ihrer 
Grösse  auch  weit  mehr 

der  Auffassung,  die  Jesus, 
der  Verfasser  als  jener 

grossartigen  Gleichnisse 
vom  W  eltzusammenbruch, 
vom  «reichen  Mann  und 
armen  Lazarus »  selbst 
gehabt  hat  bei  diesen 
Parabeln ,  die  wir  ja  in 

vorgeschrittener  Zeit  als 
solche  erkennen.  Die 

mächtige  Kraft  der 

Sprache  in  diesen  Jesus¬ 

worten,  die  selbst  zu  den 

bedeutendsten  Kundgebungen  der  jüdischen  Lehrpoesie  gehört,  fand  gerade  in  Männern  wie  Michel¬ 
angelo  und  Rubens  erst  die  congenialen  Künstler,  die  der  Sache  geistig  gerecht  werden  konnten.  Was 

in  früheren  Zeiten  Luca  Signorelli,  Giotto,  so  mancher  Darsteller  von  jüngsten  Tagen  geleistet  hatte, 

erreichte,  bei  allem  Reichthum  phantastischer  Einfälle,  doch  in  keiner  Weise  den  Kern  und  die 
Grösse  der  Jesusworte  und  der  prophetischen  Vorstellungen.  Die  verschiedenen  Teufelssorten  waren 
nur  spuckhafte  Lemuren  und  Löwenäffchen,  Kinderspielzeug  mit  Teufelsfratzen,  das  in  keiner  Weise 
schrecken  konnte,  Liedermausgezücht  und  skurriler  Vorrath  aus  Hexenküchen.  Jetzt  aber  hatte  man 
durch  Erregung  räumlicher  Schwindelgefühle  in  Verkürzungen  und  perspectivischen  Ansichten  unge¬ 
heurer  Abstürze  von  Menschenleibern  ein  Mittel  gefunden,  Reflexgefühle  im  Beschauer  auszulösen, 


Lucas  Cranach  d.  Aelt .  Maria  mit  dem  Jesuskinde 

Original  in  der  kgl.  Pinakothek  zu  München 


Christus  am  Kreuz 


Original  in  der  Fiirstl.  Lichtensteinischen  Gemälde  -  Galerie  zu  Wien 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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die  geradezu  leibliche  «Furcht»  wie  die  antike  Tragödie  erwecken.  Denn  wenn  wir  so  etwas  mit 
voller  Realität  dargestellt  sehen,  wie  ein  anatomisch  richtig  durchgebildeter  Leib  kopfüber  hinab¬ 
stürzt,  so  stellen  wir  uns  unwillkürlich  vor,  dass  wir  auch  so  in’s  schwindelhafte  Hinabstürzen  ge- 
rathen  könnten;  die  Ueberwindung  dieser  Reflexempfindung  unseres  Gemiithes  aber  erzeugt  weiter 


die  Empfindung  des  Erhabenen  in  uns. 

So  sehen  wir  das  Dramatische 
in  allen  Formen  und  unter  Be¬ 
nützung-  aller  Mittel  der 
Technik  in  dieser  Zeit  die 
religiöse  Kunst  beherrschen, 

Die  Stoffe  sind 
den  bedeutend¬ 
sten  Künstlern 
längst  nicht 
mehr  das,  was 
das  Dogma  und 
die  Legende 
von  Haus  aus 
bei  ihnen  ge¬ 
dacht  hatten ; 
sie  werden  viel¬ 
mehr  als  eine 
freie  Mythologie 
alles  Mensch¬ 
lichen  benützt, 
als  Mythen  und 
Sinnbilder, 
welche  recht 
eigentlich  die 
äussere  und  in¬ 
nere  Geschichte 
der  Menschheit 
erzählen.  Der 
blutige  Christus 
nur  «bedeutet» 


Hans  Holbein  d.  Jung.  Die  Madonna  des  Bürgermeisters  Meyer 

Original  in  der  kgl.  Gemälde- Galerie  zu  Darmstadt 


am  Kreuze  beginnt  seltener  zu  werden, 
wie  er  im  Anfang  der  religiösen 
Kunst  überhaupt  noch  nicht  da 
war.  Denn  erst  im  sechsten 
Jahrhundert  sehen  wir  zuerst 
diese  blutige  Darstellung. 

Das  Dogma  von 
der  Transsub- 
stantiation  des 
leiblichen  Blutes 
Jesu  im  Abend¬ 
mahl  entstand 
erst  im  elften 
Jahrhundert;  in 
christlichen  Ur¬ 
zeiten  wurde  es 
nur  als  ein  Ge- 
dächtnissmahl 
verstanden  wie 
es  heute  die  re- 
formirte  Kirche 
versteht,  denn 
man  wusste  in 
jenen  Tagen 
noch,  dass  die 
Worte,  diejesus 
brauchte,  in  der 
That  nur  heis¬ 
sen  «  das  be¬ 


deutet  »und  was 

das  bedurfte  keines  Wunders  einer  Transsubstantiation.  Erst  mit  dieser  mystischen 
neuen  Lehre  aber  sehen  wir  auch  in  der  Malerei  die  Sucht  nach  dem  Blute  des  Heilandes,  welches 
ein  Erlöserblut  war,  bei  allen  Gelegenheiten  sich  kundgeben.  Der  Schönheitssinn  der  grossen  Humanisten 
drängte  diese  Vorstellungen  sichtlich  zurück,  um  andere  Seiten  des  christlichen  Glaubens  darzustellen, 


I  15 


114 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


die  anmuthiger  waren.  —  Jetzt  begann  man  nun  auch  mehr  und  mehr  die  Gleichnisse  Jesu  selbst  dar¬ 
zustellen  ,  was  ja  auch  schon  früher  geschehen  war,  aber  nun  in  einem  neuen,  idyllisch  -  anmuthigen 
menschlichen  Sinne  geschah.  Die  Geschichte  vom  verlornen  Sohne,  die  bis  heute  so  beliebt  bei  Malern 
ist,  stellt  man  sinnig  dar,  der  barmherzige  Samariter  erscheint  und  spielt  späterhin  als  Landschafts¬ 
staffage  noch  eine  grosse  Rolle.  Schiavone  malt  einen  ganzen  Cyklus  solcher  Gleichnisse.  Noch  fehlt 
aber  auch  in  dieser  Zeit;  jede  Neigung,  die  heiligen  Vorgänge  etwa  zu  orientalisiren,  sie  als  jüdische 
Geschichten  auf  palästinensischem  Boden  in  historischem  Costüm  zu  geben.  Die  Tracht  der  Gestalten 
ist  entweder  eine  frei  erfundene  Idealtracht,  bei  der  wohl  gewisse  Grundvorstellungen  von  antiker 


Pompeo  Battoni.  Magdalena 
Original  in  der  kgl.  Gemälde  -  Galerie  zu  Dresden 


Kleidung,  wie  sie  auch  wirklich  wenigstens  in  Griechenland  und  Kleinasien  bestand,  festgehalten  sind. 
Oder  man  gibt  nach  wie  vor  Alles  im  Costüm  der  eigenen  Umgebung.  Wir  können  in  Deutschland, 
Niederlanden  und  Italien  die  ganze  Trachtenkunde  der  verschiedenen  Landschaften  von  1200 — 1600 
und  auch  später  noch  an  den  religiösen  Bildern  studiren.  Nur  in  Venedig  zeigt  sich  frühzeitig  schon 
auf  sehr  alten  Bildern  die  Neigung,  auch  im  Costüm  zu  wirken.  Der  Venetianer  sah  ja  fortwährend 
türkische,  arabische,  jüdische  Gesandte,  Ankömmlinge,  Ansiedler  in  seiner  Stadt.  Von  historischer, 
kulturgeschichtlicher  Forschung  ist  natürlich  keine  Rede;  aber  man  begegnet  doch  bereits  öfters  einem 
jüdischen  Kaftan,  einem  Schofar,  einem  Kleidungsstück  oder  irgend  einem  Gegenstand  aus  der  Synagoge 
auf  den  kirchlichen  Bildern  alter  Venetianer.  Im  Uebrigen  charakterisirt  man  aber  die  Heimath  Jesu 


) 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


115 


durch  Turbane,  türkische  Waffen  und  Rüstungen,  irgend  welchen  arabischen  Hausrath  der  Zeit,  wie  man 
ihn  im  Handelsverkehr  kennen  lernte.  Das  Bewusstsein,  dass  man  es  mit  Palästina  zu  thun  hat,  wird 
gelegentlich  auch  dadurch  geweckt,  dass  man  hebräische  Buchstaben  auf  Rollen  und  Folianten  anbringt, 
die  im  Bilde  verwerthet  sind.  So  gibt  es  ein  Bild  von  Mazzolino  (1481 — 1528),  wo  der  Knabe  Jesus 
in  der  Synagoge  mit  den  Schriftgelehrten  disputirt.  Turbane  bezeichnen  hier  das  Localcolorit  und 
hebräische  Goldbuchstaben  über  dem  Lehrstuhl  Jesu  verrathen  die  wissenschaftliche  Kenntniss  des  Künstlers. 

Man  würde  irren,  wollte  man  lediglich  Unwissenheit  und  Naivität  des  Zeitalters  darin  sehen, 
dass  die  genialsten  Meister  ihre  Madonnen  und  Engelsgestalten  in  die  Costüme  der  Frauen  und  Jung¬ 
frauen  ihrer  eigenen  Zeit  steckten.  Das  wirklicht  sein  solle.  Nun,  dieses  Heil 


war  vielmehr  in  den  Zeiten,  da 
das  Christenthum  noch  in 
seiner  ranzen  Kraft  die 

o 

Gemüther  beherrschte, 
der  Ausdruck  eines 
der  tiefsten  Lehr¬ 
sätze  dieser  [Reli¬ 
gion.  «Wo  zwei 
und  drei  versammelt 
sind  in  meinem  Na¬ 
men  ,  da  bin  ich 
mitten  unter  ihnen  », 
hatte  Jesus  gelehrt 
und  Paulus  hatte 
ausgeführt,  dass  die 
Gemeinde,  die 
Kirche  selbst,  nichts 
Anderes  sei,  als 
die  Verkörperung 
Christi,  des  Heils, 
das  jeder  Zeit  «  mit¬ 
ten  unter  uns  »  ver- 


Rembrancit  van  Rijn.  Die  Kreuzabnahme 
Original  in  der  kgl.  Pinakothek  zu  München 


war  in  der  Gestalt  Jesu  und 
der  Maria  gewissermassen 
sinnlich  verkörpert.  Was 
bei  Jesus  und  Paulus 
von  Haus  aus  eine 
sittliche  Idee  der 
ewigen  Verwirklich¬ 
ung  des  Göttlichen 
und  des  Guten  in¬ 
mitten  der  mensch¬ 
lichen  Gemeinwesen, 
in  der  Familie,  in 
der  Kirche  war,  das' 
musste  die  Kunst  in 
wirklichen  Gestalten 
vor  Augen  führen. 
Und  so  kommt  es, 
dass  wir  überall  jene 
Gnadenbilder  und 
Familienandachts¬ 
bilder  finden,  wie 
z.  B.  die  Madonna 


des  Holbein,  die  mitten  in  der  bürgerlichen  Familie  erscheint  und  das  jüngste  Kind  des  Hauses  auf 
ihren  Arm  genommen  hat,  als  wäre  es  ihr  eigenes  Christkindchen.  So  kommt  es,  dass  Veronese 
seine  berühmte  Hochzeit  von  Kana  malt  (Dresdner  Galerie),  wo  mitten  in  einer  Gesellschaft  von 
lustig  zechenden  Venetianern  und  Venetianerinnen,  in  prachtvollen  Kleidern  jener  Zeit,  Jesus  im  idealen 
Gewand  und  mit  dem  Heiligenschein  sitzt,  als  gehörte  er  zur  Gesellschaft.  Neger  bedienen  und  bringen 
Wein  herbei,  ja,  man  ist  schon  leicht  bezecht.  Es  war  keine  Profanation  des  Heiligen  und  Religiösen, 
es  war  vielmehr  die  Weihung  des  täglichen  Lebens,  dass  man  überall  das  «Immanuel»  der  jüdischen 


15* 


116 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Religion,  das  «mitten  unter  uns»  des  Göttlichen  dargestellt  zu  sehen  verlangte.  —  In  unserer  Zeit  ist 
das  Bewusstsein  dieser  Herkunft  der  alloemeinen  anachronistischen  Benützung  des  Zeitcostüms  durch 
die  Künstler  fast  ganz  geschwunden,  ja,  wir  haben  erlebt,  dass  moderne  Maler,  welche  versucht  haben, 
Christus  in  alter  Weise  mitten  unter  Menschen  in  den  Costümen  unsrer  Zeit  erscheinen  zu  lassen, 
gerade  in  kirchlichen  Kreisen  selbst  die  meiste  Anfeindung  erfuhren.  So  sehr  wandeln  sich  wie  im 
Leben,  so  auch  in  Religion  und  religiöser  Kunst  die  Dinge.  Veronese  aber  konnte  noch  die  reichste 
Familie  von  Venedig  in  den  Costümen  ihrer  Zeit  hinter  den  Königen  aus  dem  Morgenlande  herziehen 
lassen  zur  Mutter  mit  dem  heiligen  Kinde,  er  konnte  als  Landschaftshintergrund  Venedig  mit  seinen 
Palästen  und  der  Lagune  selbst  wählen,  und  es  entsprach  nur  einem  häuslichen  religiösen  Bedürfniss. 

Neben  Raffael  und  Michelangelo  verdanken  wir  Tizian  die  massgebendsten  Typen  christlicher 
Ideale  für  alle  folgende  Zeit.  Seine  «Assunta»,  die  im  Wirbel  emporfährt,  ist  die  schönste  Verklärung 
des  «Ewig- Weiblichen»  selbst,  das  nachmals  Goethe  besang.  Sein  Christus  mit  dem  Zinsgroschen  das 
ernsteste  Ideal  des  strenggesinnten  Rabbis,  der  da  gelehrt  hatte,  dass  wir  Alles,  was  wir  Gutes  thun, 
nur  als  unsere  Pflicht  anzusehen  haben.  Vielleicht  hat  kein  Maler  die  eigentliche  Lehre  Jesu  als 
eines  einfachen  Lehrmeisters  der  Menschheit  in  ihrer  Verbindung  von  Strenge  und  Humanität  mit  so 
richtigem  Instinkt  erfasst,  als  Tizian. 

Das  grosse  Erbe  der  Kunst  und  mit  ihr  auch  der  religiösen  Darstellung  tritt  in  der  Zeit,  da 
Tizian  endet  und  Veronese  auf  hört,  mit  neuer  nordischer  Kraft  Peter  Paul  Rubens  an.  Bei  ihm  wird 
der  Menschensohn  voller  Kraftmensch  und  Naturmensch,  noch  mehr  als  bei  den  Italienern.  Wie  wunderbar 
ist  dieser  Christus  mit  der  Sünderin,  den  die  Münchener  Pinakothek  besitzt !  Mild  ist  sein  Blick,  aber 
jeder  Rest  von  mönchischer  Mimik  und  Augenaufschlagerei  ist  getilgt;  die  Askese  ist  völlig  überwunden, 
und  in  der  Darstellung  der  Sünderin  spielt  die  strotzendste  Sinnlichkeit  herein.  Das  jüngste  Gericht, 
die  Engelsstürze,  die  Kämpfe  von  Engeln  mit  Drachen  und  andere  Motive  aus  der  apokalyptischen 
Mythe  —  wie  werden  sie  zu  neuen  Apokalypsen  malerischer  Phantasie  unter  dem  Pinsel  dieses 
Künstlers!  Sein  «heiliger  Hieronymus»,  welch  ein  Kraftmensch,  seine  Kreuzabnahme  im  Dom  zu 
Antwerpen  —  welch  ein  Bild  der  menschlichen  Ueberwindungskraft  und  Reckenhaftigkeit.  Denn  zu 
mächtigen  Recken  zeigen  sich  nun  Jesus  und  seine  Anhänger  ausgewachsen,  ein  Heroengeschlecht  von 
körperlicher  und  moralischer  Kraft,  wie  es  gewiss  die  ersten  Verkünder  der  Lehre  waren,  die  um 
das  Mittelmeer  umher  reisten,  wie  es  nachmals  auch  Winfried  und  die  germanischen  Apostel  gewesen 
sind,  die  da  Götterbilder  stürzten  und  keine  hageren,  kraftlosen  Asketiker  sein  durften,  wenn  sie 
durchdringen  wollten.  Wenn  schon  so  die  natürliche  Wahrscheinlichkeit  mit  den  neuen  Darstellungen 
eines  Rubens  übereinstimmt,  so  tritt  bei  ihm  natürlich  noch  eine  ganz  weltliche  Freude  an  mächtigen 
Formen,  an  frischen,  lebensvollen  Farben  hinzu,  an  jeder  Aeusserung  menschlicher  Kraft.  Und  so 
muss  das  Christenthum  es  sich  gefallen  lassen,  durch  Rubens  in  souveräner  Weise  in  die  reine  Religion 
der  menschlichen  Phantasie  und  ihres  Uebermuthes  umgewandelt  zu  werden ;  es  wird  potenzirt  in  ein 
hyperbolisches  Lebensgefühl  wie  Alles,  was  dieser  geniale  Mann  mit  seiner  Phantasie  und  seiner 
fröhlichen  Zeichnerkunst  und  Farbenlust  berührte.  Ihm  kam  es  nun  vollends  nur  darauf  an,  wenn  er 
in  eine  Kirche  ein  grosses  Altarbild  stellte,  die  Gläubigen  wie  die  Ungläubigen  emporzureissen  in 


Kreuzigung 


Phot.  F.  Haufstaengl,  München 


Madonna 


Aufnahme  von  13.  Johannes  in  Partenkirchen 


118 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Jos.  Führich.  Die  Hochzeit  zu  Kana 


eine  geniale  Anschauung  des  Lebens ,  alles  Enge ,  Philisterhafte ,  Beschränkte  auch  den  religiösen 
Gestalten  zu  nehmen  und  ihnen  die  Schwungkraft  der  eigenen  Seele  zu  leihen.  Das  höchste  Ethos 
der  Kunst,  eben  diese  ästhetische  Schwungkraft  und  Energie  der  Seele,  es  wird  durch  Rubens  auch 
zu  einem  religiösen  Ethos. 

In  seinem  genialen  Schüler  van  Dyk  sehen  wir  indessen  die  ersten  Spuren  einer  Richtung,  die 
nun  in  die  religiöse  Malerei  kommt  und  die  bis  heute  nicht  ausgestorben  ist,  nämlich  die  nervöse 
Religionsstimmung,  die  sich  gelegentlich  bis  zur  Hysterie  steigert.  Einige  wunderbare  Bilder  van  Dyk’s, 
malerisch,  harmonisch  über  jeden  Tadel  erhaben,  zeigen  doch  bereits  eine  Betonung  des  Schmerz¬ 
ausdruckes,  des  Affectes  überhaupt,  der  beinahe  verräth,  dass  man  diesen  Schmerz  nicht  mehr  so 
überzeugt  innerlich  miterlebte  und  eben  deshalb  ihn  zum  Ausdruck  physischer  Qualen  steigerte.  Jetzt 
beginnt  Christus  am  Kreuze  unter  Zuckungen  zu  hängen,  den  Kopf  zurückzuhängen  und  geradezu  zu 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


119 


schreien;  jetzt  ist  die  Madonna  bei  der  Kreuzesabnahme  oder  Beweinung  wie  in  Weinkrämpfe  verfallen; 
der  Schmerz  verliert  alles  Heroische,  alles  Heilige,  alles  im  höheren  Sinne  Menschliche ;  jeder  Affect 
wird  zum  Physischen.  Nur  wenige  Künstler  wie  der  schönheitsvolle  Guido  Reni  begreifen  noch,  dass 
der  Mensch  auch  im  höchsten  Affect  diese  Regung  innerlich  selber  bändigt,  dass  er  sich  ihm  nicht 
willenlos  überlässt  und  dass  ein  gewisser  Stoizismus,  der  jeder  gesunden  und  geistig  edlen  Natur 
angeboren  ist,  weit  rührender  wirkt,  als  wenn  im  Gehirn  gar  kein  Punkt  mehr  vorhanden  ist,  der  sich 
gegen  die  Reflexbewegungen  der  Leidenschaften  wehrt  und  sie  im  gewissen  Sinne  zweckmässig 
regulirt.  Guido  Reni  gelingt  es  noch  in  solcher  Zeit,  sein  «Ecce  homo »  zu  schaffen,  seinen  Christus 
mit  der  Dornenkrone,  ein  Bild,  das  sich  die  ganze  Welt  erobert  hat  wegen  der  klassischen  Schönheit 
des  Kopfes  und  des  klassischen  Masshaltens  im  Schmerzausdruck,  das  bei  Laokoon  in  die  Schule 
gegangen  scheint  und  durch  volle  Vergeistigung  der  Mimik  des  Leidens  auch  wirklich  den  Dulder¬ 
schmerz  ausdrückt,  der  durch  sein  geistiges  Opfer  die  Welt  erlöst. 

Dieses  geistige  Opfer,  das  für  die  Menschheit  und  die  christliche  Religion  allein  Interesse  hat, 
wird  in  der  Folgezeit  aber  nun  immer  mehr  ein  körperliches  Opfer.  Körperlichen  Schmerz  darzustellen, 
nicht  mehr  geistiges  Leiden,  wird  die  Tendenz  der  kirchlich -religiösen  Kunst.  Wir  sehen  zu  der  Zeit, 


Mit  Genehmigung  derTVerlags- Anstalt  von  A.  W.  Schulgen  in  Düsseldorf 
F.  y.  Overbeck.  Jesus  wird  gebunden  zum  Hohenpriester  geführt 


120 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


da  in  Deutschland  der  dreissigjährige  Krieg  wüthet,  in  Spanien  und  Süditalien  die  Naturalistenschule 
aufkommen,  hoch  verdienstvoll  als  eine  Schule  des  künstlerischen  Könnens,  der  machtvollen  Wieder¬ 
gabe  der  Natur,  aber  in  der  Behandlung  religiöser  Martern  und  Vorgänge  fast  nur  noch  dem 
vivisectorischen  Interesse  der  rein  körperlichen  Affecte  zugänglich.  Dennoch  gelingt  es  dem  Haupt¬ 
vertreter  dieser  Richtung,  dem  gewaltigen  Ribera,  auch  ein  Bild  von  reinster  Schönheit  zu  malen, 
eine  Verbindung  vollster  geistig-religiöser  Schönheit  und  naturalistischer  Wiedergabe  in  technischer 
Hinsicht :  jene  knieende,  von  ihren  Haaren  umwallte  Heilige,  die  man  früher  die  Maria  Aegyptiaca 
nannte,  die  jetzt  als  Maria  Magdalena  bezeichnet  wird. 

Es  beginnt  vor  und  neben  diesem  Meister  bei  den  Carracci  und  den  Eklektikern  jene  rein 
theatralische  Auffassung  der  religiösen  Vorgänge,  die  allmählich  in  die  Extasenmalerei  sich  verliert. 
Wir  müssen  bedenken,  dass  es  sich  um  die  Zeiten  handelt,  wo  Inquisition,  Hexenprocesse  eine  neue 
Rolle  spielen,  wo  der  Protestantismus  gegen  den  Jesuitismus  in  Deutschland  einen  dreissigjährigen 
Verzweiflungskampf  kämpft,  wo  alte  mittelalterliche  Mittel,  welche  im  Katholizismus  überwunden  waren, 
neu  hervorgesucht  werden :  Stigmatisirte,  Märtyrerthum,  einseitige  Betonung  von  äusseren  Gnaden¬ 
mitteln.  Der  Protestantismus  selbst  aber  bewies  sich  keineswegs  als  eine  Weiterentwickelung  jenes 
grossartigen  Humanismus,  den  Michelangelo  und  Tizian,  Ulrich  von  Hutten  und  die  freien  Geister  zu 
Luthers  Zeit  bekannt  hatten,  sondern  er  versank  sehr  bald  in  Pietismus,  Intoleranz,  dumpfe  Hart¬ 
köpfigkeit.  Erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  und  durch  die  freigeistige  Entwickelung  Englands  und 
Frankreichs  ward  der  abgeschnittene  Faden  des  Humanismus  weitergesponnen,  durch  die  grossen 
deutschen  Geister  des  vorigen  Jahrhunderts  weitergeführt,  um  auch  durch  das  Jahrhundert  weiter  zu 
walten,  an  dessen  Ende  wir  stehen. 

Und  die  religiöse  Malerei  spiegelt  unwillkürlich  bis  in  die  einzelnen  und  kleinern  Motive  diesen 
Entwickelun^sgang  der  Geister.  In  Niederlanden  kam  die  Kleinmalerei  auf  und  Rembrandt  sah  die 
Dinge  rein  malerisch  mit  neuen  Augen  an.  Dort  war  das  Judenthum  zu  Macht  und  Handelseinfluss 
gelangt,  wie  in  Venedig,  mancherlei  Kenntniss  über  die  alttestamentarischen  Schritten  kam  auf,  kein 
Wunder,  dass  wir  bei  Rembrandt  neue  Ansätze  sehen  zur  historischen  Costümmalerei,  d.  h.  dass  der 
Kaftan,  die  Peyes  in  seinen  religiösen  Bildern  zum  Vorschein  kommen,  dass  allmählig  mehr  und  mehr 
an  den  Jüngern  Jesu  auch  ausgeprägt  israelitische  Typen  erscheinen.  Besonders  der  Judas  Ischarioth 
beginnt  nun  ausdrücklich  als  phönizisch-hebräischer  Kopf  aufzutreten.  Man  begann  sich  die  Modelle 
im  Ghetto  zu  suchen  und  Tracht  und  Physiognomie  von  da  zu  entlehnen.  Rembrandt  selbst  ist  im 
eigentlich  religiösen  Sinne  kaum  als  ein  schöpferischer  Maler  anzusehen ;  seine  Grablegungen  und 
heiligen  Geschichten  wirken  durch  ganz  andere  Eigenschaften,  als  durch  besonders  eigenartige  Auffassung 
der  Vorgänge.  Sein  Simson  und  Delila  und  andere  Werke  aber  lassen  bereits  eine  Art  von 
versteckter  Satire  auf  Menschen  und  Dinge  erkennen.  Schon  Rubens  hatte  in  seinem  köstlichen 
«Raub  der  Sabinerinnen»  begonnen,  mythische  Gestalten  humoristischer  Weise  in  die  Costüme  dicker 
Niederländerinnen  zu  stecken  und  allerhand  schalkhafte  Anspielungen  zu  machen.  Jetzt  geschah  es 
wohl  wieder  bei  Rembrandt  und  Anderen,  dass  man  auch  biblische  Motive  benützte,  um  in  ihnen 
Anspielungen  auf  Bekannte  im  humoristischen  Sinne  hineinzuschaffen,  eine  Art  von  religiöser  Pamphlet- 


fiabr.  Max  pinx. 


Copyright  1895  by  Franz  Hanfstaengl 


Christus 


von  Uh  de  pinx.  Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Pe/er  Cornelius.  Das  jüngste  Gericht 

Original  in  der  Ludwigskirche  zu  München 


I  16 


122 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


kunst,  getragen  von  der  ganzen  Behaglichkeit  niederländischer  Humore.  In  diese  Kategorie  gehört 
Rembrandt’s  satirische  Auffassung  der  «Susanna  im  Bade»,  die  neuerdings  Böcklin  wieder  aufnahm. 

Wir  verzichten  weiter  im  Einzelnen  zu  verfolgen,  wie  im  Norden  diese  religiöse  Malerei  immer 
mehr  ihren  Charakter  als  solchen  aufgibt  und  der  biblische  Gegenstand  nur  ein  Motiv  wie  alle  andern 
wird  aus  Sage  und  Geschichte,  das  man  im  Dienste  rein  malerischer,  landschaftlicher,  genremässiger, 
kleinmalerischer  Reize  venverthet.  Wir  verzichten  zu  zeigen,  wie  die  Extasenmalerei  in  Italien 
allmählig  zur  vollen  Aeusserlichkeit  in  Posen  und  Gruppi'rungen  entartet,  wie  auf  der  einen  Seite 
Alles  in’s  Decorative  sich  auflöst  und  aut  der  andern  alles  Religionsgefühl  in  Ueberspanntheit,  Ausser- 
sichsein,  künstliche  Aufgeregtheit  verfällt.  In  Spanien  hatte  Murillo,  bei  aller  massvollen  Schönheit, 
schon  eine  leise  Neigung  nach  dieser  Richtung  bekundet;  bald  aber  war  die  ganze  Malerei  katholischer 
Länder,  so  weit  es  sich  um  die  Religion  handelt,  nur  eine  Malerei  von  Verzückungen  und  Martern. 
Und  dann  kam  sogar  eine  Zeit,  wo  die  kirchliche  Kunst  zur  Salonkunst  ward;  wo  man  die  Mutter 
Gottes  malte,  wie  sie  bei  ihrem  Söhnchen  zum  Elandkuss  zugelassen  wird  und  wo  Rococogebärden  in 
den  heiligen  Geschichten  galante  Vorgänge  aus  dem  höheren  Gesellschaftsleben  versinnlichen.  So 
hatte  schon  Lodovico  Carracci  einen  Condolenzbesuch  der  Apostel  bei  der  trauernden  Mutter  Gottes 
gemalt;  Petrus  kniet  vor  ihr  und  wischt  sich  mit  einem  Schnupftuch  die  Thränen  ab.  Es  war  das 
Wunderliche,  dass  man  eine  solche  trivialisirte  Auffassung  der  religiösen  Gegenstände  mit  schwung¬ 
vollstem  Vortrag  in  mächtigen  Dimensionen  malte.  Im  Einzelnen  entsteht  noch  unendlich  viel  Schönes, 
künstlerisch  Interessantes;  die  heiligen  Büsserinnen  und  Martyrinnen  werden  aber  immer  mehr  zu 
Gestalten  einer  blühenden  Venus;  man  wetteifert,  ihnen  verführerische  Formen  zu  geben,  und  zum 
Schönsten  in  dieser  späten  Zeit  rechnet  man  da  z.  B.  Pompeo  Batoni’s  «Büssende  Magdalena».  Dieser 
Künstler  starb,  als  bereits  Lessing’s  «Nathan  der  Weise»  seit  acht  Jahren  die  Gemüther  zu  einer 
neuen  Stellung  zur  christlichen  Religion  erzogen  hatte.  Raphael  Mengs  hatte  noch  einmal  versucht, 
die  kirchliche  Malerei  auf  einen  besseren  Inhalt  zu  stellen.  Winckelmann  aber  hatte  alle  Gebildeten 
und  die  Künstler  für  die  griechische  Antike  begeistert;  die  künstlerische  Lust  wendete  sich  für  einige 
Zeit  überhaupt  von  Allem  ab,  was  mit  christlichen  Erlösungslehren,  Martern,  frommen  Vorgängen  und 
dergleichen  in  Beziehung  stand. 

Und  an  diesem  Punkte  angelangt,  verändern  wir  den  Standpunkt  unserer  Betrachtung,  um  ein 
ganzes  Jahrhundert  zu  überspringen,  mitten  hinein  in  die  uns  umgebende  Gegenwart  zu  blicken  und 
von  ihr  aus  einen  Rückblick  auf  das  zu  thun,  was  seit  Wengs  und  Batoni  aul  dem  Gebiete  der 
religiösen  Kunst  erstrebt  worden  ist.  Das  Ergebniss  an  interessanten  Beobachtungen  dürfte  schon 
durch  den  Contrast  grösseren  Reiz  erhalten. 

Denn  welch  eine  ganz  andere  Welt  von  Ansichten  und  Absichten  gegenüber  den  christlichen 
Motiven  eröffnen  uns  etwa  die  Panoramen  und  Gemälde  eines  Piglhein,  sein  grosses  Golgatha  und 
Jerusalem,  sein  Begräbniss  Christi!  Welch  ein  Weg  von  der  Darstellung  Gottvaters  durch  Michelangelo, 
wo  der  Schöpfer  als  ein  Zeus  durch  den  Weltraum  fährt,  durch  die  Gewalt  seiner  Gebärden  ungeheure 
schöpferische  und  erhaltende  Triebe  verrathend  —  welch  ein  Weg  von  da  zu  dem  sonderbaren 
Wichtelmanne,  den  Böcklin  auf  seinem  Paradiesbildchen  aus  dem  Schöpfer  macht!  Bei  ihm  ist  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


123 


Adam  ein  ängstlicher,  verschüchterter  Halbknabe  von  ungelenken,  eckigen  Formen,  der  dumm  vor 
sich  in  die  Welt  schaut,  während  Gott  ein  wahrer  Wurzelmann  aus  dem  deutschen  Märchen  ist.  Ein 
leiser  humoristischer  Zim  oreht  durch  dieses  Böcklinmärchen.  Und  bei  Michelangelo  war  dieser  neu- 
geschaffene  Adam  das  Urbild  aller  jugendlich-männlichen  Kraft,  wie  ein  elektrischer  Funke  springt  das 
Leben  aus  dem  Finger  Gottes  in  ihn  über,  dehnt  und  schwellt  seine  Glieder,  und  wir  sind  zufrieden, 
dass  wir  von  solch’  einem  Urvater  abstammen  dürfen.  Aus  dem  Urbilde  aller  Menschenkraft,  das 
nach  dem  «Ebenbilde»  alles  Göttlichen  geschaffen  sein  sollte,  ist  vielfach  ein  Kretin  geworden.  Die 
Künstler,  welche  unterdessen  alle  von  Darwin  gehört,  gelernt  haben,  machen  aus  dem  mythischen 


E.  von  Gebhardt.  Pieta 


Adam,  den  all  die  grossen  Künstler  der  menschlich-religiösen  Zeit  im  Sinne  einer  symbolischen  Figur 
erfassten,  das,  was  sie  sich  naturwissenschaftlich  unter  einem  «ersten»  Menschen  denken,  und  so  haben 
wir  denn  Adam  und  Eva,  statt  als  reife  Urmenschen,  fähig,  eine  ganze  Menschheit  zu  erzeugen, 
sogar  als  halbflüggen  Backfisch  und  Penäler  aufgefasst  gesehen,  die  sich  noch  nicht  recht  klar  sind 
über  ihre  verschiedene  Bestimmung. 

Mächtig  entwickelte  sich  im  vergangenen  Jahrhundert  der  geschichtliche  Sinn ;  eine  neue  Wissen¬ 
schaft,  die  Culturgeschichte,  entsteht  im  Zusammenhang  mit  dem  Fortschritt  der  Naturwissenschaft  und 
der  Geschichtsforschung.  Jedermann  aber  begann  zu  reisen,  denn  die  Eisenbahnen  ermöglichen  Malern 


16* 


124 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  andern  Leuten  seither  den  Verkehr  durch  die  ganze  Welt.  Die  religiöse  Kunst  konnte  von 
diesen  Umständen  nicht  unberührt  bleiben.  Es  erschien  jedem  geschichtskundigen  Laien  absurd,  dass 
Jesus  und  seine  Jünger  noch  ferner  in  Trachten  einhergehen  sollten,  die  sie  nie  getragen  haben. 
Costümstudien,  Landstudien  werden  gemacht ;  Photographieen  von  Jerusalem  selbst  und  den  heiligen 
Stätten  werden  aufgenommen  und  verwerthet  und  im  selben  Maasse,  wie  in  der  Leserwelt  der 
sogenannte  «historische»  Roman  beliebt  wird,  suchen  nun  auch  die  Künstler  die  Motive  der  Evangelien 
in  ihrer  localen  und  geschichtlichen  Bestimmtheit  darzustellen.  Jetzt  versetzt  man  uns  wirklich  in  die 
eigentümlichen  Felsschluchten  Palästinas;  der  Leichnam  Jesu  wird,  als  geschähe  es  in  einem  Roman 
von  Ebers,  durch  eine  hohe  Thalschlucht  getragen  von  Männern,  die  schönere  Exemplare  israelitischen 
Wuchses  darstellen.  Man  sieht  die  Grabkammer,  entsprechend  dem,  was  wir  aus  egyptischen  und 
palästinensischen  Ausgrabungen  gelernt  haben.  So  stellt  es  uns  Piglhein  dar.  Sein  grosses  Panorama 
von  Golgatha  war,  wie  Jedermann  weiss,  ein  Rundblick  auf  das  historische  Jerusalem,  durch  Studien 
an  Ort  und  Stelle  und  Geschichtsstudien  möglichst  der  geschichtlichen  Wahrheit  entsprechend  dargestellt. 
Eine  neue,  eigenartige,  religiöse  Stimmung  aber  waltet  gerade  in  den  Werken  dieses  Künstlers,  denn 
wir  lernten  mit  ihm  das  Leiden  und  Dulden  jenes  Religionsstifters  auf  Golgatha  als  eine  geschichtliche 
Wirklichkeit  verstehen  ;  wir  lernten  die  Grösse  des  historischen  Ereignisses  mit  seinen  tausendjährigen 
Folgen  gewissermassen  an  Ort  und  Stelle  verstehen  und  eine  neue  Weihe,  die  Weihe  des  historischen 
Bewusstseins  ward  erzielt.  Hermann  Kaulbach  malte  uns  eine  « Flucht  nach  Egypten »,  wo  die  Mutter 
Maria  völlig  den  Typus  der  Egypterin,  der  Semitin,  hat,  wo  Gewand  und  Haltung  streng  localisirt 
sind  und  orientalische  Knaben,  wie  wir  sie  unter  den  Araberjungen  auf  unsern  ethnologischen  Aus¬ 
stellungen  sehen,  dem  heiligen  Paare  Brunnenlabung  reichen.  J.  Keller  auf  seiner  «Erweckung  von 
Jai'ri’s  Töchterlein»  führt  uns  gleichfalls  streng  orientalische  Physiognomieen  vor,  malt  uns  ein  ethnologisch 
fest  bestimmtes  Mädchengesicht  und  einen  Christus,  der  ganz  zum  Arzt  und  Rabbiner  seiner  Zeit 
geworden  ist.  Diese  Richtung  der  ethnologischen  und  culturgeschichtlichen  Auffassung  haben  auch 
Andere  verfolgt,  die  etwa  die  Austreibung  aus  dem  Tempel  malen  und  sich  mit  egyptischen  Studien, 
mit  den  Bauformen  Palästinas  befasst  haben,  um  den  Tempel  von  Jerusalem  «echt»  darzustellen,  wie 
er  wirklich  aus^esehen  haben  könnte,  woraus  man  gleichzeitig  neue  malerisch -architektonische  Effecte 
entwickelt.  Ja,  es  hat  sich  sogar  eine  orientalische  Landschaftsmalerei  gebildet,  welche  an  Ort  und 
Stelle  Landschaftsstudien  macht  und  diese  dann  mit  einer  Staffage  aus  den  Evangelien,  etwa  einer 
Flucht  nach  Egypten,  belebt.  Am  Meisten  hat  sich  diese  historische  Richtung  in  Deutschland  und 
Frankreich  entwickelt.  Jesus  Christus  ist  hier  meist  ein  denkender  Rabbiner  oder  ein  mit  langen 
Haaren  umwallter  «Nabi»  geworden,  ein  Prophet,  wie  es  die  Orientalen  verstanden.  Da  die  lange 
Haartracht  auch  Eigenthümlichkeit  der  « Nabis »  war,  so  sehen  wir  Jesus  öfters  ganz  zu  einem  solchen 
werden.  Hier  greift  ein  Künstler  wie  Munkascy  in  die  Neugestaltung  religiöser  Typen  mächtig  ein; 
seine  Kreuzigung,  sein  Christus  im  Tempel,  sein  Jesus  vor  Pilatus  ist  ganz  in  der  ethnologischen 
Richtung  gedacht.  Während  Andre  aber  ein  semitisches  Schönheitsideal  dabei  aufsuchen,  sehen  wir 
bei  Munkascy  mit  Vorliebe  die  Physiognomieen  des  Ghettos  und  nur  Jesus  und  die  heiligen  P rauen 
selbst  werden  in  einem  regelmässigeren  Typus  gegeben.  Das  ungarische  Temperament  in  Munkascy 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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aber  zeitigt  in  der  dramatischen  Auffassung  der  Vorgänge,  sowie  in  der  Darstellung  des  schmerzlichen 
Affectes  Vieles,  was  an  die  Auffassungsweise  van  Dyk’s  in  dieser  Hinsicht  erinnert.  Mehr  wie  bei 
Andern  ist  der  pantomimisch  erhöhte  Ausdruck  der  Leiden  und  Leidenschaften  bei  diesem  Meister 
bezeichnend  für  seine  religiösen  Darstellungen. 

Wir  können  das  Bild  der  religiösen  Malerei  in  den  letzten  Jahrzehnten  gar  nicht  verstehen, 
ohne  uns  zu  erinnern ,  dass  das  Jahrhundert  vorwiegend  ein  kritisch  forschendes  war  und  dass  die 
Maler  nicht  unberührt  davon  geblieben  sind.  All  die  verschiedenen  Auffassungen  des  Christenthums, 
die  verschiedenen  Aufklärungen  und  Erklärungen  der  Lehre  sowohl  wie  der  Wunder  Christi,  die  man 
versucht  hat,  spiegeln  sich  in  den  Auffassungen  weltlicher  Maler  wie  in  denen  der  Frommgesinnten. 
Auch  die  Wahl  der  Gegenstände  zeigt  manches  Neue.  Diejenigen,  welche  sich  die  Wunder  Jesu  als 
magische,  magnetisch -spiritistische  Heilwirkungen  vorstellen,  weil  sie  in  ihren  Nebenstudien  nicht  un¬ 
berührt  geblieben  sind  von  den  spiritistischen,  somnambulen  und  hypnotischen  Theorieen,  haben  uns 
Jesus  als  Hypnotiseur  und  Heilmagnetiseur  gemalt.  In  Frankreich  und  Deutschland  begegnet  man 
solchen  Bildern.  Gabriel  Max  hat  eine  ganze  Reihe  von  religiösen  Bildern  gemalt,  die  mehr  oder 
minder  das  Bewusstsein  durchblicken  lassen,  die  Auferweckung  einer  Todten  durch  Jesus  sei  die  Folge 
magnetischer  oder  sonstiger  Wirkungen  des  Handauflegens.  Die  grosse  Innigkeit  dieses  ausgezeichneten 
Künstlers  ist  eine  Innigkeit  der  Nervosität.  Die  Mutter  Gottes  ist  unter  der  Hand  dieses  Künstlers 
mehr  und  mehr  eine  bleichsüchtige,  somnambul  angelegte  Frau  geworden,  die  einen  nervösen  Sohn 
auf  die  Welt  gebracht  hat.  Denn  das  Haar  des  todtenerweckenden  Jesus  ist  ganz  dünnfaserig  geworden, 
alle  Wunderkräfte  scheinen  in  die  Handnerven  dieses  Mannes  übergegangen  zu  sein;  er  erhält  ganz 
das  Gepräge  unserer  Hypnotiseure,  die  sich  künstlich  das  Nervensystem  schwächen  durch  die  peri¬ 
pherischen  Nervenaufregungen  ihrer  Heilmethoden.  Der  Ausdruck  der  Madonnenaugen  wird  rätsel¬ 
hafter;  die  Pupillen  erweitern  sich  wie  bei  Kurzsichtigen,  ein  Geschlecht  von  wundersamen  Hysterikern 
und  Mondsüchtigen  ist  aus  den  heiligen  Figuren  geworden,  die  bei  Michelangelo  und  Rubens  noch 
strotzten  von  derber  Gesundheit.  Dieses  kritische  Jahrhundert  nahm  Wunder  nicht  mehr  als  Wunder; 
es  wollte  sie  natürlich  erklären  und  so  ist  die  ganze  Richtung  der  religiösen  Malerei  entstanden,  die 
mehr  oder  minder  jene  vermeintlichen  magischen  Naturkräfte  in  Jesus  vermuthet  und  die  Gestalten 
der  Religion  als  mit  solchen  belastet  darstellt.  Rein  künstlerisch  ist  sicher  ausserordentlich  viel 
Interessantes  dabei  entstanden. 

Aber  auch  eine  sociale  Strömung  hat  sich  im  Lauf  dieses  Jahrhunderts  ausgebildet.  In  den 
Zeiten,  da  Veronese  und  Holbein  schufen,  da  war  das  Christenthum  auch  ein  Evangelium  für  die 
Reichen  und  Christus  konnte  fröhlich  zechend  inmitten  reicher  Venetianer  erscheinen.  Die  socialen 
Kämpfe  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  einseitige  Deutungen  von  gewissen  Sprüchen  Jesu  Hessen  den 
Glauben  reifen,  dieser  Rabbi  sei  ein  socialer  Umstürzler  gewesen.  Eine  grosse  Richtung  innerhalb 
der  protestantischen  Theologie  betonte,  dass  das  Christenthum  ein  Evangelium  für  die  Armen  sei  und 
an  diese  Zeitströmung  sehen  wir  einen  Mann  wie  Uhde  anknüpfen  in  seinen  Darstellungen  religiöser 
Stoffe.  Seit  sein  «Abendmahl»  berechtigtes  grosses  Aufsehen  erregte,  hat  er  alle  bekannteren  Motive 
der  Jesuslegende  in  diesem  Sinne  dargestellt;  Firle  und  Andre  haben  ihm  nachgeeifert  und  im  be- 


126 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wussten  Gegensatz  zur  historischen  Richtung  brach  man  mit  allen  ethnologischen  und  culturhistorischen 
Beziehungen.  Wie  zur  Zeit  des  Quattrocento  steckt  man  die  ganze  Bevölkerung  Palästinas  in  die 
Trachten  unserer  Zeit.  Aber  wenn  man  damals  den  religiösen  Gestalten  das  Beste  anzog,  was  die 
«Confection»  hervorbrachte,  wenn  man  auch  der  Madonna  ein  haltbares,  gutgewebtes  Kleid  mit  hübscher 
Goldstickerei  verlieh,  so  treten  in  der  socialen  Christenthumsschule  unserer  Zeit  die  Apostel  und  das 
gläubige  Volk  grundsätzlich  nur  im  zerschlissenen  Rocke  der  modernen  Fabrikarbeiter,  des  grenzenlos 
Armen,  des  Sachsengängers  und  Landarmen  auf.  Absichtlich  geht  man  jedem  schönen  Gesichtszuge 
aus  dem  Wege;  eher 
sucht  man  sich  Ver- 
brecherphysiogno- 
mieen  und  Mikroce- 
phale  aus,  unter 
denen  man  Jesus  aul¬ 
treten  lässt.  Man 
hat  dazu  das  volle 
Recht,  denn  auch  der 
Spruch  :  «  ich  kam 

nicht  einzuladen  die 
Gerechten,  sondern 
die  Sünder  zur 
Sinnesänderung»  ist 
ein  Hauptsatz  der 
christlichen  Religion, 
gleich  dem  « da  bin 
ich  mitten  unter 
ihnen».  Diese  bei¬ 
den  Worte  scheinen 
die  sittlichen  Beweg¬ 


gründe  dieses  male- 


Giotto’s  aber  wird 
vonNeuem  das  künst¬ 
lerische  Hauptge¬ 
wicht  auf  die  ab¬ 
sichtslose  Innigkeit, 
Unvorbereitetheit 
der  Gebärde  gelegt, 
v.  Uhde  selbst  hat 
darin  eine  allgemein 
anerkannte  und  der 
Kunst  im  Allge¬ 
meinen  wohlthätige 
Zartheit  entwickelt, 
welche  eine  neue  Ver¬ 
tiefung  in  die  ethi- 
sehen  Werthe  der 
Malerei  bedeutete. 
Was  Lionardo  in  sei¬ 
nem  «  Abendmahl » 
anstrebte,  hat  auch 
er  wieder  gesucht: 
die  völlige  unbefan- 

o 


A.  Cabanel.  Der  Stindenfall 


rischen  Armenevan-  ......  gene  sich  selbstüber- 

Original  im  kgl.  Maximilianeum  in  München  o 

geliums.  Wie  zur  Zeit  lassene  Gebärdung 

der  Gestalten.  Im  Uebrigen  aber  ist  es  fraglich,  ob  der  Rückgang  auf  frühere  Zeiten  in  der  Costü- 
mirung  gleichzeitig  ein  wirkliches  Armenevangelium  war.  Denn  die  Arbeiterschaft  selbst,  die  hier  ihr 
Abbild  sah,  erwartete  am  Wenigsten  durch  Christus  ihr  Heil;  der  absichtliche  Anachronismus  war  viel¬ 
leicht  auch  innerlich  ein  Anachronismus.  Aber  es  ist  interessant,  dass  in  einer  Zeit  diese  ganze 
Richtung  auch  in  Frankreich,  England  und  weiterhin  sich  verbreitete,  wo  es  in  Berlin  eine  Stöckerpartei 
gab  und  eine  allgemeine  Tendenz  herrschte,  die  Armenfrage  und  die  sociale  Frage  mit  Hilfe  des 
Christenthums  zu  lösen  als  eine  Art  socialer  Botschaft.  Früher  war  dieses  Christenthum  eine  Blut- 


PIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


127 


erlöserschaft  von  Sünden  der  Menschheit  durch  das  heilige  Blut  des  Sühnopfers  gewesen  und  die  Malerei 
hatte  das  vorwiegend  gespiegelt;  dann  war  es  die  Lehre  vom  Menschensohn,  vom  erhöhten,  menschlich 
vermenschlichten  Menschenthum  geworden.  Dann  kam  die  Extase.  Und  jetzt  hiess  es:  Rufet  die 
Armen,  die  Krüppel,  die  Blinden.  Früher  als  diese  Richtung  hatte  in  unserem  Jahrhundert  in  Deutsch¬ 
land,  Niederlanden  und  Belgien,  auch  in  Frankreich  eine  archa'i'sirende  Auffassung  anderer  Art  um 
sich  gegriffen,  deren  hervorragendster  Vertreter  in  Deutschland  v.  Gebhardt  geworden  ist.  Die 


allgemeine  Ten- 
denz  schlichter 
Vertiefung,  in 
Gebärden  und 
in  der  Auffass¬ 
ung  der  Vor¬ 
gänge  ist  hier 
das  rein  künst¬ 
lerisch  Werth¬ 
volle,  das  aus 
einem  Triebe 
nach  religiöser 
Echtheit  desGe- 
fühls  gewachsen 
ist.  Unecht  aber 
in  den  vorge¬ 
schrittenen  Zei¬ 
ten  geschicht¬ 
lichen  Wahr¬ 
heitsgefühls, 
das  wir  nicht 
unterschätzen 
sollen  als  ein 
hohes  ethisches 
Werthgefühl 


der  Menschheit 
und  des  fort¬ 
schreitenden 
Religionsge¬ 
fühles  selbst,  ist 
das  Archaisiren 
dieser  Richtung 
in  der  Costü- 
mirung.  Das 
Christenthum 
wird  hier  ein¬ 
seitig  als  Reli- 
gion  der  De- 
muth  betont. 
Man  sieht  es  an 
allen  Gebärd¬ 
ungen  und  Halt¬ 
ungen,  dass  hier 
nicht  freie  Be¬ 
kenner  einer 
schönen  Huma¬ 
nität,  die  Jesus 
thatsächlich  ge¬ 
lehrt  hat,  son- 


ß.  Piglkein.  Grablegung  Christi 


dern 


einseitig 


demüthige  Wesen  das  religiöse  Empfinden  versinnlichen  sollen.  Aber  der  Spruch:  «wer  sich  selbst 
bescheiden  hält,  wird  erhöhet  werden»  ist  nur  ein  Spruch  allgemeiner  Menschenweisheit,  an  der 
Jesu  Lehre  so  reich  ist;  die  einseitige  Betonung  derartiger  Worte  sehen  wir  oft  zu  ganzen  Richt¬ 
ungen  im  christlichen  Sectenwesen  werden ,  woraus  sich  auch  eine  malerische  Sectirerei  entwickelt. 
Im  Zusammenhang  damit  steht,  dass  man  in  solchen  Künstlerkreisen  die  legendarischen  Gestalten  in 
die  Costüme  des  Mittelalters  steckt,  dass  man  Jesus  und  seine  Umgebung  nicht  etwa  in  Trachten 
seiner  Zeit,  auch  nicht  unserer  Zeit,  sondern  etwa  in  den  Kleidern  malt,  die  zu  Cranach’s  und  Holbein’s 


128 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Zeit  Mode  waren.  Dies  ist  nun  ein  wirkliches  Archaisiren  und  mit  ihm  archaisirt  man  auch  in  Formen, 
Drapierungen  und  Gebärden.  Die  Apostel,  die  bei  Rubens  oder  Dürer  so  breitbrüstige  Heroengestalten 
waren  —  man  denke  an  die  Dlirer’schen  Apostel  in  der  Münchener  Pinakothek  mit  ihren  gewaltigen 
Denkerschädeln  —  sie  werden  wieder  dürftige,  engbrüstige  Gestalten  mit  den  linkischen  Gebärden  der 
geistigen  Armuth.  Ein  leichter  Zug  von  Pietismus  zeigt  sich  und  man  denkt  daran,  dass  es  in  Düssel¬ 
dorf  sowie  am  Niederrhein  überhaupt  in  diesem  Jahrhundert  in  der  That  auch  einen  speciellen  prote¬ 
stantischen  Pietismus  gegeben  hat,  dem  solche  Schöpfungen  innerlich  verwandt  scheinen.  Dasselbe  gilt 
auch  von  Niederlanden  und  Belgien,  wo  eine  ähnlich  archa'isirende  Schule  durch  verschiedene  Jahr¬ 
zehnte  unseres  Jahrhunderts  sich  mit  alterthümlicher  Costümirung,  Linienstrenge  u.  s.  w.  sozusagen 
auch  als  ein  malerisch  strengeres  Christenthum  documentirt.  Bis  zu  einem  Manne  wie  Lempoels  reicht 
diese  Linie;  er  malt  gelegentlich  eigenthümlich  dogmatische  Wunderbilder,  heilige  Hände,  die  ein  Kreuz 
umfassen,  gen  Himmel  flehende  Hände  von  Frommgläubigen,  und  der  Schein  einer  neuen  Frömmelei 
darin  wäre  vollkommen,  wenn  der  Maler  nicht  verriethe,  dass  es  ihm  dabei  weit  mehr  um  das 
künstlerische  Problem  zu  thun  ist,  möglichst  viel  Handstudien  interessant  durchzubilden,  als  etwa 
dogmatisch  zu  wirken. 

In  diesem  Jahrhundert  stellten  sich  aber  auf  katholischer  Seite  auch  eine  Reihe  neuer  Auf¬ 
fassungen  ein,  welche  die  Folgerung  von  einer  Weiterentwicklung  der  katholischen  Dogmatik  sind.  Seit 
Pius  IX.  kam  in  der  Kirche  der  Herz-Jesudienst  auf  und  der  Dienst  des  heiligen  Herzens  Mariä.  Seit 
dieser  Zeit  begegnen  wir  auch  in  der  Malerei  den  Herz-Bildern.  Religiöse  Künstler  wie  Fürst,  Deger 
malen  Maria  und  Jesus  mit  einem  flammenden  Herzen  auf  der  Brust,  Zenker  eine  «Heilige  Veronika», 
welche  das  Herz  in  der  Hand  trägt.  Die  « unbefleckte  Empfängniss »  Mariä  ward  in  diesem  selben 
Jahrhundert  zum  Dogma  erhoben  und  im  Zusammenhang  damit  sehen  wir  den  Madonnentypus  vielfach 
ganz  zum  Typus  der  reinen  Jungfrau  werden.  So  hat  Bodenhausen  eine  reizvolle  Madonna  gemalt 
mit  ihrem  Jesusknaben,  der  man  nicht  ansieht,  dass  sie  eben  Mutter  geworden  ist.  In  den  Zeiten  der 
frühem  grossen  kirchlichen  Malerei  wäre  es  nie  einem  Maler  eingefallen,  die  Madonna,  die  ihr  Kind 
trägt,  anders  als  mit  der  breiten  Bildung  der  Hüften  zu  malen,  welche  das  Zeichen  der  Mutterschaft 
ist.  Neuerdings,  im  Zusammenhang  mit  der  Theorie  von  der  völligen  Jungfraunschaft  der  Maria,  hat 
man  auch  das  Walten  des  heiligen  Geistes  so  immateriell  aufgefasst,  dass  weder  in  den  Lormen,  noch 
im  Ausdruck  der  Augen,  weder  in  der  Bildung  des  Busens  noch  sonstwie  eine  Erinnerung  daran 
aufkommt,  dass  die  Gemahlin  des  Joseph  jemals  zur  Ehefrau  geworden  sein  könne.  Sondern  eine 
Jungfrau  im  vollen  Sinne  des  Wortes  wird  gemalt,  welche  die  strengsten  Anforderungen  eines  Mante- 
gazza  erfüllt.  Welch  ein  Unterschied  der  Zeiten!  Van  Eyk  und  viele  andere  ältere  Künstler  konnten 
die  Himmelskönigin  noch  malen  im  Zustand  vor  der  Geburt  ihres  Kindes;  den  «englischen  Gruss», 
die  « Verkündigung »  malte  man  mit  Vorliebe  mit  den  deutlichen  Anzeichen  der  guten  Hoffnung  am 
Leibe  der  heiligen  Mutter!  Und  wie  vielen  Frauen,  die  gleicher  Hoffnung  waren,  ist  gerade  dieser 
gesunde,  naive,  künstlerische  Realismus  tröstliches  Religionsvorbild  geworden.  Diese  Andeutungen  schwinden 
bei  den  meisten  neueren  Künstlern,  besonders  bei  denen,  die  im  katholischen  Sinne  schaffen.  Ja,  man 
ist  umgekehrt  so  weit  gegangen,  dass  man  sich  nicht  nur  damit  begnügt,  die  Gottesmutter  völlig  als 


Hermann  Kaulbach  pinx. 


Copyright  1894  by  Franz  Hanfstaengl 


Maria 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


129 


E.  Küsthardt.  Friede  sei  mit  Euch 

eine  Diana  mit  allen  Zeichen  der  Keuschheitsgöttin  zu  bilden,  sondern  sogar  sie  als  ein  noch  unent¬ 
wickeltes  Mädchenkind  und  doch  bereits  im  Besitze  eines  kräftigen  Knabens  darzustellen.  Ein  Beispiel 
davon  ist  Wunderwald’s  «Madonna».  Hier  ist  die  Jungfrau  nicht  einmal  Jungfrau,  sondern  ein  Mädchen 
zwischen  dreizehn  und  vierzehn  Jahren.  Der  Knabe  aber  ist  recht  kräftig  entwickelt  und  stellt  Ansprüche 
an  seine  junge  Mutter,  welche  diese  auf  keine  Weise  zu  stillen  im  Stande  wäre.  Es  entspricht  dies 
aber  ganz  dem  kirchlichen  Zuge  und  der  Entwicklung  des  Katholizismus  besonders,  der  Alles  dogmatisch 
immaterialisirte  in  diesem  Jahrhundert,  immer  spiritualistischer  ward.  Die  Kunst  kann  einem  solchen 
Streben  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grad  folgen;  sie  kann  einen  solchen  Process  der  Vergeistigung 
nicht  mitmachen.  Wir  sehen  in  der  engeren  kirchlichen  Malerei  des  vergangenen  Jahrhunderts  viel¬ 
fach  ein  Gegenstück  zum  Quattrocento.  Was  bei  einem  Perugino  die  vergeistigte  Frommheitsgebärde 
ist,  das  ist  heutzutage  die  Bleichsucht,  die  Nervenschwäche,  ja,  sagen  wir  es,  der  neurasthenische 
Zug,  der  gerade  den  meisten  Gestalten  religiöser  Kunst  anhaftet,  die  im  Zusammenhang  der  offi¬ 
ziellen  Religion  geblieben  sind. 

Langsam  haben  sich  auch  die  Stoffgebiete  verändert,  in  denen  man  sich  bewegt.  Wer  hätte 
früher  einen  Tod  des  heiligen  Joseph  gemalt,  wo  Jesus  am  Todtenbette  seines  eigenen  Vaters  sitzt?  Die 
Evangelien  wissen  Nichts  von  einem  solchen  Vorgang;  es  ist  häuslicher  Ausbau  der  Christussage,  den 
fromme  Gemüther  verübt.  Nun,  Walch  hat  es  zum  Beispiel  gemalt.  Auf  protestantischer  Seite 
entsprechen  diesem  Legendenausbau  statt  dessen  die  zahlreichen  Reformations-  und  Lutherbilder,  die 


i  17 


130 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wir  Männern  wie  Hübner,  Lindenschmitt  u.  A.  verdanken,  die  aber  wohl  mehr  als  Aeusserungen 
historischer  Kunst  überhaupt  gelten  möchten,  denn  als  im  engeren  Sinne  religiöse  Kunst.  Bemerkens¬ 
werth  für  unser  Jahrhundert  ist  dagegen  das  Aufkommen  eines  bereits  in  den  Evangelien  vorhandenen 
uralten  Motivs,  das  man  in  früheren  Jahrhunderten  fast  gar  nicht  findet,  jenes  «Lasset  die  Kindlein 
zu  mir  kommen»,  Jesus  von  Kindern  umgeben. 

Wie  ist  das  doch  so  seltsam !  Wie  sehr  gibt  es  Anlass  zum  culturhistorischen  Nachdenken ! 
Alle  die  vorangegangenen  Jahrhunderte  haben  kaum  einen  ernstlichen  Versuch  gemacht,  den  kinder¬ 


versammelnden  Je¬ 
sus  zu  malen.  Ab 
und  zu  einmal  ein 
schüchterner  An¬ 
lauf,  dass  vielleicht 
u.  A.  auch  Kinder 
auftreten;  thatsäch- 
lich  gibt  es  unter 
den  berühmten 
grossen  Werken 
aller  religiösen 
Kunst  im  Laufe  von 
sechs  bis  acht  Jahr¬ 
hunderten  keine 
einzige  nennens- 
werthe  Darstellung 
des  Motivs.  Wir 
aber  erleben  kaum 
eine  Ausstellung, 
wo  wir  es  nicht 
sehen.  Seit  den 
Zeiten  der  Naza¬ 
rener  ist  es  mehr 


Copyright  1894  by  Franz  Hanfstaengl 

y.  AI.  H.  Hofmann.  Ich  bin  der  Weg,  die  Wahrheit  und  das  Leben 


und  mehr  aufge¬ 
kommen  und  Jeder 
hat  es  nach  sei¬ 
ner  Weise  benützt. 

Drei  Evangelien 
legen  besonderen 
Werth  auf  diese 
Episode  im  Leben 
Jesu  —  wie  kommt 
es,  dass  jene  ver¬ 
gangenen  Zeiten  so 
wenig  Notiz  davon 
nahmen  ? 

Nun,  es  muss¬ 
ten  doch  wohl  erst 
Rousseau's  undjean 
Pauls  Schriften  ge- 
schrieben  werden 
mit  ihrem  Rück¬ 
gang  zur  naiven 
Natur,  es  musste 
Schiller  über  das 
Naive  und  Senti¬ 


mentale  schreiben,  es  mussten  Männer  wie  Pestalozzi  und  Fröbel  auftreten  und  ein  Jahrhundert  der 
mächtig  werdenden  Erziehungsinteressen  anbrechen,  ehe  der  religiöse  Zeitgeist  in  den  Kindersprüchen 
Jesu  das  fand,  was  zur  sinnigen  künstlerischen  Darstellung  reizen  konnte.  Dies  allmählige  Hervor¬ 
treten  eines  uralten,  aber  von  der  Kunst  unbeachteten  Motivs,  seine  Erhebung  zum  selbstständigen 
Centralgedanken  eines  Bildes,  weil  es  ein  Centralgedanke  des  Zeitbewusstseins  ward,  den  man  darin 
versinnlichen  konnte,  gehört  zu  den  interessantesten  Vorgängen  der  menschlichen  Geistesgeschichte. 
Früher  mochte  es  wohl  gelegentlich  als  erzählendes  Referat  mit  unterlaufen,  wenn  Einer  ganze 
Legendencyklen  zu  illustriren  hatte ;  aber  wo  mochte  ein  Tizian,  ein  Michelangelo  daraus  eine  kiinst- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


131 


lerische  Folgerung  ziehen?  Allenfalls  rang  sich  die  Plastik  vielleicht  einen  Jesus  ab,  der  ein  Kind 
segnet,  aber  es  blieb  eben  nur  beim  Segen.  Die  Hauptsache:  «Werdet  wie  die  Kindlein,  denn 
solcher  ist  das  Himmelreich»  war  den  Zeitaltern  fremd  geblieben.  Man  sprach  es  nach,  dachte  sich 
das  Seinige  oder  gar  nichts  dabei ,  und  ging  zu  etwas  Andrem  über.  Es  mussten  philosophische, 

gen  wechseln¬ 
den  Religionen 
der  Zeitalter 
wieder,  die  in 
keinem  Dogma 
gefasst  wer¬ 
den,  sondern 
die  inneren 
ethischen 
freien  Bedürf¬ 
nisse  sind,  die 
sich  im  Laufe 
der  Entwickel¬ 
ungen  erge¬ 
ben.  Das  le¬ 
gendarisch 
geheiligte  Mo¬ 
tiv  ist  mehr 
oder  minder 
ein  Vorwand 
für  solchen 
Drang  der  Zeit¬ 
religion  ;  es 
taucht  auf, 
verschwindet, 
macht  einem 
neuen  Platz, 
der  besser  der 
Zeitstimmung 
und  ihren  Ge- 


pädagogische 
Zeitalter  an¬ 
brechen  ,  es 

mussten  Jesus 
verwandte  mo¬ 
derne  Geister 
kommen ,  um 
den  Zeitgenos¬ 
sen  den  tiefem 
Sinn  solcher 
Worte  in’s 
Allgemeinbe¬ 
wusstsein  zu 
bringen,  dass 
auch  die  Ma¬ 
lerei  dieser 
vergeistigten 
Kinderliebe 
Sehnsucht 
nach  Kindheit 
und  Harmonie 
der  Kindheit 
einen  betonten 
Ausdruck  zu 
verleihen  ver¬ 
mochte.  So 
spiegelt  die  re¬ 
ligiöse  Kunst 
im  weitesten 
Sinne  diejeni- 


WM 


ilflfU&iL- 


C.  von  Bodenhausen,  Madonna  mit  dem  Jesusknaben 


müthsbedürfnissen  entspricht.  Es  ist  aber  der  Vortheil  der  religiösen  Kunst,  dass  sie  eben  diese 
Gemüthsbedürfnisse  wiederspiegeln  kann  und  darf. 

Jene  Neigungen  und  Richtungen,  die  wir  zuletzt  charakterisirten,  sind  durch  lange  Jahrzehnte 
hindurch,  besonders  da,  wo  das  Bild  dem  praktischen  Kirchenzwecke  als  Altarbild,  Kirchenbild  über- 


17* 


132 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


haupt  diente,  mit  einem  besonderen  Schönheitsstreben  verbunden  gewesen,  das  wir  das  akademische 
nennen  wollen,  um  kurz  etwas  zu  bezeichnen,  was  auf  einer  eigenthümlichen  Verbindung  der  Ergeb¬ 
nisse  des  Schulstudiums  an  der  Antike  mit  den  Bestrebungen  der  Nazarener  beruht.  Wir  springen 
vom  Ende  des  Jahrhunderts  zu  seinem  Anfang,  um  im  Vergleiche  Mittel  des  Verständnisses  seiner 
Entwickelung  zu  gewinnen. 

Denn  nach  dem  Tode  Mengs  und  nach  der  ldassizirenden  Zwischenzeit  hatte  eine  grosse  Kunstreaction 
begonnen,  die  von  Neuem  vor  Allem  an  die  religiöse  Kunst  anknüpfen  und,  dem  theoretisirenden 
Geiste  des  Jahrhunderts  gemäss,  womöglich  alle  Kunst  zur  religiösen  machen  wollte.  Cornelius, 
Overbeck,  Führich,  Veith,  Steinle  waren  die  Führer  der  Bewegung.  Jedermann  weiss,  wie  sie  nach 
dem  Verlust  der  grossen  Malkunst,  rein  technisch,  alle  Malerei  zur  Zeichnerkunst  zunächst  zu  machen 
suchten.  Für  die  religiöse  Kunst,  für  eine  Erfrischung  der  Auffassung  der  alten  religiösen  Motive 
haben  sie  sicher  so  segensreich  gewirkt,  wie  nur  jemals  Giotto  in  seiner  Zeit.  Die  äusseren  Mittel 
waren  rückschrittlich.  Das  eigentliche  Können,  die  Fähigkeit  der  plastischen  Verwirklichung  des  Aus¬ 
druckes  war  verloren.  Aber  der  Ernst  der  Phantasiearbeit,  der  genau  das  wiederholte,  was  Giotto 
und  Dürer,  Jeder  in  seiner  Art  thaten,  die  neue  sinnige  Auffassung  der  Situationen,  mit  welcher  Cornelius 
alles  conventionell  Gewordene  abstreifte  und  ganz  von  vorn  damit  begann,  sich  das  ethisch  Wesent¬ 
liche  schlicht  und  richtig  vorzustellen  auf  seinen  Cartons  und  Fresken,  das  bedeutete  in  der  That  eine 
Erneuerung  des  Besten  in  der  religiösen  Kunst.  Man  schaffte  das  Theater  ab  und  nahm  die  Dinge 
wieder  genau.  Weder  ein  Uhde,  noch  ein  Max  Klinger  mit  seinen  jüngsten  Darstellungen  der  Kreuzigung 
und  des  Leichnams  Christi,  die  zwischen  Cornelius  und  Mantegazza  eine  moderne  Verbindung  schaffen, 
auch  nicht  eine  Pieta  Böcklin’s  mit  ihrer  stummen  Ausdrucksliille,  auch  Stuck  und  seine  Kreuzigung 
wären  in  Deutschland  nicht  denkbar,  wenn  nicht  Cornelius  für  die  Neuvertiefung  der  ganzen  psycho¬ 
logischen  Gebärdung  bahnbrechend  vorangegangen  wäre.  Viel  Pedantisches,  mancherlei  Klügelei  hat 
er  freilich  in  seine  Auffassungen  der  Evangelien  und  der  Legenden,  der  christlichen  Mythik  überhaupt 
hineingebracht  und  jene  fromm  naiven  Künstler  wie  Overbeck  und  Führich  wirken  im  Grunde  heut¬ 
zutage  auf  uns  viel  naiver,  rührender,  ja,  oft  phantasiereicher,  als  Cornelius  selbst.  Aber  die  «apo¬ 
kalyptischen  Reiter»  bezeichnen  doch  einen  Höhepunkt  der  christlichen  Mythendarstellung,  durch  Gewalt 
der  Conception  neben  Rubens  und  Michelangelo  namhaft.  Und  wenn  Böcklin  vor  Kurzem  auch  seine 
«apokalyptischen  Reiter»  malte  in  der  ihm  eigenen  Balladen-  und  Märchenstimmung,  mit  welcher  sein 
Geist  auch  die  Gestalten  der  christlichen  Mythik  auftasst,  so  wird  man  das  grosse  Verdienst,  welches 
Cornelius  in  der  mächtigen,  grossartigen  Auffassung  des  gleichen  Stoffes  hatte,  als  religiös-ethischer. 
Künstler  erst  recht  erkennen.  Die  Böcklin’schen  Gestalten  sind  Märchengespenster;  die  Figuren  des 
Cornelius  ethische  Gewalten. 

Wenn  wir  nun  das,  was  die  nazarenische  Zeichnerschule  geleistet  hat,  etwa  die  Overbeck  sehen 
Sakramente,  in  ihrer  Art  köstliche  Erfindungen,  die  cornelianischen  Campo  Santo-Cartons  betrachten, 
so  werden  wir  den  inneren  Reichthum  von  sinniger  Auflassung  der  christlichen  Legendenwelt  doch 
gar  sehr  bewundern.  Im  Allgemeinen  neigte  man  mehr  wieder  zu  einer  gewissen  idyllischen  Auffassung 
der  Vorgänge.  Auch  wo  starke  Handlung  und  aufgeregte  Situationen  dargestellt  werden,  beweist 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


133 


man  eine  gewisse  Zurückhaltung,  eine  elegische  Auffassung  der  Gebärden.  Was  die  Schule  in  Italien 
durch  das  Studium  Mantegna’s  und  der  Zeit  vor  Raphael  errungen  hat,  ist  bekannt.  Dass  von  ihnen 
bis  zu  den  heutigen  englischen  « Präraphaeliten »  eine  sichere  Linie  führt,  ist  augenscheinlich,  wenngleich 
in  England  grosse  Aesthetiker,  wie  Ruskin,  von  ganz  anderen  Gesichtspunkten  aus  in  der  englischen 
religiösen  Kunst  gewisse  mächtige  Anregungen  gegeben  haben.  Aber  es  bedürfte  einer  besonderen 
Geschichte  des  englischen  Geisteslebens,  um  bis  zu  dem  jüngst  verstorbenen  Sir  Frederic 

die  Enwickelung  der  religiösen  Kunst  Leighton  darzustellen.  Die  anglika- 

in  diesem  Lande  seit  van  Dyck’s  nische  Kirche ,  der  Geist  der 

Engländer  kennt 

Reynold’s  und 
vollends 


freiere,  heiterere 


Religions- 

ö 


L.  von  Flesch-  Brunningen.  Golgatha 


Stimmung  wie  der  Continent.  Raphaelische  Anregungen  und  die  Pflege  der  eigenen  Rasse  als  einer 
griechisch -germanischen  Schönheitsrasse  von  Seiten  der  Gebildeten  haben  auch  besondere  Ideale  religiöser 
Schönheit  gezeitigt ,  die  man  nur  im  Lande  selbst  verstehen  lernt.  Diese  Schönheit  der  heiligen 
Gestalten  ist  nicht  akademisch,  wie  sie  es  in  Deutschland  an  den  Nachblüthen  der  Nazarenerschule 
wurde,  sondern  der  treue  Spiegel  der  englischen  Rasse  selbst.  Sonniger,  zarter  ist  die  Auffassung 


134 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


des  Engländers  von  seinem  Christenthum :  eine  gfewisse  Bigotterie  im  gesellschaftlichen  Leben  wird 
doch  sehr  selten  zur  Bigotterie  der  Empfindung.  Selbst  die  Heilsarmee  singt  nicht  die  langgezogenen, 
schweren  Weisen  des  deutsch -protestantischen  Kirchenchores,  sondern  man  kann  sie  im  Lande  sehr 
lustige  Weisen  singen  hören.  Bei  solch  allgemeiner  Nationalempfindung  ist  auch  ein  sonnigerer  Zug 
in  der  ganzen  Auseinandersetzung  der  Künstlerwelt  mit  der  christlichen  Gestaltenwelt  zu  bemerken. 


Immerhin  hat 
die  deutsche 
Nazarenerwelt 
in  diesem  Jahr¬ 
hundert  ge¬ 
wisse  Absen¬ 
ker  auch  nach 
England  ge- 
schlagen,  un¬ 
beschadet  der 
selbstständigen 
Art,  mit  wel¬ 
cher  die  Eng¬ 
länder  solche 
allgemeine  An¬ 
regungen  zu 
verarbeiten 
pflegen.  Für 
Deutschland 
aber  bedeutete 
das  Nazarener¬ 
thumgleichfalls 
eine  fröhlichere 
Auffassungder 
christlichen 
Motive,  als  sie 
vorher  in  den 


B,  Blockhorst.  Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen 


Zeiten  der  Ex- 
tasen  Mode 
gewesen  war. 

Stillfröhlich 
möchten  wir  es 
nennen.  Das 
Evangelium 
sollte  auch  ma¬ 
lerisch  eine 
«  frohe  Bot¬ 
schaft»  sein. 
Jetzt  wird  das 
Stoffgebiet  der 
christlichen 
Legende  nach 
allen  Richtun¬ 
gen  aufgegra¬ 
ben,  wie  es 
früher  nie  der 
Fall  gewesen 
war,  selbst 
nicht  einmal  zu 
Giotto’s  Zeit, 
die  doch  noch 
am  Reichsten 
an  Motiven  ist. 
Schnorr  (nach 


ihm  Doree)  unternahm  es,  die  ganze  Bibel  zu  illustriren,  Overbeck  und  Führich  zeichneten  Anekdoten 
aus  dem  alten  und  neuen  Testament,  die  man  früher  nie  beachtet  hatte.  Jesus  wird  jetzt  vor  Allem 
der  Gleichnisserzähler.  Noch  ist  er  nicht  zum  jüdischen  Rabbi  geworden.  Er  trägt  vielmehr  das 
Gepräge  eines  jgermanisirten  Zimmermannssohns;  ja,  im  Laufe  des  Jahrhunderts  ist  geradezu  der  nieder¬ 
deutsche,  hannoversche,  auch  der  fränkische  Tischlermeister  mit  seinem  blonden  Bart  und  seiner 
Tischlerphysiognomie  das  Christusideal  dieser  Schule  geworden.  Zum  Theil  aber  wurde  Jesus  der 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


135 


langhaarige,  academiebesuchende,  nazarenische  Künstler  selbst,  der  in  einigen  Exemplaren  noch  heute 
als  ein  «Christuskopf»  im  Künstlerverein  erscheint,  wie  der  Zimmermannssohn  Jesus  auch  selbst  viel¬ 
fach  dem  besseren  Handwerkerstand  früherer  Jahrzehnte  entsprossen,  wie  er  vor  der  Reichsgründung 
noch  blondhaarig-redlich  seine  Stiefel  machte,  bis  der  Fabrikbetrieb  allmählig  dieses  ganze  Ideal  ver¬ 
nichtete,  an  dessen  Stelle  nun  der  Uhde’sche  degenerirte  Fabrikarbeiter  trat.  Auch  hier  spiegelt  die 
religiöse  Kunst  die  innere  wirthschaftliche  und  ethische  Entwickelung  eines  Volkes,  wie  die  religiösen 
Gestalten  des  Rubens  aus  dem  Reichthume  des  flämischen  Bürgerlebens  erwachsen  waren. 

Indem  die  Nazarener  aber  das  ganze  Darstellungsgebiet  der  Bibel  umfassten,  mehr  illustrativ 


erzählend  als  künstlerisch  aus¬ 
gestaltend  und  durchbildend, 
sehen  wir,  dass  jetzt  besonders 
die  Gleichnisse  Jesu  mit  ihren 
idyllischen,  landschaftlichen  Be¬ 
ziehungen  einen  heiterem  Zug 
in  die  ganze  Religionsmalerei 
bringen.  Man  hatte,  aus  ver¬ 
schiedenen  Reminiscenzen,  ein 
gewisses,  allgemeines,  ideales 
Costüm  acceptirt,  indem  man 
nun  das  Christenthum  vor 
Allem  als  eine  «frohe»  Bot¬ 
schaft  schon  dadurch  einführte, 
dass  alle  liebenswürdigen  Wun¬ 
der,  Gleichnisse,  Reden  Jesu, 
wie  es  seiner  Zeit  Raffael  ge- 
than  hatte,  von  Neuem  veran¬ 
schaulicht  wurden.  Viel  Neues 
kam  dazu.  Jetzt  sehen  wir 
von  Neuem  wie  bei  Schiavone 
den  Säemann  einherschreiten, 


M.  Fürst.  Herz  Mariae 


aber  die  Auffassung  ist  unbe¬ 
fangener.  Im  selben  Maasse 
wie  Euther’s  Bibelübersetzung 
Gemeingut  der  Deutschen  ge¬ 
worden  war,  zogen  auch  selbst 
die  katholischen  unter  den 
Nazarenern  einen  fröhlicheren 
Kunstsegen  daraus. 

Und  diese  allgemein  sin¬ 
nige,  idyllische,  stillvergnügte 
Freude  an  den  biblischen  Ge¬ 
schichten,  mit  der  man  ja  auch 
so  vielfach  die  für  die  Schule  be¬ 
stimmte  «  Biblische  Geschichte  » 
illustrirte  von  Seiten  der  Naza¬ 
rener  und  ihrer  Nachfahren, 
hat  ihren  Grund  darin,  dass 
vor  Anbruch  dieser  rein  gei¬ 
stigen  Verjüngung  der  religiö¬ 
sen  Kunst  der  grosse  Theologe 
Herder  die  Deutschen  gelehrt 
hatte,  dass  die  Bibel  vor  Allem 


eine  Sammlung  uralter  Poesie  sei.  Der  Geist  Herder’s  und  seiner  Zeit  war  es,  der  auch  die  Nazarener 
gelehrt  hatte,  die  Poesie  der  Evangelien  zu  suchen  und  altes  wie  neues  Testament  im  Sinne  einer 
poetischen  Auffassung  zu  betrachten.  Bei  Michelangelo  und  Rubens  waren  es  Schönheitsideale 
der  bildenden  Kunst  gewesen,  welche  die  religiösen  Stoffe  in  eine  höhere  Darstellungsgewalt  rissen-, 
seit  Herder  war  ein  neues  Verhalten  gegenüber  der  Bibelwelt  gegeben :  das  poetische.  Und  als 
Bendemann  und  die  Düsseldorfer  nun  auch  wieder  zu  malen  begannen,  da  colorirte  man  die  trauern¬ 
den  Juden  an  den  Wassern  zu  Babel  bereits  auch  mit  dem  vollen  Bewusstsein,  dass  man  ein  altes, 
jüdisches  Nationalgedicht  darstellte.  Diese  poetische  Tradition,  dieses  poetische  Verhalten  zur  Bibel 


13G 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  zu  den  Evangelien  beeinflusst  in  Düsseldorf,  Dresden  durch  Jahrzehnte  hindurch  die  religiöse 
Malerei.  Die  liebenswürdigsten,  am  meisten  beliebten  Bilder  dieser  Richtung,  wie  des  Dresdners 
Hofmann  «Predigt  am  See»,  seine  «Ehebrecherin»  stehen  zum  Theil  noch  ganz  in  dieser  poetischen 
Richtung,  zum  Theil  verrathen  sie  einen  historischen  Zug  im  Drange  einer  gewissen  geschichtlicheren 
Costümirung.  Ganz  stand  Wilhelm  von  Kaulbach  auf  diesem  poetisch  -  historischen  Standpunkt  in 
seinen  Bibeldarstellungen. 

Wir  sind  wieder  zurückgelangt  zum  Bilde  der  Kunst  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts. 
Wir  sehen  den  Beginn  bis  ins  Ende  ragen  in  einer  ganzen  Categorie  von  künstlerisch-religiösen 
Erscheinungen  und  sehen  daneben  die  schärfsten  Contraste.  Das  bloss  poetische  Erfassen  einer  halb¬ 
geglaubten  Poesie  zur  blossen  Illustration  ward  wieder  aufgegeben ;  zum  Theil  praktische  Interessen 
der  Noth  des  Zeitalters  suchen  in  der  religiösen  Malerei  einen  Stimmungsausdruck.  Als  vor  einem 
Jahre  die  hervorragendsten  Maler  in  Berlin  eine  gemeinsame  Ausstellung  ihres  Christusideals  veran¬ 
stalteten,  sah  man  ebenso  viele  Auffassungen  als  wir  wissenschaftlich  kritische  und  wirthschaftliche 
Richtungen  in  Bezug  auf  das  Christenthum  besitzen.  Einer  malte  einen  vornehmen  Rabbi  im  Sammt- 
gewand,  der  einem  Acosta,  Spinoza  ähnelte,  ein  Anderer  einen  modernen,  sozialdemokratischen 
Agitator,  ein  Dritter  einen  Hypnotiseur,  ein  Vierter  eine  Art  von  indischem  Fakir.  Ueberall  blicken 
mehr  oder  minder  augenblickliche  Zeittheorieen  durch,  auch  bei  dem  Russen  Wereschtschagin. 

Das  Schönste  aber  haben  oft  zwischen  all  diesem,  was  sich  sozusagen  unter  allgemeine  historische 
Gesichtspunkte  bringen  lässt,  Künstler  geschaffen,  die  gar  nicht  im  engeren  Sinne  religiös  wirken 
wollten.  Defregger  stellte  z.  B.  mit  seiner  Madonna  ein  reines  Mutterideal  hin,  das  im  freiwilligen 
Verzicht  auf  alles  Weitere  gar  sehr  zu  einer  einfach  schönen,  innigen  Religions-  und  Menschheitsstimmung 
dient,  zumal  der  Jesusknabe  hier  ein  ebenso  gescheidtes  wie  ernstes  Köpfchen  zeigt.  E.  Zimmermann 
sind  ähnliche  glückliche  Behandlungen  religiöser  Motive  gelungen,  in  denen  allerdings  das  Malerische 
vorwiegt.  —  Technisch  und  äusserlich  finden  wir  in  diesem  Jahrhundert  viel  bewusste  Nachahmerschaft 
nach  den  Meistern  der  grossen  italienischen  Epoche.  Das  römische  Stipendium  unserer  Akademieen 
wirkt  hierin  nach.  Die  Einen  lehnten  sich  an  die  Compositionsweise  Tizians  mit  seinen  Säulenthronen 
und  Hochgruppen  an ;  Andre  folgten  der  bühnenmässigen  Gruppenvertheilung  der  Schule  Raffael 
Sanzio’s.  Das  Bild  der  Kunst  in  diesem  letzten  Jahrhundert  ist  bunter,  widerspruchsvoller,  weil  der 
Geist  der  Zeiten  überall  ein  neues  Verhältniss  zur  Religion  zeitigte  und  diese  zu  ganz  anderen 
wissenschaftlichen,  gesellschaftlichen,  poetischen  Vorwänden  gebrauchte  und  zu  brauchen  fortfährt.  — 

Wir  aber  sagen  uns  am  Ende  dieser  Betrachtung,  die  nur  einen  ganz  allgemeinen  Ueberblick 
geben  wollte,  dass  die  religiöse  Kunst  gerade  in  ihrer  nachgewiesenen  Abhängigkeit  von  den  ethischen 
Trieben  der  allgemeinen  Culturentwickelung  sicher  auch  einem  tiefen  Bedürfniss  der  Menschheit 
entspricht,  das  sich  von  Innen  heraus  die  Formen  modelt,  deren  es  zu  seiner  Erbauung  bedarf. 


O' 


W.  Wunderwald  pinx. 


Copyright  1896  by  Franz  Hanfstaengl 


Ly 


Flueht  nach  Egypten 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT. 


EINE  CHRONIK 


MODERNEN  KUNSTLEBENS. 


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MÜNCHEN. 

FRANZ  HANFSTAENGL 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


E.  MÜHLTHALER’S  KGL.  HOF -BUCH-  UND  KUNSTDRUCKEREI. 


Inhalts-Angabe 


— <>.<> — 

1898.  II.  HALBBAND. 


Literarischer  Theil 


Seite 


Gurlitt,  Cornelius.  Walter  Crane .  i 

Meissner,  Franz  Hermann.  Die  Münchener Jahres- 

Ausstellungen  von  1898 . 47 


Seite 


Rottenburg,  Heinrich.  Benjamin  Vautier  .  .  .  29 

—  Das  Kunsthandwerk  auf  den  Münchener  Aus¬ 
stellungen  1898 . . 89 


Vollbilder 


Seite 


Seite 


Corinth,  Louis.  Versuchung . %2 

Crane,  Walter.  Mandelbäume,  Monte  pincio  Rom  .4- 

—  Fries,  das  Skelett  in  Rüstung .  4 

—  Amor  vincit  omnia .  -8" 

—  Der  Triumph  des  Frühlings .  9. 

—  Europa . .  .  J-2 

—  Der  Wettlauf  der  Stunden  und  Ormuzd  und 

Ahriman . 

—  La  belle  dame  sans  merci  . b6 

—  Die  Brücke  des  Lebens  . . 

—  Englands  Emblem . 2©- 

—  In  des  Schicksals  Buch . -24- 

—  Die  Schwanenjungfrauen . 24- 

—  Die  Wasserlilie . 2-5- 

—  In  den  Wolken . 28 

—  Pegasus . -29- 

v.  Defregger,  F.  Kraftprobe . 5-5- 

Echtler,  Adolf.  Maria . 

Gussow,  Carl.  Dorfparzen . 86- 

Höcker,  Paul.  Der  schüchterne  Freier  ....  78 

v.  Kanal,  Gilbert.  Niederländisches  Gehöft  .  .  J9 


v.  Kaulbach,  F.  A.  Frau  von  Kaulbach  .  . 
v.  Lenbach,  F.  Erica  und  Marion  Lenbach  . 

—  Bildniss . 

v.  Löfftz,  L.  Orpheus  und  Euridike  .  .  . 

Marr,  Carl.  Madonna  .  . .  .  . 

Nonnenbruch,  M.  Verklärung . 

Rau,  Emil.  Die  Kaiserin  kommt,  juchhe  .  .  . 
Rouband,  P'ranz.  Die  Russen  vor  Kars  ,  .  . 
Schuster- Woldan,  Rafael.  Die  Malerin  .  . 

—  Georg.  Der  getreue  Eckart . 

Simm,  Franz.  Unschlüssig  . . 

Stuck,  Franz.  Pallas  Athene . 

Strützel,  Otto.  Am  Kanal  . . 

Thedy,  Max.  Adoratio  crucis . 

Vautier,  Benjamin.  Aufforderung  zum  Tanz  . 

—  Besuch  der  Neuvermählten . 

—  Unfreiwillige  Beichte . 

—  Die  entzweiten  Schachspieler . 

—  Bauern  vor  Gericht  . 

—  Eine  Verhaftung . 


-£*■ 

-5-8 

-62- 

8£- 

2-Qr 

-94" 

59- 

9-8-" 

-94- 

-3** 

33- 

36' 

-3F 

A& 

47 


T  extbilder 


Seite 


Becker,  Carl.  Abend  an  der  Nordsee  .  ...  71 

Beggrow  Hartmann,  Olga.  Idylle . 74 

Bereny,  Rudolf.  Hans  Thoma . 80 

Bertsch,  Wilhelm.  Interieur . 95 

v.  B  o  c  h  m  a  n  n ,  Gregor.  Nordwyker  Muschelkarren  73 
Böhme,  Carl.  Scirocco,  Motiv  von  Capri  .  .  69 


Seite 

Böninger,  Robert.  Idyll . 64 

Bössenroth,  Carl.  Mondaufgang  im  Moos  .  .  50 

Bürgel,  Hugo.  Flusslandschaft . 82 

Co  mp  ton,  Edward  T.  Neuschnee  im  Höllenthal  49 
Crane,  Walter.  Studien  und  Skizzen  ....  I — 28 

Curry,  Robert  J  Gerettet . 77 


Seite 


Dülfer,  Martin.  Interieur  .  . . 91 

Eber  lein,  Gustav.  Gothe  bei  Betrachtung  von 

Schillers  Schädel . 84 

Esser,  Theodor.  Lustige  Nacht  ........  52 

Fahrenkrog,  Ludwig.  Träumerei . 85 

Falkenberg,  Richard.  Ophelia . 67 

Fink,  August.  Winterlandschaft  an  der  Isar  bei 

Freising  . 53 

Fischer,  Theodor.  Interieur  . 93 

Georgi,  Walter.  Wirthsgarten . 82 

Graessei,  Franz.  Enten . 62 

Grocholski,  Stanislaus.  Verlangen . 66 

Gysis,  Nicolaus.  Studienkopf . 60 

Hart  m  ann ,  Richard.  Schülerszene  (Goethe’sFaust)  72 
Helbig  und  Hai  ge r.  Interieur  .......  .  97 

Hey,  Paul.  Vorfrühling . 83 

Huber,  Josef.  Luzifer . 86 

Hynais,  Adalbert  Studie . 47,  58 

Kiesel,  Conrad.  Damenbildniss . 56 

Koester,  Alexander.  Märzabend . 86 

Kubier  sch  ky,  Erich.  Abendlandschaft  ....  68 

Landsinger,  Siegmund.  Quellnymphe  ...  .  7 5 

Laupheimer,  Anton.  In  Ferien . 57 

Liebermann,  Max.  Sonntag  Nachmittag  in  Laren  79 


Seile 

Männchen,  Adolf.  Auf  der  Landstrasse  ...  87 

Malczewsky,  Jacek.  Irrkreis . 81 

Messerschmidt,  Pius  Ferd.  Heimfahrt  ...  76 

Moest,  Hermann.  Das  Loos  des  Schönen  .  .  .  61 

Montemezzo,  Anton.  Leckerbissen . 62 

Munk,  Eugenie.  Pierrot . 54 

Otto,  Ernst.  Elche . 83 

P  e  c  k  ,  Orriti.  Kohlkrautgarten . 59 

Petersen,  Hans.  Hochsee  . 48 

Propheter,  Otto.  Bildniss  des  Professors  Ferd. 

Keller . 70 

Rabending,  Fritz.  Aus  Tirol . 74 

Recknagel,  Otto.  Gestörte  Liebeserklärung  .  .  78 

Ring,  Max.  Am  Gemüsestand . 55 

Ritter,  Caspar.  Blumen . 51 

Schmutzler,  Leopold.  Ein  Spaziergang  ...  63 

Schott,  Walter.  Kugelspielerin . 88 

Schwill,  William.  Bildniss . 80 

Tallmaier,  Ernst.  Lektüre . 60 

Urban,  Hermann.  Jugend .  ...  51 

Vautier,  Benjamin.  Studien  und  Skizzen  .  29 — 46 

Wagner,  Alexander.  Heimkehr . 65 

Ziegler,  Carl.  Bildniss . 85 


WALTER  CRANE 

VON 

CORNELIUS  GURLITT 


Es  ist  sieben  oder  acht  Jahre  her,  als  zwei  Herren  mit  untadelhaften  Handschuhen  und  blitzenden 
Cylinderhüten  mich  besuchten,  um  mich,  wie  sie  brieflich  bereits  angekündigt  hatten,  um  einen 
Rath  zu  fragen.  Ich  war  gespannt,  was  die  beiden  Vertreter  einer  grossen  Berliner  Dekorateur  -  Firma 
eigentlich  von  mir  wollten. 


Sie  hätten  gehört,  sagten  sie,  ich  sei  ein  Mann,  der  Geschmack  für  das  «Aparte»  habe.  Sie 
hätten  die  Absicht,  in  der  Möbelbranche  einmal  so  etwas  zu  machen,  etwas,  was  Berlin  noch  nicht  ge¬ 
sehen  habe :  Ob  ich  ihnen  nicht  eine  Art  Böcklin  in  Möbeln  nennen  könne,  der  ihnen  etwas  zeichne 

oder  baue,  was  Aufsehen  macht,  so  —  ’was 
man  in  Berlin  eine  « ausgetragene  Sache » 
oder  kurzweg  «  eine  Sache »  nennt. 

Ich  wusste  mir  nicht  gleich  zu  helfen. 
Barock?  Damit  waren  die  Herren  schon 
fertig.  Noch  barocker,  wie  sie  schon  waren, 
konnte  kein  Mensch  mehr  werden.  Rococo? 
Alles,  was  einst  im  17.  oder  18.  Jahrhundert 
in  Frankreich  oder  Deutschland  geschaffen 
worden ,  war  auch  schon  in  den  letzten 
Jahren  in  Berlin  dagewesen.  Damit  war  man 
auch  fertig. 

Endlich  kam  mir  die  gewünschte  Idee: 
Schreiben  Sie  an  Walter  Crane  in  London, 
er  solle  Ihnen  ein  Zimmer  zeichnen,  die 
Thürbekleidungen,  die  Möbel,  die  Tapeten, 
die  Stoffe,  die  bunten  Fenster.  Da  bekommen 
Sie  sicher  etwas,  was  in  Berlin  und  auch  in 
London  noch  nicht  gesehen  worden  ist,  da 
haben  Sie  ihren  kunstgewerblichen  Böcklin. 
Die  Herren  notirten  sich  die  Adresse 

Walter  Crane.  st.  Nicolo  Toientino,  Rom  und  gingen  zufrieden  ihres  Weges. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


2 


Nach  einiger  Zeit  kamen  sie  mit  Crane’s  Zeich¬ 
nungen  wieder: 

«Unmöglich!  Das  kann  bei  uns  jeder  Zeichner 
mit  120  Mark  monatlichem  Gehalt.  Das  ist  nichts 
für  Berlin-  —  sagen  Sie  selbst :  Damit  werden  wir 
keinen  Eff  ekt  machen  !  » 

Ich  erlaubte  mir  den  Einwurf:  «Versuchen  sie  es 
doch!  Vielleicht  weist  Sie  Crane  den  rechten  Weo-; 
man  ist  eben  einfacher  in  England  wie  bei  uns  und 
wir  werden  es  wohl  mit  der  Zeit  auch  werden.  Lesen 
Sie  Dohme’s  eben  erschienenes  Büchlein  über  das  eng- 
lische  Haus.  Da  ist  schon  Witterung  kommender  Zeit. 
Klänge  es  nicht  ganz  hübsch,  wenn  Ihre  Firma  das 
Stichwort  ausgäbe :  Umkehr  aus  dem  Formenüberfluss 
zur  Schlichtheit !  Das  wäre  doch  auch  etwas  Apartes  !  » 
Man  versprach  die  Sache  in  Erwägung  zu  ziehen. 
Aber  ich  hätte  sicher  von  dem  Crane-Zimmer  gehört, 
wenn  es  zu  Stande  gekommen  wäre.  Der  von  den  Herren  gepflogenen  Erwägung  letzter  Schluss 
war  sichtlich,  dass  Crane  für  das  Berlin  von  damals  nicht  reif  war ! 

Und  doch  waren  seine  Werke  schon  in  tausend  Händen.  Ich  kann  es  einem  so  feinen  deutschen 
Künstler,  wie  V.  Paul  Mohn,  nicht  verdenken,  wenn  er  in  der  Lebensbeschreibung,  die  er  seinem 
Lehrer  Ludwig  Richter  widmet,  ein  paar  bittere  Bemerkungen  darüber  einflicht,  dass  das  englische 
Illustrationswesen  in  unseren  Kinderbüchern  einen  so  über¬ 
mässig  starken  Einfluss  habe.  Aber  nicht  Crane’s  Bilder¬ 
bücher  sind  es,  die  am  besten  bei  uns  «gingen»,  wie  der 
Buchhändler  sagt.  Es  sind  ihrer  zwar  viele  bei  uns  ab¬ 
gesetzt  worden,  aber  fast  mehr  an  Erwachsene  als  an 
Kinder.  Sie  waren  uns,  die  an  Richter  Gewöhnten,  fremd¬ 
artig,  zu  phantastisch. 

Es  bedurfte  erst  der  vermittelnden  Zwischenglieder, 
um  Crane  bei  uns  beliebter  zu  machen :  Ein  solches  bot 
Kate  Greenaway  in  ihren  berühmten  Darstellungen  von 
Kindern  und  ländlichen  Vorgängen.  Ihre  Bücher  brachten 
im  Gegensatz  zu  der  damals  üblichen  deutschen  ein  neues 
Motiv :  lebhafte  Farbe  ohne  Buntheit,  einfachere  Flächen¬ 
töne  bei  kräftigem  Umriss,  während  unser  P'arbendruck  sich 
alsbald  in  die  Thorheit  eingelassen  hatte,  Oelbilder  nach¬ 
ahmen  zu  wollen.  Kate  Greenaway  war  in  der  äussern 


Walter  Crane,  Studie 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Q 

O 


Ausstattung  ihrer  Bilderbücher  sichtlich  Crane’s  Nachfolgerin,  hatte  dessen  Eigenart  gemischt  mit  der 
des  glänzenden  Humoristen  Randolph  Caldecott  und  dabei  sich  auf  ein  Gebiet  geworfen,  dass 
Allen  leicht  verständlich  ist,  auf  die  Darstellung  des  Kindes.  Sie  ist  als  Malerin  ein  ächtes  Weib 
geblieben,  schuf  weiblich,  anmuthig,  mit  dem  Herzen,  mit  spielender  Kinderliebe,  —  verzeichnete  sich 
vielleicht  gelegentlich,  wurde  dadurch  aber  nur  um  so  liebenswürdiger.  Sie  kleidete  ihre  Gestalten 
in  das  für  Englands  Kunst  klassische  Kostüm  der  Biedermaierzeit,  in  dem  Reynolds,  Gainsborough 
und  Lawrence  ihre  Kinderbilder  malten  und  erreichte,  dass  bei  uns  dieses  Kostüm  lange  Zeit  nach  ihr 
benannt  wurde.  Es  liegt  mir  fern,  auf  sie  und  ihr  Werk  zu  schelten  :  Es  ist  fein  und  vornehm,  wohl 


Walter  Crane,  Villa  Pamphili  Doria,  Rom 

weniger  «naiv»  als  man  einst  glaubte,  ein  Wenig  von  jener  Süssigkeit  und  Selbstverkindlichung,  in 
die  man  so  gern  im  Verkehr  mit  den  Kleinen  fällt,  aber  doch  voll  ächten  Menschenthums;  denn 
solches  ist  ja  nicht  eitel  Stärke  und  Selbstherrlichkeit. 

Kate  Greenaway’s  Schaffen  war  das  erste,  was  Deutschland  in  seinen  der  Kunst  ferner  stehenden 
se  nach  langer  blnterbrechun  g  von  englischem  Schaffen  kennen  lernten.  Man  lese  beispielsweise 
in  Meyers  Konversations-Lexikon  III.  Auflage  von  1878  nach,  was  da  ein  doch  immerhin  sich  kundig 
Dünkender  über  die  Vorgänge  in  den  Werkstätten  jenseits  des  Kanales  zu  sagen  wüsste.  Rossetti 
ist  als  Dichter  genannt  und  dem  Aufsatz  über  ihn  beigefügt :  «Zugleich  ist  er  als  Maler  (Anhänger 


l* 


4 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


der  sog.  präraffaelitischen 
Richtung)  und  Zeichner 
(trefflicher  Illustrator)  be¬ 
kannt».  Ueber  die  Malerei 
überhaupt  lehrt  das  Buch, 
England  habe  seit  Rey¬ 
nolds  keine  ähnliche  Kraft 
mehr  besessen  und  auch  in 
der  Landschaft  seien  Turner 
und  seine  Vorgänger  nicht 
mehr  Überboten  worden : 
Immerhin  seien  aber  einige 
mit  Namen  aufgeführte 
Maler  rühmenswerth:  Die 
Auswahl  ist  sichtlich  ohne 
jede  Sachkenntniss  ge¬ 
macht,  die  eigentlichen 


Walter  Crarie.  S.  Francesco  Romane  vom  Palast 
der  Caesaren,  Rom 


Führer  sind  alle  übersehen, 
ausser  Millais  und  nur  die 
Akademiker  sind  genannt. 
Man  darf  der  Leitung  von 
Meyer’s  Konversations- 
Lexikon  keinen  Vorwurf 
hieraus  machen.  Nicht  bes¬ 
ser  steht  es  z.  B.  in  Lübke’s 
Kunstgeschichte  um  die 
Kenntnisse  englischen  We- 
sens !  Es  war  damals  that- 
sächlich  aus  der  deutschen 
Litteratur  unmöglich,  sich 
auch  nur  ein  annäherndes 
Bild  von  dem  zu  machen, 
was  in  London  und  gar 
was  in  den  anderen  Kunst¬ 


städten  des  Landes  die  Köpfe  der  Maler  bewegte.  —  So  1877,  als  Crane’s  Bilderbücher  anfingen, 
in  Deutschland  die  Aufmerksamkeit  der  Künstler  zu  erwecken. 

Es  ist  ja  eine  der  merkwürdigen  Erscheinungen  im  «Zeitalter  des  Verkehres»,  dass  die  Abschliessung 
der  Nationen  von  einander  immer  stärker  wird.  Wie  es  für  den  Frieden  nicht  gut  ist,  wenn  zwei  eng 
verwandte  Familien  unter  einem  Dache  wohnen,  so  scheinen  die  Völker  den  engeren  Verband  durch 
Eisenbahn  und  Telegraph  unter  einander  nicht  zu  vertragen.  Gerade  das  Alltägliche,  das  Hausbrod, 
was  man  isst,  will  man  für  sich  haben,  kennen  die  Nachbarn  daher  am  Wenigsten.  So  ist’s  hüben  wie 


drüben:  Crane  selbst 
gab  im  vorigen  Jahr 
ein  Buch  heraus  «  Of 
the  decorative  Illu¬ 
stration  of  Books, 
old  and  new»,  wel¬ 
ches  zwar  keine  An¬ 
sprüche  auf  grosse 
Kunstgelehrsamkeit 
macht,  aber  doch 
sicher  das  gibt,  was 
der  vielgewandte 
Verfasser  kennt  und 
liebt.  Da  ist  den 


Walter  Crane.  Skizze  des  Strandes  des  stillen  Ozeans 
bei  Santa  Barbara,  Süd-Californien 


alten  Deutschen  volle 
Ehre  erwiesen :  Vor 
Dürer  und  Holbein, 
aber  auch  vor  den 
ihnen  Vorausgehen¬ 
den  und  Folgenden 
neigt  er  sich  in  Be- 
wunderung.  Er  hat 
sie  sichtlich  fleissig 
angesehen.  Aber  von 
Ludwig  Richter  weiss 
er  nichts.  Der  Name 
des  Mannes,  den  wir 
bei  Aufzählung  der 


Mandelbäume,  Monte  pineio  Rom 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


5 


Walter  Crane.  Weingarten  Carrara 


Illustratoren  wohl  zunächst  nennen  würden,  fehlt  in  dem  Buch  eines  Mannes,  der  selbst,  wie  Richter, 
Grimm’s  Märchen  und  dazu  noch  nach  der  Uebersetzung  seiner  Schwester  1882  illustrirte,  also  eines 
Mädchens,  das  doch  sicher  mit  deutscher  Sprache  und  wohl  auch  deutschem  Wesen  vertraut  war.  Und 
doch  sagt  Crane,  ihm  scheine,  als  walte  in  Deutschland  die  alte  kernhafte  Ueberlieferung  im  Holzschnitt 
und  illustrativer  Zeichnung-  ungebrochener,  wie  anderwärts ;  und  doch  rühmt  er  die  Kraft  und  Eigenart 
der  deutschen  Künstler:  Er  kennt  Menzel,  Rethel,  Schwind.  Er  lobt  selbst  Oskar  Pietsch,  Richters 
Nachempfinder,  dessen  Bilderbücher  auch  in  England  einst  sehr  beliebt  und  gewiss  nicht  ohne  Einfluss 
auf  Kate  Greenaway  waren;  er  kennt  Otto  Hupp’s  kräftig  stilistische  Handschrift,  er  hat  Arbeiten  von 
Sattler  und  Stuck  gesehen,  auf  wirkungsvollen  Zeichnungen  den  Namen  Seitz  gefunden,  er  hat  sich 
mit  den  Künstlern  der  «Jugend»  beschäftigt,  deren  manchen  er  nachrühmt,  dass  sie  mit  Geschick 
dekorative  Wirkung  erstreben,  während  er  bei  anderen  findet,  dass  diese  überwuchert  sei  von  groteskem 
Empfinden  und  kränkelnder  Uebertreibung ;  aber  er  fühlt  den  Ueberfluss  von  reichem  Leben,  Witz  und 
launischem  Geist  heraus,  wie  solche  in  Süddeutschland  heimisch  wohnen.  Das  ist  aber  auch  so  ziemlich 


6 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Alles,  was  er  von  deutscher  Kunst  sagt:  Auch  Schnorr  von  Carolsfeld’s  Bibelwerk,  dem  wir  einst 
Weltruf  nachrühmten,  kennt  er  wohl  nicht,  da  er  es  sonst  schwerlich  übergangen  hätte. 

Crane  war  wiederholt  in  Italien,  sicher  auch  in  Frankreich.  Die  Welt  aber,  in  der  er  lebt,  ist 
die  rein  englische,  die  Kämpfe,  die  er  kämpft,  beziehen  sich  auf  die  dortigen  Vorgänge:  Er  ist  vom 
Geist  des  Präraffaelitenthums  völlig  umfangen,  er  ist  ein  Stück  der  Schule,  welche  diesen  hervorbrachte. 

Man  thut  Unrecht,  die  Menschen  wie  Kautmannswaaren  Stück  für  Stück  abzuwägen  und  nach 
ihrem  Pfundgehalt  zu  bewerthen.  Es  fragt  sich  daher  auch  hier  nicht,  wer  in  dieser  Schule  der  Grösste 
sei.  Hier  beschäftigt  uns  die  Frage,  wie  Crane  selbst  die  Dinge  betrachtet,  zunächst  Crane  der 
Illustrator.  Er  unterscheidet  ja  selbst  schart  zwischen  diesem,  dem  er  die  Aufgabe  zuweist,  das  Buch 
zu  schmücken  und  dem  Künstler,  den  er  einen  Anfertiger  von  Bildern  für  Bücher  nennt,  wie  z.  B.  Chodo- 
wiecki  ein  solcher  sei.  Er  sucht  seine  Aufgabe  mit  einer  bisher  nicht  erkannten  Schärfe  zu  umfassen  : 
Ihm  hat  die  Zeichnung  für  das  Buch  zwei  gleichwerthige  Zwecke:  Sie  soll  den  Text  bildlich  vergegen¬ 
wärtigen  und  sie  soll  ihn  zugleich  ornamental  schmücken.  Und  auf  das  letztere  legt  er  das  Haupt¬ 
gewicht.  Der  Illustrator  soll  eine  schöne,  völlig  harmonisch  ausgestattete  Buchseite  schaffen,  seine 
Zeichnung  mit  dem  Drucksatz  in  Einklang  bringen  und  nicht  ein  Bild  für  sich  schaffen  wollen,  das 

t_>  O  O 

ohne  den  Satz  besser  wirkte,  das  ein  selbständiges  Kunstwerk  ist  oder  zu  sein  erstrebt.  Und  da 
ist  neben  den  alten  Meistern  Deutschlands  und  Italiens  ihm  sein  Landsmann  William  Blake  der  Erwecker 
der  Illustrationskunst:  Jener  phantastische  Dichter,  der  seine  Bücher  selbst  schrieb,  zeichnete  und 
druckte  und  zwar  all  dies  alsbald  mit  Hilfe  einer  Platte,  so  dass  die  volle  Einheit  der  Form  und  des 
Inhalts  gewahrt  ist,  Zeichnung  und  Handschrift  in  voller  Uebereinstimmung,  in  gleich  starker  Individualität 
hervortreten.  Dieser  Blake  war  ja  freilich  das,  was  man  einen  verrückten  Kerl  nennt  in  ausge¬ 
prägtestem  Maasse.  Er  hatte  Traumphantasien,  die  dicht  an  ächte  Hallucination  reichten.  Aber  in 

ihm  steckte  eine  gewaltige  Kraft  freien  Denkens.  Es  ist  ja 
eine  der  Eigenthümlichkeiten  der  Kunst,  dass  man  mit  ganz 
normalem  Denken  in  ihr  nicht  sehr  weit  vorwärts  kommt  und 
dass  in  ihr  gelegentlich  Leute  auftreten  müssen,  die  auf  den 
ersten  Blick  dem  «Besonnenen»  das  Gegentheil  seiner  wohl¬ 
gepflegten  Tugend  zu  haben  scheinen. 

Dazu  kam  für  Crane,  wie  er  selbst  in  seinem  Buch  erzählt, 
noch  ein  weiterer  Anstoss  zum  Abfall  von  der  älteren,  auf 
Irrwege  gerathenen  Illustrationskunst.  Als  seinen  Lehrer  rühmt 
er  William  James  Lin  ton,  von  dem  er  als  Lehrling  durch 
drei  Jahre  hindurch  weniger  den  Holzschnitt  als  die  Kunst 
lernte,  auf  den  Stock  zu  zeichnen \  er  rühmt  an  ihm  den  unter¬ 
richteten  Mann  ebenso,  wie  den  erfahrenen  Künstler.  Er  ist 
der  Herausgeber  des  1889  erschienenen  Werkes  «The  Masters 
of  Wood  Engraving »,  in  welchem  er  sich  als  solcher  in  um- 
fassender  Weise  zu  erkennen  gibt. 


Walter  Crane.  Flora 


8 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Linton  gehört  als  Holzschneider  der  Schule  an,  die  auf  Be w ick  zurückgeht,  den  Illustrator  natur¬ 
wissenschaftlicher  Bücher,  einen  für  die  Geschichte  der  englischen  Thiermalerei  sehr  beachtenswerthen 
Mann.  Die  Technik  des  Holzschnittes  hatte  durch  die  Künstler  dieser  Schule  eine  ausserordentliche 
Förderung  erfahren.  Der  Schnitt  war  weich,  tonreich,  in  den  Uebergängen  flüssig  geworden.  Viel¬ 
leicht  ist  kein  Name  in  England  bekannter  für  diese  Art  der  Stichkunst,  wie  jener  des  Birke  t 
Foster,  der  ein  Landschafter  von  feiner  Hand  war.  Ich  habe  vor  mir  eine  englische  Besprechung 
seiner  Werke  vom  Jahre  1870,  in  welcher  die  «Eleganz  seiner  Komposition»  das  «realpoetische  Ge¬ 
fühl»,  die  «delikate  und  graziöse  Manier»,  die  Kunst  gerühmt  wird,  dass  seine  Bilder  der  «scenic  art, » 
also  der  Kunst  des  Theaters,  gleichen.  Aber  so  schlimm,  wie  dieser  Kritiker  des  Art  Journal  ihn  in 
seinem  täppischen  Lob  macht,  ist  er  wahrlich  nicht.  Es  steckt  etwas  Sentimentales  in  ihr,  wie  in  den 
meisten  englischen  Landschaftern  jener  Zeit,  sie  sind  etwas  «geduftet»  wie  man  heute  in  den  Werk¬ 
stätten  sagt,  aber  er  bringt  Llolzschnitte  zu  Stande,  die  wohl  verdienen,  eingerahmt  das  Wohnzimmer 
des  Kunstfreundes  zu  schmücken  und  er  bereitet  den  Aufschwung-  des  mit  verbesserten  Werkzeugen 
arbeitenden  Feinschnittes  vor,  der  dann  in  Amerika  seine  Vollendung  erhielt. 

Aber  gerade  das,  was  diese  Schule  erstrebte,  nämlich  die  Erhebung  des  Holzschnittes  zum 
Werth  der  selbständigen  bildmässigen  oder  doch  dem  Kupferstich  angemessenen  Leistung,  das  war 
es,  was  Crane  nicht  wollte:  Er  erzählt  selbst,  wie  ihm  ein  Offizier  der  britischen  Seemacht  ein  paar 
japanische  Bücher  von  der  Reise  mitgebracht  habe  und  wie  ihn  diese  gefangen  genommen  hätten : 
Die  Kraft  der  Umrisslinie,  die  einfachen  Farben  und  das  kräftige  Schwarz,  vor  Allem  aber  die  Ueber- 
einstimmung  von  Bild  und  Text  an  diesen  Büchern  wies  ihm  den  Weg. 

Bin  ich  recht  unterrichtet,  so  liess  Crane  eine  seiner  ersten  Arbeiten  1863  erscheinen, 
nämlich  die  Illustrationen  zu  John  R.  Wise’s  Buch:  The  New  Forest  (London,  Smith,  Eider  &  Cp.) 
in  demselben  Jahr,  in  dem  Foster’s  berühmt  gewordene  Pictures  of  English  Landscape  (London, 
Routledge,  Warne  &  Routledge)  erschienen.  Ich  habe  leider  das  Wise’sche  Buch  in  Deutschland 
nicht  auftreiben  können.  Aber  wahrscheinlich  gibt  es  einen  guten  Anhalt  dafür,  wie  Crane’s  Kunst 
vor  der  Kenntniss  Japans  aussah. 

Crane  ist  in  Liverpool  1845  geboren.  Schon  sein  Vater  war  Maler,  namentlich  beliebt  als 
Portraitist  von  Frauen  und  Kindern.  Ich  erinnere  mich  nicht,  in  öffentlichen  Sammlungen  Englands 
Werke  seiner  Hand  gesehen  zu  haben.  Doch  nahm  er  im  Kunstleben  von  Liverpool  eine  gewisse 
Stellung  ein,  ehe  er  aus  Gesundheitsrücksichten  1857  nach  London  zog,  wo  er  schon  1859  starb; 
Liverpool  ist  keine  Heimstätte  der  Kunst,  oder  war  es  damals  wenigstens  noch  nicht.  Alte  Denk¬ 
mäler  fehlen  dort  fast  ganz.  Erst  im  18.  Jahrhundert  ist  die  Stadt  zur  Bedeutung  gekommen.  Es  war 
nicht  viel  an  Schönem  dort  öffentlich  zu  sehen.  Auch  noch  heute  weckt  dem  Kontinentalen  das  Stadt¬ 
bild  öfter  Kopfschütteln  als  Bewunderung.  Die  Stadthalle  in  schwerem  klassischen  Stil  von  1795,  nicht 
weit  davon  eine  jener  Nelsonsäulen  nach  Vorbild  der  römischen  Titussäule,  an  denen  England  reich  ist. 
Als  Crane  Liverpool  verliess,  baute  man  eben  S.  George’s  Hall,  einen  Riesensaal  von  nicht  minder  schwer¬ 
fälligem  Klassizismus,  mit  15  Meter  hohen  Säulen.  Nur  für  die  Kirchen  wagte  sich  die  nationale  Gothik, 
auch  hier  noch  in  schematischen  Formen,  hervor.  Jetzt  ist  freilich  Vieles  dort  anders  geworden. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


9 


In  London  war  1857  der  erste  Ansturm  der  Reformer  des  Kunstlebens  zurückgeschlagen.  Ich 
schilderte  die  damals  herrschenden  Verhältnisse  bereits  in  meinem  Aufsatz  über  Edward  Burne  Jones 
(Jahrgang  VI  dieser  Zeitschrift,  Seite  31).  Was  dort  in  der  Akademie,  in  öffentlichen  Ausstellungen 
zu  sehen  war,  zeigte  wenig  Einfluss  der  präraffaelitischen  Bewegung.  Die  alte  Kunst  hielt  das  Scepter 
in  fester  Hand,  und  sie  war  durch  die  Wucht  ihrer  Erfolge  dazu  völlig  berechtigt. 

Zweierlei  Dinge  wirkten  auf  Crane  während  seiner  Lehrzeit  bei  Linton  (1859 — 1862)  ein: 
Die  Aesthetik  John  Ruskins  in  ihrer  sprungweisen,  pathetischen  Denkweise,  in  ihrem  stürmischen 


Walter  Crane.  Studie  zu  dem  Bilde:  Sonnenaufgang 


Anruf  der  Wahrheit;  und  die  Zeichnung  der  Künstler,  nach  welchen  er  bei  seinem  Lehrherrn  in  Holz 
zu  schneiden  hatte.  Es  waren  grosse  Namen  darunter:  Frede ric  Walker  zuerst,  der,  wie  Tom  Taylor, 
der  Herausgeber  der  Zeitschrift  « Once  a  Week»,  erzählt,  im  November  1859  als  ein  schüchterner, 
furchtsamer,  linkischer  Bittsteller  um  Beschäftigung  als  Zeichner  auf  Holz  bei  ihm  erschien,  der  selbst 
bei  dem  tüchtigen  Holzschneider  Whymper  seine  Lehre  durchgemacht  hatte  und  nun  von  Schritt  zu 
Schritt  seinen  Weg  vorwärts  machte  zu  einem  Maler  ersten  Ranges,  bis  ihn  nur  allzufrüh  (1875)  der 
Tod  erreichte.  In  seinen  Illustrationen,  wie  namentlich  in  seinen  Bildern  ist  Walker  ein  grosser 
Stilist.  Seine  Art,  die  englische  Menschengestalt  zu  idealisiren,  hat  zweifellos  auf  die  ganze  Nation, 


11  2 


10 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


so  auch  auf  Crane,  ihren  Einfluss  behalten.  Ein  wahrhaft  bedeutender  Mensch,  voll  tiefer  Stimmung, 
voll  grosser  Linie,  voll  Reichthum  und  Schlichtheit  des  Tones;  kein  Stürmer,  kein  Dränger,  einer  der 
aus  sich  selbst  reif  und  abgeklärt  wird.  Ich  glaube,  dass  die  Stunde  noch  kommt,  in  der  man 
Walker’s  Namen  höher  stellen  wird,  als  es  die  Jüngsten  thun. 

War  Walker  ein  Genosse  auf  dem  gleichen  Wege,  so  hat  E.  J.  Poynter  Crane  rasch  im 
öffentlichen  Leben  überflügelt :  Er  sagt  von  dessen  Zeichnungen,  sie  seien  in  den  archäologischen 
Einzelheiten  und  in  der  Sicherheit  der  Linie  die  bemerkenswerthesten  gewesen  in  der  Sammlung 
für  die  Dalziel’sche  Bibelgalerie,  welche  1865 — 1870  als  das  Werk  der  jungen  englischen  Künstlerschaft 
erschien.  Poynter  ist  gewiss  einer  von  den  Künstlern,  der  einen  sehr  wesentlichen  Antheil  an  der 
Ausgestaltung  der  modernen  englischen  Kunst  hat:  Auf  sein  Haupt  häuften  sich  ja  auch  in  jüngster 
Zeit  deren  Ehren.  Er  kam  damals,  als  Crane  nach  seinen  Zeichnungen  schnitt,  eben  aus  Paris,  aus 
Gleyre’s  Atelier  zurück,  wo  er  mit  dem  grossen  Zeichner  Dumaurier  und  mit  Whistler  gemeinsam 
gearbeitet  hatte.  Er  ist  zu  erwähnen  als  einer  der  Theoretiker  der  Kunst,  als  Nachfolger  Redgraves  in  der 
Leitung  des  Southkensington-Schule,  als  Schöpfer  des  sehr  bemerkenswerthen  Schmuckes  in  gemaltem 
Thon  im  Speisezimmer  des  Southkensington-Museums,  als  einer  der  glänzendsten  Meister  für  Innen¬ 
dekoration  :  Also  ein  Stilist,  und  zwar  ein  solcher  von  architektonischem  Können  und  kühler  Berechnung. 
Er  stellt  innerhalb  der  jungen  Schule  das  akademische  Gewissen  dar  !  Er  hatte  in  Paris  die  nackte 
Figur  malen  gelernt  und  wies  die  in  diesem  Fall  so  leicht  durch  Schämigkeit  beschränkten  englischen 


Künstler  auf  ein  Gebiet,  dem  die  älteren  Präraffaeliten  gern  aus  dem  Weg  gingen.  Fast  Alle  haben 
an  ihm  gelernt :  Aber  Poynter  ist  keine  sinnliche  Natur,  er  ist  ein  unterrichteter  Künstler,  der  weiss, 
dass  mit  dem  Nackten  eine  Malerschule  steht  und  fällt,  und  er  ist  früh  berufen  worden,  die  englischen 
Kunstschulen  zu  leiten.  Er  brachte  ihnen  die  fleissige  Benutzung  des  Aktsaales.  Mein  verehrter 
Lehrer,  der  Aesthetiker  Fr.  Vischer,  war  der  Ansicht,  man  solle  in  der  Kunst  das  Nackte,  die  Sinn¬ 
lichkeit,  dulden,  ja  es  sei  künstlerisch  nothwendig,  solange,  wie  er  sich  ausdrückte,  es  nicht  auf  Er¬ 
regung  des  Nerves  ausgehe.  Ich  wüsste  kaum  einen  Künstler,  der  nach  Vischer  vom  Vorwurfe  verwerf¬ 


licher  Sinnlichkeit 
freier  zu  sprechen 
wäre.  Seine  nack¬ 
ten  Frauen  sind 
schön  und  in  Nackt¬ 
heit  keusch  bis  zur 
Geschlechtslosigkeit : 
Crane  folgt  ihm  oft 
in  dieser  entsinnten 
Schönheitsliebe. 

Werthvoller  für 
Crane  war  Rosset- 
t  i  s  und  der  *  Prä- 


Walter  Crane,  Studien  für  das  Bild:  Des  Jahres  Ende 


raffaeliten  Mitwirk¬ 
ung  am  Illustrations- 

o 


Tennyson’s  Ge¬ 
dichte  in  derMoxon'- 
schen  Auflage  von 
1857  sich  äussert. 
Hier  trat  Crane  eine 
Kunst  entgegen,  die 
an  sich  selbst  deko¬ 
rativ  wirkt,  wie  jene 
der  Buchmaler  des 
Mittelalters ,  hier 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


11 


Walter  Crane.  Studien  für  das  Bild :  Des  Jahres  Ende 


freut  ihn  seines  Meisters  Linton  Stich  besonders,  weil  dieser  die  Zeichnung  selbst  wiedergiebt,  die 
Flüchtigkeiten  und  Zufälligkeiten,  ohne  jene  Korrektheit  der  Maschine,  die  den  Geist  ertödtet. 

Aber  auch  für  Crane,  wie  für  so  viele  in  England,  waren  Burne  Jones  und  William 
Morris  erst  die  Bringer  der  neuen  Kunst,  Es  ist  für  den  Berichterstatter  schwer,  die  Sachlage  klar  zu 
werden,  wenn  er  bei  Nennung  solcher  Namen  nicht  erwarten  darf,  im  Kopf  der  Leser  ein  fertiges  Bild  des 
Schaffens  und  Wirkens  des  Besprochenen  vorzufinden;  hinsichtlich  Burne  Jones  darf  ich  wohl  nochmals 
auf  meinen  Aufsatz  hinweisen,  hinsichtlich  Morris  muss  ich  aber  hier  ein  paar  Angaben  machen. 

Morris  ist  der  praktische  Verwirklicher  der  dekorativen  Absichten  der  Schule.  In  Keimscott 
House  vereinte  er  allerhand  Werkstätten,  für  sich,  als  Privatmann  anregend  thätig,  wie  es  einst  für 
den  Staat  die  Fürsten  gewesen  waren.  Gobelins  weben,  bunte  Fenster  malen,  Bücher  drucken  — 
all  das  betrieb  er  mit  den  feinen  Organen  des  Künstlers  und  dem  weiten  Blick  eines  tüchtigen 
Geschäftsmannes.  Ein  unwiderstehlicher  Schaffensdrang  trieb  ihn  vorwärts,  um  die  romantisch  erregte 
Phantasie  zu  künstlerischen  und  kunstgewerblichen  Anstrengungen  umzumünzen.  Er  lebte  und  webte 
in  einer  mittelalterlichen  Welt,  als  Dichter,  als  Zeichner  in  seinen  Einrichtungen.  Und  dabei  war  er 
voll  moderner  Gedanken,  Sozialist  aus  Mitleid  zu  seinen  darbenden  Mitmenschen,  ein  Volksredner, 
der  mit  der  Polizei  öfter  in  Berührung  kam  und  dabei  ein  vornehmer  Mann,  dessen  ganzes  Schaffen  auf 
die  höchste,  die  künstlerische  Verfeinerung  des  Luxus  ausging.  Gemeinsam  mit  Burne  Jones  und  dem 


2* 


12 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Gemeinsam  haben  sie  die 
Liebe  zum  Buch,  die  Biblio¬ 
philie.  Man  verzeihe  mir, 
wenn  ich  wieder  mit  Meyer’s 
Konversations- Lexikon  von 
1874  komme.  Dort  heisst 
es:  Bibliophilie  siehe  Biblio- 
manie;  und  bei  diesem  Stich¬ 
wort  :  Die  Sucht  Bücher  zu 
sammeln:  Und  nun  wird  er¬ 
klärt,  dass  es  Leute  gebe, 
die  Bücher  sammeln,  nicht 
um  ihres  Inhalts  wegen, 
sondern  um  der  Nebendinge 
willen ,  des  Druckes ,  der 
Abbildungen,  der  Einbände, 
und  dass  diese  hauptsächlich 
in  England  zuhause  seien.  Man  sieht  dem  Artikel  an,  dass  sein  Verfasser  sich  über  den  spleenigen 
Britten  erhaben  fühlte,  von  dem  hie  und  da  wohl  die  Zeitungen  erzählten,  er  habe  nicht  Ruhe  ge¬ 
lassen,  bis  man  ihm  die  und  jene  alte  Scharteke  überlassen  habe,  ja  er  habe  einen  lächerlich  hohen 
Preis  für  sie  gezahlt.  Heute  würden  unsere  Sammler  und  Museen  vielleicht  das  zehnfache  zurückzahlen, 
käme  dadurch  das  Buch  wieder :  Vielleicht  sind  wir  nur  suggerirt  vom  Spleen ;  vielleicht  aber  war 
der  Engländer  gar  nicht  so  verrückt,  und  sind  wir  erst  durch  ihn  gescheidter  gemacht. 


Architekten  Philipp  Webb 
pflegte  er  den  Geist  des 
Präraffaelitismus ,  den  des 
weitabgewandten  Lebens  in 
der  Tiefe  des  Gedanken  — 
er  der  Mann,  der  in  Merton 
Abbey  eine  Fabrik  ohne 
rauchenden  Schornstein  schuf, 
dessen  Ehrgeiz  es  war,  dass 
diese  auf  die  Neuerungen 
des  Betriebs,  auf  Dampf  kraft 
und  Elektrizität  verzichte, 
um  dem  Werth  der  Hand¬ 
arbeit  eine  sachliche  Hul¬ 
digung  darzubringen. 

OO  ö 

Vieles  von  Morris’  Wesen 


ist  auf  Crane  übergegangen. 

00  0 


Walter  Crane.  Studie.  Valle  dei  Molini, 
Amalfi 


Solche  Bücher  kannte  man  eben  in  England.  Unsere  schönen  alten  Bibeldrucke,  die  uns  nur 


«  Raritäten  »  zu  sein 
schienen,  sie  wur¬ 
den  drüben  zum 
Lehrmittel  neuen 
Schaffens!  Crane’s 
erwähntes  Buch 
lehrt  uns  deutlich, 
dass  er  bei  den 
«  Bibliomanen  »  in 
die  Schule  ging. 

Im  Jahre  1891 
veranstaltete  er  eine 
Ausstellung  seiner 
Arbeiten  in  « The 


Walter  Crane.  Grande  Marina,  Amalfi 


Fine  Art  Society » 
in  New  Boadstreet 
zu  London.  Es  war 
ein  Zusammenfassen 
seiner  Erfolge  und 
er  selbst  gab  im 
Kataloge  einen 
Ueberblick  über 
diese.  Er  erzählt, 
wie  er  iS 65  begann, 
gemeinsam  mit  dem 
Stecher  und  Stein¬ 
drucker  Edmund 
Evans,  sein  erstes 


LS 


Europa. 

Original  im  Besitz  des  Herrn  Commerzienrath  E.  Seeger  in  Berlin 


Walter  Crane.  Bacchantin 


14 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Buch  «The  Fairy  Ship »  herauszugeben,  dem  dann  «The  Sorg  of  Sixpence»  (1865 — 1866)  folgte. 
Es  war  nur  in  drei  Farben  gedruckt:  Schwarz,  roth  und  blau.  Man  warf  diesen  Büchern  damals  noch 
vor,  sie  seien  nicht  kräftig  genug  im  Ton,  man  fand  nicht  die  protzigen  Farben  wieder,  die  in  den 
üblichen  Kinderbüchern  heimisch  waren. 

Japanisches  sollte  sich  in  ihnen  mit  der  farbigen  Kunst  der  mittelalterlichen  Miniaturmaler  und  mit 
dem  klassischen  Empfinden  Jung-Englands  mischen.  Jetzt  nennt  Crane  die  Bilder  selbst  als  zu  frei  im  Ton 
und  zu  barbarisch  für  jene,  die  durch  Caldecott  und  Greenaway  in  allen  Verfeinerungen  der  Kunstart 
eingeführt  seien.  Gewiss  ist  aber,  dass  dadurch  der  Weg  gewiesen  wurde  für  eine  neue  Aufgabe 
des  Farbendruckes,  dass  die  moderne  Plakatkunst  hier  ihre  ersten  Anregungen  zu  suchen  hat.  Rasch 
folgten  noch  mehr  Bilderbücher:  «Bluebeard»  (1873 — 1874),  «Jack  and  the  Beanstalk »  (1874—1875), 
die  Shilling  Picture  Books  (seit  1875),  »Aladdin«,  «Goody  Thwo  Shoes  »,  Beauty  and  the  Beast», 
«The  Frog  Prince»,  «The  Yellow  Dwarf»,1  «The  Hincl  in  the  Wood»,  «Princess  Belle  Etoile», 
«Alphabet  of  Old  Friends». 

Das  ist  die  lange  Reihe  der  hauptsächlichen  Arbeiten.  Sie  unterscheiden  sich  stark  von  jenen 
Caldecott’s !  Bei  diesem  grossen  Humoristen  ist  das  Bezeichnende  die  Hast  des  Stiftes,  der  in 
kurzen  geistreichen  Strichen  Feben,  Bewegung,  Charakter  zu  geben  weiss.  Bei  Crane  ist  alles  Finie, 
Stil,  Ueberlegung,  fleissiges  Studium.  Man  möchte  glauben,  dass  Crane  sehr  eingehend  die  griechischen 
Vasenbilder  nachgezeichnet  habe.  Seine  in  erster  Finie  auf  Umriss  komponirten  Gestalten  klingen  vielfach 
an  diese  an.  Sie  scheinen  zu  gross  iiir  die  Bildfläche,  sie  müssen  sich  beugen,  um  in  ihr  stehen  zu 
können.  Crane  kommt  es  auf  deutliches  Erzählen  des  Vorganges  mit  allen  seinen  Nebenumständen 
an,  wie  es  so  die  Kinder  lieben.  Crane  ist  nicht  eigentlich  witzig,  wie  es  Caldecott  in  so  hohem 
Grade  ist,  er  ist  nicht  eigentlich  lebendig  und  belebend,  er  hat  etwas  Fehrhaftes,  Doktrinäres  in  seiner 
Kunst  und  in  Allem,  was  er  schafft,  eine  deutliche  Absicht. 

Wenn  er  selbst  seine  älteren  Arbeiten  «barbarisch»  nennt,  so  thut  man  ihm  wohl  nicht  weh, 
indem  man  das  Wort  aufnimmt.  Es  ist  trotz  aller  klassischen  Finienführung,  trotz  der  geraden  Nasen, 
kurzen  Oberlippen  und  rundem  Kinn  ein  nordisches  Geschlecht,  das  er  zeichnet.  Deute  von  sehr 
langen,  vollen  Gliedern:  Kein  Mensch  wird  darüber  in  Zweifel  sein,  dass  es  Engländer  sind,  die  er 
zeichnet.  In  einem  internationalen  Seebade  wurde  einmal  im  Freundeskreise  die  Frage  aufgeworfen, 
ob  man  die  in  den  Wellen  Herumpatschenden  ihrem  Volksthum  nach  zu  unterscheiden  vermöge. 
Das  Ergrebniss  waren  ungezählte  Irrthümer.  Wir  erkennen  die  Völker  mehr  an  ihren  Kleidern  oder  doch 

an  der  Art,  sie  zu  tragen,  wie  am  Körperbau.  Bei  Crane’s  Gestalten  ist 
es  aber  gerade  dieser,  der  entscheidet,  da  die  Kleidung  meist  eine  ideale 
ist.  Es  giebt  also  eine  gewisse  Schlankheit  der  Form,  eine  vor  weit  aus¬ 
greifenden  Bewegungen  sich  scheuende  Biegsamkeit  der  Körper,  eine 
gewisse  Schämigkeit  in  der  Haltung,  einen  Zug  um  den  grosslinig  ge¬ 
schwungenen  Mund,  der  Jedem  mit  Volkwesen  Vertrauten  das  englische 
Wesen  erkennen  lässt,  nicht  weil  er  dem  Engländer  überhaupt  eigen,  sondern 
weil  er  das  Ideal  seiner  Art  darstellt. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


15 


Die  «barbarische»  Seite  der  Bilderbücher 
liegt  in  der  Farbengebung  und  in  dem  ver~ 
hältnissmässig  geringen  Reichthum  des  Aus¬ 
drucks  in  der  Zeichnung.  Die  stilistische  Form 
herrscht  so  vor,  dass  die  Gestalten  im  Grunde 
alle  wie  aus  einer  Familie  stammend  er¬ 
scheinen.  Nach  dieser  Richtung  bedurfte  Crane 
sichtlich  noch  der  Vertiefung  und  zwar  dürften 
hier  für  ihn  die  ersten  70  er  Jahre  von  höchster 
Bedeutung  gewesen  sein,  in  welchen  er  erst 
in  den  vollen  Umfang  seiner  Thätigkeit  trat. 
Er  war  zwei  Winter  in  Italien  gewesen  und 
hatte  sich  hier  mit  den  Formen  der  Antike 
in  höherem  Maasse  erfüllt.  Unter  den  diesen 
Aufsatz  schmückenden  Bildern  sind  eine  Reihe 
von  damals  und  später  in  Rom  gefertigten 
Studien.  Jeder  hat  das  Recht,  sich  in  der 
Welt  sein  Theil  zu  suchen,  um  es  zu  lieben, 
um  es  bildlich  darzustellen.  In  Italien  sind 
tausende  von  Künstlern  gewesen  und  ist  Stoff 
für  tausende  mehr.  Man  kann  also  wohl  die 
Ziele  des  Einzelnen  an  dem  erkennen,  was 
er  in  Italien  findet:  Jedenfalls  war  es  in  der 
Landschaft  nicht  das,  was  die  Malerei  der 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  begeisterte. 
Da  ist  wohl  der  Ausblick  auf  St.  Peter  in 
Rom :  Aber  man  braucht  sich  nur  die  Kuppel 
wegzudenken,  um  aus  dem  klassischen  Land 
in  ein  rein  Crane’sches,  aus  der  Campagne 
in  die  Hügel  von  Kent  zu  kommen:  Blühende 
Bäume,  Weingärten,  eine  gesunde  Freude  an 
der  Fruchtbarkeit,  am  Schaffen  der  Natur: 
Crane  sieht  die  Blümlein  auf  den  Wiesen  des 
Forums  und  ihm  ist  die  kahle  Rückseite  einer 
Mauer  bei  S.  Francesco  in  Rom  des  Dar- 
stellens  werth,  wenn  darin  ein  Orangenbaum 
volle  Früchte  bietet.  Er  liebt  eine  klassische 
Welt,  aber  eine  solche ,  in  der  man  sichs 


Walter  Crane,  Der  Morgen 


16 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wohl  sein  lassen  kann,  er  verliert  sich  nicht  in  das  zeitlich  Fremde,  sondern  sucht  es  in  sich  zu 
eigenem  Behagen  aufzunehmen. 

Das  Jahr  1S75  brachte  als  Ergebnisse  seiner  Reisen  zwei  Bilderbücher  «Mrs.  Mundi  at  home  » 
und  «Amor  vineit  omnia».  Das  eine  eine  allegorische  politische  Satire,  nur  in  Umrisszeichnung: 
Ich  muss  gestehen,  dass  ich  ihr  nicht  allzuviel  Reiz  abzugewinnen  weiss:  Das  andere  die  Darstellung 
einer  Stadt  der  Amazonen,  welche  General  Cupido  mit  seinen  Truppen  belagert;  ein  Werk  voller 
Erinnerungen  an  Italien.  Aus  ihm  heraus  entwickelte  sich  auch  Crane’s  erstes  grosses  Bild  «Amor 
vineit  omnia»,  welches  mit  fast  allem  Eigenartigen ,  was  die  englische  Kunst  hervorgebracht  hat, 


das  Schicksal  theilte, 
von  der  Ausstellung 
der  Londoner  Aka¬ 
demie  zurückgewie- 
sen  zu  werden. 

Es  ist  sehr  merk¬ 
würdig  dieses  erste 
Bild  des  Künstlers, 
der  bisher  für  Kin¬ 
der  gearbeitet  hatte, 
das  heisst  doch  mit 
der  Absicht  lächelnd 
den  noch  Armen  im 
Geist  und  doch  so 
Reichen  in  der  Phan¬ 
tasie  die  für  sie  er¬ 
dichteten  Geschicht¬ 
lern  zu  erklären.  Er 
bleibt  auch  im  Bilde 
im  Kinderton ,  im 
Märchenlande.  Wie 


Walter  Cranc.  Studie  für  das  Bild:  Die  vier  Jahreszeiten 


die  Dinge  sich  relief¬ 
artig  abspielen,  wie 
die  Landschaft  hin¬ 
ten,  italienischer  Er¬ 
innerungen  voll,  be¬ 
lebt  ist  von  allerhand 
Vorgängen,  wiejede 
einzelne  Gestalt  hin¬ 
gestellt  ist,  so  dass 
man  sie  völlig  be¬ 
greife,  das  zeigt, 
dass  das  Kinder¬ 
thum  in  Crane  nicht 
eine  Spielerei  sei, 
dass  es  tief  in  ihm 
steckt.  Ist  die  Ge¬ 
schichte  ,  die  dar¬ 
gestellt  wird,  auch 
aus  allerlei  nur  dem 
Denkenden  ver¬ 
ständlichen  Bezieh¬ 


ungen  zusammengesetzt,  so  ist  das  Ganze  doch  ein  echtes  Kinderbild:  Man  prüfe  es  neben  vielen 
unter  den  so  selten  geschickt  gewählten  Bilderbüchern  für  die  Kleinen  auf  Deutlichkeit  der  An- 
schauung:  Der  schöne  Schimmelreiter,  die  Blasenden,  die  Jungfrau  mit  den  Schlüsseln,  der  besiegt 


knieende  Sieger ! 

<_> 


Und  weiter  schuf  Crane  in  diesem  Jahre  1875  den  ersten  Entwurf  für  eine  Tapete,  begann 
für  ihn  also  das  Eingreifen  in  das  Kunstgewerbe.  Mit  einem  Schlage  nahm  Crane  Besitz  von  dem 

O  ö  o 

ganzen  Schaffensgebiet,  welches  er  in  der  Folge  zu  beherrschen  lernte. 

Im  Jahre  1877  erschien  dann  die  englische  «Secession»  siegreich  auf  dem  Plane:  Sir  Lindsay 
schuf  der  nach  öffentlicher  Anerkennung  ringenden  jungen  Künstlerschaft  einen  Ausstellungsraum  und 


Original  im  Besitz  des  Herrn  Commerzienrath 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


17 


Walter  Crane.  Der  Constantin- Bogen,  Rom 


eine  Organisation  in  der  Grosvenor  Gallery  und  rückte  hiemit  neben  Burne  Jones  auch  Walter  Crane 
in  den  Vordergrund  des  öffentlichen  Interesses. 

Zunächst  einige  weitere  Werke  über  Crane  als  Maler.  Er  äusserte  sich  selbst  über  seine 
Absichten  und  Ansichten  in  einem  in  den  8oer  Jahren  geschriebenen  Aufsatze.  Er  findet 
die  Aufgaben  der  Malerei  neu  gestellt:  Früher  mehr  dekorativ,  habe  sie  jetzt  den  Zweck,  die  Natur 
in  ihren  wunderbaren  Naturerscheinungen,  ihrer  Pflanzen-  und  Farbenpracht  zu  schildern  oder  geschicht¬ 
liche  Ereignisse  und  Vorgänge  im  Volksleben,  oder  auch  die  Verkörperung  romantischer,  poetischer 
Gedanken  und  vieles  Anderes  noch  wiederzugeben.  Aber  das  Hesse  sich  Alles  ebensogut  verwerthen  und 
künstlerisch  zum  Ausdruck  bringen  in  einem  dekorativen  Werke.  Der  Fehler  liege  in  unserer  Art 
Staffeleibilder  zu  malen,  die  nicht  nothwendiger  Weise  in  Verbindung  mit  irgend  einem  anderen  Gegen¬ 
stand  gedacht  seien,  den  Maler  also  auch  nicht  zwängen,  die  Umgebung  seines  Werkes  in  Betracht 
zu  ziehen.  Für  den  modernen  Maler  hat  somit  nichts  von  dem,  was  ausserhalb  der  Leinwand  liegt,  Bezug 
zu  seinem  Kunstwerk.  Die  Unsitte  der  grossen  Ausstellungen  und  Bildergallerien  lehrt  ihn,  dass  es 
zwecklos  sei,  sich  mit  jenseits  des  Rahmen  Liegenden  zu  beschäftigen. 

Zudem  bringe  das  moderne  Verlangen  nach  genauer  bildlicher  Wiedergabe  des  Gesehenen 
den  Künstler  noch  weiter  ab  von  der  architektonischen,  dekorativen  und  konstruktiven  Art  früherer 
Maler  und  Handwerker,  die  ihre  Werke  mit  deren  Umgebung  in  Einklang  zu  bringen  hatten,  meistens 


IS 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


in  einen  gegebenen  Raum  hineinkomponiren  mussten  und  dem  verschiedenartigen  Material  Rechnung 
zu  tragen  genöthigt  waren. 

Crane  spricht  diesen  realistischen  Bildern  den  Werth  ab  und  fordert  statt  den  in  ihnen  herr¬ 
schenden  Wahlspruch  der  Wahrheit,  den  der  Schönheit.  Doch  braucht  diese  nicht  ihrem  Wesen  nach 
der  Wahrheit  zu  widersprechen.  Jedenfalls  sei  für  die  Dekoration  Schönheit  die  Grundbedingung, 
deren  eigentliches  Wesen,  mit  dessen  Verlaugnung  sie  zu  sein  aufhöre.  Die  Schönheit  sei  hier  nur 
bedingt  durch  die  Umgebung.  So  dürfe  ein  Freskenbild  an  der  Wand  nicht  die  Empfindung  hervor- 
rufen,  als  ob  ein  Loch  in  dem  Gemäuer  wäre,  durch  das  man  zufällig  das  oder  jenes  zu  sehen  bekäme, 
die  Verzierung  einer  Vase  solle  sich  der  konvexen  Form  jener  anpassen,  diese  noch  mehr  zum 
Ausdruck  bringen,  nicht  aber  ihr  widersprechen.  So  solle  ferner  beim  Ausschmücken  einer  Wand  oder 
Thürfüllung  das  verwendete  Motiv  sich  breit  ausdehnend,  diese  wirklich  organisch  bedecken  —  es 
soll  ornamental  wirken,  da  das  der  einzige  Zweck  eines  Ornamentes  sein  könne.  Crane  giebt  hiebei 
vielerlei  zu  bedenken:  Entspricht  das  Muster  dem  Ort,  an  dem  es  angebracht  und  dem  Material, 
auf  dem  es  gearbeitet  ist?  stehen  die  Formen  im  Einklang  mit  der  Umgebung  und  sind  sie  an  sich 
harmonisch?  sind  die  Farben  gut  gewählt?  zeugt  das  Werk  von  Reichthum  der  Erfindung  und  Schön¬ 
heitssinn?  sprechen  sich  in  demselben  Gedanken  und  poetisches  Gefühl  aus?  Sind  diese  Fragen  mit 
Glück  beantwortet,  so  hat  der  Künstler  den  an  ihn  zu  stellenden  Anforderungen  genügt  und  eine 
dekorative  Malerei  geschaffen,  welche  durchaus  keine  untergeordnete  Kunstleistung  sei. 

Freilich  passe  sie  nicht  auf  Ausstellungen,  die  so  wie  so  nur  ein  Nothbehelf  seien,  um  die  Werke 
an  die  Oeffentlichkeit  zu  bringen.  Wirklich  beurtheilen  könne  man  ein  echtes  Kunstwerk  nur  in  der 
Umgebung,  für  die  es  geschaffen  wurde.  Man  müsse  daher  sich  von  den  Einflüsterungen  der  Bilder¬ 
macher  frei  halten,  wolle  man  zu  einer  echt  dekorativen  Kunst  kommen.  Sie  sollen  nicht  Licht-  und 
Luftwirkungen,  mithin  den  Eindruck  grosser  räumlicher  Tiefe  hervorbringen,  sondern  den  Eindruck  des 
Flächenhaften  geradezu  erstreben,  wie  ihn  Fresko  und  Tempera  geben.  Beide  Arbeitsarten  fördern 
schnelles  Malen  und  sofortige  Vollendung  der  Arbeit.  Aehnlich  sei  das  Malen  mit  Oelfarben,  die 
durch  Terpentin 
oder  Benzin  gebun- 
den,  auf  nicht  zu 
glattem  Gyps  auf¬ 
getragen  werden. 

Gegen  diese  An¬ 
schauung,  -wenn  sie 
zur  Gemeingültig- 
keit  erhoben  werden 
sollten,  Hesse  sich 
gewiss  Vielerlei 
sagen.  Ich  habe 
immer  gefunden, 


Walter  Crane.  Villa  Ludovisi 


dass  die  Aesthetik, 
welche  die  Künstler 
treiben  im  Grunde 
nichts  ist  als  Erklär¬ 
ung  ihrer  schöpferi¬ 
schen  Eigenart.  So 
auch  hier.  Nicht 
weil  ich  glaube,  dass 
Crane  unbedingt 
recht  habe,  sondern 
weil  er  für  sich  und 
seine  Begabung  das 
Rechte  fand,  sind 


Walter  Crane.  Lohengrin 


20 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


seine  Erklärungen  für  uns  von  hohem  Werth.  Sie  sind  Erläuterungen  zu  seinen  Bildern.  Diese  stehen 
daher  auch  in  sehr  entschiedenem  theoretischen  Gegensatz  zu  der  Kunst,  mit  welcher  der  Präraffaelis¬ 
mus  als  eine  ausgesprochen  realistische  Schule  anfing.  Der  dort  eingeschlagene  Weg  ist,  wie  so  oft, 
der  gleiche  wie  in  andern  Kunstschulen.  Der  Realismus  ist  die  Vorstufe,  die  zum  neuen  Idealismus  führt 


und  dieser,  als 
die  Blume  des 
Realismus  trägt 
für  Spätere  die 
Frucht  der  V or- 
bildlichkeit. 

Aber  mit  der 
Vollendung"  der 
Frucht  verfällt 
die  glanze 
Pflanze.  Es  be¬ 
darf  nun  wieder 
eines  neuen  Re¬ 
alismus,  eines 
neuen  Früh¬ 
lings,  um  aus 
allerlei  alten 
Keimen  Lebens¬ 
kräftiges  zu  ent¬ 
wickeln. 

Folgen  wir 
der  Reihe  von 
Crane’s  Bildern, 
soweit  diese  hier 
zur  Darstellung 

o 

gebracht  wer¬ 
den  kann. 

Der  «  Raub 
der  Europa » 

ist  klar  und  sachlich  durchgeführt.  Unter  der  zerbrechlichen  Brücke  das  Boot  des  Lebens  und  des 
Todes:  Aus  einem  landet  das  junge  Leben,  ersteigt,  geleitet  von  den  Eltern  die  Stufen,  wird  von 
den  Alten  belehrt,  schreitet  spielend  und  liebend  empor  bis  zum  Höhepunkt,  wo  die  Iromete  der 
Ehre  erklingt,  die  Weltlust  sich  anhängt,  die  Schönheit  den  Becher  füllt  und  die  Hingabe  sich  an 
den  reifen  Mann  schmiegt.  Glück  und  Ruhm  locken  den  Verweilenden  weiter,  er  packt  sich  die  Lasten 


Walter  Cram.  Freiheit 


wurde  1 8 8 1 
theilweise  in  Ita¬ 
lien  gemalt,  in 
England  vollen- 
det.  Gemalt  auf 
rauhem  Gips¬ 
grund  sucht  es 
mit  Entschie¬ 
denheit  im  'Fon 
der  italienischen 
Fresken  sich  zu 
halten.  Italie¬ 
nisch  sind  auch 
die  Motive  des 
Hintergrunds, 
die  vollere,  mus¬ 
kelreichere  Be¬ 
handlung  des 
<_> 

nackten  weib¬ 
lichen  Körpers. 

Die  «  Brücke 
des  Lebens » 
dankt  auch  dem 
Aufenthalt  in 
Rom  ihre  Ent¬ 
stehung,  wurde 
jedoch  erst 
1 884  vollendet. 
Die  Allegorie 


Original  im  Besitze  des  Herrn  Baron  T.  Th.  Heinzei  von  Hohenfels 


Wolter  Craue  pinx 


Phol.  F  Haufslaengl,  München. 


In  das  Schicksals  Buch 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


21 


Walter  Crane.  Skizze  zu  dem  Gemälde:  Das  Nahen  des  Frühlings 


der  unduldsamen  Welt  auf,  Loth’s  Weib  wendet  sich  sorgend  zurück,  bis  das  Alter,  das  schon  zum 
Nachen  des  Todes  hinabschaut,  selbst  Stütze  an  der  Jugend  suchen  muss.  Nur  die  Hoffnung  hält  noch 
ihr  Lämpchen  empor,  obgleich  der  Weg  schon  die  Stufen  hinabführt  —  bis  der  Todte  im  Nachen 
liegt  und  Atropos  den  Faden  zerschneidet,  den  ihre  Schwester  Clotho  bei  der  Landung  des  Kindleins 
knüpfte  und  die  über  der  Jugend  thronende  Schwester  Lachesis  fortspann. 

Es  ist  ein  merkwürdiges  Bild  !  Nicht  der  Gedanke  ist’s,  der  mich  packt.  Der  hat  etwas  Aus¬ 
geklügeltes,  Gelehrtenhaftes.  Nicht  die  Komposition,  die  nicht  immer  frei  ist,  und  die  auch  ihrerseits 
zeigt,  dass  Crane  es  sich  nicht  leicht  werden  Hess,  nicht  das  ausserordentlich  vertiefte  Naturstudium. 
Die  Umrisslinie  herrscht  in  alter  Gewalt  im  Bilde,  aber  der  Umriss  ist  unendlich  viel  reicher  geworden 
und  die  Fläche  innerhalb  seiner  Grenzen  hat  Bewegung,  Fluss,  Körperhaftigkeit  gewonnen.  Das  Merk¬ 
würdigste  scheint  mir  die  stilistische  Kraft,  die  hier  zuerst  Crane  auch  im  Geschichtsbild  ganz  er  selbst 
sein  lässt,  und  zwar  um  so  stärker,  als  er  selbst  dieses  Bild  als  Frucht  des  Auflebens  des  Einflusses 
der  Antike  und  der  Renaissance  in  Zeichnung  und  Auffassung  kennzeichnet,  und  er  in  ihm  trotzdem  so 
erstaunlich  englisch  bleibt. 

Wie  Goethe  in  Italien  die  Hexenscene  seines  Faust  schrieb,  wie  ihn  inmitten  der  klassischen 
Welt  die  schwankenden  Gestalten  der  Romantik  nahten,  so  ist  dem  Engländer  Rom  mit  Keat’s  Name 
und  Dichtungen  auf’s  Engste  verknüpft.  Crane  fand  in  seinem  Bilde  «La  belle  Dame  sans  Merci» 
(1889),  die  Keat  nachgedichtet  wurde,  den  Ausdruck  für  diese  Welt.  Das  Bild  ist  sehr  farbig,  fast 
bunt.  Wie  Holman  Hunt  sieht  Crane  jede  Einzelheit  der  Natur  mit  scharfem  Auge.  Die  Blumen  auf  der 
Wiese,  die  mit  botanischer  Genauigkeit  gemalt  sind,  wie  den  Schmuck  an  der  schönen  Frau,  dem  gepanzerten 
Ritter,  am  Sattelzeug  des  Pferdes.  In  diesem  Sinn  fühlt  er  sich  als  Realist.  Er  ist  es  auch  schon  mehr 
als  früher  hinsichtlich  der  Luft-  und  Lichtwirkuneen.  Der  aufziehende  Mond  beherrscht  die  Landschaft. 
Trotzdem  ist  das  Bild  durchaus  dekorativ  empfunden,  obgleich  es  dem  widerspricht,  was  wir  mit  diesem 
Namen  bezeichnen  :  nämlich  flott  und  breit  gemalt,  skizzenhaft  nur  auf  Massenwirkung  berechnet. 


22 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Derselben  Zeit  gehören  eine  Reihe  von  Darstellungen  einzelner  Frauengestalten  an.  Die  Vor¬ 
studien  für  diese  Arbeiten  müssen  den  Künstler  sein  ganzes  Leben  hindurch  begleitet  haben.  Man  sehe 
die  Reihe  sorgfältiger  Gewandstudien  durch,  in  welchen  zunächst  noch  das  Bildnissmässige  stärker  sich 
äussert,  als  in  den  ausgeführten  Arbeiten.  Sie  sind  selten  mehr  als  grau  in  grau,  meist  in  mit  Weiss 
gehöhter  Zeichnung  dargestellt,  Zeugnisse  dafür,  dass  Crane  plastisch  sieht  und  dass  ihm  das  Malen 
ein  Uebersetzen  der  Form  in  Farbe  ist.  Nicht  ohne  Grund  rühmt  er  die  alten  deutschen  Flolzschneider 
und  ihr  « Clairobscur »,  das  Zeichnen  mit  Weiss  auf  schwarzem  Grund,  da  er  es  selbst  bei  seinen  Ent¬ 
würfen  anzuwenden  liebt.  Es  scheint  diese  Kunstart  durch  bei  Bildern  wie  die  «Quelle»,  «Flora» 
und  anderen,  die  im  Ton  kaum  über  das  Fresko  hinaus  gehen,  in  der  Behandlung  durchaus  als  «Paneel», 
als  eine  gemalte  Füllung,  wirken.  Als  Dekoration  muss  man  auch  seine  « Schwanenjungfrauen  » 
(1894)  auffassen,  die  lieblichen  Mädchen,  die  sich  nach  dem  Bade  in  ihr  Schwanengewand  werfen,  um 
sich  in  die  Lüfte  zu  erheben.  Ich  missverkenne  die  Schwächen  des  Bildes  nicht.  Die  Beine  der 
stehenden  Jungfrau  sind  länger  als  selbst  für  eine  Engländerin  gut  ist,  die  Gestalten  erscheinen  nach 
Art  des  japanischen  Musterzeichners  auf  der  Fläche  vertheilt,  so  dass  die  Absichtlichkeit  der  An¬ 
ordnung  nicht  gerade  angenehm  auffällt,  die  weitgespannten  Flügel  sind  ein  sehr  bequemes  Mittel, 
eine  gute  Raumvertheilung  zu  erhalten,  die  einzelnen  Gestalten  sind  sich  sehr  ähnlich,  sie  sind  sehr 
keusch,  fast  Poyeter’isch  geschlechtslos.  Man  möchte  Crane  das  spanische  Sprichwort  zurufen :  Mehr 
Knoblauch  in  die  Brühe!  —  wenn  es  überhaupt  gut  wäre,  über  Schwanenjungfrauen  zu  streiten  wenn 
das  Bild  mehr  sagen  wollte,  als  wie  Crane  sich  diese  vorstellt.  Gerade  das  Phantastische  deckt  die  Eigenart 
des  Bildes.  Aehnlich  an  einem  der  neuesten  Werke,  dem  «Morgen»,  der  1896  auf  der  Dresdener  Aus¬ 
stellung  zu  sehen  war.  Den  eigentlichen  Reiz  kann  die  Photographie  nicht  vollständig  wiedergeben,  er 
liegt  in  dem  dämmernden  Roth  auf  duftigem  Blau,  im  malerischen  Kampf  zwischen  Morgenröthe  und 
weichender  Nacht.  Jenes  Geschlecht  schlafender  Mädchen,  welche  die  kommende  Sonne  erweckt,  steht 
ausserhalb  des  Menschenthums,  es  ist  selbst  ein  Duftgebilde. 

Friesartig  erscheint  das  liebliche  Bild  der  «Maienkönigin»  in  ihrem  Zuge  auf  von  Gazellen 

o  00 

9 

gezogenen  Wagen,  ihrem  Gefolge  von  jungem  Volke  und  jungem  Vieh.  Das  was  immer  wieder  an  diesen 
schlichten  Bildern  anzieht,  ist  die  Kindlichkeit,  die  Harmlosigkeit  der  Auflassung.  Es  steckt  etwas 
Märchenhaftes  in  dieser  Kunst  Crane’s,  etwas  Traumseliges,  Weitabgewendetes.  Wenn  man  bedenkt, 
dass  derselbe  Mann  mitten  im  gewerblichen  Leben  unserer  Zeit  steht,  als  ein  Kämpfer  für  die  Werth¬ 
schätzung  der  Künstler,  wenn  man  erfährt,  dass  er  gleich  Morris  seinen  politischen  Bestrebungen  nach 
Sozialist  ist,  so  wird  es  einem  nicht  ganz  leicht,  sein  Schaffen  zu  verstehen,  es  sei  denn,  dass  es  eine 
Verneinung  unserer  an  Schönheit  verarmten  Welt  bedeute.  Und  so  kann  man  sich  vorstellen,  wie 
der  sozialistische  Künstler  für  Waffenkampf,  Ritterwesen,  antikes  und  feudales  Herrenthum  sich  be¬ 
geistert.  Viele  seiner  romantischen  Figurenbilder  wirken  ja  auch  in  erster  Linie  dekorativ.  Seinen 
«  Pegasus  »  könnte  man  der  Metope  eines  dorischen  Tempels  entlehnt  glauben.  Im  gleichen  Sinn  die 
«Schicksalsrolle»  1882,  ein  Bild,  das  mir  etwas  zu  geistreich  ist,  auf  dem  man  lesen  muss  und  zwar 
lateinisch,  zu  dem  man  eine  Erklärung  braucht,  während  die  Gestalten  selbst  schweigen.  Der  Drang 
nach  der  Tiefe  führt  hier  Crane  nach  Art  der  verflossenen  deutschen  Kunst  ins  Litterarische,  in  das. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


23 


was  besser  geschrieben  als  gemalt  wird.  Einen  sozialistischen  Hintergedanken  hat  wohl  auch  das 
prächtige  Bild  «Englands  Wahrzeichen».  Freilich  ist  es  nicht  ein  solcher,  wie  etwa  Singer  oder 
Liebknecht  ihn  hervorbringen  würden.  England  als  mittelalterlicher  St.  Georg,  als  Heiliger,  als  feudaler 
Herr  rennt  auf  prächtig  ausholendem  Schimmel  gegen  den  über  Menschenleichen  fauchenden  Drachen 
an.  Im  Hintergrund  qualmende  Fabriken.  Soll  St.  Georg  sie  vom  Drachen  des  Kapitalismus  befreien  ? 
Vielleicht  ist  es  ein  Mangel  meiner  sozialpolitischen  Einsicht,  dass  ich,  an  deutsche  Sozialisten  gewöhnt, 
mir  einen  «Genossen»  nicht  als  von  starkem  Vaterlandsgefühl  beseelt  denken  kann,  vielleicht  ist 


es  aber  auch  ein 
Mangel  in  meinem 
Kunstverständnis, 
dass  ich  mir  die 
Frage  nach  dem  In¬ 
halt  oder  vielmehr 
der  Nebenbedeut¬ 
ung  des  Bildes  erst 
im  Schreiben  vor¬ 
lege.  Bisher  sah  ich 
das  Bild  mit  Kinder¬ 
augen  an  und  freute 
mich  am  starken 
Pferd,  dem  gewand¬ 
ten  Reiter,  an  der 
lustigen  Farbe,  wie 
ich  —  offen  gestan¬ 
den  —  auch  Keat’s 
Romanze  von  der 
Belle  Dame  sans 
Merci  nicht  gelesen 
habe  und  darum 
Crane’s  Bild  aus 
dieser  nicht  weniger 


glaube  verstehen  zu 
können  —  als  Bild! 

Der  «  W agenlauf 
der  Stunden»  (The 
Chariot’s  of  the 
Hours)  ist  Crane’s 
in  Deutschland  wohl 
bekanntestes  Bild ; 
1887  gemalt,  er¬ 
schien  es  1891  auf 
der  Internationalen 
Ausstellung  in  Ber- 
lin.  Es  ist  zugleich 
eines,  das  die  pho¬ 
tographische  Wie¬ 
dergabe  fast  in  sei¬ 
ner  malerischen 
Wirkung  erreicht, 
da  es  mit  kräftige¬ 
ren  Lichtwirkungen 
arbeitet,  die  Leb¬ 
haftigkeit  der  Be¬ 
wegung,  der  Fluss 
der  F  ortentwicklung 


in  voller  Deutlichkeit  zur  Schau  kommt.  Aehnlich  « Neptun’s  Pferde»  (1893)  die  Darstellung  der 
Wogen  als  ansprengender  Rosse. 

Bei  Würdigung  des  Malers  Crane  darf  man  nie  dessen  Vielseitigkeit  ausser  Acht  lassen.  So 
seine  Leistungen  als  Musterzeichner:  Er  hatte  erfahren  müssen,  dass  ein  pfiffiger  Tapetendrucker  die 
Zeichnungen  aus  seinem  Bilderbuch  «The  Babys  Opera»  zu  einem  Muster  für  seine  Waaren  benutzt, 
eine  Tapete  für  Kinderzimmer  daraus  gefertigt  hatte.  Das  Buch,  1877  erschienen,  war  eines  der 
grössten  Erfolge  Crane’s  gewesen,  später  gefolgt  von  dem  verwandten  « The  Babys  Bouquet »  (1879) 


24 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  dem  künstlerisch  noch  höher  stehenden  «Pan  Pipes»  (1882)  und  «Babys  Own  Aesop»  (1886)  zeigen 
deutlich  Caldecott's  und  Greenaway’s  Einfluss  an  der  farbigen  Behandlung.  Sie  wird  schlichter  bei 
wenigen,  leichter  behandelten  Farben,  doch  reicher  in  der  Wirkung,  die  Zeichnung  klassischer,  trotz  des 
modernen  Gewandes,  die  Stilisirung  freier  von  Gewaltsamkeiten.  «  Floras  Feast  »  (1888)  und  «Oueen 
Summer»  (1891)  gehen  immer  weiter  in  der  freien,  eigenartigen  duftigen  Behandlung,  in  der  Ueber- 
windung  dessen,  was  Crane  selbst  das  Barbarische  an  seinen  ersten  Arbeiten  nannte,  führen  ihn  immer 
mehr  in’s  Wunderland.  So  ist  in  Oueen  Summer  das  Turnier  zwischen  Rose  und  Filie  in  einer  Fülle  der 
reizvollsten  Kompositionen,  mit  ächtestem  Dichterthum  dargestellt,  voll  einer  Romantik,  die  uns  Deutsche 
wunderlich  an  unsere  eigene  Zeit  der  sanften  Helden  und  der  duftigen  Ritterfräulein  mahnt :  Zu  Floras 
Feast  dichtete  er  selbst  die  Reime,  zu  dem  letzten  Hauptwerk  « Echoes  of  Hellas»  Hess  er  einem 
anderen,  F.  G.  Warr,  die  erklärenden  Verse  beifügen,  hier  das  Griechenthum  mit  neuenglischem  Geist 
durchwirkend,  den  Fall  von  Ilion  und  Orestes’  Irrfahrt.  Das  ist  sehr  geistreich,  sehr  fein  empfunden, 
von  ausserordentlicher  Schönheit  der  Finienführung :  Dazu  in  Umdrucken  nach  des  Künstlers  eigener 
Federzeichnung,  ächteste  unmittelbare  Zeugnisse  seiner  Kunstart.  Aehnlich  das  nur  in  einem  Ton  ge¬ 
druckte  «Book  of  Wedding  Days »  (1889). 

jener  Tapetendrucker  hatte  zwar  wenig  Rücksicht,  aber  gutes  Verständniss  des  Marktes  gezeigt, 
indem  er  Crane’s  Zeichnungen  sich  schlankweg  für  seine  Zwecke  aneignete.  Bald  nahm  der  Künstler 
selbst  ähnliche  Arbeiten  auf  und  zeichnete  für  Mr.  Mettord  Warner  oder  dessen  Firma  Messrs. 
Jeffrey  &  Co.  eine  Reihe  höchst  merkwürdiger  Tapeten.  Sie  haben  alle  Namen:  «The  Margarete» 
(1875)  mit  einem  Fries  aus  allegorischen,  des  alten  Chaucers  Dichtungen  entlehnten  Gestalten, 
«The  House  that  Jack  Built»,  anschliessend  im  Text, 
nicht  in  der  zeichnerischen  Darstellung  an  Caldecott’s 
berühmtes  Bilderbuch,  «Corona  Vitae»,  «The  Fairy 
Garden»  und  wie  sie  alle  heissen,  namentlich  aber  des 
Pfauenmuster  und  solche,  die  für  bestimmte  Gebäude, 
für  die  arabische  Halle  des  Malers  Sir  Frecleric 
Feighton,  für  Mr.  Stuart  Hodgson  geschaffen  werden. 

Der  Aesthetiker  hat  wohl  mancherlei  gegen  diese 
Tapeten  und  gerade  ihren  Reichthum  an  Gedanken  zu 
sagen :  « The  House  that  Built »  giebt  ein  dekorativ 
dargestelltes  Haus  wieder,  vor  dem  die  in  der  kleinen 
Geschichte  so  bedeutungsvolle  Kuh  steht;  ferner  Hahn, 

Hund,  Katze,  ein  vor  gothischer  Architektur  stehender 
Mönch,  das  Milchmädchen  und  der  Held  der  Geschichte 
vor  ihm  knieend,  die  Hand  zum  Verlöbniss  gereicht. 

All  das  sehr  stark  stilisiert,  sehr  geschickt  ineinander 
komponirt,  aber  doch  auf  einer  Wand  hundertfach 

wiederholt.  SO  dass  die  Vielheit  der  Darstellung-  deren  Walter  Crant.  Studie  zu  dem  Bilde :  Das  Nahen  des  Frühlings 

o 


Walter  Crane  pinx. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Die  Sehwanenjungfrauen 


Original  im  Besitz  des  Herrn  Commerzienrath  E.  Seeger  in  Berlin 


Walter  Crane  pinx. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Die  Wasserlilie 

Original  im  Besitz  des  Herrn  Commerzienrath  E.  Seeger  in  Berlin 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


25 


Walter  Cratte.  Rom  vom  Monte  Parioli,  im  Frühjahr 

geistigen  Werth  beeinflussen  muss:  Es  kommen  eben  hundert  von  Häusern,  Verlobungen,  krähenden 
Hahnen  auf  eine  mit  der  Tapete  beklebte  Mauerfläche,  es  tritt  dadurch  das  Maschinenmässige  der 
Herstellung  mit  harter  Deutlichkeit  vor  das  Auge  des  Beschauers,  es  widerspricht  das  Ganze  dem  Streben 
nach  Wirkung  der  künstlerischen  Handarbeit,  für  die  Crane  so  viel  Thatkraft  und  Eifer  einsetzte. 

Er  stellte  sich  an  die  Spitze  einer  Bewegung,  die  dem  zeichnenden  Gewerbekünstler  öffentliches 
Ansehen  und  dasRecht  verleihen  will,  dem  Werk  derlndustrie  seinenNamen  mit  auf  den  Weg  in  denHandelzu 
geben.  Er  schuf  Ausstellungen,  in  welchen  nicht  der  Fabrikant,  sondern  der  Zeichner  die  Gewerbeerzeugnisse, 
zu  denen  er  den  Gedanken  gab,  vorführte.  Die  dekorativen  Künstler  und  Handwerker,  schrieb  er  im  Vorwort 
zur  ersten  von  diesen,  haben  bisher  nur  wenig  Gelegenheit  gehabt,  ihre  Arbeiten  dem  grossen  Publikum 
vorzuzeigen,  um  dessen  künstlerisches  Urtheil  anzurufen,  wie  es  die  Maler  thun.  In  einer  Zeit,  in  der 
Jeder,  der  die  Mittel  dazu  besitzt,  sein  Haus  künstlerisch  auszuschmücken  sucht  und  in  der  man  sich 
mehr  denn  je  um  die  Künste  kümmert,  jedenfalls  mehr  von  ihnen  spricht,  weiss  man  von  den  Schöpfern 
und  Zeichnern  der  uns  umgebenden  kunstgewerblichen  Gegenstände  nichts.  Bei  der  heute  üblichen 
Schaffensweise  wird  unstreitbar  der  Werth  des  Einzelnen,  welcher  so  wichtig  bei  allen  künstlerischen 
Aeusserungen  ist,  zu  sehr  in  den  Hintergrund  gedrückt,  der  Handel,  die  Maschinen,  die  Fabriken 
haben  sich  mit  rein  kaufmännischen  Absichten  der  Leitung  bemächtigt,  geschickte  Handelsleute 
haben  den  Markt  künstlich  heraufgeschraubt,  sie  haben  sich  gegenseitig  die  Erfindung  irgend  einer 
eigenartigen  Form,  die  dann  für  kurze  Zeit  das  modernste  und  allerneueste  war,  streitig  gemacht. 


26 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Diese  Sucht  nach  etwas  Anderem,  noch  nie  Dagewesenen,  vertritt  in  unseren  Tagen  nur  zu  oft  die 
Stelle  von  künstlerischem  Geschmack  und  wahrer  Liebe  zur  Kunst.  Wenn  wir  aber  unsere  Theilnahme 
nur  auf  Gemälde  und  die  zeichnenden  Künste  beschränken,  so  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  wir  den  Sinn 
für  das  Entwerfen,  für  das  Formen  verlieren,  jenen  Sinn  für  das  Anpassen  des  Stoffes  zum 
darzustellenden  Gegenstand,  das  Gefühl  für  die  Verwandtschaft  des  Stoffes  zum  Kunstwerk,  aus  dem 
heraus  die  grossen  Schöpfungen  der  Vergangenheit  entstanden  sind. 

Die  Grundlage  für  jede  Kunst,  sagt  Crane,  liegt  im  Handwerk ;  nur  wenn  der  Handwerker  ein 
wirklich  künstlerisches  Empfinden  besitzt,  wenn  er  durch  seinen  Geist  selbst  dem  an  sich  unwichtigsten 
Gegenstand,  dem  einfachsten  Material  ein  künstlerisches  Gepräge  zu  geben  weiss,  das  ebenso  hoch  steht 
wie  die  Fähigkeit  gute  Bilder  zu  malen,  ist  die  Kunst  in  einem  normalen,  gesunden  Zustand. 
Wenn  unter  den  Handwerkern  keine  Künstler  mehr  zu  finden  sind,  dann  werden  sie  auch  sonst 
verschwinden  und  sich  in  Kautleute  und  Fabrikanten  verwandeln. 

Durch  die  sogenannten  «  Arts  and  Craft  Exhibitions  »  suchte  Crane  diesem  Schaden  zu  begegnen. 
Eine  Menge  von  Schwierigkeiten  war  zu  beseitigen.  Es  war  bei  der  gewerblichen  Sachlage  in  England, 
wie  anderwärts,  nicht  immer  leicht,  den  wirklichen  Schöpfer  und  Zeichner  ausgestellter  Objekte  heraus¬ 
zufinden,  um  ihm  und  seiner  Thätigkeit  gerecht  zu  werden.  Meist  haben  eine  ganze  Reihe  Künstler 
an  einem  Gegenstand  gemeinsam  gearbeitet;  mehrere  grosse  leitende  Firmen  wollten  sich  nicht  der 
Bedingung  fügen,  bei  jedem  Gegenstand  anzugeben,  wer  ihn  entworfen  und  erfunden  habe.  Unter  den 
Handwerkern  fanden  sich  nur  Wenige,  die  unabhängig  und  mit  persönlichem  Selbstbewusstsein  für 
ihre  Werke  einstanden.  Es  ist,  schreibt  Crane  weiter,  jedenfalls  nicht  richtig,  die  Spitze  eines  Baumes 
zu  begiessen,  wenn  die  Wurzel  nach  Nahrung  verlangt,  und  selbst  ein  ungünstiges  Ergebniss  seiner 
Untersuchung  des  künstlerischen  Gesundheitszustand  schien  ihm  besser,  als  gänzliche  Ungewissheit. 

Mein  Freund  Peter  Jessen,  der  kundige  Direktor  der 
Bibliothek  des  Berliner  Kunstgewerbe  -  Museums,  hat  Crane  für 
Deutschland  eine  neue  Bedeutung  gegeben ,  indem  er  meinem 
Rathe  folgend,  ihn  aufforderte,  einmal  eine  Serie  seiner  Arbeiten 
zur  öffentlichen  Ausstellung  herüberzuschicken.  Es  kamen  deren 
eine  grosse  Zahl :  Fast  alle  die  Originale  für  seine  Illustrationen, 
mehrere  selbständige  Bilderund  es  fand  sich  in  Ernst  Seeger 
auch  ein  Kunstfreund,  der  mehrere  von  diesen  auf  deutschem 
Boden  festhielt.  Seitdem  haben  Crane’s  Gemälde  auf  deutschen 
Ausstellungen  eine  Anerkennung  gefunden,  die  ihnen  in  England 
nicht  in  immer  gleichem  Maasse  zu  Theil  wurden.  Bietet  er 
doch  das,  wonach  auch  wir  in  so  vielerlei  Ansätzen  streben: 
Eine  eigenartige  Erscheinung  im  Kunstleben  seines  Volkes,  die 
von  gewerblicher  Grundlage  zur  hohen  Kunst  sich  aufrichtete, 
ohne  i"e  diese  Grundlage  zu  verleugnen:  Ein  Künstler  mit 

Walter  Cra?ie.  Studie  für  ein  Bild:  J  ö  Ä 

Die  vier  Jahreszeiten  dekorativem  Streben. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


27 


Seit  jene  beiden  Berliner  Herren  mich  verliessen,  hat  englisches  Gewerbe  einen  mächtigen,  wohl 
gar  zu  mächtigen  Einfluss  auf  unser  Schaffen  erhalten.  Nicht  zum  mindesten  das  was  Crane  erstrebt 
hat.  Er  würde  wohl  der  Letzte  sein,  der  uns  den  Rath  gäbe,  seinen  Bahnen  zu  folgen.  Zum  Leiter 
der  Kunstschule  in  Manchester  berufen,  wird  er  uns  ein  gefährlicher  Rivale  auf  der  nächsten  Welt¬ 
ausstellung  werden,  dem  wir  nicht  werden  Stand  halten  können,  wenn  wir  ihn  nachahmen.  Aber  es 
steckt  in  ihm  so  viel  Germanisches,  so  viel  dem  Deutschen  Verwandtes,  dass  wir  sein  Schaffen  tiefer 
fassen  können,  als  durch  Nachahmung.  In  dem  Selbstbesinnen,  in  dem  Verlassen  auf  den  eigenen 
Geschmack,  in  dem  Durchdringen  der  Form  mit  volkstümlichem  Geist  liegt  das,  was  an  ihm  uns 
allein  vorbildlich  sein  sollte. 

Eines  der  schönsten  Blätter,  die  Crane  für  den  Holzschnitt  schuf,  ist  in  Erinnerung  an  den 
internationalen  Feiertag,  den  1.  Mai  1891:  Voraus  auf  geflügelten,  von  Genien  gefasstem  Ross  der 


Walter  Crane.  Die  Wahrheit  und  der  Wanderer 


Standartenträger,  dahinter  Arbeiter  mit  phrygischer  Mütze  und  dem  Banner:  «Liberty,  Equality, 
Fraternity  »,  hinter  schwerem  Ochsengespann  ein  Leiterwagen  mit  den  Aufschriften:  «Arbeit  ist  die  Quelle 
des  Wohles»,  «Wacht  Arbeiter  über  die  Einigkeit  aller  Länder»;  neben  ihnen  ein  Reiter  mit  der 
Fahne  «  Oekonomische  Freiheit»,  Singende,  Tanzende,  Flötende  als  Begleitung.  Zwei  Mädchen  halten 
den  Globus  empor,  der  die  Inschrift  trägt:  «Die  internationale  Solidarität  der  Arbeit»,  die  Männer  im 
Wagen  helfen  sie  mit  erhobenen  Händen  stützen.  Ueber  dem  Blatt  die  Inschrift:  «Der  Triumpf  der 
Arbeit».  Ein  Blatt  voll  Kraft,  voll  Leben,  voll  Schönheit,  unverkennbar  gezeichnet  mit  dem  Herzblut 
des  Künstlers. 

Seither  sind  sieben  Jahren  vergangen.  Ich  weiss  nicht,  ob  Crane  jetzt,  nachdem  auch  unter 
den  Arbeitern  gerade  im  Londoner  Kongress  von  1896  sich  der  nationale  Zwiespalt  so  stark  äusserte, 
noch  hofft,  dass  der  Kampf  von  Volk  zu  Volk,  der  Kampf  der  Waffen  wie  jener  nicht  minder  erbittert, 
wenn  auch  auf  Ausstellungsbanketten  der  «friedliche»  genannte  Kampf  des  Gewerbes  und  der  Arbeit, 


28 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


einst  werde  beseitigt  werden  können.  Ob  er  noch  auf  die  Gleichheit  der  Menschen  hofft,  er,  dessen 
o-anzer  Werth  darin  liegt,  dass  er  den  Anderen  ungleich  ist:  ob  er  mit  seinen  Landsleuten  uns  Deutschen 
nicht  verzeiht,  dass  wir  den  Weltmarkt,  ihnen  freilich  zum  Schaden,  zu  erobern  trachten;  dass  wir  das 
internationale  Ringen  um  das  Brod  der  Fabrikarbeiter  aufnehmen,  in  dem  zwar  keine  Kugel,  wohl 
aber  der  Hunger  nicht  minder  fruchtbar  Wunden  schlägt;  ob  er  noch  träumt  ein  System,  eine  wirth- 
schaftliche  Neuordnung,  werde  alle  diese  Schäden  beseitigen  können  und  wenn  es  dies  könne,  die 
Masse  werde  diese  Ordnung  zweckmässig  durchführen  können. 

Ich  halte  mich  an  seinen  heiligen  Georg.  Der  gepanzerte  Wille  und  der  Kampfesmuth  des 
Einzelnen  wird  den  Drachen  niederwerfen.  Wohl  dem  Volk,  das  herzhafte  Manneskraft  hochhält  und 
es  verträgt,  dass  Einer  Herr  sei!  In  friedlichen  Schlachten,  wie  die  kriegerischen,  siegt  nicht  der 
Haufe,  sondern  der  befehlende  Wille.  Das  muss  doch  wohl  einem  Manne  klar  werden,  der  durch 
eigene  Kraft  ein  Herr  geworden  ist  in  seinem  Gebiet,  dem  die  Erkenntniss  sich  sicher  aufdrängt,  dass 
nicht  der  gemeinsame  Wunsch  Vieler,  sondern  die  leitende,  andere  in  ihrem  Thun  bestimmende  Kraft 
weniger  Starker  den  Triumpf  der  Arbeit  herbeiführt. 

Mir  fehlt  ein  Bindeglied,  um  den  Gedanken  zu  begreifen,  dass  ein  so  eigenartiger  Künstler,  wie 
Crane  hoffen  kann,  das  von  ihm  so  heiss  umworbene  Gebiet,  die  Kunst,  um  mich  fachmässig  auszu¬ 
drücken,  durch  planmässig  kollektivistische  Produktionsweise  an  Stelle  der  individualistischen  besserer 
Zukunft  zugeführt  zu  sehen. 

o> 

Oder  schaut  hier  das  Kinderthum  des  Meisters  durch  die  politische  Maske:  Verliert  er  sich 
so  gern  in  Träume  einer  schöneren  Zukunft  als  in  Träume  reicherer  Vergangenheit  ?  Und  glaubt  er 

o  o  o  o 

so  redlich  an  Träume  —  hier  wie  dort?  — 


Walter  Crane.  Skizze  vom  Charles  River,  Concord, 
Mass.  U.  S.  A. 


Walter  Crane  pinx.. 


Phot.  F  Hanfstaengl,  München 


In  den  Wolken 


Original  im  Besitz  des  Herrn  Commerzienrath  E.  Seeger  in  Berlin 


Pegasus 


BENJAMIN  VAUTIER  t 

VON 

HEINRICH  ROTTENBURG 


Die  Leser  dieser  Hefte  haben  aus  anderer  Quelle  wohl  längst  den  Tod  Benjamin  Vautier’s, 
des  grossen  und  populären  Künstlers,  erfahren,  der  am  25.  April  d.  J.  in  Düsseldorf  von  hinnen 
geschieden  ist.  Man  braucht  gar  kein  wüthender  Verächter  der  Menge  zu  sein,  um  zu  wissen,  wie 
selten  die  beiden  Epitheta  «gross  und  populär»  auf  einen  Künstler  zutreffen;  das  wahrhaft  Grosse 

bensprache,  deutsch  sein 


in  der  Kunst  ist  eben  fast 
nie  der  breiten  Volks¬ 
masse  mundgerecht  zu 
machen  und  sie  wird  es 
nur  dann  ganz  erfassen 
und  mitempfinden,  wenn 
es  so  tief  im  Herzen  und 
im  Geiste  des  Volkes 
wurzelt,  wie  bei  Benjamin 
Vautier  und  den  anderen 
deutschen  Genremalern 
von  seinem  Range,  einem 
Knaus,  einem  Defregger, 
einem  Grützner.  Benjamin 
Vautier,  der  Meister  mit 
dem  französischen  Namen 
ist  als  Künstler  urdeutsch; 
deutsch  ist  seine  Empfind¬ 
ung,  sein  Stoffgebiet,  seine 
Formengebung  und  Far- 


Benjamin  Van  Her 

üriginalaufnahme  von  Franz  Hanfstaengl 


Gemüth  und  sein  Humor. 
Es  wurde  schon  manche 
Feder  stumpf  geschrieben 
über  Untersuchungen, 
warum  gerade  die  eigent¬ 
liche  Genremalerei  so  fast 
ausschliesslich  Erbtheil 
unseres  Volkes  ist:  bei 
den  Romanen,  namentlich 
Italienern  und  Spaniern, 
wird  sie  zu  mehr  oder 
minder  virtuosen  meist 
sehr  äusserlichen  Wieder¬ 
gabe  arrangirter  Scenen ; 
bei  den  Franzosen  kennt 
man  sie  kaum  und  unter 
den  unzähligen  Pariser 
Malern  sind  die  berufs¬ 
mässigen  Darsteller  genre- 


hafter  und  anekdotischer  Themen  schnell  gezählt,  weil  die  Pflege  des  Staffeleibildes  dort  unter  dem 
Streben  nach  dekorativer  Wirkung  sehr  vernachlässigt  wurde-,  bei  den  Engländern  hat  der  hypersen¬ 
sitive  Zug  ihrer  modernen  Kunst  die  gesunde  Behaglichkeit  sehr  beeinträchtigt,  welche  einer  richtigen 
Genremalerei  ihre  natürliche  Basis  gibt ;  bei  den  Nordländern  ist  die  möglichst  treue  Nachbildung 


30 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


eines  Naturausschnittes  zur  Parole  geworden  und  jede  absichtliche  Anordnung  und  novellistische  Er¬ 
findung  verpönt;  und  fast  nur  der  Deutsche  trifft  jenen  warmherzigen,  gemüthstiefen  Erzählerton,  zu 
dessen  typischen  Meistern  wir  Benjamin  Vautier  zählen  durften. 

Er  ist  in  der  Schweiz,  in  Morges  am  Genfer  See,  Kanton  Waadt,  geboren  als  der  Sohn  eines 
Pfarramtskandidaten  und  wie  Freunde  des  Künstlers  versichern,  hat  er  seltsamer  Weise  in  seinem 
äussern  Wesen,  seiner  Sprache  u.  s.  w.  die  Schweizer  Art  nie  abgelegt,  so  sehr  er  sich  in  Kunst  und 
Empfindung  unserer  nationalen  Eigenart  anpasste,  ja  in  ihr  aufging.  Sein  Leben  ist  kein  Künstler¬ 
roman,  der  als  solcher  Sensation  machen  würde ;  und  doch  ist  es  interessant,  gerade  weil  es  in  einer 
Weise  verlief,  die  man  für  die  Entwicklung  eines  Talentes  von  seinem  Schlag  fast  typisch  nennen  dürfte. 

Er  wird  in  einem  Hause  geboren,  in  dem  von  Kunst  nicht  viel  die  Rede  und  für  sie  nicht  viel 
Boden  ist,  einem  strenggläubigen,  gottseligen  Pastorenhause,  wo  Güte  und  milde  Menschenfreundlichkeit 
einen  wesentlich  breiteren  Raum  einnehmen  als  Temperament 
und  Phantasie.  Aber  von  der  Mutter  her  ist  doch  der  Keim 
zur  Sehnsucht  nach  dem  Schönen  in  seiner  Seele.  Er  hat 
des  Lebens  ernstes  Fühlen  vom  Vater,  die  Frohnatur,  die 
Lust  am  Fabuliren  von  der  Mutter,  wie  ein  Goethe  es  von 
sich  sagen  konnte.  Da  ist  ein  Bruder  der  Mutter,  der  nicht 
ohne  Geschick  in  den  schönen  Künsten  clilettirt  und  von 
dessen  Schaffen  auch  wohl  die  erste  Anregung  in  die  Kinder- 
seele  fällt.  Der  Knabe  besucht  die  Schule,  macht  aber  gerade 
keine  glänzenden  Fortschritte,  zum  Schmerze  des  Vaters, 
dessen  pastoraler  Lebensanschauung  natürlich  die  denkbar 
musterhafteste  Schülerlaufbahn  als  eine  erstrebenswerthe 
Garantie  für  ein  späteres  gottgefälliges  Dasein  erscheint.  Da¬ 
für  schmiert  der  Jüngling  in  der  Schule  und  zu  Hause  Tische 
und  Wände  voll  mit  lustigen  Fratzengesichtern,  Caricaturen 
der  Lehrer  und  Kameraden.  Wie  viele  Talente  haben  so 

Natürlich  soll  der  Sohn  sich  für  die  Laufbahn  des  Vaters  vorbereiten  —  natürlich  taugt,  was 
ein  Maler  werden  will,  nicht  zum  Seelenhirten.  Aus  dem  Pfarramtskandidaten  Vater  Vautier  ist  in¬ 
zwischen  ein  wohlbestallter  Pastor  in  Noville  im  Rhonethal  geworden,  der  seinen  Sohn  Benjamin  mit 
13  Jahren  auf  das  Gymnasium  nach  Lausanne  schickt.  Die  « Wohlbestalltheit »  dauert  aber  nicht  lange. 
Wie  Friedrich  Pecht  in  seiner  warmherzig  geschriebenen  Biographie  des  Künstlers  erzählt,  blieb  der 
Friede  im  Pastorenhause  nicht  auf  die  Dauer  ungestört.  Im  Jahre  1847  brach  in  der  Schweiz,  eine  Vor¬ 
ahnung  des  tollen  Jahres,  jene  «demokratische  Bewegung»  los,  die  unter  Anderem  zur  Folge  hatte, 
dass  auch  die  Besetzung  der  Pastorenstellen  von  Wahlen  abhängig  wurde.  Nun  war  Vater  Vautier, 
wenn  auch  kein  Zelot,  so  doch  ein  strenger  Gottesmann  und  eifriger  Hüter  reiner  Sitten  und  vertrug 
sich  nicht  aufs  Glänzendste  mit  seiner  Gemeinde,  die  gerne  zechte  und  fröhlich  war.  Als  es  dann 
zur  Wahl  kam,  wurde  Vautier  nicht  wiedergewählt,  ein  schwerer  Schlag  für  die  Pastorenfamilie. 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


an  gefangen !  Die  Mehrzahl  gewiss 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


31 


Unter  der  Einwirkung  dieser  Katastrophe  kam  der  Sohn  ins  Vaterhaus  zurück  und  setzte  es  denn  nun, 
wenn  auch  mit  schwerer  Mühe  durch,  dass  er  Maler  werden  durfte.  «Es  kostete  das»,  meint  sein 
Biograph,  «nicht  geringe  Anstrengung,  da  es  in  den  Augen  selbst  des  Vaters,  aber  noch  viel  mehr 
der  Mitbürger,  damals  noch  ungefähr  ebenso  viel  heissen  wollte,  als  wenn  er  unter  die  englischen 
Reiter  oder  andere  Gaukler  gegangen  wäre».  Damals?  —  So  mächtige  Gewalt  die  Kunstpflege  auch 
heute  über  unser  ganzes  öffentliches  Leben  gewonnen  hat,  man  braucht  selbst  in  unserer  Zeit  durch¬ 
aus  nicht  ein  weltverlorenes  schweizerisches  Provinznest  aufzusuchen,  um  in  den  bekannten  «besten 
Kreisen»  eine  ganz  ähnliche  Auffassung  vom  Künstlerberufe  vorzufinden-  zum  Mindesten  wird  man 
sehr  leicht  auf  die  Auffassung  stossen,  dass  bei  einem  Maler  eine  einigermassen  geordnete  Lebens¬ 
führung  viel  unwahrscheinlicher  sei,  als  das  Gegentheil. 

Vielleicht  hätte  Benjamin  auch  damals  seinen  Willen  nicht  durchgesetzt,  wäre  der  Vater  nicht 
durch  die  geschilderten  Verhältnisse  gezwungen  worden,  sich  in  Frankreich  nach  einer  neuen  Pastoren¬ 
stelle  umzusehen ;  dadurch  war  er  auch  ausser  Stand  gesetzt,  den  Sohn  überhaupt  noch  zu  unterstützen 
und  dieser  musste  nun,  wohl  oder  übel,  sein  Brod  selbst  verdienen. 

5* 


32 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Also  denn:  auf  zur  Kunst!  Viel  Vorschule  dazu  hatte  der  junge  Mann  bis  dato  nicht  genossen. 
In  der  Kindheit  hatte  er  die  erste  Anregung  zu  künstlerischen  Dingen  aus  den  zweifelhaften  Holz¬ 
schnitten  eines  wohlfeilen  Bilderblattes,  «le  monde  illustre»  geschöpft,  das  im  Vaterhause  auflag,  und 
zur  Weiterbildung  hatte  nicht  Vieles  beigetragen.  Wahre  Kunst  war  ja  überhaupt  in  jenem  schönen 
Lande  noch  recht  dünn  gesät  und  der  Malerberuf  wurde  zumeist  ziemlich  banausisch  betrieben,  indem 
es  sich  meist  um  die  mehr  oder  minder  mechanische  Herstellung  billiger  Landschaftsbilder  zu  Zwecken 
der  Fremdenindustrie  handelte. 

Benjamin  Vautier  wandte  sich  zunächst  nach  Genf  und  nahm  bei  dem  Maler  Hebert  ein  Jahr 
lang  Zeichenunterricht.  Dann  trat  er  bei  einem  Emailmaler  in  die  Lehre,  musste  sich  aber  verpflichten, 
vier  Jahre  als  Leibeigener  bei  diesem  Meister  zu  verbleiben  und  in  der  That  hat  er  volle  zwei  Jahre 
lang  das  wenig  anregende  Geschäft  betrieben,  Uhrgehäuse  und  Schmuckgegenstände  mit  bunten  Bildchen 
zu  schmücken.  Auch  in  dieser  Knechtschaft  vergass  Vautier  seine  Fortbildung  nicht.  Er  studirte 
nebenbei  in  der  Zeichnungsakademie  des  Museums  Roth  und  machte  regelmässig  den  Abendakt  mit. 
In  seinen  freien  Stunden  verdiente  er  sich  ausserdem  manchen  Groschen  durch  das  Malen  von  Portraits 
und  Aquarellen,  die  er  an  Kunsthändler  verkaufte.  Dabei  wurde  sein  Talent  immer  mehr  offenbar, 
er  wurde  mit  den  namhaftesten  Genfer  Künstlern  bekannt,  mit  Calame,  von  dem  einst  auch  ein  Böcklin 
gelernt,  mit  dem  Landschafter  Diday,  mit  dem  Historienmaler  Lougardon  und  Anderen.  Auch  materielle 
Erfolge  wurden  dem  strebsamen  jungen  Talent:  Vautier’s  Arbeiten  fanden  immer  besseren  Absatz  und 
nach  zwei  Jahren  war  er,  Dank  seinem  unermüdlichen  Fleisse,  in  der  Lage,  sich  aus  seiner  «Leibeigen¬ 
schaft»  loszukaufen  und  zwar  um  den  Preis  von  1200  Franken.  Von  nun  ab  lebte  er  ausschliesslich 
der  Kunst.  Er  arbeitete  zunächst  in  Lougardon’s  Werkstatt,  um  malen  zu  lernen  und  trieb  dann  volle 
zwei  Jahre  ein  fleissiges  Selbststudium  in  Genf.  Als  dann  der  für  seine  Zeit  sehr  bedeutende  Genre¬ 
maler  van  Muyden  von  Rom  zurückkehrend  sich  wieder  in  seiner  Vaterstadt  Genf  etablirte,  schloss  sich 
Vautier  an  ihn  ^anz  besonders  eng  an  und  gewann  wohl  auch  durch  ihn  die  Anregung,  sein  künftiges 
«Fach»,  die  Genremalerei,  zu  wählen.  Der  Jüngling  fühlte  wohl  selbst,  dass  er  in  Genf  nicht  zu 
Grossem  gelangen  konnte  und  fragt  denn  van  Muyden  um  Rath,  was  er  zu  thun  habe.  Ein  Aufenthalt 
in  Paris  wäre  wohl  das  Beste  und  für  den  französischen  Schweizer  auch  Zunächstliegende  gewesen, 
aber  Papa  Vautier  gestattete  in  seiner  Sittenstrenge  nicht,  dass  sein  Sohn  den  Weg  nach  dem  Seine¬ 
babel  einschlage.  Und  da  Benjamin  ein  viel  zu  gehorsamer  Sohn  war,  um  das  heimlich  Erstrebte 
gegen  den  Willen  der  Eltern  zu  thun,  reiste  er  denn,  seine  Wünsche  bescheidend,  auf  van  Muyden’s 
Rath  zunächst  nach  Düsseldorf,  wo  er  1850  ankam.  Dort  hatte  sich  bereits  ein  reges  Kunstleben 
zu  erfreulicher  Bliithe  entwickelt  und  der  junge  Mann  wandte  sich,  den  Busen  voll  der  schönsten 
Hoffnungen,  zur  dortigen  Akademie.  Aber  er  hatte  die  Rechnung  ohne  den  akademischen  Geist  gemacht. 

Wie  Fr.  Pecht  nach  Vautier's  eigenen  Mittheilungen  erzählt,  hatte  dieser  als  Proben  seines 
Könnens  eine  Anzahl,  seiner  Meinung  nach,  nicht  schlechter  Zeichnungen  mitgebracht.  Sie  waren  aber 
nicht  mit  der  scharfen  Ausbildung  der  Konturen  und  den  schematischen  Kreuzstrichlagen  gezeichnet, 
wie  sie  damals  die  «deutsche  Kunst»  liebte,  sondern  nach  Art  der  französischen  Schule  in  kräftiger 
breiter  Flächenbehandlung,  wobei  dem  Studium  der  Tonwerthe  Rechnung  getragen  war,  —  einer  terra 


O' 


Aufforderung  zum  Tanz 


rti. 


Untier  plux. 


DIK  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


33 


incognita  (damals,  wie  meist  heute  noch)  für  den  echten 
deutschen  Akademiker.  Pochenden  Herzens  legte  Vautier 
seine  Arbeiten  dem  Direktor  Schadow  vor,  der  in  seiner 
starren  und  kalten  Kunstweise  alt  geworden,  despotisch 
und  voll  Pedanterie  allem  Neuen  gegenüberstand.  Trotz¬ 
dem  Vautier  von  einer  einflussreichen  Persönlichkeit,  einem 
Herrn,  der  zugleich  ein  persönlicher  Freund  des  Düssel¬ 
dorfer  Akademiedirektors  war,  Empfehlungen  mitbrachte, 
warf  dieser  doch  die  Zeichnungen  des  jungen  Mannes 
verächtlich  bei  Seite  mit  dem  kategorischen  Ausspruch : 

«Das  ist  ja  Alles  unbrauchbares  französisches  Zeug! 
Sie  müssen  ganz  von  vorne  anfangen,  wenn  Sie  etwas 
Rechtes  lernen  wollen». 

Vautier  gab  nichts  auf  das  Urtheil  des  grossen 
«Kunstherrn».  Und  er  hatte  Recht.  Von  Wilhelm  Schadow 
weiss  die  Kunstgeschichte  heute  kaum  mehr  den  Namen 
und  auch  den  nur  darum,  weil  ihn  ein  Grösserer  vor 
ihm  getragen.  Benjamin  Vautier  aber  hat  zu  den  Besten  seiner  Zeit  gezählt  und  als  er  jetzt  — 
ein  Siebziger  fast  —  den  Pinsel  für  immer  aus  der  Hand  legte,  war  sein  wohlverdienter  Ruhm 
auch  noch  nicht  um  einen  Schatten  verblichen. 

Zunächst  also  schüttelte  er  damals  den  Staub  des  Schadow’schen  Ateliers  von  seinen  Schuhen 
und  arbeitete  einige  Monate  wieder  mit  eisernem  Fleisse  Studien  in  der  Künstlerwerkstatt  eines  Freundes. 
Als  dann  die  Zeit  der  alljährlichen  akademischen  Konkurrenz  herankam,  meldete  er  sich  mit  den  neu¬ 
geschaffenen  Arbeiten  und  den  alten  Aktstudien  abermals  und  er  gefiel  der  Mehrzahl  des  Lehrer¬ 
kollegiums  so  wohl,  dass  er  sofort  in  die  Malklasse  aufgenommen  wurde.  Sein  Studium  in  der  Akademie 
dauerte  aber  nur  knapp  dreiviertel  Jahre,  denn  er  fühlte  bald,  dass  diese  Kunsthochschule  unter 
der  gestrengen  Schadow’schen  Leitung  in  einen  Zustand 
schlimmer  Verwahrlosung  gerathen  und  dort  nichts  mehr 
für  ein  werdendes  Talent  zu  holen  war.  So  begab  er  sich 
denn  unter  die  Aegide  von  Rudolf  Jordan  (geb.  am  4.  Mai 
1810  in  Berlin,  gest.  am  26.  März  1887  in  Düsseldorf),  der 
damals  im  Zenith  seines  Ruhmes  stand.  Er  war  1834  durch 
seinen  «  Heirathsantrag  auf  Helgoland»,  der  jetzt  die  Ber¬ 
liner  Nationalgalerie  ziert,  mit  einem  Schlage  berühmt 
geworden  und  erhielt  sich  seinen  Ruf  durch  den  künst¬ 
lerischen  Ernst  seines  Schaffens.  Er  zuerst  lauschte  die 
Gestalten  seiner  Genrebilder  wirklich  der  Natur  ab  und 
brachte  statt  der  schablonenmässigen,  konstruirten  Puppen 


34 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


lebendige  Menschen  auf  die  Leinwand ;  aber  er  malte  auch  nach  der  Natur,  er  brachte,  wie  Ad.  Rosen¬ 
berg  betont,  als  einer  der  Ersten  unter  den  deutschen  Malern  das  Grau  der  Lufttöne  in  seinen 
Bildern  aus  dem  Fischer-  und  Schifferleben  ausgiebiger  zur  Anwendung.  Dadurch  lieh  er  neben  der 
harten  Malweise  seiner  Zunftgenossen  den  eigenen  Bildern  einen  Schein  wahren  Lebens;  in  den 
späteren  Jahren  freilich  ward  das  Grau  in  seinen  Bildern  nahezu  zum  Uebermass.  Vautier’s  Malweise 
ward  durch  Jordan  glücklich  beeinflusst.  Wenn  er  auch  nie  ein  starker  Kolorist  gewesen  ist,  einer 
von  denen,  welchen  die  Farbe  neben  Form  und  Inhalt  als  gleichwerthiges  Element  des  Kunstwerks  güt, 


so  ist  seine  Farbe 
doch  immer  gesund 
und  sympathisch 
und  seine  Maltech¬ 
nik  trefflich  ge¬ 
nug-,  um  auch 
durch  sich  selbst 
zu  reizen  und  Be¬ 
wunderung  zu  er- 
regen.  Dazu  muss 

o 

man  bedenken, 
dass  wir,  seit  einem 
Jahrzehnt  an  die 
stärksten  Selbst¬ 
herrlichkeiten  und 

Absonderlichkei¬ 
ten  in  der  Farben¬ 
gebung,  an  die 
kühnste  Handhab¬ 
ung  der  Extreme 
vom  farblosen  Grau 
bis  zur  tollsten  Far¬ 
bigkeit  gewöhnt, 


Benjamin  Vaulier.  Studienzeichnung 


heute  kaum  mehr 
zu  erfassen  ver¬ 
mögen,  dass  künst¬ 
lerische  Freiheiten, 
wie  sie  sich  da¬ 
mals  Jordan  und 
Vautier  heraus- 
nahmen,  damals  als 
Ausfluss  unerhör¬ 
ter  Kühnheit  be¬ 
trachtet  wurden. 

Bei  Jordan  lernte 
Vautier,  was  ihm 
zu  selbständigerem 
Schaffen  als  Maler 
noch  fehlte  —  sein 
Stoffgebiet  hatte 
er  aber  noch  immer 
nicht  so  eigentlich 
entdeckt.  Daiührte 
ihn  der  Sommer 
des  Jahres  1 8  5  3 
ins  Berner  Ober¬ 


land  und  er  lernte  dort  den  Genre-  und  Landschaftsmaler  Karl  Girardet  kennen,  der  aus  einer  der 
bekanntesten  Schweizer  Künstlerfamilien  stammt  und  deren  namhaftestes  Mitglied  war.  Dieser  wies 
ihn  sowohl  auf  die  landschaftlichen  Reize  der  Heimath ,  wie  auf  den  malerischen  Reiz  und  den 
Gestaltenreichthum  des  heimathlichen  Volkslebens  hin,  und  Vautier,  dem  jetzt  die  Ahnung  seiner  künst¬ 
lerischen  Welt  aufging,  malte  zunächst  dort  einen  ganzen  Sommer  lang  Studien  nach  dem  Leben.  Ein 
richtiges  grösseres  Werk  wollte  freilich  noch  nicht  zu  Stande  kommen  und  auch  die  nächsten  Jahre 
vergingen  wieder  in  Suchen  und  Tasten,  in  Studiren  und  Experimentiren.  Als  dann  der  junge  Maler 
im  Sommer  1856  nach  Genf  kam  und  bei  seinem  alten  —  vor  Kurzem  nun  auch  verstorbenen  — 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


35 


Meister  van  Muyden  wieder  zu  malen  begann,  wies  ihn  dieser  noch  energischer  auf  das  Stoffgebiet 
des  Bauernlebens  hin  und  Vautier  sah  seinen  Beruf  zum  Genremaler  —  es  gibt  nun  einmal  kein 
anständiges  deutsches  Wort  für  diesen  Begriff  —  immer  deutlicher  ein.  Dazu  kamen  die  beginnenden 


Triumphe  des  jungen 
Ludwig  Knaus,  der 
mit  seinen ,  in  Paris 
gemalten,  ländlichen 
Genrebildern  dort 
und  allenthalben  durch¬ 
schlagenden  Erfolg  er¬ 
rungen  hatte.  Auch 
Vautier  beo-ab  sich 

o 

noch  im  Herbst  1856 
nach  Paris,  wo  er  frei¬ 
lich,  trotz  aller  übrigen 
künstlerischen  Anreg¬ 
ung,  nicht  ganz  fand, 
was  er  suchte.  Selbst 
Knaus  war  nach  dem 
Urtheile  seiner  Zeit¬ 
genossen  der  Pariser  Aufent¬ 
halt  nicht  ganz  zum  Vortheile 
ausgeschlagen ;  sie  fanden  das, 
was  er  malt,  zwar  vortrefflich, 
aber  nur  dem  Gegenstände, 
nicht  dem  Wesen  nach  deutsch. 
Vautier  blieb  nur  den  Winter 
über  in  der  Kunststadt  an  der 
Seine  und  kehrte  schon  nach 
sechs  Monaten  nach  Düssel¬ 
dorf  zurück,  obwohl  er  in  Paris 
mit  dem  Malen  einer  figuren¬ 
reichen  Komposition  begonnen 
hatte.  Diese,  «eine  Kirchen- 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


scene»,  malte  er  nun 
in  Düsseldorf  fertig 
und  sie  brachte  ihm 
auf  der  grossen  histori¬ 
schen  Münchener  Aus¬ 
stellung  1858  einen 
grossartigen  Erfolg 
ein.  Durch  Krankheit 
im  Arbeiten  gehindert, 
musste  er  fast  das 
ganze  folgende  Jahr 
an  das  Bild  wenden. 
Es  schildert  die  An¬ 
dächtigen  in  einer 
Schweizer  Dorfkirche 
während  des  Gottes¬ 
dienstes.  Im  Mittel¬ 
punkte  der  betenden  Gruppen 
finden  wir  ein  rührend  schönes 
Mädchen  zwischen  Mutter  und 
Grossmutter  in  seine  Andacht 
vertieft.  Das  Bild  gefiel  nicht 
allein  um  der  liebenswürdigen 
und  naturtreuen  Darstellung 
willen,  sondern  namentlich  auch 
durch  den,  in  München  damals 
noch  fast  unbekannten  feinen 
Ton  der  Malerei 

In  einem  Bericht  des  «  Deut¬ 
schen  Kunstblattes »  aus  dem 
Sommer  1857  ist  uns  ein  Do¬ 


kument  darüber  erhalten,  wie  es  damals  in  Vautier’s  Werkstatt  aussah;  die  Zeilen  seien  in  Folgendem 
wiedergegeben,  da  sie  zugleich  auch  von  einigen  Bildern  des  werdenden  Meisters  in  kurzen  Worten 
berichten:  «Benjamin  Vautier  aus  Genf,  jetzt  in  Düsseldorf,  wo  ihm  eine  schöne,  liebliche  Braut  blüht, 
zeigt  uns  in  seinem  Atelier  ein  anmuthiges  Bild,  ein  junges,  blondes  Mädchen  am  Spinnrade  singend, 


36 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


wie  die  Haltung  des  Kopfes  und  die  geöffneten  Lippen  zeigen,  und  daneben,  den  müden  Kopf  auf 
die  Hand  gestützt,  eine  Alte  am  Herde  sitzend.  Der  magere  Arm '  der  Alten,  ihre  ganze  Stellung, 
Alles  hatte  etwas  ungemein  Lebenswahres,  die  einfache  Situation  etwas  sehr  Ansprechendes  Ergötzlich 
war  das  Mittagsmahl  in  einer  Bauernstube :  die  Mutter,  eine  kräftige,  frische  Gestalt,  füllt  eben  die 
Suppe  zum  zweiten  Male  einem  derben  Knaben  auf,  der  offenbar  den  gesundesten  und  grössten 
Magen  in  der  Familie  hat  und  aufgestanden  ist,  um  den  Teller  zu  reichen,  ein  anderes  Kind  lässt  es 
sich  schmecken,  ein  ganz  kleines,  blondgelocktes  Jüngelchen,  noch  geröthet  vom  Schlaf,  im  Hemdchen, 
nur  mit  Strümpfen  bekleidet  und  in  zitternden  Händchen  den  Löffel  haltend,  sieht  eifrig  in  den  Teller 
hinein,  ein  grösseres,  schlankes  Mädchen  hat  sich  eben  zu  Tisch  gesetzt  und  blickt  zum  Bilde  hinaus 
auf  den  Beschauer.  Noch  ein  angefangenes  Bild  «Landleute  in  den  Kirchenstühlen  sitzend  und  singend», 
versprach  viel,  die  Zeichnung  und  Anlage  der  Köpfe,  der  Ausdruck  der  Gesichter  war  sehr  schön; 
mit  vorzüglicher  Liebe  wieder  war  das  ausdrucksvolle  Profil  einer  alten  Frau  gemalt.  Eine  Skizze, 
ein  Berner  Mädchen  in  der  kleidsamen  'Tracht,  und  schön,  wie  fast  alle  Berner-  und  Brienzerinnen, 
war  ein  liebliches  Seitenstück  zu  Schröders  (des  Düsseldorfer  Humoristen)  Küfer.  Er  zeigte  uns  noch 
eine  alte  hexenhafte  Frau,  die  er  mit  Knaus  zusammen  nach  dem  Leben  im  Schwarzwald  gemalt, 
schaurig  anzusehen,  und  erzählt  uns,  wie  die  Alte  durchaus  gewünscht,  dass  einer  von  ihnen  ihr 
Enkelchen,  eine  vierschrötige  Dirne  mit  strohgelbem  Haar,  heirathen  sollte,  und  ihnen  vorerzählt, 
wie  schön  sie  die  jammervolle  Hütte  unter  dem  Felsgestein,  wo  sie  wie  eine  von  Macbeth’s  Hexen 
thront,  herrichten  wollte.  » 

Man  sieht,  nach  den  langen  Jahren  des  Suchens  und  Zweifelns  war  der  späterhin  so  fruchtbare 
und  an  Einfällen  reiche  Künstler  bereits  im  besten  Zuge  und  nun  folgte  bald  Erfolg  dem  Erfolg.  Schon 
vor  seinen  Münchener  Triumphen  durch  das  bereits  erwähnte  Bild  «In  der  Kirche»  hatte  er  1857 
auf  einer  Ausstellung  im  Haag  bereits  eine  silberne  Medaille  eingeheimst,  durch  die  Münchener  Aus¬ 
stellung  war  er  mit  einem  Schlage  in  den  Mittelpunkt  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  gerückt.  Und 
jedes  seiner  Werke  gefiel  nun  in  hohem  Masse:  1859  seine  noch  mit  Schweizer  Lokalfarbe  gesättigte 
«Auktion  im  Schlosse»,  1860  die  «Nähschule»,  in  welcher  der  Maler  bereits  Schwarzwälder  Mädels 
darstellte  und  1860  die  «Frauen,  die  ihre  Männer  im  Wirthshause  abfassen».  Vielleicht  ist  das 
letztgenannte  Bild  das  populärste  des  Meisters  geblieben;  es  hat  tausende  von  Wänden  im  deutschen 
Heim  geschmückt  und  Tausende  durch  seinen  schalkhaften,  gewinnenden  Humor  und  seine  Lebens¬ 
treue  erfreut  und  prangt  nun  im  städtischen  Museum  zu  Leipzig.  Der  Vorgang  des  Bildes  braucht 
kaum  geschildert  zu  werden,  so  bekannt  ist  dies  Werk  aller  Welt:  Während  des  Gottesdienstes  haben 
vier  Bauern  im  Wirthshaus  Karten  gespielt  und  ihre  Frauen,  aus  der  Kirche  kommend,  überraschen 
die  Uebelthäter  mit  wohlverdientem  Strafgericht.  Der  Aelteste  der  Viere  hat  sich  vor  dem  ersten 
Ansturm  in  der  Ecke  verborgen,  der  Jüngste,  ein  flotter  Bauer  in  schwäbischer  Tracht  nimmt  die 
Strafpredigt  seines  hübschen  Weibchens  mit  Zerknirschung  entgegen.  Sein  älterer  Genosse  hat,  wie 
aus  den  abgehärmten  Zügen  seiner  Rachegöttin  zu  lesen  ist,  schon  Manches  auf  dem  Kerbholz  und 
lässt,  den  Rücken  wendend,  das  Strafgericht  verstockt  über  sich  ergehen.  Der  Vierte  spielt  den  welt¬ 
verachtenden  Philosophen  und  fügt  zu  seiner  Schlechtigkeit  auch  noch  herausfordernde  Frechheit. 


Unfreiwillige  Beichte 


Ly 


Sehaehspieler 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


37 


Jede  der  Figuren  ist  dem  Leben  abgelauscht  — 
bei  keiner  naht  sich  die  scharfe  Charakteristik 
der  Grenze  der  Caricatur. 

Der  1864  gemalte  «Sonntagnachmittag  in 
Schwaben »  zeigt  uns  eine  Episode  ländlichen 
«Kriegs  im  Frieden».  Wir  sehen  acht  junge 
Mädchen,  die  sich  am  Rand  eines  Weidenge¬ 
büsches  auf  Steinen  und  Baumstämmen  gelagert 
haben  und  zusammen  plaudern.  Sie  haben  wohl 
den  Angriff  des  nicht  eben  feindlich  gesinnten 
Gegners,  einer  Gruppe  junger  Burschen,  die  aus 
dem  Thalgrunde  gegen  sie  heranzieht  —  längst 
erwartet.  Die  Einen  blicken  dem  nahenden 
Schwarm  bereits  entgegen,  die  Andern  maskiren 
ihre  Erwartung  und  Sehnsucht  wohl  nur  unter 
dem  Scheine  gleichgültiger  Reden  und  Eine  — 
die,  ein  Sträusschen  bindend,  unter  der  alten 
Weide  steht  —  ist  vom  Pfeil  der  Liebe  bereits 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


ganz  ernsthaft .  vielleicht  sogar  ein  wenig  zu 

ernsthaft  verwundet.  Sie  blickt  ziemlich  traurig  auf  den  werdenden  Strauss.  Gegenüber  auf  einem 
Hügel  liegt  das  Dörfchen  mit  dem  spitzen  Kirchthurm  freundlich  da;  die  Landschaft  athmet  Sonntags¬ 
frieden,  das  ganze  Bild  warm  pulsirendes  Leben.  Der  Maler  hat  diese  Scene  nicht  für  sein  Bild  er¬ 
funden,  sondern  mehrfach  mit  Augen  gesehen,  er  hat  Wochen  lang  in  dem  Dörfchen  auf  dem  Hügel 
gelebt  und  ist  den  Menschen  näher  getreten,  die  er  dann  auf  dem  Bilde  verewigt  hat.  Dieses  Bild 
lässt  so  recht  wahr  erscheinen,  was  Richard  Muther,  durchaus  kein  bedingungsloser  Verehrer  des 
Meisters,  aber  Einer,  der  dessen  sympathische,  urdeutsche  Eigenart  voll  würdigt,  von  Vautier  sagt: 

«Vautier  entdeckte  als  der  Ersten  einer  den  Stimmungszauber 
der  Umgebung,  den  geheimnissvollen  Einfluss,  die  den  Menschen 
mit  der  Scholle,  auf  der  er  geboren  ist,  verknüpft,  die  tausend 
unbekannten  magnetischen  Strömungen,  die  zwischen  den  Dingen 
und  dem  Gemüth,  den  Anschauungen  und  den  Handlungen  des 
Menschen  bestehen.  Die  Umgebung  steht  nicht  da  wie  der  Pro- 
spekt  einer  Bühne,  vor  dem  die  Personen  kommen  und  gehen, 
sie  lebt  und  webt  auch  im  Menschen  selbst». 

Im  nächsten  Jahre,  1865,  entstand  das,  ebenfalls  ziemlich  weit 
bekannte  Bild  «Bauer  und  Makler»,  ein  Stück  packenden, 
grimmig  ernsten  Bauernlebens,  eine  Scene,  die  sich  hunderttausend- 
mal  abgespielt  haben  mag  in  Bauernstuben  aller  Stile.  Hier  ist  es 


Hüll 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


38 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ein  Bauernhaus  Schwabens,  wohin  uns  der  Künstler  führt.  Der«  Hausvater  ist  offenbar  in  schweren 
Nöthen.  Pläne  und  Geldrollen  auf  dem  Tische,  an  dem  er  mit  einem  jüdischen  Makler  und  einem 
behäbigen  Landmann  sitzt,  verrathen,  dass  es  sich  darum  handelt,  dem  armen  Teufel  seiner  Väter 
Erbe  abzuschwatzen.  Das  Weib  des  Bauern,  den  Säugling  auf  dem  Arm  hat  dem  Unglücklichen 
abmahnend  die  Hand  auf  die  Schulter  gelegt:  lieber  Noth  und  Entbehrung  auf  der  eigenen  Scholle, 
als  losgelöst  vom  Heimathboden  in  die  Fremde  ziehen,  vielleicht  gar  hinüber  über  das  weite  Meer! 
Kalt  und  ruhig  blickt  der  Käufer  darein,  während  der  Makler  dem  Bedrängten  die  Vortheile  des 
Verkaufes  an  den  Linkern  vorzählt. 

o 


Benjamin  Vautier  hat  1865  für  dieses  Bild  in  Paris  die  goldene  Medaille  erhalten. 

Irin  neues  grösseres  Werk  und  ein  neuer  Triumph  folgte  noch  im  selben  Jahre,  der  «Leichen¬ 
schmaus».  Mit  diesem  Bild,  zu  dem  er  die  Studien  an  Ort  und  Stelle,  im  Berner  Oberland,  gemalt, 
griff  Vautier  wieder  zu  einem  Stoff  aus  seiner  Schweizer  Heimath.  Das  Bild,  jetzt  im  Besitze  des 
Museums  zu  Köln,  führt  uns  in  eine  Bauernstube, 
wo  das  Begräbniss  des  Hausherrn  von  der  Schaar 
der  Angehörigen  bei  einem  Glase  Wein  auf  landes¬ 
übliche  Weise  gefeiert  wird.  Das  halbwüchsige 
Töchterlein  des  Verstorbenen  kredenzt  den  Leid¬ 
tragenden  den  Gedächtnisstrunk;  die  trostlose 
Wittwe,  die  zu  trösten  sich  die  Gevätterinnen 
nach  Kräften  bemühen,  hat  neben  dem  Bette  ihres 
Gatten  Platz  genommen.  Mehr  fast,  als  irgend 

ein  anderes  Werk  Vautier’s  zeigt  dieses  seine 

<_> 

Kunst  starker  und  gesunder  Menschenschilderung, 
die  das  Schöne  und  Anmuthige  findet,  ohne  je 
süsslich  zu  werden,  das  Charakteristische  darstellt, 
ohne  das  Hässliche  zu  suchen.  Obwohl  ein  wenig  idealisirt,  oder  doch  wenigstens  von  ihrer  besten 
Seite  aufgefasst,  sind  seine  Menschen  doch  echte  Menschen,  echt  in  Rasse  und  individueller  Eigenart, 
echt  in  ihren  Bewegungen  und  im  Ausdruck  ihrer  Gefühle.  Vautier  hat  manches  packende  Drama 
und  manche  stille  Tragödie  gemalt,  Sterbehäuser,  Todtenbetten  und  Krankenstuben  —  aber  nie  finden 
wir  eine  Spur  von  Pose  oder  Schauspielerei.  Eine  schöne  Ehrlichkeit,  eine  anheimelnde  Lebenswärme 
überall,  die  weit  mehr  ergreift  und  fesselt,  als  der  novellistische  Inhalt  seiner  Bilder  an  sich. 

Hier  seien  noch  einmal  Richard  Muther’s  Worte,  mit  denen  der  moderne  Kunstforscher  Vautier's 
liebevoller  und  liebenswürdiger  Kunst  der  Menschenschilderung  würdigt,  angezogen ;  er  schreibt: 

«  Fast  rührend  zu  sehen,  wie  schön  und  rein  in  Vautier’s  Kopf  sich  das  Leben  spiegelt.  Wie 
zart  sind  diese  bräunigen  schwäbischen  Bauerntöchter,  wie  sympathisch  und  mild  diese  Frauen,  wie 
reinlich  und  artig  die  Kinder.  Man  möchte  glauben,  dass  Vautier  freundlich  und  väterlich  wohlwollend 
mit  seinen  Bauern  verkehrt,  sich  selbst  wohl  fühlt  bei  ihren  harmlosen  Vergnügungen,  dass  er  auch 
ihre  Schmerzen  und  Sorgen  theilt;  und  über  diese  Eindrücke  berichtet  er  in  seinen  Bildern  nicht  streng 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


39 


und  überlegen  lächelnd,  sondern  in  schonender  herzlicher  Weise.  Er  will  nicht  aufregen  oder  er¬ 
schüttern,  weder  durch  Witze,  Komik,  noch  durch  Trauriges  Trübsal  erwecken.  Das  Leben  zeigt 
ihm  —  wie  Goethe  während  seiner  italienischen  Reise  —  «lauter  angenehme  Gegenstände»  und  selbst  in 


traurigen  Schick- 
salsfügungen  nur 

o  o 

Leute,  die  «  das 
Unvermeidliche 
mit  Würde  tra¬ 
gen».  Kein  lauter 
Schmerz ,  Alles 
leise  abgedämpft, 
von  jener  Milde, 
die  sich  im  Klang 
des  Vornamens 
Benjamin  aus¬ 
spricht.  Knaus  hat 
etwas  von  Men¬ 
zel,  Vautier  von 
—  Memlinc,  auch 
in  der  liebevollen 
Intimität,  mit  der 
er  das  Kleine  durch¬ 
dringt.  Die  alten  deut- 
sehen  und  niederlän¬ 
dischen  Meister  malten 
in  ihren  religiösen  Bil¬ 
dern  Alles  bis  zum 
Nachtgeschirr  Marias, 
den  gestickten  Lilien 
ihres  Webstuhls  oder 
dem  Staub,  der  auf 
dem  alten  Gebetbuch 
liegt,  und  diese  echt 
deutsche  Lreude  am 


■ 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


Stillleben,  die  be¬ 
hagliche  Schilder- 
ung  des  Kleinen, 
kehrt  auch  bei 
Vautier  wieder. 

Menschen  und 


Wohnungen, 


)e- 


lebte  Natur  und 
Atmosphäre 
setzen  sich  bei  ihm 
zu  einem  freund¬ 
lichen  Stück  Welt 
zusammen  ». 

Benjamin  Vau¬ 
tier  hatte  durch 
die  genannten  Er¬ 
folge  als  Genre¬ 
maler  seinen  Weg 
in  der  Kunst  gefunden, 
und  nun  folgte  Bild  aut 
Bild  aus  dem  Bauern¬ 
leben  der  alemanni¬ 
schen  Rasse.  Bald 
waren  es  Schweizer, 
bald  waren  es  Schwarz¬ 
wälder  oder  andere 
Schwaben,  bald  war  es 
Ernstes,  bald  war  es 
Heiteres,  was  er  malte, 
immer  war  es  warm 
und  gemüthvoll  erfasste 


Wirklichkeit.  Erfindungsreicher,  weicher  und  mit  mehr  Erzählertalent  begabt,  als  der  markigere  und 
nervenstärkere  Defregger,  liebenswürdiger  und  poesiereicher  als  der  scharfäugige  und  unerbittlich 
beobachtende  Knaus,  schuf  er  sich  seine  Kunst,  so  recht  gemacht,  ihn,  den  Schaffenden  und  die 
Sehenden  zu  erfreuen,  eine  Kunst,  die  ins  Volk  dringen  musste.  Und,  Dank  den  gründlichen  Vor- 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Studien  seiner  Such-  und  Lehrjahre,  schuf  er  so  leicht,  dass  er,(  trotz  aller  Gründlichkeit  und  liebe¬ 
vollen  Durchbildung  im  Detail  seiner  Bilder  zu  unsern  schöpferischsten  Malern  zählt. 

Nach  dem  «Leichenschmaus»  malte  Vautier  einen  «Alterthumssammler  im  Bauern¬ 
haus»,  vor  dem  die  Inwohner  ihre  Schätze  Zusammentragen,  Werthvolles  und  Werthloses,  eine 
gothische  Heiligenfigur  und  eine  alte  Kaffeemühle.  Dann  kam  (1872)  eines  der  Hauptwerke  Vautier’s, 
die  «Fahrt  über  den  Brienzer  See  zu  einem  Begräbniss»;  es  ist  ein  Kindersarg,  den  ein 
junges  Ehepaar  in  tiefer  Trauer  auf  einem,  von  jungen  Burschen  geruderten,  von  einem  Mädchen 
gelenkten  Nachen  über  das  Wasser  geleitet.  Ungefähr  um  die  gleiche  Zeit  entstand  eine  ländliche 
Szene  «Am  Krankenbette»,  die  Eigenthum  der  Berliner  Nationalgalerie  geworden  ist.  Ein  junges 
Weib  liegt  schwer  krank  auf  dem  Schmerzenslager  und  ihr  Gatte,  den  eingeschlafenen  Liebling  auf 
dem  Schooss,  sitzt  neben  ihr,  den  Blick  ernst  auf  sie  gerichtet,  ihre  Hand  fest  in  der  seinen.  Ein  Abschied? 
Ein  Gelöbniss?  Ein  Willkommen  zu  neuem  Leben?  Jedenfalls  ein  ergreifendes  Stück  Menschenschicksal! 

Im  Jahre  1873  wurde  auf  der  Wiener  Weltausstellung  das  «Begräbniss  auf  dem  Lande», 
ein  sehr  figurenreiches  Bild,  allgemein  bewundert ;  es  schildert  die  in  Ergriffenheit  und  wohl  auch  in 
Neugier  wartende  Menge  vor  einem  Bauernhaus,  aus  welchem  eben  ein  Sarg  getragen  wird.  Im 
Vordergründe  wartet  schon  die  Bahre  ihrer  traurigen  Last.  Frauen  und  Männer  —  getrennt  aufge- 
stellt  nach  alemannischer  Art  —  blicken  theilnahmevoll  dem  Sarge  entgegen  —  im  Hintergründe  hält 
der  gestrenge  Dorfbüttel  mit  dem  Stabe  die  Schuljugend  zurück.  Ein  Bild  aus  der  Lichtseite  des 
Lebens  gibt  Vautier  wieder  in  seiner  (schon  1868)  gemalten  «  Lä  ndl  i  che  n  Tanzstunde  ».  Vordem 
bäuerischen  Tanzmeister  mit  seiner  Fiedel  sind  in  der  geräumigen  Stube  des  Dorfwirthshauses  etliche 
dralle  junge  Dirnen  angetreten  und  werden  eben  —  die  Fussspitzen  nach  auswärts!  —  in  der  «Grund¬ 
stellung»  unterwiesen;  eine  der  Schönen  hält  sich  am  Ofen  fest,  um  den  Tanzschuh  zurecht  zu  rücken. 
Links  warten  die  Burschen,  bis  auch  an  sie  die  Reihe  kommen  mag.  Auch  der  «Unterbrochene 
Streit»  spielt  im  Dorfwirthshaus.  Zwei  Burschen  haben  Streit  gehabt,  ein  Streit,  dessen  Spuren 
wir  an  den  handelnden  Personen  eben  so  wohl  wahrnehmen,  wie  an  dem  Stillleben  von  umgeworfenen 
Stühlen  und  zerbrochenen  Flaschen,  die  umherliegen.  Der  Eine  der  Burschen,  offenbar  der  Sieger, 
wird  von  seiner  Mutter  zurückgehalten,  auf  dass  er  seinen,  entschieden  noch  nicht  ganz  vertobten 
Berserkerzorn  nicht  völlig  entlade,  den  Unterlegenen  halten  Kameraden  davon  ab,  einer  bedenklichen 
Revanchelust  freien  Lauf  zu  lassen.  Auch  der  Polizeidiener  ist  bereits  erschienen  und  vernimmt  mit 
strenger  Amtsmiene  Anklagen  und  Vertheidigungeb,  die  ihm  vorgetragen  werden. 

Von  seinen  Bauern  weg  in  höhere  Sphären  führt  uns  der  Künstler  in  seine  «Verlobung» 
(1870),  ein  Kostümstück,  das  uns  eine  tafelnde  Gesellschalt  der  Rokokozeit  schildert,  in  deren 
Mitte  ein  Poet  eben  einen  Toast  auf  das  Brautpaar  ausbringt.  Auch  der  Stoff  zum  «drotzkopf»  ist 
der  gleichen  Gesellschaftsschicht  in  gleicher  Zeit  entnommen:  eine  Frau  Mama  hat  den  Seelsorger  zu 
Hilfe  gerufen,  dass  er  einem  hübschen  Mädchen  ins  Gewissen  reden  soll.  Das  I  rotzköpfchen  hat 
sich  schmollend  abgewenclet  —  und  Recht  hat  sie!  Den  flotten  Burschen,  den  sie  lieben  mag, 
soll  sie  nicht  aufgeben  und  wenn  sich  alle  Mütter  und  Abbates  der  Welt  dagegen  auf  den  Kopf 
stellen  !  Das  ist  das  Recht  der  Jugend ! 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


41 


Benjamin  Vatitier.  Studienzeichnung 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnung 


Vautier  ergeht  es  übrigens  in  diesen  und  noch  etlichen  anderen  Bildern  genau  so,  wie  fast  allen 
andern  Bauernmalern  in  gleichem  Fall.  Sein  überlegenes  Können  bewahrt  ihn  davor,  etwas  Schlechtes 
zu  machen,  aber  wirkliche  Eleganz,  die  bestechende  Grazie  der  Weltdame,  den  Chic  des  Salons  ver¬ 
mag  er  nicht  recht  wiederzugeben.  Dazu  gehört  eine  leichtere  Hand,  als  sie  der  haben  kann  und 
darf,  der  gewohnt  ist,  Arbeitsmenschen  in  ihrem  Thun  und  Treiben  nachzubilden. 

So  recht  wieder  in  seinem  Element  ist  er  bei  dem  1871  gemalten,  figurenreichen  «Zweckessen 
auf  dem  Lande»  gewesen:  Die  Honoratioren  eines  Dorfes  setzen  sich  in  einer  ländlichen  Wirths- 
stube  eben  zu  Tisch.  Der  Herr  Landrichter  hat  bereits  das  Präsidium  eingenommen  und  die  ihm 
zunächst  Rangirenden,  wohl  Pfarrer  und  Lehrer,  sitzen  neben  ihm;  die  Uebrigen  scheinen  in  der  Wahl 
ihrer  Plätze  noch  unschlüssig,  misstrauisch  und  wohl  auch  missgünstig  blickt  einer  der  Bauern  auf  den 
andern,  als  fürchte  Jeder  sich  was  zu  vergeben,  oder  in  Bezug  auf  die  ihm  gebührenden  Ehren  zu  kurz 
zu  kommen.  «Der  Besuch  am  Herd»  (1873)  vereinigt  zwei  liebliche  Schweizer  Mädchengestalten 
in  einem  traulichen  Kücheninterieur,  das  etwa  um  ein  Jahr  später  gemalte  Bild  «Die  entzweiten 
Schachspieler»  schildert  mit  feinem  glücklichem  Humor,  die  im  Titel  des  Bildes  gekennzeichnete 
Szene.  Wir  finden  uns  im  Heim  eines  wohlhabenden  Junggesellen,  der  eben  mit  einem  Besucher,  einem 
geistlichen  Herrn  Schach  gespielt  und  sich  mit  diesem  wegen  irgend  eines  Zuges  «zerkriegt»  hat.  Ver¬ 
legen  sucht  der  Hausherr  seine  Pfeife  in  Brand  zu  setzen,  während  der  Abbe  mit  der  Linken  auf 
der  Tischplatte  trommelt,  mit  der  Rechten  ein  Zeitungsblatt  sich  vor  die  Augen  hält.  Als  Typen, 
wie  dem  Ausdrucke  ihrer  momentanen  Stimmung  nach,  sind  die  beiden  alten  Herren  virtuos  gekenn¬ 
zeichnet,  liebenswürdig  und  doch  mit  schärfster  Beobachtung. 


42 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Aus  dem  Jahre  1S75  stammt  die  «Aufforderung  zum  Tanz»,  eines  der  charmantesten 
Schwarzwälder  Bilder  des  Meisters.  Die  Szene  ist  eine  Gasse  vor  dem  Dorfwirthshaus,  unter  dessen 
Siebendach  man  eine  fröhliche  Schaar  zu  sonntäglichem  Vergnügen  versammelt  sieht;  ein  flotter  junger 
Bursch  fordert  zwei  vorüberkommende  Mädchen  zum  Tanze  auf  —  die  Eine  hat  schon  eingewilligt, 
die  Andere  scheint  sich  noch  ein  wenig  zu  bedenken.  Das  ganze  Bild  athmet  die  freundlichste 
Stimmunpp;  man  vermeint  die  Tanzmusik  und  das  Plaudern  und  Lachen  aus  dem  Wirthsgarten  herüber 
zu  hören.  Noch  im  gleichen  Jahre  entstand  der  sehr  bekannt  gewordene  «Abschied  der  Braut 


vom  Eltern- 
hause»,  eine 
prächtige  Probe 
schwäbischen 
Volkslebens,  in 
dem  Rührung 
und  frische  Hei¬ 
terkeit  gepaart, 
einen  guten 
Klang  geben.  Ein 
später  gemaltes 
Bild  Vautier’s, 
eine  «Begrüss- 
ung  der  Neu- 
vermählten  » 
wirkt  fast  wie 
eine  Fortsetzung 
zu  dem  ebenge¬ 
nannten  Bilde 
und  stellt  den 
Augenblick  dar, 
da  der  junge 
Gatte  glückstrah¬ 
lend  sein  blühen- 


•TZfrVs  : 


des  junges  Weib 
seinen  Eltern  zu¬ 
führt.  Die  Mutter 
hat  bereits  die 
Hand  der  jungen 
Frau  ergriffen 
und  blickt  ihr. 


treuherzig 


prü¬ 


fend,  in  die  Au¬ 
gen;  das  Schwe¬ 
sterlein  des 
Gatten  eilt  der 
neugewordenen 
Schwägerin  mit 
ausgebreiteten 
Armen  entgegen. 

Ganz  anderer 
Art  wieder  ist  das 
Gemälde  «Vor 
der  Sitzung», 
mit  dem  unser 
Maler  1876  die 
Münchener 
Ausstellung  be- 


Benjamin  Vauticr.  Studienzeichnung 

schickte;  es  ist  in  seinem  Gegenstände  nicht  ganz  leicht  verständlich  und  wohl  darum  weniger  populär 
geworden.  Was  Kraft  der  Charakteristik  betrifft,  zählt  es  aber  Vautier’s  besten  Werken  bei  und  das 
ganze  Milieu,  der  Sitzungssaal  des  Gemeinderaths  einer  kleinen  Stadt,  der  sich  eben  zu  einer  wichtigen 
Besprechung  versammeln  will,  die  Gesichter  der  den  verschiedensten  Lebenssphären  angehörenden 
Gemeinderäthe,  die  in  mehrere  Gruppen  getrennt,  theils  für,  theils  gegen  ein  Projekt  zu  agitiren 
scheinen,  alles  das  ist  meisterlich  geschildert,  mit  jener  höchsten  Charakterisirungskunst,  welche  die 
Schwächen  der  dargestellten  Menschen  scharfäugig  erkennt,  aber  ihren  Eindruck  in  der  Schilderung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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durch  das  heilige  Mitleid  mildert :  Tout  comprendre 
c’est  tout  pardonner !  Das  muss  der  Wahlspruch  des 
echten  Humoristen  sein. 

Im  «Tanzsaal  eines  schwäbischen  Dorfes» 
ist  das  Leben  und  Treiben  an  einer  solchen  Stätte  der 
Freude  mit  liebenswürdiger  Lebendigkeit,  wenn  auch 
ohne  besondere  anekdotische  Spitze  geschildert.  Links 
sehen  wir  im  Dunst  des  Hindergrundes  die  Tanzenden, 
rechts  die  Musikanten  und  die  Zuschauer  —  unter 
Letzteren  namentlich  die  halbflüggen  Schönen ,  denen 
der  Tanzboden  noch  einen  verbotenen  Winkel  des  Para¬ 
dieses  bedeutet.  Auf  einem  ähnlichen  Schauplatz  spielt 
die  figurenreiche  «Tanzpause»  (1878).  Im  «Kloster¬ 
gang»  (1879)  sehen  wir  eine  fröhlich  sich  tummelnde 
Mädchenschaar  im  alterthümlichen,  romanischen  Kreuz¬ 
gang  eines  F'rauenklosters.  «Katechisation»  zeigt 

.  ,  Benjamin  Vantier.  Studienzeichnung 

uns  die  zum  Religionsunterricht  versammelte  Dorfjugend 

in  einer  Sakristei.  Auch  das  von  der  Hamburger  Kunsthalle  erworbene  Bild  «Hinterlist»  schildert 
eine  Kinderszene :  Böse  Schulbuben  in  der  verschneiten  Dorfgasse,  die  den  Gespielen  mit  Schnee¬ 
ballen  auflauern.  Die  «Poststube»  führt  uns  die  bunt  zusammengewürfelte  Gesellschaft  vor  Augen, 
die  sich  vor  Abgang  des  Postwagens  in  der  guten  alten  Zeit  in  einem  derartigen  Warteraum  ver¬ 
sammeln  mochte,  vom  flotten  Postillon  bis  zum  betenden  Kapuziner.  Kinder  stehen  wiederum  im 

Mittelpunkt  der  Bilder:  «Der  Vetter»  —  ein  städtischer 
Junge  bei  seinem  derbfrischen  bäuerlichen  Verwandten  zu  Be¬ 
such  — ,  «Die  Ermahnung»  —  ein  Mädchen  ermahnt  vor 
dem  Gang  zur  Schule  seine  Puppen,  recht  brav  zu  sein, 
«  E i n ge s ch  1  af e n  »  (1879),  «Im  Walde»  (1880),  «Im 
Bade»  (1889)  u.  s.  w.  Eine  ganze  Reihe  von  kleineren 
Werken  hat  die  Schilderung  einzelner  liebreizender  Frauen- 
gestalten  zum  Gegenstände  und  auch  mit  diesen  Arbeiten, 
die  für  die  meisten  Genremaler  mehr  oder  weniger  «Brod- 
arbeiten»  bedeuten,  lässt  sich  Vautier  nicht  zu  leichtherziger 
Fabrikation  herab,  sondern  er  wahrt  immer  seinen  künst¬ 
lerischen  Rang.  Wir  nennen  hier  «Spielkätzchen»,  «Ein 
Brief  aus  dem  Thale»,  «In  der  Kirche»,  «Brigitte», 
«Winzerin»,  «Schifferin»,  «Regina»,  «In  Erwart¬ 
ung»,  «Jetzt  gang  i  an’s  Brünnele»  .  .  .,  «Bärble», 

Benjamin  Vantier.  Studienzeichnung  «Die  Toilette»  U.  S.  W. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Durch  alle  Lebensphasen  und  Schicksale  verfolgt  der  Maler  seine  strammen  Burschen  und 
schönen  Mädels,  seine  Bauern  und  Bäuerinnen.  Das  prächtige  Werk  «  Der  Gang  zur  Ci  viltrauung» 
ist  im  Besitze  der  berühmten  Heyl’schen  Galerie  in  Worms.  Das  1887  gemalte  «Bange  Stunde», 
das  durch  seine  lichte,  in  bestem  Sinne  moderne  Malweise  auch  in  technischer  Beziehung  lebhafte 
Bewunderung  hervorrief,  lässt  mit  ergreifender  dramatischer  Gewalt  eine  Szene  banger  Sorge  im  Kranken¬ 
zimmer  eines  jungen  Weibes  sich  abspielen.  «Kindlicher  Trost»  (1886),  «Der  verlorene  Sohn  » 
(1885),  «Besuch  bei  der  Genesenden»,  «Verlassen»  sind  durchweg  Familienszenen,  die  tief 
zum  Herzen  sprechen.  Des  Lebens  heitern  Seite  abgelauscht  ist  das  1881  fertig  gewordene  «Unfrei¬ 
willige  Beichte»,  Wir  sehen  zwei  reizende  junge  Mädels,  die  unter  dem  alten  Baum  vor  der 
Kirche  ihre  Liebesgeheimnisse  austauschen,  nicht  ahnend,  dass  ihnen  verborgen  auf  der  entgegen¬ 
gesetzten  Seite  des  Baumes  der  gestrenge  Herr  Pfarrer,  scheinbar  in  sein  Brevier  vertieft,  ihre  Geständ¬ 
nisse  belauscht.  Die  beiden  lichtübergossenen,  jugendlichen  liebenswürdigen  Mädchen  hier  sind  von 
ganz  besonderem  malerischen  Reiz.  Harmlose  Heiterkeit  athmen  auch  jene  Bilder  des  Malers,  welche 
Benennungen  der  Städter  mit  gesunden  Naturkindern  zum  Vorwurf  haben:  «Der  Botaniker  auf  dem 
Lande»,  «Ein  galanter  Professor»,  «Auf  der  Studienreise»,  «Ein  williges  Modell»,  «Das 
entflohene  Modell». 

Im  Erfinden  anekdotischer,  novellistischer  Sujets  ist  Vautier  so  ideenreich  gewesen,  wie  kaum 
ein  Zweiter.  Hier  zeigt  er  in  traulicher  Bauernstube  am  Sonntagnachmittag  —  er  sieht  die  Welt 
überhaupt  im  Sonntagsstaat  am  Liebsten  und  schildert  sie  selten  im  Arbeitskleide  —  Burschen  und 
Mädels  beim  «Schwarzen  Peter»,  dort  führt  er  uns  zu  gleicher  Stunde  in  eine  Schenke,  wo  ein 
gewandter  «Taschenspieler»  einer  Schönen  eben  eine  Karte  aus  dem  Mieder  zieht-,  er  verewigt 
zwei  Dorfmädchen,  die  im  Städtchen  den  Trödelkram  in  der  Auslage  eines  Krämers  bewundern,  er 
lässt  die  zärtliche  Auseinandersetzung  eines  Liebespaares  durch  ein  in  der  Ofenecke  verborgenes  kleines 
Schwesterchen  belauschen;  er  führt  eine  Bauerndirne  in  die  «Magistratische  Kanzlei»,  wo  sie  im 
Vorsaale  den  Amtsdiener  und  in  der  Schreibstube  den  Kanzlisten  eingeschlafen  findet;  er  conterfeit 
mit  der  feinsten  Menschenkenntniss  eine  Gruppe  prozessirender  «Bauern  vor  Gericht»  (1880),  ein 
junges  Paar,  das  den  betrügerischen  Schmuei  oder  Veitei  «Vor  dem  Dorfschulzen»  anklagt,  er 
zaubert  im  «Gast  im  H  er  re  n  st  übel »  ein  naturtreues  Stück  ländlichen  Philisterlebens  auf  die  Leinwand. 
Das  «Brautexamen»  lässt  er  sein  Liebespaar  vor  einem  alten  Pfarrherrn  bestehen,  der  merkwürdig 
an  den  vielgenannten  Sebastian  Kneipp  erinnert;  andere  geistliche  Typen  zeichnet  er  in  der  «Schach¬ 
partie»;  voll  Humor  ist  die  «Barbierstube»,  voll  anmuthiger  Schelmerei  die  Szene  «Ohne  Ge¬ 
nehmigung  des  Urhebers»,  von  grosser  Schärfe  der  Charakterzeichnung  «der  Hypochond er» -, 
poetisch  reine  Sonntagsstimmung,  die  stillste  und  lauterste  fast  von  allen  den  vielen  Sonntagsbildern 
Vautier’s  athmet  die  in  einem  Dorfkirchhof  des  Berner  Oberlands  verlegte  Szene  «Vor  der  Kirche» 
(1884).  Eine  Schwarzwälder  Amme,  vom  älteren  Brüderlein  des  Säuglings  in  ihren  Nährpflicht  belauscht, 
stellt  das  Bild  «Eine  merkwürdige  Begebenheit»  (1877)  dar,  «Abgetrumpft»  eine  dralle 
Bauerndirne,  die  eben  aus  einem  Parkthor  schreitend,  dem  frechen  Lakaien  des  Herrenhauses  die 
gebührende  Abfertigung  zu  Theil  werden  lässt. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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Die  Zahl  der  Bilder,  die  unter  Meister  Benjamins  Pinsel  entstanden,  ist  fast  unerschöpflich  und 
wollte  der  Chronist  mehr  geben  als  eine  trockene  Aufzählung,  so  würde  ihm  unter  der  Hand  ein 
Buch  aus  diesem  knappen  Nachruf.  Nur  eines  Werkes  sei  noch  ein  wenig  ausführlicher  gedacht, 
eines  Werkes,  in  dem  der  Maler  so  recht  seine  ganze  Kunst  und  Kraft  gezeigt,  ob  es  gleich  in 
seinem  Gegenstände  von  Vautier’s  ureigenstem  Gebiet,  der  Bauernschilderung,  ein  wenig  ablag:  der 
«Verhaftung».  Auf  der  Münchener  Ausstellung  des  Jahres  1879,  also  zu  einer  Zeit,  wo  die 
lebendige,  dramatische  Darstellung  eines  Gegenstandes,  die  Erzählerkunst  des  Malers  in  höchster 
Geltung  stand,  erregte  das  Bild  Sensation  und  wird  als  eine  der  vornehmsten  Typen  dieser  Kunst¬ 
gattung  auch  dauernd  gilt ig  bleiben  :  In  der  malerischen,  alten  Kleinstadt  ist  am  frühen  Morgen  ein 
—  der  Aufschrift  seines  Ladens  nach  —  jüdischer  Verbrecher  verhaftet  worden.  Vor  Schmerz  und 
Schande  ergriffen  ist  seine  Tochter  oder  sein  Weib  an  der  Schwelle  zusammengebrochen;  eine  Alte 
tröstet  sie.  Die  Nachbarn,  die  Zeugen  der  Szene  waren,  umstehen  noch  die  Stätte  und  während  die 
Einen  geschwätzige  Neugier,  ja  wohl  auch  boshafter  Hass  erregt  und  zu  lebhaften  Erörterungen  über 
den  Vorfall  führt,  bewegt  die  Andern  inniges  Mitleid  mit  den  Armen  an  der  ausgetretenen  Schwelle 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


des  Wuchererhauses.  Jede  dieser  Gestalten  ist  köstlich  gesehen  und  köstlich  getroffen ,  am  Köst¬ 
lichsten  aber  wohl  die  des  jungen  Mädchens  im  Vordergrund,  das  in  tiefer,  mitfühlender  Ergriffenheit 
zu  den  unglücklichen  Frauen  hinüberblickt. 

Noch  einer  anderen  Seite  von  Vautier's  künstlerischem  Schaffen  soll  nicht  vergessen  werden, 
seine  Thätigkeit  als  Zeichner  und  Illustrator.  Im  Jahre  1865  erschien  eine  von  ihm  mit  herrlichen 
Zeichnungen  versehene  Prachtausgabe  von  Immermann’s  «Oberhof»;  Willi.  Lübke  hat  u.  A.  diese 
Vautier’schen  Zeichnungen  mit  geradezu  enthusiastischen  Worten  gewürdigt.  Noch  näher  lag  ihm, 
dem  «Schwabenmaler»,  die  Aufgabe,  Auerbach’s  Dorfgeschichte,  das  «Barfüssele»  mit  Bilderschmuck 
zu  versehen  und  vielleicht  sind  hier  die  Bilder  des  nachschaffenden  Zeichners  wahrer  und  echter  aus¬ 
gefallen,  als  die  Gestalten  des  seinerzeit  so  sehr  überschätzten  Salon-Romanciers.  Im  gleichen  Jahre 
wie  das  «Barfüssle»,  1869,  erschienen  seine  Bilder  zu  «Hermann  und  Dorothea». 

Was  die  äusseren  Ehren,  die  Vautier  erfuhr,  betrifft,  so  haben  wir  verschiedener,  ihm  ertheilter 
Ausstellungsmedaillen  schon  gedacht.  Er  hat  deren  noch  viel  mehr  erhalten,  österreichische,  preussische 
und  bayerische  Orden  wurden  ihm  verliehen  und  er  war  Mitglied  der  Akademien  von  München, 
Berlin,  Wien,  Amsterdam  und  Antwerpen. 

Einer  der  Besten  seines  Faches  und  seiner  Zeit  hat  er  sich  einen  Platz  in  der  Kunstgeschichte 
für  immer  gesichert,  einen  Platz,  den  ihm  auch  die  neidlos  zuerkennen  mussten,  die  neben  ihm  nach 
ganz  anderen  künstlerischen  Zielen  strebten. 

Der  Lorbeer,  der  ihm  grünt,  wurzelt  im  Herzen  seines  Volkes. 


Benjamin  Vautier.  Studienzeichnun: 


li.  Vuutler  nlüx.  «“t.  F-  Haufstaeilgl,  Mimclieu 


DIE 


Münchener  Jahres-Ausstellungen  von  1898 

VON 

FRANZ  HERMANN  MEISSNER 

« Ein  selbständiges  Recht  hat  die  Technik  in  der  künstlerischen 
Thätigkeit  nicht;  sie  dient  lediglich  dem  geistigen  Prozess.  Nur  wo 
der  Geist  keine  Herrschaft  auszuüben  im  Stande  ist,  gelangt  sie  zu 
selbständiger  Bedeutung,  Wichtigkeit,  Ausbildung  und  wird  künstlerisch 
Werthlos  .  Conrad  Fiedler. 

«  Gefühl  ist  Alles!»  sagt  irgendwo  Goethe,  der  grosse  deutsche  Idealist  von  Weimar,  mit  der 
ihm  eigenen  Kürze  der  Sentenz.  Ein  neuerer  französischer  Nationalökonom  hat  diese  Formel  tenden¬ 
ziöser  gefasst ;  er  wendet  sie  auf  das  Leben  der  Völker  und  das  Gesetz  von  Wachsthum  und  Nieder¬ 
gang  an;  er  weist  überzeugend  nach,  dass  die  zu¬ 
kunftsfähige  Lebenskraft  eines  Volkes  nicht  auf  der 
Höhe  von  Technik,  Verkehr,  Existenzsicherheit,  Aus¬ 
bildung  der  Staatsorganisation  beruht,  —  vielmehr 
allein  von  der  Stärke  und  Richtung  seines 
Gefühlslebens  abhängt.  Die  Straffheit  der  Moral, 
eine  allgemeine  Lebensführung  mit  selbstbeherrschen¬ 
der  Hinsicht  auf  den  ganzen  Volkskörper,  die  an¬ 
gespannte  Seelenkraft  in  der  selbstlosen  Hingabe  an 
fruchtbare  Ideale,  —  das  sind  die  schöpferischen  und 
erhaltenden  Elemente,  mit  denen  Sparta,  Athen,  Rom 
im  Alterthum,  —  Spanien,  Italien,  Frankreich  im 
Ausgang  des  Mittelalters  aufsteigend  ihre  Grossthaten 
verrichteten;  «so  herrlich  weit  es  aber  alle  diese 
Volkskörper  in  der  Geschichte  auf  allen  Gebieten 
gebracht»,  —  nichts  konnte  den  Niederganor  und 
den  völligen  Verfall  aufhalten,  als  schrankenloser 
Egoismus  des  Einzelnen,  schwüles  Abirren  von  natürlichen  Anschauungen  und  Regungen,  Entartung, 
gedankenlose  Umwerthung  der  öffentlichen  Erscheinungen  die  Seelenkraft  geschwächt  hatten.  Denn 
mit  der  Seelenkraft  verliert  sich  der  Schwung,  und  ohne  den  blind  an  sich  und  sein  Werk  glaubenden 
Schwung  der  Geister  und  Seelen  wird  nirgends  mehr  eine  fruchtbar  weiterwirkende  That  gelingen. 

o  o  00 


Adalbert  Hynais.  Studie 


II  8 


50 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


im  Auge  haben,  neben  solchen  destruktiver  Art  gefunden  werden,  und  dass  den  Ausschlag-  für  den 
Zeitcharakter  die  stärkere  Strömung  gibt.  Für  die  Zeitgenossen  ist  es  demnach  stets  die  Kardinal¬ 
frage,  entweder  aufkeimende  destruktive  Kulturtendenzen  zu  unterdrücken  oder  aber  bei  bereits  vor- 
geschrittenem  Stadium  um  die  Gewinnung  neuer  Gesundheit  sich  thatkräftig  zu  mühen.  —  —  — 

ö  c>  o 

Das  treueste  Bild  unserer  Kunstströmungen  geben  heute  so  ziemlich  die  Jahresausstellungen ; 
in  Deutschland  in  erster  Linie  die  Münchner,  und  das  besonders,  weil  die  Beurtheilung  der  Lage 


durch  die  örtliche 
Trennung  der  zwei 
feindlichen  Strömun¬ 
gen  auch  dem  Laien 
einen  Einblick  in  das 
geheime  Wirken  der 

o 

geistigen  Richtungen 

möglich  macht. 

«_> 

Man  kann  von  dem 
Glaspalast  kurz 
sagen,  dass  in  ihm 
sich  die  Kunstarbeit 
des  gesunden  Volks 
in  seinem  Genie  wie 
in  seiner  werkthätigen 
Frische,  in  seiner  na¬ 
tionalen 
und  in  seiner  unge¬ 
brochenen  Kraft  ver¬ 
trauenerweckend 
spiegelt.  Auch  der 
diesjährige  Glaspalast 
wirft,  ein  gutes  Bild 
zurück:  in  Lenbach 


Gesinnung 

o 


maligen  Fehlens  der 
weiteren  Namen,  eine 
wie  bedeutende  und 
zukunftsvolle  Kunst 
wir  besitzen,  —  und 
er  zeigt  uns  in  der 
weiteren  Gesammt- 
heit  einen  erfreulichen 
Durchschnitt  mit  ge- 
sundem,  organisch 
gewachsenem  Ge- 
fühlsleben,  mit  klaren 
Anschauungen  und 
einer  augenscheinlich 
aufwärts  gehenden 
Technik.  In  ihm  kri- 
stallisirt  sich  die  so- 
lideRechtschaffenheit 
nicht  nur,  welche  die 
Münchner  Kunst  seit 
vielen  Jahrzehnten 
auszeichnet,  —  es  ist 
auch  thatsächlich  die 
Mehrzahl  der  gröss- 


und  Klinger  zeigt  er 

o  o 


ten  Leistungen  in  neu- 


,  . .  Carl  Bosscnroth.  Mondaufgang  im  Moos  „  . 

uns  trotz  des  dies-  ester  Zeit  in  seinem 

Gefolgskreis  entstanden.  Er  steht  hinter  seinem  Vorgänger  in  keiner  Weise  zurück.  Er  übertrifft  auch 
in  seinem  wirklichen  Gehalt,  wenn  man  in  unbefangener  Sachkenntniss  abwägt,  sicher  seinen  Secessions- 
rivalen  am  Königsplatz.  Sieht  dieser  zweifellos  pikanter  aus,  so  vergesse  man  nicht,  dass  Mixed-Pickles 
und  Sardellen  auch  pikant  sind,  —  dass  das  Pikante  aber  weder  für  die  geistige  noch  für  die  leibliche 
Nahrung  irgend  welchen,  —  es  sei  denn  einen  vernichtenden,  —  Werth  besitzt.  —  Hat  der  Glas¬ 
palast  einige  monotone  Säle  und  mancherlei  Minderwerthiges,  so  ist  zu  berücksichtigen,  dass  er  in  seinem 


K.  von  Leubach  pinx. 


Phot.  F.  Hanlstaeng!,  München 


Erica  und  Marion  Lenbaeh 


P.  von  Lenbacli  plnx. 


Pliot.  P.  llaufetucugl,  München 


Bildniss 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


51 


Caspar  Kitter.  Blumen 


System  einer  objektiven,  der  ganzen  nationalen  Hervorbringung  dienenden  Kunstpflege  im  Wettbewerb 
auf  ein  obenhin  bestechendes  Aussehen  mit  der  Secession  nicht  rivalisiren  kann  —  d.  h.  für  ein  ober¬ 
flächliches  Auge;  die  Secession  gibt  ja  ihrer  schönen  einstigen  Devise:  «Nothwehr  für  die  unterdrückte 
Jugend»  —  längst  die  praktische  Auslegung,  dass  durch  rabiates  Auswählen  unter  den  frischen  Kräften, 
—  soweit  sie  nicht  einem  bestimmten  Kreis  angehören,  —  ein  buntbewegter,  den  Laien  leicht  bien- 
dender  Eindruck  zu  erzielen  ist;  hätte  der  Glaspalast  in  diesem  Jahr  einmal  sich  zu  dem  gleichen 


kunstmörderischen  V  er¬ 
fahren  bequemt,  so 
würde  auch  der  Naivste 
sehen,  durch  welch’ 
eine  Summe  bedeuten¬ 
der  Würfe  und  durch¬ 
weg  gediegener  Leist¬ 
ung  er  dem  Unter- 
nehmen  am  Königsplatz 
überlegen  ist ! 

Von  der  Secession 
hörte  ich  in  München 
Viele  sagen,  dass  sie 
auffällig  still  stände. 
Das  stimmt  nicht.  Sie 
schreitet  in  Wirklichkeit 
rapide  in  ihrem  natür¬ 
lichen  Verfall  fort.  Sieht 


man  von  einigen  Frem- 


Hermann  Urban.  Jugend 


den  ab,  —  deren  Viele 
zum  Verdecken  eigenen 
Defizits  herangezogen 
sind,  —  so  bleibt  kaum 
ein  Dutzend  Namen 
solcher,  die  man  mit 
aufrichtiger  Freude  be- 
trachten  kann.  Die  sehr 
geschickte  Anordnung 
der  ersten  Säle  hilft 
darüber  so  wenig  hin¬ 
weg  als  die  durch¬ 
triebene  Einführung 
und  Anpreisung,  —  als 
die  Geschicklichkeit,  mit 
der  die  Secession  einen 
Theil  der  Tagespresse 
für  sich  zu  interessiren 
verstanden  hat.  Es  gibt 


54 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT.. 


—  und  die  Schlussfolgerung  ist  nicht  mehr  abzuweisen,  dass 
die  Episode  der  « Secession »  nunmehr  zu  Ende  geht.  —  — 

Gegenüber  diesem  Hurrahstil  überreizter  Nerven  und 
willenlos  jedem  Eindruck  vom  Ausland  überlassener  Sinne  im 
Secessionshaus  wirkt  der  Glaspalast  wohlthätig  mit  der  ruhigen 
und  nachdrücklichen  Dynamik  einiger  hochbedeutender  Schöpf¬ 
ungen  von  Zukunftstragweite  und  einer  grossen  Zahl  grund¬ 
solider  Arbeiten,  die  auf  dem  Boden  ehrlicher  Künstlerbegeister¬ 
ung  an  den  Welterscheinungen  und  eines  tüchtigen,  überall 
sich  hervorkehrenden  Handwerkskönnens  gewachsen  sind. 

Die  Hauptanziehungspunkte  bilden  hier  diesmal  zwei 
unserer  grössten,  einander  vollständig  entgegengesetzten  Künstler¬ 
persönlichkeiten,  —  nämlich  Len  b  ach  und  Ivlinger.  Man 
kann  von  der  über  ein  Dutzend  Werke  enthaltenden,  mit  der 
grössten  Feinheit  des  Zufälligen  vorgeführten  Sonderausstellung 
Lenbach's  schlechthin  nichts  Besseres  sagen,  als  dass  eine 
neue  Jugend  über  den  Künstler  gekommen  ist  und  er  die 
bisher  eingenommene  Höhe,  —  so  unglaublich  es  klingen 
mag,  —  noch  überboten  hat.  Seine  «  Halbfigur  einer  Zigeunerin  » 
ist  geradezu  ideal  vollkommen  und  eine  der  schönsten  Leist¬ 
ungen  des  Künstlers,  die  unbedingt  in  ein  grosses  Museum 
gehört.  Ist  dieser  runde,  etwas  nach  hinten  gewandte  Körper 
mit  dem  Gewandfetzen  wunderbar  gemalt,  —  ist  da  ein 
Schmelz,  eine  Wärme,  eine  Tiefe  im  Ton  und  eine  bethörende 
Stimmung,  welche  uns  ähnliche  Eindrücke  von  den  grössten 
Meistern  der  Geschichte,  —  einem  Tizian,  Rembrandt,  Rubens, 

—  lebendig  macht !  Und  diese  stupende  Wirkung  setzt  sich 
heuer  von  Bild  zu  Bild  fort,  wobei  diesmal  das  weniger 
Vollendete  seltene  Ausnahme  zu  bilden  scheint.  Da  ist  das 

erstaunlich  feine  und  schlagend  ähnliche  Bildniss  einer  älteren  Dame,  —  neben  ihm  das  süsse 
Köpfchen  einer  bekannten  Münchner  Malersgattin,  das  prächtig  im  flüchtigen  Augenblick  eines  auf¬ 
huschenden  Lächelns  erhascht  ist,  —  von  gleicher  malerischer  Genialität  aber  auch  das  Doppelbildniss 
in  Vollfigur  von  einer  jungen  Dame  und  einem  Mädchen,  dessen  kostbare  Farben  bestechend  aus  dem 
tonigen  Hintergrund  tauchen :  in  den  fremdartig-feinen  Zügen  mit  dem  Feuer  und  dem  sprühenden 
Geist  im  Auge  glaube  ich  Frau  von  Lenbach  selbst  zu  erkennen.  Ich  hebe  noch  das  kraftvolle 
Schauspieler-Bildniss,  den  reliefartigen  Bismarckkopf  und  Björnsons  Conterfei  heraus,  ohne  damit  die 
besten  Stücke  dieses  Lenbachsaals  annähernd  vollzählig  angeführt  zu  haben.  —  —  —  Was  das 
immer  wieder  Unbegreifliche  an  den  Lenbachschöpfungen  ist:  er  steht  fast  überall  —  seltene  Ausnahme 


F.  A.  von  Kaulbach  pinx.  Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


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Frau  von 


Kaulbaeh 


Kraftprobe 


ii  • 

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Max  Ring.  Am  Gemüsestand 

Copyright  1898  by  Franz  Hanfstaengl 


56 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


abgerechnet  —  sicher  auf  dem  Boden  der  Natur.  Seine  Farben  und  Töne  sind  das  Seltenste,  oft 
Köstlichste,  das  Musikalischste  möchte  ich  sagen,  was  ein  königlich  in  seinem  Reich  herrschender 
Geist  ausgesonnen  hat,  —  es  steckt  eine  grenzenlose  Arbeit  und  Vorbereitung,  ein  unglaubliches 
Beobachten  und  Nachdenken  in  diesen  scheinbar  so  mühelos  hingesetzten  Tondämmerungen,  die  in 
dieser  Finesse  und  Differenzirung  anscheinend  niemals  in  der  Natur  Vorkommen ;  aber  er  verliert 


trotzdem  nur  sehr 
selten  einmal  die 
Natur  aus  dem  Auge ; 
sie  steht  schweigsam 
überall  in  seinen 
Formen  und  in  jedem 
Gesichtsinhalt  als 
etwas  ihm  genau 
Bekanntes,  das  er  aus 
primitiver,  roh  wir¬ 
kender  Einfachheit 
erhöht,  mildert  und 
nach  seinen  Maler¬ 
instinkten  umgestal¬ 
tet.  Dieser  enge  Zu¬ 
sammenhang  von 
Natur  und  Geist  bei 
ihm  und  diese  könig¬ 
liche  Herrschaft  über 
die  Mittel  der  Kunst 
bedingen  Lenbach’s 
Grösse ;  man  darf 
heute,  wo  Böcklin’s 
und  Menzel’s  Werk 
mit  dem  Alter  dieser 
Maler  als  abgeschlos¬ 
sen  gelten  können, 


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Conrad  Kiesel.  Damenbildniss 


von  dem  jugend¬ 
frischen  Sechziger 
Lenbach  ohne  jeg¬ 
liche  Uebertreibung 
sagen,  dass  er  der 
erste  « Maler  »  der 
Gegenwart  ist.  Und 
dabei  ist  seine  Kunst 
in  ihrem  ganzen  Um¬ 
fassungskreis,  in  ihrer 
seelischen  Richtung 
doch  vollkommen 
national ;  sie  kann 
vorbildlich  dafür  sein, 
wie  ein  Künstler  in 
seinen  Mitteln  sich 
die  Erfahrungen  aller 
Völker  und  Zeiten 
der  Geschichte  dienst¬ 
bar  machen  darf, 
ohne  den  Zusammen¬ 
hang  mit  dem  Kunst- 
genius  seines  Vater- 
landes  zu  verlieren.  - 
In  einer  ganz 
anderen  Welt  der 
Kunst  doch  eine 


Lenbach  verwandte  Erscheinung  ist  K  1  i  n  g  e  r,  der  diesmal  sein  vielgenanntes,  in  der  «Kunst  unserer 
Zeit »  schon  mehrfach  besprochenes  Riesentriptychon :  « Christus  im  Olymp »  ausstellte.  Das  Bild  ist 
äusserst  ungünstig  angebracht.  Der  rothe  Koloss  zur  Linken,  der  blaue  zur  Rechten  sind  die  unge¬ 
eignetste  Nachbarschaft,  - —  das  grelle  Oberlicht,  das  durch  ein  besonderes  Velum  hätte  gedämpft 
werden  müssen,  macht  die  Farben,  welche  im  Vorjahr  auf  der  Leipziger  Gewerbeausstellung  und  in 
der  Werkstatt  des  Künstlers  blüthenfrisch  und  lebendig  wirkten,  kalt  und  hart;  dem  Bild  ist  bis  auf 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


57 


Anion  Lauphcimer.  In  Ferien 


die  durch  ihre  tiefere  Lage  begünstigtere  Predelle  fast  der  ganze  eigentümliche  Farbenreiz  genommen. 
Das  ist  sehr  bedauerlich  und  sollte  abgestellt  werden;  der  Glaspalast  hat  doch  gewiss  keine  Ursache, 
den  geschäftigen  Gegnern  eines  seiner  «Haupttrümpfe»  Wasser  auf  die  Mühle  zu  giessen.  Das  Bild 
darf  ich  aus  den  wiederholten  Beschreibungen  wie  aus  Abbildungen  als  so  bekannt  voraussetzen,  dass 
ich  ein  Eingehen  auf  seine  Einzelheiten  unterlassen  kann.  —  Was  Lenbach  unter  den  «Malern»,  ist 
Klinger  mit  seinem  zwischen  200  und  300  Nummern  zählenden  Gesammtwerk  unter  den  «Künstlern». 
Er  ist  Phantasiekünstler  grössten  Kalibers,  in  dem  die  Gedankengänge  von  Antike,  Renaissance,  der 
gesammten  Gegenwart  nach  künstlerischem  Ausdruck  drängen,  für  welchen  er  die  Stecherkunst,  die 
Plastik,  die  Malerei  verwendet  hat.  Seit  seiner  Reife  steht  er  in  den  Formen  streng  auf  der  Natur; 
aber  er  erhöht  die  Natur  wie  jeder  grosse  Künstler;  seine  Farben  sind  darum  ebenso  wenig  Natur¬ 
farben  wie  die  von  Lenbach;  er  sucht  im  Kolorit  gewisse  grosse  symbolische  Wirkungen,  die  seinem 
Bildproblem  dienen.  Das  haben  alle  grossen  Künstler  von  Giotto  bis  Michelagniolo,  von  den  Eycks 
bis  Dürer,  von  Cornelius  bis  Böcklin  gethan,  —  und  es  ist  wirklich  gut,  dass  die  Kunst  in  ihrem 


9* 


58 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Lauf  stets  noch  von  grossen  Künstlern,  nie  aber  von  schlechten  Kritikern  mit  mangelhafter  Kenntniss 
der  Kunstgeschichte  gemacht  wird.  Wenngleich  für  Ivlinger  persönlich  die  Malerei  die  sprödeste  unter 
seinen  Techniken  ist,  hat  er  doch  ein  als  Bild  so  ausgezeichnetes  Farbenkunstwerk  wie  das  « Paris- 
urtheil  »  geschaffen,  und  man  wird  auch  diesen  «Christus  im  Olymp»  trotz  mancher  ernsten  Einwände 
der  Zukunft  überlassen  können.  Dies  Werk  geht  seinen  Weg  mit  seiner  gedanklichen  Grösse,  seiner 
edlen  Formengebung,  seiner  Farbenkraft,  —  ob  der  Künstler  es  noch  einmal  übermalt  oder  nicht,  — 
es  ist  viel  zu  bedeutend.  Wie  wir  Germanen  aus  Gründen,  deren  Erörterung  hier  zu  weit  führt,  wohl 


am  tiefsten  in  die  welt¬ 
geschichtlichen  Prob- 

o 

lerne  der  Antike  und 
der  Renaissance  ein¬ 
gedrungen  sind,  —  so 
ist  auch  dies  Werk  wie 
andererseits  Ibsen’s 
«  Kaiser  und  Galiläer  » 
ein  Zeuge  davon;  ferner 
aber  auch  dafür,  wie 
grossartig  der  ideelle 

o  o 

Zusammenprall  von  An¬ 
tike  und  Christenthum 
von  einer  modernen 
Künstlerphantasie  er¬ 
schaut  worden  ist. 

Klinger  ist  im  ge- 
sammten  Nord-  und 
Mitteldeutschland  heute 
rückhaltlos  anerkannt; 
wo  man  ihn  im  Ein¬ 
zelnen  nicht  goutirt, 
hält  man  sich  mit  gutem 
Takt  zurück,  weil  man 
mehr  zu  tasten  ist,  wird  verherrlicht, 


Alberi  Hynais.  Studie 


sich  sagt,  dass  ein  be- 
deutender  Künstler  am 
Ende  doch  Recht  hat; 
man  ist  durch  die  Er¬ 
fahrungen  mit  Menzel 
und  Böcklin  gewitzigt; 
die  Opponenten  der 
70er  und  80er  Jahre 
gegen  beide  haben 
Haare  auf  der  Wahl¬ 
statt  gelassen,  —  sie 
haben  als  schliesslich 
nicht  ernst  genommene 
Leute  ihre  kritische 
Thorheit  mit  der  Lauf¬ 
bahn  bezahlt  und  sind 
grösstentheils  ver¬ 
schwunden.  Aus  einer 
bestimmten,  sehr  ge¬ 
kannten  Münchner 
Gruppe  heraus  wird 
jetzt  dasselbe  mit  Klin- 
ger  erlebt.  Böcklin,  an 
dessen  Stellung  nicht 


aber  die  *  Allegorie  »  (Böcklin  hat  kaum  Anderes  je  gemalt:) 


gilt  ihnen  u.  A.  als  künstlerisches  Unding  und  veraltet.  Die  Allegorie  beherrschte  leider  nun  alle 
Zeiten  der  Kunstgeschichte,  —  wie  kann  man  ohne  sie  Michelagniolo's,  Rubens  Namen  nennen  !  — 
sie  wird  immer,  wo  intensives  Geistesleben  sich  mit  dem  Formentalent  der  Kunst  vereinigt,  die 
Darstellung  eines  Künstlers  bestimmen.  Das  wird  nie  anders  sein  und  immer  werden  die  Kunst- 
gesetze  aus  den  grossen  Kunstwerken  abgeleitet  werden  müssen.  Den  grossen  Kunstwerken  aber  ist 


es  eigenthümlich,  dass  sie  immer  vom  Wesen  der  schaffenden  Künstlernatur  bestimmt  werden:  der 


Orpheus  und  Eurydike 


Stuck  pinx. 


Copyright  1898  by  Franz  Hanfstaengl 


Pallas  Athene 


Orrin  Peck.  Kohlkrautgarten 


60 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


eine  leistet  Unvergängliches  im  malerischen  Ausdruck 
wie  Lenbach,  —  der  andere  zieht  als  einsamer  Phi¬ 
losoph  die  Quintessenz  aus  der  Geschichte  und  formt 
sie  zum  Werk  der  bildenden  Kunst  wie  Klinger,  — 
der  dritte  schildert  die  bunten  Bilder  des  Lebens  un¬ 
mittelbar  nach  der  Natur  wie  Menzel  und  Defregger, 
ein  vierter  lässt  sich  Paradiesesträume  einfallen 
wie  Böcklin.  Ein  Jeder  wird  trotz  aller  Schul- 
meistereien  Recht  behalten  müssen.  Das  Einzige, 
was  in  der  Kunst  nicht  das  mindeste  Daseinsrecht 
besitzt,  das  ist  die  Stümperei,  die  mit  frecher  Miene 
vorgibt,  Meisterschaft  zu  sein,  —  ist  die  seelenlose 
Mache  und  jener  prahlende  «Verzicht»  auf  Geist, 

Bildung,  die  Errungenschaften  viel  tausendjähriger  Kul¬ 
turarbeit,  welcher  im  Grunde  nichts  als  Zugeständ¬ 
nis  blödester  Geistes-  und  Herzensarmuth  ist.  —  Nikolaus  Gysis.  Studienkopf 

Unter  den  übrigen,  der  Phantasie  huldigenden  Werken  der  Ausstellung  sind  einige  Collektiv- 
Abtheilungen  zu  nennen.  So  die  interessante  von  Gysis  mit  ihrer  Vielseitigkeit  und  ihrem  graziösen 
Charakter,  —  so  auch  die  vornehmen  Tafeln  von  Löfftz;  der  Meister  hat  seine  langerwartete  Dar¬ 
stellung  von  «  Orpheus  und  Eurydike  »  gebracht,  —  zwei  ausgezeichnete  Männerakte  und  ein  bekleidetes 

zartes  Weib  dazwischen  mit  schönem  Rythmus 
der  Bewegung,  mit  einem  sehr  delikaten  Farben- 
geschmack,  mit  bestechendem  Schönheitsgefühl; 
es  ist  im  antikisirenden  Stil  der  älteren  deutschen 
Schule  eine  sehr  anmuthige  Schöpfung,  welche 
es  wohl  verdient,  in  der  Pinakothek  neben  des¬ 
selben  Meisters  berühmter  « Grablegung »  zu 
hängen.  Erreicht  sie  diese  auch  nicht  ganz,  so  ist 
sie  doch  ein  mit  unendlicher  Liebe  und  Andacht 
geschaffenes  Werk.  —  Ein  sehr  verheissungs- 
volles  koloristisches  Talent  ist  ferner  das  von 
Raffael  Schuster- W o lda n ,  der  Jahr  für  Jahr 
in  junger  Meisterschaft  gewachsen  ist.  Er  ist  ein 
Phänomen  an  Farbengeschmack  und  hier  von 
hoher  Feinheit,  - — -  wofür  seine  «Legende»  ebenso 
Beweis  ist  als  das  entzückende  Mädchenbildniss 
mit  seinem  System  grüner  Töne.  Kann  man  von 
Emst  Thaiimaier.  Lektüre  seinem  «  Selbstbildniss  »  sagen,  dass  es  meisterhaft 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Gl 


charakterisirt  noch  ausserdem  ist,  so  geschieht  es  mit  einer  gewissen  Beruhigung,  dass  dieses  kolo¬ 
ristische  Talent  Dank  neutralisirender  Gabe  an  der  Klippe  des  Versandens  in  der  Koloristik  schwerlich 
scheitern  wird.  Wir  wissen  auch  von  früher  her,  wier  herzhaft  der  Künstler  sein  kann,  mit  dem  wir 
uns  in  Kurzem  noch  näher  beschäftigen  werden.  Uebrigens  ist  auch  sein  Damenbildniss  nach  dem 
Vorbild  des  bekannten  Selbstbildnisses  von  Vigee  Le  Brun  eine  sehr  treffliche  Arbeit.  Bei  der  Secession 
ist  noch  Stuck  hervorzuheben.  Seine  längst  bekannte  «  Kreuzigung »  wirkt  hier  ungleich  günstiger 
Dank  besserer  Beleuchtung,  als  diejenige  seiner  Zeit  bei  der  Berliner  Ausstellung  war,  und  lässt  die 
wuchtigen  Massen  der  Farben  viel  glücklicher  Zusammengehen.  Man  sieht  bei  solchen  Vergleichen, 
wie  viel  bei  einem  Bild  auf  die  richtige  Beleuchtung  und  passende  Nachbarschaft  ankommt.  Unter 
mehreren  kleineren  Tafeln  sind  noch  eine  neue  Auffassung  der  «Pallas  Athene»  als  von  guter 
malerischer  Durchführung,  —  ein  neues  Selbstbildnis  daneben  besonders  hervorzuheben. 


Hermann  Moest.  Das  Los  des  Schönen 


Nicht  viele,  aber  zum  Theil  hochachtbare  Werke  gehören  dem  religiösen  Stoffkreis  diesmal  an. 
Hier  ist  seit  Jahren  ein  spürbares  Versagen  festzustellen,  das  einem  Zeitzuge  entspringt.  Eine  Er¬ 
nüchterung  ist  vorhanden,  die  als  ein  Rückschlag  gegen  die  reiche  Pflege  des  Gebiets  bei  den  Münchnern 
und  Düsseldorfern  in  den  ersten  drei  Vierteln  des  Jahrhunderts  gelten  kann.  Das  Wenige,  welches 
hervorgebracht  wird,  macht  den  Eindruck  bestellter  Arbeit  für  Kirchen  und  Kapellen  oder  aber  des 
gleichgiltigen  Versuchs  mit  neuen  Wegen  der  Auffassung,  der  Technik,  —  der  naive  Glaube  und  die 
selbstvergessene  Andacht  wird  selbst  im  Besten  oft  vermisst.  Trotz  dieses  kleinen  Minus  indessen  ist 
Marr’s  aufsehenerregende  «Madonna»  nahezu  ein  voller  Wurf.  Es  ist  malerisch  eine  sehr  tüchtige 
Arbeit  mit  einer  glänzenden  Behandlung  des  Beleuchtungsprinzips  nach  dem  berühmten  Correggio 
der  Dresdner  Galerie,  und  die  Lieblichkeit  der  «  Madonna »  und  des  Bimbo,  die  süsse  Kindlichkeit 
der  kleinen  Engel  im  Halbkreis  und  die  ergriffene  Unschuld  der  Grossen  dahinter  sind  Bildelemente  von 


62 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


grossem  Gewicht ;  nur 
stört  mir  das  erstarrte 
Pathos  der  Engelgeber- 
den  die  Wirkung-  gerade 
so  sehr  als  das  knallige 
Roth  des  Madonna- Kopf¬ 
tuchs,  —  und  ich  möchte 
wünschen ,  dass  der 
Künstler  hier  nochmals 
den  Pinsel  ansetzt. 

Daneben  ist  auch  eine 
gross  und  wuchtig  er- 
dachte  «  Adoratio  crucis  » 
von  Thedy  zu  nennen, 
die  viele  treffliche  Eigen- 
schäften  hat  und  trotz 
einer  gewissen  Herbheit 
durchgebildeter  Formen 


Anton  Alontemezzo.  Leckerbissen 


Züge  offenbart.  —  Der 
talentvolle,  aber  ungleiche 
Corinth  bewegt  sich  auf 
seiner  «Kreuzigung»  in 
der  bei  ihm  schon  be¬ 
kannten  quattrocentisti- 
schen  Formenwelt  der 
Präraphaeliten  mit  dies¬ 
mal  noch  trockenerer 
Farbe,  überrascht  dage¬ 
gen  auf  der  frisch  hin¬ 
gesetzten  kleinen  «  Ver- 
suchung  des  hl.  Antonius  » 
durch  die  Fülle  der  Be¬ 
wegungsmotive  sowie 
drastischer  Verkörperun¬ 
gen  von  der  Sünde  in 
dieser  vergänglichen  Welt. 
—  Ein  anmuthiges  Stück 


doch  feine  psychologische 

ist  der  kleine  MadonnenkopI  in  originellem  Rahmen  von  dem  auch  beim  Bildniss  mit  Auszeichnung  zu 
nennenden  Echtler,  —  nicht  minder  distinguirt  aber  auch  —  least  not  last  —  Nonnenbruch’s 
sehr  empfundene  «Verklärung»  mit  der  süssen,  von  Engelsköpfen  umgebenen  Engelsgestalt,  — 
die  nur  für  meinen  Geschmack  um  ein  paar  Striche  zu  weich  gehalten  ist. 

Von  grosser  Historie  ist  nur  ein  Paradebild  von  Braun  zu  nennen,  das  den  Prinzregenten 
mit  seinem  Stab  eben  die  Front  eines  Regiments  abreitend  darstellt.  Die  malerisch  widerstrebende 


Aufgabe,  modernes 
Militär  und  seine 
Stäbe  während  der 
Paradestellung  bild- 
nissähnlich  und  na¬ 
mentlich  in  bayer¬ 
isch-blauer  Uniform 
darzustellen,  ist,  so 
gut  es  geht,  behan¬ 
delt,  —  —  über¬ 
triebene  künstler¬ 
ische  Anforderungen 
darf  man  an  solche 


Werke  nicht  stellen, 
da  hier  der  militär¬ 
ische  Zweck  die 
Hauptsache  ist.  — 
Mannigfach  und 
theilweis  recht  an- 
muthig  ist  das  Phan¬ 
tasiestück  vertreten . 
Da  ist  ein  origi- 
neller  Einfall  von 
Pacher,  welcher  in 
seinen  «  Abschieds¬ 
gedanken  »  mit 


Franz  Grassel.  Enten 


-  Copyright  1898  by  Franz  Hanfstaengl 

M.  Nounenbruch  pmx.  »  ■> 


Verklärung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


03 


einer  Stehlei- 


Leopold  Schmutzler.  Ein  Spazierga 


runde  Figuren 

ö 


eigentlich  wenig  bedeutenden  Mitteln  eine  sehr  hübsche  Sache  zu  Stande  brachte.  Ein  in  letzter 
Dämmerung  dahinrollender,  sehr  plastisch  gemalter  Zug  an  einer  Kurve,  —  letzter  Glast  am  Horizont, 
—  am  hellen  Coupeefenster  ein  träumender  Mann,  vor  dessen  verlorenem  Auge  aus  den  Wiesennebeln 
am  Bahndamm  Faschingsgestalten  sich  bilden  und  zu  ihm  empordrängen.  Es  liegt  eine  eigene  Wirkung 
in  dem  Bild,  —  ein  feines  Erhaschen  jener  Stimmung  des  einsamen  Indienachthineinfahrens  und  melan¬ 


cholisch  leben¬ 
digen  Räder- 
gerolls,  wenn 
das  Herz  zu¬ 
rückbleibt,  wo 
die  Fahrkarte 
gelöst  ward. 
Verwandt  im 
System  der 
Erfindung  ist 
diesem  Bild 
ein  neuer 
M  a  1  c  z  e  w  s  k  i , 
dessen  heuri¬ 
gen  Gegen¬ 
stand  ich  vor 
Langem  von 
ihm  einmal  in 
malerisch  noch 
feinerer  Lös¬ 
ung  behandelt 
sah:  Ruhmes¬ 
träume  eines 
jungen  Kunst¬ 
handwerkers. 
Da  sitzt  auf 


Malerlehrling 
und  stiert  vor 
sich  hin,  in¬ 
dessen  die  ihm 
entfallenen 


grossen  Scha- 


lang- 


blonen 
sam  zur  Erde 
schaukeln  ; 
ihr  Geräusch 
macht  Gestal¬ 
ten  vor  sei¬ 
nem  Auge 
wach,  —  bunte 
Gestalten,  die 
er  einst  dar¬ 
stellen  wird 
und  die  ihmdie 
heiteren  Freu¬ 
den  erfolg¬ 
reichen  Künst¬ 
lerlebens  ver¬ 
führerisch  her¬ 
zaubern.  Die 
Kunst,  mit  der 
Malczewski 


ter  oben  ein  in  schwerofe- 

wichtslosem  Schweben  und  triebhaft  bestimmter  Bewegung  darstellt,  ist  frappant,  —  ich  kann  nicht 
ergründen,  woran  es  liegt,  —  aber  man  glaubt  ihm  seine  Fleisch  und  Blut  gewordenen  Träume. 

Georg  S  ch  u  st  e  r  -  Woldan  mit  einem  Eckehard,  —  das  noch  ungeklärte  aber  gewiss  ent¬ 
wickelungsfähige  Talent  von  M  ülle  r -S  chönefeld  in  seinem  «Märchen»,  —  Huber  mit  einem 
Lucifer,  —  Strathmann  mit  einem  neueren  seiner  originellen  und  kunstgewerblich  hochinteressanten 


II  io 


6G 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ähnlich,  vollendet,  wesenhaft  wirkend,  weil  das  Bestimmende  in  ihrer  Erscheinung  nicht  obenhin, 
sondern  «in  der  Tiefe  des  Seelenmysteriums  begriffen»  ist.  —  Man  weiss  ja,  dass  auch  Lenbach  oft 
lange  vor  dem  Malen  im  persönlichen  Verkehr  sich  in  das  Wesen  seiner  Personen  hineinfühlt,  und  wer 
sein  märchenhaftes  Werkstatt-Museum  kennt,  dem  ist  vielleicht  aufgegangen,  welche  starke  Suggestion 
es  auf  den  ausüben  muss,  der  öfter  zur  Bildnisssitzung  hierher  kommt :  er  lässt  unter  dem  Stimmungs¬ 
eindruck  der  hier  beisammen  befindlichen  Jahrhunderte  in  sorgfältig  erlesenen  Werken  derselben  den 
Alltag  seiner  Meinungen  und  Launen  von  heute  draussen,  —  er  wird  gefügig  und  stillbescheiden  und 
verräth  unbewusst,  was  sein  eigentliches  Milieu  ausmacht. 

Unter  den  zahlreich  vorhandenen  guten  Bildnissen  ausserhalb  der  Säle  von  Lenbach  und  Kaulbach 
ist  diesmal  Echtler  besonders  hervorzuheben,  der  den  Prinzregenten  in  sehr  schlagender  und  malerisch 
höchst  geschmackvoller  Weise  darstellte.  Er  modellirte  gut,  zog  das  Licht  in  der  Hauptsache  auf 
den  Kopf  in  jener  glücklichen  Art,  die  uns  bei  Herkomer  und  der  Parlaghy  schon  entgegengetreten  ist; 
sie  erfordert  eine 
sichere  Kenntniss 
der  Mittel,  die  man 
dem  Bild  von  Echt¬ 
ler  nachzurühmen 
hat.  Es  ist  das  erste 
mir  bekannt  eewor- 
dene  Bildniss  von 
des  Künstlers  Hand, 
und  ich  bekenne 
gern,  eine  ange- 
nehme  Ueberrasch- 
ung  davon  gehabt 
zu  haben,  weil  so 

des  Auges  charakterisirt  und  wie  geschickt  das  in  den  Farben  changirende  Kleid  gemalt!  —  so  gut, 
dass  dem  Laien  die  Kunst  darin  kaum  auffallen  wird.  Das  Inkarnat  könnte  ein  wenig  frischer  und 
der  Schwung  in  der  Darstellung  ein  wenig  herzhafter  sein,  aber  auch  ohnedem  erregt  das  Bild  Auf¬ 
merksamkeit  für  sich,  wie  für  einen  sich  solide  und  ehrlich  auswachsenden  Künstler,  der  seinen  Weg 
sicher  geht  und  reifen  wird.  —  Berenyi’s  Bildniss  unseres  Frankfurter  Malerpoeten  Hans  1  homa 
gehört  mit  seinem  Kontrast  von  Dunkel  und  Hell  auch  zum  Besseren,  wenngleich  zu  bemerken  ist, 
dass  der  ungarische  Künstler  trotz  des  koketten  Durchblicks  auf  einen  kleinen  Odenwald  -  Hain  das 
eigentlich  Thoma’sche  nicht  recht  gefasst  hat.  —  Frau  Parlaghy  hat  neuerdings  keine  glückliche 
Hand,  wie  das  hier  ausgestellte  Bildniss  neben  anderen  neuen  Arbeiten  in  Berlin  zeigt.  Sie  wird  hart, 
unvermittelt,  sucht  schlagende  Wirkungen  mit  rohen  Mitteln.  Das  thut  ein  Künstler  dauernd  nur  auf 
Kosten  seines  Talentes,  weil  gerade  diese  Form  des  Abirrens  mit  dem  faden  Virtuosenziel  im  Auge 
einer  falschen  Anschauungsrichtung  entspringt;  es  wäre  bedauerlich,  wenn  die  schöne  Begabung  der 


Stanislaus  Grocholski '.  Verlangen 


reife  Werke  doch 
sonst  immer  das  Er- 
gebniss  langer  Ueb- 
ung  zu  sein  pflegen. 
—  Auch  Schwill, 
dessen  sehr  an¬ 
sprechendes  Selbst- 
bildniss  ich  im  vori¬ 
gen  Jahr  schon  her¬ 
vorhob,  ist  wieder 
sehr  bemerkens- 
werth.  Wie  treffend 
ist  die  Dame  in  dem 


gütigen  Lauschen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


G7 


Künstlerin  sich  auf  diese  Weise  ruiniren  sollte.  —  Unter  vielem  Trefflichen  sind  hier  ferner  anmuthDe 

o 

und  geistvolle  Mädchenköpfe  von  Erdtelt,  —  Zimmer mann’s  im  Ton  so  sehr  als  in  der  schlichten 
Charakteristik  vornehmes  Bildniss  von  Staebli,  —  von  Raff  ein  sehr  wirkungsvolles  und  gut  prä- 
cisirtes  Damenbildniss,  —  gute  Arbeiten  von  Kirchbach,  Thor,  —  von  Orrin-Peck  ein  süsses 
rubensfarbenes  Kinderstück.  —  von  Fröhlich  anzuführen,  ohne  dass  in  dem  hier  gegebenen  Rahmen 
sich  das  Hervorragende  erschöpfen  liesse. 

Interessante  Tafeln  sind  auch  jene  von  Höflinger,  —  ein  rund  herausgearbeiteter,  frischer  und 
pikanter  Frauenkopf  mit  kecken  Farbengegensätzen,  der  gegen  eine  Fandschaft  abgesetzt  und  als  eine  sehr 

-  sowie  das  anmuthige  Frauenbildniss  von  Hoff,  dessen  feines, 

ung,  welche  die 


geschickte  Arbeit  hervorzuheben  ist 

o> 


zu  weich  be¬ 
handeltes  Ge¬ 
sicht  von  einem 
teppichartigen 
Fandschafts- 
hintergrund 
sich  abhebt ; 
auch  diesem 
ansprechenden 
Suchen  nach 
frischer  Auf¬ 
fassung  wird 
eine  grössere 
Herbheit  erst 
die  rechte 
Würze  geben. 
Beide  Arbeiten 
bewegen  sich 
in  der  Richt- 


Richard  Falkeiiberg.  Ophelia 


altniederlän¬ 
dische  und  die 
mit  ihr  so  eng 
zusammen¬ 
hängende  alt- 
deutsche  Kunst 
langevertreten 
hat.  —  — 
Die  Kunst¬ 
weise  der  Ju¬ 
gend,  wie  sie 
von  der  Seces¬ 
sion  in  den  er¬ 
sten  Jahren 
vertreten  ward, 
hat  sich  mit 
ziemlicher  Viel¬ 
seitigkeit  des 
Wollens  auch 


dem  Bildnissgebiet  zugewandt,  —  im  Verlauf  eines  Jahrzehnts  manche  anerkennenswerthe  Schöpfung 
hier  hervorgebracht,  —  im  Ganzen  jedoch  keinen  Boden  gewonnen ;  es  ist  eines  der  charakteristischen 
Zeichen  für  die  gegenwärtige  Fage,  dass  das  Publikum  sich  kühl  gegen  Gemaltwerden  im  «  modernen » 
Sinne  verhält,  und  dass  keines  von  den  Talenten  dieser  Art  auf  kommt.  Das  liegt  in  der  Sache 
selbst  begründet.  Die  « moderne »  Kunst  hat  die  Betonung  auf  die  zufällige  Erscheinung  des  Augen¬ 
blicks,  demgemäss  malerisch  auf  blosse  Palettenkünste  gelegt,  —  sie  ist  in  der  Charakteristik  auf  rein 
äusserliche  Momente  ausgegangen,  so  dass  der  Mensch,  sein  Wesen,  sein  Charakter  zur  Nebensache 
vielfach  geworden  ist.  Und  damit  ist  die  Grundfrage  der  Bildnisskunst  eben  übersehen  worden.  Wie 
man  sich  aber  auch  als  Neuerer  und  Erfinder  geberden  mag-  und  der  Tamtam  kritikloser  Freunde  für 

ö  o 


68 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ein  paar  Jahre  Einem  auch  Recht  zu  geben  scheint:  man  kommt  weder  in  der  Kunst  noch  sonstwo  um 
die  Grundgesetze  herum,  die  begriffen  und  berücksichtigt  werden  müssen,  um  etwas  Dauerndes  zu  schaffen. 
Auch  diese  Erscheinung-  der  modernen  Kunst  hat  dazu  noch  einen  anderen  Haken,  als  gemeinhin  in 

o  1  o 

den  Erlassen  der  Partei-Bonzen  zu  lesen  steht.  Man  kann  nirgends  weniger  schwindeln  als  in  der 
Bildniss-Malerei ;  da  heisst’s :  unbedingt  bis  in  das  Kleinste  hinein  zeichnen,  die  Palette  unterordnen, 
kraft  hoher  Bildung-  und  divinatorischer  Gabe  in  einem  Menschenantlitz  lesen  zu  können.  Dazu  thut 
angeborene  Fähigkeit  viel,  —  aber  die  Bedingung  bleibt  immer  bestehen,  dass  Energie  der  Vertiefung 
und  Ausdauer  die  persönliche  hohe  Kulturstufe  erzeugen  müssen,  von  der  aus  der  Künstler  souverain 
durch  das  Antlitz  hindurch  in  die  Menschenseele  hineinblickt.  Die  technische  Erleichterung,  welche 
die  modernen  Malprinzipien  ihren  Jüngern  gewährt,  sind  sehr  verhängnisvoll  bei  einem  erdrückenden 
Prozentsatz  derselben  geworden :  es  fehlt  der  Zwang  der  Versenkung,  weil  nicht  so  oft,  ausdauernd, 
beobachtend  an  ein  Werk  die  Hand  gelegt  werden  muss.  Es  geht  alles  so  schnell  heute;  damit 
fällt  das  selbsterziehliche  Element  in  der  Technik  fort;  das  Denken  innerhalb  der  Sache  entwickelt 
sich  nicht  weiter,  —  es  verlernt  sich  mehr  und  mehr  wie  jede  nicht  ständig  geübte  menschliche 
Eigenschaft.  Lässt  man  sich  als  Beschauer  von  billigen  Kunststücken  nicht  blenden,  so  wird  man  in 
modernen  Ausstellungen  oft  auf’s  Höchste  überrascht,  welch’  ein  Mangel  von  Intelligenz,  an  bewusstem 
Sehenkönnen,  an  Bildung  hinter  der  Mehrzahl  der  «modernen»  Bildnisse  gähnt.  Und  das  fühlt  das  Publikum 
instinktiv;  daher  die  grosse  Menge  von  «Dargestellten  in  öffentlicher  Stellung»  auf  unseren  Ausstellungen, 


Erich  Kubiei schky.  Abendlandschaft 


Carl  Böhme.  Scirocco  (Motiv  von  Capri) 


70 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


und  demgegenüber  nur  ein  paar  Brosamen  wirklich  und  in  baarem  Gelde  bezahlter  Bildnisse,  also  von 
Arbeiten,  die  über  das  Verhältniss  des  Publikums  zur  Sache  einige  gewichtige  Rechenschaft  geben. 

An  Tafeln  von  unleugbarem  Talent  und  wahrscheinlicher  Entwickelungsfähigkeit  sind  in  dieser 
modernen  malerischen  Richtung  beim  Glaspalast  zwei  Bildnisse  des  von  den  Schotten  beeinflussten  Malers 
Kn  irr  hervorzuheben,  dessen  Halbfigur  einer  jungen  Dame  allerdings  in  Geschmack  der  Farbe  und 
Auffassungskraft  die  kleineren  Bilder  nicht  erreicht.  Auch  Matiegzeck’s  Damenbildniss  ist  eine 
leine  und  geistvolle  Arbeit  voll  bewussten  Könnens,  bei  der  nur  der  Scherz  mit  dem  Schatten  auf  der 
unteren  Gesichtshälfte  hätte  wegbleiben  können.  In  der  Secession  steht  Uhde’s  gut  gemalter  und 
farbig  in  der  Muffigkeit  der  Armeleut  -  Existenz  famos  getroffener  alter  Kerl  auf  diesem  Boden; 
warum  aber  verzichtet  ein  so  ausgezeichneter  Charakteristiker,  wie  Uhde  vordem  war,  auf  seine  vielleicht 


beste,  sicher  aber  ent¬ 
wicklungsfähigste  Emen- 
schalt,  indem  er  nicht 
mehr  als  die  blosse  Er¬ 
scheinung  gibt?  Velas- 
quez,  der  ihm  bei  der 
Auffassung-  vorgeschwebt 

ö  O 

zu  haben  scheint,  hätte 
ihm  auch  den  Hinweis 


geben 


onnen. 

Eine  merkwürdige  und 
leider  nicht  in  gutem 
Sinne  bezeichnende  Zeit¬ 
erscheinung  ist  sicher  die- 
jenige ,  dass  alle  die 
jüngeren  Leute,  welche 
sich  von  Lenbach  und 
seiner  Richtung  abge- 


Otto  Propheter.  Bildniss  des  Professors  Ferdinand  Keller 


wandt  haben,  um  «neue 
Wege»  der  Bildnisskunst 
zu  suchen,  fast  insgesammt 
wurmstichigen  Verfall- 

o 

manieren  nachgehen  und 

o 

sich  streng  hüten,  beim 
Nächstliegenden  und  Na¬ 
türlichsten  anzuknüpfen : 
nämlich  bei  der  stamm¬ 
verwandten  altniederlän¬ 
dischen  und  der  altdeut¬ 
schen  Bildnisskunst.  Von 
Jan  van  Eyck  bis  Cranach 
ist  hier  eine  Anzahl  von 
Meisterleistungen  über- 
kommen  und  hängt  in 
München,  Berlin  und  Dres¬ 
den  doch  so  leicht  zu¬ 


gänglich  aller  Welt  vor  Augen,  dass  diese  bloss  weit  aufgethan  zu  werden  brauchen,  damit  sie  in 
der  glänzenden  Farben  -  Gluth  und  Pracht,  der  schlagenden  Charakteristik,  der  gemiithvollen  Liebe 
unsere  beste  Volkskraft  der  Vergangenheit  erkennen.  Freilich  hängt  diese  Kunst  mit  der  zeich- 
nerischen  Illustration  und  dem  Kunstgewerbe  noch  so  eng  und  natürlich  zusammen,  dass  ihre  Neu¬ 
erweckung  an  den  Lerneifer,  die  Ausdauer,  das  ehrliche  Gewissen  der  Nachtastenden  grosse  An¬ 
forderungen  stellt.  Aber  bedeutende  Kunst  erfordert  immer  die  völlige  Hingabe.  Wo  sich  die  Neigung 
des  Einzelnen  etwa  gegen  die  von  Lenbach  angebahnte  Richtung  wehrt,  da  liegt  für  einen  ernsthaft 
wollenden,  weitschauenden  und  ein  nationales  Gewissen  besitzenden  Künstler  eine  weite  und  ent¬ 
wicklungsfähige  Bahn.  Böcklin’s  Bildnisse,  Thoma’s  Selbstbildniss  in  Dresden,  —  was  ferner  der 
Frankfurter  Pidoll  hier  vereinzelt  neben  einigen  Anderen  auf  Dürers  und  Holbein’s  Bahn  versuchten, 


:: 


Ruftüel  Schuster- Wold; 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


Die  Malerin 


Ly 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


71 


Carl  Becker.  Abend  an  der  Nordsee 


haben  nachdrücklich  bewiesen,  wie  künstlerisch  und  zeitgemäss  diese  von  Dummköpfen  gern  als 
«veraltet»  ausgegebenen  Stilweisen  sich  fortführen  lassen. 

Auch  Anetsberger,  dessen  Namen  ich  zum  ersten  Male  antreffe,  lieferte  in  seinem  ausge¬ 
zeichneten  Herrenbildniss  in  der  Secession  den  gleichen  Beweis.  Eine  wie  feine  und  bewusste  malerische 
Kunst  ist  hier  entfaltet  und  wie  trefflich  ist  in  diesem  Gesicht  ein  feingebildeter,  kritisch  veranlagter, 
sehr  energischer  Charakter  ausgedrückt!  Man  kann  sich  sogleich  lebhaft  vorstellen,  wie  die  Klangart 
der  Stimme  aus  diesem  Munde  schallen  muss,  —  welches  die  Bewegungen  und  Manieren  des  Dar¬ 
gestellten  sein  müssen. 

Von  den  3  guten  Ausländerbildnissen,  welche  die  Schwäche  der  deutschen  Secessionsmalerei 
ihrerseits  mitverdecken  müssen,  ist  Herkomer’s  schon  bekanntes  Bildniss  einer  edelrassigen  englischen 
Schönheit,  einer  wahren  Ahnin  für  ein  kommendes  mehrhundertjähriges  Geschlecht,  ein  ebenso  beredtes 
Zeugniss  für  die  geistvolle  Holbein-Nachfolge  in  dem  mit  so  vielen  guten  Holbeins  und  noch  mehr 
trefflichen  Kopien  gesegneten  England,  —  zeugt  auch  Knopff’s  ohne  grossen  Mittelaufwand  bestechend 
gut  gemaltes  Stück  mit  einem  süss  aufgefassten  kleinen  Mädchen  in  drolliger  Stellung  der  Erwartung 
an  einer  Zimmerthür  dafür,  wie  fein,  geistreich  und  neuartig  der  Künstler  Anregungen  der  altnieder- 


11  11 


72 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ländischen  Kunst  ausgebildet  hat.  — -  Der  Dritte  ist  Segantini,  von  welchem  man  ein  älteres 
Künstlerbildniss  aus  der  Zeit  vor  seiner  heutigen  Spachteltechnik  erblickt.  Auch  das  ist  ein  Meister¬ 
werk  in  seinem  System  äusserst  stimmungsvoller  Halbtöne,  der  tiefen  Ruhe  in  Haltung  und  Heraus¬ 
bildung  der  animalischen  Erscheinung,  der  verhaltenen  Kraft  in  der  energischen  Persönlichkeitsgabe. 
Was  ich  schon  aus  der  neueren,  herbkräftigen  Stilweise  des  norditalienischen  Malers  schliessen  zu 
können  glaubte,  scheint  sich  auch  hier  zu  bestätigen :  wie  bei  dem  Menschenschlag  ganzer  nord¬ 
italienischer  Striche,  Toskana  eingeschlossen,  lliesst  anscheinend  auch  in  seinen  Adern  in  Folge 
unendlich  zahlreicher  Berührungen  der  beiden  Stämme  auf  den  Völkerwanderungs-  und  Kaiserzügen 
ein  starker  Tropfen  deutschen  Blutes,  dem  hier  der  ausgeprägte  individualistische  Zug  zuzuschreiben 
ist.  Michelagniolo  hatte  von  dieser  Abstammung,  der  er  sich  selbst  rühmte,  die  trotzige  und  wild¬ 
kühne  Gewalt,  —  der  heutige  italienische  Böcklin, 
Marius  de  Maria,  verdankt  dem  sicherlich  die  eigen- 
thümliche  Färbung  seiner  grübelnden  Phantasie. 

Die  unreale  Phantasiewelt  in  der  Kunst  und  das 
Bildniss  werden  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sich  oft 
vom  eigentlichen  Volks-Milieu  entfernen  können,  ohne 
an  Kraft,  Bedeutung,  nationalem  Kulturwerth  desshalb 
unbedingt  verlieren  zu  müssen.  In  stark  bewegten, 
in  Aufstiegszeiten  eilt  oft  die  Geistesaristokratie  dem 
eigentlichen  Volk  voraus  und  formt  sich  Ideale,  in 
die  das  Volk  erst  später  hineinwächst.  Die  Weimaraner 
Fitteratur  -  Periode,  in  gewisser  Hinsicht  auch  das 
Nazarenerthum  bieten  eine  solche  Erscheinung.  Nie¬ 
mals  aber  darf  das  Sittenstück,  die  figür¬ 
liche  Darstellung  in  realem  Sinne  sich  vom 
nationalen  Fühlen  eines  Volks  entfernen, 
die  Ideale  des  kleinen  Alltagsbürgers  ausser 
Acht  lassen  und  die  Formenwelt  aus  inter¬ 
nationalen  Gesichtspunkten  entwickeln  wollen.  Das  gänzliche  Darniederliegen  dieses 
Gebiets,  die  Auslandssucht  in  den  Darstellungsmitteln  war  in  der  Vergangenheit  fast  immer  mit 
traurigen  Zeiten  der  deutschen  Kulturentwicklung  verknüpft;  wir  finden  dann  immer  ein  Siechen  der 
Volkskraft  als  Parallelerscheinung,  —  immer  aber  auch  zugleich  den  Mangel  einer  ernsthaften  Phantasie- 
und  Bildnisskunst  grossen  Stils.  Hier  waltet  ein  wichtiges  und  unerbittliches  Gesetz.  Die  moderne 
Wissenschaft  hat  es  längst  dahin  formulirt,  dass  alle  weittragenden  Ideen  und  Thaten  sammt  ihren 
Schöpfern  aus  den  unteren  Schichten  einer  Volksgesammtheit  hervorgehen,  —  dass  diese  den  Unter¬ 
grund  nicht  nur  für  das  wirthschaftlich  -  gesellschaftliche ,  sondern  auch  tür  das  geistige  Feben  einer 
Nation  bilden,  —  dass  nichts  auf  die  Dauer  lebensfähig  ist,  was  nicht  in  der  Volksmasse  wurzelt. 
Diese  Thatsache  gibt  dem  Sittenstück  in  der  Kunst  eine  eminente  Wichtigkeit  als  nächster  Ausdruck 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


7:1 


Gregor  von  Bochmann.  Nordwyker  Muschelkarren 


des  Volkslebens  und  Volksfühlens.  Die  Zeit  ist  zudem  längst  vorüber,  in  der  die  Kunst  als  ein 
müssiges  Spiel  für  Weibmänner  und  Frauen  galt;  sie  wird  heute  als  ein  wichtiger  Kulturfaktor  ge¬ 
schätzt;  sie  beansprucht  das  Recht,  in  ihrem  geistigen,  seelischen,  in  ihrem  moralischen  Gehalt  sehr 
ernst  als  Kulturspiegelbild  wie  als  Kulturbildnerin  betrachtet  und  beurtheilt  zu  werden,  —  welchen 
Standpunkt  ihr  gegenüber  ich  für  das  einzig  würdige  Männerverhältniss  halte. 

Wenn  der  heurige  Glaspalast  in  einem  gewissen  Gegensatz  zum  vorigen  einen  spürbaren 
Ausfall  auf  dem  Gebiet  der  Genre-Malerei  erkennen  lässt,  so  ist  das  ein  Zufall.  Das  Vorhandene 
selbst,  das  sonstige  Kunstschaffen  in  Deutschland  beweisen,  dass  weitaus  das  Meiste  an  Kunstarbeit 
bei  uns  diesen  Zusammenhang  mit  dem  Volk,  und  damit  den  kulturwichtigen  Untergrund,  noch  hat. 
Hier  liegt  für  mich  auch  einer  der  ausschlaggebenden  Gründe  gegen  das  Daseinsrecht  der  Secession. 
Die  paar  Fäden,  welche  sie  mit  dem  Volksleben  wenn  auch  lose  verknüpften,  sind  zerrissen,  —  sie 
hat  andererseits  aber  auch  nicht  verstanden,  Ausdruck  für  die  nationalen  Ideen  einer  vielleicht 
weit  vorausgeschrittenen  Geistesaristokratie  zu  werden,  —  sie  vertritt  eben  ihrer  Entwickelung  nach 
und  fast  auf  allen  Linien  heute  das  untergrundlose  Malvirtuosenthum,  das  unter  ernsten  Männern  zu 
keiner  Zeit  als  vollgiltig  angesehen,  vielmehr  innerlich  verachtet  worden  ist.  Ich  habe  bereits  oben 
und  im  vorigen  Jahr  an  dieser  Stelle  die  Gründe  für  diese  Secessionserscheinung  angeführt,  —  ich 
kann  kurz  rekapituliren,  dass  physische  und  geistige  Schwächung  gewisser  moderner  Künstlergruppen 
hier  den  Ausschlag  geben.  Es  ist  in  der  That  unendlich  viel  leichter,  irgend  ein  Valeur-  oder  Ideen¬ 
kunststück  zu  Stande  zu  bringen,  —  wobei  ganz  davon  abgesehen  werden  soll,  wie  Vieles  aus  wenig 


ll* 


76 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Laupheimer  mit  einem  sehr  ansprechenden  Familienstück:  «Ferienzeit»,  —  in  grösserem  Stil 
Raupp  mit  einem  Sturmmotiv  vom  Chiemsee,  —  Rau,  dessen  Farbe  neuerdings  in’s  Harte  geräth, 
mit  einer  Dorfwirthshausscene  und  einem  in  der  Trauer  eines  jungen  Paares  um  den  gestorbenen 
Erstling  ihrer  Ehe  schlicht  und  innig  empfundenen  Bild,  —  mit  Klosterlebenstücken  Cederström, 
Scholz,  —  mit  einem  kecken  Karnevalsscherz  Grocholski  gehören  mit  der  Freude  am  Leben  und 
seinem  liebevoll  beobachteten  Detail  gleichfalls  hieher.  Roubaud  mit  einem  flotten  Tatarenbild,  — 
Falke  nberg  mit  einem  im  Ton  angenehmen,  gross  behandelten  Mädchenkopf,  —  Ring  mit  der 
hübsch  gemachten  Figur  einer  jungen  italienischen  Gemüseverkäuferin  fallen  unter  einer  Reihe  hand¬ 
werklich  gleich  vortrefflicher  und  poetisch  empfundener  Arbeiten  besonders  auf;  es  ist  hier  unmöglich, 
erschöpfend  in  der  Anführung  dieser  Bilder  zu  sein. 

Unter  den  Bildern,  welche  intensiver  eine  mehr  oder  minder  gut  gelungene  Annäherung  an 
moderne  Anschauungen  und  Mal-Prinzipien,  wie  sie  früher  hauptsächlich  vom  Secessionskreis  vertreten 
wurden,  darstellen,  sind  Männchen ’s  gross  gesehene  « Steinklopferinnen »  mit  der  ungeschminkten 
Schilderung  ein  ehrliches,  malerisch  achtbares,  inhaltlich  das  Mitgefühl  packendes  Stück  Arbeit.  In 
seinen  Tongängen  geschmackvoll,  und  glücklich  damit  die  traumhafte  Dämmerigkeit  des  Zimmers 
wiedergebend,  ist  das  Bild  von  Koch  mit  der  sinnenden  Dame,  und  als  ebenso  gut  im  Ton  die 
Darstellung  einer  « xA.ehrenlese»  von  Hartmann  hervorzuheben,  der  es  freilich  an  präciser  Zusammen¬ 
fassung  mangelt.  Auch  Orrin-Peck’s  «Kohlgarten»  leidet  trotz  aller  Frische  an  zu  grosser  Breite 
der  Entfaltung  wie  überhaupt  an  zu  grossem  Format ;  eine  ähnliche  Darstellung  von  ihm  in  früheren 
Jahren  war  ungleich  kraftvoller  trotz  des  damals  schon  zu  tadelnden  Bildumfangs.  Zwischen  Inhalt 
und  Umfang  muss  stets  ein  natürliches  Wechsel verhältniss  sein,  —  sonst  kommt  nie  eine  rechte 
Wirkung  heraus.  Auch  K 1  e  in  -C  h  e  va  1  ier’s  «Spielsaal»  krankt  trotz  manches  Anziehenden  im 
Wesentlichen  an  demselben  Uebel. 

Zu  den  trefflichsten  Arbeiten  dieser 
Art  in  München  heuer  ist  schliesslich  auch 
bei  der  Secession  Höcker’s  gutgemalte 
und  sehr  drollig  geschilderte  «Werbung» 
in  Friesland  oder  dicht  daneben  zu  zählen. 

—  Unter  den  Fremden  am  Königsplatz 
ragt  Johann sen  durch  zwei  Innenstücke, 
davon  eines  eine  Herrengesellschaft  in 
behaglicher  Unterhaltung  vorstellt,  durch 
feine  Stimmung  und  gute  Charakteristik 
hervor.  Freilich  steckt  viel  Manier  in  diesem 
Impressionismus,  der  bei  fanatischer  Durch¬ 
führung  und  Festhaltung  an  seinem,  nur 
bei  manchen  Lichtzuständen  berechtigten 
Princip  naturgemäss  zur  Schablone  führt. 


Pius  Ferdinand  Messerschmidt.  Heimfahrt 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


77 


Robert  J.  Curry.  Gerettet 


Der  Künstler  war  früher  ungleich  frischer,  —  auch  er  scheint  trotz  aller  Begabung  allmälig  dem  Fluch 
zu  verfallen,  welcher  dem  Palettenexperiment  auf  Kosten  der  Natur  immer  folgen  wird. 

*  * 

* 

Ganz  besonders  reich  ist  der  Glaspalast  diesmal  mit  Landschaften  beschickt,  unter  denen 
sich  eine  stattliche  Reihe  ausgezeichneter  und  achtunggebietender  Werke  befinden,  ohne  dass  man 
gerade  das  Auftauchen  wesentlich  neuer  Gesichtspunkte  in  der  landschaftlichen  Auffassung  feststellen 
könnte.  Indessen  ist  das  Fehlen  neuer  Gesichtspunkte  kein  Vorwurf  gegen  die  Kunst;  die  gesündere 
Auffassung,  die  Feuerbach  z.  B.  gross  gemacht  und  Schack  bei  seiner  Kritik  ihm  gegenüber  ver¬ 
treten  hat,  bricht  sich  heute  mehr  und  mehr  Bahn,  —  dass  es  nämlich  auf  ein  ehrliches  Naturverhält- 
niss,  auf  das  Können,  auf  die  Beseelung  und  Durchgeistigung  des  Stoffs,  auf  das  Heimathgewissen  des 
Künstlers  in  erster  Linie  ankommt;  die  Originalität,  die  Neuheit  ist  dabei  ein  Gnadengeschenk  nur 
insoweit,  als  sie  mit  diesen  angeführten  Momenten  verbunden  erscheint.  Die  Kunstgeschichte  belehrt 
ohnehin  den,  welcher  sie  unvoreingenommen  betrachtet,  dass  plötzliche  Offenbarungen  innerhalb  des 
Kunstwachsthums  von  Generation  zu  Generation  viel  seltener  sind,  als  es  obenhin  scheint;  —  ein 
Haschen  und  Suchen  nach  Originalität  ohne  jene  Elemente  des  zuverlässigen  Könnens  und  der  Be- 


78 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


deutung  dagegen  schwört  stets  solche  Ge¬ 
fahren  herauf,  wie  sie  der  Secession  in  un¬ 
seren  Tagen  verhängnissvoll  geworden  sind. 

Die  Landschaft  war  das  Lieblingskind 
der  «modernen»  Kunst  seit  Anbeginn,  weil 
die  bestimmenden  französischen  Vorbilder 
vorzugsweise  Landschafter  waren ;  es  hat 
sich  auf  diesem  Gebiet  thatsächlich  auch 
der  weiteste  Einfluss  auf  die  zeitgenössische 
Kunst  geltend  gemacht,  —  es  ist  mancherlei 
Gutes  damit  gewonnen  worden,  —  die 
Augen  unserer  Maler  sind  für  die  Probleme 
von  Licht  und  Luft,  von  intensiverer  Be- 
werthung  für  Farbe,  Form  und  Raum  ge¬ 
schärft,  —  der  Sinn  für  die  kleinen  und 
intimen  Reize  der  Natur  und  eine  gross¬ 
zügige  Behandlung  derselben  ist  entwickelt. 
Das  sind  Vorzüge  und  Gewinne  für  die 
Handwerkstechnik  zweifellos,  —  aber  die 
grossen  Gewinne  für  die  «Kunst»  der  Land¬ 
schaftsmalerei  sind  im  Ganzen  noch  aus¬ 
geblieben  ;  man  sieht  nur  hier  und  da  erst 
frische  Ansätze,  um  aus  den  Theorien  vom 
Naturalismus  bis  zum  Symbolismus  etwas 
für  uns  Brauchbares  zu  entwickeln,  eine  grosse  Auffassung  zu  schäften,  die  dem  natürlichen  Verhältniss 
der  Deutschen  zu  seiner  Heimathlandschaft  entspricht.  Und  dies  deutsche  Verhältniss  zur  Landschaft  ist 
ein  weitaus  anderes  als  das  der  Franzosen.  Ich  möchte  das  Verhältniss  der  neueren  Franzosen  zur 
Landschaft  als  das  einer  monumentalen  Eitelkeit  und  Ichsucht  bezeichnen.  Er  sieht  sie  als  Coulisse 
um  seine  eigene  Person  herum,  —  sie  wirkt  äusserlich  als  vibrirende  Farbe  und  unbestimmte  Form 
auf  ihn,  —  sie  ist  ihm  ein  Abstraktum  für  die  Erholung,  für  die  Stadtflucht,  - —  er  geht  «an  das 
Meer»  oder  «auf  das  Land»,  ohne  das  Ziel  seines  Veränderungswunsches  zu  individualisiren.  Dazu 
kommt  ein  wichtiges  physiologisches  Moment :  Die  Geschwächtheit  der  niedergehenden  gallischen  Rasse, 
welche  eine  Schwächung  der  Sehkraft  nach  sich  zieht.  Im  Grunde  ist  der  Impressionismus 
nicht  viel  Anderes  als  die  gegebene  «Kunstauffassung  der  Kurzsichtigkeit» 

c7>  O  O  O 

Wie  anders  und  in  Hinsicht  des  Kunstgenies  bedeutender  ist  die  deutsche  Landschaftsauffassung 

o  o 

in  den  besten  und  allen  reifen  Zeitabschnitten  gewesen.  Gerade  desshalb  hat  das  deutsche  Gelehrten- 
und  Künstlerthum  die  Antike  vor  allen  epigonischen  Völkern  so  gut  und  tief  verstanden,  weil  die 
Beseelung  der  Natur  vor  dem  Auge  des  antiken  Menschen  wie  vor  dem  des  Germanen  engverwandte 


Ad.  Echtler  pinx. 


Phot.  F.  Hantstaengl,  München 


Maria 


03 

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GÖ 

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Der  schüchterne  Freier 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


79 


Züge  hat  Wenn  der  Deutsche  den  Rhein  hinabfährt,  dann  wird  die  Sage,  die  geschichtliche  Romantik 
der  Burgen,  Dome  und  Klöster,  dann  wird  die  alte  Zeit  lebendig  vor  ihm  und  beseelt  die  Schönheit 
der  Landschaft;  wenn  der  Lorelei-Felsen  in  Sicht  kommt,  spielt  die  Musik  Heine’s  wundersames  Lied 
und  die  Seelen  zittern.  An  die  Weser,  die  Saale,  die  Donau,  den  Main,  den  Bodensee,  an  die  Alpen 
knüpfen  sich  volksthümliche  Weisen,  welche  bestimmte  Stellen  und  bestimmte  Geschehnisse  verherr¬ 
lichen  und  einen  eisernen  Liederbestand  aus  der  ideal  gestimmten  deutschen  Studentenjugend  nicht  allein 
bilden,  sondern  auch  überall  im  weiten  Vaterland  in  aller  Munde  sind.  Mit  dem  Harz,  dem  Thüringer- 


Alax  Liebermann.  Sonntag -Nachmittag  in  Laren 


wald,  dem  Riesengebirge  sind  lebendige  Sagen  aller  Art  verknüpft,  durch  deren  Medium  das  Volk 
fast  ausschliesslich  in  diese  Landschaften  schaut ;  ich  greife  nach  zufälliger  Erinnerung  heraus :  Dieselbe 
Erscheinung  ist  überall  festzustellen.  In  der  Mark  Brandenburg  hat  jeder  See  fast  seine  Sage.  Etwas 

annähernd  Aehnliches  hat  der  Franzose  ebensowenig  als  der  Romane  weiterhin, - der  Deutsche 

hängt  sich  auf’s  Engste  an  einem  Ort  fest,  —  er  rundet  sein  Bild  zu  einem  tiefäugigen  Bildniss  ab 
und  beseelt  es  mit  der  Phantasie  und  der  Empfindung,  —  er  schafft  sich  überall  einen  genau  indi- 
vidualisirten  genius  loci.  Hierin  liegt  auch  das  deutsche  Landschaftsproblem  be- 


II  12 


80 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Rudolf  Bereny.  Hans  Thoma 


William  Schwill.  Bildniss 


gründet.  Die  deutsche  Landschaft  der  Zukunft 
ist  gar  nicht  anders  denkbar  und  wird  sich  nicht 
dauernd  behaupten  können,  solange  sie  nicht 
auf  diesem  Hauptelement  gegründet  ist  und 
damit  Fühlung  zum  Volk  gewinnt.  Damit  soll 
indessen  nicht  gesagt  sein,  dass  Märchen-  oder 
Sagenstaffage  mit  der  Landschaft  verknüpft  sein 
müssten ;  dieser  Inhalt  kann  unausgesprochen  in 
der  dargestellten  Oertlichkeit  liegen ;  sie  muss 
ausgerundet  und  straff  geformt  dem  Gefühl  sagen, 
was  sich  der  Künstler  in  dieser  Art  voll  Liebe 
gedacht  und  empfunden  hat,  als  er  gerade  diesen 
Ort  zur  Darstellung  wählte;  sie  wird  dann  immer 
schöpferisch  auf  den  Beschauer  wirken.  Man 
hüte  sich  aber  auch  vor  dem  Trugschluss,  als 
wandele  die  moderne  symbolistische  Landschaft 
auf  diesem  Wege.  Sie  hat  in  ihrer  Formen¬ 
anschauung  so  wenig  damit  zu  thun  als  mit 
der  Empfindung  und  dem  geistigen  Vor¬ 
stellungskreis,  —  sie  ist  lediglich  eine  das 
Gegentheil  vorstehende  Nachahmung  fran¬ 
zösischer  Vorbilder. 

Im  vorigen  Jahr  wies  ich  auf  den  dies¬ 
mal  fehlenden  Palmie  als  einen  Vertreter 
entwickelungsfähiger  Landschaftsauffassung 
hin.  Keller-Reutlingen  als  einer  der 
wenigen  Zukunftsleute  bei  der  Secession 
wächst  sich  anscheinend  mit  seinen  bayeri¬ 
schen  Landstadt- Motiven  mehr  und  mehr 
dahin  aus;  er  wirkt  diesmal  sehr  erfreulich 
in  seiner  stimmungsvollen  «Abenddämerung» 
über  einem  Flecken  am  Flussufer.  Da  ist 
ein  so  zusammenofefasster  Ausdruck  mit  einer 
klug  zurückhaltenden,  fast  möchte  ich  sagen  : 
überwundenen  Technik,  dass  die  Abend¬ 
poesie  eines  bestimmten  Ortes  fast  rein 
herauskommt  und  die  Phantasie  des  Be¬ 
schauers  in  derselben  Art ,  wie  es  die 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


81 


Dämmerung  draussen  immer  thut,  lebendig  macht.  Im  Glaspalast  zeigt  ähnliche  Ansätze  die  im  Ton 
feine  abendliche  Wasserlandschaft  von  Canal, —  sind  ferner  in  verwandter  Art  Biese,  Horadam 
mit  Kleinigkeiten,  —  Böhme  mit  einer  im  Wasser  ausgezeichnet  gemalten  Marine,  —  ein  ebenso 
gut  gemachtes  Seestück  von  Völcker,  dessen  Parkteich  bei  Abend  dagegen  zu  sehr  nach  Whistler 
schielt,  —  der  diesmal  nicht  wie  gewohnt  ausgezeichnete  Kubierschky,  —  Stäbli  mit  einer  ton¬ 
schweren,  monumental  empfundenen  Waldlandschaft,  —  Georg  Schuster-Woldan  mit  einem 
gut  gemachten  und  stimmungsvollen  Waldinneren,  —  Marr’s  kleines  Ackerstück,  —  von  Urban 


Jacek  Malczewski.  Irrkreis 


ein  gross  gesehenes  und  farbig  sehr  bemerkenswerthes  Bild  vom  Nemisee  mit  seinen  schroffen  Felsen¬ 
ufern,  —  von  Rabending  ein  sehr  glücklich  beleuchtetes  und  plastisch  herauskommendes  Gebirgs- 
dorf,  —  von  Tina  Blau  ansprechende  kleine  Motive,  —  schliesslich  der  alternde  O.  Achenbach 
mit  einer  Parthie  vom  Nemisee,  die  immer  noch  durch  Gluth  der  Farbe  und  hohes  Können  imponirt, 
wenngleich  es  an  innerer  Kraft  mangelt,  besonders  hervorzuheben.  Die  Worpsweder,  von  denen 
Overbeck  und  Modersohn  Einiges  ausstellten,  sind  heuer  nicht  von  Belang.  Gerade  sie,  welche 
auf  gutem  Grunde  von  Anschauung,  Wollen  und  Können  stehen,  fangen  an,  manierirt  zu  erscheinen; 


12* 


82 


DIE  KUNST  UNRESER  ZEIT. 


die  Portraits  von  krummen  Birken  sind  zu  äusserlich 
als  Charakteristika  der  Worpsweder  Moorlandschaft 
betont  und  werden  langweilig.  Mögen  die  Herren 
sich  vor  dem  Verbauern  hüten :  die  Isoliruno-  allein 

o 

auf  dem  Lande  thut’-s  auf  die  Dauer  nicht. 

Unter  den  mehr  in  Hinsicht  der  formalen  Lösung 
bemerkenswerthen  Arbeiten  ist  eine  durch  die  Be¬ 
obachtung  des  zarten  Lufttons  in  abendlicher  Thau- 
wetterlandschaf  sehr  ansprechende  Dorflandschaft  von 
dem  in  neuerer  Zeit  wiederholt  mit  Betonung  ge¬ 
nannten  Bössenroth  hervorzuheben.  Auch  die 
grosse  Moorlandschaft  bei  Sonnenuntergang  an 
schwülem  Sonnabend  von  demselben  Bössenroth 
ist  in  der  feinen,  vibrirenden  Beweglichkeit  warmer 
Töne  eine  Arbeit  von  zarter  Empfindung  und  un¬ 
gewöhnlichem  Können,  dem  man  nur  eine  schärfere 
Zusammenfassung  des  Ausdrucks,  eine  grössere  In- 
dividualisirung  im  oben  entwickelten  Sinne  wünschen 
möchte;  ein  frisches  Temperament  ist  vorhanden  und  mit  ihm  ein  ziemlich  hohes  Mass  bewusster  Herr¬ 
schaft  über  die  Mittel ;  bei  energischer  Vertiefung  und  Durchgeistigung  ist  dem  Künstler  ein  dauernder 
und  ernsthafter  Erfolg  unschwer  erreichbar.  —  Strützel  mit  einem  heimkehrenden  Taglöhnerpaar 
und  abendlich  verschleierter  Wiese  dazu  und  einem  zweiten  Abendbild  von  kräftigerer  Wirkung,  — 
desCoudres  mit  einem  anmuthigen  Waldabhang  in  rosiger  Beleuchtung,  —  Bürgel,  Fink,  Hoch, 
Wenglein,  Andersen-Lundby  mit  trefflichen  Stimmungsstücken  in  einheitlicher  Tongebung,  — 
Peters en  mit  einem  farbenkrältigen  Meerbild  sind  weiterhin  als  Bilder  von  solider  Darstellung  und 
runder  Wirkung  zu  nennen. 

Als  Tonmalerei  sehr  bemerkenswerth  wegen  seiner  ungewöhnlichen  Feinheit  ist  Lieber’sBild 
mit  einer  gut  gemalten  und  geschickt  am  Horizont  mit  der  Atmosphäre  zusammengebrachten  Seefläche, 
—  ist  auch  ein  schmelzvoll  behandelter  Ausschnitt 
vom  Donauthal  von  M.  A.  König.  Als  gute  Exer- 
citien  sind  mir  sonst  noch  Arends  mit  seinem  Ge¬ 
müsegarten,  bei  dem  Luft  und  Raum  trefflich  be¬ 
obachtet  sind,  sowie  die  Pastell-  und  Kohlenzeichnungen 
von  Georgi  mit  ihren  perspektivischen  Lösungen 
aufgefallen.  —  —  — 

In  Rücksicht  auf  den  gegebenen  Raum  seien  nur 
kurz  ein  paar  Künstler  mit  Stillleben  und  Blumen¬ 
stücken  gestreift,  welche  zahlreich  und  vielfach  auch 


Walter  Georgi.  Wirthsgarten 


Hugo  Bürgel.  Flusslandschaft 


HauMju'Uw’l.  München 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


83 


Paul  Hey.  Vorfrühling 


sehr  vortrefflich,  Dank  alter  Münchner  Ueberlieferung ,  vorhanden  sind;  Nauen,  Carstens, 
Kricheldorf,  Bassarab,  Sturtzkopf  haben  Gutes  ausgestellt,  ohne  dass  sie  alles  Beste  reprä- 
sentirten.  Es  gibt  daneben  viele  ansprechende  Arbeiten.  —  —  — 

❖ 


Neben  dem  eigentlichen  Münchner  Künstlerkreis  haben  auch  heuer  wieder  einige  andere  deutsche 
Kunststädte  im  Glaspalast  Sonderausstellungen  veranstaltet.  So  Dresden.  Die  Dresdner  Kunst¬ 
zustände  sind  eigen¬ 
tümlicher  Natur. 

Nach  längerem  un¬ 
fruchtbarem  Zu¬ 
stand  hat  sich  dort, 

Dank  der  Herbei¬ 
ziehung  von  Prell, 

Kühl,  Wallot,  Diez 
ein  lebhafteres 
Kunsttreiben  ent¬ 
wickelt,  das  sich  in 
der  grossen  Dresd¬ 


ner  Kunstausstell¬ 
ung  vor  2  Jahren 
gespiegelt  hat.  Aber 
schon  auf  dieser 
Ausstellung  trat  zu 
Tage,  dass  in  den 
Kreisen  der  jünge¬ 
ren  Künstler  und 
Schüler  dieser  ge¬ 
nannten  Meister  sich 
mehr  und  mehr  eine 


bedenkliche 


Ernst  Otto.  Elche 


Neig- 


84 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


ung  zu  gallisirender  Experimentirmalerei  mit  kunstfeindlichem  Charakter  herausbildete.  Heute  ist  auch 
Dresden  in  der  schnellen  Zersetzung  infolge  von  ungesunder  Geistes-  und  Phantasierichtung  beim  Nach¬ 
wuchs  begriffen  .  .  .  der  Verfall  geht  auch  dort  um  .  .  .  die  materiellen  Folgen  werden  kaum  aus- 
bleiben  ...  die  einst  so  lebhaft  begonnene  frische  Entwickelung  Dresdens  zur  Kunststadt  wird  sicher 
gehemmt,  da  man  lokale  Kunstblüthen  nur  mit  reifen  Leistungen,  nie  mit  talentvollen  Experimenten 

Pietschmann 
mit  2  1  humenbild- 
nissen  von  aus- 


Kunstlage. 


hervorrufen  wird. 

Der  Dresdner 
Saal  ist  ein  treues 
Abbild  der  Dresd¬ 
ner 

Er  zeigt  eine 
Reihe  von  an¬ 
sprechenden  Ta¬ 
lenten,  welche  der 
sächsiche  Stam¬ 
meszug  nach  An- 
muth  einstweilen 
noch  vor  dem 
Aeussersten  be¬ 
wahrt,  die  aber 
doch  fast  insge- 
sammt  «Talmi¬ 
franzosen  »  und 
gallisirende  Maler, 
keine  Künstler 
sind.  Der  Einzige, 
welcher  sich  durch 
Besonnenheit 
wie  durch  Tiefe 
der  Begabung 
daraus  erhebt,  ist 


geklärter  Feinheit 

der  Palette. - 

Der  Düssel¬ 
dorfer  Saal  zeigt 
grosse  Lücken 
diesmal;  ein  neu¬ 
eres  grosses  Ge¬ 
richtsbild  von 
Br  ütt  sticht  mehr 
durch  den  feinen 
Ton  als  durch 
scharfe  Charak¬ 
teristik  hervor ; 
Carl  Sohn’s 
«  Festvorbereit- 


zeigt 

o 


Gustav  Eberlein.  Goethe  bei  Betrachtung  von  Schiller’s  Schädel 


glatter  und  ge¬ 
schmackvoller 
Malerei  reizende 
junge  Damen 
im  Salon  beim 
Herrichten  von 
Blumenschmuck ; 


Grimm’s  «Begegnung  der  Margaretha  von  Parma  mit  flüchtigen  kalvinischen  Niederländern  im  Jahre 
1567»  ist  eine  in  allen  Einzelheiten  ungemein  anziehende  und  Begabung  verrathende  Schöpfung  der 
Gebhardtschule,  geht  als  Bild  aber  nicht  recht  zusammen,  —  die  Wirkung  ist  zerstreut. 

Auch  der  zahlreich  beschickte  Berliner  Saal  macht  keinen  harmonischen  Eindruck.  Eine 
kleine  Handzeichnung  von  Menzel  ist  im  Vorübergehn  zu  erwähnen;  seines  besten  Schülers  Skarbi na 
«Allerseelen»  verliert  in  dem  nicht  günstigen  Licht  sein  Bestes,  nämlich  die  feinen  Töne  und  Ueber- 
gänge;  ein  Triptychon  von  Engel:  «Von  der  Waterkant»  wirkt  allzu  illustrativ  trotz  seiner  farbigen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


85 


Ludwig  Fahrenkrog.  Träumerei 


Talentirtheit ;  etwas  uneingeschränkt  Erfreuliches  sind  hingegen  zwei  Damenbildnisse  eines  jüngeren 
Malers,  Karl  Ziegler.  Da  ist  ein  Adel  und  eine  nach  Monumentalität  ringende  Feinheit  der  Auf¬ 
fassung,  —  da  ist  ein  Geschmack  der  Farbe  und  eine  malerische  Schulung  des  Auges,  —  da  ist  ein 
Seelenblick,  der  noch  viel  Gutes  von  dem  Künstler  verheisst.  —  —  — 

Das  Ausland  ist  im  Glaspalast  diesmal  nur  zugelassen,  — 
eine  Massregel,  die  durchaus  zu  loben  und  sachlich  gerecht¬ 
fertigt  ist.  So  zweckmässig  es  ist,  in  grösseren  Pausen  die  aus¬ 
ländische  Kunst  reichlich  und  bedeutend  den  Künstlern  vor 
Augen  zu  stellen,  um  ihnen  das  Reife  und  Ernsthafte  hoch¬ 
stehender  fremder  Leistung  als  Anregung  zu  bieten,  —  so  be¬ 
denklich  ist  es,  den  Durchschnittsdeutschen  in  seiner  Auslands¬ 
sucht  durch  j ähr  1  ic  he  Konkurrenz  noch  zu  bestärken;  denn  das 
wirkt  bedenklich  auf  die  wirthschaftliche  Lage  unserer  Künstler 
zurück,  welche  ein  staatliches  Ausstellungs-Unternehmen  immer 
im  Auge  haben  muss,  —  das  hat  auch  solche  Geisterverwirrung 
zur  Folge,  wie  sie  die  Gegenwart  leider  in  hohem  Masse  kenn¬ 
zeichnet.  Ich  weiss  mich  hierbei  von  iedem  Chauvinismus  völlig 

Karl  Zuglcr.  Bildniss  J  ° 


SG 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Irei  und  habe  meinestheils  bedeutende  Leistungen  des  Auslandes 
noch  stets  rückhaltlos  bewundert,  sobald  sie  eben  Kunstwerke 
waren.  Aber  gegenüber  der  geradezu  gewissenlosen,  moralisch 
verderbten,  knechtischen  Nachahmungssucht  von  Auslandsmoden 
in  gewissen  Kunstkreisen  bei  uns  muss  immer  wieder  Front  ge¬ 
macht  werden.  Pflicht  und  Klugheit  gebieten  dem  Glaspalast,  von 
seiner  Seite  dem  Auslandsthum  so  nachdrücklich  zu  steuern,  als 
es  geht.  Nur  eine  Kunst  auf  vaterländischer  Grundlage  und 
mit  dem  lebendigen  Erbtheil  unserer  Altvordern  ist  kultur¬ 
bildend,  wie  die  ganze  Geschichte  lehrt,  und  nur  sie  macht  die 
stärksten  Kräfte  in  einer  Künstlerpersönlichkeit  frei  und  fruchtbar 
in  reifen,  grossen  Thaten. 

Die  Auslandskunst  ist  bis  auf  ein  paar  unter  den  Münchener 
hängende  bessere  Werke  in  den  Auslandssälen  selbst  sehr 
schwach  und  unbedeutend  vertreten.  Das  Meiste  dürfte  zudem  Kunsthändlerwaare  sein,  die  einen 
Markt  sucht.  Man  kann  sich  mit  wenigen  Anführungen  begnügen.  Wesentlich  im  Stoff  und  daneben 
schulgeschichtlich  interessant  ist  ein  Bild  aus  der  älteren  englischen  Geschichtsmalerei  mit  ihren  harten 
Linien  und  ihrem  bunten  Kolorit,  —  nämlich  Davidson  s  Scene  aus  der  Schlacht  bei  Trafalgar, 
vor  deren  Beginn  Nelson  von  seinem  Admiralschiff  aus  eben  den  berühmt  gewordenen  Befehl  an 
sein  kampfbereites  Geschwader  signalisiren  lässt :  « England  erwartet,  dass  Jedermann  seine  Schuldig¬ 
keit  thue».  Das  ist  mit  vielen  Figuren  volksthümlich  ,  maljournalistisch,  ansprechend,  wenn  auch 
ohne  grössere  künstlerische  Gesichtspunkte  behandelt  Es  sind  auch  noch  ein  paar  weitere  Bilder 
verwandter  Art  vorhanden.  —  Als  Thiermalerei  sehr  anerkennenswerth,  wenn  auch  in  der  Formatgrösse 
vergriffen,  ist  ein  Bild  von  Curry,  das  Bernhardinerhunde  auf  verschneitem  Pass  als  Retter  einer  ver¬ 
schütteten  Familie  schildert,  —  wegen  seiner 
feinen  Anmuth  in  Auffassung  und  Behandlung 
einer  reizenden  Mädchengestalt  auf  Frühlings¬ 
landschaft  -  Hintergrund  ist  schliesslich  noch  ein 
Aquarell  von  Battaglia  hervorzuheben. 

*  * 

* 

Die  Bildhauerkunst  kann  wegen  der 
beschwerlichen  und  kostspieligen  Versendung 
ihrer  Werke  auf  Ausstellungen  in  der  Regel 
immer  nur  lückenhaft  vertreten  sein;  sehr  grosse 
Plastiken  sind  meist  sogar  nur  am  Ort  ihres 
Entstehens  ausstellbar  und  man  kann  von  etwaigen 
Vorführungen  dieser  Art  nicht  immer  mit  Sicher- 


Josef  Huber.  Lucifer 


Alexander  Koester.  Märzabend 


i_y 


Oarl  Oussow  phi».  pl'0'-  F  Hanfctteogl.  München 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


87 


heit  auf  die  zeitweise  Lage  der  Künstlerschaft  auf  diesem  Gebiet  schliessen.  Die  gegenwärtige  Bild¬ 
hauerei  ist  mit  einer  Anzahl  tüchtiger  Könner  in  der  That  bedeutender,  als  die  diesjährigen  Münchener 
Ausstellungen  auch  nur  annähernd  schliessen  lassen.  Klinger,  Maison,  Begas,  Strasser  fehlen  beispiels¬ 
weise  ganz  und  auch  sonst  ist  von  bedeutenden  Leistungen  nur  bedingungsweise  zu  berichten.  — 
Eberlein  hat  eine  grössere  Zahl  von  Werken  ausgestellt;  er  hat  den  französischen  Chic,  die 
manierirte  Nachahmung  eines  Pigalle,  der  er  lange,  freilich  virtuos,  nachging,  anscheinend  ganz  ver¬ 
lassen  und  huldigt  jetzt  einer  massvollen  Realistik,  wie  sie  hier  eine  treffliche  Halbfigur  «Goethe’s» 
mit  dem  Schädel  von  Schiller  in  der  Hand,  dazu  eine  Darstellung  «Bismarck’s»  in  sitzender  nach- 


Adolf  Männchen.  Auf  der  Landstrasse 


denklicher  Stellung,  ferner  auch  eine  in  der  Auffassung  etwas  vergriffene  Gruppe  von  «Gottvater 
und  Adam»  zeigt;  eine  wirkliche  Rasse  fehlt  diesen  Figuren  freilich  geradeso,  wie  einer  Anzahl  kleiner 
Statuetten,  die  den  Mythos  vom  ersten  Menschenpaar  behandeln.  Der  Künstler  sucht  hier  Meunier’s 
feines  Gefühl  für  die  Bewegung  mit  dem  leidenschaftlichen  Affekt  von  Sinding  zu  verbinden,  ohne 
dass  es  ihm  glückt,  mehr  als  eine  gewisse  Anmuth  zu  erreichen. 

In  guter  Stilistik  bieten  sich  Götz  mit  einer  das  «Drama»  symbolisirenden  Frauenbüste  und 
Rossi  mit  einer  im  conventionellen  Sinne  gut  durchgeführten  Sklavin-Figur  dar;  auch  Lederer,  der 
neuerdings  ein  hübsches  Talent  in  den  Vordergrund  rückte,  ist  ein  selbstständiger  Stilist  in  seiner 


ii  13 


90 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


unsere  Techniker  des  Kunsthandwerks  für  sich  zu  gewinnen.  Jetzt  kam  diesen  doch  noch  zu  Statten, 
was  sie  bei  den  Alten  gelernt  hatten  und  sie  arbeiteten  congenial  den  erfindenden  Künstlern  in  die 
Hände,  so  dass  wir  heute,  so  spät  wir  auch  an  die  Reihe  kamen,  den  Meistern  neuen  Kunststils  in 
den  oben  genannten  Ländern  an  Können  nicht  mehr  nachstehen.  Es  fehlt  freilich  bei  uns  noch  das 
breite  kaufkräftige  Publikum  für  edle  Werke  der  Zierkunst  und  dadurch  haben  unsere  Schaffenden 
noch  nicht  Raum  genug,  sich  auszubreiten,  nicht  hinreichend  grosse  Aufgaben,  an  denen  sie  ihre  Kräfte 
stählen  können.  Aber  dafür  sind  die  neuen  Formen  überraschend  schnell  den  Meistern  jeder  Branche 
des  Kunsthandwerks  geläufig  worden  und  wir  haben  alle  Aussicht,  dass  bei  uns  der  «neue  Stil»  bald 
nicht  mehr,  wie  in  Frankreich  ausschliesslich,  ein  «Stil  der  Reichen»,  sondern  der  Stil  aller  Leute 
von  gutem  Geschmack  sein  wird.  Wer  sich  ein  Stück  modernen  Kunsthandwerks  nach  Hause  tragen 
will,  kann  für  ein  paar  Mark  eine  hübsche  Aschenschale  oder  einen  gefälligen  Zinnbecher  haben,  um 
geringes  Geld  ein  edelgeformtes  Glas,  eine  Vase  in  schönfarbig  glasirtem  Thon  oder  ein  Schmuck¬ 
stück  von  feinen  Linien.  Wenn  sich  die  Sache  noch  ein  paar  Jahre  so  weiter  entwickelt,  so  wird  bald 
der  obligate  Rokokosalon  und  das  nicht  minder  obligate  « altdeutsche »  Speisezimmer  aus  den  Braut¬ 
ausstattungen  verschwunden  sein  und  Möbeln  neuen  Stils  Platz  gemacht  haben,  eines  Stils,  der  in 
seinen  besseren  Erzeugnissen  ja  auch  der  Zweckmässigkeit  mehr  Rechnung  trägt,  als  jene  alter- 
thümelnden  Geräthe. 

Was  der  Münchener  Glaspalast  an  Werken  des  Kunsthandwerks  heuer  seinen  Besuchern  bietet, 
geht  über  die  Darbietungen  des  Vorjahres  noch  weit  hinaus.  Statt  der  dürftigen  zwei  Kabinette,  die 
den  « Dekorativen »  gnädigst  in  der  hintersten  Ecke  des  Ausstellungsbaues  angewiesen  waren,  stehen 
ihnen  in  diesem  Jahre  mehrere  geräumige  Gelasse  zur  Verfügung,  die  durchweg  auch  in  ihrer  archi¬ 
tektonischen  Ausgestaltung  als  werthvolle  Ausstellungsobjekte  gelten  müssen.  Dazu  ist  der  Kreis  der 
ausgestellten  Gegenstände  wesentlich  erweitert  und  man  kann  wohl  sagen,  dass  jedes  Handwerk  ver¬ 
treten  ist,  dessen  Erzeugnisse  naturgemäss  künstlerische  Ausgestaltung  zulassen,  und  dass  wir  jedes 
Material  verarbeitet  finden,  bei  dem  diese  Voraussetzung  zutrifft. 

Neben  den  Räumen,  die  ganz  den  «Modernen»  gehören  und  auch  in  ihrer  Architektur  diesem 
Zwecke  angepasst  sind ,  haben  die  Gewaltigen  des  Glaspalastes  noch  etliche  Säle  und  Gelasse  her- 
stellen  lassen ,  die  « blos  schön »  schlechtweg  sind  und  weder  mit  neuen  noch  mit  alten  Zwecken 
des  Ausstellungsbaues  etwas  zu  thun  haben.  Da  ist  z.  B.  ein  Höfchen  in  reichem  Renaissance¬ 
geschmack  nach  Motiven  aus  einem  Hofe  im  berühmten  Fuggerhause  zu  Augsburg  von  Friedrich 
von  Thiersch  eingerichtet,  mit  einer  von  wildem  Wein  überzogenen  Pergola,  Wandmalereien,  einem 
plätscherndem  Brunnen,  Blumen,  Vasen  und  Terracottafiguren.  Ein  vornehm  lauschiges  Eckchen  aus 
einem  Patrizierheim,  in  dem  man  sich  wohl  in  eine  vergangene  Welt  zurückträumen  könnte,  ersetzten 
nicht  schmutzige  Glasplatten  und  ein  Gewirr  von  eisernem  Sparrenwerk  oben  den  lieben  Himmel! 
Vollkommenere  Illusion  noch  weckt  der  «Römische  Wohnraum»  von  Emanuel  Seidl,  eine  ebenso 
geistvolle  als  behagliche  und  ästhetisch  schöne  Rekonstruktion,  der  zur  vollendeten  Täuschung  der 
Einbildungskraft  nichts  fehlt,  als  die  richtige  Staffage.  Wenn  in  dem  eigenartigen  Broncesessel  eine 
weissärmige  Römerin  sässe,  der  köstlichen  Kühle  geniessend,  die  der  Marmorboden  ausströmt  und 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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der  plätschernde  Brunnen  —  es  wäre  ein  Idyll  aus  der  Cäsarenzeit,  das  nicht  zu  überbieten  wäre. 
So  aber  trippeln  katalogbewaffnete  Engländerinnen  über  den  Mosaikstern  des  Bodens  und  tappen  mit 
den  Fingern  an  den  Wänden,  um  zu  erkunden,  ob’s  Wirklichkeit  ist,  oder  «Imitäschn».  Es  ist  Beides 
sozusagen,  Gyps  und  Marmor,  alte  Motive  und  Nachgefühltes.  Nachgefühltes,  nichts  Nachgebildetes, 
daher  der  künstlerische  Charakter  des  Ganzen,  der  aus  dem  Raume  weit  mehr  macht,  als  ein  Meister¬ 
stück  der  auf  diesen  Gebieten  hochentwickelten  Geschicklichkeit  der  Münchener  Stukkateure.  Antiker 
Schmuck  und  diskret  auf  Tischen  und  Stellagen  vertheiltes  Prunkgeräth,  darunter  eine  feine  silberne 

Weinkanne  von  Theodor  Heiden  verleihen 


dem  römischen  Wohnraum  auch  den  Ein¬ 
druck  wirklicher  Wohnlichkeit. 

Einen  hohen,  gothischen  Saal,  der  an 
sich  sehr  stattlich  und  würdig  ist,  aber  dem 
Eintretenden  ein  unlösbares  «Warum?»  und 
«Wozu?»  entgegenruft,  haben  die  Archi¬ 
tekten  K.  Hocheder  und  Paul  Pfann  aus¬ 
gestattet.  In  diesem  Raum  ist  kunterbunt 
das  Heterogenste  zusammengetragen,  ultra¬ 
modern-antiknordische  Gobelinmöbel  von 
Walter  Leistikow,  gothisches  Kirchen- 
geräth,  ein  alter  Harnisch,  neuartige  und 
orientalische  Teppiche,  Gypsabgüsse,  Archi¬ 
tekturmodelle  und  Pläne,  neue  Renaissance¬ 
möbel,  die  genau  so  künstlich  sind,  wie 
die  alten,  nur  nicht  so  kunstvoll,  neue 
Stickereien,  alte  Fahnen,  ein  Majolika-Kamin. 
Grabplatten  —  das  Ganze  wirkt  eigentlich 
als  prächtige  Verdeutlichung  der  babylo¬ 
nischen  Verwirrung,  die  bei  uns  bis  dato 
in  den  dekorativen  Künsten  herrschte.  So 
viel  Stile  und  kein  Stil! 

Einer  der  freundlichsten  und  harmonischsten  Räume  im  Glaspalast  ist  dagegen  das  Kabinet 
No.  29,  der  —  nicht  blos  nach  dem  Katalog!  —  den  Charakter  eines  wohnlichen  Zimmers  trägt. 
Dieses  ist  in  einem  verfeinerten  Biedermeier-Stil  orehalten,  ein  Werk  aus  einem  Guss:  Möbel  aus  licht- 
gelbem  Holz  mit  Ebenholzeinlagen  und  Verzierungen,  eine  Moireetapete  in  mattem  Grün,  Kamin,  Hänge¬ 
lampe  u.  s.  w.  aus  blankem  glatten  Messing,  einem  Material,  das  glücklicherweise  wieder  in  Mode 
kommt  und  hoffentlich  bald  das  ordinäre  und  fast  immer  in  den  Formen  stumpfe  und  rohe  «Cuivre 
poli»  verdrängt  hat.  Prächtig  dieser  Kamin  mit  seinem  funkelnden,  sauber  ausgeschnittenen  Messing¬ 
mantel,  prächtig,  auch  in  der  Arbeit,  diese  freundlichen,  hellgelben  Möbel  (von  den  Architekten 


Architektur  und  Kunsthandwerk 

Aus  Raum  No.  24,  entworfen  und  eingerichtet  von  Architekt 
Marlin  Dülfer-  München 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Helbig  und  Heiger  entworfen,  von  A.  Pössenbacher  ausgeführt)!  Sehr  originell  ist  das  Pianino, 
aus  gleichem  Holz  gearbeitet  wie  die  Möbel  und  mit  einem  in  Messingblech  getriebenen  Figurenfries 
verziert.  Weniger  glücklich  an  diesem  Stück  wirkt  der  «eingelegte»  Richard  Wagner.  Der  Raum 
ist  bis  ins  letzte  Detail  stilgetreu  gehalten,  bis  zum  Stück  der  Decke,  bis  auf  das  Geschirr  im  Glas¬ 
schrank.  Erfreulich  ist  dieses  ganze  gelungene  Ensemble  nicht  blos  durch  die  Schönheit  der  Arbeit 
und  die  gefällige  Wirkung,  sondern  auch  als  Beispiel  dafür,  wie  wir  heute  einen  vergangenen  Stil 
verstehen  und  weiterbilden  gelernt  haben.  Wir  aber  schreiben  nicht  mehr  ab,  wir  übersetzen  auch 
nicht  mehr,  wir  denken  in  der  anderen  Sprache!  Das  Stilschema,  das  uns  in  den  verflossenen  Jahr¬ 
zehnten  Alles  war,  ist  uns  heute  nur  mehr,  was  dem  Schreibenden  die  Grammatik  ist :  das  Kunstwerk 
beginnt  erst  mit  der  freien  Handhabung  dieser  Sprache ! 

Betrachten  wir  die  ausgesprochen  « modernen »  Werke  des  Kunsthandwerks  genauer,  so  finden 
wir  nicht  ohne  Ueberraschung,  dass  auch  hier  oft  gerade  das  Beste  einer  Weiterentfaltung  vorhandener 
Kunstformen  seine  Entstehung  verdankt.  Und  zwar  sind  namentlich  reichliche  gothische  Elemente  im 
neuen  dekorativen  Stil  zu  entdecken,  ohne  dass  aber  Jemand  daran  denken  könnte,  die  betreffenden 
Objekte  als  gothisch  zu  bezeichnen.  Aber  der  Geist  dieses  herrlichen,  unserm  innersten  germanischen 
Wesen  entsprungenen  Stils  lebt  in  den  neuen  Formen,  der  Geist,  nicht  das  Cliche,  das  vordem  Alles 
war.  Die  Fröhlichkeit,  der  unerschöpfliche  Reichthum,  die  freie,  künstlerische  Phantastik  der  Gothik 
wird  wieder  wach,  ihre  Meisterschaft,  die  Naturformen  in  den  Rahmen  ihrer  Gesetzmässigkeit  zu 
bringen  ohne  Zwang  und  Gewaltthätigkeit,  ihre  gesunde  Realistik,  ihr  Linienadel  und  ihr  Humor.  Es 
ist  freilich  die  lebenswarme  Gothik  des  Strassburger  Münsters  und  nicht  die  todte  des  Kölner  Doms, 
die  da  —  Vielen  unbewusst!  —  zu  Gevatter  gestanden  hat.  Manche  sehen  auch  eine  Gefahr  für 
den  neuen  Stil  in  dieser  Verwandtschaft,  aber,  wie  mich  dünkt,  mit  Unrecht.  Jeder  Stil  ist  aus  einem 
früheren  entwickelt  und  wenn  wir  das  ganze,  Jahrhunderte  währende  Intermezzo  der  gewaltsam  wieder¬ 
belebten  Antike  aus  unserer  Stilentwicklung  ausschalten,  kommen  wir  ganz  naturgemäss  dazu,  auf  der 
Gothik  weiterzubauen. 

Wie  nahe  die  letztere  übrigens  dem  modernen  Geschmacke  steht,  beweisen  etliche  der  präch¬ 
tigsten  Stücke  der  Ausstellung,  Arbeiten  Fritz  v.  Miller’s,  die  in  rein  gothischen  Formen  gehalten, 
sich  doch  dem  Ensemble  der  modernen  Kunstsachen  in  dem  wunderschönen  Raum  No.  26  vorzüglich 
einfügen.  Miller  hat,  wie  Wenige,  ein  Auge  für  die  Grazie  der  Gothik  und  zeigt  dies  namentlich  in 
dem  zierlichen  Kettenwerk  und  Beschläg  des  Steinbockgehörns  mit  dem  realistisch  gearbeiteten  ver¬ 
goldeten  Silberschädel.  Ein  Prunkstück  von  hoher  Originalität  ist  der  von  dem  gleichen  Meister  — 
dies  anspruchsvolle  Wort  darf  man  hier  wohl  gebrauchen  —  ausgestellter,  aus  einem  Steinbockhorn 
gebildeter  Fisch,  ein  Hecht,  dessen  Kopf,  Schwanz,  Flossen  und  einzelne  Schuppen  aus  vergoldetem 
Silber  angefügt  sind.  Den  Sockel  bildet  ein  mächtiger  Klotz  Bergkrystall  in  Silbertassung,  an  dem 
eine  fein  emaillirte  Wasserjungfer  gaukelt.  Ein  «Myrthenbecher»,  reich  an  entzückenden  Details,  ein 
Galle-Glas,  mit  einer  emaillirten  Lazerte  montirt,  sind  von  gleicher  Hand.  Das  sind  freilich  Stücke, 
die  fast  nur  für  fürstliche  Mittel  erreichbar  sind  Der  breiteren  Menge  der  Leute  von  gutem  Geschmack 
zugänglich  sind  die  Zinnsachen  von  K.  Gross  (ausgetührt  von  L.  Lichtinger)  hier.  Vom  einfachen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


93 


Becherlein  bis  zur  werthvollen,  schweren  Bowle  sind  hier  alle  erdenklichen  Gefässe  zu  sehen,  Flaschen 
und  Krüge,  Weinkühler,  Teller  und  Schalen,  Alles  neuartig  in  seiner  Form,  oder  doch  neuartig  aus 
alten  Formen  entwickelt.  Gar  vielerlei  ist  im  Grunde  gothisch,  die  flaschenartigen  Vasen  erinnern  an 
ältere  japanische  Broncen,  —  aber  Alles  trägt  den  Stempel  der  «neuen  Kunst».  Namentlich  die 
Behandlungsart  des  Zinns,  die  den  edlen,  feinen  Glanz  des  sympathischen  Metalls  in  seine  Rechte 
einsetzt  und  das  geschmeidige  Material  mit  dem  Hammer  treibt,  statt  es  in  bekannter  Art  in  schablonen¬ 
hafte  Forme  zu  giessen,  namentlich  diese  Technik  ist  freudigst  willkommen  zu  heissen.  Die  Haupt¬ 
formen  der  Geräthe  sind  getrieben ,  nur 
nebensächlichere  Ziertheile  sind  durch  Guss, 
feine  Linienornamente  durch  Graviren  her¬ 
gestellt.  Freudig  begrüssen  wir  dieses  vor¬ 
nehme  Zinngeräth  aber  auch  darum,  weil 
es  so  recht  darnach  angethan  ist,  das  Ver¬ 
ständnis  für  die  angedeuteten  Bestreb¬ 
ungen  in  weitere  Kreise  zu  tragen.  Recht 
Hübsches  findet  sich  auch  unter  den  — 
offenbar  gegossenen  —  Edel- Zinnsachen 
von  F.  H.  Schmitz  (Köln). 

Auch  für  Kupfer -Treibarbeit  sind  schon 
seit  dem  letzten  Jahre  neue,  reizolle  Formen 
und  ebenfalls  neue,  schöne  Farbenwirkungen 
gefunden.  Die  Sachen  von  J.Winh  art  &  Cie., 
Wilhelm  und  Lind,  nach  Entwürfen  von 
H.  Kellner,  von  Berlepsch  und  Anderen 
gearbeitet,  Kannen,  Vasen,  Cachepots, 
Krüge  und  Kühlgefässe  und  noch  manches 
Andere,  erfreuen  das  Auge  durch  edle 
Grundformen  ebensosehr,  wie  durch  dis¬ 
krete  und  eigenartige  Ornamentik  und 
schöne  Farben.  Denn  auch  die  letzteren 
spielen  jetzt  hier  bei  den  Kupfergeräthen  eine  Rolle;  man  hat  —  wohl  zum  Theil  bei  den  Japanern  — 
gelernt,  dem  Kupfer  geschmackvolle  neue  Farben  und  Patinen  zu  geben,  man  arbeitet  es  vielfach 
mit  Bronce  und  anderen  Metallen  zusammen  und  erzielt  so  reiche  Wirkungen.  Bald  gibt  ein  schönes, 
warmes  Braunroth  den  Grundton,  bald  ein  gleichmässiges  Patinagrün,  bald  auch  ein  tiefes  Schwarz 
und  davon  heben  sich  goldgelbe  Broncebeschläge  oder  blanke  Schmiedeeisengestelle  prächtig  ab. 
Zu  den  gelungensten  Stücken  dieser  Sparte  zählen  auch  ein  Theeservice  von  Eugen  Berner  mit 
Mistelmotiv,  einige  Vasen  von  Schmuz-Baudiss,  an  denen  japanische  Metalllegirungen  verschiedener 
Art  äusserst  geschmackvoll  zur  Dekoration  angewandt  sind  und  die  hübschen  kleineren  Sachen  von 


Architektur  und  Kunsthandwerk 

Aus  Raum  No.  25,  entworfen  und  eingerichtet  von  Architekt 
Theodor  Fischer- München 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


Steinicken  und  Lohr.  Die  letztere  Firma  stellt  auch  einen  höchst  originellen  Schirmständer,  in 
Messing  und  Eisen  geschmiedet,  aus,  ein  Stück,  das  beweist,  wie  mit  liebevollem  Erfindergeist  die 
neuen  Zierkünstler  sich  auch  des  unscheinbarsten  Hausgeräthes  annehmen.  Letzteres  zeigt  sich  auch  in 
den  vortrefflich  erfundenen  Gardinenstangenhaltern  von  R.  Riemerschmid.  Eine  Reihe  der  Künstler 
hat  sich  mit  Beleuchtungskörpern  für  elektrisches  Licht  beschäftigt  und  es  ist  ihnen  überraschend 
gelungen,  himmelweit  weg  von  allem  Herkömmlichen  das  Schöne  zu  finden;  eine  Beleuchtungsart,  wie 
die  Glühlampe,  die  dem  Musterzeichner  absolut  keine  technischen  Beschränkungen  auferlegt,  muss  ihm 
ja  auch  Gelegenheit  zur  reichsten  Entfaltung  seiner  Phantasie  bieten.  Wir  nennen  die  Arbeiten  von 
Eugen  Berner,  Richard  Riemerschmid,  Otto  Eckmann,  Wilhelm  und  Lind.  Gerade  diese 
Sachen  illustriren  das  Bestehen  eines  Bedürfnisses  nach  neuem  Stil,  zeigen,  wie  mit  dem  Bedürfniss 
auch  die  Mittel  entstehen,  es  zu  befriedigen  und  wie  die  Sache  selbst,  für  welche  diese  Mittel  ersonnen 
sind,  zum  Schmuck  für  das  Ganze  wird.  Gerade  auf  dem  Gebiet  der  Nutzbarmachung  der  Elektrizität, 
die  so  viel  praktische  Fortschritte  mit  sich  bringt,  liegen  auch  tausend  Quellen  für  das  Schöne.  In 
diese  Gruppe  gehört  auch  ein  Kamin  für  Gasheizung  von  Wilhelm  Bertsch  —  dem  Architekten 
des  ganzen  Raumes  No.  26.  Gerade  diese  praktischen  Gaskamine  schreckten  bisher  Manchen  ab 
wegen  ihrer  maschinellen  Hässlichkeit  —  hier  ist  gezeigt,  dass  sich  die  Einrichtung  zum  Mindesten 
so  behaglich  gestalten  lässt,  wie  die  vornehme  und  unbequeme  «Cheminee». 

Im  Allgemeinen  —  eine  Anzahl  sehr  gediegener  Arbeiten  auf  dieser  Ausstellung  ändern  daran 
nichts  —  hat  die  Goldschmiedekunst  bei  uns  verhältnissmässig  bis  jetzt  am  Wenigsten  vom  «neuen  Stil» 
profitirt.  Woran  dies  liegen  mag,  ist  nicht  ganz  klar  —  vielleicht  zunächst  daran,  dass  Schöpfungen 
in  den  alleredelsten  Materialien  naturgemäss  ein  kaufkräftigeres  Publikum  voraussetzen,  als  wir  es 
haben.  Und  dann  ist  gerade  das  kautkräftigste  Publikum  sehr  konservativ  und  am  Wenigsten  tolerant 
gegen  die  Launen  des  erfindenden  Künstlers.  Hier  in  München  stellt  ausser  Fritz  von  Miller  auch 
August  Offterdinger  (Hanau)  geschmackvolles  Silbergeräth  aus,  Ziergefässe  und  Vasen,  zum  Theil 
von  reichbewegten,  echt  modernen  Formen.  Paul  Merk  lässt  uns  einige  Vitrinen  mit  Schmuck  sehen, 
wobei  auffallender  Weise  die  kostbarsten  Stücke  an  Grazie  und  Mannigfaltigkeit  der  Form  von  den 
einfacheren  weit  überboten  werden.  Es  ist  als  könnten  sich  die  Zeichner  nur  schwer  entschliessen, 
kostbare  Steine  dem  Eindruck  des  Ganzen  unterzuordnen,  sie  als  Zierath  anzuwenden  —  fast  immer 
erscheinen  sie  als  Hauptsachen  und  das  Uebrige  als  Fassung.  Wir  können  auch  hier  von  den  Alten 
lernen  —  sie  besetzten  ihre  Schmuckstücke  mit  Edelgestein  und  wollten  nicht  blos  ihre  Edelsteine 
durch  die  Folie  der  Goldschmiedarbeit  heben.  Als  werthvolle  grössere  Stücke  sind  hier  noch  zu  nennen: 

o 

die  etwas  zu  absichtlich  gothisirende  und  für  ein  Gebrauchsstück  zu  komplizirte  Tischglocke  von 
Blachian,  die  beiden  einfach-schönen  Sektschalen  von  Theodor  Heiden,  ein  «Bierpokal»  und  ein 
zierlicher  Aufsatz  von  Max  Strobl.  Max  Rothmüller  bringt  gefällige  kleinere  Schmucksachen. 
Durchaus  moderne  Form  hat  Hermann  Hirzel  (Berlin)  seinen  in  den  «Vereinigten  Werkstätten» 
hier  ausgeführten  Schmucksachen,  meist  Brochen ,  gegeben  und  es  ist  manches  Schöne,  aber  auch 
manches  Gewaltsame  darunter.  Das  bemerken  wir  —  selbstverständlich !  —  ja  noch  bei  vielen  der 
ausgestellten  Arbeiten  mit  Missbehagen ,  dass  sie  allzu  laut  schreien :  « Ich  bin  modern !  Ich  bin 


O' 


Copyright  1898  by  Kraut  Haufstaengl 


Franz  Slmna  plnx. 


Copyright  189S  by  Franz  Hantstnengl 


Unschlüssig 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


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originell ! »  Aber  das  sind  Dinge,  die  man  in  den  Flegeljahren  eines  neuen  Stils  eben  mit  in  den  Kauf 
nehmen  muss.  Als  durchaus  vornehmes,  erstklassiges  Stück  muss  der  schöne  Silberpokal  nebst  Teller, 
mit  einem  Lorbeermotiv  dekorirt,  bezeichnet  werden,  den  Steinicken  und  Lohr  ausgestellt  haben. 
Das  ist  «modern»  ohne  jede  Aufdringlichkeit  und  schön  ohne  «Tendenz».  Nicht  unerwähnt  bleiben 
dürfen  die  weich  und  anmuthig  modellirten  Medaillen  meist  wohl  französischen  Ursprungs,  die  in  einem 
Glaskästchen  ausgestellt  sind. 


Mit  aufrichtiger  Befriedigung  kann  der  Kunstfreund  auf  die  Mannigfaltigkeit  der  Formen  sehen, 
die  an  den  ausgestellten  Möbeln  auffällt.  In  der  Wahl  und  Zusammenstellung  der  Holzarten,  dem 

Schmuck  durch  Beschläge,  in  dem  Bestreben, 
das  Zweckmässige  mit  dem  Schönen  zu 
vereinigen  —  eigentlich  ist  das  Letztere  ja 
die  Hauptparole  der  ganzen,  in  Rede  stehen¬ 
den  Bestrebungen  —  in  der,  meist  glücklich 
realisirten  Absicht,  einfach  und  vornehm  zu 
sein  und  auch  die  kleinste  Zuthat  nicht  der 
künstlerischen  Fürsorge  des  Erfinders  ent¬ 
gehen  zu  lassen,  zeigt  sich  hier  ein  ganz 
unerschöpflicher  Reichthum  von  Phantasie 
und  Können.  Bernhard  Pankok,  einer 
der  feinsinnigsten  Münchener  Stilisten,  der 
auch  für  den  Buchschmuck  viele  wirksame 
und  durchgeistigte  Arbeiten  schon  geleistet 
hat,  der  vielseitige  Richard  Riemer- 
schmid,  Martin  Dülfer,  der  Architekt 
der  Kabinette  24  und  25,  L.  Hohlwein, 
Bernhard  Wenig,  F.  X.  Wagner,  sie 
Alle  haben  Stücke  zur  Ausstellung  geliefert, 
die  höchster  Beachtung  werth  sind.  Auf 
.  ,  keinem  Gebiete  des  Handwerks  war  wohl 

Aus  Raum  No.  26,  ausgelührt  nach  Angabe  des  Architekten 

Wilhelm  Bartsch- München  noch  vor  Kurzem  so  kläglicher  Schlendrian 

zu  beklagen,  wie  auf  dem  der  Kunsttischlerei.  Was  nicht  sklavische  Nachbildung  alter  Form  war, 
war  sinn-  und  stillose  Arbeit  nach  schlechten  Musterbüchern,  ans  Erfinden  dachte  kein  Mensch. 
Und  nun  sehen  wir,  dass  sich  nirgends  so  Mannigfaltiges  erfinden  lässt,  wie  hier!  Und  noch  eins: 
hier  ist  vielleicht  der  Punkt,  an  dem  eine  Popularisirung  des  «neuen  Stils»  erspriesslich  einsetzen 
kann.  Das  Allereinfachste  kann  schön  sein  im  neuen  Sinn,  der  schlichteste  Holzstuhl,  das  bescheidenste 
Schränkchen.  Und  Nichts  braucht  theurer  zu  werden,  als  es  bisher  war  —  wenn  wir  überhaupt  von 
solider  Arbeit  reden.  Jetzt  sind  die  Preise  für  modernes  Kunstgeräth  vielfach  noch  unverhältniss- 
mässiof  hoch,  weil  von  vorneherein  nur  auf  einen  beschränkten  Absatz,  weil  nur  auf  wohlhabende  Käufer 

o  7 


II  14 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


gerechnet  war.  In  Zukunft  wird  man  sich  auch  damit  beschäftigen  müssen,  die  Verkaufswaare  der 
bescheideneren  Werkstätten  auch  mit  in  den  Bereich  des  eben  errungenen  Kunststils  zu  ziehen.  Warum 
soll  ein  Stuhl,  der  zehn  oder  zwölf  Mark  kostet,  nicht  auch  von  guter  Form  sein  können,  da  die 
gute  Form  vielfach  durchaus  kein  Plus  an  Arbeit  bedingt?  Eins  allerdings  bedingt  dieser  Stil:  saubere, 
liebevolle  Ausführung.  Für  den  Winkelschreiner,  der  gewohnt  ist,  jedes  Stückchen  Zierwerk  fertig  in 
einem  Spezialgeschält  zu  kaufen  und  seinen  formlosen  Kasten  aufzuleimen,  ist  hier  nichts  zu  suchen. 
Aber  der  kleinste  Handwerksmeister,  der  Lust  und  Liebe  zur  Sache  und  geschickte  Hände  hat,  kann 
jetzt  Gelegenheit  finden,  emporzukommen,  wenn  er  mit  seiner  Zeit  geht. 

H.  E.  v.  Berlepsch,  der  einer  der  Thätigsten  der  Kunst  im  Handwerk  geworden  ist,  hat 
zwei  Kabinette  eingerichtet,  die  auch  als  Muster  neuzeitlicher  Innendekoration  in  jeder  Beziehung  Lobes 
werth  sind.  Ganz  besonders  aber  interessiren  uns  die  nach  seinen  Entwürfen  auso-eführten  Möbel  der 
Firma  Buyten  und  Söhne,  Düsseldorf.  Es  sind  Holz-  und  Polstermöbel  von  noblen  Formen,  geziert 
hauptsächlich  durch  Einsätze  von  schönmaserigem  Holz,  das  durch  ein  neues  Verfahren  (Xylektypom) 
so  bearbeitet  ist,  dass  die  Zeichnungen  der  Maserung  etwas  vertieft,  aber  in  scharfem  Relief  zu  Tage 
treten.  Bei  einem  Th  eil  dieser  Füllungen  liegt  auch  ein  flaches  Pflanzenornament  auf  dem  gemaserten 
Hintergründe.  Es  handelt  sich  offenbar  um  eine  Art  von  Aetzung,  welche  die  weicheren  oder  beim 
Aetzen  nicht  durch  Firniss  geschützten  Theile  der  Holzplatte  wegnimmt,  die  Theile  von  festerer 
Struktur  oder  die  abgedeckten  Zeichnungen  aber  stehen  lässt.  Auch  reich  dekorirtes  Kupfergeräth 
in  diesen  Räumen  ist  nach  Berlepsch’  Entwürfen  getrieben  und  von  ihm  stammt  auch  eine  Serie  sehr 
instruktiver  Pflanzenstudien  für  Ornamentzwecke  in  einer  Vitrine. 

Wenden  wir  uns  nun,  der  Uebersichtlichkeit  halber  die  ausgestellten  Schätze  in  Gruppen  zu¬ 
sammenfassend,  zu  den  Stickereien,  so  muss  wohl  in  erster  Linie  der  Name  Hermann  Obrist’s  genannt 
werden.  Er  hat  die  Malerei  mit  der  Nadel,  ein  Gebiet,  auf  dem  die  ödeste  Dilettanterei  gang  und 
gäbe  war,  zur  reinen  Kunst  erhoben,  zu  einem  Ding,  das  fein  genug  ist,  Selbstzweck  zu  sein.  Er  ist 
der  Zarteste,  Sensitivste  unter  unsern  modernen  Ornamentikern  und  Frl.  C.  Ruch  et,  die  seine  Ent¬ 
würfe  in  Nadelmalereien  umsetzt,  darf  nahezu  als  ihm  congenial  gelten,  so  hoch  erhebt  sich  ihre 
Fertigkeit  über  alles  Handwerksmässige.  Das  Kissen  mit  dem  rothen  Umbelliferenmotiv  aut  grünem 
Moire,  das  dreieckige  Kissen,  das  weisse  Blatt  mit  den  dunklen,  wunderbar  bewegten  Haferähren  — 
das  sind  Meisterstücke.  Auch  P  ankok  hat  für  ein  seidenes  Kissen  den  gelungenen  Entwurf  geliefert, 
Peter  Behrens,  der  auch  durch  dekorative  Buntholzschnitte  ehrenvoll  vertreten  ist,  Entwürfe  tür 
einfache,  aber  sehr  gut  wirkende  Knüpfteppiche,  Bruno  Paul  die  Zeichnung  zu  grossen  Vorhängen, 
deren  geistreich  erdachte  Technik  darin  besteht,  dass  schwarze  Seidenlitzen  auf  blaues  Uniformtuch 
aufgenäht  sind.  S.  Meinhold  arbeitet  mit  Erfolg  im  Geiste  Obrist’s,  M.  Behmer  lässt  uns  die 
Anwendung  des  neuen  Stils  auf  die  Leinenstickerei  sehen.  In  ihrer  Erfindung  von  eigentümlich 
naiver  Künstlichkeit  und  sehr  geschmackvoll  sind  die  mikroskopisch  zarten  Stickereien  von  Ein- 
gebornen  Südamerikas,  die  Konsul  W.  Körte  uns  vorführt.  E.  Erber,  L.  M.  Riess,  Prinzessin 
Cantacuzene,  A.  Naue  u.  A.  mit  ihren  Stickereien  verschiedenster  Art  wären  ebenfalls  mit  Aus¬ 
zeichnung  zu  nennen.  Otto  Ubbelohde  hat  einen  Wandschirm  in  Gobelinimitation  ausgeführt, 


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der  allerhand  Nachtgevögel  mit  ebensoviel  Stimmung  als  Farbenschönheit  und  zeichnerischem  Ge¬ 
schick  zur  Darstellung  bringt. 

Sehr  Gutes  leistet  speziell  Süddeutschland  auf  dem  Gebiete  der  Keramik  und  zwar  sind  auch 
hier  zahlreiche  « neue  Techniken »  zu  bewundern.  Da  sind  die  mannigfaltigen  Krüge  und  Blumentöpfe 
der  Familie  von  Heid  er  (München)  mit  ihren  koloristisch  so  reizvollen  Glasuren  und  ihrem  vornehm 
einfachen  Dekor,  da  sind  Schmuz -Baudiss’  keramische  Kabinetsstückchen,  in  denen  die  einfachste 
Töpferarbeit  raffinirt  zu  künstlerischer  Vollendung  gesteigert  ist,  da  sind  die  süperben  Geräthe  aus 

glasirtem  Thon,  die  Frau  E.  Schmidt- 
Pecht  (Constanz)  mit  seltener  Formen¬ 
phantasie  und  konsequentem  Stilgefühl 
fertigt,  da  sind  die  prächtigen  Porzellan¬ 
malereien  von  M.  Rossbach,  die  Vasen 
von  Max  Lau  ge  r  (Karlsruhe)  und  vieles 
Andere.  Glasgefässe  sind  im  Glaspalast 
merkwürdig  wenig,  wenn  auch  nur  in 
guten  Stücken  vertreten ;  zu  diesen  zählen 
die  Ziergläser  von  F.  A.  O.  und  Paul 
Krüger  (München)  und  die  Nachbildungen 
irisirender  altrömischer  Glasgefässe  von 
FriedrichZitzmann  (Wiesbaden).  Auf 
sehr  hoher  Stufe  stehen  die  Glasmosaik¬ 
bilder  nach  dem  Muster  und  wohl  auch 
zum  guten  Theil  mit  dem  Material  der 
bekannten  Tiffanyfenster  ausgeführt  von 
Karl  Ule  in  München  und  Karl  Engel¬ 
brecht  in  Hamburg,  welch’  Letzter  einen 
unschätzbaren  Helfer  in  dem  in  Paris 
lebenden  Maler  Christiansen  besitzt. 
Diese  Glasbilder  sind  ohne  Zuhülfenahme 
des  Pinsels  aus  mannigfaltig  gefärbten, 
opalisirenden  und  glatten,  dicken  und  dünnen,  gewellten_und  gekörnten  Glasplatten  zusammengesetzt 
und  übertreffen  in  ihrer  ungebrochenen  Leuchtkraft  und  starken  Zierwirkung  alle  Glasmalereien  alten 
Stils.  Der  beschränkte  Raum  gestattete  uns  hier  kaum,  auch  nur  das  Hauptsächlichste  zu  erwähnen 
und  es  mag  so  Manches  ungenannt  geblieben  sein,  was  verdient  hätte,  mit  in  erster  Reihe  zu  stehen. 

In  der  Jahresausstellung  der  «Secession»,  welche  heuer  zum  ersten  Male  König  Ludwigs  I. 
prachtvoller  korinthischer  Tempel  am  Königsplatze  aufgenommen  hat,  spielt,  wie  es  bei  dem  beschränkten 
Raum  gar  nicht  anders  sein  kann,  das  Kunstgewerbe  nur  eine  nebensächlichere  Rolle,  wenn  auch  unter 
dem  Wenigen,  was  zu  sehen  ist,  gerade  ganz  hervorragende  Sachen  sich  befinden.  Im  Vordergrund 


Architektur  und  Kunsthandwerk 

Aus  Raum  No.  29,  entworfen  und  eingerichtet  von  den  Architekten 
Hclbig  und  Haiger-  München 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT. 


des  Interesses  stehen  wohl  die  bekannten  Gläser  von  Galle  und  Tiffany.  Der  Erstere,  der  seinen  mit 
ganz  unbeschreiblicher  Pracht  und  Schönheit  gefärbten  Gläsern  nebenbei  auch  tiefsymbolische  Bedeutung 
zu  geben  versucht  und  sie  mit  sinnigen  und  übersinnigen  goldenen  Inschriften  schmückt,  behandelt 
seine  bunten,  überfangenen  und  immer  wieder  auf’s  Neue  durch  aufgetragene  Pasten  bereicherten 
Gläser  etwa  wie  Onyx  oder  Achatblöcke  und  schneidet  Gemmen  daraus,  wahre  Wunderwerke  der 
Technik,  des  Geschmacks  und  der  Geduld.  Bei  Tiffany  ist  die  eigentliche  Arbeit  des  Glasbläsers 
einfach  und  die  Formen  sind  es  nicht  minder.  Aber  das  Material  ist  mit  so  fabelhafter  Virtuosität 
gefertigt,  dass  das  Glas  selber  zum  Edelstein  wird.  Eine  beispiellose  Geschicklichkeit  im  Hervorrufen 
von  Absichtlichkeiten  und  Zufälligkeiten,  ein  geistvolles  Ausnützen  der  chemischen  und  physikalischen 
Gesetze  ermöglichen  es  Tiffany,  seinen  Geräthen  die  farbenreichsten  Muster  zu  verleihen;  das  irisirt 
in  allen  Farbenskalen,  Plauenfedermuster  durchziehen  das  Glas,  Metallglanz  ziert  es  —  es  ist  als  seien 
Opale  geschmolzen  und  von  der  Pfeife  des  Glasbläsers  zu  Geräthen  geformt.  Die  Preise  der  Sachen 
entsprechen  freilich  ihrer  Kunstfertigkeit  vollauf. 

Mannigfaltiger  ist  die  Kollektion  des  Belgiers  Philipp  Wo  1  fers  (Brüssel).  Er  verbindet 
Elephantenzähne  mit  Bronce  oder  vergoldetem  Silber,  oder  Gläser  der  Galle’schen  Technik  ebenfalls 
mit  Silberguss,  dessen  Vergoldung  zum  Theil  wieder  durchgeputzt  ist,  er  giesst  in  Zinn  und  Bronce. 
Vieles  von  seinen  Arbeiten  gehört  eigentlich  in’s  Gebiet  der  Kleinplastik.  Das  gilt  auch  von  dem 
«Standspiegel«  von  E.  M.  Geyger  in  Florenz,  der  so  unbeschreiblich  fein  ausgearbeitet  ist,  dass  er 
fast  eine  Radirung  in  Metall  heissen  könnte.  Feiner  Kunst,  aber  kaum  dem  «Handwerk»  gelten  die 
eminent  weich  und  anmuthig  modellirten  Leuchter,  Aschenbecher,  Rahmen,  Bonbonnieren  u.  s.  w.,  die 
P.  M.  Dubois  für  Zinnguss  modellirt  hat.  Dies  Alles  ist,  wie  auch  die  Sachen  von  Charpentier 
im  Glaspalast,  nur  äusserlich  einem  praktischen  Zweck  angepasst,  während  die  Mehrzahl  der  deutschen 
Arbeiten,  die  wir  aufzählten,  dazu  angethan  sind,  uns  das  Schöne  thatsächlich  in  den  Gegenständen 
des  täglichen  Gebrauchs  in  die  Hand  zu  geben.  Mehr  in  letzterem  Sinne  gearbeitet  ist  ein  Salzgefäss 
und  ein  aus  den  verschiedenartigsten  edlen  Materialien  sehr  graziös  gearbeiteter  Becher  von  Henri 
Nocque  in  Paris. 

Alles  in  Allem:  wir  sind  auf  gutem  Wege,  durch  die  Leistungen  unserer  für  dekorative  Zwecke 
arbeitenden  Künstler  einen  Stil  zu  finden  und  zu  fixiren,  der  die  Zeit  um  das  Jahrhundertende  für  die 
Nachwelt  in  würdiger  Weise  kennzeichnet  und  unser  voller  Dank  gebührt  allen  Denen,  die  daran 
weiterbauen. 


Otto  Strtttzel  piux. 


Phot.  F.  Haufctaengl,  München 


Am  Kanal 


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