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DIE
KUNST UNSERER ZEIT.
EINE CHRONIK
DES
MODERNEN KUNSTLEBENS.
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IX
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MÜNCHEN.
FRANZ HANFSTAENGL
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
*
E. MÜHLTHALER’S KGL. HOF -BUCH- UND KUNSTDRUCKEREI.
Inhalts-Angabe
1898. I. HALBBAND.
Literarischer Theil
Seite
Kirchbach, Wolfgang. Religiöse Kunst ... 97
Meissner, Franz Hermann. Franz Stuck ... 1
Radler, Franz. Der Frauentypus in der deutschen
Jahrhundertmalerei . 81
Seite
Rottenburg, Heinrich. Eduard Grützner ... 33
— F. Klein-Chevalier . 92
R. H. A. v. Liezen-Mayer f . 95
* * Peter Janssen . 57
Vollbilder
Seite
Botticelli, Sandro. Die Beweinung Christi . . 44.3
v. Defregger, Franz. Madonna . U-7-
van Dyck, Antonius. Christus am Kreuz . . . H-3-
Ekenaes, J. F'orellenfischer am Ufer . gy.
Grützner, Ed. Nach schwerer Sitzung ... 57
— Fallstaff und sein Page . 44
— Versuchung . 41
— Eritis sicut Deus . . . . 49-
— Kein Tröpferl mehr . 49
— Die Wilderer . 5 7-
— Fächer .
Hofmann, J. M. H. Predigt am See . 1-29
Janssen, Peter. Wandgemälde in der Aula der
Düsseldorfer Akademie . 4r5"
— Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . 6-5"
— Deckengemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . jpg
— Friedrich II. entlässt deutsche Ordensritter
zur Colonisirung Preussens 1236 . . . . . -fT
— Die hl. Elisabeth und ihr Zuchtmeister . . Jtri
— Spanische Blumenverkäuferin .
— Der Schweizer Gebet bei Sempach .... ß -5
Seite
J anssen, Peter. Mönch Dodde und die bergischen
Bauern in der Schlacht bei Worringen . . . ^85
Kau Ibach, Hermann. Maria . 1-29-
Klein-Chevalier, F. Morgendämmerung im
Spielsaal von Ostende . 85
KÜnger, Max. Kreuzigung . u- f -
v. Maffei, Guido. Reineckes Ende ..... 89
Max, Gabriel. Christus . -tsT'
Reni, Guido. Ecce homo .... LD5-
Roubaud, Fr. Lebende Brücke . J8cr
Rubens, P. P. Der Höllensturz der Verdammten KG-"
Sorbi, R. Dante in Florenz . 97
Stuck, Franz. Selbstbildnis . ^9
— Portraitstudie . q*-
— Kämpfende Faune .
— Das böse Gewissen . .2-7'
— Tänzerinnen . ^25
— Das verlorene Paradies . ^25
— Bacchantenzug .
v. Uhde, F. Das heilige Abendmahl . i24-
Vecellio, Tiziano. Der Zinsgroschen . 4-0-1
da Vinci, Lionardo. Das heilige Abendmahl .
Wunderwald, D. Flucht nach Egypten . . . L37
F extbilder
Seite I
Battoni, Pampeo. Magdalena . 114
v. Bo den hausen, C. Madonna mit dem Jesus¬
knaben . 1 3 1
di Bondone, Giotto. Kreuzigung . 99
Botticelli, Sandro. Der heil. Sebastian .... 105
Cabanel, A. Der Sündenfall . 126
Seite
Die erste Christusdarstellung in den Katakomben
von San Calisto aus Bosio. Roma sotteranea 97
Cornelius, Peter. Das jüngste Gericht ... .121
Cranach, Lucas, d. Aelt. Maria mit dem Jesus¬
kinde . 112
Aus dem Deckengemälde im Kloster Ettal . . .117
Seile
Seite
v. Flesch-B runningen, L. Golgatha .... 133
Führich, Jos. Die Hochzeit zu Kana . . . .118
Fürst, M. Herz Mariae . 135
v. Gebhardt, E. Pieta . 123
Grützner, Ed. Die hl. Nothburga . 33
— Shylock . 35
— Requiescat in pace . 37
— Aus Eduard Grützner’s Skizzensammlung . 39
— Interieur . 4°
— Studienkopf . 41
— Interieur . 43
— Interieur . 45
— Aus Eduard Grützner’s Skizzenbuch ... 47
— Interieur . 48
Studie . 49
— Interieur . 51
— Studie . 53
— Studien . 5 5
Hofmann, J. M. H. Ich bin der Weg, die Wahr¬
heit und das Leben . 1 30
Holbein, Hans, d. Jüng. Die Madonna des Bürger¬
meisters Meyer . . . 113
Janssen, Peter. Portrait . 57
— Hermannsschlacht . 59
— Thusnelda im Triumphzug des Germanicus 61
— Prometheus . 63
— Die Begegnung Friedrich des Grossen mit
Ziethen bei Torgau . 63
— Bildniss des Inspector Holthausen .... 64
— Bildniss Andreas Achenbach’s ...... 65
— Studie . . . . 66
— Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . 67
— Studie . 68
— Studie . . 69
— Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . 70
Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . 71
- Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . . 72
— Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer
Akademie . 73
— Sophie von Brabant zeigt den Harburgern
den jungen Landgrafen Heinrich das Kind 1248 75
— Skizze aus Spanien . 76
Herzog Heinrich der Löwe vor Barbarossa 77
Janssen, Peter. Das tolle Jahr .
Skizze aus Spanien .
Kindheit des Bacchus .
Studie .
Studie .
Klein - Chevalier. Studie zum Frescogemälde im
Düsseldorfer Rathhaussaal .
— Studie Ostende .
Studie Ostende . .
Studie zu dem Bilde « Morgendämmerung
im Spielsaal zu Ostende» .
Studie .
— Studie . . .
Studie Ostende . . .
— Kuppelgemälde in der Berliner Gewerbeaus¬
stellung .
Studie zu Nero aus dem Gemälde «Agrippina»
— Skizze zu dem Bilde: «Wiederankunft des
durch Napoleon vertriebenen Casseler Kur¬
fürsten Wilhelm » .
Küsthardt, E. Friede sei mit Euch . . . . .
Lippi, Fra Filippo. Maria das Kind. verehrend .
Overbeck, F. J. Jesus wird gebunden zum Hohen¬
priester geführt *. .
Palma Vecchio. Maria mit dem Kinde und zwei
Heiligen .
Pi gl heim, B Grablegung Christi .
Plockhorst, B. Lasset die Kindlein zu mir kommen
Rembrandt van Rijn. Die Kreuzabnahme . .
Stuck, Franz. Aus Franz Stuck’s Atelier . . .
— Aus Franz Stuck’s Atelier .
— Aus Franz Stuck’s Atelier .
— Franz von Lenbach . .
— Spielende Faune .
— - Studien zu « Das verlorene Paradies » . . .
Der Tanz .
— - Aktstudien . .
— Aktstudien .
Herbstabend .
— - Aktstudie .
Beethoven . ' .
— Beethoven .
— - Juliane Dery .
— - Portraitstudie .
— Die wilde Jagd . .
— Tänzerinnen .
Veronese, Paolo. Die Findung Moises . . . .
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107
FRANZ STUCK
Ein modernes Künstlerbildniss
von
FRANZ HERMANN MEISSNER
Worin beruht zuletzt der verführerische
Zauber und die unwiderstehliche Fern Wirkung-
der Antike auf die Jahrhunderte und auf
jene Völker vor allem, die dem Wesen ihrer
Rasse nach auf ganz andere Pfade gewiesen
sind? Gewiss war da auf der kleinen Halb¬
insel im Mittelmeer einst ein bewunderns-
werthes Volk in Wirksamkeit, dem in er¬
staunlicher Vollkommenheit eine herbschöne
Kunst erwuchs und eine fast ideale Gesetz-
Aus Franz Stuck’s Atelier
mässigkeit in Allem, was es schuf, zu Gebote
stand. Und das Bild, welches mit den Gestalten eines Polygnot und Apelles, — Phidias, Praxiteles,
Skopas, — Iktinos und Kallikrates, — eines Aischylos, Sophokles, Euripides, — eines Sokrates
Plato, Aristoteles, die allesammt in dem Namen Perikies gipfeln, vor unseren Augen aufgerollt wird,
ist in der That der glänzendsten eines aus der Geschichte, und berauschend der königliche Natursinn,
welcher dem neueren Menschen daraus emportaucht. Aber es bleibt doch eine kühle Schönheit darin,
die dem Verlangen unserer Nerven nach Fleisch und Blut, nach den dunklen Abgründen seelischer
Offenbarungen nichts bietet, . . . das deutsche Nachfahren-Gemüth wird daran so wenig satt, wie das
der Langobarden und Ostgothen, die niemals in den antikischen Ländern, so lange sie einst dort
hausten, heimisch wurden. Ein seltsames Räthsel scheint diese trotz alledem unwiderstehliche An¬
ziehungskraft des Antikischen auf uns zu sein! — Wo mag die Lösung liegen? —
Aber da ist ja ein sonderbares Gegenstück dazu in der neueren Geschichte, — nämlich das
christlich - romantische Mittelalter. Auch dieses umschwebt ein funkelnder Nimbus; — auch Dante
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und Giotto, — auch das staufische Zeitalter, in dem Parsifal, Tristan, die Lieder Walthers von der
Vogelweide, das Nibelungenlied in seiner heutigen Fassung gedichtet wurden, ist eine farbenglühende
Blumenaue, auf der unerhörte Thatkraft und schrankenloser Wille, der warme Schwung ungebrochenen
Sinnenlebens und abenteuerliche Freiheitslust sich verführerisch tummeln. Auch Dante hat sechs Jahr¬
hunderte hindurch, so rassefern er uns steht, über unserem Wachsen wie eine wärmende Sonne ge¬
leuchtet, und die mittelalterliche Welt, die uns in ihren treibenden Problemen geradezu feindlich ge¬
sonnen ist und Jahrhunderte lang desshalb vergessen war, zeigt dennoch immer wieder eine gleiche
geheimnissvolle Anziehungskraft. Auch sie hat zeitweis unserem Wachsen starke Anregungen gegeben,
und vor allem ruht unzerstörbar auf ihrem Grunde das Phantasieleben unseres Volks, das seine Lieder
und Sagen diesem Geschichtskreise entnommen hat. — — — Worin liegt die räthselhafte Poesie
dieser Kreisläufe, — worin die tiefe Einwirkung auf stark bewegte und aufwärtsgehende Jahrhunderte,
während hingegen das medicäische Zeitalter und künstlerisch auch das parallele der Reformation,
deren Bild so unendlich reicher, voller, abgeschlossener, gewaltiger vor uns steht, — deren Ideen
den Anfangspunkt unserer heutigen Anschauung bezeichnen, nur mittelbare künstlerische Anziehungs¬
kraft besitzen und besonders auch nur Jahrhunderte schwächeren und wenig fruchtbaren Charakters
befruchtet haben?
Mir will scheinen, als läge des Räthsels Lösung in der Fernwirkung des Unbekannten, Un¬
gewissen, — in dem Eindruck dämmeriger Umrisse und fahler Halbtöne auf die schwungvolle
germanische Phantasie !
Nur eine Handvoll originaler Kunstwerke von Bedeutung hat uns — paradox gesprochen ! —
die Antike hinterlassen, und ihre Malerei sogar können wir uns nur durch Vergleiche und Schlüsse
vorstellen. Die Kunst des staufischen Zeitalters ist im Gegensatz zu den 1000 Urkunden der
Renaissance auch nur ein kümmerliches Bruchstück, — — aber andächtige stehen wir vor diesen
Resten und schauen traumversunken darauf, — wir ahnen dahinter eine berauschende Blüthe, die
unserem Wissen noch ziemlich verschlossen ist, — und schwungvoll baut die Phantasie daraus ein
Völkereden, in dessen Bild unser eigener Pulsschlag mit heissem Verlangen pocht, - — Hier scheint
des Zaubers Lösung zu sein ; — so mag Winckelmann im vorigen Jahrhundert mit seherischer Phan¬
tasie nach den reinen Spuren der Blüthezeit in dem Wust altrömischer Marmorklopfereien gesucht
haben, — so verblutete sich Carstens, als eine jugendfrische Zeit anhob, in homerischen Träumen,
— so siechte Genelli arm und einsam dahin, indess er eine antike Umrisskunst zu schaffen suchte.
So endete Feuerbach an den Forderungen seiner Pfadfinderseele tragisch.
Bis Arnold Böcklin kam. Der Träumer an sich, — der Verleuener aller geschichtlichen That-
Sachen. Antike und Romantik, — die beiden grossen Stimmungsprobleme, welche die einander
ablösenden Krafterreger in der ästhetischen Kulturarbeit geblieben sind, verschmelzen sich bei ihm
zu phantastischen Hymnen auf die entknechtete Menschennatur; in ihnen verkörpert er die heisse
Sehnsucht nach einem Paradies, wo Leib und Seele lockender Frieden verheissen ist. — Wenig mehr
als ein Jahrhundert lang ist diese neue Art von Phantasie an der Arbeit, ihre Träume in der Traum-
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
3
weit der Antike und der Romantik zu spiegeln, — immer bewusster ist das Umgehen der archäo¬
logischen Thatsachen geworden, — und «seherische Deutung» der beiden gewaltigen Zeitläufe das
Programm einer ganz neuen, der Zukunftskunst, geworden. Und Wagner, Böcklin, Nietzsche, Klinger
sind ihre Wahrzeichen. —
Antike und Romantik sind auch die Pathen für die originelle Kunstweise von Franz Stuck,
dessen umfangreiche und vielseitige Begabung ein feiner Instinkt für das Lebensvolle rechtzeitig auf
diese Bahn grosser unmittelbarer Vorgänger trieb. Ein moderner Künstlertypus wie diese und ohne
erhebliche Reste von Ueberlieferung in seinem Anschauungskreise, ist er gleichsam nur eine neue
Spielart von die¬
sem Typus des
modernen Phan¬
tasiemenschen.
Aus diesem Ge¬
sichtspunkt er¬
klärt sich die
starke Eigen¬
heit seines Stils,
- die Frühreife
seines Könnens,
— ein grosser
Erfolg in sehr
jugendlichem
Alter, — das
Zukunftsver¬
sprechen, wel-
chesseine sicher
anwachsende
Kunst von Zeit
immer grösse¬
ren Ergebnissen
gegen früher
giebt. —
❖ #
Für die Färb¬
ung wie das
innere Wesen
eines eigenar¬
tigen Kunst¬
stils ist es nie
belanglos, wo
Fiiner geboren
ist und zuerst
spielte und
welcherlei Ver¬
hältnisse seine
Jugendtage
umgaben. Man
lausche nur
Aus Fratiz Stuck s Atelier
zu Zeit mit
recht hinein,
dann wird man aus jedem echten Kunstwerk den Heimathton des schaffenden Künstlers heraus¬
hören, auf den seine Jugendträume abgestimmt waren. Denn die Jugendträume des Künstlers welken
nicht und sind der Brunnen gleichsam, zu dem der reifende Mensch immer wieder andächtig wie der
Pilger zum Gnadenbild zurückkehrt, sintemal die ganze Reife in Hinsicht der Kunst nicht viel mehr
als sündiger Verderb an einem vollkommenen wenn auch beschränkten Einst ist. Es ist dabei ein
Unterschied, ob man in der Stadt oder auf dem Lande, ob man in grossen oder kleinen Verhält¬
nissen seine ersten Träume erlebt. Das bunte Treiben der Strassen und der gesichtete Ton des
Elternhauses bereichern den Vorstellungskreis und schärfen den Witz, aber die Ruhe und Einsam-
l*
4
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
keit des Landes nährt andere, grössere und blutvollere, wohl auch schönere Kindertraumgesichte und
das Sichselbstüberlassensein der Landkinder, die ja meist ungestutzt in die Höhe wachsen, stärkt
dazu das Selbstvertrauen. Franz Stuck und Hans Thoma, die beide vom Lande in die Kunst ge¬
kommen sind, haben unverkennbar davon die eigenwillige Phantasie mit dem seltsamen Flüpfelschlag-, —
sie haben auch daher den männlich - herzhaften Stil, — ich möchte beinahe sagen: das Homerische
dem Stoff gegenüber. Wie vollendet hat sich bei Beiden dies in zwei Werken aufgeklärt: der süsse
Heimathton und die schlichte Grösse der Menschenbetrachtung, — nämlich in jener herrlichen Litho-
Aus Franz Stuck' 's Atelier
graphie, in welcher der Frankfurter Meister die Züge seiner Mutter gebildet, — und in jener rembrandt-
tiefen Radirung, auf der wir Stuck s Mutter, ihm so ähnlich und mit dem gleichen Feuer des Auges,
erblicken. Es sind zwei köstliche Dankopfer an das Heimath -Jugendglück und zwei prächtige Kunst¬
werke von echter Kraft zugdeich.
o
Fine schmeichlerische 1 raumhaftigkeit liegt über Stuck s schönsten Erfindungen und weht auch
durch viele Bilder von ihm. Da spürt man Heimatheindrücke. Er stammt aus einer Mühle wie der
geheimnissvolle ionträumer Rembrandt, — wie Carstens, der sein Leben lang in grauen homerischen
Zeiten hauste und sich nur in der Gegenwart nicht zurechtfand. Der Schmied, der Jäger, der
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
b
Fischer, der Müller sind die poetischen, die
Ausnahmegestalten des Landes, — seine
Elite gleichsam. Sie verkörpern in ihrem
Berufe die Sagenmenschen der Vergangen-
heit, — ein feiner Nimbus umgiebt ihr Thun,
das von allem Groben des Scholienschweisses
gelöst scheint und seit uralter Zeit durch die
Volksdichtung in eigenen Liederkreisen be¬
sungen ist; ihren Berufskreisen gehören auch
zumeist die absonderlichen Ouerköpfe, die
«Originale» des Landes an. Beim Müller
selbst ist es mehr der Ort als sein Thun,
mehr sein Werkzeug als dessen Bedienung,
welche den poetischen Reiz ausüben. Ob
sein Rad im freundlichen Erlenidyll unter
gierig dahinschiessenden und funkelnden
Wellen sich dreht und mit seinem ächzenden
Gesumm mystische Weissagung aus Ver¬
gangenheit oder Zukunft der sehnsüchtigen
Menschenseele eintönig zuraunt, — ob er
sein Haus abseits vom Ort auf einsamer Halde
aufgerichtet, um den flüchtigen Wind aufzufangen, — es bleibt immer etwas Besonderes und den
empfänglichen Naturmenschen Fesselndes in seinem Beruf. Und wenn er gerade kein Trottel ist,
dann kriegt die ganze Natur phantastisches Leben vor seinem Auge. Da ist die brütende Hitze des
Sommermittags auf seiner einsamen Halde. Der Himmel funkelt wie Kristall, dass man kaum hinein¬
schauen kann, — das Kraut und die Feldblumen schnaufen fast vor heissem köstlichem Duft und
tosen in lechzenden Farbenorgien, — die Cikaden musiciren wie toll. Alles ist in der höchsten,
in einer begeistert - hingerissenen Erregung, — nur der Mensch sitzt und träumt und ist still, und
vor den halb offen hinausspähenden Augen verwischen sich die Grenzen des Sichtbaren und phan¬
tastische Vorstellungen schwimmen mit flüchtigen Stimmen vorüber. Oder der Regen rauscht und
rattert auf dem Dach und mischt draussen die Umrisse und Farben ineinander, und so oft man hinaus¬
schaut, fallen Einem wehmüthige Lieder ein. Und dann die gluthrothe Inbrunst des Abends und die
weichen Hände der kosend heranschleichenden Nacht, bis alles dunkel und nichts mehr erkennbar ist.
Da schreit ein Vogel oder ein verfolgtes Thier, — gleich rieselt das Grauen über den Rücken des
Beschauers und unheimliche Bilder halten seinen Athem an. Das sind nur ein paar Leitstimmen, die
viele Zwischenglieder haben, — das sind nur ein paar Farbenklänge, wie sie ein einsames Gehöft fast
täglich Hebt, und sie müssen die Phantasie eines begabten und achtsamen Kindes stark machen und
ö o 1 ö
6
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
seine Seele so durchbilden, dass jeder besondere Eindruck zu einem inneren Erlebniss wird. Wenn
man in all die feineren Bilder - Eingebungen von Franz Stuck hineinguckt, kann man sich seine
Tuo-endtao-e o-ar nicht anders vorstellen. Die Heimath im niederbayerischen Flecken Tettenweis, wo
er 1863 geboren ist und die erste Jugend verlebte, hat den Träumer genährt in seinem Wesen. Er
mag später ein ganz fideles Kerlchen und zu allerlei Streichen jederzeit aufgelegt gewesen sein, —
wer solche Bilder wie er erdachte, der muss frühe schon das Träumen mit grossen Kinderaugen zur
unbewussten Kunst gemacht haben. Die frische Luft draussen, der weite Horizont und die — ach
so fröhlichen — Keilereien mit Schulgenossen aber gaben ihm einen gestählten Körper, unverdorbene
Instinkte und gelassene Ruhe der Nerven mit, durch die er leicht und sicher über die Weibmänner
der neueren « Empfindsamkeits - Malerei » emporstieg. —
*
* * «.
Diese kecke Ausbündigkeit der späteren Bubenjahre, dieser schwungvolle Uebermuth und das
Ueberlegenheitsgefühl des Landes dem bunten und vielfach so humoristischen Stadttreiben gegenüber
behält bei dem «blutjungen» Stuck, als er von der Realschule auf die Münchener Kunstgewerbeschule
und dann auf die Akademie übergeht, so merkwürdig stark die Oberhand für eine Anzahl Jahre, dass
man vom Träumer keine Spur findet. Diese Wachsthums -Erscheinung bei den Stärksten ist indessen
keine Seltenheit. Da wird durch äussere Verhältnisse und Ausbildung auf das Wesen etwas auf¬
gepfropft, was den eigenthümlichen Charakter desselben ganz verdeckt, bis ein glücklicher Zufall diesen
«Ansatz» eines Tags hinwegweht. — Dieser frische junge Mensch fühlte sich fremd in der grossen
Stadt, — die Mittel, welche ihm für die Ausbildung zu Gebote standen, waren gering, — er musste
sich umschaun und wacker rühren, um die bescheidenen Markstücke zu seinem Lebensunterhalt auf¬
zubringen. Jugend hat keine grosse Wahl in ihrem Erwerbskreis. Was Stuck am Tage lernte, mühte
er sich unverdrossen Abends auf Brotarbeiten anzuwenden, was denn auch seine Denkweise so
akademisch etikettirte, dass der frühste Franz Stuck wenig Eigenart erkennen lässt. Aber er entging
der Gefahr des Untergangs durch Handwerksarbeiten nicht allein, sondern wusste auch diese Zwangs¬
beschäftigung mit sehniger Ausdauer zum Unterbau für seine Zukunft zu machen. Die ernsthafte
Beschäftigung mit dem Kunstgewerbe hat ja als Vorstufe zur Idealkunst bei einem Begabten noch nie
ihren Segen versagt, — wenn nicht etwa das allzufrühe Geldverdienenmüssen den Wachsthumskeim
erstickte. Denn in diesen Klein- und Zierformen des Kunstgewerbes, in diesen symbolischen Urlauten
der Kunst übt sich nicht nur Stil- und Liniengefühl, sondern auch die Erfindungsgabe, — werden die
Vorstellungen gross ohne Leere und die Nerven fest, weil Geduld des Ausbildens herangezogen wird.
Stuck verdankt diesen Frühjahren ganz sicher das handwerkliche Geschick, das ihn später von Bild
zu Bild geleitet hat. Und eines Tags hatte der junge, zuerst von der Stadtwelt und den akademischen
Vorbildern in seiner Art unterdrückte Künstler Gewalt über den Stoff gekriegt. Der Ambos war
plötzlich Hammer geworden. Oder besser: behend wie eine Katze, die von einem Bullenbeisser mit
Zähnefletschen in eine Hofecke wehrlos getrieben und festgehalten ward, sitzt der junge Akademie¬
schüler in einem Husch am Halse des Peinig'ers und treibt diesen im Kreise herum. Man kann
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
7
Franz Stuck. Spielende Faune
diesen Umschwung in dem bekannten Sammelwerk von Gerlach und Schenk in Wien von 1882:
«Allegorieen und Embleme», wo man die ersten Handspuren so vieler heutiger Berühmtheiten findet,
deutlich verfolgen. Von anderthalb Dutzend Stuck’scher Blätter sind die meisten noch im herkömm¬
lichen Schulstil, geschickt, aber mit einem etwas verblasenen Schönheitssinn ausgeführt. Dabei ver-
rathen aber doch schon die «vier Temperamente», die Makart nachempfundenen «fünf Sinne» ein
nicht gewöhnliches und entwickelungsfähiges Geschick. Eine eigene Weise zu allegorisiren wird
bemerklich ; ihm bleibt aber dabei der unserem Künstler bis zur Zeit der monumentalen Malerei, ja
vielleicht bis heute treu gebliebene Zug zur Volksthümlichkeit, welcher auch dem Gevatter Leineweber
glückstrahlenden Angesichts zum Entdecker dessen, was der Künstler wollte, zu werden erlaubt.
Was in dieser Sammlung aber erster Versuch noch war, ist in der zweiten: «Karten und
Vignetten », die in demselben Verlage erschien und nur Stuck’sche Arbeiten enthält, gereift; der junge
8
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Akademiker, der vordem mit Niemand verkehrte und aus dem Keiner recht klug wurde, ist hier
plötzlich ein Meister auf seinem Gebiet, der Aufsehen machte. Brotarbeiten, für Billiges im dunklen
Drang nach Nahrung geschaffen, sind hier durch echte Künstlerlust an der Sache geadelt. Es ist in
diesem Werk gesammelt, was Stuck im Laufe einer Reihe von Jahren für Familien- und öffentliche
Gelegenheiten zeichnete. Künstler-, Radler-, Turner-, Schützen-Feste, Hochzeiten, Kindtaufen, Jubiläen
von einigem Stil sind in den So er Jahren in München eine gewisse Zeit hindurch kaum denkbar,
ohne dass die Einladung, das Fütterungs-Programm, die Tanzmarter-Rolle sein Zeichen trüge. Sie
athmen in köstlicher Frische die Siegerlust des jungen Tettenweiser Einwanderers über die Münchener
Stadtwelt; ein ausgelassener Uebermuth, ein graziöser, geistreicher oder burlesker Schwung lebt in
den Amoretten und sonstigen Figuren, — sie lachen wie die Götter über die dumme Welt, — die
Vorwürfe sind so einfach, schlagend und gross in der Wirkung, — die Wirkung sitzt ersichtlich so
auf den ersten «Schmiss» ohne langes Suchen, dass ein Durchblättern derselben ein wirkliches Ver¬
gnügen ist. Der junge Mann hatte Zukunft und Namen als Kunstgewerbe-Mensch, — er war ein
glänzender Zeichner, besass prächtigen Formensinn, eine unerschöpfliche Erfindung und war künst¬
lerisch in so manierlicher Sauberkeit erzogen , dass er gewiss noch mal Künstgewerbe - Professor ge¬
worden wäre. Dass er ein noch bedeutenderer Maler werden sollte, hat damals kaum irgendwer
vermuthen können.
Diese «seconda maniera» (im Gegensatz zum Akademiestil) des jungen Meisters und Blüthe-
zeit seines Griffelkünstlerthums hat aber noch einen weiteren, in geistiger Hinsicht sehr wichtigen und
interessanten Schaffenskreis: seine Illustrationskunst. Der sehnig-schlanke und schwarzäugige Stuck,
der im gewöhnlichen Leben so ausschaut, als gingen ihn die Dinge und Menschen draussen wirklich
gar nichts an, bei dem Lenbach in seinem bekannten Bildniss aber fein und geistreich den Schalk in
den prüfenden Augen über der fidel ausgeschweiften Nase des Weltkindes herausgetiftelt hat, wird
hier in Charakter, Meinungen und Thaten intim - persönlich und nimmt die kritische Stellung des
Humoristen zu dem Treiben um sich herum. — Damals, in den 8oer Jahren, war die Blüthezeit der
deutschen humoristischen Illustration und die «Münchner Fliegenden Blätter» wie heute noch der
Mittelpunkt dafür. Oberländer, Harburger, Kauffmann, Busch u. A. standen in der Vollreife und
ergötzten ihre Zeit durch ihre schnurrigen Einfälle und die herzlich lachende Kritik an menschlicher
Narrheit und naiver Harmlosigkeit. In diesen So er Jahren überschreitet ja ein kerniger Menschen¬
schlag den Höhepunkt, der im Bürgerstande wie in der Gesellschaft überreich an eigenartigen Er¬
scheinungen war, einen wichtigen Werth auf ausgesprochenen Charakter selbst in verschrobener
Färbung legte und Vertrauen zu sich wie Zufriedenheit hegte. Diese genialen Zeichner und Humoristen
sind die besten Zeugen dafür. Harburger und Kauffmann regten jetzt auch Stuck an, der freilich in
Allem dem jüngeren Geschlechte angehörte und dessen Pessimismus so gut als seine unbestreitbare
Beweglichkeit vertrat. Es verlockt als psychologisch interessante Erscheinung, aus diesen Blättern die
mancherlei Veränderung, welche mit ihm vorgegangen war, herauszulesen. Der abgeschlossene, aber
frische und unverzagt um seine Behauptung sich mühende junge Zeichner war dank dem vom Erfolg
Franz Stuck
I 2
Studien zu
Das verlorene Paradies »
10
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
gestärkten Selbstgefühl und auskömmlichem Unterhalt aus eigener Kraft ein sehr gewandtes Stadtherrle
geworden. Er fand sich leicht und sicher in all den Tagesfragen und Erscheinungen* welche den
Anschauungsstoff der Oberen ausmachen, zurecht, — war leidenschaftlich und parteiisch je nach
Stimmung, wie fröhliches Künstlerblut nun einmal ist, und einmal warm geworden irgendwo, verlor
er seine Zurückhaltung und that in Allem als Erster mit, was zum guten don gehört. Er war das,
was man noch heute anerkennend oder spöttisch — je nachdem — einen modernen Menschen nennt.
Misstrauisch gegen Alles, nichts ernst nehmend ausser sich selbst, schnell und schneidig in Blick und
That, gerissen durch und durch, beissend und schonungslos in der Kritik; Stuck aber hatte ausserdem
eine meisterhafte Kenntniss seines Fachs und gesunde Erinnerung an die Heimath. Das hielt ihn
sicher vor jeder Ausartung zurück.
Dies Doppelwesen eines sorglosen Sichtreibenlassens vom Strom der Gegenwart und eines
gewandten Durchquerens der herrschenden Anschauungen wie andererseits eines soliden Heimatherbes
in seinen Nerven und Pulsschlägen giebt seiner humoristischen Illustration ein merkwürdiges Z wiegesicht.
Da sind einmal jene stillen drolligen Humoristika, in denen Leiden und Freuden des harmlosen,
meist ländlichen Gemüths oft mit blendendem Geist geschildert sind. Zu der Grazie in seiner Dar¬
stellung und schlagender Unmittelbarkeit fügt sich ersichtliche Liebe zum Gegenstand : was er hier
lächelnd verspottet, freut ihn selbst in dem drolligen Zustand ungemein. So ist die köstliche Geschichte
vom oberbayerischen Bäuerlein, das bald mit offenem Munde und sprachlos erstaunt, bald bis in die
Seele hinein vergnügt, bald mit kritischem Kennerblick den Glaspalast durchwandelt. Alle Arten und
Stufen des Kunstgenusses sind greifbar verkörpert. Prächtig ist das Schlussbild dazu : draussen steht
der krumme Alte aufathmend und mit verklärtem Angesicht; so bunt aber wie in seinem Kopf nun
die Bildereindrücke durcheinandergehen, kreisen die einzelnen Typen einer bestimmten Jahresausstellung
in geschickt behandelter Aureole um seinen Kopf. — Oder jenes kleine rembrandteske Stück, auf
dem ein Bauer und ein Viehhändler die grosse Mastsau gedankenvertieft betrachten. Hinter der
Denkermiene des Einen birgt sich das gespannte Lauern auf ein schönes Angebot, — hinter der des
Andern das Suchen nach Einwanden, um das Kapitalvieh möglichst wohlfeil zu bekommen. — Die
Studentenkneipe, das lustige Harlekinduell sind verwandt im Standpunkt wie in der vollendeten
I echnik. — — — Dann aber ist eine andere Reihe von Griffelblättern vorhanden, welche den
geisselnden Satiriker zu Tage treten lassen. Ein schonungsloser Hohn, wie er den Verfallcharakter
der modernen Gesellschaft kennzeichnet, verräth hier vielfach, wieviel Bitterkeit und Demüthigung der
junge Künstler erleben musste, ehe er hochkam, — welche Verachtung gegen die satte und anmassende
Beschränktheit der Welt er durchempfunden hat, ehe er stahlhart wurde. Hier genügt ihm sehr bemerk -
licher Weise auch vielfach eine skizzenhafte Ausführung, weil er nur durch den Sinn der Satire wirken
will. Da sind die an Busch anklingenden Bilder zum «grossen Mimen Hans Schreier», — da sind in
schneidender Schärfe seine Typen vom «Knallprotz», von frechen Halbweltlerinnen, — sehr gut auch
jenes unglaublich lächerlich wirkende Fähnrichlein mit dem Ausdruck hoher Anerkennung vor einem Bild,
dessen — Katalognummer zufällig mit der Regimentsnummer des unfehlbaren Kritikers übereinstimmt.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
11
Eine Reihe von Jahren hindurch ist Stuck’s Thätigkeit diesen griffelkünstlerischen Erzeugnissen
gewidmet, unter denen Einzelne, wie z. B. die « Monatsallegorieen », eine rasche Volkstümlichkeit er¬
lebten. Frisch, originell, schwungvoll, fidel, als Humorist und Satiriker alle Lacher auf seine Seite
ziehend, — ein genialer Zeichner, elegant, bestechend, aber Künstler in jedem seiner Striche mit dem
Blüthenduft der Mühelosigkeit darüber, — als Kunstgewerbler nicht minder bedeutend und anscheinend
umschwungbewirkend ist der Zeichner Stuck Mitte der 80 er Jahre eine der glänzendsten Erscheinungen
und gilt in den engeren Kreisen als der Zukunftsmann des Kunstgewerbes und der Illustration. Er
ist Welt- und Stadtmensch vom Scheitel bis zur Zehe geworden, — — die Heimath vergass er, —
Franz Stuck. Der Tanz
so scheint es. Welche erschütternde Offenbarung kam einestags über den jungen Meister, — welche
Ursache trieb ihn plötzlich aus sichtbarem Erfolg auf eine unsichere neue Bahn ? Er weiss es viel¬
leicht selbst nicht zu sagen. Es beginnen kleine Bilder in der Art Böcklin’s reizvoll aber nicht sehr
bedeutend in seiner Werkstatt zu reifen. Mit einem Male, — ich glaube 1889 war es, — ist auf
einer Jahres- Ausstellung im Glaspalast — seiner ersten ! — der vielgenannte Zeichner ein berühmter
Maler grossen Stils. Nur gelegentlich entstehen jetzt noch Griffelarbeiten, wie z. B. seine Plakate für
die Münchener Ausstellungen, welche Stil, Bedeutung und Volksthümlichkeit so glücklich vereinigen,
dass Einzelne davon, wie das der «Secession», Jedermann kennt.
2*
12
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Wie eine glänzende Turnierstätte bauen sich heute in der Erinnerung der Lebenden die 8oer
Jahre auf. Menzel, Defregger, Knaus boten in der Vollblüthe des Schaffens fesselnde Probleme von
Werk zu Werk; eine reiche Blüthe von Talenten um sie herum; daneben von einer blutjungen Schule
hochbegabter Künstler der Ruf nach unmittelbarer Naturwiedergabe und ernsthafte Schöpfungen dieses
Naturalismus von hohem Können und tiefer Weihe der künstlerischen Stimmung. Von der heutigen
Verknöcherung dieser so hoffnungsvoll einst begonnenen Richtung, von der ins Pathologische verirrten
Unnatur noch keine Spur. Dazwischen schuf Böcklin in diesen Jahren seine mächtigsten Bilder un¬
bekümmert um den Widerstand der Zeit und ebenso unbekümmert wuchs still Max Klinger, auf den
auch bereits eine kleine Elitegemeinde aufmerksam blickte, während die Kritik im Ganzen ihn einst¬
weilen verhöhnte oder mindestens verkannte. Die schon genannten Münchener Humoristen blühten
und Gabriel Max schmiegte einen eigenen Ton in dies reiche Orchester. Der verlockendste Zauberer
für die Feinnervigsten aber war Arnold Böcklin, welcher, traumversunken in blühende Auen mit ver¬
schollenen Fabelwesen, zwischen allen diesen Erscheinungen hindurchschritt und in seiner antiken
Stoffwelt die geheimnissvollste und deutscheste Romantik offenbarte. Die besten Köpfe ahnten
hinter seinen merkwürdigen Bildgesichten die neu erschlossene Welt, die neue und tiefe Art des
Träumens und die künstlerische Eroberung des Schweizers darin, wie er seine Träume auszu¬
deuten suchte. Böcklin’s Einfluss auf das künstlerische Seelenleben unserer Zeit ist thatsächlich
umfangreicher als man denkt und als sein immerhin doch gewisse Grenzen nie überschreitendes
Gebiet vermuthen lässt.
Dies bunte und bedeutende Treiben hängt wie eine Aureole um die Werdejahre von Franz
Stuck. Er war zu feinnervig, weltgewandt, zu grüblerisch und begabt, um davon unberührt zu bleiben.
Dass er diese Erscheinung gleich geistig erfasste, scheint seiner Entwickelung nach ziemlich aus¬
geschlossen, aber der sichere Instinkt der echten Begabung liess ihn das Mächtige und Lebensvolle
dieser neuen Probleme sicher herausfühlen. Da kommt eine treibende Gewalt über ihn, liegen zu
lassen, was das erfolgreiche Werk heisser Jahre war und einsam seiner inneren Stimme nachzuziehen.
Es ging ihm wie einem in fröhlicher Gesellschaft Lustwandelnden, vor dem plötzlich ein Schlagbaum
über den Weg hängt; eine rauhe Einöde schauen die Anderen dahinter, ihm aber 'zeigt sich in selt¬
samer Verzauberung eine blühende Aue drüben, die berauschende Kindheitserinnerungen aus halber
Vergessenheit plötzlich hell werden lässt. Eine verzehrende Sehnsucht packt ihn; ein Griff der Rechten
um das Holz; ein schneller eleganter Schwung hinüber; ein flüchtiger Gruss an die Zurückbleibenden
und ein schnelles Enteilen. Die zwischen der Heimath und der eben gewordenen Offenbarung liegen¬
den Jahre sind fast ausgewischt, und ganz anders wird nun seine Art, in der ihm zunächst Böcklin
Wegweiser bleibt. Ein reiches dichterisches Phantasieleben, das in der Zwischenzeit nur tief ge¬
schlummert hat, erwacht und entfaltet sich. Freilich kam ihm die vorher erworbene Meisterschaft zu
Gute. Er wusste gleich, worauf es überall ankommt und vermied die leicht verhängnissvollen Irrthümer
tastender Jugend, — und dann ging auch sein zeichnerischer Stil so in dem neuen malerischen auf,
dass er dessen Grundlage wurde. — —
Phot. F. Hanfstaengl, München
Franz Stuck piux.
Selbstbildnis
Krau/ Stuck piu.v.
Phot. F. Haufstaeugl, Müucheu
■STvqc
Portraitstudie
Franz Stuck. Aktstudien
14
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Stuck’s Malerei hat einen bestimmt ausgesprochenen Charakter fast von den ersten Werken
an. Böcklin, — liebenswürdig und schmeichlerisch in seinen frühen Kreuzungen mit dem französischen
Kolorismus, — ist in der Reife wuchtig, in der Freude wie im Leiden einsam -tief und verschlossen.
Der Sachse Klinger hat bei aller Mächtigkeit des Phantasieschwungs und aller Grazie des Jugendwerks
doch den ernsten, manchmal melancholischen, oft düsteren norddeutschen Zug. Stuck hat als sein
besonderes Eigenthum die helle Daseinsfreude der bayerisch -fränkischen Phantasie. Das hat viel zu
schneller Volksthümlichkeit beigetragen. Da ist die charakteristische Lichtfreude und das Hängen am
dicht bewachsenen Heimathboden mit den milden und reinlichen Farben, — das erdenfrohe Genügen.
Sein feiner Schwung ist ohne starken Krafteinsatz erzielt und wirkt ganz mühelos. Sein poetischer
Schimmer verliert sich nie in mystische Exstasen, — sein warmes Blut wird nur hier und da leiden¬
schaftlich-wild. Er bleibt stets auf natürlichem Boden. Dazu ist er lyrisch, — - hat immer eine
augenblickliche Stimmung, — fordert keine gedanklichen Voraussetzungen von Schwierigkeit; — man
weiss sogleich, was er will. Und dann ist er Landschafter im Grunde. Allerdings hat er nur selten
blosse Naturausschnitte gegeben, aber seine Gestalten sind vornehmlich Gewächse des stillen Hains
mit den arglosen Trieben unentweihter Natur. Die Landschaft allein bildet den Hintergrund für seine
Vorwürfe und ich vermag mich nicht eines Gemäldes von ihm zu entsinnen, auf dem das armseligste
Bauwerk zu schauen wäre. Seine Kunst ist Waldkunst wie die deutsche es in ihren Anfängen war
und die süddeutsche Stammesart es sich noch sichtbar bewahrt hat. Es sind ja auch die frühsten
Eindrücke in sein Jugendseelenleben, die hier verarbeitet sind.
In diesen Waldträumen aber bewegt sich ein moderner Mensch, — was Stuck’s Kunst einen
pikanten Beigeschmack giebt. Ohnehin Zeichner und Stilist, ist ihm die Farbe ein glänzendes Mittel,
um zu bestechen, zu überraschen, ein wenig auch — die ernsteren Werke ausgenommen — damit zu
spielen. Es ist erstaunlich, was für virtuose Stücke er damit fertig kriegt. Er ist niemals leer und
in der dämmerigen Weichheit niemals weichlich, sondern immer bestimmt, graziös, schmetterlings¬
haft - gaukelnd, buntschillernd, — er hat viele und nicht gewöhnliche Farben, die er gern flächig-
abgegrenzt wirken lässt ; ich möchte seine ungemein anmuthige, vornehme, geschmackvolle Palette mit
dem bestrickenden Liebreiz der modernen Französin vergleichen. Er ist im heute landläufigen Sinne
so wenig Maler wie sie als echtes Weib gelten kann, aber ein entzückendes Gemisch von feinen
Künsten bleibt sie wie vielmals seine Palette, auf der die Verschlagenheit jahrhundertalter Erfahrungen
das Seltenste und Kostbarste angehäuft hat. Wie gut aber passt dieser Farbenstrauss zu seiner geist¬
reichen und eleganten, alles bezwingenden Zeichnung. Er baut sie auf die Natur auf, überschreitet
diese jedoch vielmals mit kecker Freiheit. Denn auch das Freiheitsgefühl, das Selbstvertrauen und
der Muth der nervösen Zeitgenossen erfüllt ihn, und er treibt ihn auch, alle ungewöhnlichen Regungen
seiner Seele und seines Temperaments ruhlos zu beobachten und für das Unaussprechbare den Aus¬
druck zu finden. Seine Durchtriebenheit ist hier nicht selten erstaunlich und bei manchen seiner
erotischen Vorwürfe kann es prüden Augen geschehen, dass sie ahnungslos mit etwas ganz Bedenk¬
lichem hintergangen werden, — so geschickt weiss er sie vom wunden Punkt abzuziehen. — — Zu
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
15
diesen virtuosen Eigenschaften gesellt sich die Unruhe, die Laune, und in der Romantik seiner Vor¬
stellungen ein gleichfalls moderner Zug des Misstrauens gegen seine Glaubenssachen. — —
— — Reich und bunt wie seine Malerei ist das Schaffensgebiet von Stuck, und auch sein
Stil zeigt sehr interessante Wandlungen. Am ungebundensten und ganz persönlich in virtuoser Freude
an blinkenden Einfällen hat sich der Künstler in jener Bilderreihe gegeben, welche Centauren, Faune,
Nymphen und ähnliche Gebilde antik - romantischer Phantasie in ihrem arglos - unbefangenen Natur¬
leben schildert. Seine frühsten Bilder gehören ihr an wie solche der letzten Zeit. Und hier steht er
seinen humoristischen Zeichnungen noch am nächsten; denn er bildet leicht aus launischer Freude am
Einfall oder flüchtiger Stimmung als virtuoser Künstler. Die Antike in ihrer Geschichte, ihrer Kunst,
ihrer sittengeschichtlichen Seite kommt hier für ihn fast gar nicht in Frage, — nahezu ist er in jeder
Weise antiphilologisch. Die stille Poesie von Hain und Auen, die nie ein sterblicher Fuss betrat,
schaut sein inneres Künstlergesicht und entdeckt darin jene halbgöttlichen Gebilde der Sage, die frei
von Zwang und Pflicht der Gottheit und unbekannt mit dem Elend und der Knechtschaft des Mensch¬
seins ein kinderhaft - ausgelassenes und wildschönes Dasein leben. Vielhundertjährige Kultur hat
einen Schleier vor diese Welt gehängt, so dass das im reinen Naturblick geschwächte moderne Auge
nur verführerische aber unklare Umrisse von diesen Gestalten erblickt. Wie gut hat Stuck diesen
uns fehlenden richtigen Standpunkt der antik-romantischen Ferne gegenüber durch seinen visionären
malerischen Stil auszudrücken gewusst! Eine stimmungsvolle Dämmerigkeit ist über alle diese Tafeln
gebreitet, gleichviel ob seine frühe Farbenweise das sonnentrunkene Flimmern oder die spätere eine
warme Schwarzmalerei bevorzugt. Für das Phantastisch - Nebulöse, das Dämmerig - Trauliche, das
Dämonisch - Düstere hat er im Treffen die glücklichste Hand. Man wird da in der Klangfarbe der
Stimmungen vielfach an den streichelnden, ins Formlos-Unbegrenzte verwehenden Wohllaut des Harfen¬
spiels erinnert und findet oft eine Süssigkeit darin, die schon ins Märchenhafte geht. Er wird jedoch
dort, wo er es einmal nicht trifft, nie empfindsam, viel eher handfest, kalt überlegt oder auch hier
und da von etwas ruppiger Phantasie - Erotik. Grosse Gedankenzüge oder starke Leidenschaft haben
diese Tafeln dazu nicht; es sind geistreiche und launische Einfälle eines glücklichen Künstlergemüths,
die in grösserer Anzahl nebeneinander betrachtet mit ihren vielen poetischen und malerischen Reizen
sinneverwirrend wie die liebliche Augenweide des arabischen Schmuckstils wirken. Hier ist Stuck
Poet und Farbenvirtuose, ist er ein nur liebenswürdiger Künstler, — was bei der Zahl gerade dieser
Bilder eine einseitige Unterschätzung von Stuck’s Kunst verursacht hat.
Diese Centauren- und Faun -Idylle, — welch’ eine frische Heiterkeit, welch’ sonnigen Humor,
welch’ eine jauchzende oder wildverlangende Liebeslust athmen sie, und mit wie lebendigem Schwung
sind sie gedichtet! Da sind die «kämpfenden Faune», die in einem sonnigen Kessel am Felshang
eben eine Kraftprobe im Scherz unternehmen. Sie rennen mit den vorgebeugten Köpfen wie zwei
Hirsche gegeneinander und erproben, wer den Anderen zurückzudrängen versteht, — wobei der Eine
wenigstens sehr fidel lacht. Dass der Kampf ein ganz harmloser ist, beweist der Kranzj von Zu¬
schauern ringsherum, nämlich Faunen, Nymphen, die herzlich über das drollige Aussehen der drängelnden
16
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Kämpen lachen. Derselbe Gegen¬
stand auf die Faunenjugend über¬
tragen zeigt einen Kreis von fidelen
Sprösslingen dieser Fabelwelt, in
deren Mitte ein Genosse eben mit
vorgestrecktem Kopf auf ein an¬
springendes Böcklein losgeht. Ein
malerisch sehr stimmungsvolles Bild¬
chen führt uns im durchlichterten
Waldgrund ein Faunenpaar vor, das
um einen dicken Stamm herum kind¬
liches Haschen spielt. Auf einem
anderen sieht man unter dem kühlen¬
den Schatten eines herabhängenden
Busches zwei Faunkerle zum Mieder-
o
lösenden Mittagsschlaf niedergelagert.
Breite Lichter fallen auf ihre Leiber
und haben den einen schon durch
ihre lästige Gluth zu einer unbe-
quemen Lage veranlasst, was sehr
drollig aussieht. Ein anderer Laun
auf einem ferneren Bild liegt, um
sicheren Schatten in sonniger Bach-
landschaft zu finden oder vielleicht
auch aus Vorsicht auf dem breiten
Ast eines starken Baums mit herab¬
hängenden Beinen da. Launenkinder,
die Glühwürmchen auf dunkler Wiese
haschen, behandelt eine weitere Tafel.
Sehr drollig ist ein Laun, der mit
sichtbarem Athem , verschränkten
Armen und angezogenem Luss, vor
Kälte zitternd und ängstlich aus¬
schauend, mitten in einer Schnee¬
landschaft steht. Ist er verirrt oder
nur ein seltener Schneefrost über die
blühende Aue des Südens herein-
Franz Stuck. Aktstudien
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
17
Franz Stuck. Herbstabend
gebrochen? Wie prächtig äst das Frieren des armen Kerls und die Angst in der fernsichtslosen Schnee¬
ebene vor dem unbekannten Naturschauspiel herausgearbeitet! Dann traben auf einer neueren Kom¬
position zwei Centauren, von denen der Eine mit Geweih und zottig-schmalem Leib einen Hirsch¬
menschen vorstellt, sich unterredend durch einen Wald, auf dessen Wipfeln Paradiesvögel sitzen und
Kakadus ihren misstönigen Schrei ausstossen.
Ein prickelnder Sinnesrausch erfüllt andere Bilder dieses Kreises, welche das erregte Liebes¬
ieben dieser ungebundenen Geschöpfe in dämmeriger Hainstille oder auf abendlicher Aue zum Vor¬
wurf haben. Auch sie sind von frischem Humor gewürzt. — auch sie psychologisch interessant durch
eine gewisse moderne Schattirung in der Art des Liebesspiels*. Unschuldiges Getändel harmloser
Jugend und wortlose Spiegelung des Glücks in den Naturvorgängen streift hier die Art der Gegen¬
wart gerade so wie dort der durchtriebene Kunstgriff der Anstachelung und Steigerung der Leiden¬
schaft durch Versagen, welcher immer Zeichen höherer Kultur ist. Die vielfach äusserst anmuthigen
Tafeln wirken dadurch menschlich - intim , wie man es sonst nur bei Stoffen aus der Gegenwart
18
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
findet. — In dieser Art ist auf der «Verfolgung» in einsamer Haintiefe ein reizendes Minnespiel ge¬
schildert, das zudem zeichnerisch in der sehr kühnen Verkürzung des Centaurinnenleibes bemerklich
ist. Wild im Kreise herum, dass die blonden Haare nur so fliegen, galoppirt eine lachende Huldin,
die sich nicht zu schnell einfangen lassen will, dem mit ausgestreckten Händen heranjagenden Anbeter
fort; seine langgestreckte Silhouette und der Bewegungsaufriss verrathen ein lohendes Feuer in seinen
Adern. Anderswo schäkert unter dem Gelächter einer ausgelassenen Zuschauerschaft von Genossinnen
ein ungefüger Pferdemensch mit einer gefangenen Nymphe und redet auf die sich Wehrende halb¬
lachend ein. Dann sieht man auf einer anderen Tafel im Waldschatten einen Faun und eine Nymphe
in kosender Gegenwartvergessenheit gelagert. Eine Perle an lyrischer Stimmung und feiner Tonmalerei
ist der « Sonnenuntergang ». Auf dunkler Haide steht zärtlich umschlungen ein Centaurenliebespaar,
— Rappe und Schimmel, — und schauen dem letzten Glast am pappelliberschnittenen Horizont glück¬
versunken nach. Welch’ reizendes theokritisches Liebesidyll und wie fein empfunden ist dann jene
kleine Malerei, auf der in tiefem, aber belichtertem Buschschatten ein blühendes Paar dem Cupido ein
zärtliches Opfer bringt. Da sitzt sie auf einer Rasenbank und beugt sich zu dem quer über ihren
Schooss gelagerten und sie trunken umschlingenden Geliebten herab, um Küsse mit ihm auszutauschen.
Das Meerweibchen, welches am Strand auftauchend mit grossen Augen der lachenden Aufforderung
eines verschmitzten Burschen lauscht, ist ein anderer Gegenstand. — - In traumhafter Abdämpfung eröffnet
sich hier wie auf allen diesen Vorwürfen der Ausblick auf ein schon mit Bewusstsein erfülltes und seelisch
gesteigertes Naturleben, das aber noch durch keine Kultur in seiner Unerschöpflichkeit gebrochen ist. —
Dann sind auch tragische Vorwürfe in diesem Bilderkreise vorhanden, und es ist hier erstaunlich,
wie ausgebildet Sinn und Geschick des jungen Künstlers auf diesem Felde sind, so dass man auch
hier wie bei den leichten Idyllen mehr als eine Perle in Hinsicht der Malerei wie schlagender innerer
Wahrheit findet.
Man sehe die «Phantastische Jagd» als Schlussstück einer wilden Flucht: dicht am schützenden
Hainrand ist der verfolgte Hirschmensch vom stärkeren Centauren erreicht und bricht jetzt unter
dessen wohlgezieltem Pfeilschuss todt zusammen. Dann sind die «Rivalen». — Bei strömendem Regen,
der einen milden Schleier um den grauenhaften Kraftaufwand hängt, zwei um eine Paniske, die kaum
sichtbar ist, ringende Centauren, — der Todesschrei des Einen, dem eben Rückgrat und Brustkasten
eingedrückt werden. Oder dort «Faun und Nymphe» am sonnigen Meeresstrand. Sie in jäher Flucht, —
er in wildem Verlangen hinterher und mit der niederschlagenden Wucht einer Packträgerfaust ihr
Haar eben fassend. Ein anderes Drama spielt sich in einer Gletscher-Einöde ab Da schaut eine
Centaurin mit Angst dem Kampf zwischen einem jüngeren und einem älteren Centauren zu, der mit
herkulischem Bau und wildem Räubergesicht begabt eben den Kopf des Jüngeren mit seinen Hufen
zerschmettert. Ist es ein hintergangener Ehemann oder Vater, der das flüchtige Paar hier überraschte, —
ist es ein schweifender Recke, der das Recht des Stärkeren bei gefundener Gelegenheit geltend
macht? — Man weiss es nicht. Nur hat auch hier die Leidenschaft etwas Verbrecherisch-Menschliches,
von dem man zur Parteinahme getrieben wird.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
19
Eine eigene Anmuth schwebt über dieser kleinen Welt centaurischer und halbgöttlicher
Idyllik. Die liebenswürdige Verträumtheit der Phantasie, — der leichte gefällige Stil in der duftigen
Malerei wie der sehr feinen Zeichnung, den man wegen seiner lebendigen Art einen Feuilleton-Stil
nennen könnte, — der erotische Zug darin leihen diesen Bildchen einen merkwürdig prickelnden
Reiz und geben ihnen trotz des von Böcklin übernommenen Gegenstandes eine würzige Ursprüng¬
lichkeit. Aber es bleibt doch nur ein Gebiet und eine Stilseite im Werk von Stuck, in denen er als
phantastischer Lyriker erscheint. Betrachten wir nur eine Abart dieses gleichen Darstellungskreises
in seinem Schaffen, so wird seine Künstlerphysiognomie gleich verändert, und man erkennt mit
Ueberraschung, wie sehr und verschiedenartig unser Künstler wie kaum ein Anderer der Gegenwart
vom Stoff beherrscht und bestimmt wird. Das Sphinxproblem z. B. steht innerlich diesen Centauren¬
bildern so nahe, dass man kaum eine Aenderung davon im Künstlerstil erwarten sollte. Und doch
erscheint hier Stuck in einer erheblichen Temperamentswandlung. Eine dumpf-brütende, fast lechzende
Leidenschaftlichkeit mischt sich mit einem dämonischen Zuge in der Auffassung ; man mag sich kaum
vorstellen, dass ein sehr weltgewandter und blutjunger Künstler und nicht ein reifer Mann der Urheber
ist, der längst in seinem menschenscheuen Grübeln über den Grund der Dinge zu selbstvernichtenden
Ergebnissen kam. Die drei Behandlungen des Gegenstandes gehören verschiedenen Entwickelungsstufen
an, was ihren Vergleich sehr unterhaltend macht. Da ist die frühste Fassung eine landschaftliche
Phantasie. Eine schroffe Klippe über dunkel gähnender Abgrundtiefe. Im Halbdunkel darüber erblickt
man das stiere Gesicht der Sphinx mit grünen Augen und von schwarzer Mähne umwallt, während
der gelagerte Leib undeutlich verwischt ist. Nur ein winziger Punkt ist dies Fabelgeschöpf im ganzen
Raum, aber die äusserst geschickte Lösung drängt die unheimliche Stimmung des Ortes so auf diesen
einen Punkt, dass diese kaum sichtbare Gestalt zum Träger fahlen Vorweltgrauens wird. Stuck hat
gewissen Lieblingsvorwürfen in fast jeder neuen Stilperiode eine neue Fassung gegeben. So sehen
wir dies gleiche Sphinxproblem auf einem anderen Bild aus jener Zeit, in der einige Werke
geschichtlicher antiker Kunst sich nähern, in der Art behandelt, dass der weibliche Dämon in einer
dunklen Felsnische neben einem Menschenschädel zum Todesstreich bereit niederhockt, aber entsetzt
auf den antiken Jüngling vor ihr starrt, der
mit grösster Seelenruhe des Räthsels Lösung
ausspricht. Hier verstärkt ein Tropfen
Humor die Kontrastwirkung und ist die
plastische Form gegenüber der Landschafts¬
phantasie in der vorigen Fassung sehr aus¬
geprägt. Dramatische Leidenschaftlichkeit
erfüllt das dritte und reifste Bild. Hier ist
der Mythos frei umgedichtet und die Sphinx
in das teuflische Weib gewandelt, welches
dem umgarnten Mann Blut und Leben aus-
Franz Stuck. Aktstudie
3*
20
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
saugt, — sie ist der Vampyr der orientalischen Sage. Als üppig- wollüstiges 'Weib liegt sie mit ihrem
mächtigen, in jeder Muskel gespannten Löwenkörper auf ihrem Stein und umkrallt den schon bewusst¬
losen Mann , dessen Lippen sie gierig küsst. Wie prächtig sind diese Formen ausgebildet, — wie
knapp und dramatisch erzählt der kunstvolle Aufbau, — und welch’ eine Leidenschaftlichkeit lodert
in diesen verknäulten Linien und der schwärzlich-schwülen Tongebung. Die Kraft und Sicherheit des
Stils wie der Flammensprache hat nichts mehr mit den phantastischen Wald-Träumen der Centauren¬
bilder zu thun; es gehört desshalb auch zu den reifsten späteren Schöpfungen innerlich, wenn es auch
bereits hier im stofflichen Zusammenhang erwähnt ist.
Allerhand reizende Einfälle hängen noch ausserdem um den antiken Kreis im Stückwerk
herum. In einen von Abendlichtern durchfunkelten Buschschatten ist ein wandelnder «Ovid» mit der
Lyra im Arm hingestellt ; er mag in dem phantasieauslösenden Dämmerungsbeginn gerade über dem
Gedankengang einer seiner «Verwandlungen« nachsinnen. Als eine von Stuck’s sehr wenigen
Anlehnungen an die geschichtliche antike Formenwelt wäre der prächtig durchgebildete «Sieger» mit
dem Lorbeerzweig in der einen und der nachdenklich von ihm betrachteten Bronzefigur einer
Athene - Siegbringerin in der anderen Hand zu nennen. Ein nicht minder echtes und köstliches
Stück von Malerei-Hellenismus ist auch der scharf gezeichnete, jugendlich fesselnde und durch den
Kontrast glänzender P’arben ausgezeichnete Profilkopf der «Pallas Athene». In das Plakat der
Secession seitdem aufgenommen und als ein Wappen dieser Künstlervereinigung auch anderswo
verwendet, dürfte dies dekorativ gedachte Werk Stuck’s bekanntestes sein. Wir kennen ja die
Malerei der grossen hellenischen Zeit nur aus so wenigen und unzulänglichen Resten, dass man sich
ein fraglos-zutreffendes Bild weder daraus noch aus den Beschreibungen des Pausanias machen kann.
Aber wenn man sich schon eine Vorstellung davon zurechtzuzimmern sucht, kommt man unbewusst
auf diese Bilder von Stuck zurück, die ganz aus dem Geist der Zeit erschaffen scheinen. Dass der
Künstler sich seiner sonstigen Art und Neigung entgegen einige Male hierin versucht hat, ist übrigens
von äusserer Ursache bedingt. Wer Stuck’s Werkstatt betrat, kennt auch die mit erlesenem Geschmack
zusammengebrachte und angeordnete kleine Sammlung bemalter antiker Bildwerk-Kopieen. Es ist also
ein Sammler-Interesse, welches diese prächtigen Werke der Künstler-Phantasie eingab. — Verwandt
in der Art sind ausserdem noch ein paar Vorwürfe wie der «todte Orpheus», die kunstgewerblich
gedachte Arbeit eines «Orpheus unter den Thieren», dem der alttestamentliche Gegenstand eines
«Samson mit dem Löwen» stilistisch parallel läuft. Ein gleichfalls im Schmuckstil gehaltener, sehr
hübscher «Tanz» eines Paares auf rothem Grunde, dem in den Seitenstücken zwei Faune aufspielen, —
die bekannten «Serpentintänzerinnen», sind hier ebenfalls zu nennen. — —
— Man stösst bei der aufmerksamen Wanderung durch das Stückwerk auf weite und
fruchtbare Strecken, in denen ein Geistmensch mit hohen Ideen, einem bestimmt gefärbten Zeitver-
hältniss, einer litterarisch gebildeten Phantasie helle Spuren hinterliess, — nicht immer ganz deutlich,
aber doch in der erdrückenden Mehrzahl aller seiner Gebilde wird indessen eine zarte Verträumtheit
in landschaftliche Phantasieen als der Untergrund seines Seelenlebens sichtbar. Das wurzelt in den
Kämpfende Faune
l'Yuuz Stuck pinx.
Pliot. K. Haufstaeugl, Miiucheu
Das böse Gewissen
22
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
schon skizzirten Kindheitserinnerungen, — das verschwindet in den mühseligen Werdejahren vor
dem Zwang des Daseinskampfs, — das taucht verzehrend und schnell zu origineller Malerkunst aus¬
reifend bei ihm auf, sobald der junge Künstler den festen Boden des ersten Erfolgs und wirth-
schaftlicher Sicherheit unter den Füssen spürt. Die erste Stunde ruhiger Selbstbesinnung scheint
auch die künstlerische Geburtsstunde dieser Traumwelt zu sein; er hat natürlich auch vorher diesen
Seelendämmerungen und vielleicht sogar mit schmerzlicher Sehnsucht nachgehangen , aber erst jetzt
wagt er, sie in Kunst umzusetzen. Die sich über seine ganze Schaffenszeit erstreckenden Centauren¬
bilder sind eines der wichtigsten Zeugnisse dafür. So leibhaftig, so menschlich seine Gestalten hier sind,
setzt dieser elegante und vor keiner Schwierigkeit erschreckende Zeichner, dieser sorgfältig erzogene
Formenmensch sie malerisch doch immer in eine stimmungsvolle Dämmerigkeit, — sie sind gleichsam
der artikulirte Fant, in den er einen Naturzustand lasst. Man sieht da, wie seine Bilder gewachsen
sind: als fliegende Eindrücke oder Erinnerungen von einer Wanderung. Draussen im Wald ein nicht
o-leich zu bezeichnender Faut, ein Rauschen des Windes, eine zufällige Form im Gezweig', ein
seltsamer Umriss irgendwo, die huschenden und verzauberten Dichter des Tags oder der Wende
desselben, das geheinmissvolle Fasten und die verworrenen Stimmen der Dunkelheit, — das fiel in
die Künstlerphantasie mit Bildern und lieh ihr jene süsse Beklommenheit, unter der die grossen
Eingebungen in eine Menschenseele schlüpfen. Wenige Male hat Stuck sich auch begnügt, nur den
ursprünglichen Natureindruck ohne jede litterarische Würze durch Gestalten wiederzugeben, — aber
das sind eigenartige Gebilde, — ja Richtpunkte in der neuesten Fandschaftsmalerei geworden, weil
sie frei von deren Knieschwäche sind. Ficht- und Tonwerthe nach der herrschenden Mode strebt er
so wenig als einen chronikenmässigen Realismus in der Wiedergabe der Formen an. Er sieht in der
Natur ein paar grosse Züge , — die , welche ihren Charakter ausmachen , — und sucht sie
herauszubringen. Darum hat er auch so reine und geheimnissvolle Stimmungen darin und reizt mit
einigen halben Andeutungen von dem äusseren Eindruck eines Orts die schaffende Phantasie zum
Grübeln über das, was hier vorgegangen sein mag, was etwa noch kommt, was man selbst Aehnliches
einmal sah. Dieser echte Fyriker steckt in dem «Abend am Weiher» mit den verschwommenen
Umrissen von Baum und Uferlinie, mit dem rosigen Spiegeln der Wasserfläche zwischen den Wucher¬
pflanzen darauf ; ihn findet man auch in der noch tieferen, fast unheimlichen Stimmung des nächtlichen
«Forellenweihers». Ein kleines Stück von der tintenblauen Fläche, ein paar Bäume, die fahle Wiese
dahinter, ein letzter Funke ersterbenden Fichts am Horizont, — nicht mehr; dazu der Kunstgriff der
paar Kreise auf dem Wasser, um das unsichtbare Leben, die leisen Geräusche der Nacht anzudeuten.
Diese fein erlauschte Seele der Natur offenbaren auch die anderen Landschaften, wie die sehr
stimmungsvollen «Weidenden Pferde» und dann jener «Reiter», der unter fliegenden Wolken und
kreisenden Krähenschwärmen durch eine Abendlandschaft dahinzieht, — augenscheinlich die erste
Quelle tür die spätere grosse Allegorie des Krieges — —
- Diesen Blick des Stilisten von Rasse für die ausschlaggebenden grossen Züge einer
ö O O Ö
Erscheinung verrathen nicht nur die Landschaften, sondern auch Bildnisse von Stuck’s Hand, deren
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
23
Kenntniss für seine Würdigung- indessen nicht unbedingt nöthig ist. Da erkennt man die Art des früheren
humoristischen Zeichners, mit ein paar Zügen ähnlich und lebendig hinzusetzen, ohne dass ihm die
kleinen Sorgen des soliden Bildnissmalers viel Kopfzerbrechen verursachen. Es sind fast nur
Frauenköpfe von schlanken Gestalten und meist pikantem, brünettem Typus. Reizend, anmuthig, keck
die Meisten, — im Fluge sozusagen erschaut und lose hingestrichen. Er muss ein feiner Frauen¬
kenner sein, denn diese Köpfe sind oft schlagend in dem gesehen, worauf die Frauen beim
Gemaltwerden Werth
le^en und was sie in
Miene wie Verbesser¬
ung der Natur durch
unschuldige kleine
Künste gern an sich zu
betonen suchen. Mit¬
unter gelang ihm dabei
auch ein psychologisch
werthvoller Griff, wie
im blutlosen Verfall¬
typus von Juliane Dery,
und wie in seinem eige¬
nen interessanten Kopf,
der in seiner Art ein
Meistergriff ist. — —
In den guten alten
Zeiten der Kunstge¬
schichte ofab die Bilder-
weit der Bibel dem
Künstler weitaus die
Mehrzahl seiner Vor¬
würfe, was mit der
Parallelität von Religion
grimmige Realisten, wie Menzel und Fiebermann, sich wenigstens vorübergehend einmal darin ver¬
suchten. Das ist weder für die Kunst noch für die Moral einer Zeit ein minderes Zeichen. Auf
welchem Boden man stehen mag, — ob man fromm, lau oder zweiflerisch veranlagt ist, — ob
man als Kirchenläufer gilt oder nie einem Gottesdienst beiwohnt, — so kommt man als gebildeter
und urtheilsfähiger Mensch doch in keinem Falle beim Nachdenken über die Dinge der Welt um
die Erkenntniss herum, dass die Religion eine Gemüthsforderung ist. Und gerade das macht es in
Franz Stuck. Aktstudie
und Kunst innerhalb
des Gemüthlebens zu¬
sammenhängt. Seit mit
dem Verfall der Kunst
die Fachmalerei sich
entwickelte, hat sich
die frühere Einseitig¬
keit nur nach einer an¬
deren Seite gewandt
und ein Mehrgewinn
aus der Eroberung und
Pflege neuer Kunstge¬
biete für die schaffende
Persönlichkeit sich nicht
ergeben. Erst die letz¬
ten Jahrzehnte haben
mit dem Auftreten um¬
fassend begabter Künst¬
ler wie Feuerbach,
Böcklin, Klinger hier
einen Wandel gebracht,
welcher der Darstell¬
ung aus der christ¬
lichen Legende so zu
Gute kam, dass selbst
24
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
jeder Beziehung interessant, die bedeutendsten Geister eines Volks und einer Zeit in ihrem eigen-
thümlichen Verhältnis zur christlichen Symbolik als die uns nächste Erfüllung dieser Gemüths-
forderunor zu beschauen. Ist es z. B. nicht sehr nachdenklich, wenn ein so völlig heidnisch
empfindender Künstler wie Böcklin mächtige religiöse Stoffe wie die «Kreuzabnahme», die «Pieta»
in p-rossartio-er Auffassung zu gestalten wusste und in seinem köstlichen «Eremiten» uns gleichsam
einen modernen Kanon von der religiösen Versenkungsfähigkeit einer Menschenseele schuf? Wenn
ein so ganz philosophisch gebildeter Kopf wie Klinger in seiner letztgeschaffenen Riesenallegorie das
Christenthum in einer wahrhaft erhabenen Weise verherrlichte? Eine Zeit, die so entschlossen in ihren
edelsten Geistern die materialistischen Scheuklappen abwirft, ist fähig wieder und reif für höhere
Stufen der Gesittung, und man wird bei einiger Unbefangenheit denn doch wohl in seinem Schlüsse
weitero-ehend eingestehen müssen, dass hier das Beste und Edelste im Werk dieser Persönlichkeiten
steckt, was die Gegenwart hervorbringt.
Auch Stuck hat reichlich dieser Gemüthsforderung geopfert. Dieser geistreiche Naturträumer
und dies heiter und sorglos dahinwandelnde Wehkind, das gewiss alles Andere eher denn ein frommes
und bussfertiges Gemüth ist, hat in einer ganzen Reihe von malerisch bedeutsamen Schöpfungen die
biblische Welt behandelt. Der symbolistische Zug seines Wesens und seine hier allmählich zu den
grossen Gesichtspunkten seiner eigentlichen Hauptwerke aufsteigende Malerkunst geben diesen Werken
freilich den Schwerpunkt und bedingen auch wohl ihre allgemeine Schätzung, — tief-religiös empfunden
sind sie dagegen nicht, und ich mag ihnen bei aller Würdigung von Stuck’s Bedeutung kein
übermässiges Gewicht beilegen. Der Schwerpunkt liegt für mich in seinen Allegorieen, — nicht hier.
Das muss vorausoreschickt werden! Dann aber ma? man trotz des auf diesem Gebiet zu Tag-e
tretenden Pathos des Künstlers sich sorglos dieser Werke freuen ; denn malerisch anziehend ist schon
der frühste «Hüter des Paradieses» als schlanke und gluthäugige Jünglingsgestalt, die den riesigen
Zweihänder feierlich von sich hält wie bei Galaeelesfenheiten nur ein königlicher Hartschier seine
Waffe, dargestellt. Hier ist auch geschickte Sonnenmalerei mit ihrer Fülle von lebendigen Tönen,
das frühreife Formengefühl wie die originelle Auffassung hervorzuheben. — Derselbe brünette und
sehnige Jünglingstypus, der sehr olt im Stückwerk wiederkehrt, ist auch auf der ersten Fassung der
«Vertreibung aus dem Paradiese» zu finden. Auf flimmerndem besonntem Sandboden steht er hier
gerade mit parademässig nach hinten zusammengeschlagenen Flügeln und drückt in seiner soldatischen
Abgemessenheit originell und treffend den widerspruchslosen Befehl einer höheren Macht an die in
dumpfer Gebrochenheit dahinschleichenden Adam und Eva aus; qualvolle Müdigkeit drücken bei diesen
in künstlerischem Gegensatz alle nach unten sinkenden Linien aus. Ein eigenthümliches Gebilde ist
auch «Das verlorene Paradies». Eine enge und düstere, ins Bild hineingehende Felsspalte, in der
hinten breitspurig der Engel mit dem feurigen Zweihänder steht. Was er dahinter bewacht, ist nicht
mehr als ein schmaler Streif von zauberhaftem Perlmutter-Sonnenglanz, — aber so geschickt ist es
gemalt, dass tausend unbeschreibliche Wunder darin zu leben scheinen. Es ist ein Malerkunststück,
wie sie nicht oft gelingen.
DIE KUNST UNSERER ZEIT. 25
Den «Luzifer» betrachten
wir hernach. Die « Vision des
h. Hubertus» — der Hirsch mit
dem Flammenkreuz im Geweih
— ist nur eine hochpoetische
Waldträumerei wie die Centauren¬
stücke. Aber die «Kreuzigung»
hat ein Künstler von hoher Eigen¬
art und Kraft gemalt. Leben und
Tod sind die herausspringenden
Gegensätze. Die rechte Seite
des Bildes nimmt der hell be¬
leuchtete, eben verscheidende
Heiland neben dem einen der
Schächer ein. Dieser ist dem
qualvolleren Tod des Hängens
am Kreuz bloss mittels fester
Stricke überantwortet und alle
seine Muskeln sind krampfhaft
verzerrt. Die linke Bildseite zeigt
die kühn aufgefassten Charaktergestalten des Johannes, welcher die ohnmächtige Maria in Gemeinschaft
mit der Maria Magdalena hält, — des Petrus und anderer Jünger, auf denen das nächste geistige Fort¬
leben der Heilandlehre beruht. Aller Blicke sind mit fast entsetzter Spannung auf die letzten Züge des
sterbenden Meisters gerichtet, während der Himmel sich eben verfinstert und die Sonne von schwarzen
Schatten überzogen wird. Das ist mit ungemein dramatischem Leben, mit grossen und kraftvollen
Farbengegensätzen knapp und mächtig herausgekommen. Zwischen den Figuren hindurch erblickt man
dazu in der Ebene drunten in skizzenhaften Umrissen erregte Köpfe der Menge, — der menschlichen
Herde mit den niederen Instinkten des Hasses gegen alles Grosse und Gute. Alle Zeichen einer
ungewöhnlichen Darstellung trägt das hochinteressante Bild, dem zu einer ernsthaften Bedeutung nur
wenig weitergeführte Durchbildung fehlt. Es ragt aber auch so sichtbar aus der Menge zeit¬
genössischen Schaffens hervor. — Ein humoristischer Zufall hat das Bild weiter bekannt gemacht, als
seine Eigenart es sonst gestattet hätte. Ein reicher Kunstfreund wollte es vor einigen Jahren in eine
der älteren Berliner Kirchen stiften, was aber die Geistlichkeit derselben durch öffentlichen Einspruch
vereitelte. Die Hoffnung, dass in die trostlosen Machwerke der Berliner Kirchenmalerei, in der immer
noch der ruhelose Geist des unseligen einstigen Akademiedirektors Rhode umgeht, damit ein herzhaftes
Werk käme, war wieder einmal verfehlt, aber für Stuck hat die Sache damals doch viel Propaganda
gemacht, sintemal zelotischer Hass der Finsterlinge ja immer ins Gegentheil umschlägt.
26
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Die innere Folgerung- aus der «Kreuzigung» war für den Künstler eine «Pieta», die in der
stilistischen Vollendung sein bestes religiöses Bild ward. Starr liegt der Heiland auf einem Marmor¬
sarkophag, — in jener naturalistischen Behandlung, welche durch Holbein’s berühmtes Werk im
Baseler Museum geschichtlich geworden ist. Die Figur der schmerzversunken daneben stehenden
Madonna überschneidet den Leichnam rechtwinklig, — sie drückt die prächtig gemalten und gleich
dem Heiland aus unsichtbarer Lichtquelle von links oben scharf beleuchteten Hände gegen das
verhüllte Haupt. In seinen scharfen Linien und dem Festen einer etwas harten Malerei verleugnet das
Bild Grösse und Hoheit nicht, aber es hat für meinen Geschmack zu viel malerisch gesuchte Wirkung
und zu wenig menschliche Wärme.
Schliesslich aber lag dem antiken Spätling und Maler heiter-naiver Sinnesfreuden im Kleid
alter Fabelwelt der «Sündenfall» zu nahe, als dass er ihn nicht gemalt hätte; es ist auch ein
merkwürdiges Bild daraus geworden, dem man äusserlich eine ursprünglich wohl vorhanden gewesene
kunstgewerbliche Absicht anzusehen meint. Der Baum in der Mitte, den die mächtige Schlange mit
ihrem Schweif umringelt, — der dunkle Wipfel mit dem tiefen Gezweig geben haarscharf zwei Bildseiten
von gleichem Gewicht. Die schlanke jugendliche Menschenmutter reicht von links den verhängnisvollen
Apfel mit kokett-herausforderndem Blick hinüber, wo der wunderschön gebildete Adam zaghaft nach
dem Geschenk eben greifen will. Was der Bildmaler zu diesem ornamentalen Entwurf hinzuthat,
war die in schmeichlerischen Farben lockende Sünde, und Hand in Hand mit ihr zeichnete der moderne
Psychologe die nervöse Bangigkeit des Verlangens hin, von dem der Heldenweisenton der Bücher
Mosis noch nichts weiss. — —
* *
❖
Eine « . . . . Schmälerung und Herabsetzung einer rein gedanklichen Richtung wird nie von den
führenden, sondern stets nur von den untergeordneten Geistern ausgehen», sagt der Denker Emerson.
Ein merkwürdiges Wort im Munde eines Amerikaners, das dem Bildungsgänge dieses Idealisten nach
aus der Betrachtung deutscher Geistesentwicklung abgezogen scheint. Betrachten wir in der That
nur unsere Kunstgeschichte, so finden wir schon hier volle Bestätigung dieses Grundsatzes, denn
gedankenlose Fingerfertigkeit war nie freie und blühende deutsche Kunst, sondern stets Verfall in
entnervten Zeiten. Das muss man gerade heute, wo eine einst verdienstlich begonnene naturalistische
Handwerksmalerei mit der Verfehmung von Geist, Bildung und Herzleben abgewirthschaftet hat und
sich noch mit letzter Kraftanstrengung behauptet, unbeirrt um so fester im Auge haben, als eine
mächtige nationale Geistrichtung in der zeitgenössischen Kunst bereits reich entfaltet ist und
begeisterter Anerkennung durch die grosse Menge der Gebildeten bedarf, um auch mit ihren Werken
weithin wirken zu können. Der blinde Idass wirft dieser vaterländischen Kunstweise die Richtung auf
die ertödtende Kartonmalerei vor und beschwört angstvoll das Nazarener-Gespenst herauf, die
Urtheilslosen damit zu schrecken? Haben wir etwa Grund, uns des Namens eines Cornelius zu
schämen r Das könnte doch nur der Wahnsinn behaupten. Aber was ist uns Hekuba, — was soll
das Gespenst einer seit fünfzig Jahren abgetretenen Schule, die Geist vom Geist ihrer Zeit war und
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
27
eben dank der verkommenen Ausländerei ihrer Vorgänger nicht malen konnte, weil es keine Technik
gab? Seitdem hat der Malerei-Realismus und der in dieser Richtung gewiss werthvoll gewesene
Naturalismus uns mit einer Palette von der üppigsten Fülle und mit sicherster handwerklicher
Fertigkeit ausgerüstet, und Zeugniss dafür, dass jeder Verfall an die blasse Umrisskunst des
Jahrhundert-Anfangs ausgeschlossen scheint, sind die in den wunderbarsten Farben glühenden Werke
eines Böcklin, eines Klinger, die eminente Malerei eines Stuck, die freilich nicht wie ihre naturalistischen
Genossen am Mal-Handwerk knechtisch kleben blieben, sondern es nur als untergeordnetes Mittel zur
Gestaltung ihrer neuen grossen Weltideen benützten. Was soll der thörichte Unkenruf vom Umgehen
des Kartongespenstes, — er schreckt die Urtheilsfähigen doch nicht.
Stuck hat in seiner Frühwerk-Technik der französischen Eindrucks Malerei kurze Zeit hindurch
gehuldigt, aber er hat nie darin geschwankt, dass Zeichnung und Malerei nicht mehr als blosse Mittel
für die Verleiblichung seiner Phantasiegebilde sein dürfen. Er hat nicht einmal, wie viele hervorragende
heutige Mitstreiter in der Phantasiekunst, eine richtige naturalistische Entwickelungszeit durchringen
brauchen, weil sein Instinkt ihn sicher auf Erkenntniss seines Eigenwesens, auf die Lebensfähigkeit
desselben wies. Er war immer ein vornehmer Künstlerpoet. — —
— — In dieser Bewerthung der Kunst aber nach ihrer geistigen Beschaffenheit sind aus dem
Stückwerk des letzten Jahrzehnts eine kleine Reihe von Werken als sein Reifstes und Vollkommenes
im Sinne ungewöhnlicher Bedeutung herauszunehmen und als sein Höhepunkt an das Ende unserer
Betrachtung zu stellen. Es sind seine symbolisch-allegoristischen Werke von monumentalem Kaliber, —
jene Schöpfungen von origineller Denkart und eigenthümlicher Gestaltungsweise, welche allgemeine
Ideen aus der Weltauffassung, der Geschichte, verkörpern.
Solche künstlerischen Begriffsausdrücke zu schaffen, in ihnen die Auffassung, die Bildung, den
Pulsschlag einer Zeit niederzulegen, ist erst die rechte Aufgabe einer hohen Kunst, die erst hier die
Spuren des Handwerks vollständig abstreift und ihre letzte Höhe erklimmt. Freilich hat die ganze
Allegoristerei für moderne Ohren einen unangenehmen Beiklang, aber das liegt an uns und daran,
dass das Barocko mit einer unerträglichen Unnatur und jahrhundertelanger Ausschlachtung der
Vorbilder ohne eigene Erfindung die Allegorie widerwärtigster Art breitgetreten hat. Wir werfen
gern die Blüthezeiten mit den Verfallperioden aus kritikloser Bequemlichkeit zusammen, — wir
vergessen, dass die Grossthaten eines Raphael, Dürer, noch mehr eines Michelangelo, ihre Zeit nicht
nur, sondern auch die Menschheitsideen in einer schöpferischen Weise allegorisirten, während die
Zeiten realistischer Kunstblüthe doch nur Perioden zweiter oder dritter Ordnung gar waren. Wie sich
die Denkarbeit, die Kultur eines Volks im Künstlerwerk spiegelt, wird für den, dessen Blick sich vom
Tage nicht trüben lässt, immer eine Cardinalfrage des Urtheils bleiben.
Und hier liegt der Punkt, von dem eine ernsthafte Würdigung der Stuck’schen Kunst möglich
ist. Der verführerische Naturträumer, der antike Sinnenmensch, der originelle Stilist, der virtuose,
unendlich bewegliche Maler ist gewiss eine der fesselndsten Erscheinungen der Gegenwart, — umso
mehr als ein kunstgewerblicher Genius sich dazugesellt. Aber den grossen Hintergrund und die
4*
28
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Zukunfts-Anweisung, auf Grund deren Stuck neben den grössten Zeiterscheinungen zu nennen ist,
kriegt er erst durch jene Werke, in denen der spielende und blendende Causeur schöpferische
Denkkraft offenbart. Ein kleiner Theil der religiösen Darstellungen lässt dies schon erkennen.
«Das verlorene Paradies» ist eine originelle Erfindung dieser Art, die eine von der Ueberlieferung
fast ganz freie Malerphantasie offenbart. Das Stärkste und eine hochreife Frucht ist aber hier
«Luzifer», — die Verkörperung der Hölle, des bösen Prinzips, des Widerstands gegen das welt¬
erhaltende Gute. Die deutsche Kunst hat dafür in humoristischem Anfluge bisher die Fratze
des intriguanten, grausamen, Verträge
schliessenden, gelegentlich auch hinein¬
gelegten dummen Teufels, des mit
Aiterwissen prunkenden Mephistopheles
ausgebildet. Ob Stuck unmittelbar sich
an Milton gelehnt, kann ich nicht sagen;
mir schwebt eine Stelle des « verlorenen
Paradieses» vor, die ich nicht ermitteln
kann. Jedenfalls aber kann er die origi¬
nelle Malerauffassung vom gefallenen
Luzifer, dem schönen und starken
Erzengel mit dem verirrten Kraft- und
Selbstgefühl, für sich beanspruchen. Da
ist ein tiefes Felsgemach, in dem der
schöne Höllenfürst finster sinnend auf
einer Felsplatte zusammengekauert sitzt.
Das vorgeschobene Gesicht ist auf die
linke, vom Knie gestützte Hand ge-
legt, — die rechte Hand zieht den
einen Flügel an sich und die phos-
phorescirenden Katzenaugen schauen
scharf ins Dunkel hinein. Grünlich ist
der mächtige, prachtvoll in den Formen
behandelte Körper, grünlich die Dämmerung um ihn. Zwei schmale, lichtgrüne Sonnenstrahlen fallen aus
unendlicher Höhe herunter und prallen funkelnd von der Sitzplatte wieder zurück. Es ist ein ganz wunder¬
voller Kontrast zweier Welten — Licht und Finsterniss oder Himmel und Hölle — hier vorhanden,
nicht minder aber eine antikische Schönheitsempfindung wirksam, für welche das Böse nur ein Denk¬
fehler, ein verirrtes Gute ist, wie dies ja in der sokratischen Lehrbarkeit der Tugend ausgesprochen liegt.
Dann hat Stuck um die gleiche Zeit die «wilde Jagd» in einer seiner bemerklichsten Malereien
behandelt. Nahezu das einzige Mal, dass seine so tief aus dem Geist der Heimath wirkende Weise
Franz Stuck. Portraitstudie
Franz Stuci. pliix. Phot. F. HnufStoougl, München
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
29
Franz Stuck. Die wilde Jagd
auch einen Stoff aus dem germanischen Mythos wählte. In nebliger Schattenhaftigkeit jagt da der
heulende Tross durch die Luft heran, — - nackte, verzerrte, gehetzte wilde Gestalten auf Thiergerippen.
Der wilde Jäger mit der Hetzpeitsche voran auf dem Gerippe eines Büffels, wie es scheint. Alle zum
letzten Rasen angetrieben durch die fahl auftauchende Tageshelle rechts im Bild. Das Ganze ist eine
in Malerei umgesetzte Morgengrauen-Phantasie, auf welche die klagenden Stimmen der sturmgepeitschten
Natur ihren umheimlichen Eindruck ausgeübt.
Malerisch gehört in der schwärzlichen Tongebung bereits der neuen Art Stucks das erste
« Furien »- Bild an. Die schrecklichen drei Weiber mit den Schlangenhaaren erwarten hier den
angstvoll in die regennasse Felsschlucht hineinstürzenden Mörder schlangentückisch hinter einem
Vorsprung. Die Idee ist hier freilich nicht neu, sondern lehnt sich an Böcklin’s bekanntes Bild
der Schackgallerie , aber die Auffassung ist doch wesentlich gewandelt, malerisch eine starke
Eigenart vorhanden und die Wirkung dramatischer als die vom unheimlich - schwülen Gedicht des
Schweizer Meisters.
30
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Auch einen «Medusenkopf» giebt es von ihm, den die Schlangen des Haupthaars in ornamen¬
taler Verschlino-uno- mit ruhigfen Kurven ohne die Wildheit des antiken Vorbilds umgeben. Ein schmal
zulaufendes blasses Gesicht mit offenem schlaffem Mund und breitgeschwungenen Nasenflügeln. Un¬
heimlich die starren glasigen Augen, die ins Leere starren. Ein eisiges Grauen schwebt um dies
eigenartige Bild; es ist geradezu erstaunlich, wie sicher diesem so frohsinnigen Liebeslyriker der ge¬
spenstische Schauer gelingt.
Dann aber kommen wir zu der vielgenannten «Sünde», welche in der glänzend-tiefen, flächigen
Earbengebung des Pallaskopfs gemalt ist. Stuck hat den Vorwurf — irre ich nicht: schon vorher —
in einer Radirung als üppig - verbuhltes, von einer Riesenschlange umstricktes Weib aufgefasst, das
ersichtlich der Venus vulgivaga nahesteht. In dem Gemälde steht in hermenartiger Darstellung gerade
an der Wand der von einer Riesenschlange kranzweis umgebene Oberkörper eines schlanken jungen
Weibes mit lang herabfliessendem schwarzem Haar. Das feine schöne Gesicht mit den edlen Formen
und dem forschenden Blick hat nichts Gemeines oder Grobsinnliches, nichts Herausforderndes, — eher
vielmehr im Kontrast zu dem zischend über die Schulter schauenden Schlangenkopf die metaphysische
Sinnlichkeit, die hervorbringend und vernichtend der Trieb alles Seienden ist. Der Vorwurf ist hier
viel weiter und abgeklärter gefasst als in der Radirung und das Weib nicht lediglich als Verkörperung
der menschlichen Sinnlichkeit. Auch hier ist eine originale Symbolik Stucks festzulegen, für die mir
kein unmittelbares Vorbild in der Kunstgeschichte bekannt ist.
Das Verhältnis der Oeffentlichkeit zum Wachsen eines Künstlers ist launischer, oft gewalt
thätiger Natur. Hat ein Maler mit einem Werk oder einer Richtung Erfolg gehabt, dann verlangt
der Areopag der öffentlichen Meinung, dass Jener in gleicher Richtung fortfahre; sie wird misstrauisch,
sobald der Künstler neue Wege sucht, und manche frische Kraft scheiterte schon oder versandete
an diesem stillen Widerstand. Kümmert sich einer nicht darum, so widersteht ihm die Oeffentlichkeit
auf die Dauer nicht, aber sie erkennt mit jedem neuen und neuartigen Werk nicht dieses, sondern
stets erst das Vorhergehende an. Alle Welt ist dann einig unter wohlwollendem oder verächtlichem
Achselzucken, dass das frühere Werk besser war. Das ist eine oft zu beobachtende Erscheinung,
die in Deutschland u. A. Böcklin io Jahre lang ausprobirt hat, die Menzel, Thoma und Klinger sattsam
erfuhren. Was die weisesten Leute sind, — die finden dann mitunter, dass das Höchste eines genialen
Künstlers in den Vorschulzeichenheften seiner Jugend begraben liegt. Reife Schöpfungen begegnen
fast immer sehr grosser Sprödigkeit und wachsen nur allmählich in das Publikum hinein, um dann
treilich festzusitzen, während die erfolgreichen «Schlager» selten lange Vorhalten. — Stuck’s am
grössesten gedachte und empfundene Schöpfung und seine reifste Malerei, nämlich seine Allegorie auf
den «Krieg», hat diese Erfahrung gemacht. Was für abfällige Urtheile sind bei Erscheinen über
dies Bild gefällt! Was ist Alles daran bemängelt worden! Als ich das Werk später in der neuen
Pinakothek zuerst sah, war ich nach allen jenen Aeusserungen auf’s Tiefste überrascht und gepackt von
seiner einfachen Grösse. Das Werk allein müsste ihm eine der Hauptführerschaften in der zeitgenössischen
Kunst und die Unvergesslichkeit sichern, hätte er auch sonst nichts gemacht. Stuck’s Hervorbringung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
31
ist ja allerdings eine stossweise, auf allen Gebieten Ansetzende; er geht hier und da unter künstlicher
Hitze prächtig auf und sinkt dann wieder in seine reizvoll-anmuthige «Alltäglichkeit» zurück, wenn
man von einer sehr poetischen Kunst so sagen darf, — seine grossen Würfe haben keinen ganz klaren
logischen Zusammenhang untereinander und Zufall wie glänzendes Virtuosenthum im Handwerk scheinen
vielfach an ihnen starken Antheil zu haben. Wer aber so kraftvolle und originelle Denkkraft besitzt,
wie es ausser den schon genannten Allegorieen dieser «Krieg» in erster Linie verräth, — so monu¬
mental zu schaffen vermag und erst 34 Jahre alt ist, von dem darf noch viel erwartet werden.
Wie einfach ist dieser Vorwurf behandelt und mit welcher gehorsamen Vollendung durchgeführt!
Der bei den Landschaften schon erwähnte «Reiter» ist anscheinend der erste Keim der Eingebung.
Ein weites düsteres Feld mit drohenden Wetterwolken und Spuren fahlen Horizontlichts. Nackte
Männerleichen mit verzerrten Gesichtern und erstarrten letzten Bewegungen bedecken dicht die Wahl¬
statt, über die langsam auf schwarzem, abgehetzt schreitendem Ross der finster blickende Genius des
Kriegs reitet; den blutigen Zweihänder auf der Schulter hält die Rechte, — die Linke ist kalt in die
Hüfte gestemmt. Es ist der bekannte Jünglingstypus Stucks, aber wohl kaum Zufall, dass in die
finsteren Züge eine Maskenähnlichkeit mit dem neueren Attila, dem grossen Napoleon, hineingekommen
ist. Die breite Wucht des Aufbaues ist durch eine ganz ausgezeichnete Formen- und Fleisch¬
behandlung gesteigert und in keinem Bild ist die neuere Schwarzmalerei Stuck’s so aus der düster
lastenden Stimmung von Ort und Vorgang gerechtfertigt als hier. — — Der wie ein bunter Falter
verführerisch dahintändelnde Jugendfrohsinn des Künstlers ist in diesem Gipfelpunkt seines Gesammt-
werks zu tiefem Ernst gereift, — — betrachtet man die neueren Werke daraufhin, so will es scheinen,
als habe dies ernstere Weltverhältniss und mächtigere Leidenschaft Besitz von der Künstlerseele
genommen und leite eine neue Bahn seines Schaffens ein. — —
* #
Unvollkommen aber wäre schliesslich das Bild von diesem reichbegabten und vielseitigen,
in ständiger Entwickelung begriffenen Künstler, wollte man nicht jene Werke anführen, die nebenbei
in anderen Techniken als Versuche und Liebhabereien enstanden sind. Während er leicht und graziös
schon durch die reizende Fabelwelt der Frühbilder schreitet, wird noch einmal die Lust an seiner
zeichnerischen Vergangenheit lebendig. Er greift zur Radirnadel, deren Technik so gut zu seiner Art
passt. Das schon erwähnte Bildniss seiner Mutter, — die erste Fassung der Sünde, — ein reizendes
Blatt mit der aus seiner Gerlach’schen Allegorieensammlung bekannten Wassernymphe mit der Harfe,
einem beigezeichneten Selbstbildnis und anderen leichten Aufrissen entstehen ihm rasch unter den
Händen und dann lässt er die Technik liegen. Der Umrisszeichner vom Anfang verliert sich bald
auch in den Werken; namentlich in den sehr sorgfältigen realistischen Studien für die grossen Bilder
sieht man jetzt, wie immer sicherer sich ein starker Sinn für die plastische menschliche Form entfaltet.
Ein paar antike Vorwürfe, wie der «Sieger» z. B., scheinen sogar ursprünglich nichts als Formen¬
übungen gewesen zu sein. Seine richtige Ausklärung findet dieser Formensinn dann in den neueren
religiösen und allegorischen Werken, denn da ist die meisterhaft beherrschte Form nur noch Theil
32
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
der grossen Gesammtwirkung. Aber die Liebe und Lust an der runden Behandlung der menschlichen
Gestalt hat Stuck inzwischen ein neues Gebiet daneben erobern lassen : die Kleinplastik. Ein paar
kleinere Arbeiten hierin sind äusserst geschickte Versuche, — ein Aufsehen erregender Erfolg vor
einigen Jahren die von fast allen grossen Museen seitdem erworbene kleine Bronzefigur eines
«Athleten». Er hebt eine schwere Eisenkugel langsam nach oben und er steht nicht nur ganz
wundervoll in der Anspannung aller Kräfte breitbeinig da, sondern auch mit unendlicher Liebe ist das
Arbeiten jedes Muskelstrangs und die davon bewirkte Veränderung der Körperfläche studirt. Eine
eiserne Spannkraft ist meisterhaft in dieser Figur entwickelt, die bei der ersten Ausstellung alle Künstler
hinriss. Stuck hat seitdem noch ein sehr anmuthiges Relief zweier «Serpentintänzerinnen» geschaffen.
Aber man traut ihm seitdem auch hier das Ungewöhnlichste zu. Denn auch hier spricht die anscheinende
Mühelosigkeit beim Schaffen von einer glücklichen Art und angeborener Meisterschaft, der jedes ernst¬
haft Gewollte gelingt und selten etwas vorbeischlägt. Er geht ja glücklich wie ein junger Dionysos
durch seine Wege, auf denen ihm, während er sich träumerisch ' darum gar nicht zu kümmern scheint,
mächtige Erfolge und für seine Jahre ganz ungewöhnliche Auszeichnungen zufielen. — —
Franz Stuck. Tänzerinnen
I
EDUARD GRÜTZNER
VON
HEINRICH ROTTENBURG
Wir leben in einer Zeit des Streber¬
thums und Cliquenwesens, in einer
Zeit des Ruhmes auf Aktien, des falschen
Erfolges, der künstlich aufgepäppelten Be¬
rühmtheiten. die man vergisst, nachdem
man kaum ihre Namen gehört. Auch viele
der Grössten verschmähen es nicht, auf’s
Tamtam zu schlagen und in die Lärm¬
posaunen zu stossen, in der ganzen Kunst¬
welt, ob sie nun malt, schreibt oder musicirt,
herrscht ein Lärmen und Hasten, dass einer
sein eigenes Herz nicht mehr klopfen fühlt,
sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Wer
noch erspriesslich und glücklich schaffen will,
muss abseits gehen und abseits bleiben auf
seinen eigenen Wegen. Denn hier, und
nur hier, erwächst der dauernde Erfolg.
Er ist eine von den Blüthen, die im Staube
und der Unruhe der Landstrassen nicht ge¬
deihen; lieber drüben in der Stille, wo der
Wald rauscht und eine freundliche Kühle
Ed. Grützner. Die hl. Nothburga
sorgt, dass nichts vor der Zeit verdorre.
Der Erfolg ! Feine empfindende und verstehende Naturen haben nach und nach eine Scheu
vor ihm bekommen, eben wegen jenes Hastens und Lärmens, womit er gemeiniglich in Scene gesetzt
wird. Und doch ist in Wahrheit der Erfolg, der wahre Erfolg, welcher ein flüchtiges Eintagsfliegen¬
leben überdauert, ein sicherer Massstab für einen künstlerischen Werth. Einmal, weil ein solcher
Erfolg nicht künstlich geschaffen werden kann, weil nichts schneller vergeht, als das, was durch die
Reclame belebt wurde, dann, weil er nur dem durch lange Zeiten treu bleibt, der sich selber getreu
ist ; weil nur die echte Kunst, die vom Herzen kommt, auch zum Herzen geht und schliesslich —
i 5
34
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
so banal das klingen mag — weil in der letzten Instanz doch immer das Publikum Recht behält.
Das will natürlich sagen, das Publikum im guten Sinne, die Zahl derer, die wirklich innere Beziehungen
zur Kunst haben und die eben die Werthung eines Künstlers durch sein Volk bestimmen. Die grosse
Menge der Gebildeten geht mit ihnen, lernt durch sie verstehen. Freilich fragt sich’s «wann?».
Es kann lange dauern, es kann mit einem Schlage kommen, wie wenn ein Blitz die Nacht durchhellt:
einmal spricht dies vielverlästerte Publikum, das dem Neuen oft so blöde gegenübersteht, das manch¬
mal wirklich schwer von Begriffen ist, doch ein Urtheil aus, das bestehen bleibt. Denn der Künstler
schafft für das Volk, nicht, wie so viele uns glauben machen möchten, für sich und die Kunst als
Selbstzweck. Das «Malen für die Maler» ist nichts, was Bestand haben kann; es ist für Viele nur
ein unfruchtbares Modeschlagwort gewesen, ein Vorwand für tausend Halbheiten, eine Pose für Nichts¬
könner; für die aber, die es ernsthaft treiben, ist es ein Martyrium von Noth und Verkanntsein, von
Unbefriedigung und Selbstvergeudung. Die Kraft eines Künstlers, die nicht im Volke wurzelt, nicht
im fruchtbaren Leben, in nationaler Eigenart und so vielen anderen Dingen, die alle zusammen auch
die Gewähr geben für einen gesunden Erfolg, ist leicht verbraucht. Die Kunstgeschichte hat keinen
wirklich Grossen übergangen, kein Genie hat ganz im Verborgenen geblüht. Manchem Gewaltigen
ist der Lorbeer erst auf seinem Grabe gewachsen, aber gewachsen ist er immer. Das Urtheil eines
einzelnen Idioten, das Urtheil einer ganzen Klasse meinetwegen, kann man verachten und muss es
verachten, wo es irrt; das ausgereifte Urtheil einer ganzen Zeitepoche aber hat Recht und bleibt
gültig, wenn sich’s auch im Laufe der Zeiten noch immer mehr klären mag. Und diejenigen, welche
das Urtheil ihrer Zeitgenossen so recht gründlich gering schätzen und sich darüber erhaben dünken,
haben gewöhnlich das Gesicht des Füchsleins, das die Trauben nicht mochte.
Ephemere Berühmtheit beweist freilich nicht Alles. Wie viele Wunderkinder der Muse haben
wir in München auftauchen sehen seit drei Decennien! Wie hatten sie geglänzt, wie hat man ihnen
gehuldigt — und was ist aus ihnen zum grossen Theil geworden ? Leute, die einer ganzen Schule
ihren Stempel aufgeprägt haben, sind selbst dem Namen nach vergessen. Andere sind um ihr
Bestes gekommen, nicht durch’s Ringen nach Erfolg, aber durch das Buhlen um die Gunst des Pöbels,
dessen thörichtesten Instinkten sie schmeichelten, entnervt vom Kampf ums Dasein, müde, abhängig
vom Kunsthandel, demoralisirt durch falschen Ehrgeiz, der sich vor denen beugt, die Kreuzlein und
Ehren zu vergeben haben ; von den meisten der einst so glänzenden Sterne spricht man nicht mehr,
man sieht ihre Bilder gar nicht, oder nur gelangweilt an, als eisernen Bestand der Kunstvereinswochen¬
ausstellungen, man kennt ihren Namen vielleicht nur noch, weil sie sich an jedem geräuschvollen
Protest gegen irgendwelchen Fortschritt in der Kunst unfehlbar betheiligen.
Gar Wenige nur haben still und stetig ihren Ruf und ihre Eigenart gewahrt, sind gross
geworden und gross geblieben, weil sie abseits des Lärms, der jetzt allüberall um die Thore der
Musentempel gellt, ihren Weg gingen. Von denen, die vor dreissig Jahren bejubelt wurden, besteht
nicht mehr ein Dutzend Namen in alten Ehren.
Eduard Grützner gehört zu den Auserwählten, die sich zum mindesten in allem Guten
gleichgeblieben sind, seit ihr Ruhm bestand: im ideellen und materiellen Erfolg, in ihrer Beliebtheit
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
35
bei den Kunstliebenden, in ihrer
selbstherrlichen Eigenart als
Künstler. Ein guter Theil von
den erstgenannten Dingen liegt
im Letzten begründet: in der
Beharrlichkeit, unbeirrt und fest
die Wege zu schreiten, die der
Künstler einmal als die Seinigen
und als die Richtigen erkannt
hat. So hat es Grützner immer
verschmäht, etwa zwischen die
fröhlichen Gestalten, die seine
Welt bevölkern, hinein grosse
Ausstellungsmaschinen zu malen,
einer Mode zu Liebe den Himmel
roth und die Bäume blau zu
sehen, auf «ismen» und «ionen»
zu schwören, Kunstpolitik, Kunst¬
diplomatie, Kunstschranzenthum
oder sonst irgend etwas Anderes
zu treiben, als die Kunst selbst.
Und doch kennt und würdigt
man ihn überall «oben» und Copyright 1897 by Franz Hanfstaengl
Ed. Grützner. Shylock
«unten». Er hat auf das Be¬
streben so vieler Anderer, sich bei Hofe zu den höchsten künstlerischen Würden hinaufzuantichambriren
oder sich durchzudiniren durch alle strebsamen Mitbewerber bis zu den funkelndsten Kreuzlein — er
hat auf alle diese Jämmerlichkeiten immer mit dem stillen überlegenen Lächeln herabgesehen, das
ihm so wohl ansteht. Und er ist doch geworden, was er ist. Die Grossen sind zu ihm gekommen,
als er nicht zu ihnen kam und antichambrirt wird auch, aber nun antichambriren die Leute, die seine
Bilder haben wollen, bei ihm.
Woher das kommen mag? Die Genremalerei ist doch eigentlich aus der Mode? O ja! Und
mit Recht sogar. Es gab bis zum Ende der 8oer Jahre in der deutschen Kunst ja fast nichts mehr
als Anekdotenbilder und grosse Ausstellungstableaux und dabei war einem grossen Theil unserer
Künstler ein nicht unwesentlicher Theil der Malerei abhanden gekommen — das Malen. Die Anekdote,
der Theil des Ganzen, an dem der schlimmste Schaupöbel seine Freude hatte, war alles. Grimassen
und Mätzchen, Kunststückchen und fade Süsslichkeit, humorlose Humoristik und romanhafte Situations¬
dramatik, das Alles nahm man für Kunst. Und wenn die Kunstverständigen gegen dies den Feldzug
eröffneten, so hatten sie Recht, so thaten sie was Gutes.
36
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Aber es gibt eine Genremalerei, auf die wir Deutschen nur stolz sein dürfen, weil sie anderen
Nationen so ziemlich fehlt, eine Genremalerei, die eben nur die Nation des Humors und Gemüthes
haben kann, zweier Eigenschaften, für welche die romanischen Völker nicht einmal einen Namen haben.
Und das ist die Domäne Eduard Grützner’s, es ist auch die Domäne von Franz von Defregger,
Vautier, Knaus und recht wenigen Anderen. Die sind echt.
Es ist aber höchst lehrreich zu sehen, wie diese «veraltete» künstlerische Weise ruhig ihren
Weg weiter machte und gesund blieb, während über- die Kunst im Allgemeinen im letzten Jahrzehnt
so gewaltige Revolutionen hingingen und für jene sogar sehr nöthig waren, während die eingedorrte
Technik einen wahren Sprühregen von neuen Schlagworten und Gesichtspunkten sich gefallen lassen
musste. Wer solche Stürme unbeschadet aushält, der hat Recht. Und wie sehr er Recht hat, das
beweist das künstlerische Schicksal derer, welche verspätet mitthun wollten mit den Jungen, die ja
auch Recht hatten. Wir haben jämmerliche Geberden gesehen von älteren Künstlern, die darauf
ausgehen wollten, geschwinde noch das Pleinair zu lernen und das Violettsehen. Wer nun als Kunst-
o o
freund daneben stand, der hat ihn ja auch mitgemacht, den ewigen Wechsel von Enthusiasmus und
Enttäuschung, von Glauben und Zweifel.
Eduard Grützner ist eine Säule der deutschen Genremalerei und von allen Meistern dieser Zunft
vielleicht der, dessen Ruhm die weiteste Verbreitung gefunden hat. Wo eine Büchse knallt, wo
echte Weinkenner sich an der Rebe edlem Blut erlreuen, im traulichen Forsthaus, in hunderttausenden
von Bacchustempeln des Südens und des Nordens und in ungezählten Privathäusern finden wir Re¬
produktionen seiner Bilder — aber auch wo Sinn herrscht für deutsche Kunst, in ungezählten privaten
und öffentlichen Sammlungen finden wir seine Bilder selbst. Nur die Berliner Nationalgalerie, die
durch das, was sie verpasst hat, oft fast interessanter ist, als durch das was sie besitzt, nennt keinen
«Grützner» ihr eigen. Seine prächtige «Versuchung», ein Bild, in dem er sich auf die höchste Höhe
seiner Kunst erhob und weit über das hinaufstieg, was sonst «Genre» heisst, war ihr angeboten und
sie wies das Werk, wohl aus «religiösen Bedenken» ab. Desgleichen seine «Branntweinschenke», in
welcher er den Teufel Alkohol in ähnlich gewaltiger Sprache an die Wand malt wie Zola im «L’Asso-
moir». Das war wohl wieder nicht hoffähig genug und die betreffende Commission, die ja Böcklin’s
«Kreuzabnahme», vielleicht das tiefste religiöse Bild unserer Zeit, ebenfalls ablehnte, refüsirte auch dies.
Als Künstler ist Grützner ein Münchener. Hier hat er gelernt und hier ist er der Eduard
Grützner geworden, von dem hier die Rede ist. Geboren aber ist er am 26. Mai 1846 zu Gross-
karlowitz in Schlesien (Regierungsbezirk Oppeln) Er hat die Kunst nicht von seinen Vätern geerbt.
Als siebentes Kind eines nicht allzu wohlhabenden Vaters hat er wohl überhaupt nicht viel ererbt, als
seine gesunde Art und seine stetige Arbeitskraft. Wie bei allen Kindern armer Landleute hiess es
auch bei ihm, sich früh nützlich machen — Vieh hüten und bei der Feldarbeit helfen. Der Mann, der
sich heute in seinen Mannesjahren eines der wärmsten und behaglichsten Nester der Welt geschaffen
hat, ein Künstlerheim, in dem Schönheit und Gemüthlichkeit ein bewundernswerthes Ganze bilden,
hat in seinen Kinderjahren das schwer hinwandelnde Hornvieh gehütet und dazumal wenig von der
idyllischen Poesie seiner Hantirung verstehen wollen. Jetzt freilich schaut der Mann, der den Hafen
Kd. Grützner piux.
Copyright 1894 by Franz Hanlstaengl
Nach schwerer Sitzung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
37
Ed. Grützner. Requiescat in pace
erreicht hat, auch auf diese Episode seines Lebens mit behaglichem Schmunzeln zurück und möchte
sie kaum herp-eben aus der Summe seiner Erinnerunp-en.
In der Einleitung zu dem im Verlage dieser
ist launig von seiner Hirtenjungenzeit erzählt :
Frühe Arbeit — Bauernarbeit ! —
Flinter Pflug und Egge laufen,
Jäten, mähen, krumm sich bücken
Und das Viehzeug auf der Weide
Treiben und im Zaume halten —
Meist war das ein unerfreulich,
Grämliches Geschäft gewesen
Und durchaus nicht gleich der Schild’rung
Schwärmender Idyllendichter.
Damals musste unser Eduard
Barfuss über Stoppelfelder
Renitentes Rindvieh jagen,
Zeitschrift erschienenen Album « Meister Grützner » *)
Das nun einmal — Menschen treiben’ s
Nicht viel besser — sich in fremden
Aeckern stets am Meisten wohlfühlt.
Ganz besonders war da eine
Kuh mit scheckigt heit’ rer Färbung,
Die das Grasen auf verbot’nen
Rüben- und Kartoffeläckern
Zum Prinzip erhoben hatte ;
Manches guten Peitschenhiebs und
Manches wohlgezielten Steinwurfs
Brauchte es, das Vieh zu meistern !
•) «Meister Grützner», 25 Kupferätzungen nach seinen Werken; mit begleitenden Versen von Ostini. München, Franz Hanfstaengl.
38
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Endlich fand sich Einer, der in dem aufgeweckten Knaben ein besseres Talent erkannte, als
das, widerspenstige Kühe von dem Betreten unerlaubter Weidegründe abzuhalten. Und dieser Mann
wurde überhaupt zum Mäcen und Retter des Knaben.
Es war der Ortspfarrer Fischer, der viel in dem Hause von des kleinen Eduards Vaters aus
und ein ging, weil dieser die Stelle eines Kirchenvorstehers bekleidete. Der Pfarrer, wie gesagt, sah
bald, dass der Knabe aus besserem Holze sei, als aus dem, aus welchem man Hüterbuben schnitzt
und erzoe ihn für’s Erste einmal zum Ministranten.
Von jener Zeit an wohl datirt auch Grützner’s künstlerische Vorliebe für die hohe Clerisei,
d. h. seine Erkenntniss, dass diese einen gar hohen malerischen Werth besitze. Was er sonst von
ihr hält, weiss ich nicht recht. Die unbändige Lebenslust aber, die aus seinen Bildern strahlt, lässt
wohl vermuthen, dass sein Verhältniss zu Allem, was Kutten und Soutanen trägt, immer ein mehr
platonisches gewesen ist und dass er nie mit sehr heissem Begehren nach der Tonsur und dem
Klosterfrieden gestrebt hat, trotz aller Lockungen von Bruder Kellermeister und Frater Koch.
In den untersten Stufen des geistlichen Berufes machte der kleine Eduard rasche Fortschritte.
Anstelliger, flinker als die Anderen und offenbar auch mit empfänglicherem Sinn für den geheimniss-
vollen Zauber des katholischen Kirchendienstes begabt, überflügelte er seine Amtsgenossen und brachte
es bald zum Oberministranten. Drollig genug mag er ausgesehen haben unter der Last seiner
Würden. Er war sehr klein und die kleinsten Ministrantenröcke waren ihm zu lang und mühsam
schleppte er die schweren Messbücher am Altäre hin und her.
Der Freiluftbewegung auf den stacheligen Stoppeln ward Valet gesagt und der Junge fühlte
sich im Pfarrhof bald heimischer als im Vaterhaus. Die Unzahl kirchlicher Verrichtungen, die sein
Dienst mit sich brachte, waren ihm bald geläufig. Es war sein Stolz, zu den hohen Kirchenfesten
das Gotteshaus schmücken zu helfen und dabei wohl auch schon eigenen Geschmack bekunden zu
dürfen, er diente oit halb erfroren am «heiligen Grabe», er ging Nachts mit dem Priester die schaurig¬
ernsten Gänge weit über’s Land zu den Betten der Sterbenden.
Freude an der Kunst hatte er schon früher gezeigt, noch als «Hüterbub». Den alten Kreuz¬
weg in der Kirche hatte er fein säuberlich in Wasserfarben copirt und die greise Mutter seines Pfarr-
herrn trug die Opuscula in ihrem Gebetbuch — immer schon ein künstlerischer Erfolg.
Lernzeit kam, immer fester verwuchs der Knabe mit dem Pfarrhaus. Der Pfarrer fing an,
ihn in die Geheimnisse der Sprache Cicero’s einzuweihen. Hatte Jung-Eduard am Altäre nichts zu
thun, so sang er mit auf dem Chor, wo auch der Pfarrer selbst mit musicirte, wenn gerade der Kaplan
das Hochamt las. Fischer war ein begnadeter Musiker und namentlich leidenschaftlicher Violinspieler.
Er zog die besser veranlagten Lehrer der Umgebung zusammen und an gewissen Tagen wurde im Plarr-
hof fleissig Kammermusik getrieben Auch die Liebe zur Musik blieb dauernd in Grützner’s Seele
zurück. Er ist selbst kein Musikus, aber in seinem Hause bekommt man so manches feine Stücklein
Musik zu hören und die ersten Kräfte der bayrischen Musenstadt haben bei ihm in ungezwungenem
Kreise schon gesungen und gespielt. — —
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
39
Aus Eduard Grütaner’s Skizzensammlung
Als Pfarrer Fischer mit seinem Vorunterricht weit genug war, setzte er es durch, dass sein
Schützling an das Gymnasium nach Neisse durfte. Dass Jener einmal ein strammer Amtsbruder werde,
stand wohl fest bei dem guten Mann. Als es anders kam, hat er’s auch verwunden und er sah ja
auch, dass das Andere gut war. Aber zunächst sandte er Jenen aufs Gymnasium Gerade hier
sollte des Jünglings künstlerischer Trieb reichliche Nahrung finden und die Lust zum Zeichnen stieg
in dem Masse, als das Vergnügen an den Humanioribus abnahm. Der künftige Meister kam dazu,
viele Zeichnungen für den Lehrer der Naturwissenschaften zu fertigen, und diese unterstützten in jeder
Weise die Neigungen Eduard Grützner’s für die Kunst. Dass diese dem jungen Pennäler auch zu
allerhand Allotriis dienten, ist selbstverständlich. Was jetzt die beinahe hervorstechendste Eigenschaft
des fertigen Künstlers ist, das unerreichte Talent zu heiterer Charakteristik, zeigt sich damals in
kecken Caricaturen der Professoren, die an Tischen und Wänden, in Heften und Büchern erschienen
und die Vergeltung blieb nicht aus. Die Freude am Studium wurde immer geringer und die Herren
Professoren fanden immer reichere Gelegenheit, an dem frechen Verhöhner ihrer Physiognomien wohl¬
begründete Rache zu nehmen.
Im Elternhause war der Knabe indessen nach und nach fast ein Fremder geworden. Die von ihm
heiss geliebte Mutter starb, die Geschwister waren in die Welt verstreut, das Gut ging zurück. Wenn
40
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Ed. Grützner. Interieur
Eduard in die Ferien ging, so brachte er diese im Pfarrhause zu; dass er es aber in Ewigkeit
nicht zum Bischof und auch nicht einmal zum Kaplan bringen werde, musste der gute Pfarrer
Fischer bald einsehen lernen. Mit dem Studium wollte es schliesslich auch gar nicht mehr vor-
wärts gehen und zuletzt wurde es denn klar, dass der ehemalige Hüterbub und Ministrant ein Maler
werden müsse.
Ob es viele solche Pfarrherren gibt in deutschen Landen wie diesen, der sich, obwohl ihm ein
Lieblingsprojekt in Scherben gegangen war, nun auch gleich gründlich mit dieser Wendung abfand
und des Schützlings Geschick in die Hand nahm ?
Der Pfarrer wendete sich an einen in München lebenden Baumeister, der ihm verwandt war,
und dieser liess sich dann bereit finden, den Mammon, der zum Studium an der Akademie nöthig
war, vorzuschiessen. Er legte Arbeiten des neuen Kunstjüngers in München dem Meister Piloty
vor und der erklärte sich bereit, Jenen in den Schooss der Münchener Akademie aufzunehmen.
Ganz goldechtes Mäcenatenthum war es freilich nicht, was den Münchener Baumeister bestimmte, den
Beutel aufzuthun.
Er meinte, wenn’s mit dem Malerwerden nichts würde, so würde er in dem jungen
Schlesier einen gefügigen Bauzeichner erhalten und in der That hat Grützner in der ersten Zeit seiner
Malerlaulbahn manche Stunde an den Zeichentischen seines Gönners gefrohndet. Auch eine Serie
O
w
... „ . Copyright 1894 by Franz Hanfstaeugl
Kd. GrUtzner pinx.
Fallstaff und sein Page
Ed. Griltzner piux.
Phot. F. H;(uf'st:u‘iigl. Müucheu
Versuchung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
41
Plafondbilder hat er für ihn gemalt, Genien der Kunst oder so was. Wie dem auch sei, ein treffliches
Mittel zum Zweck ist der Münchener Baumeister für den jungen Mann doch geworden durch sein
Darlehen, das er, nebenbei gesagt, auf Heller und Pfennig zurückbekam, als Jener das erste verdiente
Geld einstrich. Und das war bälder, als irgend einer erwarten konnte.
Also : die Reisekosten hatte Pfarrer Fischer spendirt und mit dem Rest dieser Summe, einem
ganzen blanken Thaler in der Tasche, wandelte Jung-Eduard im September 1864, achtzehnjährig
in München ein, um zunächst die Vorschule der Akademie unter Dyck zu besuchen, einem der
trefflichsten und originellsten Zeichner, den zu jener Zeit die «Fliegenden Blätter» hatten. Eine
Fügung des Schicksals mag erwähnt werden : Grützner copirte damals u. A. in der Schule Akt¬
zeichnungen seines späteren Freundes Defregger. Dieser Besuch der Vorschule dauerte nur von
Herbst bis Weihnachten, dann trat der Eleve in die Malschule von Anschütz über, einem etwas sonder¬
baren Heiligen , der auch gar sonderbare Heilige malte und mit der Natur auf höchst gespanntem
Fusse stand. Er hatte eine conventionelle Palette für Alles. Diese war auf den Grundton Violett
gestimmt und mit seinem violetten Pinsel fuhr er den Schülern sinn- und erbarmungslos in ihre
fleissig gemachten Arbeiten.
Auch dieses Martyrium dauerte nicht lange und Grützner trat in die Piloty’sche Componirschule
über, der so viele der glänzendsten Sterne am deutschen Kunsthimmel entstiegen sind. Seltsam ge¬
nug haben den Meisten diese «Sterne» ganz anders geleuchtet, als Piloty vermeinte. Er hat eine
grosse Aufgabe in unseren Kunstleben erfüllt:
dem Malerischen in der Malerei wieder zum
Rechte zu verhelfen ; das sichert ihm unsterb¬
liches Verdienst. Aber die Schule von Histo¬
rienmalerei grossen Stils und noch grösseren
Umfangs, die er zu gründen hoffte, hat er
nicht gegründet. Die Kunst hat sich zum
Glück eben doch noch edlere und feinere Auf¬
gaben gesucht, als die, Tapeten zu schaffen
für die Wände von Fürstenschlössern und
akademischen Sammlungen.
In der Malschule war Grützner unter
Andern zusammengewesen mit Leibi, mit
Otto Seitz , mit A. Oberländer, der heute
noch mit Recht als Grossmeister des Humors
in unserer bildenden Kunst gilt, mit Rüber,
aus dem später ein feinsinniger Musiker und
Kapellmeister der Münchener Hofoper ge¬
worden ist, mit Gura, der heute als Zierde
des gleichen Instituts, als unübertrefflicher
42
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Hans Sachs, Barbier von Bagdad, Wotan u. s. w. wie als der erste Liedersänger seiner Zeit bekannt
ist. Bei Piloty kam unser junger Künstler mit Benczur und Liezenmeyer, den Einzigen beinahe, die
heute noch die Traditionen Piloty’s fortführen, mit Raupp, dem Chiemseemaler, mit den beiden Lossow,
die nun unter der Erde ruhen, mit dem Thiermaler Gebier, dem Landschafter Ivnab, mit Hans Makart,
mit Alexander Wagner, Gabriel Max und Eberle zusammen. Sonderbar: lässt man die erfolgreichen
Schüler Piloty’s Revue passiren, so sieht man wieder so recht, wie das Wesen eines Kunstlehrers so
viel mehr ausmacht als seine Leistung, wie das was er ist, so viel bestimmender für die neue
Generation wird, als das was er schafft. Piloty’s reines und edles Streben, der ideale Mensch Piloty,
hat die Geister der Besten angezogen und festgehalten, gemodelt und zur Entwicklung gebracht Die
Irrthümer seines künstlerischen Strebens haben dabei keinen Schaden gethan.
Auch Grützner hat natürlich zunächst dem Geiste der Pilotyschule seinen Tribut zahlen,
er hat seinen grossen historischen Unglücksfall wenigstens anfangen müssen. Als Vorwurf für sein
«grosses Bild« ward die Scene gewählt, wie Heinrich II. von England sich 1174 am Sarkophage
des ränkevollen Erzbischofs Thomas Becket geissein lässt. Dass der Vorwurf den jungen Maler
nicht sonderlich begeisterte, ist unschwer zu begreifen. War’s doch vielleicht der Grundfehler der
ganzen Schule, dass die Künstler ihren weit hergeholten Stoffen kühl bis ans Herz hinan gegenüber¬
stehen mussten.
Der junge Grützner langweilte sich kräftig mit seinem gegeisselten Heinrich und als Meister
Piloty eines schönen Tages zur Cur nach Karlsbad musste, malte Jener heimlich sein erstes Kloster¬
stück : einen im kühlen Keller vom Alkohol überwältigten Klosterbruder, den seine geistlichen Obern
in süssem Schlummer antreffen. Und siehe da: das Bild wurde sofort verkauft. Gleichzeitig; fast
entstand das bekannte kleine Bild eines zahnwehbehafteten Mönchleins, das mit dem Weinkrug zum
Keller hinabsteigt, sich dort vom Mutterfasse Linderung zu zapfen. Der Münchener Kunstverein hat
das Bild für seine Verloosung um 250 Gulden erworben und der Gewinner hat es bald darauf um
mehr als das Dreifache weiter verkauft.
So fand Piloty bei seiner Rückkehr den hoffnungsvollen Schüler bereit, sich von der Historia
abzuwenden. Dass da nichts mehr zu machen war, sah er freilich ein, denn die verpönten Genre¬
bilder waren zu gut. Und der Meister entliess den Schüler schliesslich mit der Weisung:
«Mab Du in Gottesnamen Deine Pfäfflein weiter ! «
Im Wintersemester 1869 — 70 verliess Grützner die Akademie und seine künstlerische Existenz
war nun auch gesichert. Seine Bilder fanden rasch Käufer, die Zeit der Sorgen war vorbei und ein
frisches fröhliches Schaffen im Sonnenschein des Erfolges ging los.
Pfarrer Fischer hat die Kunde noch erlebt, dass sein Schützling ein grosser Maler geworden
sei — gesehen hat er kein Bild von der Hand seines ehemaligen Ministranten. Aber dieser hat in
seinem Herzen dem Wackeren ein unauslöschliches Gedächtniss bewahrt und über seinem Bette hängt,
in Kreide gezeichnet, das Bildniss des trefflichen Pfarrherrn : ein kluger, freundlicher Kopf mit an¬
genehmen Zügen. Es ist ein alter Plan Grützner’s, den Mann doch noch einmal im Bilde darzustellen,
wie er fiedelnd in seiner Stube auf- und niedergeht.
DIEK UNST UNSERER ZEIT.
43
Grützner malte übrigens nach seiner Lossprechung von der Akademie nicht blos seine « Pfäfflein
weiter». Schon auf der Schule war Shakespeare seine stille Liebe gewesen und die prächtigen, lebens¬
vollen Gestalten aus dessen Dichtungen beschäftigten nun auch den jungen Künstler. Ein günstiger Zufall
verschaffte ihm den Auftrag eines Engländers, einige Szenen aus Shakespeare’s «Heinrich IV.» im
Bilde festzuhalten. So malte er Falstaff in der Kneipe der Frau Hurtig, eine köstliche Rekruten¬
musterung und andere Szenen, aus den «Lustigen Weibern» u. s. w. Namentlich aber blieb es das
Drama «Heinrich IV.», das den Künstler besonders fesselte. Er hat einen geradezu klassischen
Falstafftypus geschaffen und liebt es immer noch, den dicken Sünder in den verschiedensten Lebens¬
lagen, beim Sekt und beim Dortchen Lackenreisser und in anderen Augenblicken, zu malen. Er
macht uns dabei den lüderlichen Ritter durch einen Zug fröhlicher Bonhomie sympathischer, als er
am Schlüsse des Dramas vom jungen Könige gezeichnet wird und lässt uns schier hoffen, dass in
günstiger Stunde Heinrich V. den Ritter doch wohl wieder in Güte aufnehmen und mit einem feuchten
Hofamt, vermuthlich dem eines Oberstkellermeisters, begnaden werde.
Auch sonst hat sich Grützner durchaus nicht etwa der ausschliesslichen Spezialität des Pfaffen¬
malens ergeben, im Gegentheil : seinem Pinsel gehört so ziemlich Alles, was ihm Gelegenheit gibt,
seine unerreichte Kunst zu kräftiger Charakterisirung und seine Virtuosität in der Ausführung malerischer
Interieurs und Stillleben zu üben. Kneipenszenen aller Art, Schauspieler, Jägersleute, Wildschützen
— Alles hat er verewigt, was eine scharfe Physiognomie und darin einen heiligen Funken von Humor
hat. Jede Figur,
die er malt, ist
ein Mensch für
sich, die seicht
erfassten verall-
gemeinertenTy-
pen, mit denen
sich so viele
Genremaler be¬
gnügen, findet
man auf seinen
Bildern nie. Und
das ist ein gros¬
ser Theil vom
Geheimnisse sei¬
ner Beliebtheit.
Der Besitz die¬
ser beseelten
Menschenschild¬
erungen ermüdet
Ed. Grützner. Interieur
6*
44
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
nicht. Wer «einen Grützner» hat, kann ihn immer sehen und wird daran so wenig müde, wie am
Gesicht eines alten lieben Bekannten.
Unser Meister hätte sich längst schon sein Stoffgebiet auch noch nach anderen Richtungen des
menschlichen Lebens erweitert, wenn er sich aber in der Hauptsache doch in einem engeren Kreise
bewegen muss, so hat das liebe Publikum und der Kunsthandel die Schuld. Das ist nun mal nicht
anders: statt dass ein Bilderkäufer froh wäre, von seinem Lieblingsmeister ein Werk zu besitzen, das
gewiss kein Anderer neben ihm hat, bestellt er sich sicher ein Sujet, das der Künstler schon ein paar¬
mal gemalt, woran er sich unter Umständen schon ganz müde gearbeitet hat. Will er einen Grützner
haben, so muss es ganz gewiss ein Klosterbruder sein, der sein Weinglas im Licht karfunkeln lässt,
will er einen Gabriel Max, so verlangt er eine blasse Dame, die ein paar grosse Räthselaugen irgend
wohin ins Unbestimmte, muthmasslich in’s Geisterreich richtet. Hat Einer einmal einen Sonnenunter¬
gang über einem Dorfweiher gemalt, rechts eine alte Hütte, links ein Schweinestall, und hat er damit
Erfolg errungen, so muss er fürs liebe Publikum sein Leben lang Sonnenuntergänge über Dorfweihern,
Hütten und Schweineställen malen, mit möglichst geringen Variationen noch dazu. Böcklin hat seine
«Todteninsel » drei oder vier Mal malen müssen, seine «Villa am Meer» noch öfter, seinen Prometheus
zweimal u. s. w. Ein Glück, wenn Einer so viel aus sich zu geben hat, dass er dabei nicht monoton
wird. Grützner gehört zu diesen Glücklichen ; ihm hat die kindliche Begeisterung der Menge, die
immer das einmal Dagewesene und einmal Gelungene wieder verlangt, weiter nicht geschadet und er
hat die Gabe, das Alte doch immer wieder mit anderen Worten zu sagen.
Er hat freilich, wie oben ausgeführt, auch selbst eine grosse Vorliebe für das klösterliche
Leben - — so weit es als Gegenstand seiner Malerei oder etwa als Gelegenheit zu einem scharfen
Trunk im Klosterkeller oder Bräustübel in Betracht kommt. Den Maler ziehen da allerlei Dinge an :
die durchweg malerischen Kutten der Mönche, ihre charakteristischen Köpfe, die pittoresken Innen¬
räume der Klöster, die meist aus alter Zeit stammen und reich an malerischen Stillleben-Details
sind u. s. w. Das Leben der Mönche, den Augen der gewöhnlichen Sterblichen in der Hauptsache
entrückt, bietet ferner eine Fülle fesselnder Sujets. Grützner zeigt sie uns beim Beten, beim Studiren,
beim Musiziren, bei allen erdenklichen häuslichen Verrichtungen, beim Brauen und Keltern und jeder
Hantirung, die mit der Erzeugung von Wein, Bier und selbst Liqueur zusammenhängt und — ganz
besonders gerne beim Trinken. An allen feuchtfrohen Stätten hat der Künstler von jeher ganz besonders
gerne seine Staffelei aufgeschlagen und von der milden Heiterkeit eines rheinweinkostenden Kirchen¬
fürsten im Purpurtalar bis zur stumpfen Verthiertheit des Schnapsbruders in der Winkelschänke hat er
wohl alle menschlichen Zustände, die der Verkehr mit dem Becher mit sich bringt, in Bildern festgehalten.
Er, dem selber weise Mässigung als Grundbedingung für wahren und menschenwürdigen Genuss
gilt, schildert die Trinker und Zecher aller Art mit so erlesener Meisterschaft, dass man ihn den
Scheffel unter den Malern nennen könnte. Er hat selbst eine stille Andacht für jeden guten Tropfen
und weiss sie auch in die Mienen seiner Mönchlein auf der Leinwand zu legen. Im wilden Ueber-
mass malt er seine geistlichen und weltlichen Zecher selten, lieber im behaglich prüfenden Gemessen,
in der Freude an Gottes Gabe — stamme sie nun vom Hopfen oder vom Rebstock her.
Eritis sieut Deus
Kein Tröpferl mehr!
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
45
Ed. Cri'ttzner. Interieur
Eduard Griitzner hat in seinen zahlreichen Klosterbildern auch niemals den Clericis irgend was
wirklich Böses nachgesagt, er ging nie weiter, als bis zu einem Scherz, den jeder vernünftige Pater
und Frater mit Schmunzeln über sich ergehen liess. Und in fleissigem Verkehr mit Klosterherren
aller Art hatte er Gelegenheit genug, sich Auskunft zu erholen, wie viel jene vertragen könnten in
dieser Beziehung. Längst war er durch seine Klosterbilder beliebt und bekannt, als er immer noch
in den Klöstern aus- und einging, als guter Freund dort galt, manchen guten Schluck dort mit den
Gottesmännern that und manches schöne Stück von alter Arbeit für seine Sammlungr nach Hause truor.
Erst die letzten Jahre haben auch darin Aenderung gebracht. Der alte Schlag von wackeren Geist¬
lichen, welche die Welt und einen Spass verstanden, hat anderen Typen vielfach weichen müssen, und
das zelotische Kaplänchen, das in der Ordnung der Dinge gleich nach dem lieben Herrgott zu kommen
vermeint und die leiseste Berührung seiner Person für ein Sakrileg hält, ist eine häufige Erscheinung
geworden. Aber keine für Meister Eduards Pinsel.
Darum kommt jetzt der Künstler selten mehr über Klosterschwellen und er kann es auch ver¬
schmerzen. Selbst wenn er ein sehr grosses Bedürfnis nach dem Verkehr mit den Gesalbten des
Herrn empfindet, hat er nichts zu entbehren, denn mancher treffliche Pfarrherr oder Prediger kommt
46
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
in sein Haus und trinkt mit ihm an gastlichen Abenden. Früher aber ging Griitzner, wie gesagt,
in bayerischen und tyroler Klöstern als stets gerngesehener Gast aus und ein und er hat eine Fülle
von Material für seine Bilder daraus aufgesammelt. Pforten, die Allen verschlossen waren, thaten
sich ihm auf und eine seiner merkwürdigsten Erinnerungen mag es sein, dass er es einmal durch¬
setzte, in einem durch strenge Clausur bekannten tyroler Frauenkloster mit der Frau Oberin Kaffee
zu trinken ; freilich nahm sein Töchterlein mit an der Invasion theil. Den Maler allein hätten sie
doch nicht eingelassen.
In die Männerklöster kam man schon leichter und da war der Bruder Braumeister ein ebenso
angenehmer als zweckdienlicher Vermittler. Durch seine Stellung kommt ein solcher ja ohnehin mehr
mit den Weltkindern in Berührung und im Kloster spielt er eine Hauptrolle, wenn er auch kein hoher
geistlicher Würdenträger ist. Sie hatten einmal einem ruhmvoll bekannten Braumeister eines baye¬
rischen Klosters wegen irgend eines Excesses in Baccho eine Strafe diktirt. Kamen aber schön an
bei ihm! Er erklärte, falls ihm nicht schleunigst Indemnität zu theil würde, werde er dem Kloster
den Rücken kehren; er wisse Leute in München, die sich die Finger ableckten nach einem solchen
Mann. Um Gottes Willen, riefen sie, nur das nicht ! Und von einer Strafe war nicht mehr die Rede.
Wenn sich’s um einen so feinen Haustrunk handelt, schweigt auch die strengste klösterliche Zucht.
Mit Frater Jakobus, dem Braumeister des Benediktinerklosters auf dem ebenso bierberühmten
als heiligen Berg Andechs am Ammersee, verband Grützner wirkliche Freundschaft und sie standen
auf Du und Du. Da mag dieser manchen tieferen Blick in’s Klosterleben gethan haben. Wenn der
Maler das fast «historisch» zu nennende Bräustübchen betrat, so holte Jakobus nicht selten statt der
«frischen Mass», die man ohnehin an dieser geweihten Stätte bekam, — den Obolus dafür legten
die Gäste stillschweigend unter’s «Bierfilzl» — eine allerfrischeste Mass vom Mutterfass. Das ist
eine Ehre, die einem nicht so leicht zu theil wird in einer Brauerei. Nur ein Versprechen nahm
der fromme Mann seinem weltlichen Freunde ab: dass dieser ihn nie auf einem Bilde verewigen
solle. Grützner hat den Schwur gehalten und es mag ihm hart angekommen sein : einen echteren
und liebenswürdigeren Charakterkopf für eine feuchtfrohe Klosterscene hat er nicht leicht wieder
finden können.
Auch mit anderen Klosterbrauherren stand er auf gutem Fusse. Zum Beispiel damals, als der
Vatikan den Franziskanern noch nicht mit schnödem Verbot das Bierbrauen abgewöhnt hatte, mit
dem Bruder Benedikt des Münchener Franziskanerklosters. Der Trank, den Benediktus braute, erfreute
sich des vornehmsten Rufes in den bierkundigen Kreisen Münchens und eine kleine Schaar von aus¬
erwählten Bewohnern dieser Stadt durfte ziemlich regelmässig dort aus- und eingehen, Offiziere und
Gelehrte, Künstler und Beamte und Bürger aller Klassen des Census. Wenn aber das Aveläuten
anhub, dann mussten sich die, welche dort Labe fanden, auch zu einem Gebet entschliessen. Dass
unser Künstler seine Andacht nur mit Händefalten markirte und nicht laut mitthat in dem sonoren
Chor der Beter und Zecher, hat ihm der Frater Benedikt nie recht verzeihen können. «Das Ave¬
läuten im Klosterbräustübchen » hat Grützner übrigens den Stoff zu einem seiner besten Bilder
gegeben (gemalt 1875).
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
47
Nicht nur für künstlerische Vorwürfe zu den mannigfaltigsten Bildern wurden die Klöster für
Grützner übrigens eine Fundgrube, auch noch, wie erwähnt, für was Anderes: für seine Alterthümer-
sammlung. Gleich nachdem er seine ersten Bilder gut verkauft hatte, fing der junge Maler zu sammeln an —
und heute pflegt er noch immer zu erwerben, was er an schönen Stücken bekommen kann. Sein
Haus, das hoch überm Isarufer zwischen hohen Bäumen herausblickt, heimisch und abgeschlossen und
allem Wagengerassel und Werktagsgetriebe so entrückt ist, dass hier zu jeder Stunde das Rauschen
des grünen Bergstroms den Grossstadtlärm übertönt, dies Haus ist von oben bis unten ein Museum.
Aber keines von denen,
die vollgestopft mit kun¬
terbuntem Zeug kaum
Raum lassen, dass sich
Eins dazwischen be¬
wege ; es ist behaglich
in allen Winkeln, jedes
der schön geschnitzten
und eingelegten Möbel¬
stücke dient noch zum
gleichen Gebrauch, wie
einst. Und darin ist
Grützner’s Haus, ganz
abgesehen von den Sel¬
tenheiten, die es na¬
mentlich in gothischen
Stücken enthält, — ein
Unikum. Von den Bet¬
ten und Schränken an
bis herunter zu den
kleinsten Gebrauchs¬
gegenständen , zum
Salzfass und zu den
Leuchtern, ist Alles alt. Aber nichts wurmstichig, verbuckelt und verbeult etwa, Alles gut und
kräftig und noch solid genug, ein paar weitere Jahrhunderte zu dienen.
Viele von diesen schönen Dingen stammen aus Klöstern. Sie sind nicht etwa von ihres Werthes
unkundigen Leuten verschleudert worden, sondern vollwerthig bezahlt — meist auf dem Weo-e des
Tauschhandels. Das Glück des Sammlers bestand nur darin, dass er hier Sachen fand, die sonst
überhaupt nicht mehr zu bekommen sind. Er gab den Mönchen dafür Gebrauchsdinge, deren sie
bedurften, Wäsche oder gottesdienstliches Geräth u. s. w. Ein eigenes Glück, das scheinbar Unmög¬
liche zu erreichen und die richtige Sammlerzähigkeit besitzt Grützner freilich auch. Einem Andern
Aus Eduard Grützner s Skizzenbuch
48
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wäre es wohl nicht gelungen, aus einer alten Kirche in — in Dingsda — ein paar prächtige alte
Glasmalereien, Wappen eines berühmten deutschen Geschlechts zu erwerben. Ihm gelang es doch; im
Jubel über seinen Fang und aus Angst, die schönen Stücke fremden Händen anzuvertrauen, hat er
sie, so schwer sie waren, höchsteigenhändig ein paar Stunden weit nach Hause getragen. Jetzt blinkt
und funkelt im behaglichsten Winkel seines Münchener Heims die Sonne durch die bunten Gläser.
Die Grützner’sche Sammlung ist umfangreich genug, dass sie auch die prächtige Villa von oben bis
Ed. Griitzner, Interieur
unten füllt, die sich der Meister in Tirol erbaut hat. Wer seine Gastfreundschaft da geniesst, kann
in den Fremdenzimmern seine Sachen in prächtige Rococokommoden stecken oder in stattliche Renaissance¬
schränke hängen, kann eine feinfarbige alte Seidendecke von seinem Bett ziehen oder den Blick an
altem Ziergeräth ergötzen, das an Wänden und auf Tischen prangt. Nicht blos altes Geräth allein,
auch manches gute alte und neue Bild ist des Künstlers Eigen und er hat auch da sein Geschick im
Erreichen des Unmöglichen gezeigt, z. B. von seiner letzten Reise nach Italien aus einer bekannten
Galerie einen wundervollen Madonnenkopf von Salvi nach Hause gebracht. Von Neueren hat er
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
49
u. A. süperbe Spitzweg’s und er hat den tiefinnigen, aber etwas weltfremden Meister nicht übel über’s
Ohr gehauen, als er die Bilder von ihm kaufte. Nämlich : damit der übermässig bescheidene Spitzweg
ihm nicht einen gar zu kleinen Preis für die Bilder mache, hat er ihm vorgemacht, sie gehörten für
irgend einen reichen Engländer oder sonst Einem, dem das Bezahlen nicht weh thäte. Spitzweg ist
nicht wenig erschrocken, als er die seiner Ansicht nach viel zu hoch bezahlten Bilder in der Stube
des Freundes hängen sah.
An den Erwerb gar manchen Stückes der Grützner’schen Sammlung knüpft sich so eine
Erinnerung, die den Meister lächeln machen mag, wenn er das Kunstwerk oder Geräth ansieht.
Hier ist ein prächtiges gothisches Dreiflügelbild, gemalt und geschnitzt, das er einst missachtet auf
dem Dachboden eines Klosters gefunden ■ dort gegenüber steht altes eichenes Chorgestühl von der
schlichten, kernigen Gothik, wie sie die Münchener Liebfrauenkirche aufweist — und richtig : die
Stühle stammen auch daher. Fromme und verständige Hände haben diese schmucklosen Geräthe aus
dem Dom entfernt und heute funkelt und gleisst dort aus allen Ecken der bunt und «geschmackvolle»
Prunk, den die Anstalten für kirchliche Kunst liefern. Heute stehen die alten Chorstühle im «Kirchen¬
zimmer » des Grütznerhauses, neben etlichen Prachtstücken von Möbeln mit gothischem Masswerk in
Flachschnitzerei ; z. B. ist da ein wunderschöner Katheder mit Baldachin, Arbeit aus bester Zeit und
eine hohe gothische Schiebladenkommode, gefüllt mit köstlichen alten Stoffen — Stücke, die wohl
Unika heissen dürfen.
Ed. Grützner. Studie
50
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Ein anderer Raum neben dem «Atelier» ist als Bibliothek eingerichtet — des Doktor Faustus
Zelle mag nicht viel anders ausgesehen haben. Von allen Wänden, aus allen Winkeln grüssen alte
und eigenartige Dinge in diesem Hause, jeder Blick trifft auf etwas Schönes und das charakterisirt
so recht des Künstlers innerstes Wesen. Sein Heim wie sein ganzes Leben hat er sich so einzurichten
verstanden, dass ihm das widerwärtig Alltägliche, das Banale und Nüchterne so weit wie möglich
entrückt ist. Mit solchen Absichten muss einer entweder ein Einsiedler werden oder ein Lebens¬
künstler von allerfeinster Art. Und ich meine, den Letzteren haben wir in Grützner neben dem
Maler noch ganz besonders zu bewundern ; dies ist das Element, das ihn jung erhält, auch in seiner
Kunst. Beatus ille, der's fertig kriegt, sein Haus so zu bestellen, dass er mit seiner Thür das ganze
dumpfe und öde Geräusch des Werktags, all den Wirrwarr, den die Jagd nach dem Erwerb mit sich
bringt, von sich abschliessen kann, der so weit vom Ufer gebaut hat, dass die trüben Wogen weit-
städtischen Lebens nicht an seine Schwelle spülen und der doch geniesst, was es an Schönem in
Heiterkeit zu gemessen gibt. Das ist unserem Meister gelungen. Ihm ist all’ das Garstige fremd
geblieben, das der wilde Concurrenzkampf im heutigen Künstlerleben sonst zu Tage fördert. Dieses
Geschrei von Cliquen, dieses Intriguiren und Miniren, das die fröhliche Kunst, die ein Paradies des
Wohlwollens sein sollte, zum Tummelplatz der wüstesten Leidenschaften macht. Was ficht’s ihn an?
Die Zeit, die sie zu ihren Intriguen verbrauchen, verwendet er zum Schaffen und während die Anderen
in hitzigen Debatten und Sitzungen sich die Köpfe erwärmen, erörtert er vielleicht in seinem kühlen
Kneipstübchen mit etlichen guten Freunden, ob der weisse Terlaner in seinem Keller oder der rothe
Kälterer Seewein eines braven Mannes Vertrauen mehr verdiene. Und diese Ruhe, die er um sich
schuf, hat ihm die Möglichkeit gegeben, seine Arbeit zu treiben, dass sie ihm nie zur Last werden
kann. Er schafft viel, aber in kurzen Stunden und es bleibt ihm Zeit genug, zu leben. Während
der regelmässig eingehaltenen Arbeitsstunden gelangt kein Störer in Grützner’s Atelier. Und im
Uebrigen ist sein Haus das gastlichste, das es gibt.
Selbst das, was jedem Künstler zu Zeiten die ITarmonie seines Lebens ein wenig stört, berührt
Grützner weniger als irgend einen Andern : der Erwerb. Die Kunsthändler bewerben sich um seine
Bilder schon, wenn sie kaum untermalt sind. Die einzige Unannehmlichkeit, welche die Käufer ihm
bringen, ist die, dass sie mehr von ihm haben wollen, als er malen kann. Oder malen mag. Denn
über die gewohnten Arbeitsstunden, die ihm das Schaffen als Freude und nicht als Zwang empfinden
lassen, geht der Künstler nicht hinaus um schnöden Mammons Willen. Raubbau treibt er nicht an
seiner Kunst Auch seine behagliche Sommerruhe mag er sich nicht verkürzen lassen. Nur hin und
wieder nimmt er dort den Pinsel in die Hand oder zeichnet mit flüchtigem Stift einige besonders
ö O
charakteristische Köpfe aus jener Landschaft ins Skizzenbuch.
Zu den bezeichnendsten Aeusserungen von Eduard Grützner’s Schönheitsbedürfniss und Lebens-
freudigkeit zugleich gehört auch die intime Fühlung, in der er seit jeher mit dem Theater und seinen
Künstlern steht und seine tiefgehende Kenntniss grosser Werke dramatischer Dichter. Eine Reihe
von den bedeutendsten Werken des Künstlers dankt diesen Neigungen ihr Entstehen : so hat er aus
o o
Goethe's «P'aust» die Scene in Auerbach’s Keller gemalt und den Meister Mephistopheles allein in
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
51
verschiedenen Variationen; in diesen Kreis gehört auch die Darstellung einer Scene hinter den Coulissen,
wo Mephisto mit einer Tänzerin schäkert. Im letzten Jahre entstand die Schülerscene im «Faust»,
welche der Leser auch in diesem Hefte abgebildet findet — die Herren Theatermaler mögen sich
diese malerische Studirstube einmal ansehen. Der zahlreichen Falstaffbilder, von denen ebenfalls
eines hier zu finden ist, haben wir schon Erwähnung gethan. Der feiste Sir John ist eine Lieblings¬
figur Grützner’s geworden. Um die Mitte der siebziger Jahre entstanden die berühmten grossen
Falstaff- Cartons, die sich im Besitze des Museums zu Breslau befinden — sieben Stück. Auch
eine grosse englische Prachtausgabe von Shakespeare’s « Heinrich IV. » hat Grützner mit zahlreichen
Zeichnungen o-e-
o o
schmückt; in sei¬
nem Atelier hängt
ein schönes
Silberrelief mit
Shakespeare’s
Kopf — eine
Ehrengabe sei¬
ner Bewunderer
in England.
Dem Theater¬
leben im AlDe-
o
meinen ist eines
der prächtigsten
Bilder unseres
Meisters gewid¬
met, das sich
heute in der
Mannheimer
Gemäldesamm-
Eci. Gril/zjier. Interieur
luno- befindet:
o
«Schauspieler vor der Vorstellung». In wundervoller Charakteristik schildert er uns hier eine Truppe
reisender Comödianten, die sich für eine Vorstellung « Heinrich IV. » zurecht macht. Die Porträts von
Haase, Rüthling, Kindermann u. A. sind in dem Bilde zu finden, das so viel interessante Charakter¬
köpfe aufweist, als es Personen enthält. Auch das humorvolle «Bauerntheater» sei hier eingereiht.
Es schildert eine ähnliche Scene wie das vorige Bild, aber es sind derbe Söhne und Töchter der
bayerischen Berge, die’s hier «dilettirt, den Vorhang aufzuziehen».
Die Klosterbilder Grützner’s und die andern, die sich auf die weltliche Clerisei und Aehnliches
beziehen, sind so zahlreich, dass nicht einmal eine einigermassen vollständige Liste hier aufzuzählen
ist. Der « Klosterbrauerei » wurde schon Erwähnung gethan, ebenso des ersten Mönchsbildes von
52
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Eduard Grützner, das in verschiedenen Variationen gemalt wurde. Eine ganze Serie von Bildern
behandelt — nicht das wilde Zechen, sondern die milde Freude an Gottes Gabe. Von diesen «Wein¬
proben» sei namentlich derer Erwähnung gethan, die den Titel «Goldklar!» führt und zweimal gemalt
ist. «Bei Hochwürden zu Tisch» zeigt uns die behäbige Sonntagstafel eines Weltgeistlichen. «Nach
schwerer Sitzung» und «Angeheitert» schildert weinselige Weltkinder, die trunkfesteren Mönchen
o-eo-eniiber den Geistern des Weines schmählich unterlegen sind. Eine Anzahl von Bildern stellt
schlechthin zechende Mönche in allen Ivuttenfarben dar, ohne weitere Pointe; immer aber sind sie so
harmlos liebenswürdig erfasst, dass wohl nur ein sehr Unverständiger darüber beleidigt sein könnte.
Aus einer der hier nachgebildeten Studien Grützner’s mag der Leser der «Kunst unserer Zeit»
ersehen, wie pittoresk eine Klosterbibliothek in Wahrheit aussieht. Natürlich hat Jener denn auch
gar manche Szene in dieses malerische Milieu verlegt: «In der Klosterbibliothek», «Ein pikanter
Klassiker » u. s. w. Allerhand studirende Klosterherren in schönen anheimelnden Stuben kommen
dazu. Die foliantenüberladenen Tische, das alte Getäfer und Geräth hat Grützner immer mit ganz
besonderer Liebe ausgeführt, wie denn überhaupt das Malen von Stillleben, von Stoffen in grossem
und kleinem Format von ihm mit ganz besonderer Meisterschaft geübt wird. Zu den Klosterbildern
gehören noch: «Sepp’s Schnaderhüpfln » «Klosterschäfflerei», «Der Klosterhecht» und ein anderes
grosses Bild aus der Klosterküche, «Fasttag», oder ähnlich genannt, «Rasiertag im Kloster», «Kneip-
collegium», «Klosterkegelbahn» und «Keinen Tropfen mehr», zwei Bilder mit zahlreichen Porträts
bekannter Münchener Persönlichkeiten, «Einst» und «Jetzt», zwei prächtige Pendants, von denen eins
einen kunstübenden Mönch früherer Zeit darstellt, das zweite aber einen anderen Klosterbruder, der
mit dem "I Lincherpinsel ein altes Freskobild zerstört. Es liegt ein gewisser grimmiger Humor in dem
zweiten Bilde, indem der Künstler seinem gerechten Zorn darüber Luft macht, dass oft gerade in
Klöstern die köstlichsten Werke alter Kunst durch rohen Unverstand zu Grunde gerichtet wurden.
«Zu Ehren seiner Eminenz» zeigt musicirende Mönche u. s. w. u. s. f. Die Darstellungen einzelner
Brüder, welche mit Wein oder Bier, mit Beten oder Lesen, mit stiller Beschaulichkeit oder irgend
einer Hantirung, z. B. P lickschneidern, beschäftigt sind, weiss Grützner wohl selbst nicht mehr zu
zählen. Feuchtfröhlich sind die Meisten, doch gleicht Keines ganz dem Andern ; selbst dann wieder¬
holt sich der Künstler nicht «wörtlich», wenn er im Aufträge eines Liebhabers ein Bild zum zweiten
Male zu malen hatte. So sind auch die zwei Varianten der «Versuchung des heiligen Antonius» in
allen Einzelheiten verschieden. Die Neuere (1895) davon ist hier abgebildet, die Andere, welche den
Asketen als Greis und nicht wie hier als jüngeren Mann zeigt, ist 1887 entstanden und ist im Besitze
des Grossherzogs von Sachsen-Altenburg. Der Künstler selbst sagt, dass ihm dieses Bildes Vollendung
die grösste innere Befriedigung in seinem ganzen Schaffen gewährte. Zur Zeit, da diese Zeilen in
die Presse gehen, steht auf Grützner’s Staffelei wieder ein grosses Mönchsbild, das ein Concert in
einem Bibliotheksaal darstellen wird.
Zu den «frommen» wenn auch nicht klösterlichen Bildern des Meisters gehört Eines, das zu-
gleich seinen allervollendetsten Werken beizählt: das Bild der heiligen Nothburga, für ein Bildstöckel
in Tirol gemalt. Grützner s Villa in Rothholz über dem Innufer bei Jenbach steht am Fusse des
pjl*
r
Hanfstaeugl, Mnucheu
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
53
tannenumrauschten Berges, der die Rottenburg trägt. Und in dieser Burg soll die Heilige als Magd
gehaust und sämmtliche Unbilden, welche die Dienstbarkeit unter einem richtigen Hausdrachen mit
sich bringt, mit Engelsgeduld ertragen haben. Die Burg, die heute dem Bischof von Brixen gehört,
hat Grützner gepachtet ; sie enthält noch einige primitive aber schattige Gemächer, in denen sich ein
frisches Glas rothen Tirolers nicht übel trinkt. Am Fusse des Burgberges nun hat der Maler vor
etlichen Jahren den Rothholzern ein Bildstöckel mit dem Bilde der in Tirol sehr populären Heiligen
errichtet, wie sich sobald nicht
wieder Eines finden wird, ein
Kunstwerk, das in seiner Intimität
und Lieblichkeit an Holbein ge¬
mahnt und zudem einen präch¬
tigen Volkstypus verkörpert. Die
Frauensleute, die mit allerhand
Anliegen zu der kleinen Kapelle
auf der Rottenburg wallfahrten,
knieen gerne zuvor im Gebet vor
dem anmuthigen Bilde der heiligen
Magd ; wenn das einmal ein wenig
die Patina des Alters hat, wer
weiss, ob es nicht noch Wunder
thut. Der Boden in Tirol ist
solchen geheimnissvollen Dingen
ja recht günstig und Nothburga
selbst hat Wunder genug ge-
than So warf sie, als das Ave-
läuten sie bei der Arbeit über¬
raschte, die Sichel in die Luft
und die blieb da hangen, und
auch das Rosenwunder der hei¬
ligen Elisabeth soll sie mit ge¬
ringer Variation copirt haben. Ed ■ Grützner. Studie
Wird im Vorigen von einer Verwandtschaft mit Holbein gesprochen, so sei erwähnt, dass noch
ein paar kleine Arbeiten des Künstlers, für den im Uebrigen die alten Meister zum Anschauen und
nicht zum Nachmachen da sind, auf solchen Ehrentitel Anspruch haben, wie die Bildnisse seiner Gattin
und seiner Tochter, sprechend ähnlich und wunderbar beseelt.
So wenig als die Klosterbilder lassen sich die ausschliesslich «weltlichen» Werke unseres
Meisters mit nur annähernder Vollständigkeit hier aufzählen. Da ist der humorvolle « Sonntagsjäger »,
«Einfädeln», «Auf derPürsch», « Schwere Wahl », «Wilderer» und zahlreiche andere Weidmannsbilder,
54
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
da sind die köstlichen Typen der «Drei Münchener», «Sepps Schnadahüpfln», das dreitheilige «Bier,
Wein, Schnaps» (den Wein repräsentiren allerdings wieder zechende Klosterherren), da ist die, wie
erwähnt, mit vollendeter Realistik gemalte «Branntweinschenke» mit den erschreckend wahren Typen
verkommener Alkoholiker, da sind verschiedentliche vergnügte Landsknechte u. s. w. u. s. w. Gar
oft hat der Künstler auch Laienvolk und Cleriker durcheinander gemengt, wie in seinem « Falstaff
im Kloster», «In der Klemme» etc.
Verhältnissmässig selten ist auf Grützner’s Bildern das Weib zu finden. Das mag ja zunächst
an seinen Stoffen liegen; sicher ist die Ursache aber auch darin zu suchen, dass er nichts Anderes
als lebendige Menschen malen mag, keine eonventionellen Typen, wie sie ungezählte Genremaler,
wenn sie vom Kapitel «Weib» erzählen, uns in zuckersüsser « Allerliebstheit» vorführen. Solche
Dämchen passen nicht zu Grützner’s Art und die Art, die er gerne malen mag, passt vielfach nicht
zu seinen Bildern. Wer aber zweifelt, ob Griitzner Frauen malen kann, betrachte einmaiseine «Ver¬
suchung», seine Darstellung des Dortchen und anderer Shakespearegestalten, die kernfrische, gesunde
Charakteristik seiner Bauernmädchen, Kellnerinnen u. s. f. Auch ein grösseres Bild aus einem Frauen¬
kloster, Nonnen, die einen Altar für den Festtag schmücken, haben wir von Grützner’s Fland zu sehen
bekommen, aber es hatte nicht das volle, kräftige Leben seiner Mönchsbilder. Und ganz natürlich:
es ist ein Ding der Unmöglichkeit, eine grössere Anzahl von Frauentypen im Nonnenkleid, das ja
allen individuellen Charakter unterdrückt, in so scharfer Charakteristik auseinander zu halten, wie eine
gleiche Zahl unterschiedlicher Männerfiguren, Man müsste die Charakteristik bis an die Grenze der
Caricatur treiben, die man beim Zeichnen männlicher Köpfe auch ruhig einmal streifen mag. Die
Frau verträgt dergleichen nicht. Ihr Reiz ist Heiterkeit, nicht derber Humor, sie ist schön, wenn sie
lächelt, nicht wenn sie lacht.
Grützner’s Modelle? Auch von denen Hesse sich mancherlei erzählen. Seine Bekannten hat er,
soweit sie irgend malerisch verwerthbar waren, vielfach in Bildern verewigt, waren es nun Künstler
oder Generäle, Schauspieler, Sänger, Architekten, Kaufleute, oder sonst was. Neben den Berufs¬
modellen holte er sich manchen drolligen Typus frisch weg von der Strasse, von der Schenke und
so manche Urmünchener-Figur hat ihn mit grossem Stolze wiederholt gesessen, ob er gleich nicht im
Rufe steht, zu «schmeicheln». Seine Jägerfiguren, Leute mit sonnenbraunen Gesichtern, mit Falken¬
augen und schnittigen, markanten Zügen, nimmt er sich in Rothholz direkt aus dem Wald und an
Regentagen, wo draussen nicht gut sein ist, sitzt dann der halbwilde Holzknecht oder Waldhüter in
des Malers kleinem Sommeratelier und wundert sich, was dieser wohl Schönes an ihm, dem alten
verwetterten Loder finden ma£.
Sonst malt Eduard Grützner, wie gesagt, den Sommer über wenig. Lieber geniesst er in
behaglicher, freilich nur äusserlicher Müssigkeit die erquickende Stille der Landschaft und saugt die
wundervollen Schönheiten der Landnatur in sich auf. Sein Park, in dem jeder Strauch und Baum
zu sehen ist, der in der Heimath gedeiht, gibt ihm leichte und schwere Arbeit in Fülle. Jeden Stamm,
der dort steht, bis auf ein paar riesige alte Fichten, hat er selbst gepflanzt. Jeder wuchernden Hecke
schreibt seine Hand die richtige P'orm vor. Aus einer wüsten Grashalde hat er so ein Landschafts-
Ed. Grützner. Studie Ed. Grützner. Studie
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
5G
paradies geschaffen, in dem man auf jeden Schritt neuen, abwechslungsreichen Bildern, neuen An¬
nehmlichkeiten und Reizen begegnet. Das geräumige Haus umgibt zu allen Jahreszeiten der üppigste
Blumenflor. Gaisblatt und Kletterrosen, Glycinien und Wein ranken sich bis zum Dach hinauf in
unerschöpflicher Fülle und der Garten um’s Haus strahlt in den buntesten Farben in der Rosenzeit,
wie im Herbst, wo die Sonnenblumen und wuchernden Astern sein Gewand in der herrlichsten Pracht
erscheinen lassen. Dieses Tiroler Heim ist auch ein Kunstwerk Eduard Grützner’s, keins seiner
schlechtesten noch dazu und überdies Eines, aus dem der Mensch Griitzner am Allerdeutlichsten spricht.
Dass seine grossen Erfolge übrigens Andere oft nicht schlafen lassen, kann man sich denken.
Nicht viele Maler wurden je so systematisch nachgemacht, wie er, mit allem möglichen Raffinement
wurden ihm seine Modelle wegstibitzt, seine Klosterszenen nachgemalt — aber schlecht genug. Es
wäre für den, der den Künstler nicht ganz sollte würdigen können, recht lehrreich, eine solche matte
Copie neben dem Original zu sehen, wie da die Feinheit der Ausführung zur charakterlosen Glätte
wird, das Lachen zum Grinsen, der Humor zur Fratze. Drüben im Lande der Dollars treiben sich
genug von Stümpern bemalte Brettchen herum, die auf dem Weg über das grosse Wasser ihre Namen
gewechselt haben und jetzt «Ed. Griitzner» heissen. Manche dieser Nachahmer waren unverfroren
genug, den Modellen, die sie dem Künstler weggeschnappt, auch noch aufzutragen, sie sollten sich
die echten Kutten und alten Gewänder verschaffen, in denen sie Grützner gemalt. Das ist doch
beinahe schon so, als ob ein Falschmünzer ins Münzamt schickte mit der Bitte, man möge ihm dort
seine Zinnplättchen zu Thaler prägen.
Dem Künstler haben die Concurrenten, die so gerne auf seinem Acker pflügten, weiter nicht
geschadet — weder an seinem Ruf, noch an seinem Humor, noch an seiner fast beispiellosen Popu¬
larität. Es ist damit, wie mit dem Wein: Was immer aut der Welt an gefälschtem Nass unter der
Marke Niersteiner oder Liebfrauenmilch getrunken werden mag — der echte Wein verliert darum
weder an Köstlichkeit, noch an Werth.
Was sollen wir hier noch von Eduard Grützner erzählen. Dass er auch in der Kunst, Mensch
zu sein, in jeder Form Meister ist, dass seine Tage im schönen Gleichmass hinfliessen in wohlthätigem
und gesundem Nebeneinander von Arbeit und Freude, ward schon gesagt. Dass er mit Stolz von
sich sagen kann, seit seinen ersten grossen Erfolgen habe er in seiner Kunst und seiner Beliebtheit,
als deren Gradmesser der Kunsthandel gelten mag, keine Einbusse erlitten, ist ebenfalls schon fest-
gestellt. Dass die spielende Leichtigkeit des Schaffens bei ihm nicht abgenommen hat, dass er trotz
reicher Production, trotz dem Zwange, sich stofflich in gewisser Einschränkung zu halten, nicht flacher,
nicht gleichgültiger, nicht liebloser in seiner Kunst geworden ist, dass er sich, obwohl die Nachfrage
nach seinen Bildern selbst sein reiches Schaffensvermögen weit übersteigt, sich nie zum pietätlosen
Ausbeuter verleiten lässt, sei noch einmal betont. Elf Andere unter Zwölfen im gleichen Fall Hessen
sich wohl das Gegentheil nachsagen und hätten sich dann auch längst ausgegeben. Er aber schafft
fröhlich weiter, unbeirrt und mit alter Frische, immer er selbst.
PETER JANSSEN
Es liegt aut' der Hand, dass die grossartigen Umwälzungen in der deutschen Kunst während des
letzten halben Jahrhunderts ein verkleinertes Spiegelbild in jeder der deutschen Kunststätten gefunden
haben, ein Spiegelbild, das je nach der Bedeutung des Ortes, mehr oder weniger getreu jene Strömungen und
den unleugbaren Aufschwung der deutschen Kunst, insbesondere der Malerei, wiedergiebt. Es ist
ebenso begreiflich, dass im Laufe eines Zeitraums, der kaum ein Menschenalter umspannt, zahlreiche
schaffende Männer von den fiuthenden, vorwärtsdrängenden Wogen überholt worden sind und sich
heute einer Zeit gegenüber sehen, die sie nicht verstehen,
und die sich ihrer nur mühsam noch erinnert. Wenn in den
secessionistischen Bewegungen der letzten sechs Jahre eine
Generation über eine andere, nicht viel ältere, zu triumphiren
scheint, so ist es vollkommen richtig, wenn letztere sich
damit tröstet, dass sie es in ihrer Jugend ebenso gemacht
habe. Ein Menschenalter in der Kunst ist in diesen Tagen
eben kein Menschenalter mehr lang, und nicht der alte Künstler
ist es, der von der vorwärtsdrängenden Jugend überholt wird,
sondern nur zu oft der im besten Schaffensalter Stehende, der
kaum von seinem letzten Siege sich ausgeruht hatte.
Aber es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den
Himmel wachsen, und es ist immer noch weit bis zu den
Sternen. Schneller als ehemals wendet sich das Rad der
Kunst, aber schneller auch kehrt es zum früheren Standpunkt
zurück und um in den Kreisen, die es zieht, die aufwärts¬
führende Spirale zu sehen, bedarf es keineswegs eines un¬
sterblichen, sondern nur eines aufmerksamen Auges.
Denn ist es ungerecht, in dem heissen Vorwärtsstreben, das sich allerorts, wo man Kunst pflegt,
bemerklich macht, nicht ein wirkliches Fortschreiten sehen zu wollen, so ist es freilich thöricht, in
jeder Ausgeburt der erhitzten Phantasie jedesmal das nunmehr endlich glücklich erreichte, einzig Wahre zu
erblicken, um es gleich darauf fallen zu lassen und in schnellerem Vergessen und Missachten des eben
Gewonnenen nach immer anderen Früchten zu greifen, und die letzten für die besten zu halten. Sicher¬
lich ist in den letzten 50 Jahren die deutsche Kunst schneller vorwärts gegangen, als je zuvor und
Peter Janssen
geboren am 12. Dezember 1844
58
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
die Kunststadt am Rhein spielt in diesem Fortschreiten ihre eigene und nicht unwichtige Rolle. Von
Cornelius zu Rethel scheint es wie ein Jahrhundert. Hier stehen zwei Weltanschauungen einander
o-eoenüber. Von Schadow zu Bendemann war es der normale Aufstieg des akademischen Malerthums,
aber Bendemann, der bis in die neue Zeit des überschnellen Fortschritts hineinlebte, hatte es schon
nicht mehr vermocht, sich dem Verständniss des Neuen und Neuesten zu erhalten : zu viel war in den
Jahren seines Schaffens entstanden, ergriffen und wieder fallen gelassen worden. Nur wenigen Künstlern
in ganz Deutschland, die an der Wende des halben Jahrhunderts geboren sind, ist es überhaupt be-
schieden, sich am Ende dieses Jahrhunderts noch auf der Höhe zu zeigen. Einigen gelang es nur
desshalb, weil sie in der Jugend ihrer Zeit voraneilten und bis zum Mannesalter das karge Brod der
Verkannten, und das ist nicht besser als der Verbannten, essen mussten. So Böcklin, Hans Thoma
und der vornehmste, dessen Zeit noch immer nicht gekommen scheint, obwohl er der älteste ist,
Feuerbach. Ganz Wenige aber sind es, die in der Jugend sich an die Spitze stellten und noch heute
bei dem eiligen Sturm die Führung nicht aus der festen Hand gegeben haben, und dieser Wenigen
Einer ist der Maler, dessen Werk die nachfolgenden Blätter gewidmet sind, Peter Janssen.
Freilich ein mehr äusserer Umstand darf nicht übersehen werden, der das Verdienst einer so
langen und unbestrittenen Führerschaft — nicht schmälert, aber sie in etwas auch aus sachlichen Gründen
erklärt. Peter Janssens Feld ist die Monumentalmalerei, die Mauermalerei, wie die Belgier sagen,
und dieser Zweig der Kunst ist aus natürlichen Gründen den Tagesströmungen nicht so unterworfen,
wie die Staffeleimalerei: andererseits ist er aber auch wie kein anderer geeignet, den Fortschritt oder
Rückschritt in der Kunst eines Volkes oder eines Meisters in grossen und unverkennbaren Zügen
zu zeigen. Schon die Länge der Zeit, die eine monumentale Arbeit in Anspruch nimmt, die zwingende
Nothwendigkeit zu Vorarbeiten, welche die Staffeleimalerei gelegentlich entbehren oder sogar für
schädlich halten zu können glaubt, nöthigen den Monumentalmaler zu einer Selbstzucht, die den Stürmern
und Drängern zu ihrem eigenen Schaden nur zu oft abgeht.
Ist so die monumentale Kunst gewissermassen das Rückgrat der Malerei, so wäre es nur zu
wünschen, dass, wie es in der goldenen Zeit der italienischen Renaissance der Fall war, allen unsern
Figurmalern hier und da Gelegenheit geboten wäre, auf grossen Flächen in architektonisch gegebenen
Rahmen Entwürfe auszuführen, und nicht in der grössten Mehrzahl ausschliesslich auf das Staffeleibild
beschränkt zu bleiben. —
Peter Janssen wurde am 12. Dezember 1844 in Düsseldorf geboren, als erster Sohn des Kupfer¬
stechers T. W. Theodor Janssen, der zum Studium der Malerei aus seiner Heimath Ostfriesland hierher
gezogen war, aber durch die Umstände sich veranlasst gesehen hatte, statt der Malerei, die, damals
noch in der Blüthe der Linienmanier stehende Kupferstecherkunst zu pflegen. Wie sehr aber das
malerische Element in dem Vater schon vorwog, das bewiesen die Stiche, die er ausführte, die in jener
trockenen Zeit schon eine farbige Wirkung erreichten, welche seine Blätter auch heute, in den Tagen
der wieder erwachenden Malerradirung, noch auszeichnen. Die Wiedergabe des berühmten «Examen
des Candidaten Hieronymus Jobs» nach dem Bilde seines Schwagers Hasenclever wird, und nicht bloss
als die hervorragendste Leistung der Kupferstecherei zu jener Zeit, für immer ihren Werth behalten.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
59
Peter Janssen. Hermannsschlacht (Fragment), Crefeld
So war der Vater denn wie kein anderer und wahrscheinlich mit grösserem Erfolg, als die späteren
Lehrer, der erste und berufenste Leiter des Knaben, der schon ausserordentlich früh ein hervor¬
ragendes Talent zeigte. Friedrich Pecht erzählt von einem Blatte, das der Dreijährige entworfen hat,
und das in seiner Eigenart allerdings merkwürdig genug die Richtung andeutet, welche das Schaffen
des reifen Künstlers genommen hat. Es war ein Bild des sterbenden Grossvaters, der dem am Bette
stehenden Arzte die Zunge zeigt. Aber hinter Beiden steht der Engel, der die Seele des Gestorbenen
in den Himmel leiten soll. Also schon damals jene naive, fast herbe Naturbeobachtung, verbunden mit der
aus innerster Seele geschöpften, versöhnenden, echt künstlerischen und geistigen Lösung des Geschauten.
Der selbst hochgebildete Vater hielt den Knaben bis zum 15. Jahre in der Schule zurück,
freilich nicht, ohne ihn in den Nebenstunden durch künstlerischen Unterricht für den künftigen Beruf
vorzubereiten, und so legte der junge Maler in der Jugend schon den Grund zu einer umfassenden
Bildung, die ihm so in Fleisch und Blut überging und nicht erst, wie von manchem andern Künstler
in späteren Jahren mühsam erworben werden musste, nachdem ihr Mangel sich in den ersten Werken
unangenehm fühlbar gemacht hätte. Zu dieser Bildung gehörte vor Allem auch die Kenntniss der
grossen Dichter, die freilich nie in den Schöpfungen des Malers als Hauptmotiv sich bemerkbar macht,
8*
60
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wie es zur Zeit der Romantik gerade in Düsseldorf nur zu sehr der Fall war, und dadurch die Ge¬
schichtsmalerei eeleo-entlich hat zur Buchillustration werden lassen.
Peter Janssens akademische Lehrzeit begann, als der alt und kränklich gewordene Schadow noch
an der Akademie sein despotisches Regiment führte, und die Kunst nach seinen Doctrinen zu züchten
suchte. Carl Müller, der erste Lehrer Janssens, obwohl weicher und, wie die Folge gelehrt hat,
elastischer und gesünder als Schadow, vermochte dennoch der urkräftigen Natur des Jünglings nicht
das zu bieten, wonach sie verlangte, jund auch Bendemann, der wenige Jahre später 1863 nach
Schaclows Tode die Direction der Akademie und die Meisterklasse übernahm, in welch’ letztere Peter
Janssen übertrat, konnte nur einen verhältnissmässig geringen Einfluss auf den begabten Schüler ausüben.
War doch Bendemann, der die Akademie aus dem Stillstand, um nicht zu sagen der Versumpfung,
in die sie unter Schadow gerathen war, zu neuem Leben erwecken sollte, seinem Vorgänger, seiner Natur
und seinem Ursprung nach zu ähnlich, um mehr als äussere Erfolge bei seinen Schülern zu erreichen.
Schadow sowohl, wie Bendemann mussten als geborene Berliner dem niederrheinischen, süd¬
licheren Wesen innerlich stets fremd bleiben. Jene ästhetisch-kommerzielle Richtung, die aus Veran¬
lagung, wie aus dem Berliner Ursprung hervorging, hat bei beiden nicht verfehlt, den äusseren Glanz
der akademischen Schule in Düsseldorf zu heben, für wahrhaft künstlerische Erhebuno- und Förderung
erwies sie sich gelegentlich als nur zu wenig günstig. Dazu kam, dass auch Carl Sohn, der Janssens
Lehrer in der Malklasse war, Berliner war und so der junge Mann bei keinem seiner Lehrer jenes
geheimnissvolle Verständniss finden konnte, das auf Rasseverwandtschaft und Landsmannschaft beruht.
So kam es, dass Janssen, der auch nach aussen hin schon früh sich aul eigene Füsse zu stellen
genöthigt war, sich die Lehrer, die Vorbilder ausserhalb der Schule selber suchte, und er war da in
der glücklichen Lage, sie in zwei grossen Geistern zu finden, die der Heimath entsprossen waren, von
denen einer gerade damals seine grössten Werke in nächster Nachbarschaft zu schaffen begonnen hatte.
Diese beiden Vorbilder waren Peter v. Cornelius und Alfred Rethel und wunderbar passten
beide zu dem schon so früh sich offenbarenden Doppelwesen in der Künstlernatur Janssens.
Mussten die tiefsinnigen Cartons von Cornelius die Phantasie mächtig anregen, so waren es
doch vor Allem die Arbeiten Rethels, besonders dessen eben vollendeten Fresken im Rathhaus zu
Aachen, welche in ihrer Mischung von gewaltigster, schöpferischer Composition und einem, zu jener
Zeit noch unerhörten Realismus der Naturbeobachtung, einen unverwischlichen Eindruck auf den Heran-
reifenden machten. Ein Eindruck, der sich in den ersten Arbeiten Janssens, die bald folgten, sowie
in dem Verhältniss zu seinen akademischen Studien bald genug aussprechen sollte.
Das erste grosse Bild, das Janssen unter Bendemann ausführte, war eine Verleugnung Petri,
das im Carton 1865 fertig und in Düsseldorf ausgestellt wurde. Die Vollendung des Bildes zog sich
aber bei den Widersprüchen, die zwischen der Natur janssens und der seiner Lehrer immer mehr zu läge
traten, bis zum Jahre 1869 hin, wo das Gemälde auf der internationalen Kunstausstellung zu München
ausgestellt wurde, zwar kein Aufsehen erregte, aber gebührende Anerkennung fand.
Die erwähnten Verschiedenheiten des Naturells bei Janssen und Bendemann hatten ersteren
indessen nicht gehindert, bei dem allezeit hochverehrten Lehrer alles das zu lernen, was Bendemann
Peter Jansseu pinx.
Pliot. F. Hanfstaengl, München
Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Peter Janssen. Thusnelda im Triumphzug des Germanikus, Crefeld
62
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
in reichem Maasse zu lehren im Stande war, vor allem jene Gewissenhaftigkeit sowohl der Natur, als
auch der aufgenommenen künstlerischen Arbeiten gegenüber, jene Gewissenhaftigkeit, die nicht nach¬
lässt, bis alles Erreichbare erreicht, alles Thunliche gethan ist. Man wird nicht fehl gehen, wenn
man diese Eigenschaften, die auch Janssens Lehrthätigkeit später in so hohem Maasse unterstützen und
auszeichnen sollten, auf das Vorbild Bendemanns zurückführt, während den eigentlich künstlerischen
Einfluss Janssen bei der ersten grossen Monumentalarbeit, zu der er den Auftrag sich errang, wie gesagt,
ohne Zweifel bei dem stamm- und we^ensverwandten Rethel fand.
Es handelte sich um die Ausmalung des Crefelder Rathhaussaales, für die eine Conkurrenz
ausgeschrieben war. Obwohl der junge Künstler den vorgeschriebenen Stoff, «Geschichte der Stadt
Crefeld», bei Seite liess und, wohl unter dem Einfluss der, schon damals mächtig sich regenden,
deutschen Einheitsgedanken eine Geschichte Armins des Cheruskers in mächtigen Zügen entwarf, ge¬
lang es eben durch diesen, mit sicherem Blick über die Köpfe der anderen Concurrenten hinweg
ergriffenen Gegenstand, die ganze Concurrenz umzustossen und die Ausschreibung einer neuen zu ver-
anlassen, in welcher der Stoff den Wettstreitenden überlassen werden sollte.
Janssen in froher Siegesgewissheit beschloss, der neuen Concurrenz den Carton eines
der Hauptgemälde, der Hermannsschlacht, beizufügen und, um ungestört daran arbeiten zu können,
seinen künstlerischen Gesichtskreis zu erweitern, begab er sich 1869 nach München, das unter den
Erfolgen der erblühenden Pilotyschule eben begann, sich zu der ersten Kunststadt des damals noch
zersplitterten Vaterlandes zu entwickeln.
Wie sehr aber Janssen bereits auf eigenen Füssen stand, beweist der Umstand, dass er in der
Fülle der Anregungen , die von allen Seiten auf ihn einstürmten, nicht das sich vorgesteckte , im
Innersten klar erkannte Ziel aus den Augen verlor, dass er sich von der ganzen Theaterhaftigkeit
der damaligen Münchener Historienmalerei nicht blenden und von der herben Natürlichkeit und ur¬
wüchsigen Kraft, die er mit Rethel gemeinsam hat, nicht zu dem innerlich hohlen Pomp verleiten liess,
der als Vermächtniss der belgischen Repräsentationsmalerei nach München verpflanzt worden war.
Gerade diesen beiden Richtungen dürfte sich kaum ein Werk als grundverschiedener entgegenstellen
lassen, als eben die Crefelder Rathhausbilder, die, von 1871 — 73 entstanden, in 4 grossen und 4 kleinen
Gemälden, die Geschichte des ersten deutschen Befreiungskampfes mit einem Feuer und einer hin¬
reissenden Kraft schildern, wie sie der grandiosen Erhebung jener Tage würdig war.
Die beiden Bilder der Längswand sind, wenn auch durch eine Thüre getrennt, als ein Ganzes
aufzufassen, als die Entscheidungsschlacht mit Hermanns Sieg und der Legionen Untergang, und nie hat
unwiderstehliche, siegende Macht eine unwiderstehlichere und hinreissendere Schilderung gefunden. Wie ein
Wettersturm stürzen die deutschen Kämpfer vorwärts, keinen fürchtend, kein Hinderniss beachtend,
wie ein Bergstrom, der Alles mit sich fortreisst, alles Widerstehende niederwirft. Und dann auf der
rechten Schmalwand die vom Vater verrathene Thusnelda im Triumphzuge des Germanicus, nicht
pathetisch, nicht die Primadonna in ihrem glänzenden Abgänge, wie bei Piloty, sondern in schlichtester,
und deshalb nur um so ergreifenderer Auffassung, das in der Gefangenschaft geborene Söhnchen in
rührender Bewegung an sich drückend, und über ihm und im Vertrauen auf die Zukunft ihres Volkes
DIE KUNST UNSERER ZEIT,
63
Peter Jarnsen. Prometheus. Wandgemälde in der Berliner Nationalgalerie (Carton)
die unverschuldete Schmach vergessend. Im letzten grossen Bilde, der Leichenfeier Armins klingt das
ganze Werk wie in einem mächtigen Trauermarsch aus.
Hier war ein monumentales Kunstwerk geschaffen, wie es ausser Rethel’s Bilder in deutschen
Landen noch nicht entstanden war. Keine bemalten Reflexionen und Allegorien, keine Theaterhelden
in überlegten Posen waren da auf die Wand geklebt, nein, eine ungestüme Kraft, ein unbändiges
Leben spricht aus diesen Bildern, dass man meint, ihre Gestalten müssten den stillen Saal sprengen
und über die Mauer hinaus ins Freie stürmen. Merkwürdig ist auch die malerische und coloristische
Behandlung; in der beschränkten Skala, deren Höhepunkt ein stumpfes Roth und ein feinsinnig farbig
angewandtes Weiss sind, ist jene höchst farbige Wirkung erreicht, wie sie die allerjüngste Kunst in ein¬
fachen, grossen Flächen anstrebt. Auch die Art, wie in der Todtenfeier Armins die ganze Farben¬
wirkung durch kräftige Silhouettirung, dunkel gegen hell, auf der schlecht beleuchteten Wand erzielt ist,
erscheint als der erste und zweifellos höchst gelungene Versuch dieser Art, dessen grosse Wirkung
durch keinerlei andere Mittel hätte erreicht werden können. Nach Vollendung der Crefelder Wand¬
bilder Ende 1873 zählte der noch thätigen Gelegenheit fand. Auch
nicht 30 jährige Künstler zu hier war die Wahl des Stoffes
den berufensten, deut- TV ß A- ■ ' . - ' charakteristisch für den
sicheren , künst-
schen Historien¬
malern grossen
Styls, der sei¬
nen jungen
Ruhm in einem,
schon während
der Crefelder
Arbeiten erhal¬
tenen Aufträge
für den grossen
Saal derBremer
Börse auf’s
Neue zu be-
lerischen Takt,
der sich nicht
genügen lässt
an der äusseren
malerischen
Ausstattung,
sondern der
auch den geisti¬
gen Inhalt mit
dem Raum in
Einklang zu
bringen sucht.
Peter Janssen. Die Begegnung Friedrich des Grossen mit Ziethen bei Torgau.
In der Ruhmeshalle in Berlin (Carton)
G4
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Als Motiv wurde die Gewinnung der Ostseeprovinzen
für die Kultur durch die Colonisation der Hansastädte
gewählt und in einem grossen, reich componirten und
lebendig bewegten Bilde dargestellt.
Bald nachher, Ende 1875, fällt die Vollendung
eines der verhältnissmässig wenigen Staffeleibilder, die
Janssen gemalt hat, «Das Gebet der Schweizer bei
Sempach » , das noch unter dem mächtigen Einfluss
Rethels zu stehen scheint, diesen an Wucht des histo¬
rischen Eindrucks fast erreicht, an Wahrheit der Ge¬
stalten und Köpfe aber übertrifft. Das Bild ist im
Besitze des Herrn Görina- in Honnef am Rhein.
Um diese Zeit, im Juli 1876, wurde Janssen dann
auch mit dem ersten Staatsauftrag betraut, nämlich
mit der Aufgabe, zusammen mit seinem Lehrer Bende-
mann die Corneliussäle der Nationalgallerie in Berlin
mit einem Freskenfries auszustatten , für den er für
seinen H heil die Prometheusmythe wählte ; sie ent¬
sprach stofflich den Glyptothek -Entwürfen, die der ihm zugewiesene Saal enthalten sollte.
Dieser Auftrag, bei dem nach Maassgabe der zwingenden Anordnungen des leitenden Architekten
nach allen Seiten hin Rücksicht genommen werden musste, auf die Architektur und den gegebenen Raum
nicht sowohl, als vor allem auf die färb- und körperlosen Cartons selbst, denen doch die Hauptwirkung
bleiben sollte, schien nicht eigentlich geeignet, die Kunst Janssens, dessen Haupteigenschaften schon damals
gesunde Kraft und ein fast herber Naturalismus in Form und Farbe war, in’s günstigste Licht zu stellen,
und doch gelang es dem Künstler, in seiner Composition mit den denkbar einfachsten Mitteln einer an
wenig Töne gebundenen Palette und einer fast reliefartig wirkenden Composition, wie sie auch dem
gewählten Thema entsprach, eine vollendet schöne und vornehme Wirkung zu erzielen. Freilich versuchte
eine missgünstige Beurtheilung, aus der beabsichtigten Zartheit der F'arbe ein Unvermögen zu folgern,
aber schon in den Crefelder Arbeiten war dieses nur auf Unkenntniss oder absichtlicher Nichtbeachtung
der, oben kurz angedeuteten Verhältnisse gegründete Urtheil, glänzend widerlegt. Uebrigens brachte
dem jungen Künstler diese Arbeit und die Ausstellung von Skizzen und Studien zu ihr und anderen
Werken im Jahre 80 die kleine goldene Medaille ein. Der Vorschlag, ihm sofort die grosse zu geben,
scheiterte an prinzipiellen Bedenken, ohne die es ja im lieben V aterlande einmal nicht geht.
Nach der Vollendung der Prometheusbilder wurde Peter Janssen von der Regierung 1878
beauftragt, in der Aula des Lehrerseminars zu Mörs zwei Bilder «aushilfsweise» zu malen, nämlich
aus einem Cyclus der deutschen Geschichte, den die Maler Kehren und Commans begonnen hatten, die
Zeit von der Reformation bis auf unsere Tage. Confessionelle Gründe hatten die genannten beiden
Maler bewogen, von der Ausführung dieser Abschnitte der deutschen Geschichte abzusehen, und Peter
Peter Janssen. Bildniss des Inspektor Holthausen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
65
Janssen führte denn in seiner kraftvollen Weise diese denkwürdigen Epochen in zwei friesartigen
Compositionen aus. Dieselben beginnen mit Huss auf dem Scheiterhaufen . es folgt das Auftreten
Tetzeis, das Anschlägen der Thesen an die Kirchenthür in Wittenberg durch Luther und die Auf¬
stellung der Augsburger Confession. Das zweite Bild zeigt Sigismund von Brandenburg, den grossen
Kurfürsten und die preussischen Könige; Friedrich Wilhelm I., der die vertriebenen Salzburger auf¬
nimmt, Friedrich den Grossen, Friedrich Wilhelm III. als Stifter der Union und zuletzt die Helden des
deutschen Kaiserthums
Wilhelm I., den Kron¬
prinzen, Bismarck und
Moltke.
Diesem Aufträge folg¬
ten zwei für die Ent¬
wickelung Janssen’s und
seiner Kunst wichtige
Ereignisse. Nämlich zu¬
nächst seine Ernennung
zum Lehrer und Pro¬
fessor an der Düssel¬
dorfer Akademie, dann
der Auftrag, das Er¬
furter Rathhaus mit
Wandgemälden aus der
Geschichte der Stadt
auszuschmücken. In der
Lösung dieser beiden
hohen Aufgaben, einer
wichtigen Lehrthätigkeit
und eines wirklich monu¬
mentalen, durch keinerlei
Rücksichten eingeeng¬
ten, grossen Auftrages,
Peter Janssen. Bildniss Andreas Achenbach’s
sollte Janssen sein eigent¬
liches Element nach zwei
Seiten hin finden: Jene
Lehrthätigkeit, der die
neuere Düsseldorfer
Malerei zum allergröss¬
ten Theil verdankt, was
sie ist, und in den acht
Bildern, die im Laufe
der nächsten Jahre von
1 8 7 7 — 8i entstanden,
das, was er der deut-
schenMonumentalmalerei
zu geben berufen war:
die Farbe, oder besser
gesagt, den Colorismus
im höchsten und reich¬
sten Sinne, in einem auch
nach der technischen
Seite seither noch nicht
erreichten Umfang.
Betrachtet man das,
was auf dem Gebiete der
Monumentalmalerei von
Cornelius an bis auf
Kaulbach geschaffen worden ist, so wird man, im Gegensatz zu den altitalienischen Wandmalern und
selbst zu den besseren, zeitgenössischen Franzosen den Mangel der Farbe, einer gesunden, realistischen
und doch dabei im edelsten Sinne decorativ wirkenden Farbe empfinden müssen. Es scheint fast,
als ob nach dem Vorbilde der Cornelianischen Farbe, an der der Meister selbst bekanntlich am wenigsten
Theil hatte, man es nicht wagte, die Monumentalmalerei farbig so auszugestalten, wie man es bei
Staffeleibildern wenigstens anstrebte. Aber auch hier war, wie so oft, die Mutter der Beschränkung
wohl das Unvermögen.
o
66
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Kaulbachs mit Unrecht so viel geschmähte Fresken im Berliner Museum entbehren in graphischen
Reproductionen keineswegs der Grossartigkeit, die den Originalen durch ihre entsetzliche Buntheit
abo-eht. Es fehlte bei diesen, wie bei fast allen anderen deutschen Monumentalmalereien jener Zeit
(Rethel war es leider nicht gegeben, nach dieser Seite in sich fertig zu werden) eben an dem künst¬
lerischen sowohl , als an dem technischen Können , die grossen Flächen coloristisch zu beherrschen.
Dass Janssen beides in hohem Maasse sich anzueignen gewusst hat, beweisen vor allem gerade
die Erfurter Wandbilder, und in ihnen bat er gewissermassen zuerst die, auf Farbe ausgehende Neu¬
geburt der deutschen Malerei in die Monumentalkunst eingeführt, um bei seinen späteren Arbeiten,
besonders in den Aulamalereien der Düsseldorfer Akademie, eine Höhe zu erreichen , für die man
würdige Vergleichsobjekte in den Innendekorationen der italienischen Hochrenaissance suchen muss.
Die Ausmalung des grossen Festsaales im Erfurter Rathhause war von den bisherigen Auf¬
trägen der umfangreichste, und gab dem Künstler Gelegenheit, in Darstellungen verschiedener Epochen
aus der Geschichte der Stadt, sein vielseitiges Können nach allen Richtungen hin zu bethätigen, wobei
die Schwierigkeit nicht unterschätzt werden darf, die in einem einheitlichen Zusammenstimmen von zeit¬
lich und also auch costümlich und stylistisch so weit auseinander liegenden Motiven zu überwinden war.
Die Reihe der Bilder beginnt mit der «Bekehrung Erfurts zum christlichen Glauben durch den
hl. Bonifacius um das Jahr 719». Das dramatische Moment fand der Künstler in der Fällung der, dem
Götzen Wage geweihten Eiche, in dem jetzigen Steigerforst bei Erfurt, einer auch sonst schon dar¬
gestellten Begebenheit. Seine Originalität bewies er aber in der Auffassung des Bonifacius, den er
nicht als den traditionellen, sanften Greis mit wallendem Bart, sondern als den energischen Bahnbrecher
darstellt, wie er dem Heidenthum mit der unerschütterlichen Ueberzeugung, die an Fanatismus grenzt, und
dem Ausdruck körperlicher und geistiger Ueber-
macht entgegentritt, ohne die der Erfolg sich in
00' o t
den Mysticismus des Wunders verliert, an das
unsere heutige Zeit nicht mehr recht glauben will.
Neben und über einer Thür derselben
Wand, in geschickter Ausnützung des Raumes
wurden der heilige Martin, dem in der Stadt
zwei Kirchen geweiht sind, die heilige Elisabeth,
die berühmten Schutzheiligen von Thüringen, und,
als charakteristisches Kennzeichen der religiös-
mystischen Stimmung im Mittelalter, eine jener
Kinderwallfahrten dargestellt, wie sie um das
Jahr 1212, oder nach anderem Berichte im Jahre
1237, in Thüringen stattgefunden hatten.
Das zweite Hauptbild, das nach seinem
Vorwurf dem Künstler wieder besondere Ge¬
legenheit zu psychologischer Durchbildung gab,
Peter Janssen. Studie
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
G7
Peter Janssen. Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
stellt «die Abbitte Heinrich des Löwen vor Kaiser Barbarossa» dar. Heinrich der Löwe, der seinem
Lehnsherrn lange getrotzt, und ihn bei der Eroberung von Alessandria im Stich gelassen hatte,
musste, nachdem die Reichsacht über ihn verhängt war, seine treuesten Anhänger ihn im Stich ge¬
lassen hatten, und er zuerst Bayern, dann Sachsen verloren hatte, sich unterwerfen und auf dem, nach
Erfurt einberufenen Reichstag im Jahre 1 1 8 1 Heinrich Abbitte leisten. Mit grösster Feinheit ist die
Rührung des grossen Kaisers über die Demüthigung des einst so mächtigen Feindes geschildert und
von mächtiger Wirkung die Gestalt des Besiegten, die der Grösse nicht entbehrt.
Das folgende Bild ist dem Andenken Rudolphs von Habsburg gewidmet, der, nach dem Inter¬
regnum auf den Thron gelangt, es als seine nächste Aufgabe erkannt hatte, dem in der kaiserlosen
Zeit eingerissenen Raubritterthum zu steuern. Er hatte in Erfurt seinen Hauptsitz genommen, und
erhob hier auf dem Reichstage im Jahre 1290 den Gottesfrieden (treuga dei) zum Gesetz. Mit starker
Hand nahm und zerstörte er die Burgen der Raubritter und verurtheilte die Insassen unnachsichtlich
zum Tode. Janssens Bild stellt den Vorgang dar, wie die gefangenen Ritter und Knechte einer
solchen erstürmten Burg gefesselt abgeführt werden. Hier konnte er sich in den markigen Gestalten,
den trotzigen Gesichtern der Gefangenen kaum genug thun, um das wilde Gesindel zu schildern, dem
nichts heilig war.
Ein friedlicherer Vorwurf war für das nächste Bild angenommen, das wiederum von einer
Thüre durchbrochen ist. Es galt der Erinnerung an die im Jahre 1392 eröffnete Universität in Erfurt,
der ersten in Europa, die alle vier Fakultäten vereinigte, aus der später das grösste deutsche Geistes¬
werk, die Reformation hervorwachsen sollte. Hier musste der Künstler, um dem geistigen Inhalt ge¬
recht zu werden, zur Allegorie greifen und die alma mater in der Gestalt einer Frau darstellen,
deren Thron von den Repräsentanten der vier Fakultäten umgeben ist. Die theologische vertritt
natürlich Luther, der zwar nicht ihr Lehrer, aber ihr grösster Schüler war. Die medicinische ist durch
Ratingh de Fago, genannt Amplonius de Berka, zweiten Rector, Leibarzt des Kaiser Sigismund,
repräsentirt, die juristische durch Henning Göde, den Begründer des deutschen Staatsrechtes, die
philosophische durch Eobanus Hesse, den Naturforscher, Arzt und Dichter, vertreten. In grösster
Lebendigkeit erheben sich die Gestalten dieser merkwürdigen vier Männer neben der hoheitsvollen
academia, als die kraftvollen Zeugen des ungeheueren, geistigen Aufschwungs, den die ganze Welt
ihnen mit verdankt.
9*
68
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Das vierte Hauptbild ist einem weniger ruhmvollen Blatt aus der Geschichte Erfurts gewidmet.
Der Rath hatte durch Misswirthschaft und eigenmächtiges Handeln die Stadt in Schulden gestürzt.
Die Bürgerschaft empörte sich und nahm den Obervierherrn Heinrich Kellner, das Haupt der Raths¬
partei gefangen, um ihn später umzubringen. Janssen führt uns in das Toben der Rathsversammlung,
wo Kellner den anstürmenden Spiessbürgern zurief, indem er an seine Brust schlug: «Wer ist die
Gemeinde? Hier steht die Gemeinde.» Mehr als ioo Jahre vor dem französischen Sonnenkönig hatte
schon das Selbstbewusstsein eines deutschen Bürgermeisters das stolze Wort «l’etat c’est moi» ge¬
funden, und Janssen hatte mit dem sicheren Blick, der ihn bei der Wahl seiner Motive auszeichnet,
diesen Moment gewählt, als bezeichnend für den Bürgerstolz, der den Beginn des XVI. Jahr¬
hunderts in Deutschland kennzeichnet, bis der dreissigjährige Krieg ihn nur zu sehr niederschlug.
Eine Folge dieser unglücklichen Zeit schildert das nächste grosse
Bild, nämlich die Unterwerfung der Stadt unter die Herrschaft des
Kurfürsten von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, der am 12. No¬
vember 1664 seinen Einzug in Erfurt hielt und sich am 28. von der
Bürgerschaft huldigen liess. Beide Ereignisse sind auf dem Bilde zu¬
sammengefasst und die Entfaltung des reichen, costiimlichen Prunkes
jener Zeit hatte dem Maler Gelegenheit zu einer höchst farbigen
Wirkung gegeben, die das Bild nach dieser Seite hin vor den anderen
auszeichnet. Geschichtlich bedeutet dieser Moment für Erfurt den Ver¬
lust aller Selbstständigkeit und bisheriger Freiheit.
Das nächste Gemälde, wieder ein Thürbild, zeigt ebenfalls einen
bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte der Stadt, nämlich den Besuch
des Königs Wilhelm III. von Preussen und der Königin Luise im Jahre
1803 bei Gelegenheit des Ueberganges Erfurts an die preussische Krone
und die Huldigung der Stadt, die das Fürstenpaar mit grösstem Glanze,
aber auch wahrer Freude und ächter Zuneigung empfangen hatte.
Den Schluss bildet eine Episode aus der grossen Zeit, da
Deutschland die Zwingherrschaft Napoleons I. abschüttelte. Ein, zur
leier der Geburt des Königs von Rom im Jahre 18 11 errichteter hölzerner Obelisk wurde beim Ein¬
rücken der Preussen im Jahre 1814 vom Volke verbrannt. Und wie mit diesem Gewaltstreich die
bewegte Geschichte der Stadt abschliesst, die sich fortan in Frieden entwickeln konnte, so findet in
dieser lebendigen Darstellung der grossartige Gemäldecyclus seinen Abschluss.
V on umfassenderer und direkterer Bedeutung als die, in dem, von der grossen Strasse etwas
abseits gelegenen Erfurt, leider zu wenig bekannten Wandbilder (die übrigens nicht in der alten
Freskotechnik, sondern mit den, zwar coloristisch ausgiebigeren, aber schwer zu behandelnden Wachs¬
farben gemalt sind, die schon in Crefeld angewandt wurden) sollte aber sehr bald die Lehrthätigkeit
Janssens werden, die er seit dem Jahre 1877 an der Düsseldorfer Akademie aufnahm. Es war das
zu einer Zeit, als Ed. Benclemann die, unter Gottfried Schadow stark verknöcherte Akademie zu neuem
Peter Janssen. Studie
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
69
Leben zu erwecken suchte ; aber auch Bendemann war, weder als Mensch, noch als Künstler die ge¬
eignete Persönlichkeit gewesen, um mit der nöthigen Energie dem schwächlichen Zuge, der in der
Düsseldorfer Malerei herrschte, entgegentreten zu können, und seine Kunst war selbst noch viel zu
sehr von den älteren Traditionen befangen, um neue Wege weisen zu können. Hier musste eine
selbstständige, frische Kraft eintreten und gerade Janssen, der sehr wohl wusste, was er seinerzeit
auf der Akademie hatte entbehren müssen, der sein Können eigenstem Ringen verdankte, einem An¬
schluss an die Natur, wie er bei den damaligen akademischen und nichtakademischen Figurenmalern
noch unerhört war, erwies sich sehr bald als die richtige Persönlichkeit, um aus den alten, verfahrenen
Geleisen zu neuen Bahnen aufwärts zu lenken. Freilich hätte hier eine, wenn auch künstlerisch noch
so bedeutende Veranlagung allein nicht ge¬
nügt. Peter Janssen vereinigte aber mit ihr
jenes Lehrtalent, das eigentlich sehr selten
grossen Künstlern verliehen ist, dessen
Mangel die Schüler berühmter Künstler so
leicht auf falsche Wege gerathen oder in
blosse Nachahmung verfallen lässt.
Die neue Lehrmethode, die nunmehr
eingeführt wurde, unterschied sich wesentlich
von den bisherigen, die den akademischen
Unterricht seit lange und auf lange hinaus
nicht mit Unrecht in einen gewissen Miss¬
kredit gebracht hatten. Schon die Errichtung
einer Naturzeichenklasse neben dem bisher
fast ausschliesslich gepflegten Antikenzeichen¬
saal deutete die Richtung an, welche die
Erziehung des Schülers nunmehr nehmen
sollte, nämlich einen möglichst engen An¬
schluss, einen unablässigen Hinweis an und
auf die Natur, als die einzig richtige und
niemals alternde Lehrmeisterin aller Kunst und alles Könnens. Dass dieses immer weiter ausgedehnte
Naturstudium nicht zu einseitigem Naturalismus führte, dafür sorgten unter anderem die Componir-
abende, an denen der selbst noch junge Meister seine Schüler in zwangloser Weise um sich ver¬
sammelte, um mit ihnen gemeinsam gewählte und ausgearbeitete Entwürfe zu besprechen und zu
beurtheilen. Wichtiger aber noch, als die äusseren Einrichtungen der Zeichenklassen war die persön¬
liche Art und Weise der Correctur, die sich noch mehr von allem, was man bisher als akademisch
gekannt hatte, entfernte; die freundschaftliche, dabei von einem unwiderstehlich liebenswürdigen Humor
begleitete Art und Weise, mit kurzen, oft scherzhaften Worten, einer einzigen humoristischen Bemerkung
den Kern der Sache zu treffen, den Schüler auf den Hauptfehler seiner Arbeit aufmerksam zu machen.
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Peter Janssen. Studie
70
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Peter Janssen. Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Da war keine akademische Haarspalterei, kein Corrigiren der Conturen oder der berüchtigten Halb-
tönchen, kein Wochen, Monate oder selbst Jahre langes Nörgeln an ein und derselben Arbeit, wie es
in der guten, alten Zeit Gebrauch war, wo es Vorkommen konnte, dass ein unglücklicher Jüngling, der
doch auch in seinem Leben noch einmal Maler werden wollte, zwei Jahre an ein und derselben Antiken¬
zeichnung, — herauf, herab und quer und krumm — an der Nase herumgezogen wurde. Flotte
Skizzirlibungen nach dem nackten Modell, bei denen Janssen stundenlang anwesend blieb, übten Auge
und Hand zum Erfassen und Wiedergeben auch flüchtiger Bewegungen, und bildeten die Grundlage zu
lebendigen Compositionen und Erinnerungsskizzen, die dem Cartonstyl gründlich den Garaus machten.
Sehr bald landen sich unter den vorgeschrittenen Schülern solche, die sich bei der Ausführung
ihrer selbstständigen Gemälde Janssens Rath erbaten, und so errichtete er etwa 1882 seine Meisterklasse
und, dem allgemeinen, dringenden Wunsch folgend, 1885 seine Malklasse. Die Naturzeichenklasse
fand bald solchen Zuspruch, dass es in der neuen Akademie an Raum mangelte, während die Säle der
Parallelklassen leer standen, bis sie dann zu einer grossen Klasse zusammengenommen werden mussten.
Schon nach wenigen Jahren hatte Peter janssen die Freude, bei trefflichen, jungen Künstlern
die Resultate seiner Erziehungsmethode sehen zu können. Eduard Kämpffer, jetzt Professor in Breslau,
Arthur Kampf, der zuerst Janssen’s Assistent, dann sein Mitarbeiter als Professor in Düsseldorf wurde,
Alexander Frenz, Klein-Chevalier und manche andere sind Jahre lang Schüler Peter Janssens gewesen,
und wie sie ohne Schwanken ihre so verschiedenartige Individualität ausgebildet haben, ist sicherlich
der beste Beweis für die sachgemässe und verständnissvolle Leitung, die sie erfahren haben.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
71
1 In den März des Jahres 1884 fällt die Vollendung und Ausstellung von Janssens grossem
Staffeleibild «Die Erziehung des Bacchus». Hier leistete der Künstler den vollgültigen Beweis da¬
für, dass er nicht bloss Monumentelmaler sei, sondern auch Technik und coloristische Durchbildung
eines grossen Atelierbildes beherrsche. In diesem Bilde legte er gewissermassen alle coloristischen
Errungenschaften seiner bisherigen Thätigkeit nieder, und die mächtigen , in üppigster Schönheit
prangenden, gleichwohl aber von dem keuschen Zauber hoher Kunst umflossenen, weiblichen Gestalten
gaben ihm Gelegenheit, mit dem damals noch, als unerreichbar angestaunten Makart in erfolgreiche
Concurrenz zu treten. Das, was Makart fehlte, die künstlerische Gesundheit in Form, Farbe und
Auffassung, das ist dem, aus dem Vaterlande des Rubens stammenden, rheinischen Künstler im hohen
Maasse eigen, und so vermochte er den sinnlichen Reiz, der in weiteren Kreisen Makarts Ruf viel
mehr begründet hat, als seine wirklich hohen, künstlerischen Verdienste, durch jene naive und reine
Freude an der schönen Natur zu ersetzen, wie sie die Antike, die Renaissance und ihr grosser Schüler
Peter Janssen. Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Rubens in seinen mythologischen Bildern aussprechen. Für die Düsseldorfer Malerei bedeutete die
Ausstellung des Bacchus einen vollständigen Umschwung der ganzen Malweise. Das farbige Element
wurde von nun an vollständig in den Vordergrund gerückt und hat sich seitdem folgerichtig und
siegreich weiter entwickelt. Dass die niederrheinische Prüderie auch durch ein so vornehmes und in
aller Heiterkeit ernstes Werk nicht auf die Dauer besiegt werden konnte, ist bedauerlich, aber kein
Fehler des Bildes, denn gerade diese Prüderie gehört in erster Linie in das weite, weite Gebiet dessen,
wogegen selbst die Götter vergeblich kämpfen.
Immerhin hatte die Erziehung des Bacchus den Erfolg, dass Janssens Name, der durch die
ausschliesslich monumentalen Arbeiten des Künstlers im grösseren Publikum wenig genug bekannt
geworden war, nun mit einemmal unter die, der ersten deutschen Maler gezählt werden musste. Kurz
vor Vollendung dieses Bildes, das auf den Ausstellungen in Berlin und München berechtigtes Aufsehen
erregte, fällt der Auftrag der preussischen Regierung, für das, damals zur Ruhmeshalle umgestaltete
72
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Peter Janssen „ Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Zeughaus in Berlin drei Wandgemälde zu schaffen , die in verhältnissmässm kurzer Zeit — in den
Jahren 1S84, 1888 und 1890 — entstanden sind, wobei zu bedenken ist, dass Janssen nicht nur seine
umfassende Lehrthätigkeit in ausgiebigstem Maasse versah, an anderen Malereien, so denen der Aula
arbeitete, sondern allmählich auch als ständiges, das heisst immer wieder gewähltes Mitglied der
akademischen Direction, einen grossen Theil der Leitung der Anstalt hatte auf sich nehmen müssen.
Dem Charakter des Raumes entsprechend, waren es ausschliesslich Kriegsbilder, die für das
Zeughaus gefordert wurden, und Janssen malte nacheinander die Schlacht bei Fehrbellin (1884), die
Begegnung Friedrich des Grossen mit Ziethen bei Torgau (1888) und die Schlacht bei Flohenfriedberg,
welche drei Bilder ohne Zweifel zu dem Besten gehören, was die Ruhmeshalle an malerischer Aus¬
stattung aufzuweisen hat.
Bis zu dieser Zeit hatte die Vaterstadt des Künstlers es noch nicht für nöthig befunden, sich
den Besitz eines Werkes von seiner Hand zu sichern. Im Jahre 1890 gab sie'f ihm, ihrem grössten
Geschichtsmaler, den Auftrag, ein Bildniss Andreas Achenbachs zu malen. Schon früher hatte Janssen
den Beweis geliefert, dass er in seiner grossartigen Auffassung des Menschen, auch als Portraitmaler
das Vortrefflichste zu leisten im Stande war. Das Bild des alten Akademie-Inspektors Holthausen, das
auf der grossen Düsseldorfer Ausstellung von 1880 allgemeine Bewunderung erregte (jetzt im Besitze
der Düsseldorfer Akademie), ist in seiner malerischen Auffassung und vornehmen Charakterisirung das
Muster eines Männerbildnisses, wie es die Düsseldorfer Kunst seit vielen Jahrzehnten nicht mehr hervor¬
gebracht hatte. Die Nationalgallerie hatte nicht lange darauf 1883 ein Portrait des Feldmarschalls
Herwarth von Bittenfeld bestellt, das nicht weniger vornehm wirkte, wenn auch der Kopf keine so be¬
sonders dankbare Aufgabe bot. Aber schon vor Vollendung des Achenbachsportraits , das trotz
einiger Schwierigkeiten, die es gekostet hatte, den greisen Künstler zu wenigen Sitzungen zu bewegen,
ebenfalls als das Muster eines psychologisch vertieften Künstlerportraits gelten kann, hatte ein Düssel¬
dorfer Bürger, Herr Carl Weiler, zum Gedächtniss der Städtegründung Düsseldorfs, deren 600 jähriger
Gedenktag 1888 gefeiert wurde, dem Künstler den Auftrag gegeben, die Schlacht bei Worringen zu
Deckengemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
Peter Janssen pinx.
Phot. F. Haufstaengl, München
Friedrieh II. entlässt deutsehe Ordensritter aus Marburg zur Colonisirung
Preussens 1236. Marburg
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
73
Peter Janssen. Wandgemälde in der Aula der Düsseldorfer Akademie
malen, an die sich jene Verleihung der Stadtrechte anknüpfte, und im April 1893 wurde dieses grosse
und mächtig wirkende Bild in der Kunsthalle, für die es bestimmt war, zum ersten Mal ausgestellt.
Die Schlacht bei Worringen (einem kleinen Orte unterhalb Köln, jetzt Eisenbahnstation) ent¬
schied am 5. Juni 1288 den Limburger Erbfolgekrieg. Herzog Johann von Brabant, die Grafen von
Jülich, Cleve, Berg und Mark, verbündet mit der Stadt Köln, besiegten dort den Grafen Reinald von
Geldern und den Erzbischof Siegfried von Westerburg. Beide wurden gefangen, das Schloss des
Erzbischofs zu Worringen wurde zerstört und der Brabanter erstritt sich die Erbschaft Limburg, die
seitdem bei Brabant verblieb. Den Düsseldorfer Bürgern, die unter Anführung des Mönches Walter
Dodde mit den bergischen Bauern an der Schlacht thätigen Antheil genommen hatten, wurde zur
Belohnung ihrer Dienste das Städterecht gegeben.
Der Künstler stand bei dem gegebenen Motiv vor keiner leichten Aufgabe, denn abgesehen
von dem doch nur lokalen Interesse, ist die Begebenheit durch wenig oder nichts vor zahllosen, ähn¬
lichen Raufereien des Mittelalters ausgezeichnet. Und dennoch gelang es Janssen, durch die Betonung
des rein Menschlichen in der Gestalt des fanatischen Anführers, durch eine mächtige Darstellung der
Begeisterung, die der redegewandte Mönch bei den, von ihm aufgestachelten Landleuten ent¬
flammte, aus diesem so fernliegenden Motiv ein grossartiges Kunstwerk zu schaffen. Es ist etwas
darin von dem furor teutonicus, von dem der grosse Kanzler einmal gesprochen hat; ein Sturm, wie
vor dem Gewitter, bevor die ersten heissen Tropfen fallen, geht durch das Bild, eine Bewegung von
Kampfesmuth und trotzigem Kraftgefühl, wie sie deutschem Wesen seit Jahrtausenden eigen sind.
1 10
74
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Die Schlacht bei Worringen brachte auf der Berliner Ausstellung 1893 dem Künstler die grosse
goldene Medaille ein, und im Jahre 1 S 9 5 wurde ihm dann endlich auch formell die Direction der
Akademie übertragen, deren Lasten und Arbeiten er schon seit Jahren fast ausschliesslich getragen
und erledigt hatte. Es wäre vielleicht besser gewesen, für den Künstler sowohl, wie für die Anstalt,
wenn man mit dieser äusseren Anerkennung seiner Verdienste und Erfolge etwas weniger lange ge¬
zögert hätte, und sich nicht durch allerlei Bedenken hätte bewegen lassen, das nicht nur Einzig Richtige,
sondern auch Nothwendige so lange aufzuschieben, bis gar keine andere Möglichkeit mehr vorhanden war.
Im fahre 1S96 wurde dann endlich auch das Werk, nicht vollendet, denn das war es in der
Hauptsache schon seit längerer Zeit, aber der allgemeinen Betrachtung zugänglich gemacht, an dem
Janssen während der letzten 10 Jahre mit Unterbrechungen gearbeitet hatte. Es war dies die Malerei
in der akademischen Aula, zu der die preussische Regierung schon in den 80 er Jahren den Auftrag
ertheilt hatte. Die Bedeutung dieses Werkes beruht nicht allein in dem gemalten Fries, der den Saal
an allen vier Seiten umgibt, und in den drei runden Deckenbildern, sondern nicht zum Wenigsten
in der harmonischen künstlichen Ausstattung des ganzen Raumes, die in Deutschland wohl zum ersten
Mal wieder jene wahrhaft künstlerische Gesammtwirkung erstrebt, wie sie die Italiener, vor allem die
Venezianer in ihren Festräumen zum vollendeten Ausdruck gebracht haben. In dem Architekten
Professor Adolf Schill hatte Janssen einen Helfer gefunden, mit dem vereint er ein Werk schaffen
konnte, das sich würdig an jene Vorbilder anschliesst.
Unter der in zartem Rothgold bekleideten Wand zieht sich das eigentliche Kunstwerk, der
gemalte Fries hin, dessen Motiv das menschliche Leben ist, ein Vorwurf, wie ihn ja höher und grösser
kein Künstler erdenken kann, wie ihn zahllose Dichter und Maler zu lösen unternommen haben, wie
ihn Göthe in seinem Faust poetisch erschöpft hat, wie er aber in der bildenden Kunst kaum je in
dieser Weise aufgfefasst und durchgfeführt worden ist.
Die farbenreichen Compositionen, die in einem fortlaufenden Bilde die Schicksale und Thaten
eines grossen Menschen darstellen, beginnen an der östlichen Schmalwand. Wir sehen das Kind an
der Brust der Mutter, umgeben von Engeln und Waldgenien, noch unbewusst des Lebens, es ge¬
niessend. Dann versucht das Kind die ersten schwachen Schritte, gestützt und behütet von den
Schutzgeistern der Jugend. Es wächst heran. In scherzendem Spiel versucht es schon den Kampf,
der es im Leben nicht verlassen soll. Den erstarkenden Knaben lehrt ein Engel ernstere
Thätigkeit. Hinter dem Ackersmann führt er ihn her und lässt ihn die Saat beginnen, in deren Ernte
und Einbringung er die Arbeit seines Lebens vollenden soll. Eine heitere, offene Landschaft begleitet
die Figuren; reicher und üppiger entwickelt sie sich, denn des Menschen glücklichste Zeit, die Zeit
kraftvoller Jugend, erster Liebe naht. Ein Kranz von Liebesgöttern umgibt ihn und die Geliebte ;
weit zurück scheint alles Irdische zu treten. Coloristisch erhebt sich die Darstellung hier vielleicht zu
ihrer Höhe. Ein Reichthum von Schönheit und Liebreiz ist über die beiden Gestalten ausgegossen,
wie es der monumentalen Kunst kaum je gelungen ist. Bald aber beginnen die Kämpfe des Lebens.
Erst sind es die Thiere des Waldes, die der Mann bekämpfen muss, um die Seinen zu schirmen,
dann zieht es den, im Streit Erprobten hinaus auf ein grösseres Thatenfeld. Auch hier wird ihm, dem
Helden, der Sieg, während das gestrandete Schiff im Hintergrund darauf hindeutet, dass nicht allen
10*
Peter Janssen. Sophie von Brabant zeigt den Marburgern den jungen Landgrafen Heinrich das Kind 1248, Marbur
78
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Schönheit, seine Religion in der Phantasie findet, und eines durch das andere ergänzt. In üppiger
Landschaft sitzt die Allmutter Natur, alles was lebt, schmiegt sich an sie und allen lächelt sie. Hüllen¬
los, in überwältigender Formenpracht schwebt die Schönheit aus dem mittelsten Deckenbild hernieder.
Malerei und Bildhauerkunst begleiten sie. Das letzte Bild, das auch das erste sein kann, zeigt die
Phantasie, die aus den Banden des Leiblichen sich auf dem Fabelwesen des Greifen über das Sinnliche
emporhebt und das Liebersinnliche erreicht und zu umfassen vermag.
Auch diese Deckenbilder, die, gleich wie die Bilder der Nordseite, die höchsten Ideen verkörpern,
halten sich von frostiger Allegorie fern. Nicht umsonst hat der Künstler der Mutter Natur ein Bild
gewidmet. Sie hat sein Auge gebildet und seine Hand geführt, und so erscheinen die Gestalten alle
nicht als blutlose Reflexionen, sondern in lebendiger,
strahlender Pracht, in blühender Schönheit.
Schon lange vor der Einweihung der Aula hatte
der unermüdlich schaffende Meister eine neue, grosse
Arbeit begonnen, nämlich einen Gemäldecyclus für
die Universität Marburg. Es werden im ganzen sieben
Bilder sein, von denen bis jetzt drei vollendet sind,
ein viertes der Vollendung nahe ist; ferner sechs
Lünetten, in denen die Sage von Otto der Schütz
behandelt wird. Die Motive der drei ersten Bilder
sind folgende: i. Friedrich II. entlässt deutsche Ordens¬
ritter aus Marburg zur Colonisirung Preussens 1236.
2. Die heilige Elisabeth, die sich mit der Kranken¬
pflege gegen die Vorschrift und über ihre Kräfte
hinaus angestrengt hat, wird von ihrem Beichtvater
und «Zuchtmeister» Konrad von Marburg mit der
Geisselung bedroht 1231. 3. Sophie von Brabant,
Tochter der hl. Elisabeth, zeigt den Marburgern den
o o
jungen Landgrafen Heinrich das Kind 1248. Wird
. . . Peter Janssen. Skizze aus Spanien
in dem ersten Bude ein geschichtlich wichtiger, aber
künstlerisch undankbarer Vorgang lediglich durch den ernsten Prunk der Gestalten, eine malerisch
interessante Umgebung und originelle Coloristik dem Beschauer nahe gebracht, so gab der Stoff des
zweiten Gemäldes dem Künstler wieder Gelegenheit zur Entfaltung seiner reichen und umfassenden Mittel
eines, bis an die Grenze des malerisch «Erlaubten» gehenden Realismus einerseits, der grössten Schön¬
heit und selbst Zartheit in Form, Farbe und Anordnung andererseits. Ersteres gilt hauptsächlich von
der Darstellung der Kranken und des fanatischen Priester, Letzteres in erster Linie von der Gestalt
der Heiligen, die an einem der Betten zusammengesunken, mit einem so rührenden Ausdruck kind¬
licher Hilflosigkeit , verbunden aber mit der felsenfesten, schwärmerischen Ueberzeugung selbstlos
frommer Aufopferung emporblickt, das§ dieser eine Kopf genügt, um alle die, zu fast unheimlicher Lebens¬
wahrheit gesteigerten Piguren die Umgebung künstlerisch in den Hintergrund treten zu lassen. Und
l’eter Janssen. Kindheit des Bacchus
80
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
das Sonnenlicht, das durch
die Fenster bricht und den
mit allen Schrecken der
Krankheit und des Elends
erfüllten Raum, wie mit
einem Strahl aus besserer
Welt durchflutet, scheint
nur um ihr, der « süssen
Heiligen» willen vom
Himmel herabgesandt.
Nicht minder grossartig
in der Composition, da¬
bei ebenfalls von leben¬
digstem Farbenreiz, ist das
o
grosse Mittelbild «Sophie
von Brabant zeigt den
kleinen Heinrich dem
Volke». Der Gegensatz
der schlanken, fürstlichen
Mutter, die den Kleinen
hoch in die Höhe hebt
und der kernigen Ge¬
stalten der Bürger und
Bauern ist mit grösstem,
naturalistischem Reiz wie-
dergegeben. Die ganze
Kraft, Treue und Anhäng¬
lichkeit des mittelalter¬
lichen, deutschen Volkes
spiegelt sich in diesen
Peter yanssen. Studie
gebräunten, gesunden Gesichtern wieder. Dass den Künstler auch hier sein hohes Schönheitsgefühl
nicht im Stich gelassen hat, davon zeugen Figuren, wie die, der sich umwendenden Frau im Vorder¬
grund, oder des lachenden, blumengeschmückten kleinen Mädchens, das, helle Kinderfreude in den
Augen, sich zu seinem Spielgefährten wendet. Das sind Gestalten und Köpfe, die uns die geschicht¬
liche Thatsache zur menschlich greifbaren Wahrheit werden lassen.
Steht nach allem dem, was wir bisher von Janssen gesehen haben, das Bild des Malers in
imponirendem Ernst vor uns, so gewähren eine Reihe von gemalten Erinnerungsskizzen nach einer Reise
in Spanien im Jahre 1896 einen überraschenden Einblick in eine Seite künstlerischer Thätigkeit, die man
eine genrehafte nennen könnte, die gelegentlich von einem so köstlichen Humor erfüllt ist, wie man
ihn dem Monumentalmaler kaum
Zutrauen würde. Wie sehr freilich
auch dieser Humor dem Künstler
aus dem Herzen kommt, wie er
im Leben neben tiefstem Ernst
doch immer wieder hervorbricht,
das wissen die, welche ihm per¬
sönlich näher getreten sind.
*
Ein Riesenwerk ist es, das
der noch in voller Manneskraft
stehende, kaum 53jährige vor sich
gebracht hat, als Maler, als Lehrer,
als Leiter einer der grössten Kunst¬
schulen und keineswegs ist dieses
Werk vollendet. Von Bild zu Bild
ist die aufsteigende Linie erkenn-
bar, auf der sich seine Kunst be¬
wegt. Grosses hat die deutsche
Malerei Peter Janssen zu ver¬
danken , Grosses noch wird sie
von ihm empfangen.
Peter yanssen. Studie
Phot. F. H.nfstaengl, München
Peter Jansseu plnx.
Die hl. Elisabeth und ihr Zuehtmeister. Marburg
Peter Janssen pinx.
Phot. F. Hanfstaengl, München
Spanische Blumenverkäuferin
DER FRAUENTYPUS
IN DER
DEUTSCHEN JAHRHUNDERTSMALEREI
VON
FRANZ RADLER
Die Malerei im Schwesterreigen der bildenden Kunst hat so gut eine eigenthümliche, ausdruck¬
reiche, unschwer entzifferbare Sprache wie die Musik, wie in der vollkommensten Form der
artikulirte menschliche Laut. Das giebt ihr in der kulturhistorischen Betrachtung der Vergangenheit
einen nicht unbedeutenden objektiven Werth als Thatsachendarstellerin oder Thatsachenbeleuchterin,
den die litterarische Darstellung nicht immer und zu Zeiten sogar nur vereinzelt hat, — nämlich eine
erhebliche Unbefangenheit der Wirklichkeit gegenüber und eine Unberührtheit von despotischen
Formeln und tyrannischen Gesellschaftsgesetzen. Zwar ist ihre Sprache eine unschwer entzifferbare,
aber sie ist doch nur für eine Person von hoher individueller Bildung lesbar, — ihre feinere Wort¬
bildung wird vom Volk nicht verstanden und daher auch, wo sie Revolutionäres oder unbequeme
Wahrheit mit einiger Vorsicht ausspricht, von denen nicht gefürchtet, die ein Interesse an der Unwahr¬
heit, der Erhaltung gewisser Kulturlügen, dem Nichtaufkommen neuer und vorgeschrittener Ideen
haben. Jedes unerwünscht gesprochene und geschriebene Wort hat zu allen Zeiten seinen Staats¬
anwalt gefunden, der es unterdrückte, — an ein Werk der übrigen Künste hat bei weniger Be¬
sonnenheit des Autors fast nie im Ernst eine käufliche Justiz herangekonnt. So durfte im vorigen
Despotenjahrhundert Goya in Spanien ungescheut mittels seiner geistreichen Radirnadel die schänd¬
lichsten Zustände seines Vaterlandes festreissen und gekannte Personen dem Fluch der Lächerlichkeit
überantworten, ohne dass ihm eigentliche Gefahr drohte und sein um Jahre späteres Verlassen der
Heimat eine hastige Flucht wurde, — so konnte Hogarth mit Pinsel und Grabstichel den brutalen
Sittenverfall des heuchlerischen Alt -England für die Nachwelt aufzeichnen; die gleichen Philippiken
mittels des Worts hätten jenen nicht vor dem gemüthsreichen Gezwicktwerden mit glühender Zange
und diesen bei abendlicher Heimkehr vom Skat kaum vor einem freundschaftlichen Rippenkitzel mittels
eines sehr schönen und sehr blanken Stilets bewahrt. Die Kunst hat in dem, was sie sagt, eine
erhebliche Freiheit vor dem Wort voraus, — man hält seit alter Zeit mit einigem Recht die Oeffentlich-
keit in weiterem Sinne bei ihren Kanzelreden für ausgeschlossen. —
Aber doch nur ausnahmsweise offenbart die Kunst einen so unverhohlen litterarisch - kritischen
Charakter wie bei Goya und Hogarth, wie bei Rops und Klinger, die Sittendarsteller mit dem Griffel
ii ll
82
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
statt mit der Schreibfeder sind. Der allgemeine kulturgeschichtliche Wesenszug der Kunst enthüllt
sich auf anderen Gebieten noch häufiger, und hier vielleicht am besten sogar in rein idealen, der
Wirklichkeit abholden Ideenkreisen, z. B. auch auf dem Felde der Frauendarstellung. Der erotische
Hang zum Weib ist so stark wie der Wille zum Leben , — - er hat die Frauenfrage in dem Augen¬
blick geschaffen, als Adam in scheuer Verwunderung zum ersten Male die neugeschaffene Eva
erblickte, — er nimmt im Phantasieleben des Jünglings wie des Mannes so starken Raum ein, dass
man bei oberflächlicher Schau über die Kunstgeschichte vermuthen könnte, dass der erotische und
der künstlerische Trieb zwei Erscheinungen aus derselben Wurzel seien, denn das Weib und das Ver-
hältniss des Mannes zu ihm ist in erdrückender Ueberzahl der Vorwurf in den geschaffenen Werken.
Hier aber, wo der Künstler wegen der Eigenart seines Idioms ungescheut vor Machthabern und gesell¬
schaftlichen Ketten seine persönlichsten Anschauungen und seine verborgensten Empfindungen aus¬
sprechen darf, — wo sich unbewusst zugleich die Meinung seines engeren Lebenskreises hineinmischt,
ist jedes bedeutende Werk desshalb ein gewichtiges Zeitdokument. Und hier ist eine künstliche Ver¬
deckung des Zeitzuges weniger leicht möglich als in der gleichzeitigen Litteratur. Die Litteratur des
deutschen Rokoko hat einen abstrakten, last strengen, zwitterhaften Zug und verräth wenig von der
Sinnlichkeit, die hinter der gemessenen Würde der Zeit sich verbarg, — in der Art aber wie die
Künstler dieser Stilperiode das Weib aufgefasst und geschildert, in jenen halben, scheuen, verschleierten
Andeutungen von Pose, Thema, Strich und Farbe enthüllt sich ungewollt die geheime Lüsternheit der
Zeit. Hier ist die Malerei der Litteratur gegenüber das zuverlässigere Dokument. — In anderen
Zeiten ergänzen sich beide Kunstzweige. Wer fände in den keuschen und liebenswürdigen Bild¬
gestalten der alten Aegypterinnen nicht Bestätigung dessen, was neuere Forschung ergründet, dass
nämlich die Frau im Pharaonenlande eine würdige und vornehme Stellung im fast seltsamen Wider¬
spruch zu der geduldeten Polygamie eingenommen? Und enthält nicht die Aphrodite von Melos in
der Quintessenz den ganzen Schönheitskult des Hellenen, für dessen Befriedigung er , der in der
praktischen Frauenfrage vom Orient noch nicht frei geworden war, die einzigartige naive Form des
Hetärenthums ersann? Für das finster brütende Rom mit seinen verweibischten Männern und dem
Typus des blutgierigen weiblichen Dämons ist nichts bezeichnender als die berühmte sitzende Agrippina
und das Gorgohaupt, die Weiberfurcht 1800 Jahre vor den modernen schwedischen Künstlern ge¬
schaffen hat. Liegt nicht in Lionardo’s Mona Lisa, Rafael’s Sixtina, Michelangelo s frühen Madonnen
dann als eben aufgebrochene Blüthe des Renaissance - Frühling der jugendhold - naive Aufstieg des
Quattrocento, — in Tizian’s lüstern umtasteten Modellen nicht dagegen deutlich die begonnene Wurm¬
stichigkeit des Verfalls, — und nicht das kalte Nervenraffinement künstlich entflammter Sinne in Watteau’s
reifrockbekleideten Grazien aus jener Zeit, welche mit der Gestalt des wahnsinnigen Scheusals Marquis
de Sade sich erschöpfend charakterisiren lässt? So lässt sich mit Thatsache um Thatsache die Art der
Frauendarstellung in der Kunst aller Zeiten als ein wichtiges kulturgeschichtliches Symptom belegen. —
Auch unser Jahrhundert bleibt den Beweis hiefür nicht schuldig, — ja je näher der Betrachtungs¬
kreis uns selbst gerückt ist und Zustände, Verhältnisse und Personen dem persönlichen Augenschein
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
83
oder wenigstens in lebendigster Tradition dem
sicheren Urtheil sich bieten, umso überraschender
wird die Festigkeit des Zusammenhangs zwischen
der Frauendarstellung und der Zeit, umso reichere
Beziehungen thun sich auf auch durch Künstler-
erscheinungen zweiten und dritten Ranges. Das
deutsche Volk hat in dieser Zeit wie das fran¬
zösische kulturhistorisch eine ausserordentlich starke
und bewegte Wandlung erlebt, — beide erhoben
sich aus tiefem Verfall zu einer durchgreifenden
Erfrischung, — beide entwickelten vom wieder¬
aufgenommenen Vorbild der Antike her in kultureller
Beziehung einen neuen Glanz des neueren, politisch
freien Bürgerthums, — beide sind zuletzt auf ein
dem Thema nach von der altniederländischen Kunst
theilweis einst vorweggenommenes , in Form und
Perspektive aber neues Gebiet gezogen, das staats¬
politisch unter der socialen Frage ebenso allgemein
als ungenau wie künstlerisch als moderne Kunst
bezeichnet wird und noch ungeklärt die verschie¬
densten Strömungen in sich fasst. Aber während
die französische Kunst der Gegenwart bis auf den
einen Puvis de Chavannes lediglich von Kunst¬
händlern und in den Ateliers zu Tagesberühmtheiten
gestempelte technische Faiseurs ohne einen grossen
Gesichtspunkt aufzuweisen hat, also im Verfall
begriffen scheint, hat die deutsche Kunst eine
stattliche Anzahl wirklich bedeutender Künstler zu verzeichnen, — sie liegt unserem Interesse doppelt
nah und soll desshalb hier in der Frauendarstellung ihrer drei Perioden eine Betrachtung finden.
Drei Kreise hat die deutsche Kunst des Jahrhunderts durchlaufen : den klassizistisch-romantischen,
den bürgerlichen, den modern-socialen und modern-romantischen. Dort war nach Carstens antikisirender
Vorläuferschaft die mönchische Strenge das Zeichen der nazarenischen Kunstrichtung, die bedeutsam
genug von deutschen Künstlern wie Cornelius, Overbeck, Führich, Veit in einem alten italienischen
Kloster begonnen ward. Rethel, Kaulbach, Bendemann, Genelli, Feuerbach sind ihre weiteren
Vertreter. In der Litteratur gab das ganz klassisch gewordene Weimar den Ton an, gegen dessen
Macht die romantischen Dichter schwer ankämpften und der zügellose Individualist Friedrich Schlegel
mit seiner «Lucinde» nur ein litterarischer Sturm im Glase Wasser trotz der sonderbar uns an-
muthenden Knappenschaft des hofpriesterlichen Schleiermacher blieb. Der nationale Sinn erwachte
F. Klein - Chevalier. Studie zum Frescogemälde
im Düsseldorfer Rathaussaal
11*
84
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
glühend trotz 30 jähriger staatspolitischer Unterdrückung und Verfolgung, — er lenkte die durch
1 8 1 3 — 15 erfrischten Geister in das ideale Nirgendsheim der Antike und des christlichen Mittelalters, —
die nothwendige Resignation zog ein gewisses tragisches Märtyrerbewusstsein gross, eine spartanische
Gleichgiltigkeit gegen die Lebensfülle und den Genuss, ein Schicksalspathos der Wirklichkeit gegen¬
über, und das selbst in der Betrachtung der nächsten häuslichen Dinge. Ein würdevoller Patriarcha¬
lismus geht durch die Kunst von Cornelius bis Feuerbach und edle Menschen von fürchterlicher Ideal¬
vollkommenheit posiren in ihr neben den reinlich davon geschiedenen Bösen, — und von Cornelius
bis Feuerbach lässt sich derselbe Frauentypus deutlich verfolgen. Das bürgerliche Gretchen in des
Ersteren Faust, die fürstliche Brünhilde in seinen Nibelungen, die namenlosen Frauen in seinen Fresken
und Kartons bis zur Medea,
der Freundin des Alkibiades
im «Gastmahl» und dem
prachtvollen Bildniss der
römischen Schusterfrau des
Letzteren bei Schack sind
nur Wandlungen derselben
Form, die sehr wenig in¬
dividuell gefärbt bei allen
übrigen Darstellern dieser
Reihe wiederkehrt. Bei
Overbeck ist sie nur an-
muthiger, bei Rethel liebens¬
würdiger, bei Genelli nur
etwas ramponirter von dem
ins Gesicht geschriebenen
Lebensberuf als Opern¬
statistin. Schon das Er¬
scheinungsideal, oder wie
die Künstler sagen: das
Modell, ist auffällig genug und einheitlich. Frau und Jungfrau sind gross, breitschulterig, von einer
mässigen deutschen Fülle, als käme sie stracks aus dem germanischen Urwald herausgeschritten oder
stammte wenigstens in grader Finie von dort her. Ihre Gesichtsformen sind von phlegmatischer
Grösse, ohne Individualität, gleichmässig im Ausdruck und nur im Zorn gespannt: da aber scheint sie
in delphischen Worten selbst über die Köchin, die eine Suppe hat anbrennen lassen, alle Strafen des
christlichen Weltgerichts oder die Rache sämmtlicher Schwarzalben heraufzubeschwören. Sie bewegt
sich langsam, feierlich, mit geschlossenen oder versonnenen Augen, bei jedem Schritt des Helden¬
mutterberufs sich bewusst. Sie hat keine Familienmerkmale in Wuchs oder Physiognomie und einen
Stammnamen nur der Art, wie der Bauer sein Pferd « Liese » und der Handwerksmann seinen Pudel
F. Klein - Chevalier . Studie. Ostende
Peter Janssen pinx. Phot. P. Hanfstuengl, München
Der Schweizer Gebet bei Sempach. Privatbesitz
Peter Janssen pinx.
Mit Genehmigung der Photographischen Union München
Phot. F. Hanfstaeugl, München
Mönch Dodde und die bergisehen Bauern in der Sehlaeht bei Worringen.
Kunsthalle Düsseldorf
Morgendämmerung
t
DIE KUNST UNSERER ZEIT. '
85
«Karo» tauft. Sie arbeitet nicht; sie würde mit Helden¬
miene das Kochbuch um Rath fragen, wenn sie Kaffee
kochen sollte; ihr Spinnrocken ist eine Bühnendekoration
wie die stets allegorisch gruppirte Kinderschaar zu ihren
Füssen, und wenn sie das Jüngste scherzend aufhebt,
dann thut sie immer nur so, denn ihre herzkalte und
strenge Fugend schliesst jedes intim - zärtliche Band
zwischen ihr und ihren Kindern aus. Wenn sie den
Geliebten umarmt, dann wird höchstens ein markirter
Bühnenkuss daraus und selbst wenn sie mit dem Schein
leidenschaftlichen Abschieds Romeo eben vom Balkon
klettern lässt, dann sucht man immer nach einem dem
Liebhaber befreundeten Amateur - Photographen unten,
der den Vorgang festhalten will und von unten zuruft:
«So, bitte, einen Augenblick, meine Allergnädigste ! »
Diese mehr dem alten als dem neuen Testament ange-
hörige Patriarchenfrau und Mutter ist unnahbar, sie
coquettirt, redet, regt sich nicht, ist unbekannt mit den
Geheimnissen des Flirt und voll Verachtung gegen den
nächstniederen Stand, ein gefallenes Mädchen oder eine
Freundin, welche den grünen Salat statt mit dem süssen
Rahm mit Essig und Oel anmacht oder durch Chique sich
dem Vorwurf der Leichtfertigkeit aussetzt. Sie ist mit einem Wort die vornehme Herrin, wie die Phantasie
einer Stallmagd sich diese vorstellt, und sehr, sehr oft scheint
sie ein bischen arg beschränkt zu sein und ihr Schweigen
und ihre Hoheit vom Instinkt eingegebene Vorsichtsmassregel.
Das Frauenideal der Romantik, in der Schwind der
oberste ist, erscheint so sehr viel anders keineswegs. Die
grosse deutsche Gestalt kehrt auch hier wieder, aber sie
ist durchweg schlanker, feingliederiger, zarter und beweg¬
licher. An einer wahren inneren Frauenwürde im modernen
Sinn fehlt es auch hier, — das Weib ist auch hier dem
Künstler nur mehr ein passives Spielzeug, das die vom
Mann kategorisch vorgeschriebene Rolle zu spielen hat.
Aber es ist doch schon eine nicht unbedeutende Erhöhung
des Typus, ein Studiren, Schätzen, Sichweiden an lauter
gewinnenden Zügen der Weiblichkeit deutlich bemerkbar.
Diese Frauen sind menschlich, sie leben ein Gemüthieben
F. Klein - Chevalier. Studie. Ostende
F. Klein- Chevalier. Studie zu dem Bilde «Morgendämmerung
im Spielsaal von Ostende»
86
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
voll stiller Ahnung- und verschwiegener Sehnsucht, sie wissen viel-
leicht nicht sehr häufig mehr als über Spinnen, etwas Wirthschaft-
aufsicht und ein paar Märchen oder Ritterrornane hinausgeht, aber sie
haben die echte Herzensbildung-, welche sicher und ohne Verlegenheit
sich überall zu behaupten und dem sublimen Denker so gut wie
einem faden Rüpel zu imponiren versteht. Diese Herzensgrösse des
deutschen Weibes, diese bezaubernde Monumentalität des Gefühls¬
lebens, die der echteste Widerschein ' erwachenden Volkslebens um
die Mitte des Jahrhunderts ist, gelang nach meiner Ansicht Schwind
nie besser in der Darstellung als in seinem Schackgalleriebild von der
Rückkehr des Grafen von Gleichen. — Auch der einst alle Welt so
sieghaft blendende Makart ist Romantiker, aber ein Kosmopolit, der
nur die mit den verlangenden Sinnen betrachtende Frau der Spät¬
renaissance kennt, — jene Frau, die schon stark in die Derni-Monde-
Frau des zweiten französischen Kaiserreichs hinüberspielt ; — sein
Werk ist demnach lür die Kulturbetrachtung nur episodisch interessant,
aber ohne ernsten Werth. — Und auch Böcklin ist Romantiker.
Aber er ist Romantiker der vorgeschichtlichen Antike und schildert
das schrankenlose Gefühlsleben kulturloser Gestalten. Seine Meer¬
frauen, Panisken, Heroinen existiren nicht für sich, sondern sind
Allegorieen der ungebrochenen, unendlich fruchtbaren, brütenden Naturkraft, — sie gehören der
Grundauffassung nach viel mehr der Gegenwart als der romantischen Periode an, weil sie das Natur¬
recht vertreten, um welches die Frauen der Gegenwart zu kämpfen begonnen haben.
Ist die Frau in der mit dem Schwergewicht vor 1848 fallenden Kunst unseres Jahrhunderts
wesentlich ein abstrakter Begriff von der repräsentirenden altgermanischen und frühmittelalterlichen
Herrin des Hauses, der gebietenden «Frouwe», so kommt mit dem erstarkenden Bürgerthum im
dritten Viertel unseres Jahrhunderts die vornehme Hausfrau, mehr noch die bürgerliche Hausmutter,
mater familias, zur Geltung. An die Stelle einer nie gewesenen Idealwelt, für die der praktisch
thätige Bürger niemals viel übrig hat, treten Bilder des Alltagslebens und der Alltagsstimmungen,
und wie die Kunst vorher eine Kunst wesentlich für den akademisch Gebildeten war, so wird sie
jetzt eine solche für den dritten Stand. Die Anekdote und das Sittenstück verdrängen die historische
und religiöse Allegorie, den romantischen Traum, und Menzel, Knaus, Defregger heissen nun
die führenden Namen. Es erscheint die an Körper und Seele gesunde, herz- und gemüthwarme
Bürger- und Bauerfrau und knospende Mädchenblüthe voll Kraft und Uebermuth, deren Tugend und
deren treustiller Sinn ohne Pathos und Herbigkeit, etwas ganz Selbstverständliches ist. Die Häus¬
lichkeit, die kleine Alltagssorge, das sonnige Familienglück oder das darauf Bezug habende Leiden,
die rührende Liebe zu Mann und Kindern zeigen den Frauentypus jetzt in der ganzen Vielgestaltigkeit
F. Klein - Chevalier. Studie
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
87
des Lebens, aber mit dem einen gemeinsamen Grundzuge der liebenswerthen deutschen Fraulichkeit,
die in allen Tonarten bei diesen Künstlern und ihren Zeitgenossen wiederkehrt. Diese Frau ist so
wenig geistig veranlagt wie die vorige, — sie hat aber nicht deren Stil; und sie hängt im Gegensatz
zu jener am Nächsten, das ihr Tag aus Tag ein zahllose kleine Freuden darüber bietet, dass dem
Mann die Suppe schmeckt, die Kinder eine gute Nummer in der Schularbeit nach Hause bringen,
sich nicht schmutzig machen und sie ein besseres Kleid trägt als die Nachbarin oder als Mädchen den
hübschesten Tänzer
am Sonntag Nach-
mittag findet; sie
ist handfest, gut¬
artig, mitleidig, von
einer gesunden Sen¬
timentalität der ner¬
venlosen Kraft und
geht in ihrem Häus¬
lichkeitskreise bis
zur Bewusstlosigkeit
auf ; ob Schiller ein
Dichter war oder
der wievielte seines
Namens ihr Landes¬
herr ist, weiss sie
indessen sehr selten
sicher, wie sie ihr
engeres Vaterland
nahezu niemals auf
einer Landkarte fin¬
det , trotzdem sie
dazu unter grossen
Vorbereitungen eine
Riesenbrille aufsetzt.
F. Klein - Chevalier. Studie
Nur Menzel fällt als
Haupt dieser lebens¬
freudigen Realisten¬
gruppe mit den ani¬
malischen Kunst¬
instinkten in der
Frauenauffassung
wenigstens eines
charakteristischen
Theils von seinem
Schaffen heraus. Im
Sinne scharferWirk-
lichkeitskritik mo¬
dern weit vor der
Gegenwart und mit¬
ten unter schwär¬
menden Romanti¬
kern hat er die
grosse W eltdame
gebildet, — die Frau
von hoher Bildung,
raffinirtem Schön¬
heitssinn , der im
Gebiet der Kosme¬
tik zu Hause ist, —
bei der der Verstand das Uebergewicht hat. Diese vornehme Frau der Menzel’schen Auffassung ist
mit einer leisen, an Schopenhauer gemahnenden Boshaftigkeit gesehen; sie ist international wie die
sich in Jahrzehnten nur wenig verändernde Gesellschaft, der sie angehört, — sie spielt, intriguirt,
coquettirt, — man erlauscht geistesgegenwärtige, verschlagene, sinnenheisse Züge, während die Herz¬
kraft von einem übermässig bewegten Gehirnleben aufgebraucht wird, — sie wahrt den Schein, denkt
und handelt frei, — sie erlebt Romane und spielt die ernstesten diplomatischen Rollen auf den Wegen
der Politik ganz ungesehen. Wenn sie jung ist, amüsirt sie sich kostbar in den verführerischen
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
F. Klein- Chevalier. Studie. Ostende
Wogen der grossen europä¬
ischen Welt und heirathet mit
19 Jahren einen steinreichen
Graukopf, vorausgesetzt, dass
sie hübsch und klug ist, — und
ist sie alt, dann bereut sie mit
pietistischem Augenaufschlag
ihre Sünden, die mehr Thor-
heit als Vergehen waren, stiftet
Ehen und strickt Wolljäckchen
für afrikanische Mohrenkinder.
Dieser hauptsächlich in Menzel’s
Hof- und Staatsaktionsbildern
vorhandene Frauentypus ge¬
hört in demselben Geiste wie der
Böcklinische , dessen unmittel¬
barer Kontrast er ist, schon
stark der Gegenwart an. Wie
jener das mächtige Naturrecht
des weiblichen Menschen mit
Prophetenwucht predigt, packt
dieser durch die Kritik, vor der
die Frau als höchstes Erzeug¬
nis individueller Standesent-
wi
ickelung, als gesellschaftliches Kunstwerk gleichsam in gewordener Stellung und Wesensbildung erscheint.
Moderne Probleme der Arbeiterfrage in Verbindung mit der wirthschaftlichen Frage der Frau
haben seitdem einer junganringenden Kunst die Physiognomie aufgedrückt. Nervöser, empfängniss-
voller, entwickelungsbedürftiger ist die Zeit geworden, ihr Athemzug hastiger, brennender ihr Puls und
greller ihre Kontraste. Der Erwerb und freiheitlicher Sinn haben unter der Wirkung besonderer
Umstände die Frauenfrage zu einer dringenden und heftig umkämpften gemacht. Kein Wunder, dass
in Hinsicht auf tiefe Schattenseiten der Gegenwart heissen Gemüthern in der Kunst jedes Wiegen im
schönen Schein des Nirgendsheim als ein verruchter Optimismus erscheint, sie dem nach Brot brüllenden
Volk nicht beschwichtigende Spiele reichen wollen und die Kunst zur Propaganda für die sittliche
Nothwendigkeit benützen, um die Augen der oberen Welt auf gewisse Zustände zu lenken. Grosse
Gebiete der neuen Fitteratur wie Kunst beschäftigen sich mit der Frau, die niemals in gleicher Weise
im Vordergrund stand, und man kann hier die seltsamsten Entdeckungen machen, zieht man die vor¬
hergehenden Perioden zum Vergleich heran. Z. B. dass die Frau ein ganz eigenthümliches Seelen-
Copyright 1898 by Frau* Hanfstacngl
Lebende Brücke (Aus dem Kaukasischen Krieg
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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leben hat und dass sie eine Form des Leidens wie der Leidensfähigkeit offenbart, die weitaus von
denen des Mannes verschieden sind. Um die Sache mit dem nüchternen Namen zu nennen : Die
junge Kunst hat das Menschenthum der Frau, nachdem sie lange nicht mehr wie eine Bühnenfigur,
eine Puppe oder eine stilisirte Magd in der Auffassung der Männer gewesen ist, künstlerisch entdeckt,
zum Thema gemacht, und beutet es aus. Die Kunst spiegelt hier nur wieder, was in aller Munde ist,
und wenn man näher zuschaut, ist diese Auffassung viel weniger von socialer Tendenz als sie scheint,
sondern sie ruht viel mehr im künstlerischen Bedürfniss einer nach unmittelbarem Leben durstenden
Zeit. So hat Liebermann in einem erheblichen Theil seines Werks die Arbeiter- und I aglöhner-
Frau seiner Künstlerart entsprechend im allgemeinen Standestypus, mit ihrer unsympathischen aber
naturechten Hässlichkeit und mit den kleinseligen Zügen der niedersten Lebenssphäre als das früh
gealterte und missbrauchte Lastthier allerdings sehr einseitig, vertieft
des Mannes geschildert. und um ihn die Gloriole
Durch Uhde ist die- der treuen Gefährtin
ser Typus zum und ^er ^ut^er
seelischen 7*V gewebt. Er
Leiden, Ar <■. cde
F. Klein- Chevalier. Kuppelgemälde in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
Keuschheit, die treue Pflicht, die Arbeitsfreude der unverdorbenen Töchter und Frauen der ländlichen
und landstädtischen Armuth geadelt, indem er sie neben einen Heiland von gleicher Herstammung als
Handelnde erscheinen lässt. Sein Frauentypus ist im Gegensatz zu dem immer zierlicher und elfen-
hafter werdenden der Bürgerklassen stark und ausgearbeitet von mühseliger Qual. Die unschönen
Züge sind plump, verquollen, — sie sind leidensvoll und verhärmt von der Sorge ums tägliche Brot,
und eine müde Entsagung, die fast Hoffnungslosigkeit ist, liegt darin. Schwerfällig ist der Gang,
scheu, ohne Herrschaft über die Glieder, und wo sie geht, stiebt aus den zerschlissenen Kleidern
dieses armselig- bejammernswerthen Geschöpfs eine Wolke von Armeleutgeruch. Sie ist bei einer
zur maschinenmässigen Gewohnheit gewordenen Arbeit begriffen oder in dumpfer Ruhe, die nur eine
Poesie kennt: die Predigt am Sonntag Nachmittag, — und nur ein grosses Glück: das werdende
1 12
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
oder eben vorhandene erste Mutterglück. Das erste, — denn beim zweiten ist dies Weib schon zu
sehr verstumpft, um es noch mächtig empfinden zu können. Uhde hat in seinem «Schweren Gang»
hier sogar das Aeusserste gewagt, was die bildende Kunst wagen darf, aber die keusche Auffassung
darin stempelt die künstlerisch bedeutende Darstellung dieses Werks zur Eroberung eines neuen
Gebiets, zu einer zweifellos ernsthaften Vertiefung des Frauentypus in der modernen Kunst. — Auch
in dem unendlich vielgestaltigen Werk von Max Klinger spielt die Frau eine erhebliche Rolle, —
hier spiegelt sich zugleich in den Hauptcyclen von des Künstlers mittlerer Periode ihr sociales Milieu
und die Furchtbarkeit ihrer dem Zufall preisgegebenen Existenz, die in diesen Bildungen meist vor
dem Abschlussdrama
steht, auf breiterer
Grundlage. Er hat
selbst in den hier ge¬
meinten , von einem
vollkommen reifen
Realismus erfüllten
Radirungen kein be¬
stimmt festgelegtes
Modell und kein fest
begrenztes Thema wie
die Vorgänger, aber
man kann doch einen
wiederkehrenden
Typus beobachten.
Da ist eine starkge-
baute, mittelgrosse,
herbe und unschöne,
aber mit einem ge¬
wissen Geschmack ge-
kleidete Frauengestalt
modernen Gesellschaft heraus. Klinger’s aus dem Kampf der Zeit geschöpfter Typus, der fast immer in
einem Drama, fast nie im trüben Sonnenlicht eines hoffnungsvollen Augenblicks erscheint, ist ein
fürchterlicher Zeuge von Nachtseiten der Gegenwart, gegen welche die wirkliche oder sogenannte
Arbeiternoth eine Bagatelle ist. — Was Menzel unter den Berliner, Düsseldorfer, Münchner Realisten
ist, nämlich der genialste Darsteller der Frau als feinste Blüthe der zeitgenössischen Gesellschaft
vor und um 1870, das ist schliesslich Skarbina für die unmittelbare Gegenwart. Er schildert mit
berückender Kunst die feingebildete, vornehme, hochsensible, schlanke, zierliche und anmuthige Frau
der bürgerlichen Elite in ihrer eigenthümlichsten Sphäre. Dieses duftigzarte, oft ganz Kunst scheinende
Geschöpfchen, das unter grellem Tageslicht physisch leidet und matt ist, in der Dämmerung und
■
■S ' J -iC
F. Klein - Chevalier. Studie zu Nero aus dem Gemälde < Agrippina :
von wilder oder ge¬
presster Entschlossen¬
heit: die verzweifelt
mit dem Schicksal um
ein ehrliches Sein
ringende halbgebildete
Arbeiterin, Näherin,
Fadenmamsell, — die
an einen Säufer ver-
heirathete Frau, —
jene mit gebundenen
Händen dem Zufall
überlieferte Tochter
der kleinen Mittel¬
stände, die statt Er¬
füllung der Sehnsucht
nach oben oder nach
Glück so oft Schande
und Elend findet, aber
beinahe nie eine hilf¬
reiche Hand aus der
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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F. Klein- Chevalier . Skizze zu dem Bilde: Wiederankunft des durch Napoleon vertriebenen Casseler Kurfürsten Wilhelm
bei Nacht aber mit grossen Augen der Verwunderung wach wird, wandelt bei ihm durch dunkelnde
Strassen voll raunender Winter- oder Frühjahrsstimmung oder im Baumschatten an sonnigem Tag
mit dem Lächeln eines zufriedenen Kindes. Oder es sitzt bei hörbarer Stille im dämmerigen und
hinter dichten Vorhängen von gedämpftem Sonnenflimmern erfüllten Gemach, liest, grübelt, träumt über
einem Buch und belauscht in nervöser Bangigkeit oder mit wohliger Lust die Stimmen um sich und in
ihrer Seele. Es ist ein ganz bestimmter Typus, der nicht Hausfrau, nicht Mutter, nicht Gattin in erster
Linie ist, der nicht arbeitet, sich auch nicht geräuschvoll vergnügt; in der einzigen Sorge um gute
Laune fliesst sein Leben traumhaft in einem feinen Parfüm von lauter dämmerigen Stimmungen dahin,
die sich zum berückenden Kunstwerk gestalten. —
12*
F. Klein-Chevalier
VON
HEINRICH ROTTENBURG
Die Düsseldorfer Künstlergemeinde hat sich an den Kämpfen und Stürmen, welche das letzte
Jahrzehnt dem deutschen Kunstleben brachte, nie mit lautem Lärmen betheiligt, wenn auch der Gegen¬
satz zwischen Alt und Jung, zwischen Fortschritt und Reaktion, hier so gut seinen Ausdruck fand,
wie anderswo. Aber die Kunst in Düsseldorf, die weder durch die verwirrende Erscheinungsfülle
grosser internationaler Ausstellungen, noch durch übermässigen Zuzug fremder Elemente in ähnlicher
Weise beunruhigt und in Athem gehalten wird, wie etwa in Paris oder in München, hat sich in
stillerer und stetiger Entwicklung immer ihren vornehmen Rang gewahrt und gleichzeitig sind ihr, wie
die moderne Künstlergruppe dort beweist, alle die positiven Errungenschaften jener Kämpfe und Stürme
zu Gute gekommen, ohne dass sie unter den dazugehörigen Irrungen und Wirrungen schwer gelitten
hätte. So hat die alte rheinische Kunststadt zwar nicht viele von jenen Namen vorzuweisen, die zu
Schlagwörtern und Schlachtrufen im Kampf um neue Ideale der Malerei geworden sind, aber sie hat
einen strammen Heerbann trefflicher, ernsthafter und an sicherem Können reicher Künstler aufzubieten,
an deren Bedeutung auch das parteiischste Urtheil nicht rütteln kann. So oft wir in den letzten
Jahren Gelegenheit hatten, in Münchener Ausstellungen die «Düsseldorfer» collectiv beisammen zu
sehen, hatten wir auch Gelegenheit, uns über die grosse Zahl hervorragender Kräfte zu wundern,
welche die verhältnissmässig doch kleine Stadt aufzuweisen hat: Da sind die beiden Achenbach, Peter
und Gerhard Janssen, Rocholl, Hans Bachmann, Walter Petersen, Alexander Frenz, Jul. Bretz, A. Dirks,
Anton Henke, Olaf Jernberg, Herman Huisken, H. Hermanns, G. Macco, F. v. Wille u. s. w. u. s. f.
Jede «Richtung», jede «Gruppe» hat glänzende Vertretung dort und es ist immerhin von sympto¬
matischer Bedeutung, dass in Düsseldorf zugleich der berühmteste Landschaftsmaler der alten Schule,
Andreas Achenbach, und einer der kraftvollsten, markigsten der modernsten Richtung wohnt, Olaf
Jernberg. So hat die intime Genremalerei ebenso tüchtige Vertreter dort, wie das «Freilicht» und
die neuzeitlichen dekorativen Bestrebungen und die in den letzten Jahren so gewaltig zur Blüthe ge¬
kommene Schwarzweiss-Kunst. Welchen günstigen Boden solche Verhältnisse für die Weiterbildung
eines jungen, gesunden Talentes bilden, lässt sich am Werdegang so manchen Düsseldorfer Künstlers
mit erfreulichem Ergebnisse verfolgen, namentlich auch an dem des Malers Klein - Chevalier , von
dessen Schaffen hier kurz die Rede sein, von dessen Werken einiges besonders Charakteristische
wiedergegeben werden soll.
Die Lebensgeschichte des trefflichen Genre- und Historienmalers ist weder besonders romantisch
noch sehr ungewöhnlich und nur das Eine ist besonders hervorzuheben, dass Klein-Chevalier die Lauf-
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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bahn eines Künstlers gegen den Willen der Seinigen einzuschlagen den Muth hatte. Er wurde vor
35 Jahren zu Düsseldorf geboren und von seiner Familie zum Offizier bestimmt. Aber der Beruf zum
Maler siegte in ihm und er besuchte die Düsseldorfer Akademie, wo er bei Professor Peter Janssen
und dem Architekten Adolf Schill in die Schule ging und sich den stattlichen Schatz von Können
aneignete, den wir aus allen seinen Bildern erkennen. Seinem Meister Peter Janssen war erst das
jüngste Heft dieser Zeitschrift gewidmet, so dass es nicht nöthig ist, auf diesen Künstler und seine
Bedeutung hier näher einzugehen.
Der junge Maler hatte sich bald schöner Erfolge zu freuen. So ging er aus einer Concurrenz
für den Vorhang des Crefelder Theaters als Sieger hervor, desgleichen aus einem anderen Wett¬
bewerbe für ein Frescogemälde im Rathhaussaale zu München -Gladbach, darstellend die Einweihung
des Niederwald - Denkmals. Das letztere, figuren reiche Gemälde hält sich bei aller überzeugenden
Sachlichkeit der Darstellung auf’s Glücklichste frei von jenem conventioneilen Repräsentationsstil, der
leider für so viele von den an Deutschlands grösste Zeit gemahnenden historischen Werken charak¬
teristisch ist. Der Schwierigkeit, eine modern gekleidete Menschenmasse im Augenblick einer offiziellen
Festlichkeit ohne Steifheit und Convention darzustellen, ist Klein-Chevalier durch das erfolgreiche Be¬
streben begegnet, jede einzelne Figur zu individualisiren und in jeder dieser Gestalten die ganze
Begeisterung des historischen Augenblickes erkennen zu lassen. Vom Denkmal selbst sehen wir nur
den vorderen Theil des massigen Sockels. Rechts im Vordergründe die Figur des greisen Helden¬
kaisers Wilhelm I., entblössten Haupts, den Helm in der Linken, in der Rechten einen Lorbeerkranz.
Neben dem Kaiser der Kronprinz, der nachmalige Kaiser Friedrich, und hinter den Beiden eine Schaar
von Fürstlichkeiten, Militärs und Staatsmännern; auch Moltke’s kluger Kopf ist zu erkennen. Im
Gegensätze zu diesen, mit friedlicherem Ausdrucke dargestellten Herrschaften sehen wir im Vorder¬
gründe bewegtere Gruppen begeisterter Festtheilnehmer und Zuschauer — auch diese sind sicherlich
zum grössten Theile Portraits. Es ist unschwer zu erkennen, dass eben ein stürmischer Hochruf die
Versammlung durchbraust. Hüte und Helme, Schläger und Fahnen werden geschwungen, ein Paar
Riesen von der Garde in den bekannten Blechmützen senken feierlich ihre Feldzeichen, und das minder
offizielle Publikum, das sich die Treppen heraufkämpft, stimmt mit wildem, ehrlichem Jubel ein in
den Festruf. Und unten fliesst der Rheinstrom, belebt von einer Dampferflottille, majestätisch dahin.
Die Ausführung dekorativer Darstellungen grossen Stils, welche dem Künstler stets die grösste
Freude bereiteten, wurde ihm für das Hotel zum Löwen in Düsseldorf übertragen. Dann malte er
— abermals als Gewinner einer Concurrenz — einen Theatervorhang für Essen, eine Arbeit, die
Klein-Chevalier auch heute noch hohe Befriedigung gewährt; ferner gewann er den ehrenvollen Wett¬
bewerb um Ausführung der Freskogemälde im Rathhaussaale zu Düsseldorf, welche er im vorigen Jahre
vollendete. Mit der Darstellung: «Jan Willem werden die Baupläne für das churfürstliche Schloss vorgelegt »,
hat der Künstler vielleicht sein bestes Werk geschaffen. Wenigstens hält er selbst diese Arbeit dafür.
Eine weitere Auszeichnung erfuhr unser junger Meister durch den Auftrag des preussischen
Cultusministeriums, den Sitzungssaal des Bergamtes Halle a. S. mit allegorischen Darstellungen über
den Bergbau zu schmücken. In weiteren Kreisen bekannt und eine gewaltige, Achtung gebietende
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Leistung, durch Schwierigkeit und Umfang der Arbeit, waren die Kuppel- und Glasgemälde der
Berliner Gewerbeausstellung 1896. Wenn man bedenkt, dass die Figuren die ungeheuerliche Grösse
von 7 1/-2 — 8 Metern hatten — ein Format, das den berühmten Evangelistenfiguren in der Peters¬
kuppel zu Rom nicht allzusehr nachsteht — so kann man sich einen Begriff davon machen, wie
schwierig' es war, diese Riesengestalten in Form und Malerei zusammenzuhalten und wirksam zu machen.
In Cassel gewann Klein -Chevalier eine Concurrenz der sogenannten Wimmelstiftung. Das
Sujet war: «Die Wiedereinbringung des Churfürsten Wilhelm in Cassel nach dessen Vertreibung
durch Jerome.» Wir sehen den von Reitern eskortirten Wagen des Churfürsten, den ein Gespann von
Bürgern zieht, die ihm die Pferde ausgespannt haben. Am Portal einer Kirche begrüsst die Geist¬
lichkeit den zurückkehrenden Landesvater.
Ein einjähriger Aufenthalt des Malers in Rom zeitigte, dem genius loci entsprechend, ein
anderes Werk, das auch in München auf einer Ausstellung zu sehen war und die verdiente Aner¬
kennung fand: «Tod der Agrippina, der Mutter Nero’s». Neuesten Datums ist der hier als Vollbild
wiedergegebene «Spielsaal in Ostende». Als Klein - Chevalier im vorigen Jahre das flämische
Luxusbad besuchte, interessirte ihn das Leben in der Spielhölle dort so sehr, dass er beschloss, es
im Bilde festzuhalten. Auch in der Behandlung dieses oft und meist mit einem grossen Aufwand
theatralischer Effecte gemalten Vorwurfs erhebt sich unser Künstler weit über das Conventionelle.
Nur wenige Figuren sprechen von der Tragik, die das Laster der Spielwuth im Gefolge hat, so ein
im Hintergründe nach rechts sich entfernendes Paar, ein Mann, der mit krampfhaft verschlungenen
Händen und gesenktem Haupte am Tische sitzt. Die Anderen bewahren äusserlich die kühle Ruhe
des Wohlerzogenen und folgen dem Fortgang des Spieles mit der Aufmerksamkeit, mit der man
etwa die Handlung auf einer Bühne betrachtet. Das Ganze, im Ton prächtig zusammengehalten,
wirkt vornehm und überzeugend wahr. Die Typen sind, weit entfernt irgendwie outrirt zu erscheinen,
eminent beobachtet.
Klein -Chevalier arbeitet zur Zeit an einem grösseren Werke: «Besuch Kaiser Wilhelm II. mit
o
Krupp im Stadtverordnetencollegium zu Essen» — bekanntlich hat Se. Maj. der Kaiser diese Körper¬
schaft damals durch seinen unerwarteten Besuch überrascht. Ausserdem hat der Maler zwischen den
aufgezählten grösseren Schöpfungen eine Reihe kleinerer Genrebilder und Portraits fertiggestellt,
und sich namentlich als Portraitist weiblicher Schönheiten einen begründeten Ruf erworben. Wie er
selbst erklärt, sind ihm freilich monumentale Aufgaben, in denen er Architektur mit ornamentalem
Schmuck u. s. w. vereinigen kann, die Liebsten und er hat das seltene Glück, sich diesen Lieblings¬
aufgaben verhältnissmässig häufig gegenübergestellt zu sehen. Bleibt ihm dies Glück hold, so wird
Klein-Chevalier in nicht ferner Zeit einer der gekanntesten und geschätztesten Meister der dekorativen
Kunst in Deutschland sein. Er hat das Können dazu und die schöpferische Kraft, den grossen Zug
für das Monumentale und jenes reine, begeisterte Künstlerthum, ohne das es keine Bewältigung
grossartiger Aufgaben gibt.
A. v. Liezen-Mayer t
VON
H. R.
"Wahrend der letzten Münchener Carnevalstage, am 19. Februar dieses Jahres, wurden die der
Kunst nahestehenden Kreise durch die Nachricht vom Tode des Malers Professor A. v. Liezen-Mayer
in tiefe Trauer versetzt. Der Tod dieses Künstlers bedeutet einen Markstein in der Geschichte der
deutschen Malerei: mit ihm stirbt eigentlich die Pilotyschule aus. Er war ihr typischster Vertreter,
so sehr im Geiste seines einstigen Meisters aufgegangen, dass auch noch seine spätesten Werke den
unverwischten Stempel jener Schule tragen.
Alexander von Liezen-Mayer war ein Ungar, am 24. Januar 1839 zu Raab geboren. Er wandte
sich früh schon dem Berufe eines Malers zu, begann 1856 seine Studien zunächst an der Wiener
Akademie und trat bereits anderthalb Jahre später an die Münchener Künstlerhochschule über. Hier
«genoss» er zunächst unter Hiltensperger die Segnungen des Antikensaales, kam dann zu Anschütz
in die Malschule und 1862 in Piloty’s Meisteratelier selbst. Direkt unter Piloty’s Leitung malte er
sein erstes grösseres Werk: «Die Königin Maria von Ungarn mit ihrer Mutter Elisabeth am Grabe
Ludwigs des Grossen im Jahre 1385», eine Arbeit, die, trotzdem sie eine treffliche Talentprobe war,
noch nicht besonderes Aufsehen erregte. Nicht viel besser ging es seiner «Krönung Karls von Durazzo
im Dom zu Stuhlweissenburg» , die ebenfalls 1862 fertig wurde und seiner «Heiligsprechung der
Elisabeth von Thüringen», die in den Besitz eines Birminghamer Sammlers überging und ihm den
ersten Preis einer akademischen Concurrenz einbrachte. Seinen ersten grossen Erfolg brachte das Jahr
1867 mit dem Bilde: «Maria Theresia legt im Garten zu Schönbrunn das Kind einer armen Bettlerin
an ihre Brust». Hier vereinigt sich Alles, glänzende Farbe, prächtige Composition und tiefer,
seelischer Ausdruck zu einem Ganzen von hinreissender Wirkung. Wir sehen die majestätische
Gestalt der schönen Kaiserin auf die Stufen einer Steinbank hingekauert ; sie reicht dem winzigen
Wesen, dessen Mutter ermattet in einer Ecke der Marmorbank schlummert, die Brust. Im Hinter¬
gründe trägt die Kindsfrau in reichem Tragkissen eben das Kind der Kaiserin selbst heran. Das
Bild, von dem Schultheiss einen wohlgelungenen Stich gefertigt, fand allseitigen Beifall und begründete
mit einem Schlag den Ruhm des jungen ungarischen Malers. Durch eine Reihe vorzüglicher Bildnisse,
u. A. das seines Landsmannes, Freundes und Collegen, des Malers Alexander Wagner, hatte er sich
übrigens ebenfalls schon Beifall und Anerkennung erobert.
Eine Arbeit Liezen-Mayer’s, als deren Urheber der Künstler seltsamer Weise wenig bekannt
war, ist der Vorhang, den er für das Theater am Gärtnerplatz, das damalige Aktien- Theater malte.
Er zeigt uns in schwungvoller, prachtvoller Composition Allegorien der Theaterkünste, die Tragödie,
den Humor u. s. w. Der Vorhang, den Alexander Liezen-Mayer 1897 für das Hoftheater zu Hannover
im Aufträge des Kaisers malte, und der ihm noch auf seinem letzten Krankenlager eine Ordens-
Auszeichnung eintrug, behandelt ein sehr ähnliches Motiv.
Im Jahr 1867 trat Liezen-Mayer aus der Münchener Akademie aus, um als Bildnissmaler und
Illustrator thätig zu sein. Zunächst waren es die Gestalten von Goethe’s «Faust», die den Stift des
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
begeisterten jungen Malers fesselten, und es entstand jener Cyklus von 50 Illustrationen, der den
Namen Liezen-Mayer in alle Welttheile trug, ein Prachtwerk, das in den verschiedensten Sprachen und
Ausgaben erschien, in Stichen und photographischen Nachbildungen. Es zählt den Besten der zahl¬
losen Faust-Cyklen bei und — trotzdem es von der Hand eines Ungarn stammt — den «Deutschesten».
Der Maler 'ist mit tiefem Verständniss und gemüthvoller Innigkeit in den Geist der Dichtung einge¬
drungen. Auch einige seiner Oelgemälde entnahmen ihre Stoffe dem Faust’schen Gestaltenkreis: «Martha
Schwerdtlein und Gretchen», «Die Gartenszene» u. s. w. Ein nicht minder grossartig angelegtes
Werk als der Faust-Cyklus ist die aus etlichen 30 Blättern bestehende Bilderreihe, welche Liezen-Mayer
zu Schillers «Lied von der Glocke» gezeichnet hat und des gleichen Dichters «Maria Stuart» schmückte
er ebenfalls mit Illustrationen. Im Jahre 1873 entstand ein grosses Oelbild «Elisabeth unterzeichnet
das Todesurtheil der Maria Stuart». Illustrationen zu Scheffels «Eckehardt» zu Shakespeare’s
«Cymbeline» und zu Freytag’schen Romanen gelangten ebenfalls in jener Zeit zur Vollendung.
Im Jahre 1870 begab sich Alexander von Liezen-Mayer zu einem zweijährigen Aufenthalt nach
Wien, wo ihn hauptsächlich Porträtaufträge festhielten. Er malte auch u. A. ein prächtiges Bildniss
des Kaisers Franz Joseph und mancherlei Personen der grossen Welt.
Dass es ihm an Auszeichnungen nicht fehlte, ist begreiflich. Man berief ihn 1880 als Direktor
an die eben neu eingerichtete Stuttgarter Kunstakademie und hier verbrachte er drei Jahre in reger,
erspriesslicher Thätigkeit, bis er, einem Rufe an der Münchener Akademie folgend, hier den Wirkungs¬
kreis fand, der ihm am Meisten zusagte. Was der Pinsel A. v. Liezen-Mayer’s seit jenen Jahren Alles
schuf, ist schwer in diesem knappen Rahmen aufzuzählen. Historische Stücke, kleinere Genrebilder,
Illustratives und Porträts folgten sich in reichem, bunten Wechsel. Wir nennen nur: «Der ersten
Liebe goldne Zeit», ein unter blühenden Büschen gelagertes bäuerliches Liebespaar, dem zu Häupten
ein Genius der Liebe und des Frühlings segnend vorüberschwebt; eine «Flucht nach Aegypten» (ge¬
malt 1887) von vollendet schöner, einfacher Composition; «Wozu die Blumen fragen, ob ich Dich
liebe?» — ein Liebespaar aus Goethe’scher Zeit in lichter Landschaft ; eine «Heilige Elisabeth», die
einer Bettlerin ihren Mantel reicht (1885); «Die Gratulanten», eine liebliche Familienscene aus dem
bayerischen Gebirg; «Bei der Toilette», « Am Brunnen », «Das Mädchen aus der Fremde», «Plauder¬
stündchen», «Erste Liebe» u. s. w. u. s f.
Zu A. v. Liezen-Mayer’s bekanntesten Historienbildern gehört unstreitig seine « Philippine Welser
vor Kaiser Ferdinand I.». Hierin kommt er seinem Meister Piloty am Nächsten. Den letzten grossen
Erfolg erzielte unser Künstler mit dem 1896 auf der Pester Millenniumsausstellung begeistert auf¬
genommenen und auch im folgenden Jahre in München ausgestellten Werke: «Die Erhebung des
Matthias Corvinus zum König von Ungarn».
A. v. Liezen-Mayer hat sich im Jahre 1872 mit einer jungen Amerikanerin verheirathet, mit
welcher er in der glücklichsten Ehe lebte. Ein interessanter Kreis intimer Freunde und vertrauter
Schüler umgab ihn und unverhüllter warmer Sonnenschein strahlte in sein Leben, seine Kunst stetig
reifend und jung erhaltend. In einem späteren Heft werden diese Blätter sein Wirken noch ein¬
gehender würdigen. Ein abgerundetes Künstlerleben, von Misstönen frei und an Erfolgen reich,
hat seinen Abschluss gefunden an dem Tage, da der Tod Alexander von Liezen-Mayer den Pinsel
aus der Hand nahm. Möge er von seinem arbeitsreichen Leben ausruhen in Frieden!
RELIGIÖSE KUNST
VON
WOLFGANG KIRCHBACH
or uns liegt ein Bildniss Christi
oder Jesu von Nazareth aus
dem Jahre 1 50 nach der Geburt
dieses grossen Religionsstifters. Man
hat es in den Katakomben von San
Calisto gefunden; 1632 hat Bosio
in seiner Roma sotteranea einen
Kupferstich darnach veröffentlicht,
den in diesem Werke u. A. auch
die Kgl. Hof- und Staatsbibliothek
in München und die Kgl. Bibliothek
in Berlin besitzt. Es ist wohl die
älteste Darstellung des Antlitzes
Jesu, die uns überhaupt erhalten ge¬
blieben ist. Und diese Darstellung
macht durchaus den Eindruck, als
ginge sie auf noch ältere Bildnisse
Jesu zurück, die im Stile der so¬
genannten Mumienportraits gehalten
Die erste Christusdarstellung in den Katakomben von San Calisto . ... r . .. .. .
gewesen sein durften und möglicher
Aus: Bosio. Roma sotteranea
Weise thatsächlich in ihrer letzten
Quelle nach der Natur von irgend einem syrischen oder griechischen Anhänger Jesu gemalt waren.
Denn wenn auch in Judäa selbst sich kaum Jemand gefunden haben dürfte, der ein solches Bildniss
des berühmten Meisters angefertigt hätte, so gab es um so mehr Griechen und freier gesinnte Syrier,
welche in der Weise der damals allgemein üblichen Ahnenbildnisse oder jener egyptischen Portraits,
die wir noch massenhaft auf den Mumien finden, die Züge des grossen Volkslehrers festhalten konnten.
Das Bedürfniss nach solchen Portraits war im Alterthum ganz allgemein, besonders zur Zeit Jesu.
Nicht nur Cäsarenbüsten und Kinderbüsten fertigte man an, sondern vor Allem auch gemalte Bild¬
nisse. In Rom, in Athen, in ganz Kleinasien und Egypten blühte neben der Portraitplastik auch eine
1 13
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
nach unserem Geschmack allerdings primitive Bildnissmalerei. Es wäre sehr verwunderlich gewesen,
sollte man in einer griechischen Stadt, wie Caesarea Philippi war, in der Jesus lehrend auftrat, nicht
das Bildniss der Rabbis festgehalten haben. Eine alte Sage berichtet, dass in dieser Stadt ein Erzbild
Jesu stand, welches eine Heidin errichtet haben sollte, die er vom Blutgang geheilt hatte.*) Es wurde
unter Julian zertrümmert. Jenes älteste Katakombenbild zeigt uns keinen leidenden Christus, sondern
einen Mann in der Vollkraft der Jahre. In der Stirnmitte gescheitelte, lange Lockenhaare fallen auf
die Schultern herab. Die Nase ist länglich und regelmässig, die Stirne oval abgeflacht wie an
griechischen Stirnbildungen, aber in den Schläfen ziemlich breit, individuell entwickelt, die Aucren
gross; regelmässig geformt die Augenbrauen. Der oval geführte Backenbart ist in der Kinnmitte
gespalten. Es war diese Barttracht sammt den gescheitelten langen Haaren die Tracht der vor¬
nehmen jüdischen Jünglinge, überhaupt auch der Rabbis, und schon dadurch trägt dieses alte
Katakombenbild das Gepräge der Echtheit. Die Kinnspalte im Barte Jesu und die langen Locken
haben sich daher auch bis heute durch alle religiöse Kunst erhalten, die sich innerhalb einer gewissen
Ueberlieferung bewegt hat. Auch ein frei herabhängender Schnurrbart charakterisirt das älteste Jesus¬
bild. Der Ausdruck des Gesichts ist mild und heiter zugleich. Ueber der linken Schulter liegt ein
Gewandstück, die rechte Schulter und Brust ist frei und zeigt einen breitbrüstigen Mann, der sich
frei und offen zu bewegen gewöhnt ist, wie etwa Michelangelo in seiner Jesusstatue auch einen solchen
breitbrüstigen Christus schuf. Schlank und wohlgenährt zugleich ist der Hals. Das Katakomben¬
bild macht einen durchaus individuellen Eindruck. Es ist wirklich ganz portraitartig, kein allgemeiner
Typus. Und eben dies lässt uns schliessen, dass es auf noch ältere Originalbilder des Mannes oder
irgend eines Mannes zurückgeht, den man für Jesus, den Sohn Josephs und der Maria, angesehen
hat. Von allen späteren Typen ist Tizian’s «Zinsgroschen» diesem ältesten Jesuskopfe am Nächsten
gekommen, nur dass er ihm jenen strengen, beinahe blasirten Ausdruck gegeben hat, jenen Aus¬
druck eines Mannes, der in scharfsinnigen, räthselhaften Gleichnissen spricht und gewöhnt ist, seine
Gegner zu vexiren. Der Jesus von 150 blickt freier und heiterer drein, er erinnert eher an den
Ausdruck eines alten Bildnisses von Shakespeare.
Sei dieser Jesuskopf aus den Calixtuskatakomben nun wirklich der Nachklang eines älteren,
authentischen Bildnisses oder nur eine Idealvorstellung, wie um 150 die Nazarener in Rom sich ihren
Jesus vorstellten, jedenfalls befinden wir uns vor einem der ältesten Anfänge christlich -religiöser
Kunst, ja, vielleicht vor ursprünglichen Anfängen derselben. Denn wenn wir im Folgenden einen
allgemeinen Ueberblick thun wollen auf die Entwicklung der christlich-religiösen Kunst und die Stadien
derselben, so müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese religiöse Kunst vor Allem der Darstellung
Jesu, seiner Leiden, seiner Familie, seiner Lebensgeschichte gewidmet ist und dass von diesem Mittel¬
punkte aus allmählig sich das Gebiet der religiösen Darstellung erweitert, indem man nach und
nach den Schöpfer und Gottvater selbst, den heiligen Geist, Engel und Teufel, jüngstes Gericht,
Sündenfall und Sintfluth, ja, auch sonst die alttestamentarischen jüdischen Schriften sich lebendig illustrirt.
') Vergl. hierzu: «Das Urbild Christi» von A. Matthes (1896).
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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In den Anfängen des Christenthums, wo es noch ganz in jungfräulicher Strenge vor Allem die
Verbreitung des jüdischen Monotheismus bedeutete, konnten seine Religionsgemeinden, die um das
mittelländische Meer herum sich verbreiteten, sicher noch an keine Darstellung Gottes selbst denken.
Das Mosaische Gebot «Du sollst dir kein Bildniss machen» wurde von Judäa aus mit übernommen.
Dass man nur den Einen unsichtbaren Gott anbetete, gegenüber den vielen sichtbaren Göttern, war
das Wesentliche. Schon zweihundert Jahre vor Jesus war von Jerusalem aus eine bewusste Organisation
und eine bewusste Propaganda für den Glauben an den einen Gott unter den Völkern eingeleitet
worden, mit ihm aber auch für das strenge den Weltprincip erhöht und zurechtgedacht
Gebot, dass man sich von diesem einen worden, ein Princip, das man in jenen älteren
Gotte des Monotheismus kein Bildniss Zeiten noch rein geistig und sozusagen
machen dürfe. Als durch das Auf- V.. philosophisch verstand. Aber in
tretenjesu und seinerNazarener-
schule ein tieferer sittlicher
Gehalt in diese Lehre
vom einen Urwesen
aller Dinge gekommen
und damit der Sieg
dieser edleren religiö¬
sen Vorstellungen ent¬
schieden war auch für
die Gebildeten des
Alterthums, musste die
Kunst sich zunächst der
Persönlichkeitjesu selbst
und seiner Schicksale
bemächtigen, wenn sie
überhaupt religiös wir¬
ken wollte. Durch Pau¬
lus und seine Schule
war Jesus sehr bald zum
Christus, zum erlösen-
Giotto di Bondone. Kreuzigung
Original in der kgl. Gemälde -Galerie zu Berlin
diesen Zeiten gab es noch nicht
eine wirkliche christlich¬
religiöse Kunst, sondern
die Kunst des römi¬
schen und griechischen
Alterthums wirkte noch
Jahrhunderte weiter,
nur dass sie immer mehr
der blossen Handwerks-
mässigkeit verfiel, bis
allmählig Technik und
Naturanschauung völlig
verloren gingen.
Jenes älteste Bildniss
Jesu gehört noch ganz
der besseren Kunst¬
weise des Alterthums
selbst an. Die ersten
Keime christlich-religiö¬
ser Kunst tragen noch
die freien Züge einer geübten, natürlich beobachtenden Kunstweise und wirken, so weit man über¬
haupt Gegenstände des neuen Glaubens an den einen Gott darstellen durfte 'und mochte, mit den
Mitteln der um das ganze Mittelmeer verbreiteten Technik der römisch-griechisch- egyptischen Cultur-
periode. Zu einer in sich geschlossenen religiösen Kunst als solcher sehen wir es indessen nicht
kommen. Das älteste Christenthum wirkte nicht kunstbildend, konnte es nicht thun, denn es war,
gegenüber dem götterbildenden Heidenthum, die Begründung einer religiösen Abstraction, einer über¬
sinnlichen Vereinfachung der Begriffe. Was in diesen ältesten Zeiten wie religiöse Kunst aussieht, sind
13*
100
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ohnmächtige Versuche des absterbenden antiken Kunsttriebes, den neuen Begriffen eines alleinigen
Gottes, einer erlösenden Person, gerecht zu werden. Eine Legende, eine Lebensgeschichte Jesu und
der Heiligen, war kaum im Keime vorhanden; sie musste erst selbst gebildet werden. In den
Schriften des Paulus, die zu den ältesten Urkunden der neuen Religion gehören, gibt es nur Begriffe,
dogmatische Abstractionen ; die Worte Jesu selbst, die so reich an Anschauung sind, die Gleichnisse,
welche nachmals der Malerei so viel Gelegenheit zur Illustration boten, waren viel weniger bekannt,
obwohl Matthäus selbst diese schönen Lehren aufgezeichnet hatte. Sie blieben auf einen engeren,
höher gebildeten Kreis beschränkt, während das Propagandawort vom gekreuzigten Lamm Gottes
zugleich mit dem Glauben an den einen Gott zunächst popularisirend voranlief. Nachrichten vom
geschichtlichen Lebenslauf Jesu gingen wohl mit um ; aber die ältesten Evangelien, wie das syrische
Evangelium, wussten nur, dass Jesus der eheliche Sohn Josephs und der Maria war. Noch gab es
keine Jungfrau Maria ; noch dichtete Volksgeist und Dogma an diesen neuen Vorstellungen, bis spätere
Evangelien, wie Lukas, allmählig den Schatz dieser Volkssagen und Ausdeutungen alttestamentarischer
Dichterworte zu neuen Kundgebungen sammelten. Und nun begann die weitere Legendenbildung.
Als aber dieser Process bis zu einem gewissen Grade poetisch-religiös vollendet war, da war auch
die bildende Kraft der alten Künstlervölker erloschen. Es folgt eine tausendjährige Nacht, wo es
keine religiöse Kunst gab, sondern nur ein plumperes und feineres Mosaikhandwerk nach den mechanischen
Traditionen des byzantinischen Kunsthandwerks. Als solches hat dieses ja gewiss viel Interessantes
geleistet; die künstlerisch -geistige Ausbeute des ganzen Jahrtausends aber ist beinahe gleich Null;
wir sehen nur, dass die conventionelle, allegoristische Darstellung von dogmatischen Vorstellungen der
triumphirenden Kirche die Hauptsache war. In Miniaturen, Büchermalereien finden wir wohl mancherlei
schönen und versteckten Kunsttrieb, aber die menschliche Gestalt, der dargestellte Vorgang bleibt in
der Hauptsache ein Ornament mit allegorischen Beziehungen in verdorbenen Reminiscenzen antiker
Lormen. Nur als Ornament zur Andeutung der kirchlichen Dogmen durfte der menschliche Kunsttrieb
sich äussern ; im Uebrigen blieb er geknebelt, so weit er vorhanden war.
Dass er aber in der grossen Masse überhaupt noch nicht da war, dass nach dem sechsten Jahr¬
hundert allmählig auch die letzten Reste antiker Kunsttriebe, die schon seit 400 Jahren schematisirt
waren, erstarrten, dass sie völlig schwanden, — woran lag wohl das ?
Nun, halbwilde Horden von Germanen, Slaven, Tataren, welche die ewige Natur aus ihrem
Vorrath von ungemodelter Kraft nach Europa hineinschickte, hatten vom alten Grund und Boden
Besitz genommen, nicht nur im Norden, sondern auch an den Küsten des Mittelmeeres. Vandalen
hausten in Afrika, Gothen zertrümmerten in Athen die Götterbilder, und sie schlugen ihnen um so
vandalischer die Köpfe ab, je mehr sie auf ihre Wildheit den Glauben an den einen Gott gepfropft
erhielten und bei allzu früher Erstickung freier mythischer Triebe, die sich noch nicht ausgelebt hatten,
in eine Art von religiöser Treibhausluft versetzt wurden. Noch völlig roh im Gehirn und doch schon
Monotheisten! Das war der tiefere Fluch dieses Jahrtausends. In Griechenland und Jerusalem waren
nach uralter Culturarbeit, nach vollem Ausleben aller ästhetischer Kunsttriebe die Weisen und das
gereiftere Volk von Judäa zum tieferen Begriffe von dem einen Gotte vorgedrungen. Die jungen, rohen
Tiziano Vecellio pim.
Phot. P. Hatifstaengl, München
Der Zinsgrosehen
Original in der kgl. Gemälde- Galerie zu Dresden
Das heilige Abendmahl
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
101
Völkerschaften aber, die in die christliche Bewegung hineingeriethen, hatten ihren alten Heidenglauben
erst zur Hälfte geschaffen, von bildender Kunst konnte keine Rede sein, denn die gedeiht erst da, wo
der Pflug lange die Erde aufgeackert hat. Und sie mussten erst ackern lernen, um es kurz zu sagen.
Tausend Jahre dauerte diese allmählige Vorbildung der Völker Europas zur feineren Cultur.
Da begegnen wir denn mit dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts bis in seine Mitte hinein den
ersten Spuren eines künstlerisch-freien Empfindens. Die heiligen Masken der Byzantiner mit ihrer alle¬
gorischen Zeichendeuterei, mit dem embryonenhaften, mürrischen Zuge ihrer Gesichter wollen wieder
Leben gewinnen. Wir begegnen um 1207 zum ersten Male am Dome von Spoleto einem jugend¬
lichen Christus. Die byzantinische Christusmaske war allmählig zu einem Greise geworden; die Gesichter
sahen aus wie in Spiritus gesetzte Frühgeburten.
In Toscana, mit Cimabue und Giotto, be¬
ginnt eine erste Blüthe der christlich -religiösen
Kunst wie der Kunst überhaupt. Und auch in
der Bildhauerei regen sich die ersten Triebe
künstlerischer Darstellung religiöser Stoffe.
Rein geistig war zunächst diese Erneuerung
künstlerischer Triebe. Man finor zum ersten Mal
an sich vorzustellen, wie etwa im wirklichen
Leben der Tod Christi, die Grablegung, die
Beweinung, die heiligen Vorgänge und Geschichten
überhaupt sich ausgenommen haben könnten.
Man schuf nicht mehr allegorische Anspielungen,
ornamentirte Dogmen und an den Kirchenwänden
versinnlichte Hieroglyphen zu lateinischen Glau¬
benssatzungen, sondern man sah die christlichen
Legenden und biblischen Geschichten als eine
epische Wirklichkeit an, deren Darstellung an¬
gestrebt wurde mit den Mitteln der Einbildungskraft. Tausend Jahre der Vermischung jüdisch-urchristlicher
Religionslehren und Erlösungslehren mit heidnischen Sagenwelten, die Umwandlung griechischer und
germanischer Götter in christliche Heilige oder Teufelsgestalten hatte einen grossen Vorrath von neuen
Stoffen für die Malerei geschaffen. Die germanische Göttin Perchtha, die mit den Longobarden nach
Oberitalien eingewandert war sammt ihrem «Kinderheer» (dem «Mutterheere» ungeborner Kindlein), hatte
sich mit der Mutter Jesu, Maria, zu einer neuen Götterbildung vereinigt im Volksbewusstsein, und die
ehemals jüdische Frau Mirjam erschien nun in einer himmlischen Glorie, umgeben von geflügelten
kleinen Kinderköpfchen, die nichts Anderes sind, als das Heer der Ungebornen um Frau Bertha «mit
dem Gänsefuss», Frau Holle, zu welcher die Gattin Josephs ward, eine Gestalt, in welcher Tausende
die alte Heidengöttin noch heute anbeten. Der neue Stoff war allmählig im Volksbewusstsein aus¬
gereift, die Kirche selbst wurde vom fabelbildenden Geiste des Volkes fortgerissen. Aus den Fabel-
102
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
gestalten altjüdischer sechsflügeliger Seraphine, aus den assyrischen halbmenschlichen Cherubim waren
allmählig zweigeflügelte Menschengestalten geworden und die Kunst begann all’ diese Wesen mensch¬
lich, natürlich, als mythische Wirklichkeiten aufzufassen, die zum Theil von Haus aus nur Ausgeburten
allegorischer Dichterphantasien eines Ezechiel, Jesaia oder der Offenbarung Johannes gewesen waren.
Aus dem Scheol, der mythischen Unterwelt des ältesten Judenthums, von dem die Propheten schon
nur noch bildlich gesprochen hatten , aus dem Hades der Griechen , der « Hel » der Germanen war
die «Hölle» geworden, welche man für den Ort der Verdammten hielt. Die Mönchsphantasie des
Mittelalters hatte dazu noch das Fegefeuer ersonnen. Genug, reich war der religiös-mythische Stoff,
welcher eine freier werdende Einbildungskraft bewegen konnte.
Und diese Einbildungskraft arbeitete gleichzeitig auch dichterisch daran sich frei zu machen.
Dante, der gleichzeitig mit Giotto lebte, hatte die Kühnheit, diese Vorstellungen ihrer dogmatischen
Bedeutung zu entreissen und aus seiner Hölle, aus dem Inferno einen Vorwand politischer und sitt¬
licher Tagessatire zu machen. Die Auflösungsarbeit begann, welche das, was man dogmatisch geglaubt
hatte, zu einem weltlichen Spiele der Phantasie umbildete. Und eben in solcher Zeit fand die Malerei
die Kraft, den religiösen Stoffen zum ersten Male die menschliche Seite abzugewinnen.
Noch sind die Darstellungsmittel die primitiven einer eben beginnenden Kunst. Giotto’s Fresken
in Padua, in Florenz und so vielen anderen Städten kommen nicht über eine einfache Linienzeichnung
hinaus, welche nur die allgemeinsten Eigenschaften einer Gestalt wiederzugeben vermag. Noch ist
von einem ernsteren Naturstudium keine Rede, noch werden nicht treue Nachahmungen der Natur
in Form und Farbe versucht, sondern alle Kraft dieser rein geistigen Kunstanfänge legt sich in die
Auffassung des Vorganges. Der mimische Verstand, beflügelt von einer erwachenden dichterischen
Einbildungskraft, beginnt sinnig klügelnd sich in die dargestellte Situation zu versetzen. Das religiöse
Gefühl ist nur so weit mitthätig, als man selbstverständlich von der Heiligkeit der Vorgänge durch¬
drungen ist und sich als guten Christen und freien florentinischen Republikaner zugleich fühlt. Schon
bei Cimabue, noch mehr bei Giotto, fehlt jede Ueberschwänglichkeit des Religionsgefühls, jede Betonung
einer pietistischen Auffassung. Wir werden sehen, wie später, bei viel höher entwickelter Technik,
auf einmal ein ganz anderer Zug, ein Zug der Frömmelei und Gefühlsdrückerei aufkommt , bevor
die religiöse Kunst sich völlig zur Freiheit des Historischen erhebt.
Bei Giotto, wie gesagt, spielt der geniale Verstand, der Sinn für die Richtigkeit der Dar¬
stellung die Hauptrolle. Er stellt in seinen einfachen Linien z. B. die Ausgiessung des heiligen Geistes
dar. Die spätere italienische Kunst macht daraus meist einen Vorgang mit höchst aufgeregten Gebärden.
Bei Giotto sitzen die Jünger still beisammen, die Köpfe sinnig geneigt, als lauschten sie einer inneren
Eingebung, tief concentrirt, die Hände in verschiedener Pantomime der Nachdenksamkeit zusammen¬
gelegt. Das ist so einfach, so klar, so richtig. Ueberall sehen wir diesen Meister und seine Schule
darauf bedacht, zu verfahren wie ein guter Schauspieler der realistischen Schule arbeitet, der nur
diejenige Gebärde sucht, die psychologisch unmittelbar richtig ist. Die Verbindung von tiefer Empfindung
mit psychologischem Verstand, welche die moderne Welt an einer Italienerin wie Eleonore Düse
bewundert hat, sie ist das, was für diese ersten Anfänge der religiösen Kunst bei Giotto charakteristisch
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
103
bleibt. Da aber die Darstellungsmittel diese treffend erfundenen Gebärden, diese ganze Schule richtiger
Mimik nur sehr primitiv wiedergeben, so haben wir beim Betrachten all’ dieser Werke immer die
Empfindung gehabt, dass wir mehr Püppchen eines äusserst geschickten Marionettentheaters sehen,
dessen Director ausserordentlich erfinderisch ist in frappanten Gebärden, Posen und Stellungen seiner
Figürchen. Die Gewandung all dieser religiösen Gestalten ist noch ganz ideal ; ein Nachklang gewisser
griechischer, antiker Bekleidungsformen; der Gesichtsausdruck ganz einfach schematisch.
Es währt ja nicht lange, so sehen wir in der ganzen kirchlichen und religiösen Kunst Italiens,
Deutschlands und anderer Länder diese schematische Bekleidung schwinden und fast überall die Heiligen
und Maria, die Jünger in den Trachten der Zeit, der näheren Umgebung einhergehen, in welcher die
Künstler schufen.. Nur Jesus selbst behält zumeist sein ideales Gewand bei, weil man ihn ja doch
stets als den menschgewordenen Gott dachte. Der gekreuzigte Christus dagegen war ein Symbol
für sich, von dem wir noch besonders zu reden haben.
Der allgemeine allmählige Fortschritt, den nach Giotto und seinen Zeitgenossen Plastik und
Malerei überhaupt in technischer Hinsicht mit der allmähligen strengeren Ausbildung der Gestalt und
der Naturnachahmung machen, kommt auch der religiösen Kunst zu Gute. Man muss aber bedenken,
dass kirchliche Bilder zumeist auf Bestellung frommer Kreise hin entstanden, dass sie für Altäre, für
Sakristeien, für Ausschmückungen der Kirchenräume verlangt wurden und dass die Besteller ihre
Anschauungen, ihren Einfluss dabei geltend gemacht haben. Nicht nur die freie Phantasie des Künstlers
war dadurch an gewisse Conventionen gebunden, sondern auch seine Technik, die Freiheit seiner
Naturanschauung unterlag religiösen, dogmatischen Vorurtheilen. Wir können deutlich verfolgen, wie
schwer der Kampf eines Cimabue und Giotto, sowie ihrer Vorgänger, gegen die byzantinischen Con¬
ventionen gewesen ist. Und auch weiterhin sieht man, wie jeder neue Schritt in der künstlerischen
Belebung der heiligen Gestalten einen gewissen Widerstand zu überwinden hat. Zunächst beobachten
wir aber in Italien von Giotto an, bei Meistern wie Lorenzetti, und bis zu dem liebenswürdigen Fiesoie
hin, jenen sicheren rationalistischen Zug der mimischen Darstellung, der sich gewissermassen realistisch
in die geschilderten Vorgänge hineindenkt, ohne irgendwelche Beziehungen zu suchen, die ausserhalb
der reinen erzählenden Darstellung liegen. Verbunden ist mit dieser Richtung, dieser Schicht der
Kunstentwicklung ein Absehen von jedem Glanz und Pracht der Farbe oder Kostümirung; es wird
nur rein sachlich verfahren; man drückt mit tiefer Empfindung alle Situationen aus, aber die Tiefe
dieser Empfindung ist nicht kirchlich - religiös , sondern rein menschlich, die unentwickelte Kenntniss
der Natur aber macht mehr oder minder die Gestalten zu geistreich belebten Puppen.
In eine andere Welt treten wir allmählig ein mit der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts und der ersten Hälfte des fünfzehnten. In Italien beobachten wir in dieser Zeit im Ganzen
einen Rückgang der künstlerischen Empfindung auf das Religiöse um seiner selbst willen. Es ist auf
einmal, als sei ein ganz anderer Zug in die Welt gekommen. In Florenz, in Perugia, in Venedig, in
Bologna, fast an allen Stätten der Kunst sehen wir jene Madonnenbilder überhand nehmen, die sich dadurch
kennzeichnen, dass die Mutter Gottes auf einem Throne sitzt mit dem Kinde und mit seitwärts geneigtem
Kopfe, in einem Ausdruck der demüthigen Einfalt. Meist stehen zwei Heilige zu Seiten des Thrones,
104
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
gleichfalls mit windschief geneigten Köpfen. Engelsgestalten umgeben in anderen Fällen den Thron ;
auch sie pflegen ihre Köpfe mehr oder minder zur Seite hängen zu lassen. Dieser conventionelle
Ausdruck, dem Minenspiel pietistischer Frömmelei in den Kirchen entlehnt, nimmt allgemein überhand
und mit ihm dogmatisch -symbolische Erfindungen. Während die Kunst in dieser Zeit bereits mächtig
vorwärts schreitet in der natürlichen Wiedergabe der Gestalt, während man sich bereits ergeht im
Aufsuchen tiefleuchtender Farbenwirkungen und kostbare Gewänder an Heiligen, Kardinälen, Madonnen
malt, geht der geistige Ausdruck in Gebärden, Stellungen, Mienen in auffälliger Weise wieder auf das
Conventionelle zurück. Niemals sind diese Heiligen naiv sich selbst und ihrem Zustande überlassen.
Fast immer schielen ihre Gesichter aus dem Bilde heraus auf den Zuschauer. Die Madonna neigt
ihren Kopf so übertrieben zur Seite, ihre Stirn ist so dumpf geistlos, ihre Augen stehen in so unnatür¬
lichen Winkeln, dass man in einer Gesellschaft von Kunstbetern, von pietistischen Heuchlern zu leben
glaubt. Zum Theil erklärt sich dieses Herausschauen der Heiligen aus dem Bilde damit, dass die
betreffenden Madonnen und Heiligen selbst Gegenstand der Anbetung für die Gläubigen waren in
den Kirchen. Man kniete ja vor dem Bilde und wollte, dass der Heilige Einen dabei sanft erhörend
anschaute. Das Bild wird wieder vorwiegend Cultbild, es ist selbst Gegenstand der Anbetung, während
Giotto mit seiner Freskomalerei sammt der ganzen Schule seiner Nachahmer ein freier ethischer
<z>
Erzähler gewesen war.
So ergibt sich schon hier der Kampf, dass das Bild, je mehr es dem Zwecke der Kirche, dem
Cultus dient, je religiöser es im engeren Sinne ist, desto mehr an seiner rein künstlerischen Qualität
verliert. Es ist nicht für sich da und seine Figuren leben nicht für sich, sondern für Andere ausserhalb.
Je mehr dagegen innerhalb der Religion das rein Menschliche betont wird, je mehr im Christenthum
die Fehre vom Menschensohn Christus sich Bahn bricht und mit ihr das Princip der Humanität des
menschgewordenen Gottes im Menschen, von der Vergöttlichung des Menschen, desto mehr gewinnt
die Kunst Kraft auf sich selbst zu ruhen, dieses Menschliche um seiner selbst willen zu bilden und
es zu einer höheren künstlerischen Naivität zurückzuführen.
In der ersten Hälfte des Quattrocento in Italien mit seinen Wurzeln im vorangegangenen
Jahrhundert sehen wir z. B., dass das Ideal des Christus in gar keiner Weise nach der menschlichen
Seite neigt. Vielmehr überbieten sich die Künstler darin, den Gekreuzigten so elend und entstellt als
möglich darzustellen. Häufig begegnen wir einem krummbeinigen Jesus am Kreuze. Das Gesicht
wird möglichst verfallen gemalt. Fra Filippino Lippi malt einen Gekreuzigten von hysterischen Formen,
aus dessen Händen und Herz das Blut herabtrieft. Engel aber schweben heran und fangen diese
Blutströme in Bechern auf. Mehr wie irgend etwas charakterisirt dieses den symbolisirenden Zug des
Zeitalters mitten in dem rüstigen Vorwärtsstreben aller Technik nach Pracht und Natur. Jesus ist
fast ausschliesslich als das Famm Gottes gedacht, dessen Opferblut nach paulinischer Fehre die Welt
von Sünden erlöst, und so kommt der dogmatisirende Künstler dazu, dieses heilige Blut durch Engel
sogar in Bechern auffangen zu lassen. Derselbe Meister malt eine Madonna, die ihre Anbeter in
dichten Gruppen um sich versammelt. Zur Symbolisirung des Schutzes, den sie den Ihrigen ange¬
deihen lässt, die Alle um sie knieen, Geistliche und Faien, Männer, Frauen und Kinder, hat die
Petrus Paulus Rubens pinx.
Der Höllensturz der Verdammten
Original in der kgl. Pinakothek in München
Guido Reni j»inx.
Phot. F. Hanfstaengl, München
Eeee homo
Original in der kgl. Gemälde -Galerie zu Dresden
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
105
Gottesmutter einen unendlich langen Mantel, den rechts und links schwebende Engel erheben und über
die Gruppen wegziehen wie ein schützendes Zelttuch. Auch hier spielt das Symbolische eine künst¬
liche Rolle. Das Christuskind aber in den verschiedenen Darstellungen der Anbetung der Hirten,
der Madonna mit dem Kinde bleibt meist noch ein embryonenhaft verhutzeltes kleines Würmchen von
leerem Ausdruck und lediglich symbolischer Existenz. Die Künstler entfalten an Nebenfiguren, Heiligen,
musicirenden Engeln zumeist weit mehr Reiz. In Meistern wie Giovanni Bellini wird hier schon das
entschiedenste Schönheitsbewusstsein mächtig, dass sich nun beginnt mit dem religiösen Gefühl zu paaren.
Noch beobachten wir in den Anfängen dieser Periode im Norden wie in Italien an der Darstellung
der Mutter Maria mit dem Neugebornen, dass die Madonna kaum eine innere mütterliche Beziehung
zu ihrem Sohne hat. Meist sitzt sie in dumpfer Ratlosigkeit oder mit einem Ausdruck des Staunens
oder der Demuth da, dass sie gewürdigt wurde, in ihrer Einfalt als sterbliche Magd den Gottessohn
zu gebären. Aber noch versagt alle Kunst in dieses Kind irgend einen Ausdruck höheren Lebens
zu legen, wie es nachmals Raffael Sanzio so wunderbar vermochte.
Wir sehen in der dumpfen Halbtheilnahme, der dienenden Art,
mit welcher die Madonna mehr als Aufwärterin und fremde
Amme das Kind respektvoll behandelt, das Vorherrschen der
dogmatischen Ueberlieferung. Die Kunst will absichtlich aus-
drücken, dass die Mutter nur das Gefäss für das Walten des
heiligen Geistes war und so sehen wir dann erst recht natürlich
die Gestalt des Vaters Joseph mit fremdartiger Neugier und
verschiedenartig ehrfürchtigem, auch gleichgiltigem Ausdruck das
Wunderkind betrachten.
Aber nun, um die grosse Wende der Zeiten, in welcher
der Humanismus in Wissenschaft und Poesie aus der zweiten Hälfte
des Quattrocento in das neuanbrechende Cinquecento, in unser
sechszehntes Jahrhundert und in die Reformation hineindrängt,
sehen wir, dass mehr und mehr diese Madonna auch die Mutter
des kleinen Jesus wird, sozusagen die rechtmässige Mutter, welche
glückselig mit ihrem Kinde spielen darf, welche freundlich auch
den Spielgenossen Johannes herbeilässt. Die Zeit beginnt, wo
die Künstler den Ausdruck des Muttergefühles als solchen ver¬
herrlichen, wo Jeder aus seiner Erfahrung und seinen Beobacht¬
ungen das verklärte Auge der Wöchnerin mit seinem geheimniss-
vollen Zauber wiederzugeben sucht. Raffael Sanzio wird derjenige,
der sich am Meisten unerschöpflich zeigt in dieser Verherrlichung
der Mutterschaft in all ihren natürlichen Aeusserungen.
Und gleichzeitig mit dieser Erlösung der Madonna aus Sandro Botticelli. Der heil. Sebastian
ihrer dogmatischen Dumpfheit und Befangenheit, mit dieser ver- 0rigmai m der kgl- Gemälde -Galerie zu Berlin
I 14
106
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
änderten Situation, in der die Gottesmutter ihr Kind menschlich als das ihrige anerkennt, sodass jede
Mutter in der Heiligen nur das Vorbild und Abbild ihrer eigenen mütterlichen Erlebnisse erkennt, thut
die religiöse Kunst den weiteren Schritt zur Schönheit, zur Erhabenheit auf dem Grunde der einfachen,
ungesuchten, natürlichen Wahrheit. Das Schöne wird Religion; die Religion wird eine Religion der
Schönheit; die menschlichen Seiten des Christenthums wurden die Träger dieser weltlichen Religion.
Was Giotto einst ersehnt hatte und bei unendlichem Reichthum der erzählenden dichterischen
Phantasie technisch nur unvollkommen wiedergeben konnte, das tritt von Neuem die Herrschaft an.
Lionardo da Vinci malt sein berühmtes Abendmahl ; ewig ehrwürdig im Sinne Giotto’s durch den
klaren psychologischen Verstand der Auffassung, die dramatisch-richtige Durchführung der Situation.
Allgemein wird die Tradition, dass man die heiligen Geschichten von Neuem als einen geschichtlich
möglichen Vorgang auffasst, dass man auch die Wunder, sei es eine Himmelfahrt Jesu oder der
Maria, sei es die Schöpfung Evas aus der Rippe Adams oder eine Ausgiessung des heiligen Geistes
als real, naturwissenschaftlich mögliche Erscheinungen sich denkt und daraus nun alle möglichen
Schönheiten plastischer, malerischer Art entwickelt. Das Wunder wird zur Natur selbst; es gibt sich
nicht mehr als dogmatische Allegorie wie in dem Zeitraum vorher, wo die religiösen Künstler da und
dort immer noch glauben, symbolisirend nachhelfen zu müssen. Selbst die Heiligenscheine müssen
sichs gefallen lassen, dass sie zu einer Art von wirklichem Naturphänomen werden, das die Häupter
umgibt. Die Künstler haben gelernt, Strahlenbrechungen der Sonne, des Lichts in der Natur nach¬
zuahmen ; sie haben die Strahlenkränze des Mondes und seines Hofes studirt ; die Glorienscheine und
Verklärungen werden nach natürlichen Analogieen dieser Art zu Phänomenen, wie wir sie etwa im
Sanct Elmsfeuer auch in Wirklichkeit kennen. Früher war der Heiligenschein meist eine ziemlich
massive Scheibe; eine andere Gattung — wie z. B. auf Botticelli’s «Beweinung Christi» in der
Münchener Pinakothek — glich sonderbaren Strohdeckeln oder Strahlgeflechten, die horizontal über
den Köpfen sassen, gleich chinesischen Basthüten. Das Alles ward in der neuen Periode nun zu einer
Art von wirklicher, natürlicher Erscheinung. Es ist die Zeit, in welcher Correggio, Michelangelo,
Andrea del Sarto, Raffael Sanzio, Tizian als Zeitgenossen schufen; der Letztere fast ein volles Jahr¬
hundert durchlebend. Sie vollbrachten das grosse Werk, die religiöse Kunst völlig zu einer Kunst
der Schönheit zu erheben. Und seither ist in das Christenthum und seine Kunst das Bedürfniss der
Vereinigung religiöser Stimmung mit der Stimmung der Schönheit, ganz gegen seine ursprüngliche
Natur, dermassen hineingewachsen, dass bis heute gerade die frommen Kreise, diejenigen, die religiöse
Bilder auch gleichzeitig im religiösen Sinne betrachten, jede unschöne Darstellung heiliger Geschichten
schier als Profanation ansehen. Jedermann weiss, dass noch heutigen Tages diejenigen Künstler,
welche in ihrer religiösen Kunst das Schöne absichtlich vermeiden und eine hässliche armselige Wieder¬
gabe der evangelischen Geschichten anstreben , um dafür mehr eine Innigkeit des Ausdruckes zu
erreichen, gerade bei allen religiös gestimmten Seelen die heftigste Gegnerschaft finden.
Einstmals aber war es umgekehrt. Da galt im Kampfe gegen die alten conventioneilen Meister
gerade die schöne Darstellung als eine Profanation. Länger noch als in Italien hat sich in Deutsch¬
land der religiöse Kunstgeist gegen die Schönheit gesträubt. Landessitte brachte es in Deutschland
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
107
drlickliche Betonung all der Oualmittel zu erwecken, die eine rege Phantasie im Zeitalter der Daum¬
schrauben und der Folterkünste erfinden konnte. Auch in Italien war es ja so gewesen. In jener
Uebergangszeit des Quattrocento mit seinen Gnadenbildern, Andachtsbildern, Familienbildern finden
wir z. B. den heiligen Sebastian nie dargestellt, ohne dass sein nackter Leib mindestens mit fünf
bis zehn Pfeilen gespickt ist, die natürlich an den empfindlichsten Stellen durch den Leib geschlagen
sind und womöglich Arm und Bein noch an den Pfahl mitanspiessen. Den Ausdruck des Schmerzes
und der Qual vermochte man noch nicht mit jener Laokoonkunst wiederzugeben, welche durch sich
selbst schon das nöthige religiöse Mitgefühl und Märtyrerleid erwecken konnte. Den Unterschied der
Zeiten sieht man deutlich dagegen an einem heiligen Sebastian des Lorenzo Lotto, eines Zeitgenossen
mit sich, dass z. B. die Gottesmutter die Haare weit aus der Stirn zurückgekämmt trug und dass ihr
Birnenschädel anmuthslos, durch kein Löckchen unterbrochen, im Ausdrucke der geistigen Leere hinter
dieser übergrossen Stirne dreinschaute mit dümmlichen Augen. Wohl war in Deutschland, während
die Italiener eine Periode des Pietismus durchmachten, die Kunst im Sinne Giotto’s naiv geblieben.
Man betete nicht so viel, auch nicht so mystisch; in Italien waren viele Mönche in jener Zeit Maler
und sie übertrugen ihre klösterlichen Empfindungen und die Gewohnheit geschäftsmässig und aus
Lebensgewohnheit zu beten auch in ihre Bilder ; in Deutschland und Niederlanden kam das seltener
vor; man malte sich statt dessen lieber die Situationen selbst recht lebenswahr aus und suchte die
Empfindungen des christlichen Mitleids an den Leiden Christi und der Märtyrer durch möglichst nach-
Paolo Veronese. Die Findung Mosis
Original in der kgl. Gemälde - Galerie zu Dresden
14*
10S
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
der grossen Periode Michelangelo-Tizian, den das Berliner «Alte Museum» besitzt. Dieser Heilige,
ein wunderschöner Jüngling, fast in Formen gewachsen, wie sie dann auch Correggio liebte, ist nur
von einem einzigen Pfeile zwischen Brust und Achsel getroffen. Was früher zehn Pfeile leisteten,
thut nun ein einziger, denn die schmerzhafte Wendung des Getroffenen, die Durchführung der schmerz¬
lichen Symptome durch den ganzen Körper rührt um so mehr, als es ein schöner Körper ist, dessen
Zerstörung unser Mitgefühl ungleich mehr wachruft, als wenn es ein hässliches Gestell wäre.
Tizian’s «Assunta», Raffael Sanzio’s «Madonna di San Sisto», Michelangelo’s «Eva im Sünden¬
fall» in der vaticanischen Kapelle bezeichnen die Höhepunkte religiöser Kunst, in welcher das Rein¬
menschliche auch den höchsten Gehalt der Religion selbst ausspricht, in welcher die Versöhnung von
Kunst und Religion, von Schönheit und religiöser Verklärung des Irdischen erreicht ist. Und die
Religion, insbesondere die katholische Kirche, hat sich diese Errungenschaft, welche zugleich die
Popularität der christlichen Vorstellungen mächtig förderte, selbst bei denen, die nicht mehr diesen
Mariadienst oder die Dogmen ernstlich glaubten, nicht wieder nehmen lassen. Sie hat selbst auf
schöne Darstellung gehalten.
Von nun an muss das Christuskind vor Allem ein schönes Kind sein; von nun an muss auch
der leidende und gekreuzigte Christus ein kräftig wohlgewachsener Mann mit schönen Zügen und
einem schönen Ausdrucke seines Schmerzes sein. Selbst ein so genialer Charakteristiker wie Albrecht
Dürer kann sich diesem allgemeinen Drange nach Schönheit nicht entziehen; seine Madonna mit dem
Vögelchen im Berliner «Alten Museum» ist eine blonde Frau von fast griechisch regelmässigen Zügen;
die Haare sind reizvoll gescheitelt, leichte Löckchen hängen in die Stirn, und was Anmuth ersinnen
kann, um diese schöne Frau den Grazien verwandt erscheinen zu lassen, das hat selbst Diirer’s herbere
Kunst nicht verschmäht. In Italien aber war ein ganzes Jahrhundert, das Jahrhundert der Lebenstage
Tizian’s (1477 — 1 5 7 6) , dem Drange nach sinnreich- wahrer Erfindung und freier Schönheitsverklärung
aller religiösen Vorstellungen zugleich geweiht. Die dogmatische Gläubigkeit und ihre allegorische
Symbolik schwindet. Wenige Monate, nachdem Luther seine reformatorischen Thesen an die Schloss¬
kirche von Wittenberg geschlagen hatte, vollendete Tizian seine herrliche «Assunta», die Himmelfahrt
Mariä. Raffael stand zur selben Zeit auf der höchsten Höhe seines Könnens, um bald darauf zu
sterben. Michelangelo hatte bereits die Ausmalung des Deckgewölbes der Sixtinischen Kapelle hinter
sich; Correggio begann in Parma jene Reihe herrlicher Heiligengemälde , unter denen die «heilige
Nacht» in Dresden der christlichen Welt wohl am Meisten bekannt geworden ist. London, Wien,
Dresden, selbst München und andere Städte bewahren Weiteres von dieser Art des Correggio.
Es ist sehr merkwürdig, dass von all diesen Meistern, welche künstlerische Normen schufen, die nach¬
mals durch die gesammte weitere religiöse Kunst massgebend geblieben sind, kaum ein einziger ein
christlich -katholischer gläubiger Christ gewesen ist. Correggio war ein Lreigeist und doch hat er die
lieblichste Darstellung des heiligen Kindes in der Krippe geschaffen, doch scheint er geradezu mystisch
gläubig, indem er von diesem Kinde, wie ein elektrisches Leuchten, einen Glanz ausgehen lässt, der
Antlitz und Busen der Mutter und die Gesichter der Hirten ringsum beleuchtet. Der Freigeist Correggio
war es auch, der in S. Giovanni und im Dom zu Parma es zum ersten Male wagte, die ganze Himmels-
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
109
Palma Vecchio. Maria mit dem Kinde und zwei Heiligen
Original in der kgl. Gemälde-Galerie zu Dresden
weit des Ch^stenthums, das Jenseits in ein olympisches Wolkenland umzuwandeln, in das man hinauf¬
blickt, um wie eine visionäre Wirklichkeit Christus und die Apostel droben zu sehen. Man sieht
die Madonna von der Erde her in den Himmel auffahren wie Herkules in den Olymp, während Christus
ihr aufgeregt entgegenstürzt. Zum ersten Male erblicken wir hier die ganze heilige Welt in Ver¬
kürzungen der Untensicht, zum Theile schon mit allen sinnlichen Reizen solcher Untensichten. Seither
entwickelte sich weiter ein ganzer Zweig der religiösen Kuppelmalerei in Italien und Deutschland,
welcher die Illusion für die Gläubigen zu erwecken sucht, Gottvater und die Engel schwebten leib¬
haftig über ihnen im Kuppelraume der Kirche, den perspectivische Kunst zur Vorstellung eines unend¬
lichen Raumes erweitert. Veronese ist diesem Beispiele Correggio’s gefolgt, Tintoretto und Tiepolo
haben diese Kunst fortgepflanzt. Sie ist bis in das Kloster Ettal in Bayern gedrungen, hat in der
Zeit der Jesuitenherrschaft in Böhmen zahllose Kirchen in gleicher Weise ausgestattet. Die Lust an
der Erweckung der Illusion, dass da oben wirklich die Engel schweben und einherflattern, dass Gott¬
vater, Christus, Maria leibhaftig erscheinen : eine Illusion , die man durch die hochgesteigerte Kunst
der malerischen Verkürzung und der Composition erreichte, hat aus mancher Kirchendecke und Kirchen¬
kuppel geradezu ein Ballet gemacht, wo Engelsbeine, Engelsfüsse und Engelsarme durcheinander
schweben wie die Beine von Ballettänzerinnen. Aber gerade die künstlerisch ausserordentlich geniale
Erweckung dieser Raumtäuschungen bedeutete für die Kirche und die Religiosität der streng Gläubigen
eine weitere bedeutsame Eroberung.
110
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Wie Correggio, so war auch Michelangelo ein Mann, der sich lieber an der Philosophie Plato’s
erbaute, als dass er den Dogmen der Religion Glauben geschenkt hatte. Man muss bedenken, dass
die katholische Kirche sich innerlich in ihren Hauptvertretern dermassen befreit hatte von den An¬
schauungen der Dogmatiker selbst, dass Papst Leo X., der Zeitgenosse Luther’s, mit hochgestellten
Geistlichen wie Gemisthos Plethon, Bessarion, Cardinal Bembo es offen aussprach, «die Tage seien
nicht mehr ferne, wo Judenthum, Christenthum und Islam von der Religion der allgemeinen Mensch¬
lichkeit überwunden sein würden». In solcher Zeit kann es nicht Wunder nehmen, dass freigesinnte
Künstler unter so freigesinnten Geistlichen und Päpsten mit aller Kraft daran gingen, diese «Religion der
allgemeinen Menschlichkeit» durch alle Mittel der Schönheit und rein menschlichen Menschendarstellung
zu verkünden. Und sie haben den Erfolg gehabt, dass sie massgebend geworden sind für alle
Gattungen der religiösen Malerei und ihrer Composition bis zum heutigen Tage.
Raffael schuf in seinen Stanzen, auf den Londoner Bildern zu den Tapeten die neue Kunst
der realen Composition, welche, nach Mantegna’s Vorgang, Raumtiefe und natürliche Ordnung der
Gruppen aus ihren psychologischen Bedingungen gab. Ihm wurde die Gruppirung nicht nur ein äusseres
architektonisches Mittel der Anordnung, sondern der zwanglose Ausdruck von inneren Gesetzen eines
leidenschaftlichen Vorganges unter Menschen. Seither konnten die biblischen Geschichten wie eine
theatralische Wirklichkeit, wie auf einer lebendigen Bühne vor dem Beschauer sich abspielen. Eine
neue Vertiefung des Ausdruckes, eine neue sinnliche Wahrscheinlichkeit war gewonnen. Kaum ein
nachkommender Künstler, der eine Grablegung, eine dramatische Scene aus dem neuen oder alten
Testament mit der nöthigen Figurenfülle eines Vollbildes gemalt hat, konnte sich seitdem der durch
Sanzio gegebenen Compositionsweise entziehen, die durch Oeffnung und regisseurmässige Vertheilung
der Gruppenmassen Uebersichtlichkeit und dramatische Wahrscheinlichkeit der Vorgänge steigert. Raffael
bildete weiter den reinmenschlichen Muttertypus der Madonna nach allen Richtungen aus. Nicht nur
der eben geborene Säugling Christus, sondern das heranwachsende Kind mit seinen schönen Formen,
die innige Beziehung des Menschenkindes zur Menschenmutter, des Menschensohnes zu seinem weib¬
lichen Ursprung wird die Aufgabe der Kunst.
Michelangelo aber malt einen Adam, der die ganze Fülle männlich-jugendlicher Schönheit und
Kraft darstellt und sich darin als ein Vater des Menschengeschlechtes erweist. Seine Eva ist das
schönste Weib, denn sie ist eine «Mutter aller Lebendigen», nicht mehr jenes missgeformte, brustkasten¬
lose, dürre, magere Geschöpf der Askese und der sündigen Betrachtung, das noch Lukas Cranach’s
mangelhafte Kenntniss des weiblichen Körperbaues schuf und das auch in der ältern italienischen Kunst
geherrscht hatte. In der Gestalt eines Moses verkörperte Michelangelo jede Energie des Sitten¬
gesetzes selbst, wie sie der Mythus in der Zerschlagung der Tafeln ausgedrückt hatte und wie nun
ein vorgeschrittener philosophischer Standpunkt sich das Wesen des grossen Gesetzgebers selbst deuten
durfte. Ueberhaupt ist die tiefere, allgemein menschliche, wenn man will, philosophische Deutung
auch der christlichen und jüdischen Sagengestalten und Mythen, die neue geistreiche Auffassung das,
was diese grosse Renaissancezeit so interessant macht, neben ihrer Eroberung aller Mittel der Schönheit,
der Grazie, des Erhabenen, sowie der äusseren Technik und Wiedergabe der Natur. Denn Alles
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
111
geht vorwärts in dieser gewaltigen Zeit; alle diese Männer: Andrea del Sarto, Correggio, Raffael,
Michelangelo, Tizian, sie schaffen wie in einem Rausche, in einem Kunstrausche, den dann im Norden
der geniale Rubens erbte und um so kühner durchlebte, je mässiger er bekanntlich im Essen und
Trinken war, «um seine Phantasie nicht zu schwächen».
Alles, was in dieser grossen Zeit die Kunst im Allgemeinen gewinnt — denn sie widmete ja
gleichzeitig all ihre Kraft der Darstellung weltlicher Ereignisse, griechischer und römischer Mythe,
dichterischen Gestalten, dem Portrait u. s. w. — es kommt auch der religiösen Kunst zu Gute. Hierbei
ist vor Allem die dramatische Auffassung das, was jeder von diesen Meistern auf seine Weise auch
in der religiösen Kunst bewährt. Die alte Kunst hatte, selbst in der Darstellung des Leidens, des
Duldens Christi, in all ihren Auffassungen mehr eine idyllische Wiedergabe und eine passive Behandlung
der Gestalten und ihrer Situationen gesucht. Jetzt wendete sich das Blatt. Jetzt wurde Alles activ,
jetzt folgte auf die Wirkung die Gegenwirkung, die Gebärde wird zur Willensgebärde; sie sprach
lauter, eindringlicher, kurz, Handlung und Drama kam in die Kunst, Kontrast und Gegensatz. Früher
stellte man die Anbetung der Hirten vor dem Christuskind in der Krippe so dar, dass die Hirten zu
dem Kinde wie zu einem höheren Wesen demüthig wallfahren, ihre Andacht verrichten gleich den
Gläubigen in der Kirche selbst, die zur ausgestellten Krippe wallfahren. Das Bild war gleichsam nur
ein Abbild der heiligen Handlung in der Kirche selbst. Jetzt aber malte Correggio die Sache so,
dass die Hirten wie ausser sich erscheinen über ein unerwartetes, plötzlich geschehenes Wunder, dass
mit anderen Worten ein dramatischer Affect durch das heilige Geschehniss bewirkt wird. Noch ver¬
stehen es aber die grossen Künstler dieser Zeit, den Schein der Nothwendigkeit all dieses lebhaften,
dramatisch aufgeregten Thuns zu erzeugen. Sie motiviren durch sinnreiche Erfindungen ein solches
Verhalten, denn nicht umsonst geht bei Correggio von dem Christuskinde jener Lichtglanz in der
dunklen Nacht aus, der so stark ist, dass er die Hirten blendet, und sie veranlasst, diese Blendung
durch eine Gebärde auszudrücken. Hatte doch der Heiland selbst gesagt: «Ich bin das Licht der
Welt» und Correggio müsste nicht der grosse Meister des Helldunkels gewesen sein, der malerische
Kenner aller Lichteffecte, um aus einem solchen Worte nicht malerisch-poetische Folgerungen zu ziehen.
Die realistische Kunst der Ausführung erhob einen solchen Einfall über die blosse, trockene Allegorie.
In der Darstellung der Mutter mit dem Kinde sehen wir alle Künstler emsig beflissen, ihrem
Leben all’ jene momentanen Handlungen und Situationen abzulauschen, die uns als ewig wiederkehrende
auch in der wirklichen Mutterschaft entzücken. Wer hätte nicht schon gesehen, wie eine Mutter rasch
die Wange ihres Kindleins an die ihrige schmiegt und darin ihre Zärtlichkeit ausdrückt? Nun, Palma
Vecchio malt es uns an seiner «Maria mit dem Kind und zwei Heiligen» in der Dresdner Galerie.
Die bildschöne, blonde Mutter aus longobardischem Stamme drückt die Wange eines bildschönen
Lockenköpfchens an die ihrige. Wer hätte nicht gesehen, wie lebhafte kleine Kinder, die man rittlings
auf dem Schoosse sitzen hat, um mit ihnen zu «tschaken», sich plötzlich umwenden und rasch mit
dem Händchen nach der gewohnten mütterlichen Brust greifen? Nun, dies hundertmal erlebte Geschehniss
stellt Michelangelo an der wundervollen, unvollendeten Marmorgruppe seiner Madonna dar, die wir
in der Medicäerkapelle zu Florenz stehen sehen. An der Entwickelung dieses Künstlers selbst sehen
112
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wir im Einzelnen, wohin die künstlerisch-religiösen Ideale der Zeit drängen. In seiner Jugend schuf
er die «Pieta», jene herbe Gruppe, wo der noch ziemlich dürre, unscheinbare Leichnam Jesu im Schoosse
der trauernden Mutter liegt. Noch ist der Heiland hier ein gar dürftiges Männchen im Verhältnis
zur Mutter, die den Todten quer über ihrem Schoosse hält. Das Motiv selbst war alt; wir finden
bei Botticelli und vielen Anderen, dass die unglückliche Mutter den Leichnam im eigenen Schoosse
halten muss. Die allegorische Beziehung ist klar, grausamer konnte die ältere christliche Auffassung
des ewigen Mutterschmerzes die Sache nicht ausdrücken. Und doch war das Motiv innerlich unwahr
und gezwungen; recht mit den Haaren herbeigezogen, unnatürlich im höchsten Grade. Wann hätte
je ein Weib einen ausgewachsenen Mann, den Leichnam ihres Sohnes so auf dem Schoosse tragen
des «jüngsten Gerichts»,
mögen ? Es ist bezeich-
nend, dass nach Michel-
angelo's Pieta das Motiv
immer seltener und sel¬
tener wird in der neuen
Kunst. Michelangelo selbst
aber schuf später einen
ganz anderen Christus so¬
wohl als Maler wie als
Bildhauer. Was für ein
starker Mann ist die Statue
seines Jesus mit dem
Kreuz am rechten Arm !
Was hat er für pracht¬
volle Schenkel, ein Mann
gewöhnt von Land zu
Land zu wandern! Lenden
hat er wie ein Held, der
seine Kraft beisammen
hat. Und auf dem Bilde
welch ein Titane ist es, der
hier richtet über dieTodten
und die Lebendigen !
Sicher aber entspricht
diese Auffassung in ihrer
Grösse auch weit mehr
der Auffassung, die Jesus,
der Verfasser als jener
grossartigen Gleichnisse
vom W eltzusammenbruch,
vom «reichen Mann und
armen Lazarus » selbst
gehabt hat bei diesen
Parabeln , die wir ja in
vorgeschrittener Zeit als
solche erkennen. Die
mächtige Kraft der
Sprache in diesen Jesus¬
worten, die selbst zu den
bedeutendsten Kundgebungen der jüdischen Lehrpoesie gehört, fand gerade in Männern wie Michel¬
angelo und Rubens erst die congenialen Künstler, die der Sache geistig gerecht werden konnten. Was
in früheren Zeiten Luca Signorelli, Giotto, so mancher Darsteller von jüngsten Tagen geleistet hatte,
erreichte, bei allem Reichthum phantastischer Einfälle, doch in keiner Weise den Kern und die
Grösse der Jesusworte und der prophetischen Vorstellungen. Die verschiedenen Teufelssorten waren
nur spuckhafte Lemuren und Löwenäffchen, Kinderspielzeug mit Teufelsfratzen, das in keiner Weise
schrecken konnte, Liedermausgezücht und skurriler Vorrath aus Hexenküchen. Jetzt aber hatte man
durch Erregung räumlicher Schwindelgefühle in Verkürzungen und perspectivischen Ansichten unge¬
heurer Abstürze von Menschenleibern ein Mittel gefunden, Reflexgefühle im Beschauer auszulösen,
Lucas Cranach d. Aelt . Maria mit dem Jesuskinde
Original in der kgl. Pinakothek zu München
Christus am Kreuz
Original in der Fiirstl. Lichtensteinischen Gemälde - Galerie zu Wien
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
113
die geradezu leibliche «Furcht» wie die antike Tragödie erwecken. Denn wenn wir so etwas mit
voller Realität dargestellt sehen, wie ein anatomisch richtig durchgebildeter Leib kopfüber hinab¬
stürzt, so stellen wir uns unwillkürlich vor, dass wir auch so in’s schwindelhafte Hinabstürzen ge-
rathen könnten; die Ueberwindung dieser Reflexempfindung unseres Gemiithes aber erzeugt weiter
die Empfindung des Erhabenen in uns.
So sehen wir das Dramatische
in allen Formen und unter Be¬
nützung- aller Mittel der
Technik in dieser Zeit die
religiöse Kunst beherrschen,
Die Stoffe sind
den bedeutend¬
sten Künstlern
längst nicht
mehr das, was
das Dogma und
die Legende
von Haus aus
bei ihnen ge¬
dacht hatten ;
sie werden viel¬
mehr als eine
freie Mythologie
alles Mensch¬
lichen benützt,
als Mythen und
Sinnbilder,
welche recht
eigentlich die
äussere und in¬
nere Geschichte
der Menschheit
erzählen. Der
blutige Christus
nur «bedeutet»
Hans Holbein d. Jung. Die Madonna des Bürgermeisters Meyer
Original in der kgl. Gemälde- Galerie zu Darmstadt
am Kreuze beginnt seltener zu werden,
wie er im Anfang der religiösen
Kunst überhaupt noch nicht da
war. Denn erst im sechsten
Jahrhundert sehen wir zuerst
diese blutige Darstellung.
Das Dogma von
der Transsub-
stantiation des
leiblichen Blutes
Jesu im Abend¬
mahl entstand
erst im elften
Jahrhundert; in
christlichen Ur¬
zeiten wurde es
nur als ein Ge-
dächtnissmahl
verstanden wie
es heute die re-
formirte Kirche
versteht, denn
man wusste in
jenen Tagen
noch, dass die
Worte, diejesus
brauchte, in der
That nur heis¬
sen « das be¬
deutet »und was
das bedurfte keines Wunders einer Transsubstantiation. Erst mit dieser mystischen
neuen Lehre aber sehen wir auch in der Malerei die Sucht nach dem Blute des Heilandes, welches
ein Erlöserblut war, bei allen Gelegenheiten sich kundgeben. Der Schönheitssinn der grossen Humanisten
drängte diese Vorstellungen sichtlich zurück, um andere Seiten des christlichen Glaubens darzustellen,
I 15
114
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
die anmuthiger waren. — Jetzt begann man nun auch mehr und mehr die Gleichnisse Jesu selbst dar¬
zustellen , was ja auch schon früher geschehen war, aber nun in einem neuen, idyllisch - anmuthigen
menschlichen Sinne geschah. Die Geschichte vom verlornen Sohne, die bis heute so beliebt bei Malern
ist, stellt man sinnig dar, der barmherzige Samariter erscheint und spielt späterhin als Landschafts¬
staffage noch eine grosse Rolle. Schiavone malt einen ganzen Cyklus solcher Gleichnisse. Noch fehlt
aber auch in dieser Zeit; jede Neigung, die heiligen Vorgänge etwa zu orientalisiren, sie als jüdische
Geschichten auf palästinensischem Boden in historischem Costüm zu geben. Die Tracht der Gestalten
ist entweder eine frei erfundene Idealtracht, bei der wohl gewisse Grundvorstellungen von antiker
Pompeo Battoni. Magdalena
Original in der kgl. Gemälde - Galerie zu Dresden
Kleidung, wie sie auch wirklich wenigstens in Griechenland und Kleinasien bestand, festgehalten sind.
Oder man gibt nach wie vor Alles im Costüm der eigenen Umgebung. Wir können in Deutschland,
Niederlanden und Italien die ganze Trachtenkunde der verschiedenen Landschaften von 1200 — 1600
und auch später noch an den religiösen Bildern studiren. Nur in Venedig zeigt sich frühzeitig schon
auf sehr alten Bildern die Neigung, auch im Costüm zu wirken. Der Venetianer sah ja fortwährend
türkische, arabische, jüdische Gesandte, Ankömmlinge, Ansiedler in seiner Stadt. Von historischer,
kulturgeschichtlicher Forschung ist natürlich keine Rede; aber man begegnet doch bereits öfters einem
jüdischen Kaftan, einem Schofar, einem Kleidungsstück oder irgend einem Gegenstand aus der Synagoge
auf den kirchlichen Bildern alter Venetianer. Im Uebrigen charakterisirt man aber die Heimath Jesu
)
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
115
durch Turbane, türkische Waffen und Rüstungen, irgend welchen arabischen Hausrath der Zeit, wie man
ihn im Handelsverkehr kennen lernte. Das Bewusstsein, dass man es mit Palästina zu thun hat, wird
gelegentlich auch dadurch geweckt, dass man hebräische Buchstaben auf Rollen und Folianten anbringt,
die im Bilde verwerthet sind. So gibt es ein Bild von Mazzolino (1481 — 1528), wo der Knabe Jesus
in der Synagoge mit den Schriftgelehrten disputirt. Turbane bezeichnen hier das Localcolorit und
hebräische Goldbuchstaben über dem Lehrstuhl Jesu verrathen die wissenschaftliche Kenntniss des Künstlers.
Man würde irren, wollte man lediglich Unwissenheit und Naivität des Zeitalters darin sehen,
dass die genialsten Meister ihre Madonnen und Engelsgestalten in die Costüme der Frauen und Jung¬
frauen ihrer eigenen Zeit steckten. Das wirklicht sein solle. Nun, dieses Heil
war vielmehr in den Zeiten, da
das Christenthum noch in
seiner ranzen Kraft die
o
Gemüther beherrschte,
der Ausdruck eines
der tiefsten Lehr¬
sätze dieser [Reli¬
gion. «Wo zwei
und drei versammelt
sind in meinem Na¬
men , da bin ich
mitten unter ihnen »,
hatte Jesus gelehrt
und Paulus hatte
ausgeführt, dass die
Gemeinde, die
Kirche selbst, nichts
Anderes sei, als
die Verkörperung
Christi, des Heils,
das jeder Zeit « mit¬
ten unter uns » ver-
Rembrancit van Rijn. Die Kreuzabnahme
Original in der kgl. Pinakothek zu München
war in der Gestalt Jesu und
der Maria gewissermassen
sinnlich verkörpert. Was
bei Jesus und Paulus
von Haus aus eine
sittliche Idee der
ewigen Verwirklich¬
ung des Göttlichen
und des Guten in¬
mitten der mensch¬
lichen Gemeinwesen,
in der Familie, in
der Kirche war, das'
musste die Kunst in
wirklichen Gestalten
vor Augen führen.
Und so kommt es,
dass wir überall jene
Gnadenbilder und
Familienandachts¬
bilder finden, wie
z. B. die Madonna
des Holbein, die mitten in der bürgerlichen Familie erscheint und das jüngste Kind des Hauses auf
ihren Arm genommen hat, als wäre es ihr eigenes Christkindchen. So kommt es, dass Veronese
seine berühmte Hochzeit von Kana malt (Dresdner Galerie), wo mitten in einer Gesellschaft von
lustig zechenden Venetianern und Venetianerinnen, in prachtvollen Kleidern jener Zeit, Jesus im idealen
Gewand und mit dem Heiligenschein sitzt, als gehörte er zur Gesellschaft. Neger bedienen und bringen
Wein herbei, ja, man ist schon leicht bezecht. Es war keine Profanation des Heiligen und Religiösen,
es war vielmehr die Weihung des täglichen Lebens, dass man überall das «Immanuel» der jüdischen
15*
116
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Religion, das «mitten unter uns» des Göttlichen dargestellt zu sehen verlangte. — In unserer Zeit ist
das Bewusstsein dieser Herkunft der alloemeinen anachronistischen Benützung des Zeitcostüms durch
die Künstler fast ganz geschwunden, ja, wir haben erlebt, dass moderne Maler, welche versucht haben,
Christus in alter Weise mitten unter Menschen in den Costümen unsrer Zeit erscheinen zu lassen,
gerade in kirchlichen Kreisen selbst die meiste Anfeindung erfuhren. So sehr wandeln sich wie im
Leben, so auch in Religion und religiöser Kunst die Dinge. Veronese aber konnte noch die reichste
Familie von Venedig in den Costümen ihrer Zeit hinter den Königen aus dem Morgenlande herziehen
lassen zur Mutter mit dem heiligen Kinde, er konnte als Landschaftshintergrund Venedig mit seinen
Palästen und der Lagune selbst wählen, und es entsprach nur einem häuslichen religiösen Bedürfniss.
Neben Raffael und Michelangelo verdanken wir Tizian die massgebendsten Typen christlicher
Ideale für alle folgende Zeit. Seine «Assunta», die im Wirbel emporfährt, ist die schönste Verklärung
des «Ewig- Weiblichen» selbst, das nachmals Goethe besang. Sein Christus mit dem Zinsgroschen das
ernsteste Ideal des strenggesinnten Rabbis, der da gelehrt hatte, dass wir Alles, was wir Gutes thun,
nur als unsere Pflicht anzusehen haben. Vielleicht hat kein Maler die eigentliche Lehre Jesu als
eines einfachen Lehrmeisters der Menschheit in ihrer Verbindung von Strenge und Humanität mit so
richtigem Instinkt erfasst, als Tizian.
Das grosse Erbe der Kunst und mit ihr auch der religiösen Darstellung tritt in der Zeit, da
Tizian endet und Veronese auf hört, mit neuer nordischer Kraft Peter Paul Rubens an. Bei ihm wird
der Menschensohn voller Kraftmensch und Naturmensch, noch mehr als bei den Italienern. Wie wunderbar
ist dieser Christus mit der Sünderin, den die Münchener Pinakothek besitzt ! Mild ist sein Blick, aber
jeder Rest von mönchischer Mimik und Augenaufschlagerei ist getilgt; die Askese ist völlig überwunden,
und in der Darstellung der Sünderin spielt die strotzendste Sinnlichkeit herein. Das jüngste Gericht,
die Engelsstürze, die Kämpfe von Engeln mit Drachen und andere Motive aus der apokalyptischen
Mythe — wie werden sie zu neuen Apokalypsen malerischer Phantasie unter dem Pinsel dieses
Künstlers! Sein «heiliger Hieronymus», welch ein Kraftmensch, seine Kreuzabnahme im Dom zu
Antwerpen — welch ein Bild der menschlichen Ueberwindungskraft und Reckenhaftigkeit. Denn zu
mächtigen Recken zeigen sich nun Jesus und seine Anhänger ausgewachsen, ein Heroengeschlecht von
körperlicher und moralischer Kraft, wie es gewiss die ersten Verkünder der Lehre waren, die um
das Mittelmeer umher reisten, wie es nachmals auch Winfried und die germanischen Apostel gewesen
sind, die da Götterbilder stürzten und keine hageren, kraftlosen Asketiker sein durften, wenn sie
durchdringen wollten. Wenn schon so die natürliche Wahrscheinlichkeit mit den neuen Darstellungen
eines Rubens übereinstimmt, so tritt bei ihm natürlich noch eine ganz weltliche Freude an mächtigen
Formen, an frischen, lebensvollen Farben hinzu, an jeder Aeusserung menschlicher Kraft. Und so
muss das Christenthum es sich gefallen lassen, durch Rubens in souveräner Weise in die reine Religion
der menschlichen Phantasie und ihres Uebermuthes umgewandelt zu werden ; es wird potenzirt in ein
hyperbolisches Lebensgefühl wie Alles, was dieser geniale Mann mit seiner Phantasie und seiner
fröhlichen Zeichnerkunst und Farbenlust berührte. Ihm kam es nun vollends nur darauf an, wenn er
in eine Kirche ein grosses Altarbild stellte, die Gläubigen wie die Ungläubigen emporzureissen in
Kreuzigung
Phot. F. Haufstaengl, München
Madonna
Aufnahme von 13. Johannes in Partenkirchen
118
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Jos. Führich. Die Hochzeit zu Kana
eine geniale Anschauung des Lebens , alles Enge , Philisterhafte , Beschränkte auch den religiösen
Gestalten zu nehmen und ihnen die Schwungkraft der eigenen Seele zu leihen. Das höchste Ethos
der Kunst, eben diese ästhetische Schwungkraft und Energie der Seele, es wird durch Rubens auch
zu einem religiösen Ethos.
In seinem genialen Schüler van Dyk sehen wir indessen die ersten Spuren einer Richtung, die
nun in die religiöse Malerei kommt und die bis heute nicht ausgestorben ist, nämlich die nervöse
Religionsstimmung, die sich gelegentlich bis zur Hysterie steigert. Einige wunderbare Bilder van Dyk’s,
malerisch, harmonisch über jeden Tadel erhaben, zeigen doch bereits eine Betonung des Schmerz¬
ausdruckes, des Affectes überhaupt, der beinahe verräth, dass man diesen Schmerz nicht mehr so
überzeugt innerlich miterlebte und eben deshalb ihn zum Ausdruck physischer Qualen steigerte. Jetzt
beginnt Christus am Kreuze unter Zuckungen zu hängen, den Kopf zurückzuhängen und geradezu zu
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
119
schreien; jetzt ist die Madonna bei der Kreuzesabnahme oder Beweinung wie in Weinkrämpfe verfallen;
der Schmerz verliert alles Heroische, alles Heilige, alles im höheren Sinne Menschliche ; jeder Affect
wird zum Physischen. Nur wenige Künstler wie der schönheitsvolle Guido Reni begreifen noch, dass
der Mensch auch im höchsten Affect diese Regung innerlich selber bändigt, dass er sich ihm nicht
willenlos überlässt und dass ein gewisser Stoizismus, der jeder gesunden und geistig edlen Natur
angeboren ist, weit rührender wirkt, als wenn im Gehirn gar kein Punkt mehr vorhanden ist, der sich
gegen die Reflexbewegungen der Leidenschaften wehrt und sie im gewissen Sinne zweckmässig
regulirt. Guido Reni gelingt es noch in solcher Zeit, sein «Ecce homo » zu schaffen, seinen Christus
mit der Dornenkrone, ein Bild, das sich die ganze Welt erobert hat wegen der klassischen Schönheit
des Kopfes und des klassischen Masshaltens im Schmerzausdruck, das bei Laokoon in die Schule
gegangen scheint und durch volle Vergeistigung der Mimik des Leidens auch wirklich den Dulder¬
schmerz ausdrückt, der durch sein geistiges Opfer die Welt erlöst.
Dieses geistige Opfer, das für die Menschheit und die christliche Religion allein Interesse hat,
wird in der Folgezeit aber nun immer mehr ein körperliches Opfer. Körperlichen Schmerz darzustellen,
nicht mehr geistiges Leiden, wird die Tendenz der kirchlich -religiösen Kunst. Wir sehen zu der Zeit,
Mit Genehmigung derTVerlags- Anstalt von A. W. Schulgen in Düsseldorf
F. y. Overbeck. Jesus wird gebunden zum Hohenpriester geführt
120
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
da in Deutschland der dreissigjährige Krieg wüthet, in Spanien und Süditalien die Naturalistenschule
aufkommen, hoch verdienstvoll als eine Schule des künstlerischen Könnens, der machtvollen Wieder¬
gabe der Natur, aber in der Behandlung religiöser Martern und Vorgänge fast nur noch dem
vivisectorischen Interesse der rein körperlichen Affecte zugänglich. Dennoch gelingt es dem Haupt¬
vertreter dieser Richtung, dem gewaltigen Ribera, auch ein Bild von reinster Schönheit zu malen,
eine Verbindung vollster geistig-religiöser Schönheit und naturalistischer Wiedergabe in technischer
Hinsicht : jene knieende, von ihren Haaren umwallte Heilige, die man früher die Maria Aegyptiaca
nannte, die jetzt als Maria Magdalena bezeichnet wird.
Es beginnt vor und neben diesem Meister bei den Carracci und den Eklektikern jene rein
theatralische Auffassung der religiösen Vorgänge, die allmählich in die Extasenmalerei sich verliert.
Wir müssen bedenken, dass es sich um die Zeiten handelt, wo Inquisition, Hexenprocesse eine neue
Rolle spielen, wo der Protestantismus gegen den Jesuitismus in Deutschland einen dreissigjährigen
Verzweiflungskampf kämpft, wo alte mittelalterliche Mittel, welche im Katholizismus überwunden waren,
neu hervorgesucht werden : Stigmatisirte, Märtyrerthum, einseitige Betonung von äusseren Gnaden¬
mitteln. Der Protestantismus selbst aber bewies sich keineswegs als eine Weiterentwickelung jenes
grossartigen Humanismus, den Michelangelo und Tizian, Ulrich von Hutten und die freien Geister zu
Luthers Zeit bekannt hatten, sondern er versank sehr bald in Pietismus, Intoleranz, dumpfe Hart¬
köpfigkeit. Erst im achtzehnten Jahrhundert und durch die freigeistige Entwickelung Englands und
Frankreichs ward der abgeschnittene Faden des Humanismus weitergesponnen, durch die grossen
deutschen Geister des vorigen Jahrhunderts weitergeführt, um auch durch das Jahrhundert weiter zu
walten, an dessen Ende wir stehen.
Und die religiöse Malerei spiegelt unwillkürlich bis in die einzelnen und kleinern Motive diesen
Entwickelun^sgang der Geister. In Niederlanden kam die Kleinmalerei auf und Rembrandt sah die
Dinge rein malerisch mit neuen Augen an. Dort war das Judenthum zu Macht und Handelseinfluss
gelangt, wie in Venedig, mancherlei Kenntniss über die alttestamentarischen Schritten kam auf, kein
Wunder, dass wir bei Rembrandt neue Ansätze sehen zur historischen Costümmalerei, d. h. dass der
Kaftan, die Peyes in seinen religiösen Bildern zum Vorschein kommen, dass allmählig mehr und mehr
an den Jüngern Jesu auch ausgeprägt israelitische Typen erscheinen. Besonders der Judas Ischarioth
beginnt nun ausdrücklich als phönizisch-hebräischer Kopf aufzutreten. Man begann sich die Modelle
im Ghetto zu suchen und Tracht und Physiognomie von da zu entlehnen. Rembrandt selbst ist im
eigentlich religiösen Sinne kaum als ein schöpferischer Maler anzusehen ; seine Grablegungen und
heiligen Geschichten wirken durch ganz andere Eigenschaften, als durch besonders eigenartige Auffassung
der Vorgänge. Sein Simson und Delila und andere Werke aber lassen bereits eine Art von
versteckter Satire auf Menschen und Dinge erkennen. Schon Rubens hatte in seinem köstlichen
«Raub der Sabinerinnen» begonnen, mythische Gestalten humoristischer Weise in die Costüme dicker
Niederländerinnen zu stecken und allerhand schalkhafte Anspielungen zu machen. Jetzt geschah es
wohl wieder bei Rembrandt und Anderen, dass man auch biblische Motive benützte, um in ihnen
Anspielungen auf Bekannte im humoristischen Sinne hineinzuschaffen, eine Art von religiöser Pamphlet-
fiabr. Max pinx.
Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl
Christus
von Uh de pinx. Phot. F. Hanfstaengl, München
Pe/er Cornelius. Das jüngste Gericht
Original in der Ludwigskirche zu München
I 16
122
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
kunst, getragen von der ganzen Behaglichkeit niederländischer Humore. In diese Kategorie gehört
Rembrandt’s satirische Auffassung der «Susanna im Bade», die neuerdings Böcklin wieder aufnahm.
Wir verzichten weiter im Einzelnen zu verfolgen, wie im Norden diese religiöse Malerei immer
mehr ihren Charakter als solchen aufgibt und der biblische Gegenstand nur ein Motiv wie alle andern
wird aus Sage und Geschichte, das man im Dienste rein malerischer, landschaftlicher, genremässiger,
kleinmalerischer Reize venverthet. Wir verzichten zu zeigen, wie die Extasenmalerei in Italien
allmählig zur vollen Aeusserlichkeit in Posen und Gruppi'rungen entartet, wie auf der einen Seite
Alles in’s Decorative sich auflöst und aut der andern alles Religionsgefühl in Ueberspanntheit, Ausser-
sichsein, künstliche Aufgeregtheit verfällt. In Spanien hatte Murillo, bei aller massvollen Schönheit,
schon eine leise Neigung nach dieser Richtung bekundet; bald aber war die ganze Malerei katholischer
Länder, so weit es sich um die Religion handelt, nur eine Malerei von Verzückungen und Martern.
Und dann kam sogar eine Zeit, wo die kirchliche Kunst zur Salonkunst ward; wo man die Mutter
Gottes malte, wie sie bei ihrem Söhnchen zum Elandkuss zugelassen wird und wo Rococogebärden in
den heiligen Geschichten galante Vorgänge aus dem höheren Gesellschaftsleben versinnlichen. So
hatte schon Lodovico Carracci einen Condolenzbesuch der Apostel bei der trauernden Mutter Gottes
gemalt; Petrus kniet vor ihr und wischt sich mit einem Schnupftuch die Thränen ab. Es war das
Wunderliche, dass man eine solche trivialisirte Auffassung der religiösen Gegenstände mit schwung¬
vollstem Vortrag in mächtigen Dimensionen malte. Im Einzelnen entsteht noch unendlich viel Schönes,
künstlerisch Interessantes; die heiligen Büsserinnen und Martyrinnen werden aber immer mehr zu
Gestalten einer blühenden Venus; man wetteifert, ihnen verführerische Formen zu geben, und zum
Schönsten in dieser späten Zeit rechnet man da z. B. Pompeo Batoni’s «Büssende Magdalena». Dieser
Künstler starb, als bereits Lessing’s «Nathan der Weise» seit acht Jahren die Gemüther zu einer
neuen Stellung zur christlichen Religion erzogen hatte. Raphael Mengs hatte noch einmal versucht,
die kirchliche Malerei auf einen besseren Inhalt zu stellen. Winckelmann aber hatte alle Gebildeten
und die Künstler für die griechische Antike begeistert; die künstlerische Lust wendete sich für einige
Zeit überhaupt von Allem ab, was mit christlichen Erlösungslehren, Martern, frommen Vorgängen und
dergleichen in Beziehung stand.
Und an diesem Punkte angelangt, verändern wir den Standpunkt unserer Betrachtung, um ein
ganzes Jahrhundert zu überspringen, mitten hinein in die uns umgebende Gegenwart zu blicken und
von ihr aus einen Rückblick auf das zu thun, was seit Wengs und Batoni aul dem Gebiete der
religiösen Kunst erstrebt worden ist. Das Ergebniss an interessanten Beobachtungen dürfte schon
durch den Contrast grösseren Reiz erhalten.
Denn welch eine ganz andere Welt von Ansichten und Absichten gegenüber den christlichen
Motiven eröffnen uns etwa die Panoramen und Gemälde eines Piglhein, sein grosses Golgatha und
Jerusalem, sein Begräbniss Christi! Welch ein Weg von der Darstellung Gottvaters durch Michelangelo,
wo der Schöpfer als ein Zeus durch den Weltraum fährt, durch die Gewalt seiner Gebärden ungeheure
schöpferische und erhaltende Triebe verrathend — welch ein Weg von da zu dem sonderbaren
Wichtelmanne, den Böcklin auf seinem Paradiesbildchen aus dem Schöpfer macht! Bei ihm ist der
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
123
Adam ein ängstlicher, verschüchterter Halbknabe von ungelenken, eckigen Formen, der dumm vor
sich in die Welt schaut, während Gott ein wahrer Wurzelmann aus dem deutschen Märchen ist. Ein
leiser humoristischer Zim oreht durch dieses Böcklinmärchen. Und bei Michelangelo war dieser neu-
geschaffene Adam das Urbild aller jugendlich-männlichen Kraft, wie ein elektrischer Funke springt das
Leben aus dem Finger Gottes in ihn über, dehnt und schwellt seine Glieder, und wir sind zufrieden,
dass wir von solch’ einem Urvater abstammen dürfen. Aus dem Urbilde aller Menschenkraft, das
nach dem «Ebenbilde» alles Göttlichen geschaffen sein sollte, ist vielfach ein Kretin geworden. Die
Künstler, welche unterdessen alle von Darwin gehört, gelernt haben, machen aus dem mythischen
E. von Gebhardt. Pieta
Adam, den all die grossen Künstler der menschlich-religiösen Zeit im Sinne einer symbolischen Figur
erfassten, das, was sie sich naturwissenschaftlich unter einem «ersten» Menschen denken, und so haben
wir denn Adam und Eva, statt als reife Urmenschen, fähig, eine ganze Menschheit zu erzeugen,
sogar als halbflüggen Backfisch und Penäler aufgefasst gesehen, die sich noch nicht recht klar sind
über ihre verschiedene Bestimmung.
Mächtig entwickelte sich im vergangenen Jahrhundert der geschichtliche Sinn ; eine neue Wissen¬
schaft, die Culturgeschichte, entsteht im Zusammenhang mit dem Fortschritt der Naturwissenschaft und
der Geschichtsforschung. Jedermann aber begann zu reisen, denn die Eisenbahnen ermöglichen Malern
16*
124
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und andern Leuten seither den Verkehr durch die ganze Welt. Die religiöse Kunst konnte von
diesen Umständen nicht unberührt bleiben. Es erschien jedem geschichtskundigen Laien absurd, dass
Jesus und seine Jünger noch ferner in Trachten einhergehen sollten, die sie nie getragen haben.
Costümstudien, Landstudien werden gemacht ; Photographieen von Jerusalem selbst und den heiligen
Stätten werden aufgenommen und verwerthet und im selben Maasse, wie in der Leserwelt der
sogenannte «historische» Roman beliebt wird, suchen nun auch die Künstler die Motive der Evangelien
in ihrer localen und geschichtlichen Bestimmtheit darzustellen. Jetzt versetzt man uns wirklich in die
eigentümlichen Felsschluchten Palästinas; der Leichnam Jesu wird, als geschähe es in einem Roman
von Ebers, durch eine hohe Thalschlucht getragen von Männern, die schönere Exemplare israelitischen
Wuchses darstellen. Man sieht die Grabkammer, entsprechend dem, was wir aus egyptischen und
palästinensischen Ausgrabungen gelernt haben. So stellt es uns Piglhein dar. Sein grosses Panorama
von Golgatha war, wie Jedermann weiss, ein Rundblick auf das historische Jerusalem, durch Studien
an Ort und Stelle und Geschichtsstudien möglichst der geschichtlichen Wahrheit entsprechend dargestellt.
Eine neue, eigenartige, religiöse Stimmung aber waltet gerade in den Werken dieses Künstlers, denn
wir lernten mit ihm das Leiden und Dulden jenes Religionsstifters auf Golgatha als eine geschichtliche
Wirklichkeit verstehen ; wir lernten die Grösse des historischen Ereignisses mit seinen tausendjährigen
Folgen gewissermassen an Ort und Stelle verstehen und eine neue Weihe, die Weihe des historischen
Bewusstseins ward erzielt. Hermann Kaulbach malte uns eine « Flucht nach Egypten », wo die Mutter
Maria völlig den Typus der Egypterin, der Semitin, hat, wo Gewand und Haltung streng localisirt
sind und orientalische Knaben, wie wir sie unter den Araberjungen auf unsern ethnologischen Aus¬
stellungen sehen, dem heiligen Paare Brunnenlabung reichen. J. Keller auf seiner «Erweckung von
Jai'ri’s Töchterlein» führt uns gleichfalls streng orientalische Physiognomieen vor, malt uns ein ethnologisch
fest bestimmtes Mädchengesicht und einen Christus, der ganz zum Arzt und Rabbiner seiner Zeit
geworden ist. Diese Richtung der ethnologischen und culturgeschichtlichen Auffassung haben auch
Andere verfolgt, die etwa die Austreibung aus dem Tempel malen und sich mit egyptischen Studien,
mit den Bauformen Palästinas befasst haben, um den Tempel von Jerusalem «echt» darzustellen, wie
er wirklich aus^esehen haben könnte, woraus man gleichzeitig neue malerisch -architektonische Effecte
entwickelt. Ja, es hat sich sogar eine orientalische Landschaftsmalerei gebildet, welche an Ort und
Stelle Landschaftsstudien macht und diese dann mit einer Staffage aus den Evangelien, etwa einer
Flucht nach Egypten, belebt. Am Meisten hat sich diese historische Richtung in Deutschland und
Frankreich entwickelt. Jesus Christus ist hier meist ein denkender Rabbiner oder ein mit langen
Haaren umwallter «Nabi» geworden, ein Prophet, wie es die Orientalen verstanden. Da die lange
Haartracht auch Eigenthümlichkeit der « Nabis » war, so sehen wir Jesus öfters ganz zu einem solchen
werden. Hier greift ein Künstler wie Munkascy in die Neugestaltung religiöser Typen mächtig ein;
seine Kreuzigung, sein Christus im Tempel, sein Jesus vor Pilatus ist ganz in der ethnologischen
Richtung gedacht. Während Andre aber ein semitisches Schönheitsideal dabei aufsuchen, sehen wir
bei Munkascy mit Vorliebe die Physiognomieen des Ghettos und nur Jesus und die heiligen P rauen
selbst werden in einem regelmässigeren Typus gegeben. Das ungarische Temperament in Munkascy
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
125
aber zeitigt in der dramatischen Auffassung der Vorgänge, sowie in der Darstellung des schmerzlichen
Affectes Vieles, was an die Auffassungsweise van Dyk’s in dieser Hinsicht erinnert. Mehr wie bei
Andern ist der pantomimisch erhöhte Ausdruck der Leiden und Leidenschaften bei diesem Meister
bezeichnend für seine religiösen Darstellungen.
Wir können das Bild der religiösen Malerei in den letzten Jahrzehnten gar nicht verstehen,
ohne uns zu erinnern , dass das Jahrhundert vorwiegend ein kritisch forschendes war und dass die
Maler nicht unberührt davon geblieben sind. All die verschiedenen Auffassungen des Christenthums,
die verschiedenen Aufklärungen und Erklärungen der Lehre sowohl wie der Wunder Christi, die man
versucht hat, spiegeln sich in den Auffassungen weltlicher Maler wie in denen der Frommgesinnten.
Auch die Wahl der Gegenstände zeigt manches Neue. Diejenigen, welche sich die Wunder Jesu als
magische, magnetisch -spiritistische Heilwirkungen vorstellen, weil sie in ihren Nebenstudien nicht un¬
berührt geblieben sind von den spiritistischen, somnambulen und hypnotischen Theorieen, haben uns
Jesus als Hypnotiseur und Heilmagnetiseur gemalt. In Frankreich und Deutschland begegnet man
solchen Bildern. Gabriel Max hat eine ganze Reihe von religiösen Bildern gemalt, die mehr oder
minder das Bewusstsein durchblicken lassen, die Auferweckung einer Todten durch Jesus sei die Folge
magnetischer oder sonstiger Wirkungen des Handauflegens. Die grosse Innigkeit dieses ausgezeichneten
Künstlers ist eine Innigkeit der Nervosität. Die Mutter Gottes ist unter der Hand dieses Künstlers
mehr und mehr eine bleichsüchtige, somnambul angelegte Frau geworden, die einen nervösen Sohn
auf die Welt gebracht hat. Denn das Haar des todtenerweckenden Jesus ist ganz dünnfaserig geworden,
alle Wunderkräfte scheinen in die Handnerven dieses Mannes übergegangen zu sein; er erhält ganz
das Gepräge unserer Hypnotiseure, die sich künstlich das Nervensystem schwächen durch die peri¬
pherischen Nervenaufregungen ihrer Heilmethoden. Der Ausdruck der Madonnenaugen wird rätsel¬
hafter; die Pupillen erweitern sich wie bei Kurzsichtigen, ein Geschlecht von wundersamen Hysterikern
und Mondsüchtigen ist aus den heiligen Figuren geworden, die bei Michelangelo und Rubens noch
strotzten von derber Gesundheit. Dieses kritische Jahrhundert nahm Wunder nicht mehr als Wunder;
es wollte sie natürlich erklären und so ist die ganze Richtung der religiösen Malerei entstanden, die
mehr oder minder jene vermeintlichen magischen Naturkräfte in Jesus vermuthet und die Gestalten
der Religion als mit solchen belastet darstellt. Rein künstlerisch ist sicher ausserordentlich viel
Interessantes dabei entstanden.
Aber auch eine sociale Strömung hat sich im Lauf dieses Jahrhunderts ausgebildet. In den
Zeiten, da Veronese und Holbein schufen, da war das Christenthum auch ein Evangelium für die
Reichen und Christus konnte fröhlich zechend inmitten reicher Venetianer erscheinen. Die socialen
Kämpfe des neunzehnten Jahrhunderts, einseitige Deutungen von gewissen Sprüchen Jesu Hessen den
Glauben reifen, dieser Rabbi sei ein socialer Umstürzler gewesen. Eine grosse Richtung innerhalb
der protestantischen Theologie betonte, dass das Christenthum ein Evangelium für die Armen sei und
an diese Zeitströmung sehen wir einen Mann wie Uhde anknüpfen in seinen Darstellungen religiöser
Stoffe. Seit sein «Abendmahl» berechtigtes grosses Aufsehen erregte, hat er alle bekannteren Motive
der Jesuslegende in diesem Sinne dargestellt; Firle und Andre haben ihm nachgeeifert und im be-
126
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wussten Gegensatz zur historischen Richtung brach man mit allen ethnologischen und culturhistorischen
Beziehungen. Wie zur Zeit des Quattrocento steckt man die ganze Bevölkerung Palästinas in die
Trachten unserer Zeit. Aber wenn man damals den religiösen Gestalten das Beste anzog, was die
«Confection» hervorbrachte, wenn man auch der Madonna ein haltbares, gutgewebtes Kleid mit hübscher
Goldstickerei verlieh, so treten in der socialen Christenthumsschule unserer Zeit die Apostel und das
gläubige Volk grundsätzlich nur im zerschlissenen Rocke der modernen Fabrikarbeiter, des grenzenlos
Armen, des Sachsengängers und Landarmen auf. Absichtlich geht man jedem schönen Gesichtszuge
aus dem Wege; eher
sucht man sich Ver-
brecherphysiogno-
mieen und Mikroce-
phale aus, unter
denen man Jesus aul¬
treten lässt. Man
hat dazu das volle
Recht, denn auch der
Spruch : « ich kam
nicht einzuladen die
Gerechten, sondern
die Sünder zur
Sinnesänderung» ist
ein Hauptsatz der
christlichen Religion,
gleich dem « da bin
ich mitten unter
ihnen». Diese bei¬
den Worte scheinen
die sittlichen Beweg¬
gründe dieses male-
Giotto’s aber wird
vonNeuem das künst¬
lerische Hauptge¬
wicht auf die ab¬
sichtslose Innigkeit,
Unvorbereitetheit
der Gebärde gelegt,
v. Uhde selbst hat
darin eine allgemein
anerkannte und der
Kunst im Allge¬
meinen wohlthätige
Zartheit entwickelt,
welche eine neue Ver¬
tiefung in die ethi-
sehen Werthe der
Malerei bedeutete.
Was Lionardo in sei¬
nem « Abendmahl »
anstrebte, hat auch
er wieder gesucht:
die völlige unbefan-
o
A. Cabanel. Der Stindenfall
rischen Armenevan- ...... gene sich selbstüber-
Original im kgl. Maximilianeum in München o
geliums. Wie zur Zeit lassene Gebärdung
der Gestalten. Im Uebrigen aber ist es fraglich, ob der Rückgang auf frühere Zeiten in der Costü-
mirung gleichzeitig ein wirkliches Armenevangelium war. Denn die Arbeiterschaft selbst, die hier ihr
Abbild sah, erwartete am Wenigsten durch Christus ihr Heil; der absichtliche Anachronismus war viel¬
leicht auch innerlich ein Anachronismus. Aber es ist interessant, dass in einer Zeit diese ganze
Richtung auch in Frankreich, England und weiterhin sich verbreitete, wo es in Berlin eine Stöckerpartei
gab und eine allgemeine Tendenz herrschte, die Armenfrage und die sociale Frage mit Hilfe des
Christenthums zu lösen als eine Art socialer Botschaft. Früher war dieses Christenthum eine Blut-
PIE KUNST UNSERER ZEIT.
127
erlöserschaft von Sünden der Menschheit durch das heilige Blut des Sühnopfers gewesen und die Malerei
hatte das vorwiegend gespiegelt; dann war es die Lehre vom Menschensohn, vom erhöhten, menschlich
vermenschlichten Menschenthum geworden. Dann kam die Extase. Und jetzt hiess es: Rufet die
Armen, die Krüppel, die Blinden. Früher als diese Richtung hatte in unserem Jahrhundert in Deutsch¬
land, Niederlanden und Belgien, auch in Frankreich eine archa'i'sirende Auffassung anderer Art um
sich gegriffen, deren hervorragendster Vertreter in Deutschland v. Gebhardt geworden ist. Die
allgemeine Ten-
denz schlichter
Vertiefung, in
Gebärden und
in der Auffass¬
ung der Vor¬
gänge ist hier
das rein künst¬
lerisch Werth¬
volle, das aus
einem Triebe
nach religiöser
Echtheit desGe-
fühls gewachsen
ist. Unecht aber
in den vorge¬
schrittenen Zei¬
ten geschicht¬
lichen Wahr¬
heitsgefühls,
das wir nicht
unterschätzen
sollen als ein
hohes ethisches
Werthgefühl
der Menschheit
und des fort¬
schreitenden
Religionsge¬
fühles selbst, ist
das Archaisiren
dieser Richtung
in der Costü-
mirung. Das
Christenthum
wird hier ein¬
seitig als Reli-
gion der De-
muth betont.
Man sieht es an
allen Gebärd¬
ungen und Halt¬
ungen, dass hier
nicht freie Be¬
kenner einer
schönen Huma¬
nität, die Jesus
thatsächlich ge¬
lehrt hat, son-
ß. Piglkein. Grablegung Christi
dern
einseitig
demüthige Wesen das religiöse Empfinden versinnlichen sollen. Aber der Spruch: «wer sich selbst
bescheiden hält, wird erhöhet werden» ist nur ein Spruch allgemeiner Menschenweisheit, an der
Jesu Lehre so reich ist; die einseitige Betonung derartiger Worte sehen wir oft zu ganzen Richt¬
ungen im christlichen Sectenwesen werden , woraus sich auch eine malerische Sectirerei entwickelt.
Im Zusammenhang damit steht, dass man in solchen Künstlerkreisen die legendarischen Gestalten in
die Costüme des Mittelalters steckt, dass man Jesus und seine Umgebung nicht etwa in Trachten
seiner Zeit, auch nicht unserer Zeit, sondern etwa in den Kleidern malt, die zu Cranach’s und Holbein’s
128
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Zeit Mode waren. Dies ist nun ein wirkliches Archaisiren und mit ihm archaisirt man auch in Formen,
Drapierungen und Gebärden. Die Apostel, die bei Rubens oder Dürer so breitbrüstige Heroengestalten
waren — man denke an die Dlirer’schen Apostel in der Münchener Pinakothek mit ihren gewaltigen
Denkerschädeln — sie werden wieder dürftige, engbrüstige Gestalten mit den linkischen Gebärden der
geistigen Armuth. Ein leichter Zug von Pietismus zeigt sich und man denkt daran, dass es in Düssel¬
dorf sowie am Niederrhein überhaupt in diesem Jahrhundert in der That auch einen speciellen prote¬
stantischen Pietismus gegeben hat, dem solche Schöpfungen innerlich verwandt scheinen. Dasselbe gilt
auch von Niederlanden und Belgien, wo eine ähnlich archa'isirende Schule durch verschiedene Jahr¬
zehnte unseres Jahrhunderts sich mit alterthümlicher Costümirung, Linienstrenge u. s. w. sozusagen
auch als ein malerisch strengeres Christenthum documentirt. Bis zu einem Manne wie Lempoels reicht
diese Linie; er malt gelegentlich eigenthümlich dogmatische Wunderbilder, heilige Hände, die ein Kreuz
umfassen, gen Himmel flehende Hände von Frommgläubigen, und der Schein einer neuen Frömmelei
darin wäre vollkommen, wenn der Maler nicht verriethe, dass es ihm dabei weit mehr um das
künstlerische Problem zu thun ist, möglichst viel Handstudien interessant durchzubilden, als etwa
dogmatisch zu wirken.
In diesem Jahrhundert stellten sich aber auf katholischer Seite auch eine Reihe neuer Auf¬
fassungen ein, welche die Folgerung von einer Weiterentwicklung der katholischen Dogmatik sind. Seit
Pius IX. kam in der Kirche der Herz-Jesudienst auf und der Dienst des heiligen Herzens Mariä. Seit
dieser Zeit begegnen wir auch in der Malerei den Herz-Bildern. Religiöse Künstler wie Fürst, Deger
malen Maria und Jesus mit einem flammenden Herzen auf der Brust, Zenker eine «Heilige Veronika»,
welche das Herz in der Hand trägt. Die « unbefleckte Empfängniss » Mariä ward in diesem selben
Jahrhundert zum Dogma erhoben und im Zusammenhang damit sehen wir den Madonnentypus vielfach
ganz zum Typus der reinen Jungfrau werden. So hat Bodenhausen eine reizvolle Madonna gemalt
mit ihrem Jesusknaben, der man nicht ansieht, dass sie eben Mutter geworden ist. In den Zeiten der
frühem grossen kirchlichen Malerei wäre es nie einem Maler eingefallen, die Madonna, die ihr Kind
trägt, anders als mit der breiten Bildung der Hüften zu malen, welche das Zeichen der Mutterschaft
ist. Neuerdings, im Zusammenhang mit der Theorie von der völligen Jungfraunschaft der Maria, hat
man auch das Walten des heiligen Geistes so immateriell aufgefasst, dass weder in den Lormen, noch
im Ausdruck der Augen, weder in der Bildung des Busens noch sonstwie eine Erinnerung daran
aufkommt, dass die Gemahlin des Joseph jemals zur Ehefrau geworden sein könne. Sondern eine
Jungfrau im vollen Sinne des Wortes wird gemalt, welche die strengsten Anforderungen eines Mante-
gazza erfüllt. Welch ein Unterschied der Zeiten! Van Eyk und viele andere ältere Künstler konnten
die Himmelskönigin noch malen im Zustand vor der Geburt ihres Kindes; den «englischen Gruss»,
die « Verkündigung » malte man mit Vorliebe mit den deutlichen Anzeichen der guten Hoffnung am
Leibe der heiligen Mutter! Und wie vielen Frauen, die gleicher Hoffnung waren, ist gerade dieser
gesunde, naive, künstlerische Realismus tröstliches Religionsvorbild geworden. Diese Andeutungen schwinden
bei den meisten neueren Künstlern, besonders bei denen, die im katholischen Sinne schaffen. Ja, man
ist umgekehrt so weit gegangen, dass man sich nicht nur damit begnügt, die Gottesmutter völlig als
Hermann Kaulbach pinx.
Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl
Maria
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
129
E. Küsthardt. Friede sei mit Euch
eine Diana mit allen Zeichen der Keuschheitsgöttin zu bilden, sondern sogar sie als ein noch unent¬
wickeltes Mädchenkind und doch bereits im Besitze eines kräftigen Knabens darzustellen. Ein Beispiel
davon ist Wunderwald’s «Madonna». Hier ist die Jungfrau nicht einmal Jungfrau, sondern ein Mädchen
zwischen dreizehn und vierzehn Jahren. Der Knabe aber ist recht kräftig entwickelt und stellt Ansprüche
an seine junge Mutter, welche diese auf keine Weise zu stillen im Stande wäre. Es entspricht dies
aber ganz dem kirchlichen Zuge und der Entwicklung des Katholizismus besonders, der Alles dogmatisch
immaterialisirte in diesem Jahrhundert, immer spiritualistischer ward. Die Kunst kann einem solchen
Streben nur bis zu einem gewissen Grad folgen; sie kann einen solchen Process der Vergeistigung
nicht mitmachen. Wir sehen in der engeren kirchlichen Malerei des vergangenen Jahrhunderts viel¬
fach ein Gegenstück zum Quattrocento. Was bei einem Perugino die vergeistigte Frommheitsgebärde
ist, das ist heutzutage die Bleichsucht, die Nervenschwäche, ja, sagen wir es, der neurasthenische
Zug, der gerade den meisten Gestalten religiöser Kunst anhaftet, die im Zusammenhang der offi¬
ziellen Religion geblieben sind.
Langsam haben sich auch die Stoffgebiete verändert, in denen man sich bewegt. Wer hätte
früher einen Tod des heiligen Joseph gemalt, wo Jesus am Todtenbette seines eigenen Vaters sitzt? Die
Evangelien wissen Nichts von einem solchen Vorgang; es ist häuslicher Ausbau der Christussage, den
fromme Gemüther verübt. Nun, Walch hat es zum Beispiel gemalt. Auf protestantischer Seite
entsprechen diesem Legendenausbau statt dessen die zahlreichen Reformations- und Lutherbilder, die
i 17
130
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wir Männern wie Hübner, Lindenschmitt u. A. verdanken, die aber wohl mehr als Aeusserungen
historischer Kunst überhaupt gelten möchten, denn als im engeren Sinne religiöse Kunst. Bemerkens¬
werth für unser Jahrhundert ist dagegen das Aufkommen eines bereits in den Evangelien vorhandenen
uralten Motivs, das man in früheren Jahrhunderten fast gar nicht findet, jenes «Lasset die Kindlein
zu mir kommen», Jesus von Kindern umgeben.
Wie ist das doch so seltsam ! Wie sehr gibt es Anlass zum culturhistorischen Nachdenken !
Alle die vorangegangenen Jahrhunderte haben kaum einen ernstlichen Versuch gemacht, den kinder¬
versammelnden Je¬
sus zu malen. Ab
und zu einmal ein
schüchterner An¬
lauf, dass vielleicht
u. A. auch Kinder
auftreten; thatsäch-
lich gibt es unter
den berühmten
grossen Werken
aller religiösen
Kunst im Laufe von
sechs bis acht Jahr¬
hunderten keine
einzige nennens-
werthe Darstellung
des Motivs. Wir
aber erleben kaum
eine Ausstellung,
wo wir es nicht
sehen. Seit den
Zeiten der Naza¬
rener ist es mehr
Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl
y. AI. H. Hofmann. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben
und mehr aufge¬
kommen und Jeder
hat es nach sei¬
ner Weise benützt.
Drei Evangelien
legen besonderen
Werth auf diese
Episode im Leben
Jesu — wie kommt
es, dass jene ver¬
gangenen Zeiten so
wenig Notiz davon
nahmen ?
Nun, es muss¬
ten doch wohl erst
Rousseau's undjean
Pauls Schriften ge-
schrieben werden
mit ihrem Rück¬
gang zur naiven
Natur, es musste
Schiller über das
Naive und Senti¬
mentale schreiben, es mussten Männer wie Pestalozzi und Fröbel auftreten und ein Jahrhundert der
mächtig werdenden Erziehungsinteressen anbrechen, ehe der religiöse Zeitgeist in den Kindersprüchen
Jesu das fand, was zur sinnigen künstlerischen Darstellung reizen konnte. Dies allmählige Hervor¬
treten eines uralten, aber von der Kunst unbeachteten Motivs, seine Erhebung zum selbstständigen
Centralgedanken eines Bildes, weil es ein Centralgedanke des Zeitbewusstseins ward, den man darin
versinnlichen konnte, gehört zu den interessantesten Vorgängen der menschlichen Geistesgeschichte.
Früher mochte es wohl gelegentlich als erzählendes Referat mit unterlaufen, wenn Einer ganze
Legendencyklen zu illustriren hatte ; aber wo mochte ein Tizian, ein Michelangelo daraus eine kiinst-
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
131
lerische Folgerung ziehen? Allenfalls rang sich die Plastik vielleicht einen Jesus ab, der ein Kind
segnet, aber es blieb eben nur beim Segen. Die Hauptsache: «Werdet wie die Kindlein, denn
solcher ist das Himmelreich» war den Zeitaltern fremd geblieben. Man sprach es nach, dachte sich
das Seinige oder gar nichts dabei , und ging zu etwas Andrem über. Es mussten philosophische,
gen wechseln¬
den Religionen
der Zeitalter
wieder, die in
keinem Dogma
gefasst wer¬
den, sondern
die inneren
ethischen
freien Bedürf¬
nisse sind, die
sich im Laufe
der Entwickel¬
ungen erge¬
ben. Das le¬
gendarisch
geheiligte Mo¬
tiv ist mehr
oder minder
ein Vorwand
für solchen
Drang der Zeit¬
religion ; es
taucht auf,
verschwindet,
macht einem
neuen Platz,
der besser der
Zeitstimmung
und ihren Ge-
pädagogische
Zeitalter an¬
brechen , es
mussten Jesus
verwandte mo¬
derne Geister
kommen , um
den Zeitgenos¬
sen den tiefem
Sinn solcher
Worte in’s
Allgemeinbe¬
wusstsein zu
bringen, dass
auch die Ma¬
lerei dieser
vergeistigten
Kinderliebe
Sehnsucht
nach Kindheit
und Harmonie
der Kindheit
einen betonten
Ausdruck zu
verleihen ver¬
mochte. So
spiegelt die re¬
ligiöse Kunst
im weitesten
Sinne diejeni-
WM
ilflfU&iL-
C. von Bodenhausen, Madonna mit dem Jesusknaben
müthsbedürfnissen entspricht. Es ist aber der Vortheil der religiösen Kunst, dass sie eben diese
Gemüthsbedürfnisse wiederspiegeln kann und darf.
Jene Neigungen und Richtungen, die wir zuletzt charakterisirten, sind durch lange Jahrzehnte
hindurch, besonders da, wo das Bild dem praktischen Kirchenzwecke als Altarbild, Kirchenbild über-
17*
132
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
haupt diente, mit einem besonderen Schönheitsstreben verbunden gewesen, das wir das akademische
nennen wollen, um kurz etwas zu bezeichnen, was auf einer eigenthümlichen Verbindung der Ergeb¬
nisse des Schulstudiums an der Antike mit den Bestrebungen der Nazarener beruht. Wir springen
vom Ende des Jahrhunderts zu seinem Anfang, um im Vergleiche Mittel des Verständnisses seiner
Entwickelung zu gewinnen.
Denn nach dem Tode Mengs und nach der ldassizirenden Zwischenzeit hatte eine grosse Kunstreaction
begonnen, die von Neuem vor Allem an die religiöse Kunst anknüpfen und, dem theoretisirenden
Geiste des Jahrhunderts gemäss, womöglich alle Kunst zur religiösen machen wollte. Cornelius,
Overbeck, Führich, Veith, Steinle waren die Führer der Bewegung. Jedermann weiss, wie sie nach
dem Verlust der grossen Malkunst, rein technisch, alle Malerei zur Zeichnerkunst zunächst zu machen
suchten. Für die religiöse Kunst, für eine Erfrischung der Auffassung der alten religiösen Motive
haben sie sicher so segensreich gewirkt, wie nur jemals Giotto in seiner Zeit. Die äusseren Mittel
waren rückschrittlich. Das eigentliche Können, die Fähigkeit der plastischen Verwirklichung des Aus¬
druckes war verloren. Aber der Ernst der Phantasiearbeit, der genau das wiederholte, was Giotto
und Dürer, Jeder in seiner Art thaten, die neue sinnige Auffassung der Situationen, mit welcher Cornelius
alles conventionell Gewordene abstreifte und ganz von vorn damit begann, sich das ethisch Wesent¬
liche schlicht und richtig vorzustellen auf seinen Cartons und Fresken, das bedeutete in der That eine
Erneuerung des Besten in der religiösen Kunst. Man schaffte das Theater ab und nahm die Dinge
wieder genau. Weder ein Uhde, noch ein Max Klinger mit seinen jüngsten Darstellungen der Kreuzigung
und des Leichnams Christi, die zwischen Cornelius und Mantegazza eine moderne Verbindung schaffen,
auch nicht eine Pieta Böcklin’s mit ihrer stummen Ausdrucksliille, auch Stuck und seine Kreuzigung
wären in Deutschland nicht denkbar, wenn nicht Cornelius für die Neuvertiefung der ganzen psycho¬
logischen Gebärdung bahnbrechend vorangegangen wäre. Viel Pedantisches, mancherlei Klügelei hat
er freilich in seine Auffassungen der Evangelien und der Legenden, der christlichen Mythik überhaupt
hineingebracht und jene fromm naiven Künstler wie Overbeck und Führich wirken im Grunde heut¬
zutage auf uns viel naiver, rührender, ja, oft phantasiereicher, als Cornelius selbst. Aber die «apo¬
kalyptischen Reiter» bezeichnen doch einen Höhepunkt der christlichen Mythendarstellung, durch Gewalt
der Conception neben Rubens und Michelangelo namhaft. Und wenn Böcklin vor Kurzem auch seine
«apokalyptischen Reiter» malte in der ihm eigenen Balladen- und Märchenstimmung, mit welcher sein
Geist auch die Gestalten der christlichen Mythik auftasst, so wird man das grosse Verdienst, welches
Cornelius in der mächtigen, grossartigen Auffassung des gleichen Stoffes hatte, als religiös-ethischer.
Künstler erst recht erkennen. Die Böcklin’schen Gestalten sind Märchengespenster; die Figuren des
Cornelius ethische Gewalten.
Wenn wir nun das, was die nazarenische Zeichnerschule geleistet hat, etwa die Overbeck sehen
Sakramente, in ihrer Art köstliche Erfindungen, die cornelianischen Campo Santo-Cartons betrachten,
so werden wir den inneren Reichthum von sinniger Auflassung der christlichen Legendenwelt doch
gar sehr bewundern. Im Allgemeinen neigte man mehr wieder zu einer gewissen idyllischen Auffassung
der Vorgänge. Auch wo starke Handlung und aufgeregte Situationen dargestellt werden, beweist
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
133
man eine gewisse Zurückhaltung, eine elegische Auffassung der Gebärden. Was die Schule in Italien
durch das Studium Mantegna’s und der Zeit vor Raphael errungen hat, ist bekannt. Dass von ihnen
bis zu den heutigen englischen « Präraphaeliten » eine sichere Linie führt, ist augenscheinlich, wenngleich
in England grosse Aesthetiker, wie Ruskin, von ganz anderen Gesichtspunkten aus in der englischen
religiösen Kunst gewisse mächtige Anregungen gegeben haben. Aber es bedürfte einer besonderen
Geschichte des englischen Geisteslebens, um bis zu dem jüngst verstorbenen Sir Frederic
die Enwickelung der religiösen Kunst Leighton darzustellen. Die anglika-
in diesem Lande seit van Dyck’s nische Kirche , der Geist der
Engländer kennt
Reynold’s und
vollends
freiere, heiterere
Religions-
ö
L. von Flesch- Brunningen. Golgatha
Stimmung wie der Continent. Raphaelische Anregungen und die Pflege der eigenen Rasse als einer
griechisch -germanischen Schönheitsrasse von Seiten der Gebildeten haben auch besondere Ideale religiöser
Schönheit gezeitigt , die man nur im Lande selbst verstehen lernt. Diese Schönheit der heiligen
Gestalten ist nicht akademisch, wie sie es in Deutschland an den Nachblüthen der Nazarenerschule
wurde, sondern der treue Spiegel der englischen Rasse selbst. Sonniger, zarter ist die Auffassung
134
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
des Engländers von seinem Christenthum : eine gfewisse Bigotterie im gesellschaftlichen Leben wird
doch sehr selten zur Bigotterie der Empfindung. Selbst die Heilsarmee singt nicht die langgezogenen,
schweren Weisen des deutsch -protestantischen Kirchenchores, sondern man kann sie im Lande sehr
lustige Weisen singen hören. Bei solch allgemeiner Nationalempfindung ist auch ein sonnigerer Zug
in der ganzen Auseinandersetzung der Künstlerwelt mit der christlichen Gestaltenwelt zu bemerken.
Immerhin hat
die deutsche
Nazarenerwelt
in diesem Jahr¬
hundert ge¬
wisse Absen¬
ker auch nach
England ge-
schlagen, un¬
beschadet der
selbstständigen
Art, mit wel¬
cher die Eng¬
länder solche
allgemeine An¬
regungen zu
verarbeiten
pflegen. Für
Deutschland
aber bedeutete
das Nazarener¬
thumgleichfalls
eine fröhlichere
Auffassungder
christlichen
Motive, als sie
vorher in den
B, Blockhorst. Lasset die Kindlein zu mir kommen
Zeiten der Ex-
tasen Mode
gewesen war.
Stillfröhlich
möchten wir es
nennen. Das
Evangelium
sollte auch ma¬
lerisch eine
« frohe Bot¬
schaft» sein.
Jetzt wird das
Stoffgebiet der
christlichen
Legende nach
allen Richtun¬
gen aufgegra¬
ben, wie es
früher nie der
Fall gewesen
war, selbst
nicht einmal zu
Giotto’s Zeit,
die doch noch
am Reichsten
an Motiven ist.
Schnorr (nach
ihm Doree) unternahm es, die ganze Bibel zu illustriren, Overbeck und Führich zeichneten Anekdoten
aus dem alten und neuen Testament, die man früher nie beachtet hatte. Jesus wird jetzt vor Allem
der Gleichnisserzähler. Noch ist er nicht zum jüdischen Rabbi geworden. Er trägt vielmehr das
Gepräge eines jgermanisirten Zimmermannssohns; ja, im Laufe des Jahrhunderts ist geradezu der nieder¬
deutsche, hannoversche, auch der fränkische Tischlermeister mit seinem blonden Bart und seiner
Tischlerphysiognomie das Christusideal dieser Schule geworden. Zum Theil aber wurde Jesus der
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
135
langhaarige, academiebesuchende, nazarenische Künstler selbst, der in einigen Exemplaren noch heute
als ein «Christuskopf» im Künstlerverein erscheint, wie der Zimmermannssohn Jesus auch selbst viel¬
fach dem besseren Handwerkerstand früherer Jahrzehnte entsprossen, wie er vor der Reichsgründung
noch blondhaarig-redlich seine Stiefel machte, bis der Fabrikbetrieb allmählig dieses ganze Ideal ver¬
nichtete, an dessen Stelle nun der Uhde’sche degenerirte Fabrikarbeiter trat. Auch hier spiegelt die
religiöse Kunst die innere wirthschaftliche und ethische Entwickelung eines Volkes, wie die religiösen
Gestalten des Rubens aus dem Reichthume des flämischen Bürgerlebens erwachsen waren.
Indem die Nazarener aber das ganze Darstellungsgebiet der Bibel umfassten, mehr illustrativ
erzählend als künstlerisch aus¬
gestaltend und durchbildend,
sehen wir, dass jetzt besonders
die Gleichnisse Jesu mit ihren
idyllischen, landschaftlichen Be¬
ziehungen einen heiterem Zug
in die ganze Religionsmalerei
bringen. Man hatte, aus ver¬
schiedenen Reminiscenzen, ein
gewisses, allgemeines, ideales
Costüm acceptirt, indem man
nun das Christenthum vor
Allem als eine «frohe» Bot¬
schaft schon dadurch einführte,
dass alle liebenswürdigen Wun¬
der, Gleichnisse, Reden Jesu,
wie es seiner Zeit Raffael ge-
than hatte, von Neuem veran¬
schaulicht wurden. Viel Neues
kam dazu. Jetzt sehen wir
von Neuem wie bei Schiavone
den Säemann einherschreiten,
M. Fürst. Herz Mariae
aber die Auffassung ist unbe¬
fangener. Im selben Maasse
wie Euther’s Bibelübersetzung
Gemeingut der Deutschen ge¬
worden war, zogen auch selbst
die katholischen unter den
Nazarenern einen fröhlicheren
Kunstsegen daraus.
Und diese allgemein sin¬
nige, idyllische, stillvergnügte
Freude an den biblischen Ge¬
schichten, mit der man ja auch
so vielfach die für die Schule be¬
stimmte « Biblische Geschichte »
illustrirte von Seiten der Naza¬
rener und ihrer Nachfahren,
hat ihren Grund darin, dass
vor Anbruch dieser rein gei¬
stigen Verjüngung der religiö¬
sen Kunst der grosse Theologe
Herder die Deutschen gelehrt
hatte, dass die Bibel vor Allem
eine Sammlung uralter Poesie sei. Der Geist Herder’s und seiner Zeit war es, der auch die Nazarener
gelehrt hatte, die Poesie der Evangelien zu suchen und altes wie neues Testament im Sinne einer
poetischen Auffassung zu betrachten. Bei Michelangelo und Rubens waren es Schönheitsideale
der bildenden Kunst gewesen, welche die religiösen Stoffe in eine höhere Darstellungsgewalt rissen-,
seit Herder war ein neues Verhalten gegenüber der Bibelwelt gegeben : das poetische. Und als
Bendemann und die Düsseldorfer nun auch wieder zu malen begannen, da colorirte man die trauern¬
den Juden an den Wassern zu Babel bereits auch mit dem vollen Bewusstsein, dass man ein altes,
jüdisches Nationalgedicht darstellte. Diese poetische Tradition, dieses poetische Verhalten zur Bibel
13G
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und zu den Evangelien beeinflusst in Düsseldorf, Dresden durch Jahrzehnte hindurch die religiöse
Malerei. Die liebenswürdigsten, am meisten beliebten Bilder dieser Richtung, wie des Dresdners
Hofmann «Predigt am See», seine «Ehebrecherin» stehen zum Theil noch ganz in dieser poetischen
Richtung, zum Theil verrathen sie einen historischen Zug im Drange einer gewissen geschichtlicheren
Costümirung. Ganz stand Wilhelm von Kaulbach auf diesem poetisch - historischen Standpunkt in
seinen Bibeldarstellungen.
Wir sind wieder zurückgelangt zum Bilde der Kunst am Schlüsse des Jahrhunderts.
Wir sehen den Beginn bis ins Ende ragen in einer ganzen Categorie von künstlerisch-religiösen
Erscheinungen und sehen daneben die schärfsten Contraste. Das bloss poetische Erfassen einer halb¬
geglaubten Poesie zur blossen Illustration ward wieder aufgegeben ; zum Theil praktische Interessen
der Noth des Zeitalters suchen in der religiösen Malerei einen Stimmungsausdruck. Als vor einem
Jahre die hervorragendsten Maler in Berlin eine gemeinsame Ausstellung ihres Christusideals veran¬
stalteten, sah man ebenso viele Auffassungen als wir wissenschaftlich kritische und wirthschaftliche
Richtungen in Bezug auf das Christenthum besitzen. Einer malte einen vornehmen Rabbi im Sammt-
gewand, der einem Acosta, Spinoza ähnelte, ein Anderer einen modernen, sozialdemokratischen
Agitator, ein Dritter einen Hypnotiseur, ein Vierter eine Art von indischem Fakir. Ueberall blicken
mehr oder minder augenblickliche Zeittheorieen durch, auch bei dem Russen Wereschtschagin.
Das Schönste aber haben oft zwischen all diesem, was sich sozusagen unter allgemeine historische
Gesichtspunkte bringen lässt, Künstler geschaffen, die gar nicht im engeren Sinne religiös wirken
wollten. Defregger stellte z. B. mit seiner Madonna ein reines Mutterideal hin, das im freiwilligen
Verzicht auf alles Weitere gar sehr zu einer einfach schönen, innigen Religions- und Menschheitsstimmung
dient, zumal der Jesusknabe hier ein ebenso gescheidtes wie ernstes Köpfchen zeigt. E. Zimmermann
sind ähnliche glückliche Behandlungen religiöser Motive gelungen, in denen allerdings das Malerische
vorwiegt. — Technisch und äusserlich finden wir in diesem Jahrhundert viel bewusste Nachahmerschaft
nach den Meistern der grossen italienischen Epoche. Das römische Stipendium unserer Akademieen
wirkt hierin nach. Die Einen lehnten sich an die Compositionsweise Tizians mit seinen Säulenthronen
und Hochgruppen an ; Andre folgten der bühnenmässigen Gruppenvertheilung der Schule Raffael
Sanzio’s. Das Bild der Kunst in diesem letzten Jahrhundert ist bunter, widerspruchsvoller, weil der
Geist der Zeiten überall ein neues Verhältniss zur Religion zeitigte und diese zu ganz anderen
wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, poetischen Vorwänden gebrauchte und zu brauchen fortfährt. —
Wir aber sagen uns am Ende dieser Betrachtung, die nur einen ganz allgemeinen Ueberblick
geben wollte, dass die religiöse Kunst gerade in ihrer nachgewiesenen Abhängigkeit von den ethischen
Trieben der allgemeinen Culturentwickelung sicher auch einem tiefen Bedürfniss der Menschheit
entspricht, das sich von Innen heraus die Formen modelt, deren es zu seiner Erbauung bedarf.
O'
W. Wunderwald pinx.
Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl
Ly
Flueht nach Egypten
DIE
KUNST UNSERER ZEIT.
EINE CHRONIK
MODERNEN KUNSTLEBENS.
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MÜNCHEN.
FRANZ HANFSTAENGL
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
E. MÜHLTHALER’S KGL. HOF -BUCH- UND KUNSTDRUCKEREI.
Inhalts-Angabe
— <>.<> —
1898. II. HALBBAND.
Literarischer Theil
Seite
Gurlitt, Cornelius. Walter Crane . i
Meissner, Franz Hermann. Die Münchener Jahres-
Ausstellungen von 1898 . 47
Seite
Rottenburg, Heinrich. Benjamin Vautier . . . 29
— Das Kunsthandwerk auf den Münchener Aus¬
stellungen 1898 . . 89
Vollbilder
Seite
Seite
Corinth, Louis. Versuchung . %2
Crane, Walter. Mandelbäume, Monte pincio Rom .4-
— Fries, das Skelett in Rüstung . 4
— Amor vincit omnia . -8"
— Der Triumph des Frühlings . 9.
— Europa . . . J-2
— Der Wettlauf der Stunden und Ormuzd und
Ahriman .
— La belle dame sans merci . b6
— Die Brücke des Lebens . .
— Englands Emblem . 2©-
— In des Schicksals Buch . -24-
— Die Schwanenjungfrauen . 24-
— Die Wasserlilie . 2-5-
— In den Wolken . 28
— Pegasus . -29-
v. Defregger, F. Kraftprobe . 5-5-
Echtler, Adolf. Maria .
Gussow, Carl. Dorfparzen . 86-
Höcker, Paul. Der schüchterne Freier .... 78
v. Kanal, Gilbert. Niederländisches Gehöft . . J9
v. Kaulbach, F. A. Frau von Kaulbach . .
v. Lenbach, F. Erica und Marion Lenbach .
— Bildniss .
v. Löfftz, L. Orpheus und Euridike . . .
Marr, Carl. Madonna . . . . .
Nonnenbruch, M. Verklärung .
Rau, Emil. Die Kaiserin kommt, juchhe . . .
Rouband, P'ranz. Die Russen vor Kars , . .
Schuster- Woldan, Rafael. Die Malerin . .
— Georg. Der getreue Eckart .
Simm, Franz. Unschlüssig . .
Stuck, Franz. Pallas Athene .
Strützel, Otto. Am Kanal . .
Thedy, Max. Adoratio crucis .
Vautier, Benjamin. Aufforderung zum Tanz .
— Besuch der Neuvermählten .
— Unfreiwillige Beichte .
— Die entzweiten Schachspieler .
— Bauern vor Gericht .
— Eine Verhaftung .
-£*■
-5-8
-62-
8£-
2-Qr
-94"
59-
9-8-"
-94-
-3**
33-
36'
-3F
A&
47
T extbilder
Seite
Becker, Carl. Abend an der Nordsee . ... 71
Beggrow Hartmann, Olga. Idylle . 74
Bereny, Rudolf. Hans Thoma . 80
Bertsch, Wilhelm. Interieur . 95
v. B o c h m a n n , Gregor. Nordwyker Muschelkarren 73
Böhme, Carl. Scirocco, Motiv von Capri . . 69
Seite
Böninger, Robert. Idyll . 64
Bössenroth, Carl. Mondaufgang im Moos . . 50
Bürgel, Hugo. Flusslandschaft . 82
Co mp ton, Edward T. Neuschnee im Höllenthal 49
Crane, Walter. Studien und Skizzen .... I — 28
Curry, Robert J Gerettet . 77
Seite
Dülfer, Martin. Interieur . . . 91
Eber lein, Gustav. Gothe bei Betrachtung von
Schillers Schädel . 84
Esser, Theodor. Lustige Nacht ........ 52
Fahrenkrog, Ludwig. Träumerei . 85
Falkenberg, Richard. Ophelia . 67
Fink, August. Winterlandschaft an der Isar bei
Freising . 53
Fischer, Theodor. Interieur . 93
Georgi, Walter. Wirthsgarten . 82
Graessei, Franz. Enten . 62
Grocholski, Stanislaus. Verlangen . 66
Gysis, Nicolaus. Studienkopf . 60
Hart m ann , Richard. Schülerszene (Goethe’sFaust) 72
Helbig und Hai ge r. Interieur ....... . 97
Hey, Paul. Vorfrühling . 83
Huber, Josef. Luzifer . 86
Hynais, Adalbert Studie . 47, 58
Kiesel, Conrad. Damenbildniss . 56
Koester, Alexander. Märzabend . 86
Kubier sch ky, Erich. Abendlandschaft .... 68
Landsinger, Siegmund. Quellnymphe ... . 7 5
Laupheimer, Anton. In Ferien . 57
Liebermann, Max. Sonntag Nachmittag in Laren 79
Seile
Männchen, Adolf. Auf der Landstrasse ... 87
Malczewsky, Jacek. Irrkreis . 81
Messerschmidt, Pius Ferd. Heimfahrt ... 76
Moest, Hermann. Das Loos des Schönen . . . 61
Montemezzo, Anton. Leckerbissen . 62
Munk, Eugenie. Pierrot . 54
Otto, Ernst. Elche . 83
P e c k , Orriti. Kohlkrautgarten . 59
Petersen, Hans. Hochsee . 48
Propheter, Otto. Bildniss des Professors Ferd.
Keller . 70
Rabending, Fritz. Aus Tirol . 74
Recknagel, Otto. Gestörte Liebeserklärung . . 78
Ring, Max. Am Gemüsestand . 55
Ritter, Caspar. Blumen . 51
Schmutzler, Leopold. Ein Spaziergang ... 63
Schott, Walter. Kugelspielerin . 88
Schwill, William. Bildniss . 80
Tallmaier, Ernst. Lektüre . 60
Urban, Hermann. Jugend . ... 51
Vautier, Benjamin. Studien und Skizzen . 29 — 46
Wagner, Alexander. Heimkehr . 65
Ziegler, Carl. Bildniss . 85
WALTER CRANE
VON
CORNELIUS GURLITT
Es ist sieben oder acht Jahre her, als zwei Herren mit untadelhaften Handschuhen und blitzenden
Cylinderhüten mich besuchten, um mich, wie sie brieflich bereits angekündigt hatten, um einen
Rath zu fragen. Ich war gespannt, was die beiden Vertreter einer grossen Berliner Dekorateur - Firma
eigentlich von mir wollten.
Sie hätten gehört, sagten sie, ich sei ein Mann, der Geschmack für das «Aparte» habe. Sie
hätten die Absicht, in der Möbelbranche einmal so etwas zu machen, etwas, was Berlin noch nicht ge¬
sehen habe : Ob ich ihnen nicht eine Art Böcklin in Möbeln nennen könne, der ihnen etwas zeichne
oder baue, was Aufsehen macht, so — ’was
man in Berlin eine « ausgetragene Sache »
oder kurzweg « eine Sache » nennt.
Ich wusste mir nicht gleich zu helfen.
Barock? Damit waren die Herren schon
fertig. Noch barocker, wie sie schon waren,
konnte kein Mensch mehr werden. Rococo?
Alles, was einst im 17. oder 18. Jahrhundert
in Frankreich oder Deutschland geschaffen
worden , war auch schon in den letzten
Jahren in Berlin dagewesen. Damit war man
auch fertig.
Endlich kam mir die gewünschte Idee:
Schreiben Sie an Walter Crane in London,
er solle Ihnen ein Zimmer zeichnen, die
Thürbekleidungen, die Möbel, die Tapeten,
die Stoffe, die bunten Fenster. Da bekommen
Sie sicher etwas, was in Berlin und auch in
London noch nicht gesehen worden ist, da
haben Sie ihren kunstgewerblichen Böcklin.
Die Herren notirten sich die Adresse
Walter Crane. st. Nicolo Toientino, Rom und gingen zufrieden ihres Weges.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
2
Nach einiger Zeit kamen sie mit Crane’s Zeich¬
nungen wieder:
«Unmöglich! Das kann bei uns jeder Zeichner
mit 120 Mark monatlichem Gehalt. Das ist nichts
für Berlin- — sagen Sie selbst : Damit werden wir
keinen Eff ekt machen ! »
Ich erlaubte mir den Einwurf: «Versuchen sie es
doch! Vielleicht weist Sie Crane den rechten Weo-;
man ist eben einfacher in England wie bei uns und
wir werden es wohl mit der Zeit auch werden. Lesen
Sie Dohme’s eben erschienenes Büchlein über das eng-
lische Haus. Da ist schon Witterung kommender Zeit.
Klänge es nicht ganz hübsch, wenn Ihre Firma das
Stichwort ausgäbe : Umkehr aus dem Formenüberfluss
zur Schlichtheit ! Das wäre doch auch etwas Apartes ! »
Man versprach die Sache in Erwägung zu ziehen.
Aber ich hätte sicher von dem Crane-Zimmer gehört,
wenn es zu Stande gekommen wäre. Der von den Herren gepflogenen Erwägung letzter Schluss
war sichtlich, dass Crane für das Berlin von damals nicht reif war !
Und doch waren seine Werke schon in tausend Händen. Ich kann es einem so feinen deutschen
Künstler, wie V. Paul Mohn, nicht verdenken, wenn er in der Lebensbeschreibung, die er seinem
Lehrer Ludwig Richter widmet, ein paar bittere Bemerkungen darüber einflicht, dass das englische
Illustrationswesen in unseren Kinderbüchern einen so über¬
mässig starken Einfluss habe. Aber nicht Crane’s Bilder¬
bücher sind es, die am besten bei uns «gingen», wie der
Buchhändler sagt. Es sind ihrer zwar viele bei uns ab¬
gesetzt worden, aber fast mehr an Erwachsene als an
Kinder. Sie waren uns, die an Richter Gewöhnten, fremd¬
artig, zu phantastisch.
Es bedurfte erst der vermittelnden Zwischenglieder,
um Crane bei uns beliebter zu machen : Ein solches bot
Kate Greenaway in ihren berühmten Darstellungen von
Kindern und ländlichen Vorgängen. Ihre Bücher brachten
im Gegensatz zu der damals üblichen deutschen ein neues
Motiv : lebhafte Farbe ohne Buntheit, einfachere Flächen¬
töne bei kräftigem Umriss, während unser P'arbendruck sich
alsbald in die Thorheit eingelassen hatte, Oelbilder nach¬
ahmen zu wollen. Kate Greenaway war in der äussern
Walter Crane, Studie
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Q
O
Ausstattung ihrer Bilderbücher sichtlich Crane’s Nachfolgerin, hatte dessen Eigenart gemischt mit der
des glänzenden Humoristen Randolph Caldecott und dabei sich auf ein Gebiet geworfen, dass
Allen leicht verständlich ist, auf die Darstellung des Kindes. Sie ist als Malerin ein ächtes Weib
geblieben, schuf weiblich, anmuthig, mit dem Herzen, mit spielender Kinderliebe, — verzeichnete sich
vielleicht gelegentlich, wurde dadurch aber nur um so liebenswürdiger. Sie kleidete ihre Gestalten
in das für Englands Kunst klassische Kostüm der Biedermaierzeit, in dem Reynolds, Gainsborough
und Lawrence ihre Kinderbilder malten und erreichte, dass bei uns dieses Kostüm lange Zeit nach ihr
benannt wurde. Es liegt mir fern, auf sie und ihr Werk zu schelten : Es ist fein und vornehm, wohl
Walter Crane, Villa Pamphili Doria, Rom
weniger «naiv» als man einst glaubte, ein Wenig von jener Süssigkeit und Selbstverkindlichung, in
die man so gern im Verkehr mit den Kleinen fällt, aber doch voll ächten Menschenthums; denn
solches ist ja nicht eitel Stärke und Selbstherrlichkeit.
Kate Greenaway’s Schaffen war das erste, was Deutschland in seinen der Kunst ferner stehenden
se nach langer blnterbrechun g von englischem Schaffen kennen lernten. Man lese beispielsweise
in Meyers Konversations-Lexikon III. Auflage von 1878 nach, was da ein doch immerhin sich kundig
Dünkender über die Vorgänge in den Werkstätten jenseits des Kanales zu sagen wüsste. Rossetti
ist als Dichter genannt und dem Aufsatz über ihn beigefügt : «Zugleich ist er als Maler (Anhänger
l*
4
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
der sog. präraffaelitischen
Richtung) und Zeichner
(trefflicher Illustrator) be¬
kannt». Ueber die Malerei
überhaupt lehrt das Buch,
England habe seit Rey¬
nolds keine ähnliche Kraft
mehr besessen und auch in
der Landschaft seien Turner
und seine Vorgänger nicht
mehr Überboten worden :
Immerhin seien aber einige
mit Namen aufgeführte
Maler rühmenswerth: Die
Auswahl ist sichtlich ohne
jede Sachkenntniss ge¬
macht, die eigentlichen
Walter Crarie. S. Francesco Romane vom Palast
der Caesaren, Rom
Führer sind alle übersehen,
ausser Millais und nur die
Akademiker sind genannt.
Man darf der Leitung von
Meyer’s Konversations-
Lexikon keinen Vorwurf
hieraus machen. Nicht bes¬
ser steht es z. B. in Lübke’s
Kunstgeschichte um die
Kenntnisse englischen We-
sens ! Es war damals that-
sächlich aus der deutschen
Litteratur unmöglich, sich
auch nur ein annäherndes
Bild von dem zu machen,
was in London und gar
was in den anderen Kunst¬
städten des Landes die Köpfe der Maler bewegte. — So 1877, als Crane’s Bilderbücher anfingen,
in Deutschland die Aufmerksamkeit der Künstler zu erwecken.
Es ist ja eine der merkwürdigen Erscheinungen im «Zeitalter des Verkehres», dass die Abschliessung
der Nationen von einander immer stärker wird. Wie es für den Frieden nicht gut ist, wenn zwei eng
verwandte Familien unter einem Dache wohnen, so scheinen die Völker den engeren Verband durch
Eisenbahn und Telegraph unter einander nicht zu vertragen. Gerade das Alltägliche, das Hausbrod,
was man isst, will man für sich haben, kennen die Nachbarn daher am Wenigsten. So ist’s hüben wie
drüben: Crane selbst
gab im vorigen Jahr
ein Buch heraus « Of
the decorative Illu¬
stration of Books,
old and new», wel¬
ches zwar keine An¬
sprüche auf grosse
Kunstgelehrsamkeit
macht, aber doch
sicher das gibt, was
der vielgewandte
Verfasser kennt und
liebt. Da ist den
Walter Crane. Skizze des Strandes des stillen Ozeans
bei Santa Barbara, Süd-Californien
alten Deutschen volle
Ehre erwiesen : Vor
Dürer und Holbein,
aber auch vor den
ihnen Vorausgehen¬
den und Folgenden
neigt er sich in Be-
wunderung. Er hat
sie sichtlich fleissig
angesehen. Aber von
Ludwig Richter weiss
er nichts. Der Name
des Mannes, den wir
bei Aufzählung der
Mandelbäume, Monte pineio Rom
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
5
Walter Crane. Weingarten Carrara
Illustratoren wohl zunächst nennen würden, fehlt in dem Buch eines Mannes, der selbst, wie Richter,
Grimm’s Märchen und dazu noch nach der Uebersetzung seiner Schwester 1882 illustrirte, also eines
Mädchens, das doch sicher mit deutscher Sprache und wohl auch deutschem Wesen vertraut war. Und
doch sagt Crane, ihm scheine, als walte in Deutschland die alte kernhafte Ueberlieferung im Holzschnitt
und illustrativer Zeichnung- ungebrochener, wie anderwärts ; und doch rühmt er die Kraft und Eigenart
der deutschen Künstler: Er kennt Menzel, Rethel, Schwind. Er lobt selbst Oskar Pietsch, Richters
Nachempfinder, dessen Bilderbücher auch in England einst sehr beliebt und gewiss nicht ohne Einfluss
auf Kate Greenaway waren; er kennt Otto Hupp’s kräftig stilistische Handschrift, er hat Arbeiten von
Sattler und Stuck gesehen, auf wirkungsvollen Zeichnungen den Namen Seitz gefunden, er hat sich
mit den Künstlern der «Jugend» beschäftigt, deren manchen er nachrühmt, dass sie mit Geschick
dekorative Wirkung erstreben, während er bei anderen findet, dass diese überwuchert sei von groteskem
Empfinden und kränkelnder Uebertreibung ; aber er fühlt den Ueberfluss von reichem Leben, Witz und
launischem Geist heraus, wie solche in Süddeutschland heimisch wohnen. Das ist aber auch so ziemlich
6
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Alles, was er von deutscher Kunst sagt: Auch Schnorr von Carolsfeld’s Bibelwerk, dem wir einst
Weltruf nachrühmten, kennt er wohl nicht, da er es sonst schwerlich übergangen hätte.
Crane war wiederholt in Italien, sicher auch in Frankreich. Die Welt aber, in der er lebt, ist
die rein englische, die Kämpfe, die er kämpft, beziehen sich auf die dortigen Vorgänge: Er ist vom
Geist des Präraffaelitenthums völlig umfangen, er ist ein Stück der Schule, welche diesen hervorbrachte.
Man thut Unrecht, die Menschen wie Kautmannswaaren Stück für Stück abzuwägen und nach
ihrem Pfundgehalt zu bewerthen. Es fragt sich daher auch hier nicht, wer in dieser Schule der Grösste
sei. Hier beschäftigt uns die Frage, wie Crane selbst die Dinge betrachtet, zunächst Crane der
Illustrator. Er unterscheidet ja selbst schart zwischen diesem, dem er die Aufgabe zuweist, das Buch
zu schmücken und dem Künstler, den er einen Anfertiger von Bildern für Bücher nennt, wie z. B. Chodo-
wiecki ein solcher sei. Er sucht seine Aufgabe mit einer bisher nicht erkannten Schärfe zu umfassen :
Ihm hat die Zeichnung für das Buch zwei gleichwerthige Zwecke: Sie soll den Text bildlich vergegen¬
wärtigen und sie soll ihn zugleich ornamental schmücken. Und auf das letztere legt er das Haupt¬
gewicht. Der Illustrator soll eine schöne, völlig harmonisch ausgestattete Buchseite schaffen, seine
Zeichnung mit dem Drucksatz in Einklang bringen und nicht ein Bild für sich schaffen wollen, das
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ohne den Satz besser wirkte, das ein selbständiges Kunstwerk ist oder zu sein erstrebt. Und da
ist neben den alten Meistern Deutschlands und Italiens ihm sein Landsmann William Blake der Erwecker
der Illustrationskunst: Jener phantastische Dichter, der seine Bücher selbst schrieb, zeichnete und
druckte und zwar all dies alsbald mit Hilfe einer Platte, so dass die volle Einheit der Form und des
Inhalts gewahrt ist, Zeichnung und Handschrift in voller Uebereinstimmung, in gleich starker Individualität
hervortreten. Dieser Blake war ja freilich das, was man einen verrückten Kerl nennt in ausge¬
prägtestem Maasse. Er hatte Traumphantasien, die dicht an ächte Hallucination reichten. Aber in
ihm steckte eine gewaltige Kraft freien Denkens. Es ist ja
eine der Eigenthümlichkeiten der Kunst, dass man mit ganz
normalem Denken in ihr nicht sehr weit vorwärts kommt und
dass in ihr gelegentlich Leute auftreten müssen, die auf den
ersten Blick dem «Besonnenen» das Gegentheil seiner wohl¬
gepflegten Tugend zu haben scheinen.
Dazu kam für Crane, wie er selbst in seinem Buch erzählt,
noch ein weiterer Anstoss zum Abfall von der älteren, auf
Irrwege gerathenen Illustrationskunst. Als seinen Lehrer rühmt
er William James Lin ton, von dem er als Lehrling durch
drei Jahre hindurch weniger den Holzschnitt als die Kunst
lernte, auf den Stock zu zeichnen \ er rühmt an ihm den unter¬
richteten Mann ebenso, wie den erfahrenen Künstler. Er ist
der Herausgeber des 1889 erschienenen Werkes «The Masters
of Wood Engraving », in welchem er sich als solcher in um-
fassender Weise zu erkennen gibt.
Walter Crane. Flora
8
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Linton gehört als Holzschneider der Schule an, die auf Be w ick zurückgeht, den Illustrator natur¬
wissenschaftlicher Bücher, einen für die Geschichte der englischen Thiermalerei sehr beachtenswerthen
Mann. Die Technik des Holzschnittes hatte durch die Künstler dieser Schule eine ausserordentliche
Förderung erfahren. Der Schnitt war weich, tonreich, in den Uebergängen flüssig geworden. Viel¬
leicht ist kein Name in England bekannter für diese Art der Stichkunst, wie jener des Birke t
Foster, der ein Landschafter von feiner Hand war. Ich habe vor mir eine englische Besprechung
seiner Werke vom Jahre 1870, in welcher die «Eleganz seiner Komposition» das «realpoetische Ge¬
fühl», die «delikate und graziöse Manier», die Kunst gerühmt wird, dass seine Bilder der «scenic art, »
also der Kunst des Theaters, gleichen. Aber so schlimm, wie dieser Kritiker des Art Journal ihn in
seinem täppischen Lob macht, ist er wahrlich nicht. Es steckt etwas Sentimentales in ihr, wie in den
meisten englischen Landschaftern jener Zeit, sie sind etwas «geduftet» wie man heute in den Werk¬
stätten sagt, aber er bringt Llolzschnitte zu Stande, die wohl verdienen, eingerahmt das Wohnzimmer
des Kunstfreundes zu schmücken und er bereitet den Aufschwung- des mit verbesserten Werkzeugen
arbeitenden Feinschnittes vor, der dann in Amerika seine Vollendung erhielt.
Aber gerade das, was diese Schule erstrebte, nämlich die Erhebung des Holzschnittes zum
Werth der selbständigen bildmässigen oder doch dem Kupferstich angemessenen Leistung, das war
es, was Crane nicht wollte: Er erzählt selbst, wie ihm ein Offizier der britischen Seemacht ein paar
japanische Bücher von der Reise mitgebracht habe und wie ihn diese gefangen genommen hätten :
Die Kraft der Umrisslinie, die einfachen Farben und das kräftige Schwarz, vor Allem aber die Ueber-
einstimmung von Bild und Text an diesen Büchern wies ihm den Weg.
Bin ich recht unterrichtet, so liess Crane eine seiner ersten Arbeiten 1863 erscheinen,
nämlich die Illustrationen zu John R. Wise’s Buch: The New Forest (London, Smith, Eider & Cp.)
in demselben Jahr, in dem Foster’s berühmt gewordene Pictures of English Landscape (London,
Routledge, Warne & Routledge) erschienen. Ich habe leider das Wise’sche Buch in Deutschland
nicht auftreiben können. Aber wahrscheinlich gibt es einen guten Anhalt dafür, wie Crane’s Kunst
vor der Kenntniss Japans aussah.
Crane ist in Liverpool 1845 geboren. Schon sein Vater war Maler, namentlich beliebt als
Portraitist von Frauen und Kindern. Ich erinnere mich nicht, in öffentlichen Sammlungen Englands
Werke seiner Hand gesehen zu haben. Doch nahm er im Kunstleben von Liverpool eine gewisse
Stellung ein, ehe er aus Gesundheitsrücksichten 1857 nach London zog, wo er schon 1859 starb;
Liverpool ist keine Heimstätte der Kunst, oder war es damals wenigstens noch nicht. Alte Denk¬
mäler fehlen dort fast ganz. Erst im 18. Jahrhundert ist die Stadt zur Bedeutung gekommen. Es war
nicht viel an Schönem dort öffentlich zu sehen. Auch noch heute weckt dem Kontinentalen das Stadt¬
bild öfter Kopfschütteln als Bewunderung. Die Stadthalle in schwerem klassischen Stil von 1795, nicht
weit davon eine jener Nelsonsäulen nach Vorbild der römischen Titussäule, an denen England reich ist.
Als Crane Liverpool verliess, baute man eben S. George’s Hall, einen Riesensaal von nicht minder schwer¬
fälligem Klassizismus, mit 15 Meter hohen Säulen. Nur für die Kirchen wagte sich die nationale Gothik,
auch hier noch in schematischen Formen, hervor. Jetzt ist freilich Vieles dort anders geworden.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
9
In London war 1857 der erste Ansturm der Reformer des Kunstlebens zurückgeschlagen. Ich
schilderte die damals herrschenden Verhältnisse bereits in meinem Aufsatz über Edward Burne Jones
(Jahrgang VI dieser Zeitschrift, Seite 31). Was dort in der Akademie, in öffentlichen Ausstellungen
zu sehen war, zeigte wenig Einfluss der präraffaelitischen Bewegung. Die alte Kunst hielt das Scepter
in fester Hand, und sie war durch die Wucht ihrer Erfolge dazu völlig berechtigt.
Zweierlei Dinge wirkten auf Crane während seiner Lehrzeit bei Linton (1859 — 1862) ein:
Die Aesthetik John Ruskins in ihrer sprungweisen, pathetischen Denkweise, in ihrem stürmischen
Walter Crane. Studie zu dem Bilde: Sonnenaufgang
Anruf der Wahrheit; und die Zeichnung der Künstler, nach welchen er bei seinem Lehrherrn in Holz
zu schneiden hatte. Es waren grosse Namen darunter: Frede ric Walker zuerst, der, wie Tom Taylor,
der Herausgeber der Zeitschrift « Once a Week», erzählt, im November 1859 als ein schüchterner,
furchtsamer, linkischer Bittsteller um Beschäftigung als Zeichner auf Holz bei ihm erschien, der selbst
bei dem tüchtigen Holzschneider Whymper seine Lehre durchgemacht hatte und nun von Schritt zu
Schritt seinen Weg vorwärts machte zu einem Maler ersten Ranges, bis ihn nur allzufrüh (1875) der
Tod erreichte. In seinen Illustrationen, wie namentlich in seinen Bildern ist Walker ein grosser
Stilist. Seine Art, die englische Menschengestalt zu idealisiren, hat zweifellos auf die ganze Nation,
11 2
10
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
so auch auf Crane, ihren Einfluss behalten. Ein wahrhaft bedeutender Mensch, voll tiefer Stimmung,
voll grosser Linie, voll Reichthum und Schlichtheit des Tones; kein Stürmer, kein Dränger, einer der
aus sich selbst reif und abgeklärt wird. Ich glaube, dass die Stunde noch kommt, in der man
Walker’s Namen höher stellen wird, als es die Jüngsten thun.
War Walker ein Genosse auf dem gleichen Wege, so hat E. J. Poynter Crane rasch im
öffentlichen Leben überflügelt : Er sagt von dessen Zeichnungen, sie seien in den archäologischen
Einzelheiten und in der Sicherheit der Linie die bemerkenswerthesten gewesen in der Sammlung
für die Dalziel’sche Bibelgalerie, welche 1865 — 1870 als das Werk der jungen englischen Künstlerschaft
erschien. Poynter ist gewiss einer von den Künstlern, der einen sehr wesentlichen Antheil an der
Ausgestaltung der modernen englischen Kunst hat: Auf sein Haupt häuften sich ja auch in jüngster
Zeit deren Ehren. Er kam damals, als Crane nach seinen Zeichnungen schnitt, eben aus Paris, aus
Gleyre’s Atelier zurück, wo er mit dem grossen Zeichner Dumaurier und mit Whistler gemeinsam
gearbeitet hatte. Er ist zu erwähnen als einer der Theoretiker der Kunst, als Nachfolger Redgraves in der
Leitung des Southkensington-Schule, als Schöpfer des sehr bemerkenswerthen Schmuckes in gemaltem
Thon im Speisezimmer des Southkensington-Museums, als einer der glänzendsten Meister für Innen¬
dekoration : Also ein Stilist, und zwar ein solcher von architektonischem Können und kühler Berechnung.
Er stellt innerhalb der jungen Schule das akademische Gewissen dar ! Er hatte in Paris die nackte
Figur malen gelernt und wies die in diesem Fall so leicht durch Schämigkeit beschränkten englischen
Künstler auf ein Gebiet, dem die älteren Präraffaeliten gern aus dem Weg gingen. Fast Alle haben
an ihm gelernt : Aber Poynter ist keine sinnliche Natur, er ist ein unterrichteter Künstler, der weiss,
dass mit dem Nackten eine Malerschule steht und fällt, und er ist früh berufen worden, die englischen
Kunstschulen zu leiten. Er brachte ihnen die fleissige Benutzung des Aktsaales. Mein verehrter
Lehrer, der Aesthetiker Fr. Vischer, war der Ansicht, man solle in der Kunst das Nackte, die Sinn¬
lichkeit, dulden, ja es sei künstlerisch nothwendig, solange, wie er sich ausdrückte, es nicht auf Er¬
regung des Nerves ausgehe. Ich wüsste kaum einen Künstler, der nach Vischer vom Vorwurfe verwerf¬
licher Sinnlichkeit
freier zu sprechen
wäre. Seine nack¬
ten Frauen sind
schön und in Nackt¬
heit keusch bis zur
Geschlechtslosigkeit :
Crane folgt ihm oft
in dieser entsinnten
Schönheitsliebe.
Werthvoller für
Crane war Rosset-
t i s und der * Prä-
Walter Crane, Studien für das Bild: Des Jahres Ende
raffaeliten Mitwirk¬
ung am Illustrations-
o
Tennyson’s Ge¬
dichte in derMoxon'-
schen Auflage von
1857 sich äussert.
Hier trat Crane eine
Kunst entgegen, die
an sich selbst deko¬
rativ wirkt, wie jene
der Buchmaler des
Mittelalters , hier
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
11
Walter Crane. Studien für das Bild : Des Jahres Ende
freut ihn seines Meisters Linton Stich besonders, weil dieser die Zeichnung selbst wiedergiebt, die
Flüchtigkeiten und Zufälligkeiten, ohne jene Korrektheit der Maschine, die den Geist ertödtet.
Aber auch für Crane, wie für so viele in England, waren Burne Jones und William
Morris erst die Bringer der neuen Kunst, Es ist für den Berichterstatter schwer, die Sachlage klar zu
werden, wenn er bei Nennung solcher Namen nicht erwarten darf, im Kopf der Leser ein fertiges Bild des
Schaffens und Wirkens des Besprochenen vorzufinden; hinsichtlich Burne Jones darf ich wohl nochmals
auf meinen Aufsatz hinweisen, hinsichtlich Morris muss ich aber hier ein paar Angaben machen.
Morris ist der praktische Verwirklicher der dekorativen Absichten der Schule. In Keimscott
House vereinte er allerhand Werkstätten, für sich, als Privatmann anregend thätig, wie es einst für
den Staat die Fürsten gewesen waren. Gobelins weben, bunte Fenster malen, Bücher drucken —
all das betrieb er mit den feinen Organen des Künstlers und dem weiten Blick eines tüchtigen
Geschäftsmannes. Ein unwiderstehlicher Schaffensdrang trieb ihn vorwärts, um die romantisch erregte
Phantasie zu künstlerischen und kunstgewerblichen Anstrengungen umzumünzen. Er lebte und webte
in einer mittelalterlichen Welt, als Dichter, als Zeichner in seinen Einrichtungen. Und dabei war er
voll moderner Gedanken, Sozialist aus Mitleid zu seinen darbenden Mitmenschen, ein Volksredner,
der mit der Polizei öfter in Berührung kam und dabei ein vornehmer Mann, dessen ganzes Schaffen auf
die höchste, die künstlerische Verfeinerung des Luxus ausging. Gemeinsam mit Burne Jones und dem
2*
12
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Gemeinsam haben sie die
Liebe zum Buch, die Biblio¬
philie. Man verzeihe mir,
wenn ich wieder mit Meyer’s
Konversations- Lexikon von
1874 komme. Dort heisst
es: Bibliophilie siehe Biblio-
manie; und bei diesem Stich¬
wort : Die Sucht Bücher zu
sammeln: Und nun wird er¬
klärt, dass es Leute gebe,
die Bücher sammeln, nicht
um ihres Inhalts wegen,
sondern um der Nebendinge
willen , des Druckes , der
Abbildungen, der Einbände,
und dass diese hauptsächlich
in England zuhause seien. Man sieht dem Artikel an, dass sein Verfasser sich über den spleenigen
Britten erhaben fühlte, von dem hie und da wohl die Zeitungen erzählten, er habe nicht Ruhe ge¬
lassen, bis man ihm die und jene alte Scharteke überlassen habe, ja er habe einen lächerlich hohen
Preis für sie gezahlt. Heute würden unsere Sammler und Museen vielleicht das zehnfache zurückzahlen,
käme dadurch das Buch wieder : Vielleicht sind wir nur suggerirt vom Spleen ; vielleicht aber war
der Engländer gar nicht so verrückt, und sind wir erst durch ihn gescheidter gemacht.
Architekten Philipp Webb
pflegte er den Geist des
Präraffaelitismus , den des
weitabgewandten Lebens in
der Tiefe des Gedanken —
er der Mann, der in Merton
Abbey eine Fabrik ohne
rauchenden Schornstein schuf,
dessen Ehrgeiz es war, dass
diese auf die Neuerungen
des Betriebs, auf Dampf kraft
und Elektrizität verzichte,
um dem Werth der Hand¬
arbeit eine sachliche Hul¬
digung darzubringen.
OO ö
Vieles von Morris’ Wesen
ist auf Crane übergegangen.
00 0
Walter Crane. Studie. Valle dei Molini,
Amalfi
Solche Bücher kannte man eben in England. Unsere schönen alten Bibeldrucke, die uns nur
« Raritäten » zu sein
schienen, sie wur¬
den drüben zum
Lehrmittel neuen
Schaffens! Crane’s
erwähntes Buch
lehrt uns deutlich,
dass er bei den
« Bibliomanen » in
die Schule ging.
Im Jahre 1891
veranstaltete er eine
Ausstellung seiner
Arbeiten in « The
Walter Crane. Grande Marina, Amalfi
Fine Art Society »
in New Boadstreet
zu London. Es war
ein Zusammenfassen
seiner Erfolge und
er selbst gab im
Kataloge einen
Ueberblick über
diese. Er erzählt,
wie er iS 65 begann,
gemeinsam mit dem
Stecher und Stein¬
drucker Edmund
Evans, sein erstes
LS
Europa.
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
Walter Crane. Bacchantin
14
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Buch «The Fairy Ship » herauszugeben, dem dann «The Sorg of Sixpence» (1865 — 1866) folgte.
Es war nur in drei Farben gedruckt: Schwarz, roth und blau. Man warf diesen Büchern damals noch
vor, sie seien nicht kräftig genug im Ton, man fand nicht die protzigen Farben wieder, die in den
üblichen Kinderbüchern heimisch waren.
Japanisches sollte sich in ihnen mit der farbigen Kunst der mittelalterlichen Miniaturmaler und mit
dem klassischen Empfinden Jung-Englands mischen. Jetzt nennt Crane die Bilder selbst als zu frei im Ton
und zu barbarisch für jene, die durch Caldecott und Greenaway in allen Verfeinerungen der Kunstart
eingeführt seien. Gewiss ist aber, dass dadurch der Weg gewiesen wurde für eine neue Aufgabe
des Farbendruckes, dass die moderne Plakatkunst hier ihre ersten Anregungen zu suchen hat. Rasch
folgten noch mehr Bilderbücher: «Bluebeard» (1873 — 1874), «Jack and the Beanstalk » (1874—1875),
die Shilling Picture Books (seit 1875), »Aladdin«, «Goody Thwo Shoes », Beauty and the Beast»,
«The Frog Prince», «The Yellow Dwarf»,1 «The Hincl in the Wood», «Princess Belle Etoile»,
«Alphabet of Old Friends».
Das ist die lange Reihe der hauptsächlichen Arbeiten. Sie unterscheiden sich stark von jenen
Caldecott’s ! Bei diesem grossen Humoristen ist das Bezeichnende die Hast des Stiftes, der in
kurzen geistreichen Strichen Feben, Bewegung, Charakter zu geben weiss. Bei Crane ist alles Finie,
Stil, Ueberlegung, fleissiges Studium. Man möchte glauben, dass Crane sehr eingehend die griechischen
Vasenbilder nachgezeichnet habe. Seine in erster Finie auf Umriss komponirten Gestalten klingen vielfach
an diese an. Sie scheinen zu gross iiir die Bildfläche, sie müssen sich beugen, um in ihr stehen zu
können. Crane kommt es auf deutliches Erzählen des Vorganges mit allen seinen Nebenumständen
an, wie es so die Kinder lieben. Crane ist nicht eigentlich witzig, wie es Caldecott in so hohem
Grade ist, er ist nicht eigentlich lebendig und belebend, er hat etwas Fehrhaftes, Doktrinäres in seiner
Kunst und in Allem, was er schafft, eine deutliche Absicht.
Wenn er selbst seine älteren Arbeiten «barbarisch» nennt, so thut man ihm wohl nicht weh,
indem man das Wort aufnimmt. Es ist trotz aller klassischen Finienführung, trotz der geraden Nasen,
kurzen Oberlippen und rundem Kinn ein nordisches Geschlecht, das er zeichnet. Deute von sehr
langen, vollen Gliedern: Kein Mensch wird darüber in Zweifel sein, dass es Engländer sind, die er
zeichnet. In einem internationalen Seebade wurde einmal im Freundeskreise die Frage aufgeworfen,
ob man die in den Wellen Herumpatschenden ihrem Volksthum nach zu unterscheiden vermöge.
Das Ergrebniss waren ungezählte Irrthümer. Wir erkennen die Völker mehr an ihren Kleidern oder doch
an der Art, sie zu tragen, wie am Körperbau. Bei Crane’s Gestalten ist
es aber gerade dieser, der entscheidet, da die Kleidung meist eine ideale
ist. Es giebt also eine gewisse Schlankheit der Form, eine vor weit aus¬
greifenden Bewegungen sich scheuende Biegsamkeit der Körper, eine
gewisse Schämigkeit in der Haltung, einen Zug um den grosslinig ge¬
schwungenen Mund, der Jedem mit Volkwesen Vertrauten das englische
Wesen erkennen lässt, nicht weil er dem Engländer überhaupt eigen, sondern
weil er das Ideal seiner Art darstellt.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
15
Die «barbarische» Seite der Bilderbücher
liegt in der Farbengebung und in dem ver~
hältnissmässig geringen Reichthum des Aus¬
drucks in der Zeichnung. Die stilistische Form
herrscht so vor, dass die Gestalten im Grunde
alle wie aus einer Familie stammend er¬
scheinen. Nach dieser Richtung bedurfte Crane
sichtlich noch der Vertiefung und zwar dürften
hier für ihn die ersten 70 er Jahre von höchster
Bedeutung gewesen sein, in welchen er erst
in den vollen Umfang seiner Thätigkeit trat.
Er war zwei Winter in Italien gewesen und
hatte sich hier mit den Formen der Antike
in höherem Maasse erfüllt. Unter den diesen
Aufsatz schmückenden Bildern sind eine Reihe
von damals und später in Rom gefertigten
Studien. Jeder hat das Recht, sich in der
Welt sein Theil zu suchen, um es zu lieben,
um es bildlich darzustellen. In Italien sind
tausende von Künstlern gewesen und ist Stoff
für tausende mehr. Man kann also wohl die
Ziele des Einzelnen an dem erkennen, was
er in Italien findet: Jedenfalls war es in der
Landschaft nicht das, was die Malerei der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begeisterte.
Da ist wohl der Ausblick auf St. Peter in
Rom : Aber man braucht sich nur die Kuppel
wegzudenken, um aus dem klassischen Land
in ein rein Crane’sches, aus der Campagne
in die Hügel von Kent zu kommen: Blühende
Bäume, Weingärten, eine gesunde Freude an
der Fruchtbarkeit, am Schaffen der Natur:
Crane sieht die Blümlein auf den Wiesen des
Forums und ihm ist die kahle Rückseite einer
Mauer bei S. Francesco in Rom des Dar-
stellens werth, wenn darin ein Orangenbaum
volle Früchte bietet. Er liebt eine klassische
Welt, aber eine solche , in der man sichs
Walter Crane, Der Morgen
16
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wohl sein lassen kann, er verliert sich nicht in das zeitlich Fremde, sondern sucht es in sich zu
eigenem Behagen aufzunehmen.
Das Jahr 1S75 brachte als Ergebnisse seiner Reisen zwei Bilderbücher «Mrs. Mundi at home »
und «Amor vineit omnia». Das eine eine allegorische politische Satire, nur in Umrisszeichnung:
Ich muss gestehen, dass ich ihr nicht allzuviel Reiz abzugewinnen weiss: Das andere die Darstellung
einer Stadt der Amazonen, welche General Cupido mit seinen Truppen belagert; ein Werk voller
Erinnerungen an Italien. Aus ihm heraus entwickelte sich auch Crane’s erstes grosses Bild «Amor
vineit omnia», welches mit fast allem Eigenartigen , was die englische Kunst hervorgebracht hat,
das Schicksal theilte,
von der Ausstellung
der Londoner Aka¬
demie zurückgewie-
sen zu werden.
Es ist sehr merk¬
würdig dieses erste
Bild des Künstlers,
der bisher für Kin¬
der gearbeitet hatte,
das heisst doch mit
der Absicht lächelnd
den noch Armen im
Geist und doch so
Reichen in der Phan¬
tasie die für sie er¬
dichteten Geschicht¬
lern zu erklären. Er
bleibt auch im Bilde
im Kinderton , im
Märchenlande. Wie
Walter Cranc. Studie für das Bild: Die vier Jahreszeiten
die Dinge sich relief¬
artig abspielen, wie
die Landschaft hin¬
ten, italienischer Er¬
innerungen voll, be¬
lebt ist von allerhand
Vorgängen, wiejede
einzelne Gestalt hin¬
gestellt ist, so dass
man sie völlig be¬
greife, das zeigt,
dass das Kinder¬
thum in Crane nicht
eine Spielerei sei,
dass es tief in ihm
steckt. Ist die Ge¬
schichte , die dar¬
gestellt wird, auch
aus allerlei nur dem
Denkenden ver¬
ständlichen Bezieh¬
ungen zusammengesetzt, so ist das Ganze doch ein echtes Kinderbild: Man prüfe es neben vielen
unter den so selten geschickt gewählten Bilderbüchern für die Kleinen auf Deutlichkeit der An-
schauung: Der schöne Schimmelreiter, die Blasenden, die Jungfrau mit den Schlüsseln, der besiegt
knieende Sieger !
<_>
Und weiter schuf Crane in diesem Jahre 1875 den ersten Entwurf für eine Tapete, begann
für ihn also das Eingreifen in das Kunstgewerbe. Mit einem Schlage nahm Crane Besitz von dem
O ö o
ganzen Schaffensgebiet, welches er in der Folge zu beherrschen lernte.
Im Jahre 1877 erschien dann die englische «Secession» siegreich auf dem Plane: Sir Lindsay
schuf der nach öffentlicher Anerkennung ringenden jungen Künstlerschaft einen Ausstellungsraum und
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
17
Walter Crane. Der Constantin- Bogen, Rom
eine Organisation in der Grosvenor Gallery und rückte hiemit neben Burne Jones auch Walter Crane
in den Vordergrund des öffentlichen Interesses.
Zunächst einige weitere Werke über Crane als Maler. Er äusserte sich selbst über seine
Absichten und Ansichten in einem in den 8oer Jahren geschriebenen Aufsatze. Er findet
die Aufgaben der Malerei neu gestellt: Früher mehr dekorativ, habe sie jetzt den Zweck, die Natur
in ihren wunderbaren Naturerscheinungen, ihrer Pflanzen- und Farbenpracht zu schildern oder geschicht¬
liche Ereignisse und Vorgänge im Volksleben, oder auch die Verkörperung romantischer, poetischer
Gedanken und vieles Anderes noch wiederzugeben. Aber das Hesse sich Alles ebensogut verwerthen und
künstlerisch zum Ausdruck bringen in einem dekorativen Werke. Der Fehler liege in unserer Art
Staffeleibilder zu malen, die nicht nothwendiger Weise in Verbindung mit irgend einem anderen Gegen¬
stand gedacht seien, den Maler also auch nicht zwängen, die Umgebung seines Werkes in Betracht
zu ziehen. Für den modernen Maler hat somit nichts von dem, was ausserhalb der Leinwand liegt, Bezug
zu seinem Kunstwerk. Die Unsitte der grossen Ausstellungen und Bildergallerien lehrt ihn, dass es
zwecklos sei, sich mit jenseits des Rahmen Liegenden zu beschäftigen.
Zudem bringe das moderne Verlangen nach genauer bildlicher Wiedergabe des Gesehenen
den Künstler noch weiter ab von der architektonischen, dekorativen und konstruktiven Art früherer
Maler und Handwerker, die ihre Werke mit deren Umgebung in Einklang zu bringen hatten, meistens
IS
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
in einen gegebenen Raum hineinkomponiren mussten und dem verschiedenartigen Material Rechnung
zu tragen genöthigt waren.
Crane spricht diesen realistischen Bildern den Werth ab und fordert statt den in ihnen herr¬
schenden Wahlspruch der Wahrheit, den der Schönheit. Doch braucht diese nicht ihrem Wesen nach
der Wahrheit zu widersprechen. Jedenfalls sei für die Dekoration Schönheit die Grundbedingung,
deren eigentliches Wesen, mit dessen Verlaugnung sie zu sein aufhöre. Die Schönheit sei hier nur
bedingt durch die Umgebung. So dürfe ein Freskenbild an der Wand nicht die Empfindung hervor-
rufen, als ob ein Loch in dem Gemäuer wäre, durch das man zufällig das oder jenes zu sehen bekäme,
die Verzierung einer Vase solle sich der konvexen Form jener anpassen, diese noch mehr zum
Ausdruck bringen, nicht aber ihr widersprechen. So solle ferner beim Ausschmücken einer Wand oder
Thürfüllung das verwendete Motiv sich breit ausdehnend, diese wirklich organisch bedecken — es
soll ornamental wirken, da das der einzige Zweck eines Ornamentes sein könne. Crane giebt hiebei
vielerlei zu bedenken: Entspricht das Muster dem Ort, an dem es angebracht und dem Material,
auf dem es gearbeitet ist? stehen die Formen im Einklang mit der Umgebung und sind sie an sich
harmonisch? sind die Farben gut gewählt? zeugt das Werk von Reichthum der Erfindung und Schön¬
heitssinn? sprechen sich in demselben Gedanken und poetisches Gefühl aus? Sind diese Fragen mit
Glück beantwortet, so hat der Künstler den an ihn zu stellenden Anforderungen genügt und eine
dekorative Malerei geschaffen, welche durchaus keine untergeordnete Kunstleistung sei.
Freilich passe sie nicht auf Ausstellungen, die so wie so nur ein Nothbehelf seien, um die Werke
an die Oeffentlichkeit zu bringen. Wirklich beurtheilen könne man ein echtes Kunstwerk nur in der
Umgebung, für die es geschaffen wurde. Man müsse daher sich von den Einflüsterungen der Bilder¬
macher frei halten, wolle man zu einer echt dekorativen Kunst kommen. Sie sollen nicht Licht- und
Luftwirkungen, mithin den Eindruck grosser räumlicher Tiefe hervorbringen, sondern den Eindruck des
Flächenhaften geradezu erstreben, wie ihn Fresko und Tempera geben. Beide Arbeitsarten fördern
schnelles Malen und sofortige Vollendung der Arbeit. Aehnlich sei das Malen mit Oelfarben, die
durch Terpentin
oder Benzin gebun-
den, auf nicht zu
glattem Gyps auf¬
getragen werden.
Gegen diese An¬
schauung, -wenn sie
zur Gemeingültig-
keit erhoben werden
sollten, Hesse sich
gewiss Vielerlei
sagen. Ich habe
immer gefunden,
Walter Crane. Villa Ludovisi
dass die Aesthetik,
welche die Künstler
treiben im Grunde
nichts ist als Erklär¬
ung ihrer schöpferi¬
schen Eigenart. So
auch hier. Nicht
weil ich glaube, dass
Crane unbedingt
recht habe, sondern
weil er für sich und
seine Begabung das
Rechte fand, sind
Walter Crane. Lohengrin
20
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
seine Erklärungen für uns von hohem Werth. Sie sind Erläuterungen zu seinen Bildern. Diese stehen
daher auch in sehr entschiedenem theoretischen Gegensatz zu der Kunst, mit welcher der Präraffaelis¬
mus als eine ausgesprochen realistische Schule anfing. Der dort eingeschlagene Weg ist, wie so oft,
der gleiche wie in andern Kunstschulen. Der Realismus ist die Vorstufe, die zum neuen Idealismus führt
und dieser, als
die Blume des
Realismus trägt
für Spätere die
Frucht der V or-
bildlichkeit.
Aber mit der
Vollendung" der
Frucht verfällt
die glanze
Pflanze. Es be¬
darf nun wieder
eines neuen Re¬
alismus, eines
neuen Früh¬
lings, um aus
allerlei alten
Keimen Lebens¬
kräftiges zu ent¬
wickeln.
Folgen wir
der Reihe von
Crane’s Bildern,
soweit diese hier
zur Darstellung
o
gebracht wer¬
den kann.
Der « Raub
der Europa »
ist klar und sachlich durchgeführt. Unter der zerbrechlichen Brücke das Boot des Lebens und des
Todes: Aus einem landet das junge Leben, ersteigt, geleitet von den Eltern die Stufen, wird von
den Alten belehrt, schreitet spielend und liebend empor bis zum Höhepunkt, wo die Iromete der
Ehre erklingt, die Weltlust sich anhängt, die Schönheit den Becher füllt und die Hingabe sich an
den reifen Mann schmiegt. Glück und Ruhm locken den Verweilenden weiter, er packt sich die Lasten
Walter Cram. Freiheit
wurde 1 8 8 1
theilweise in Ita¬
lien gemalt, in
England vollen-
det. Gemalt auf
rauhem Gips¬
grund sucht es
mit Entschie¬
denheit im 'Fon
der italienischen
Fresken sich zu
halten. Italie¬
nisch sind auch
die Motive des
Hintergrunds,
die vollere, mus¬
kelreichere Be¬
handlung des
<_>
nackten weib¬
lichen Körpers.
Die « Brücke
des Lebens »
dankt auch dem
Aufenthalt in
Rom ihre Ent¬
stehung, wurde
jedoch erst
1 884 vollendet.
Die Allegorie
Original im Besitze des Herrn Baron T. Th. Heinzei von Hohenfels
Wolter Craue pinx
Phol. F Haufslaengl, München.
In das Schicksals Buch
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
21
Walter Crane. Skizze zu dem Gemälde: Das Nahen des Frühlings
der unduldsamen Welt auf, Loth’s Weib wendet sich sorgend zurück, bis das Alter, das schon zum
Nachen des Todes hinabschaut, selbst Stütze an der Jugend suchen muss. Nur die Hoffnung hält noch
ihr Lämpchen empor, obgleich der Weg schon die Stufen hinabführt — bis der Todte im Nachen
liegt und Atropos den Faden zerschneidet, den ihre Schwester Clotho bei der Landung des Kindleins
knüpfte und die über der Jugend thronende Schwester Lachesis fortspann.
Es ist ein merkwürdiges Bild ! Nicht der Gedanke ist’s, der mich packt. Der hat etwas Aus¬
geklügeltes, Gelehrtenhaftes. Nicht die Komposition, die nicht immer frei ist, und die auch ihrerseits
zeigt, dass Crane es sich nicht leicht werden Hess, nicht das ausserordentlich vertiefte Naturstudium.
Die Umrisslinie herrscht in alter Gewalt im Bilde, aber der Umriss ist unendlich viel reicher geworden
und die Fläche innerhalb seiner Grenzen hat Bewegung, Fluss, Körperhaftigkeit gewonnen. Das Merk¬
würdigste scheint mir die stilistische Kraft, die hier zuerst Crane auch im Geschichtsbild ganz er selbst
sein lässt, und zwar um so stärker, als er selbst dieses Bild als Frucht des Auflebens des Einflusses
der Antike und der Renaissance in Zeichnung und Auffassung kennzeichnet, und er in ihm trotzdem so
erstaunlich englisch bleibt.
Wie Goethe in Italien die Hexenscene seines Faust schrieb, wie ihn inmitten der klassischen
Welt die schwankenden Gestalten der Romantik nahten, so ist dem Engländer Rom mit Keat’s Name
und Dichtungen auf’s Engste verknüpft. Crane fand in seinem Bilde «La belle Dame sans Merci»
(1889), die Keat nachgedichtet wurde, den Ausdruck für diese Welt. Das Bild ist sehr farbig, fast
bunt. Wie Holman Hunt sieht Crane jede Einzelheit der Natur mit scharfem Auge. Die Blumen auf der
Wiese, die mit botanischer Genauigkeit gemalt sind, wie den Schmuck an der schönen Frau, dem gepanzerten
Ritter, am Sattelzeug des Pferdes. In diesem Sinn fühlt er sich als Realist. Er ist es auch schon mehr
als früher hinsichtlich der Luft- und Lichtwirkuneen. Der aufziehende Mond beherrscht die Landschaft.
Trotzdem ist das Bild durchaus dekorativ empfunden, obgleich es dem widerspricht, was wir mit diesem
Namen bezeichnen : nämlich flott und breit gemalt, skizzenhaft nur auf Massenwirkung berechnet.
22
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Derselben Zeit gehören eine Reihe von Darstellungen einzelner Frauengestalten an. Die Vor¬
studien für diese Arbeiten müssen den Künstler sein ganzes Leben hindurch begleitet haben. Man sehe
die Reihe sorgfältiger Gewandstudien durch, in welchen zunächst noch das Bildnissmässige stärker sich
äussert, als in den ausgeführten Arbeiten. Sie sind selten mehr als grau in grau, meist in mit Weiss
gehöhter Zeichnung dargestellt, Zeugnisse dafür, dass Crane plastisch sieht und dass ihm das Malen
ein Uebersetzen der Form in Farbe ist. Nicht ohne Grund rühmt er die alten deutschen Flolzschneider
und ihr « Clairobscur », das Zeichnen mit Weiss auf schwarzem Grund, da er es selbst bei seinen Ent¬
würfen anzuwenden liebt. Es scheint diese Kunstart durch bei Bildern wie die «Quelle», «Flora»
und anderen, die im Ton kaum über das Fresko hinaus gehen, in der Behandlung durchaus als «Paneel»,
als eine gemalte Füllung, wirken. Als Dekoration muss man auch seine « Schwanenjungfrauen »
(1894) auffassen, die lieblichen Mädchen, die sich nach dem Bade in ihr Schwanengewand werfen, um
sich in die Lüfte zu erheben. Ich missverkenne die Schwächen des Bildes nicht. Die Beine der
stehenden Jungfrau sind länger als selbst für eine Engländerin gut ist, die Gestalten erscheinen nach
Art des japanischen Musterzeichners auf der Fläche vertheilt, so dass die Absichtlichkeit der An¬
ordnung nicht gerade angenehm auffällt, die weitgespannten Flügel sind ein sehr bequemes Mittel,
eine gute Raumvertheilung zu erhalten, die einzelnen Gestalten sind sich sehr ähnlich, sie sind sehr
keusch, fast Poyeter’isch geschlechtslos. Man möchte Crane das spanische Sprichwort zurufen : Mehr
Knoblauch in die Brühe! — wenn es überhaupt gut wäre, über Schwanenjungfrauen zu streiten wenn
das Bild mehr sagen wollte, als wie Crane sich diese vorstellt. Gerade das Phantastische deckt die Eigenart
des Bildes. Aehnlich an einem der neuesten Werke, dem «Morgen», der 1896 auf der Dresdener Aus¬
stellung zu sehen war. Den eigentlichen Reiz kann die Photographie nicht vollständig wiedergeben, er
liegt in dem dämmernden Roth auf duftigem Blau, im malerischen Kampf zwischen Morgenröthe und
weichender Nacht. Jenes Geschlecht schlafender Mädchen, welche die kommende Sonne erweckt, steht
ausserhalb des Menschenthums, es ist selbst ein Duftgebilde.
Friesartig erscheint das liebliche Bild der «Maienkönigin» in ihrem Zuge auf von Gazellen
o 00
9
gezogenen Wagen, ihrem Gefolge von jungem Volke und jungem Vieh. Das was immer wieder an diesen
schlichten Bildern anzieht, ist die Kindlichkeit, die Harmlosigkeit der Auflassung. Es steckt etwas
Märchenhaftes in dieser Kunst Crane’s, etwas Traumseliges, Weitabgewendetes. Wenn man bedenkt,
dass derselbe Mann mitten im gewerblichen Leben unserer Zeit steht, als ein Kämpfer für die Werth¬
schätzung der Künstler, wenn man erfährt, dass er gleich Morris seinen politischen Bestrebungen nach
Sozialist ist, so wird es einem nicht ganz leicht, sein Schaffen zu verstehen, es sei denn, dass es eine
Verneinung unserer an Schönheit verarmten Welt bedeute. Und so kann man sich vorstellen, wie
der sozialistische Künstler für Waffenkampf, Ritterwesen, antikes und feudales Herrenthum sich be¬
geistert. Viele seiner romantischen Figurenbilder wirken ja auch in erster Linie dekorativ. Seinen
« Pegasus » könnte man der Metope eines dorischen Tempels entlehnt glauben. Im gleichen Sinn die
«Schicksalsrolle» 1882, ein Bild, das mir etwas zu geistreich ist, auf dem man lesen muss und zwar
lateinisch, zu dem man eine Erklärung braucht, während die Gestalten selbst schweigen. Der Drang
nach der Tiefe führt hier Crane nach Art der verflossenen deutschen Kunst ins Litterarische, in das.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
23
was besser geschrieben als gemalt wird. Einen sozialistischen Hintergedanken hat wohl auch das
prächtige Bild «Englands Wahrzeichen». Freilich ist es nicht ein solcher, wie etwa Singer oder
Liebknecht ihn hervorbringen würden. England als mittelalterlicher St. Georg, als Heiliger, als feudaler
Herr rennt auf prächtig ausholendem Schimmel gegen den über Menschenleichen fauchenden Drachen
an. Im Hintergrund qualmende Fabriken. Soll St. Georg sie vom Drachen des Kapitalismus befreien ?
Vielleicht ist es ein Mangel meiner sozialpolitischen Einsicht, dass ich, an deutsche Sozialisten gewöhnt,
mir einen «Genossen» nicht als von starkem Vaterlandsgefühl beseelt denken kann, vielleicht ist
es aber auch ein
Mangel in meinem
Kunstverständnis,
dass ich mir die
Frage nach dem In¬
halt oder vielmehr
der Nebenbedeut¬
ung des Bildes erst
im Schreiben vor¬
lege. Bisher sah ich
das Bild mit Kinder¬
augen an und freute
mich am starken
Pferd, dem gewand¬
ten Reiter, an der
lustigen Farbe, wie
ich — offen gestan¬
den — auch Keat’s
Romanze von der
Belle Dame sans
Merci nicht gelesen
habe und darum
Crane’s Bild aus
dieser nicht weniger
glaube verstehen zu
können — als Bild!
Der « W agenlauf
der Stunden» (The
Chariot’s of the
Hours) ist Crane’s
in Deutschland wohl
bekanntestes Bild ;
1887 gemalt, er¬
schien es 1891 auf
der Internationalen
Ausstellung in Ber-
lin. Es ist zugleich
eines, das die pho¬
tographische Wie¬
dergabe fast in sei¬
ner malerischen
Wirkung erreicht,
da es mit kräftige¬
ren Lichtwirkungen
arbeitet, die Leb¬
haftigkeit der Be¬
wegung, der Fluss
der F ortentwicklung
in voller Deutlichkeit zur Schau kommt. Aehnlich « Neptun’s Pferde» (1893) die Darstellung der
Wogen als ansprengender Rosse.
Bei Würdigung des Malers Crane darf man nie dessen Vielseitigkeit ausser Acht lassen. So
seine Leistungen als Musterzeichner: Er hatte erfahren müssen, dass ein pfiffiger Tapetendrucker die
Zeichnungen aus seinem Bilderbuch «The Babys Opera» zu einem Muster für seine Waaren benutzt,
eine Tapete für Kinderzimmer daraus gefertigt hatte. Das Buch, 1877 erschienen, war eines der
grössten Erfolge Crane’s gewesen, später gefolgt von dem verwandten « The Babys Bouquet » (1879)
24
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und dem künstlerisch noch höher stehenden «Pan Pipes» (1882) und «Babys Own Aesop» (1886) zeigen
deutlich Caldecott's und Greenaway’s Einfluss an der farbigen Behandlung. Sie wird schlichter bei
wenigen, leichter behandelten Farben, doch reicher in der Wirkung, die Zeichnung klassischer, trotz des
modernen Gewandes, die Stilisirung freier von Gewaltsamkeiten. « Floras Feast » (1888) und «Oueen
Summer» (1891) gehen immer weiter in der freien, eigenartigen duftigen Behandlung, in der Ueber-
windung dessen, was Crane selbst das Barbarische an seinen ersten Arbeiten nannte, führen ihn immer
mehr in’s Wunderland. So ist in Oueen Summer das Turnier zwischen Rose und Filie in einer Fülle der
reizvollsten Kompositionen, mit ächtestem Dichterthum dargestellt, voll einer Romantik, die uns Deutsche
wunderlich an unsere eigene Zeit der sanften Helden und der duftigen Ritterfräulein mahnt : Zu Floras
Feast dichtete er selbst die Reime, zu dem letzten Hauptwerk « Echoes of Hellas» Hess er einem
anderen, F. G. Warr, die erklärenden Verse beifügen, hier das Griechenthum mit neuenglischem Geist
durchwirkend, den Fall von Ilion und Orestes’ Irrfahrt. Das ist sehr geistreich, sehr fein empfunden,
von ausserordentlicher Schönheit der Finienführung : Dazu in Umdrucken nach des Künstlers eigener
Federzeichnung, ächteste unmittelbare Zeugnisse seiner Kunstart. Aehnlich das nur in einem Ton ge¬
druckte «Book of Wedding Days » (1889).
jener Tapetendrucker hatte zwar wenig Rücksicht, aber gutes Verständniss des Marktes gezeigt,
indem er Crane’s Zeichnungen sich schlankweg für seine Zwecke aneignete. Bald nahm der Künstler
selbst ähnliche Arbeiten auf und zeichnete für Mr. Mettord Warner oder dessen Firma Messrs.
Jeffrey & Co. eine Reihe höchst merkwürdiger Tapeten. Sie haben alle Namen: «The Margarete»
(1875) mit einem Fries aus allegorischen, des alten Chaucers Dichtungen entlehnten Gestalten,
«The House that Jack Built», anschliessend im Text,
nicht in der zeichnerischen Darstellung an Caldecott’s
berühmtes Bilderbuch, «Corona Vitae», «The Fairy
Garden» und wie sie alle heissen, namentlich aber des
Pfauenmuster und solche, die für bestimmte Gebäude,
für die arabische Halle des Malers Sir Frecleric
Feighton, für Mr. Stuart Hodgson geschaffen werden.
Der Aesthetiker hat wohl mancherlei gegen diese
Tapeten und gerade ihren Reichthum an Gedanken zu
sagen : « The House that Built » giebt ein dekorativ
dargestelltes Haus wieder, vor dem die in der kleinen
Geschichte so bedeutungsvolle Kuh steht; ferner Hahn,
Hund, Katze, ein vor gothischer Architektur stehender
Mönch, das Milchmädchen und der Held der Geschichte
vor ihm knieend, die Hand zum Verlöbniss gereicht.
All das sehr stark stilisiert, sehr geschickt ineinander
komponirt, aber doch auf einer Wand hundertfach
wiederholt. SO dass die Vielheit der Darstellung- deren Walter Crant. Studie zu dem Bilde : Das Nahen des Frühlings
o
Walter Crane pinx.
Phot. F. Hanfstaengl, München
Die Sehwanenjungfrauen
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
Walter Crane pinx.
Phot. F. Hanfstaengl, München
Die Wasserlilie
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
25
Walter Cratte. Rom vom Monte Parioli, im Frühjahr
geistigen Werth beeinflussen muss: Es kommen eben hundert von Häusern, Verlobungen, krähenden
Hahnen auf eine mit der Tapete beklebte Mauerfläche, es tritt dadurch das Maschinenmässige der
Herstellung mit harter Deutlichkeit vor das Auge des Beschauers, es widerspricht das Ganze dem Streben
nach Wirkung der künstlerischen Handarbeit, für die Crane so viel Thatkraft und Eifer einsetzte.
Er stellte sich an die Spitze einer Bewegung, die dem zeichnenden Gewerbekünstler öffentliches
Ansehen und dasRecht verleihen will, dem Werk derlndustrie seinenNamen mit auf den Weg in denHandelzu
geben. Er schuf Ausstellungen, in welchen nicht der Fabrikant, sondern der Zeichner die Gewerbeerzeugnisse,
zu denen er den Gedanken gab, vorführte. Die dekorativen Künstler und Handwerker, schrieb er im Vorwort
zur ersten von diesen, haben bisher nur wenig Gelegenheit gehabt, ihre Arbeiten dem grossen Publikum
vorzuzeigen, um dessen künstlerisches Urtheil anzurufen, wie es die Maler thun. In einer Zeit, in der
Jeder, der die Mittel dazu besitzt, sein Haus künstlerisch auszuschmücken sucht und in der man sich
mehr denn je um die Künste kümmert, jedenfalls mehr von ihnen spricht, weiss man von den Schöpfern
und Zeichnern der uns umgebenden kunstgewerblichen Gegenstände nichts. Bei der heute üblichen
Schaffensweise wird unstreitbar der Werth des Einzelnen, welcher so wichtig bei allen künstlerischen
Aeusserungen ist, zu sehr in den Hintergrund gedrückt, der Handel, die Maschinen, die Fabriken
haben sich mit rein kaufmännischen Absichten der Leitung bemächtigt, geschickte Handelsleute
haben den Markt künstlich heraufgeschraubt, sie haben sich gegenseitig die Erfindung irgend einer
eigenartigen Form, die dann für kurze Zeit das modernste und allerneueste war, streitig gemacht.
26
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Diese Sucht nach etwas Anderem, noch nie Dagewesenen, vertritt in unseren Tagen nur zu oft die
Stelle von künstlerischem Geschmack und wahrer Liebe zur Kunst. Wenn wir aber unsere Theilnahme
nur auf Gemälde und die zeichnenden Künste beschränken, so liegt die Gefahr nahe, dass wir den Sinn
für das Entwerfen, für das Formen verlieren, jenen Sinn für das Anpassen des Stoffes zum
darzustellenden Gegenstand, das Gefühl für die Verwandtschaft des Stoffes zum Kunstwerk, aus dem
heraus die grossen Schöpfungen der Vergangenheit entstanden sind.
Die Grundlage für jede Kunst, sagt Crane, liegt im Handwerk ; nur wenn der Handwerker ein
wirklich künstlerisches Empfinden besitzt, wenn er durch seinen Geist selbst dem an sich unwichtigsten
Gegenstand, dem einfachsten Material ein künstlerisches Gepräge zu geben weiss, das ebenso hoch steht
wie die Fähigkeit gute Bilder zu malen, ist die Kunst in einem normalen, gesunden Zustand.
Wenn unter den Handwerkern keine Künstler mehr zu finden sind, dann werden sie auch sonst
verschwinden und sich in Kautleute und Fabrikanten verwandeln.
Durch die sogenannten « Arts and Craft Exhibitions » suchte Crane diesem Schaden zu begegnen.
Eine Menge von Schwierigkeiten war zu beseitigen. Es war bei der gewerblichen Sachlage in England,
wie anderwärts, nicht immer leicht, den wirklichen Schöpfer und Zeichner ausgestellter Objekte heraus¬
zufinden, um ihm und seiner Thätigkeit gerecht zu werden. Meist haben eine ganze Reihe Künstler
an einem Gegenstand gemeinsam gearbeitet; mehrere grosse leitende Firmen wollten sich nicht der
Bedingung fügen, bei jedem Gegenstand anzugeben, wer ihn entworfen und erfunden habe. Unter den
Handwerkern fanden sich nur Wenige, die unabhängig und mit persönlichem Selbstbewusstsein für
ihre Werke einstanden. Es ist, schreibt Crane weiter, jedenfalls nicht richtig, die Spitze eines Baumes
zu begiessen, wenn die Wurzel nach Nahrung verlangt, und selbst ein ungünstiges Ergebniss seiner
Untersuchung des künstlerischen Gesundheitszustand schien ihm besser, als gänzliche Ungewissheit.
Mein Freund Peter Jessen, der kundige Direktor der
Bibliothek des Berliner Kunstgewerbe - Museums, hat Crane für
Deutschland eine neue Bedeutung gegeben , indem er meinem
Rathe folgend, ihn aufforderte, einmal eine Serie seiner Arbeiten
zur öffentlichen Ausstellung herüberzuschicken. Es kamen deren
eine grosse Zahl : Fast alle die Originale für seine Illustrationen,
mehrere selbständige Bilderund es fand sich in Ernst Seeger
auch ein Kunstfreund, der mehrere von diesen auf deutschem
Boden festhielt. Seitdem haben Crane’s Gemälde auf deutschen
Ausstellungen eine Anerkennung gefunden, die ihnen in England
nicht in immer gleichem Maasse zu Theil wurden. Bietet er
doch das, wonach auch wir in so vielerlei Ansätzen streben:
Eine eigenartige Erscheinung im Kunstleben seines Volkes, die
von gewerblicher Grundlage zur hohen Kunst sich aufrichtete,
ohne i"e diese Grundlage zu verleugnen: Ein Künstler mit
Walter Cra?ie. Studie für ein Bild: J ö Ä
Die vier Jahreszeiten dekorativem Streben.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
27
Seit jene beiden Berliner Herren mich verliessen, hat englisches Gewerbe einen mächtigen, wohl
gar zu mächtigen Einfluss auf unser Schaffen erhalten. Nicht zum mindesten das was Crane erstrebt
hat. Er würde wohl der Letzte sein, der uns den Rath gäbe, seinen Bahnen zu folgen. Zum Leiter
der Kunstschule in Manchester berufen, wird er uns ein gefährlicher Rivale auf der nächsten Welt¬
ausstellung werden, dem wir nicht werden Stand halten können, wenn wir ihn nachahmen. Aber es
steckt in ihm so viel Germanisches, so viel dem Deutschen Verwandtes, dass wir sein Schaffen tiefer
fassen können, als durch Nachahmung. In dem Selbstbesinnen, in dem Verlassen auf den eigenen
Geschmack, in dem Durchdringen der Form mit volkstümlichem Geist liegt das, was an ihm uns
allein vorbildlich sein sollte.
Eines der schönsten Blätter, die Crane für den Holzschnitt schuf, ist in Erinnerung an den
internationalen Feiertag, den 1. Mai 1891: Voraus auf geflügelten, von Genien gefasstem Ross der
Walter Crane. Die Wahrheit und der Wanderer
Standartenträger, dahinter Arbeiter mit phrygischer Mütze und dem Banner: «Liberty, Equality,
Fraternity », hinter schwerem Ochsengespann ein Leiterwagen mit den Aufschriften: «Arbeit ist die Quelle
des Wohles», «Wacht Arbeiter über die Einigkeit aller Länder»; neben ihnen ein Reiter mit der
Fahne « Oekonomische Freiheit», Singende, Tanzende, Flötende als Begleitung. Zwei Mädchen halten
den Globus empor, der die Inschrift trägt: «Die internationale Solidarität der Arbeit», die Männer im
Wagen helfen sie mit erhobenen Händen stützen. Ueber dem Blatt die Inschrift: «Der Triumpf der
Arbeit». Ein Blatt voll Kraft, voll Leben, voll Schönheit, unverkennbar gezeichnet mit dem Herzblut
des Künstlers.
Seither sind sieben Jahren vergangen. Ich weiss nicht, ob Crane jetzt, nachdem auch unter
den Arbeitern gerade im Londoner Kongress von 1896 sich der nationale Zwiespalt so stark äusserte,
noch hofft, dass der Kampf von Volk zu Volk, der Kampf der Waffen wie jener nicht minder erbittert,
wenn auch auf Ausstellungsbanketten der «friedliche» genannte Kampf des Gewerbes und der Arbeit,
28
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
einst werde beseitigt werden können. Ob er noch auf die Gleichheit der Menschen hofft, er, dessen
o-anzer Werth darin liegt, dass er den Anderen ungleich ist: ob er mit seinen Landsleuten uns Deutschen
nicht verzeiht, dass wir den Weltmarkt, ihnen freilich zum Schaden, zu erobern trachten; dass wir das
internationale Ringen um das Brod der Fabrikarbeiter aufnehmen, in dem zwar keine Kugel, wohl
aber der Hunger nicht minder fruchtbar Wunden schlägt; ob er noch träumt ein System, eine wirth-
schaftliche Neuordnung, werde alle diese Schäden beseitigen können und wenn es dies könne, die
Masse werde diese Ordnung zweckmässig durchführen können.
Ich halte mich an seinen heiligen Georg. Der gepanzerte Wille und der Kampfesmuth des
Einzelnen wird den Drachen niederwerfen. Wohl dem Volk, das herzhafte Manneskraft hochhält und
es verträgt, dass Einer Herr sei! In friedlichen Schlachten, wie die kriegerischen, siegt nicht der
Haufe, sondern der befehlende Wille. Das muss doch wohl einem Manne klar werden, der durch
eigene Kraft ein Herr geworden ist in seinem Gebiet, dem die Erkenntniss sich sicher aufdrängt, dass
nicht der gemeinsame Wunsch Vieler, sondern die leitende, andere in ihrem Thun bestimmende Kraft
weniger Starker den Triumpf der Arbeit herbeiführt.
Mir fehlt ein Bindeglied, um den Gedanken zu begreifen, dass ein so eigenartiger Künstler, wie
Crane hoffen kann, das von ihm so heiss umworbene Gebiet, die Kunst, um mich fachmässig auszu¬
drücken, durch planmässig kollektivistische Produktionsweise an Stelle der individualistischen besserer
Zukunft zugeführt zu sehen.
o>
Oder schaut hier das Kinderthum des Meisters durch die politische Maske: Verliert er sich
so gern in Träume einer schöneren Zukunft als in Träume reicherer Vergangenheit ? Und glaubt er
o o o o
so redlich an Träume — hier wie dort? —
Walter Crane. Skizze vom Charles River, Concord,
Mass. U. S. A.
Walter Crane pinx..
Phot. F Hanfstaengl, München
In den Wolken
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
Pegasus
BENJAMIN VAUTIER t
VON
HEINRICH ROTTENBURG
Die Leser dieser Hefte haben aus anderer Quelle wohl längst den Tod Benjamin Vautier’s,
des grossen und populären Künstlers, erfahren, der am 25. April d. J. in Düsseldorf von hinnen
geschieden ist. Man braucht gar kein wüthender Verächter der Menge zu sein, um zu wissen, wie
selten die beiden Epitheta «gross und populär» auf einen Künstler zutreffen; das wahrhaft Grosse
bensprache, deutsch sein
in der Kunst ist eben fast
nie der breiten Volks¬
masse mundgerecht zu
machen und sie wird es
nur dann ganz erfassen
und mitempfinden, wenn
es so tief im Herzen und
im Geiste des Volkes
wurzelt, wie bei Benjamin
Vautier und den anderen
deutschen Genremalern
von seinem Range, einem
Knaus, einem Defregger,
einem Grützner. Benjamin
Vautier, der Meister mit
dem französischen Namen
ist als Künstler urdeutsch;
deutsch ist seine Empfind¬
ung, sein Stoffgebiet, seine
Formengebung und Far-
Benjamin Van Her
üriginalaufnahme von Franz Hanfstaengl
Gemüth und sein Humor.
Es wurde schon manche
Feder stumpf geschrieben
über Untersuchungen,
warum gerade die eigent¬
liche Genremalerei so fast
ausschliesslich Erbtheil
unseres Volkes ist: bei
den Romanen, namentlich
Italienern und Spaniern,
wird sie zu mehr oder
minder virtuosen meist
sehr äusserlichen Wieder¬
gabe arrangirter Scenen ;
bei den Franzosen kennt
man sie kaum und unter
den unzähligen Pariser
Malern sind die berufs¬
mässigen Darsteller genre-
hafter und anekdotischer Themen schnell gezählt, weil die Pflege des Staffeleibildes dort unter dem
Streben nach dekorativer Wirkung sehr vernachlässigt wurde-, bei den Engländern hat der hypersen¬
sitive Zug ihrer modernen Kunst die gesunde Behaglichkeit sehr beeinträchtigt, welche einer richtigen
Genremalerei ihre natürliche Basis gibt ; bei den Nordländern ist die möglichst treue Nachbildung
30
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
eines Naturausschnittes zur Parole geworden und jede absichtliche Anordnung und novellistische Er¬
findung verpönt; und fast nur der Deutsche trifft jenen warmherzigen, gemüthstiefen Erzählerton, zu
dessen typischen Meistern wir Benjamin Vautier zählen durften.
Er ist in der Schweiz, in Morges am Genfer See, Kanton Waadt, geboren als der Sohn eines
Pfarramtskandidaten und wie Freunde des Künstlers versichern, hat er seltsamer Weise in seinem
äussern Wesen, seiner Sprache u. s. w. die Schweizer Art nie abgelegt, so sehr er sich in Kunst und
Empfindung unserer nationalen Eigenart anpasste, ja in ihr aufging. Sein Leben ist kein Künstler¬
roman, der als solcher Sensation machen würde ; und doch ist es interessant, gerade weil es in einer
Weise verlief, die man für die Entwicklung eines Talentes von seinem Schlag fast typisch nennen dürfte.
Er wird in einem Hause geboren, in dem von Kunst nicht viel die Rede und für sie nicht viel
Boden ist, einem strenggläubigen, gottseligen Pastorenhause, wo Güte und milde Menschenfreundlichkeit
einen wesentlich breiteren Raum einnehmen als Temperament
und Phantasie. Aber von der Mutter her ist doch der Keim
zur Sehnsucht nach dem Schönen in seiner Seele. Er hat
des Lebens ernstes Fühlen vom Vater, die Frohnatur, die
Lust am Fabuliren von der Mutter, wie ein Goethe es von
sich sagen konnte. Da ist ein Bruder der Mutter, der nicht
ohne Geschick in den schönen Künsten clilettirt und von
dessen Schaffen auch wohl die erste Anregung in die Kinder-
seele fällt. Der Knabe besucht die Schule, macht aber gerade
keine glänzenden Fortschritte, zum Schmerze des Vaters,
dessen pastoraler Lebensanschauung natürlich die denkbar
musterhafteste Schülerlaufbahn als eine erstrebenswerthe
Garantie für ein späteres gottgefälliges Dasein erscheint. Da¬
für schmiert der Jüngling in der Schule und zu Hause Tische
und Wände voll mit lustigen Fratzengesichtern, Caricaturen
der Lehrer und Kameraden. Wie viele Talente haben so
Natürlich soll der Sohn sich für die Laufbahn des Vaters vorbereiten — natürlich taugt, was
ein Maler werden will, nicht zum Seelenhirten. Aus dem Pfarramtskandidaten Vater Vautier ist in¬
zwischen ein wohlbestallter Pastor in Noville im Rhonethal geworden, der seinen Sohn Benjamin mit
13 Jahren auf das Gymnasium nach Lausanne schickt. Die « Wohlbestalltheit » dauert aber nicht lange.
Wie Friedrich Pecht in seiner warmherzig geschriebenen Biographie des Künstlers erzählt, blieb der
Friede im Pastorenhause nicht auf die Dauer ungestört. Im Jahre 1847 brach in der Schweiz, eine Vor¬
ahnung des tollen Jahres, jene «demokratische Bewegung» los, die unter Anderem zur Folge hatte,
dass auch die Besetzung der Pastorenstellen von Wahlen abhängig wurde. Nun war Vater Vautier,
wenn auch kein Zelot, so doch ein strenger Gottesmann und eifriger Hüter reiner Sitten und vertrug
sich nicht aufs Glänzendste mit seiner Gemeinde, die gerne zechte und fröhlich war. Als es dann
zur Wahl kam, wurde Vautier nicht wiedergewählt, ein schwerer Schlag für die Pastorenfamilie.
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
an gefangen ! Die Mehrzahl gewiss
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
31
Unter der Einwirkung dieser Katastrophe kam der Sohn ins Vaterhaus zurück und setzte es denn nun,
wenn auch mit schwerer Mühe durch, dass er Maler werden durfte. «Es kostete das», meint sein
Biograph, «nicht geringe Anstrengung, da es in den Augen selbst des Vaters, aber noch viel mehr
der Mitbürger, damals noch ungefähr ebenso viel heissen wollte, als wenn er unter die englischen
Reiter oder andere Gaukler gegangen wäre». Damals? — So mächtige Gewalt die Kunstpflege auch
heute über unser ganzes öffentliches Leben gewonnen hat, man braucht selbst in unserer Zeit durch¬
aus nicht ein weltverlorenes schweizerisches Provinznest aufzusuchen, um in den bekannten «besten
Kreisen» eine ganz ähnliche Auffassung vom Künstlerberufe vorzufinden- zum Mindesten wird man
sehr leicht auf die Auffassung stossen, dass bei einem Maler eine einigermassen geordnete Lebens¬
führung viel unwahrscheinlicher sei, als das Gegentheil.
Vielleicht hätte Benjamin auch damals seinen Willen nicht durchgesetzt, wäre der Vater nicht
durch die geschilderten Verhältnisse gezwungen worden, sich in Frankreich nach einer neuen Pastoren¬
stelle umzusehen ; dadurch war er auch ausser Stand gesetzt, den Sohn überhaupt noch zu unterstützen
und dieser musste nun, wohl oder übel, sein Brod selbst verdienen.
5*
32
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Also denn: auf zur Kunst! Viel Vorschule dazu hatte der junge Mann bis dato nicht genossen.
In der Kindheit hatte er die erste Anregung zu künstlerischen Dingen aus den zweifelhaften Holz¬
schnitten eines wohlfeilen Bilderblattes, «le monde illustre» geschöpft, das im Vaterhause auflag, und
zur Weiterbildung hatte nicht Vieles beigetragen. Wahre Kunst war ja überhaupt in jenem schönen
Lande noch recht dünn gesät und der Malerberuf wurde zumeist ziemlich banausisch betrieben, indem
es sich meist um die mehr oder minder mechanische Herstellung billiger Landschaftsbilder zu Zwecken
der Fremdenindustrie handelte.
Benjamin Vautier wandte sich zunächst nach Genf und nahm bei dem Maler Hebert ein Jahr
lang Zeichenunterricht. Dann trat er bei einem Emailmaler in die Lehre, musste sich aber verpflichten,
vier Jahre als Leibeigener bei diesem Meister zu verbleiben und in der That hat er volle zwei Jahre
lang das wenig anregende Geschäft betrieben, Uhrgehäuse und Schmuckgegenstände mit bunten Bildchen
zu schmücken. Auch in dieser Knechtschaft vergass Vautier seine Fortbildung nicht. Er studirte
nebenbei in der Zeichnungsakademie des Museums Roth und machte regelmässig den Abendakt mit.
In seinen freien Stunden verdiente er sich ausserdem manchen Groschen durch das Malen von Portraits
und Aquarellen, die er an Kunsthändler verkaufte. Dabei wurde sein Talent immer mehr offenbar,
er wurde mit den namhaftesten Genfer Künstlern bekannt, mit Calame, von dem einst auch ein Böcklin
gelernt, mit dem Landschafter Diday, mit dem Historienmaler Lougardon und Anderen. Auch materielle
Erfolge wurden dem strebsamen jungen Talent: Vautier’s Arbeiten fanden immer besseren Absatz und
nach zwei Jahren war er, Dank seinem unermüdlichen Fleisse, in der Lage, sich aus seiner «Leibeigen¬
schaft» loszukaufen und zwar um den Preis von 1200 Franken. Von nun ab lebte er ausschliesslich
der Kunst. Er arbeitete zunächst in Lougardon’s Werkstatt, um malen zu lernen und trieb dann volle
zwei Jahre ein fleissiges Selbststudium in Genf. Als dann der für seine Zeit sehr bedeutende Genre¬
maler van Muyden von Rom zurückkehrend sich wieder in seiner Vaterstadt Genf etablirte, schloss sich
Vautier an ihn ^anz besonders eng an und gewann wohl auch durch ihn die Anregung, sein künftiges
«Fach», die Genremalerei, zu wählen. Der Jüngling fühlte wohl selbst, dass er in Genf nicht zu
Grossem gelangen konnte und fragt denn van Muyden um Rath, was er zu thun habe. Ein Aufenthalt
in Paris wäre wohl das Beste und für den französischen Schweizer auch Zunächstliegende gewesen,
aber Papa Vautier gestattete in seiner Sittenstrenge nicht, dass sein Sohn den Weg nach dem Seine¬
babel einschlage. Und da Benjamin ein viel zu gehorsamer Sohn war, um das heimlich Erstrebte
gegen den Willen der Eltern zu thun, reiste er denn, seine Wünsche bescheidend, auf van Muyden’s
Rath zunächst nach Düsseldorf, wo er 1850 ankam. Dort hatte sich bereits ein reges Kunstleben
zu erfreulicher Bliithe entwickelt und der junge Mann wandte sich, den Busen voll der schönsten
Hoffnungen, zur dortigen Akademie. Aber er hatte die Rechnung ohne den akademischen Geist gemacht.
Wie Fr. Pecht nach Vautier's eigenen Mittheilungen erzählt, hatte dieser als Proben seines
Könnens eine Anzahl, seiner Meinung nach, nicht schlechter Zeichnungen mitgebracht. Sie waren aber
nicht mit der scharfen Ausbildung der Konturen und den schematischen Kreuzstrichlagen gezeichnet,
wie sie damals die «deutsche Kunst» liebte, sondern nach Art der französischen Schule in kräftiger
breiter Flächenbehandlung, wobei dem Studium der Tonwerthe Rechnung getragen war, — einer terra
O'
Aufforderung zum Tanz
rti.
Untier plux.
DIK KUNST UNSERER ZEIT.
33
incognita (damals, wie meist heute noch) für den echten
deutschen Akademiker. Pochenden Herzens legte Vautier
seine Arbeiten dem Direktor Schadow vor, der in seiner
starren und kalten Kunstweise alt geworden, despotisch
und voll Pedanterie allem Neuen gegenüberstand. Trotz¬
dem Vautier von einer einflussreichen Persönlichkeit, einem
Herrn, der zugleich ein persönlicher Freund des Düssel¬
dorfer Akademiedirektors war, Empfehlungen mitbrachte,
warf dieser doch die Zeichnungen des jungen Mannes
verächtlich bei Seite mit dem kategorischen Ausspruch :
«Das ist ja Alles unbrauchbares französisches Zeug!
Sie müssen ganz von vorne anfangen, wenn Sie etwas
Rechtes lernen wollen».
Vautier gab nichts auf das Urtheil des grossen
«Kunstherrn». Und er hatte Recht. Von Wilhelm Schadow
weiss die Kunstgeschichte heute kaum mehr den Namen
und auch den nur darum, weil ihn ein Grösserer vor
ihm getragen. Benjamin Vautier aber hat zu den Besten seiner Zeit gezählt und als er jetzt —
ein Siebziger fast — den Pinsel für immer aus der Hand legte, war sein wohlverdienter Ruhm
auch noch nicht um einen Schatten verblichen.
Zunächst also schüttelte er damals den Staub des Schadow’schen Ateliers von seinen Schuhen
und arbeitete einige Monate wieder mit eisernem Fleisse Studien in der Künstlerwerkstatt eines Freundes.
Als dann die Zeit der alljährlichen akademischen Konkurrenz herankam, meldete er sich mit den neu¬
geschaffenen Arbeiten und den alten Aktstudien abermals und er gefiel der Mehrzahl des Lehrer¬
kollegiums so wohl, dass er sofort in die Malklasse aufgenommen wurde. Sein Studium in der Akademie
dauerte aber nur knapp dreiviertel Jahre, denn er fühlte bald, dass diese Kunsthochschule unter
der gestrengen Schadow’schen Leitung in einen Zustand
schlimmer Verwahrlosung gerathen und dort nichts mehr
für ein werdendes Talent zu holen war. So begab er sich
denn unter die Aegide von Rudolf Jordan (geb. am 4. Mai
1810 in Berlin, gest. am 26. März 1887 in Düsseldorf), der
damals im Zenith seines Ruhmes stand. Er war 1834 durch
seinen « Heirathsantrag auf Helgoland», der jetzt die Ber¬
liner Nationalgalerie ziert, mit einem Schlage berühmt
geworden und erhielt sich seinen Ruf durch den künst¬
lerischen Ernst seines Schaffens. Er zuerst lauschte die
Gestalten seiner Genrebilder wirklich der Natur ab und
brachte statt der schablonenmässigen, konstruirten Puppen
34
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
lebendige Menschen auf die Leinwand ; aber er malte auch nach der Natur, er brachte, wie Ad. Rosen¬
berg betont, als einer der Ersten unter den deutschen Malern das Grau der Lufttöne in seinen
Bildern aus dem Fischer- und Schifferleben ausgiebiger zur Anwendung. Dadurch lieh er neben der
harten Malweise seiner Zunftgenossen den eigenen Bildern einen Schein wahren Lebens; in den
späteren Jahren freilich ward das Grau in seinen Bildern nahezu zum Uebermass. Vautier’s Malweise
ward durch Jordan glücklich beeinflusst. Wenn er auch nie ein starker Kolorist gewesen ist, einer
von denen, welchen die Farbe neben Form und Inhalt als gleichwerthiges Element des Kunstwerks güt,
so ist seine Farbe
doch immer gesund
und sympathisch
und seine Maltech¬
nik trefflich ge¬
nug-, um auch
durch sich selbst
zu reizen und Be¬
wunderung zu er-
regen. Dazu muss
o
man bedenken,
dass wir, seit einem
Jahrzehnt an die
stärksten Selbst¬
herrlichkeiten und
Absonderlichkei¬
ten in der Farben¬
gebung, an die
kühnste Handhab¬
ung der Extreme
vom farblosen Grau
bis zur tollsten Far¬
bigkeit gewöhnt,
Benjamin Vaulier. Studienzeichnung
heute kaum mehr
zu erfassen ver¬
mögen, dass künst¬
lerische Freiheiten,
wie sie sich da¬
mals Jordan und
Vautier heraus-
nahmen, damals als
Ausfluss unerhör¬
ter Kühnheit be¬
trachtet wurden.
Bei Jordan lernte
Vautier, was ihm
zu selbständigerem
Schaffen als Maler
noch fehlte — sein
Stoffgebiet hatte
er aber noch immer
nicht so eigentlich
entdeckt. Daiührte
ihn der Sommer
des Jahres 1 8 5 3
ins Berner Ober¬
land und er lernte dort den Genre- und Landschaftsmaler Karl Girardet kennen, der aus einer der
bekanntesten Schweizer Künstlerfamilien stammt und deren namhaftestes Mitglied war. Dieser wies
ihn sowohl auf die landschaftlichen Reize der Heimath , wie auf den malerischen Reiz und den
Gestaltenreichthum des heimathlichen Volkslebens hin, und Vautier, dem jetzt die Ahnung seiner künst¬
lerischen Welt aufging, malte zunächst dort einen ganzen Sommer lang Studien nach dem Leben. Ein
richtiges grösseres Werk wollte freilich noch nicht zu Stande kommen und auch die nächsten Jahre
vergingen wieder in Suchen und Tasten, in Studiren und Experimentiren. Als dann der junge Maler
im Sommer 1856 nach Genf kam und bei seinem alten — vor Kurzem nun auch verstorbenen —
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
35
Meister van Muyden wieder zu malen begann, wies ihn dieser noch energischer auf das Stoffgebiet
des Bauernlebens hin und Vautier sah seinen Beruf zum Genremaler — es gibt nun einmal kein
anständiges deutsches Wort für diesen Begriff — immer deutlicher ein. Dazu kamen die beginnenden
Triumphe des jungen
Ludwig Knaus, der
mit seinen , in Paris
gemalten, ländlichen
Genrebildern dort
und allenthalben durch¬
schlagenden Erfolg er¬
rungen hatte. Auch
Vautier beo-ab sich
o
noch im Herbst 1856
nach Paris, wo er frei¬
lich, trotz aller übrigen
künstlerischen Anreg¬
ung, nicht ganz fand,
was er suchte. Selbst
Knaus war nach dem
Urtheile seiner Zeit¬
genossen der Pariser Aufent¬
halt nicht ganz zum Vortheile
ausgeschlagen ; sie fanden das,
was er malt, zwar vortrefflich,
aber nur dem Gegenstände,
nicht dem Wesen nach deutsch.
Vautier blieb nur den Winter
über in der Kunststadt an der
Seine und kehrte schon nach
sechs Monaten nach Düssel¬
dorf zurück, obwohl er in Paris
mit dem Malen einer figuren¬
reichen Komposition begonnen
hatte. Diese, «eine Kirchen-
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
scene», malte er nun
in Düsseldorf fertig
und sie brachte ihm
auf der grossen histori¬
schen Münchener Aus¬
stellung 1858 einen
grossartigen Erfolg
ein. Durch Krankheit
im Arbeiten gehindert,
musste er fast das
ganze folgende Jahr
an das Bild wenden.
Es schildert die An¬
dächtigen in einer
Schweizer Dorfkirche
während des Gottes¬
dienstes. Im Mittel¬
punkte der betenden Gruppen
finden wir ein rührend schönes
Mädchen zwischen Mutter und
Grossmutter in seine Andacht
vertieft. Das Bild gefiel nicht
allein um der liebenswürdigen
und naturtreuen Darstellung
willen, sondern namentlich auch
durch den, in München damals
noch fast unbekannten feinen
Ton der Malerei
In einem Bericht des « Deut¬
schen Kunstblattes » aus dem
Sommer 1857 ist uns ein Do¬
kument darüber erhalten, wie es damals in Vautier’s Werkstatt aussah; die Zeilen seien in Folgendem
wiedergegeben, da sie zugleich auch von einigen Bildern des werdenden Meisters in kurzen Worten
berichten: «Benjamin Vautier aus Genf, jetzt in Düsseldorf, wo ihm eine schöne, liebliche Braut blüht,
zeigt uns in seinem Atelier ein anmuthiges Bild, ein junges, blondes Mädchen am Spinnrade singend,
36
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wie die Haltung des Kopfes und die geöffneten Lippen zeigen, und daneben, den müden Kopf auf
die Hand gestützt, eine Alte am Herde sitzend. Der magere Arm ' der Alten, ihre ganze Stellung,
Alles hatte etwas ungemein Lebenswahres, die einfache Situation etwas sehr Ansprechendes Ergötzlich
war das Mittagsmahl in einer Bauernstube : die Mutter, eine kräftige, frische Gestalt, füllt eben die
Suppe zum zweiten Male einem derben Knaben auf, der offenbar den gesundesten und grössten
Magen in der Familie hat und aufgestanden ist, um den Teller zu reichen, ein anderes Kind lässt es
sich schmecken, ein ganz kleines, blondgelocktes Jüngelchen, noch geröthet vom Schlaf, im Hemdchen,
nur mit Strümpfen bekleidet und in zitternden Händchen den Löffel haltend, sieht eifrig in den Teller
hinein, ein grösseres, schlankes Mädchen hat sich eben zu Tisch gesetzt und blickt zum Bilde hinaus
auf den Beschauer. Noch ein angefangenes Bild «Landleute in den Kirchenstühlen sitzend und singend»,
versprach viel, die Zeichnung und Anlage der Köpfe, der Ausdruck der Gesichter war sehr schön;
mit vorzüglicher Liebe wieder war das ausdrucksvolle Profil einer alten Frau gemalt. Eine Skizze,
ein Berner Mädchen in der kleidsamen 'Tracht, und schön, wie fast alle Berner- und Brienzerinnen,
war ein liebliches Seitenstück zu Schröders (des Düsseldorfer Humoristen) Küfer. Er zeigte uns noch
eine alte hexenhafte Frau, die er mit Knaus zusammen nach dem Leben im Schwarzwald gemalt,
schaurig anzusehen, und erzählt uns, wie die Alte durchaus gewünscht, dass einer von ihnen ihr
Enkelchen, eine vierschrötige Dirne mit strohgelbem Haar, heirathen sollte, und ihnen vorerzählt,
wie schön sie die jammervolle Hütte unter dem Felsgestein, wo sie wie eine von Macbeth’s Hexen
thront, herrichten wollte. »
Man sieht, nach den langen Jahren des Suchens und Zweifelns war der späterhin so fruchtbare
und an Einfällen reiche Künstler bereits im besten Zuge und nun folgte bald Erfolg dem Erfolg. Schon
vor seinen Münchener Triumphen durch das bereits erwähnte Bild «In der Kirche» hatte er 1857
auf einer Ausstellung im Haag bereits eine silberne Medaille eingeheimst, durch die Münchener Aus¬
stellung war er mit einem Schlage in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Und
jedes seiner Werke gefiel nun in hohem Masse: 1859 seine noch mit Schweizer Lokalfarbe gesättigte
«Auktion im Schlosse», 1860 die «Nähschule», in welcher der Maler bereits Schwarzwälder Mädels
darstellte und 1860 die «Frauen, die ihre Männer im Wirthshause abfassen». Vielleicht ist das
letztgenannte Bild das populärste des Meisters geblieben; es hat tausende von Wänden im deutschen
Heim geschmückt und Tausende durch seinen schalkhaften, gewinnenden Humor und seine Lebens¬
treue erfreut und prangt nun im städtischen Museum zu Leipzig. Der Vorgang des Bildes braucht
kaum geschildert zu werden, so bekannt ist dies Werk aller Welt: Während des Gottesdienstes haben
vier Bauern im Wirthshaus Karten gespielt und ihre Frauen, aus der Kirche kommend, überraschen
die Uebelthäter mit wohlverdientem Strafgericht. Der Aelteste der Viere hat sich vor dem ersten
Ansturm in der Ecke verborgen, der Jüngste, ein flotter Bauer in schwäbischer Tracht nimmt die
Strafpredigt seines hübschen Weibchens mit Zerknirschung entgegen. Sein älterer Genosse hat, wie
aus den abgehärmten Zügen seiner Rachegöttin zu lesen ist, schon Manches auf dem Kerbholz und
lässt, den Rücken wendend, das Strafgericht verstockt über sich ergehen. Der Vierte spielt den welt¬
verachtenden Philosophen und fügt zu seiner Schlechtigkeit auch noch herausfordernde Frechheit.
Unfreiwillige Beichte
Ly
Sehaehspieler
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
37
Jede der Figuren ist dem Leben abgelauscht —
bei keiner naht sich die scharfe Charakteristik
der Grenze der Caricatur.
Der 1864 gemalte «Sonntagnachmittag in
Schwaben » zeigt uns eine Episode ländlichen
«Kriegs im Frieden». Wir sehen acht junge
Mädchen, die sich am Rand eines Weidenge¬
büsches auf Steinen und Baumstämmen gelagert
haben und zusammen plaudern. Sie haben wohl
den Angriff des nicht eben feindlich gesinnten
Gegners, einer Gruppe junger Burschen, die aus
dem Thalgrunde gegen sie heranzieht — längst
erwartet. Die Einen blicken dem nahenden
Schwarm bereits entgegen, die Andern maskiren
ihre Erwartung und Sehnsucht wohl nur unter
dem Scheine gleichgültiger Reden und Eine —
die, ein Sträusschen bindend, unter der alten
Weide steht — ist vom Pfeil der Liebe bereits
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
ganz ernsthaft . vielleicht sogar ein wenig zu
ernsthaft verwundet. Sie blickt ziemlich traurig auf den werdenden Strauss. Gegenüber auf einem
Hügel liegt das Dörfchen mit dem spitzen Kirchthurm freundlich da; die Landschaft athmet Sonntags¬
frieden, das ganze Bild warm pulsirendes Leben. Der Maler hat diese Scene nicht für sein Bild er¬
funden, sondern mehrfach mit Augen gesehen, er hat Wochen lang in dem Dörfchen auf dem Hügel
gelebt und ist den Menschen näher getreten, die er dann auf dem Bilde verewigt hat. Dieses Bild
lässt so recht wahr erscheinen, was Richard Muther, durchaus kein bedingungsloser Verehrer des
Meisters, aber Einer, der dessen sympathische, urdeutsche Eigenart voll würdigt, von Vautier sagt:
«Vautier entdeckte als der Ersten einer den Stimmungszauber
der Umgebung, den geheimnissvollen Einfluss, die den Menschen
mit der Scholle, auf der er geboren ist, verknüpft, die tausend
unbekannten magnetischen Strömungen, die zwischen den Dingen
und dem Gemüth, den Anschauungen und den Handlungen des
Menschen bestehen. Die Umgebung steht nicht da wie der Pro-
spekt einer Bühne, vor dem die Personen kommen und gehen,
sie lebt und webt auch im Menschen selbst».
Im nächsten Jahre, 1865, entstand das, ebenfalls ziemlich weit
bekannte Bild «Bauer und Makler», ein Stück packenden,
grimmig ernsten Bauernlebens, eine Scene, die sich hunderttausend-
mal abgespielt haben mag in Bauernstuben aller Stile. Hier ist es
Hüll
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
38
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ein Bauernhaus Schwabens, wohin uns der Künstler führt. Der« Hausvater ist offenbar in schweren
Nöthen. Pläne und Geldrollen auf dem Tische, an dem er mit einem jüdischen Makler und einem
behäbigen Landmann sitzt, verrathen, dass es sich darum handelt, dem armen Teufel seiner Väter
Erbe abzuschwatzen. Das Weib des Bauern, den Säugling auf dem Arm hat dem Unglücklichen
abmahnend die Hand auf die Schulter gelegt: lieber Noth und Entbehrung auf der eigenen Scholle,
als losgelöst vom Heimathboden in die Fremde ziehen, vielleicht gar hinüber über das weite Meer!
Kalt und ruhig blickt der Käufer darein, während der Makler dem Bedrängten die Vortheile des
Verkaufes an den Linkern vorzählt.
o
Benjamin Vautier hat 1865 für dieses Bild in Paris die goldene Medaille erhalten.
Irin neues grösseres Werk und ein neuer Triumph folgte noch im selben Jahre, der «Leichen¬
schmaus». Mit diesem Bild, zu dem er die Studien an Ort und Stelle, im Berner Oberland, gemalt,
griff Vautier wieder zu einem Stoff aus seiner Schweizer Heimath. Das Bild, jetzt im Besitze des
Museums zu Köln, führt uns in eine Bauernstube,
wo das Begräbniss des Hausherrn von der Schaar
der Angehörigen bei einem Glase Wein auf landes¬
übliche Weise gefeiert wird. Das halbwüchsige
Töchterlein des Verstorbenen kredenzt den Leid¬
tragenden den Gedächtnisstrunk; die trostlose
Wittwe, die zu trösten sich die Gevätterinnen
nach Kräften bemühen, hat neben dem Bette ihres
Gatten Platz genommen. Mehr fast, als irgend
ein anderes Werk Vautier’s zeigt dieses seine
<_>
Kunst starker und gesunder Menschenschilderung,
die das Schöne und Anmuthige findet, ohne je
süsslich zu werden, das Charakteristische darstellt,
ohne das Hässliche zu suchen. Obwohl ein wenig idealisirt, oder doch wenigstens von ihrer besten
Seite aufgefasst, sind seine Menschen doch echte Menschen, echt in Rasse und individueller Eigenart,
echt in ihren Bewegungen und im Ausdruck ihrer Gefühle. Vautier hat manches packende Drama
und manche stille Tragödie gemalt, Sterbehäuser, Todtenbetten und Krankenstuben — aber nie finden
wir eine Spur von Pose oder Schauspielerei. Eine schöne Ehrlichkeit, eine anheimelnde Lebenswärme
überall, die weit mehr ergreift und fesselt, als der novellistische Inhalt seiner Bilder an sich.
Hier seien noch einmal Richard Muther’s Worte, mit denen der moderne Kunstforscher Vautier's
liebevoller und liebenswürdiger Kunst der Menschenschilderung würdigt, angezogen ; er schreibt:
« Fast rührend zu sehen, wie schön und rein in Vautier’s Kopf sich das Leben spiegelt. Wie
zart sind diese bräunigen schwäbischen Bauerntöchter, wie sympathisch und mild diese Frauen, wie
reinlich und artig die Kinder. Man möchte glauben, dass Vautier freundlich und väterlich wohlwollend
mit seinen Bauern verkehrt, sich selbst wohl fühlt bei ihren harmlosen Vergnügungen, dass er auch
ihre Schmerzen und Sorgen theilt; und über diese Eindrücke berichtet er in seinen Bildern nicht streng
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
39
und überlegen lächelnd, sondern in schonender herzlicher Weise. Er will nicht aufregen oder er¬
schüttern, weder durch Witze, Komik, noch durch Trauriges Trübsal erwecken. Das Leben zeigt
ihm — wie Goethe während seiner italienischen Reise — «lauter angenehme Gegenstände» und selbst in
traurigen Schick-
salsfügungen nur
o o
Leute, die « das
Unvermeidliche
mit Würde tra¬
gen». Kein lauter
Schmerz , Alles
leise abgedämpft,
von jener Milde,
die sich im Klang
des Vornamens
Benjamin aus¬
spricht. Knaus hat
etwas von Men¬
zel, Vautier von
— Memlinc, auch
in der liebevollen
Intimität, mit der
er das Kleine durch¬
dringt. Die alten deut-
sehen und niederlän¬
dischen Meister malten
in ihren religiösen Bil¬
dern Alles bis zum
Nachtgeschirr Marias,
den gestickten Lilien
ihres Webstuhls oder
dem Staub, der auf
dem alten Gebetbuch
liegt, und diese echt
deutsche Lreude am
■
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Stillleben, die be¬
hagliche Schilder-
ung des Kleinen,
kehrt auch bei
Vautier wieder.
Menschen und
Wohnungen,
)e-
lebte Natur und
Atmosphäre
setzen sich bei ihm
zu einem freund¬
lichen Stück Welt
zusammen ».
Benjamin Vau¬
tier hatte durch
die genannten Er¬
folge als Genre¬
maler seinen Weg
in der Kunst gefunden,
und nun folgte Bild aut
Bild aus dem Bauern¬
leben der alemanni¬
schen Rasse. Bald
waren es Schweizer,
bald waren es Schwarz¬
wälder oder andere
Schwaben, bald war es
Ernstes, bald war es
Heiteres, was er malte,
immer war es warm
und gemüthvoll erfasste
Wirklichkeit. Erfindungsreicher, weicher und mit mehr Erzählertalent begabt, als der markigere und
nervenstärkere Defregger, liebenswürdiger und poesiereicher als der scharfäugige und unerbittlich
beobachtende Knaus, schuf er sich seine Kunst, so recht gemacht, ihn, den Schaffenden und die
Sehenden zu erfreuen, eine Kunst, die ins Volk dringen musste. Und, Dank den gründlichen Vor-
40
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Studien seiner Such- und Lehrjahre, schuf er so leicht, dass er,( trotz aller Gründlichkeit und liebe¬
vollen Durchbildung im Detail seiner Bilder zu unsern schöpferischsten Malern zählt.
Nach dem «Leichenschmaus» malte Vautier einen «Alterthumssammler im Bauern¬
haus», vor dem die Inwohner ihre Schätze Zusammentragen, Werthvolles und Werthloses, eine
gothische Heiligenfigur und eine alte Kaffeemühle. Dann kam (1872) eines der Hauptwerke Vautier’s,
die «Fahrt über den Brienzer See zu einem Begräbniss»; es ist ein Kindersarg, den ein
junges Ehepaar in tiefer Trauer auf einem, von jungen Burschen geruderten, von einem Mädchen
gelenkten Nachen über das Wasser geleitet. Ungefähr um die gleiche Zeit entstand eine ländliche
Szene «Am Krankenbette», die Eigenthum der Berliner Nationalgalerie geworden ist. Ein junges
Weib liegt schwer krank auf dem Schmerzenslager und ihr Gatte, den eingeschlafenen Liebling auf
dem Schooss, sitzt neben ihr, den Blick ernst auf sie gerichtet, ihre Hand fest in der seinen. Ein Abschied?
Ein Gelöbniss? Ein Willkommen zu neuem Leben? Jedenfalls ein ergreifendes Stück Menschenschicksal!
Im Jahre 1873 wurde auf der Wiener Weltausstellung das «Begräbniss auf dem Lande»,
ein sehr figurenreiches Bild, allgemein bewundert ; es schildert die in Ergriffenheit und wohl auch in
Neugier wartende Menge vor einem Bauernhaus, aus welchem eben ein Sarg getragen wird. Im
Vordergründe wartet schon die Bahre ihrer traurigen Last. Frauen und Männer — getrennt aufge-
stellt nach alemannischer Art — blicken theilnahmevoll dem Sarge entgegen — im Hintergründe hält
der gestrenge Dorfbüttel mit dem Stabe die Schuljugend zurück. Ein Bild aus der Lichtseite des
Lebens gibt Vautier wieder in seiner (schon 1868) gemalten « Lä ndl i che n Tanzstunde ». Vordem
bäuerischen Tanzmeister mit seiner Fiedel sind in der geräumigen Stube des Dorfwirthshauses etliche
dralle junge Dirnen angetreten und werden eben — die Fussspitzen nach auswärts! — in der «Grund¬
stellung» unterwiesen; eine der Schönen hält sich am Ofen fest, um den Tanzschuh zurecht zu rücken.
Links warten die Burschen, bis auch an sie die Reihe kommen mag. Auch der «Unterbrochene
Streit» spielt im Dorfwirthshaus. Zwei Burschen haben Streit gehabt, ein Streit, dessen Spuren
wir an den handelnden Personen eben so wohl wahrnehmen, wie an dem Stillleben von umgeworfenen
Stühlen und zerbrochenen Flaschen, die umherliegen. Der Eine der Burschen, offenbar der Sieger,
wird von seiner Mutter zurückgehalten, auf dass er seinen, entschieden noch nicht ganz vertobten
Berserkerzorn nicht völlig entlade, den Unterlegenen halten Kameraden davon ab, einer bedenklichen
Revanchelust freien Lauf zu lassen. Auch der Polizeidiener ist bereits erschienen und vernimmt mit
strenger Amtsmiene Anklagen und Vertheidigungeb, die ihm vorgetragen werden.
Von seinen Bauern weg in höhere Sphären führt uns der Künstler in seine «Verlobung»
(1870), ein Kostümstück, das uns eine tafelnde Gesellschalt der Rokokozeit schildert, in deren
Mitte ein Poet eben einen Toast auf das Brautpaar ausbringt. Auch der Stoff zum «drotzkopf» ist
der gleichen Gesellschaftsschicht in gleicher Zeit entnommen: eine Frau Mama hat den Seelsorger zu
Hilfe gerufen, dass er einem hübschen Mädchen ins Gewissen reden soll. Das I rotzköpfchen hat
sich schmollend abgewenclet — und Recht hat sie! Den flotten Burschen, den sie lieben mag,
soll sie nicht aufgeben und wenn sich alle Mütter und Abbates der Welt dagegen auf den Kopf
stellen ! Das ist das Recht der Jugend !
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
41
Benjamin Vatitier. Studienzeichnung
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Vautier ergeht es übrigens in diesen und noch etlichen anderen Bildern genau so, wie fast allen
andern Bauernmalern in gleichem Fall. Sein überlegenes Können bewahrt ihn davor, etwas Schlechtes
zu machen, aber wirkliche Eleganz, die bestechende Grazie der Weltdame, den Chic des Salons ver¬
mag er nicht recht wiederzugeben. Dazu gehört eine leichtere Hand, als sie der haben kann und
darf, der gewohnt ist, Arbeitsmenschen in ihrem Thun und Treiben nachzubilden.
So recht wieder in seinem Element ist er bei dem 1871 gemalten, figurenreichen «Zweckessen
auf dem Lande» gewesen: Die Honoratioren eines Dorfes setzen sich in einer ländlichen Wirths-
stube eben zu Tisch. Der Herr Landrichter hat bereits das Präsidium eingenommen und die ihm
zunächst Rangirenden, wohl Pfarrer und Lehrer, sitzen neben ihm; die Uebrigen scheinen in der Wahl
ihrer Plätze noch unschlüssig, misstrauisch und wohl auch missgünstig blickt einer der Bauern auf den
andern, als fürchte Jeder sich was zu vergeben, oder in Bezug auf die ihm gebührenden Ehren zu kurz
zu kommen. «Der Besuch am Herd» (1873) vereinigt zwei liebliche Schweizer Mädchengestalten
in einem traulichen Kücheninterieur, das etwa um ein Jahr später gemalte Bild «Die entzweiten
Schachspieler» schildert mit feinem glücklichem Humor, die im Titel des Bildes gekennzeichnete
Szene. Wir finden uns im Heim eines wohlhabenden Junggesellen, der eben mit einem Besucher, einem
geistlichen Herrn Schach gespielt und sich mit diesem wegen irgend eines Zuges «zerkriegt» hat. Ver¬
legen sucht der Hausherr seine Pfeife in Brand zu setzen, während der Abbe mit der Linken auf
der Tischplatte trommelt, mit der Rechten ein Zeitungsblatt sich vor die Augen hält. Als Typen,
wie dem Ausdrucke ihrer momentanen Stimmung nach, sind die beiden alten Herren virtuos gekenn¬
zeichnet, liebenswürdig und doch mit schärfster Beobachtung.
42
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Aus dem Jahre 1S75 stammt die «Aufforderung zum Tanz», eines der charmantesten
Schwarzwälder Bilder des Meisters. Die Szene ist eine Gasse vor dem Dorfwirthshaus, unter dessen
Siebendach man eine fröhliche Schaar zu sonntäglichem Vergnügen versammelt sieht; ein flotter junger
Bursch fordert zwei vorüberkommende Mädchen zum Tanze auf — die Eine hat schon eingewilligt,
die Andere scheint sich noch ein wenig zu bedenken. Das ganze Bild athmet die freundlichste
Stimmunpp; man vermeint die Tanzmusik und das Plaudern und Lachen aus dem Wirthsgarten herüber
zu hören. Noch im gleichen Jahre entstand der sehr bekannt gewordene «Abschied der Braut
vom Eltern-
hause», eine
prächtige Probe
schwäbischen
Volkslebens, in
dem Rührung
und frische Hei¬
terkeit gepaart,
einen guten
Klang geben. Ein
später gemaltes
Bild Vautier’s,
eine «Begrüss-
ung der Neu-
vermählten »
wirkt fast wie
eine Fortsetzung
zu dem ebenge¬
nannten Bilde
und stellt den
Augenblick dar,
da der junge
Gatte glückstrah¬
lend sein blühen-
•TZfrVs :
des junges Weib
seinen Eltern zu¬
führt. Die Mutter
hat bereits die
Hand der jungen
Frau ergriffen
und blickt ihr.
treuherzig
prü¬
fend, in die Au¬
gen; das Schwe¬
sterlein des
Gatten eilt der
neugewordenen
Schwägerin mit
ausgebreiteten
Armen entgegen.
Ganz anderer
Art wieder ist das
Gemälde «Vor
der Sitzung»,
mit dem unser
Maler 1876 die
Münchener
Ausstellung be-
Benjamin Vauticr. Studienzeichnung
schickte; es ist in seinem Gegenstände nicht ganz leicht verständlich und wohl darum weniger populär
geworden. Was Kraft der Charakteristik betrifft, zählt es aber Vautier’s besten Werken bei und das
ganze Milieu, der Sitzungssaal des Gemeinderaths einer kleinen Stadt, der sich eben zu einer wichtigen
Besprechung versammeln will, die Gesichter der den verschiedensten Lebenssphären angehörenden
Gemeinderäthe, die in mehrere Gruppen getrennt, theils für, theils gegen ein Projekt zu agitiren
scheinen, alles das ist meisterlich geschildert, mit jener höchsten Charakterisirungskunst, welche die
Schwächen der dargestellten Menschen scharfäugig erkennt, aber ihren Eindruck in der Schilderung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
43
durch das heilige Mitleid mildert : Tout comprendre
c’est tout pardonner ! Das muss der Wahlspruch des
echten Humoristen sein.
Im «Tanzsaal eines schwäbischen Dorfes»
ist das Leben und Treiben an einer solchen Stätte der
Freude mit liebenswürdiger Lebendigkeit, wenn auch
ohne besondere anekdotische Spitze geschildert. Links
sehen wir im Dunst des Hindergrundes die Tanzenden,
rechts die Musikanten und die Zuschauer — unter
Letzteren namentlich die halbflüggen Schönen , denen
der Tanzboden noch einen verbotenen Winkel des Para¬
dieses bedeutet. Auf einem ähnlichen Schauplatz spielt
die figurenreiche «Tanzpause» (1878). Im «Kloster¬
gang» (1879) sehen wir eine fröhlich sich tummelnde
Mädchenschaar im alterthümlichen, romanischen Kreuz¬
gang eines F'rauenklosters. «Katechisation» zeigt
. , Benjamin Vantier. Studienzeichnung
uns die zum Religionsunterricht versammelte Dorfjugend
in einer Sakristei. Auch das von der Hamburger Kunsthalle erworbene Bild «Hinterlist» schildert
eine Kinderszene : Böse Schulbuben in der verschneiten Dorfgasse, die den Gespielen mit Schnee¬
ballen auflauern. Die «Poststube» führt uns die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft vor Augen,
die sich vor Abgang des Postwagens in der guten alten Zeit in einem derartigen Warteraum ver¬
sammeln mochte, vom flotten Postillon bis zum betenden Kapuziner. Kinder stehen wiederum im
Mittelpunkt der Bilder: «Der Vetter» — ein städtischer
Junge bei seinem derbfrischen bäuerlichen Verwandten zu Be¬
such — , «Die Ermahnung» — ein Mädchen ermahnt vor
dem Gang zur Schule seine Puppen, recht brav zu sein,
« E i n ge s ch 1 af e n » (1879), «Im Walde» (1880), «Im
Bade» (1889) u. s. w. Eine ganze Reihe von kleineren
Werken hat die Schilderung einzelner liebreizender Frauen-
gestalten zum Gegenstände und auch mit diesen Arbeiten,
die für die meisten Genremaler mehr oder weniger «Brod-
arbeiten» bedeuten, lässt sich Vautier nicht zu leichtherziger
Fabrikation herab, sondern er wahrt immer seinen künst¬
lerischen Rang. Wir nennen hier «Spielkätzchen», «Ein
Brief aus dem Thale», «In der Kirche», «Brigitte»,
«Winzerin», «Schifferin», «Regina», «In Erwart¬
ung», «Jetzt gang i an’s Brünnele» . . ., «Bärble»,
Benjamin Vantier. Studienzeichnung «Die Toilette» U. S. W.
44
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Durch alle Lebensphasen und Schicksale verfolgt der Maler seine strammen Burschen und
schönen Mädels, seine Bauern und Bäuerinnen. Das prächtige Werk « Der Gang zur Ci viltrauung»
ist im Besitze der berühmten Heyl’schen Galerie in Worms. Das 1887 gemalte «Bange Stunde»,
das durch seine lichte, in bestem Sinne moderne Malweise auch in technischer Beziehung lebhafte
Bewunderung hervorrief, lässt mit ergreifender dramatischer Gewalt eine Szene banger Sorge im Kranken¬
zimmer eines jungen Weibes sich abspielen. «Kindlicher Trost» (1886), «Der verlorene Sohn »
(1885), «Besuch bei der Genesenden», «Verlassen» sind durchweg Familienszenen, die tief
zum Herzen sprechen. Des Lebens heitern Seite abgelauscht ist das 1881 fertig gewordene «Unfrei¬
willige Beichte», Wir sehen zwei reizende junge Mädels, die unter dem alten Baum vor der
Kirche ihre Liebesgeheimnisse austauschen, nicht ahnend, dass ihnen verborgen auf der entgegen¬
gesetzten Seite des Baumes der gestrenge Herr Pfarrer, scheinbar in sein Brevier vertieft, ihre Geständ¬
nisse belauscht. Die beiden lichtübergossenen, jugendlichen liebenswürdigen Mädchen hier sind von
ganz besonderem malerischen Reiz. Harmlose Heiterkeit athmen auch jene Bilder des Malers, welche
Benennungen der Städter mit gesunden Naturkindern zum Vorwurf haben: «Der Botaniker auf dem
Lande», «Ein galanter Professor», «Auf der Studienreise», «Ein williges Modell», «Das
entflohene Modell».
Im Erfinden anekdotischer, novellistischer Sujets ist Vautier so ideenreich gewesen, wie kaum
ein Zweiter. Hier zeigt er in traulicher Bauernstube am Sonntagnachmittag — er sieht die Welt
überhaupt im Sonntagsstaat am Liebsten und schildert sie selten im Arbeitskleide — Burschen und
Mädels beim «Schwarzen Peter», dort führt er uns zu gleicher Stunde in eine Schenke, wo ein
gewandter «Taschenspieler» einer Schönen eben eine Karte aus dem Mieder zieht-, er verewigt
zwei Dorfmädchen, die im Städtchen den Trödelkram in der Auslage eines Krämers bewundern, er
lässt die zärtliche Auseinandersetzung eines Liebespaares durch ein in der Ofenecke verborgenes kleines
Schwesterchen belauschen; er führt eine Bauerndirne in die «Magistratische Kanzlei», wo sie im
Vorsaale den Amtsdiener und in der Schreibstube den Kanzlisten eingeschlafen findet; er conterfeit
mit der feinsten Menschenkenntniss eine Gruppe prozessirender «Bauern vor Gericht» (1880), ein
junges Paar, das den betrügerischen Schmuei oder Veitei «Vor dem Dorfschulzen» anklagt, er
zaubert im «Gast im H er re n st übel » ein naturtreues Stück ländlichen Philisterlebens auf die Leinwand.
Das «Brautexamen» lässt er sein Liebespaar vor einem alten Pfarrherrn bestehen, der merkwürdig
an den vielgenannten Sebastian Kneipp erinnert; andere geistliche Typen zeichnet er in der «Schach¬
partie»; voll Humor ist die «Barbierstube», voll anmuthiger Schelmerei die Szene «Ohne Ge¬
nehmigung des Urhebers», von grosser Schärfe der Charakterzeichnung «der Hypochond er» -,
poetisch reine Sonntagsstimmung, die stillste und lauterste fast von allen den vielen Sonntagsbildern
Vautier’s athmet die in einem Dorfkirchhof des Berner Oberlands verlegte Szene «Vor der Kirche»
(1884). Eine Schwarzwälder Amme, vom älteren Brüderlein des Säuglings in ihren Nährpflicht belauscht,
stellt das Bild «Eine merkwürdige Begebenheit» (1877) dar, «Abgetrumpft» eine dralle
Bauerndirne, die eben aus einem Parkthor schreitend, dem frechen Lakaien des Herrenhauses die
gebührende Abfertigung zu Theil werden lässt.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
45
Die Zahl der Bilder, die unter Meister Benjamins Pinsel entstanden, ist fast unerschöpflich und
wollte der Chronist mehr geben als eine trockene Aufzählung, so würde ihm unter der Hand ein
Buch aus diesem knappen Nachruf. Nur eines Werkes sei noch ein wenig ausführlicher gedacht,
eines Werkes, in dem der Maler so recht seine ganze Kunst und Kraft gezeigt, ob es gleich in
seinem Gegenstände von Vautier’s ureigenstem Gebiet, der Bauernschilderung, ein wenig ablag: der
«Verhaftung». Auf der Münchener Ausstellung des Jahres 1879, also zu einer Zeit, wo die
lebendige, dramatische Darstellung eines Gegenstandes, die Erzählerkunst des Malers in höchster
Geltung stand, erregte das Bild Sensation und wird als eine der vornehmsten Typen dieser Kunst¬
gattung auch dauernd gilt ig bleiben : In der malerischen, alten Kleinstadt ist am frühen Morgen ein
— der Aufschrift seines Ladens nach — jüdischer Verbrecher verhaftet worden. Vor Schmerz und
Schande ergriffen ist seine Tochter oder sein Weib an der Schwelle zusammengebrochen; eine Alte
tröstet sie. Die Nachbarn, die Zeugen der Szene waren, umstehen noch die Stätte und während die
Einen geschwätzige Neugier, ja wohl auch boshafter Hass erregt und zu lebhaften Erörterungen über
den Vorfall führt, bewegt die Andern inniges Mitleid mit den Armen an der ausgetretenen Schwelle
46
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
des Wuchererhauses. Jede dieser Gestalten ist köstlich gesehen und köstlich getroffen , am Köst¬
lichsten aber wohl die des jungen Mädchens im Vordergrund, das in tiefer, mitfühlender Ergriffenheit
zu den unglücklichen Frauen hinüberblickt.
Noch einer anderen Seite von Vautier's künstlerischem Schaffen soll nicht vergessen werden,
seine Thätigkeit als Zeichner und Illustrator. Im Jahre 1865 erschien eine von ihm mit herrlichen
Zeichnungen versehene Prachtausgabe von Immermann’s «Oberhof»; Willi. Lübke hat u. A. diese
Vautier’schen Zeichnungen mit geradezu enthusiastischen Worten gewürdigt. Noch näher lag ihm,
dem «Schwabenmaler», die Aufgabe, Auerbach’s Dorfgeschichte, das «Barfüssele» mit Bilderschmuck
zu versehen und vielleicht sind hier die Bilder des nachschaffenden Zeichners wahrer und echter aus¬
gefallen, als die Gestalten des seinerzeit so sehr überschätzten Salon-Romanciers. Im gleichen Jahre
wie das «Barfüssle», 1869, erschienen seine Bilder zu «Hermann und Dorothea».
Was die äusseren Ehren, die Vautier erfuhr, betrifft, so haben wir verschiedener, ihm ertheilter
Ausstellungsmedaillen schon gedacht. Er hat deren noch viel mehr erhalten, österreichische, preussische
und bayerische Orden wurden ihm verliehen und er war Mitglied der Akademien von München,
Berlin, Wien, Amsterdam und Antwerpen.
Einer der Besten seines Faches und seiner Zeit hat er sich einen Platz in der Kunstgeschichte
für immer gesichert, einen Platz, den ihm auch die neidlos zuerkennen mussten, die neben ihm nach
ganz anderen künstlerischen Zielen strebten.
Der Lorbeer, der ihm grünt, wurzelt im Herzen seines Volkes.
Benjamin Vautier. Studienzeichnun:
li. Vuutler nlüx. «“t. F- Haufstaeilgl, Mimclieu
DIE
Münchener Jahres-Ausstellungen von 1898
VON
FRANZ HERMANN MEISSNER
« Ein selbständiges Recht hat die Technik in der künstlerischen
Thätigkeit nicht; sie dient lediglich dem geistigen Prozess. Nur wo
der Geist keine Herrschaft auszuüben im Stande ist, gelangt sie zu
selbständiger Bedeutung, Wichtigkeit, Ausbildung und wird künstlerisch
Werthlos . Conrad Fiedler.
« Gefühl ist Alles!» sagt irgendwo Goethe, der grosse deutsche Idealist von Weimar, mit der
ihm eigenen Kürze der Sentenz. Ein neuerer französischer Nationalökonom hat diese Formel tenden¬
ziöser gefasst ; er wendet sie auf das Leben der Völker und das Gesetz von Wachsthum und Nieder¬
gang an; er weist überzeugend nach, dass die zu¬
kunftsfähige Lebenskraft eines Volkes nicht auf der
Höhe von Technik, Verkehr, Existenzsicherheit, Aus¬
bildung der Staatsorganisation beruht, — vielmehr
allein von der Stärke und Richtung seines
Gefühlslebens abhängt. Die Straffheit der Moral,
eine allgemeine Lebensführung mit selbstbeherrschen¬
der Hinsicht auf den ganzen Volkskörper, die an¬
gespannte Seelenkraft in der selbstlosen Hingabe an
fruchtbare Ideale, — das sind die schöpferischen und
erhaltenden Elemente, mit denen Sparta, Athen, Rom
im Alterthum, — Spanien, Italien, Frankreich im
Ausgang des Mittelalters aufsteigend ihre Grossthaten
verrichteten; «so herrlich weit es aber alle diese
Volkskörper in der Geschichte auf allen Gebieten
gebracht», — nichts konnte den Niederganor und
den völligen Verfall aufhalten, als schrankenloser
Egoismus des Einzelnen, schwüles Abirren von natürlichen Anschauungen und Regungen, Entartung,
gedankenlose Umwerthung der öffentlichen Erscheinungen die Seelenkraft geschwächt hatten. Denn
mit der Seelenkraft verliert sich der Schwung, und ohne den blind an sich und sein Werk glaubenden
Schwung der Geister und Seelen wird nirgends mehr eine fruchtbar weiterwirkende That gelingen.
o o 00
Adalbert Hynais. Studie
II 8
50
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
im Auge haben, neben solchen destruktiver Art gefunden werden, und dass den Ausschlag- für den
Zeitcharakter die stärkere Strömung gibt. Für die Zeitgenossen ist es demnach stets die Kardinal¬
frage, entweder aufkeimende destruktive Kulturtendenzen zu unterdrücken oder aber bei bereits vor-
geschrittenem Stadium um die Gewinnung neuer Gesundheit sich thatkräftig zu mühen. — — —
ö c> o
Das treueste Bild unserer Kunstströmungen geben heute so ziemlich die Jahresausstellungen ;
in Deutschland in erster Linie die Münchner, und das besonders, weil die Beurtheilung der Lage
durch die örtliche
Trennung der zwei
feindlichen Strömun¬
gen auch dem Laien
einen Einblick in das
geheime Wirken der
o
geistigen Richtungen
möglich macht.
«_>
Man kann von dem
Glaspalast kurz
sagen, dass in ihm
sich die Kunstarbeit
des gesunden Volks
in seinem Genie wie
in seiner werkthätigen
Frische, in seiner na¬
tionalen
und in seiner unge¬
brochenen Kraft ver¬
trauenerweckend
spiegelt. Auch der
diesjährige Glaspalast
wirft, ein gutes Bild
zurück: in Lenbach
Gesinnung
o
maligen Fehlens der
weiteren Namen, eine
wie bedeutende und
zukunftsvolle Kunst
wir besitzen, — und
er zeigt uns in der
weiteren Gesammt-
heit einen erfreulichen
Durchschnitt mit ge-
sundem, organisch
gewachsenem Ge-
fühlsleben, mit klaren
Anschauungen und
einer augenscheinlich
aufwärts gehenden
Technik. In ihm kri-
stallisirt sich die so-
lideRechtschaffenheit
nicht nur, welche die
Münchner Kunst seit
vielen Jahrzehnten
auszeichnet, — es ist
auch thatsächlich die
Mehrzahl der gröss-
und Klinger zeigt er
o o
ten Leistungen in neu-
, . . Carl Bosscnroth. Mondaufgang im Moos „ .
uns trotz des dies- ester Zeit in seinem
Gefolgskreis entstanden. Er steht hinter seinem Vorgänger in keiner Weise zurück. Er übertrifft auch
in seinem wirklichen Gehalt, wenn man in unbefangener Sachkenntniss abwägt, sicher seinen Secessions-
rivalen am Königsplatz. Sieht dieser zweifellos pikanter aus, so vergesse man nicht, dass Mixed-Pickles
und Sardellen auch pikant sind, — dass das Pikante aber weder für die geistige noch für die leibliche
Nahrung irgend welchen, — es sei denn einen vernichtenden, — Werth besitzt. — Hat der Glas¬
palast einige monotone Säle und mancherlei Minderwerthiges, so ist zu berücksichtigen, dass er in seinem
K. von Leubach pinx.
Phot. F. Hanlstaeng!, München
Erica und Marion Lenbaeh
P. von Lenbacli plnx.
Pliot. P. llaufetucugl, München
Bildniss
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
51
Caspar Kitter. Blumen
System einer objektiven, der ganzen nationalen Hervorbringung dienenden Kunstpflege im Wettbewerb
auf ein obenhin bestechendes Aussehen mit der Secession nicht rivalisiren kann — d. h. für ein ober¬
flächliches Auge; die Secession gibt ja ihrer schönen einstigen Devise: «Nothwehr für die unterdrückte
Jugend» — längst die praktische Auslegung, dass durch rabiates Auswählen unter den frischen Kräften,
— soweit sie nicht einem bestimmten Kreis angehören, — ein buntbewegter, den Laien leicht bien-
dender Eindruck zu erzielen ist; hätte der Glaspalast in diesem Jahr einmal sich zu dem gleichen
kunstmörderischen V er¬
fahren bequemt, so
würde auch der Naivste
sehen, durch welch’
eine Summe bedeuten¬
der Würfe und durch¬
weg gediegener Leist¬
ung er dem Unter-
nehmen am Königsplatz
überlegen ist !
Von der Secession
hörte ich in München
Viele sagen, dass sie
auffällig still stände.
Das stimmt nicht. Sie
schreitet in Wirklichkeit
rapide in ihrem natür¬
lichen Verfall fort. Sieht
man von einigen Frem-
Hermann Urban. Jugend
den ab, — deren Viele
zum Verdecken eigenen
Defizits herangezogen
sind, — so bleibt kaum
ein Dutzend Namen
solcher, die man mit
aufrichtiger Freude be-
trachten kann. Die sehr
geschickte Anordnung
der ersten Säle hilft
darüber so wenig hin¬
weg als die durch¬
triebene Einführung
und Anpreisung, — als
die Geschicklichkeit, mit
der die Secession einen
Theil der Tagespresse
für sich zu interessiren
verstanden hat. Es gibt
54
DIE KUNST UNSERER ZEIT..
— und die Schlussfolgerung ist nicht mehr abzuweisen, dass
die Episode der « Secession » nunmehr zu Ende geht. — —
Gegenüber diesem Hurrahstil überreizter Nerven und
willenlos jedem Eindruck vom Ausland überlassener Sinne im
Secessionshaus wirkt der Glaspalast wohlthätig mit der ruhigen
und nachdrücklichen Dynamik einiger hochbedeutender Schöpf¬
ungen von Zukunftstragweite und einer grossen Zahl grund¬
solider Arbeiten, die auf dem Boden ehrlicher Künstlerbegeister¬
ung an den Welterscheinungen und eines tüchtigen, überall
sich hervorkehrenden Handwerkskönnens gewachsen sind.
Die Hauptanziehungspunkte bilden hier diesmal zwei
unserer grössten, einander vollständig entgegengesetzten Künstler¬
persönlichkeiten, — nämlich Len b ach und Ivlinger. Man
kann von der über ein Dutzend Werke enthaltenden, mit der
grössten Feinheit des Zufälligen vorgeführten Sonderausstellung
Lenbach's schlechthin nichts Besseres sagen, als dass eine
neue Jugend über den Künstler gekommen ist und er die
bisher eingenommene Höhe, — so unglaublich es klingen
mag, — noch überboten hat. Seine « Halbfigur einer Zigeunerin »
ist geradezu ideal vollkommen und eine der schönsten Leist¬
ungen des Künstlers, die unbedingt in ein grosses Museum
gehört. Ist dieser runde, etwas nach hinten gewandte Körper
mit dem Gewandfetzen wunderbar gemalt, — ist da ein
Schmelz, eine Wärme, eine Tiefe im Ton und eine bethörende
Stimmung, welche uns ähnliche Eindrücke von den grössten
Meistern der Geschichte, — einem Tizian, Rembrandt, Rubens,
— lebendig macht ! Und diese stupende Wirkung setzt sich
heuer von Bild zu Bild fort, wobei diesmal das weniger
Vollendete seltene Ausnahme zu bilden scheint. Da ist das
erstaunlich feine und schlagend ähnliche Bildniss einer älteren Dame, — neben ihm das süsse
Köpfchen einer bekannten Münchner Malersgattin, das prächtig im flüchtigen Augenblick eines auf¬
huschenden Lächelns erhascht ist, — von gleicher malerischer Genialität aber auch das Doppelbildniss
in Vollfigur von einer jungen Dame und einem Mädchen, dessen kostbare Farben bestechend aus dem
tonigen Hintergrund tauchen : in den fremdartig-feinen Zügen mit dem Feuer und dem sprühenden
Geist im Auge glaube ich Frau von Lenbach selbst zu erkennen. Ich hebe noch das kraftvolle
Schauspieler-Bildniss, den reliefartigen Bismarckkopf und Björnsons Conterfei heraus, ohne damit die
besten Stücke dieses Lenbachsaals annähernd vollzählig angeführt zu haben. — — — Was das
immer wieder Unbegreifliche an den Lenbachschöpfungen ist: er steht fast überall — seltene Ausnahme
F. A. von Kaulbach pinx. Phot. F. Hanfstaengl, München
O-'
Frau von
Kaulbaeh
Kraftprobe
ii •
^ ff
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jjr v-,n* " yPtPwjl *
Max Ring. Am Gemüsestand
Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl
56
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
abgerechnet — sicher auf dem Boden der Natur. Seine Farben und Töne sind das Seltenste, oft
Köstlichste, das Musikalischste möchte ich sagen, was ein königlich in seinem Reich herrschender
Geist ausgesonnen hat, — es steckt eine grenzenlose Arbeit und Vorbereitung, ein unglaubliches
Beobachten und Nachdenken in diesen scheinbar so mühelos hingesetzten Tondämmerungen, die in
dieser Finesse und Differenzirung anscheinend niemals in der Natur Vorkommen ; aber er verliert
trotzdem nur sehr
selten einmal die
Natur aus dem Auge ;
sie steht schweigsam
überall in seinen
Formen und in jedem
Gesichtsinhalt als
etwas ihm genau
Bekanntes, das er aus
primitiver, roh wir¬
kender Einfachheit
erhöht, mildert und
nach seinen Maler¬
instinkten umgestal¬
tet. Dieser enge Zu¬
sammenhang von
Natur und Geist bei
ihm und diese könig¬
liche Herrschaft über
die Mittel der Kunst
bedingen Lenbach’s
Grösse ; man darf
heute, wo Böcklin’s
und Menzel’s Werk
mit dem Alter dieser
Maler als abgeschlos¬
sen gelten können,
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N.VfA-HOLLS.NDEP,-
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Conrad Kiesel. Damenbildniss
von dem jugend¬
frischen Sechziger
Lenbach ohne jeg¬
liche Uebertreibung
sagen, dass er der
erste « Maler » der
Gegenwart ist. Und
dabei ist seine Kunst
in ihrem ganzen Um¬
fassungskreis, in ihrer
seelischen Richtung
doch vollkommen
national ; sie kann
vorbildlich dafür sein,
wie ein Künstler in
seinen Mitteln sich
die Erfahrungen aller
Völker und Zeiten
der Geschichte dienst¬
bar machen darf,
ohne den Zusammen¬
hang mit dem Kunst-
genius seines Vater-
landes zu verlieren. -
In einer ganz
anderen Welt der
Kunst doch eine
Lenbach verwandte Erscheinung ist K 1 i n g e r, der diesmal sein vielgenanntes, in der «Kunst unserer
Zeit » schon mehrfach besprochenes Riesentriptychon : « Christus im Olymp » ausstellte. Das Bild ist
äusserst ungünstig angebracht. Der rothe Koloss zur Linken, der blaue zur Rechten sind die unge¬
eignetste Nachbarschaft, - — das grelle Oberlicht, das durch ein besonderes Velum hätte gedämpft
werden müssen, macht die Farben, welche im Vorjahr auf der Leipziger Gewerbeausstellung und in
der Werkstatt des Künstlers blüthenfrisch und lebendig wirkten, kalt und hart; dem Bild ist bis auf
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
57
Anion Lauphcimer. In Ferien
die durch ihre tiefere Lage begünstigtere Predelle fast der ganze eigentümliche Farbenreiz genommen.
Das ist sehr bedauerlich und sollte abgestellt werden; der Glaspalast hat doch gewiss keine Ursache,
den geschäftigen Gegnern eines seiner «Haupttrümpfe» Wasser auf die Mühle zu giessen. Das Bild
darf ich aus den wiederholten Beschreibungen wie aus Abbildungen als so bekannt voraussetzen, dass
ich ein Eingehen auf seine Einzelheiten unterlassen kann. — Was Lenbach unter den «Malern», ist
Klinger mit seinem zwischen 200 und 300 Nummern zählenden Gesammtwerk unter den «Künstlern».
Er ist Phantasiekünstler grössten Kalibers, in dem die Gedankengänge von Antike, Renaissance, der
gesammten Gegenwart nach künstlerischem Ausdruck drängen, für welchen er die Stecherkunst, die
Plastik, die Malerei verwendet hat. Seit seiner Reife steht er in den Formen streng auf der Natur;
aber er erhöht die Natur wie jeder grosse Künstler; seine Farben sind darum ebenso wenig Natur¬
farben wie die von Lenbach; er sucht im Kolorit gewisse grosse symbolische Wirkungen, die seinem
Bildproblem dienen. Das haben alle grossen Künstler von Giotto bis Michelagniolo, von den Eycks
bis Dürer, von Cornelius bis Böcklin gethan, — und es ist wirklich gut, dass die Kunst in ihrem
9*
58
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Lauf stets noch von grossen Künstlern, nie aber von schlechten Kritikern mit mangelhafter Kenntniss
der Kunstgeschichte gemacht wird. Wenngleich für Ivlinger persönlich die Malerei die sprödeste unter
seinen Techniken ist, hat er doch ein als Bild so ausgezeichnetes Farbenkunstwerk wie das « Paris-
urtheil » geschaffen, und man wird auch diesen «Christus im Olymp» trotz mancher ernsten Einwände
der Zukunft überlassen können. Dies Werk geht seinen Weg mit seiner gedanklichen Grösse, seiner
edlen Formengebung, seiner Farbenkraft, — ob der Künstler es noch einmal übermalt oder nicht, —
es ist viel zu bedeutend. Wie wir Germanen aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führt, wohl
am tiefsten in die welt¬
geschichtlichen Prob-
o
lerne der Antike und
der Renaissance ein¬
gedrungen sind, — so
ist auch dies Werk wie
andererseits Ibsen’s
« Kaiser und Galiläer »
ein Zeuge davon; ferner
aber auch dafür, wie
grossartig der ideelle
o o
Zusammenprall von An¬
tike und Christenthum
von einer modernen
Künstlerphantasie er¬
schaut worden ist.
Klinger ist im ge-
sammten Nord- und
Mitteldeutschland heute
rückhaltlos anerkannt;
wo man ihn im Ein¬
zelnen nicht goutirt,
hält man sich mit gutem
Takt zurück, weil man
mehr zu tasten ist, wird verherrlicht,
Alberi Hynais. Studie
sich sagt, dass ein be-
deutender Künstler am
Ende doch Recht hat;
man ist durch die Er¬
fahrungen mit Menzel
und Böcklin gewitzigt;
die Opponenten der
70er und 80er Jahre
gegen beide haben
Haare auf der Wahl¬
statt gelassen, — sie
haben als schliesslich
nicht ernst genommene
Leute ihre kritische
Thorheit mit der Lauf¬
bahn bezahlt und sind
grösstentheils ver¬
schwunden. Aus einer
bestimmten, sehr ge¬
kannten Münchner
Gruppe heraus wird
jetzt dasselbe mit Klin-
ger erlebt. Böcklin, an
dessen Stellung nicht
aber die * Allegorie » (Böcklin hat kaum Anderes je gemalt:)
gilt ihnen u. A. als künstlerisches Unding und veraltet. Die Allegorie beherrschte leider nun alle
Zeiten der Kunstgeschichte, — wie kann man ohne sie Michelagniolo's, Rubens Namen nennen ! —
sie wird immer, wo intensives Geistesleben sich mit dem Formentalent der Kunst vereinigt, die
Darstellung eines Künstlers bestimmen. Das wird nie anders sein und immer werden die Kunst-
gesetze aus den grossen Kunstwerken abgeleitet werden müssen. Den grossen Kunstwerken aber ist
es eigenthümlich, dass sie immer vom Wesen der schaffenden Künstlernatur bestimmt werden: der
Orpheus und Eurydike
Stuck pinx.
Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl
Pallas Athene
Orrin Peck. Kohlkrautgarten
60
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
eine leistet Unvergängliches im malerischen Ausdruck
wie Lenbach, — der andere zieht als einsamer Phi¬
losoph die Quintessenz aus der Geschichte und formt
sie zum Werk der bildenden Kunst wie Klinger, —
der dritte schildert die bunten Bilder des Lebens un¬
mittelbar nach der Natur wie Menzel und Defregger,
ein vierter lässt sich Paradiesesträume einfallen
wie Böcklin. Ein Jeder wird trotz aller Schul-
meistereien Recht behalten müssen. Das Einzige,
was in der Kunst nicht das mindeste Daseinsrecht
besitzt, das ist die Stümperei, die mit frecher Miene
vorgibt, Meisterschaft zu sein, — ist die seelenlose
Mache und jener prahlende «Verzicht» auf Geist,
Bildung, die Errungenschaften viel tausendjähriger Kul¬
turarbeit, welcher im Grunde nichts als Zugeständ¬
nis blödester Geistes- und Herzensarmuth ist. — Nikolaus Gysis. Studienkopf
Unter den übrigen, der Phantasie huldigenden Werken der Ausstellung sind einige Collektiv-
Abtheilungen zu nennen. So die interessante von Gysis mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem graziösen
Charakter, — so auch die vornehmen Tafeln von Löfftz; der Meister hat seine langerwartete Dar¬
stellung von « Orpheus und Eurydike » gebracht, — zwei ausgezeichnete Männerakte und ein bekleidetes
zartes Weib dazwischen mit schönem Rythmus
der Bewegung, mit einem sehr delikaten Farben-
geschmack, mit bestechendem Schönheitsgefühl;
es ist im antikisirenden Stil der älteren deutschen
Schule eine sehr anmuthige Schöpfung, welche
es wohl verdient, in der Pinakothek neben des¬
selben Meisters berühmter « Grablegung » zu
hängen. Erreicht sie diese auch nicht ganz, so ist
sie doch ein mit unendlicher Liebe und Andacht
geschaffenes Werk. — Ein sehr verheissungs-
volles koloristisches Talent ist ferner das von
Raffael Schuster- W o lda n , der Jahr für Jahr
in junger Meisterschaft gewachsen ist. Er ist ein
Phänomen an Farbengeschmack und hier von
hoher Feinheit, - — - wofür seine «Legende» ebenso
Beweis ist als das entzückende Mädchenbildniss
mit seinem System grüner Töne. Kann man von
Emst Thaiimaier. Lektüre seinem « Selbstbildniss » sagen, dass es meisterhaft
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Gl
charakterisirt noch ausserdem ist, so geschieht es mit einer gewissen Beruhigung, dass dieses kolo¬
ristische Talent Dank neutralisirender Gabe an der Klippe des Versandens in der Koloristik schwerlich
scheitern wird. Wir wissen auch von früher her, wier herzhaft der Künstler sein kann, mit dem wir
uns in Kurzem noch näher beschäftigen werden. Uebrigens ist auch sein Damenbildniss nach dem
Vorbild des bekannten Selbstbildnisses von Vigee Le Brun eine sehr treffliche Arbeit. Bei der Secession
ist noch Stuck hervorzuheben. Seine längst bekannte « Kreuzigung » wirkt hier ungleich günstiger
Dank besserer Beleuchtung, als diejenige seiner Zeit bei der Berliner Ausstellung war, und lässt die
wuchtigen Massen der Farben viel glücklicher Zusammengehen. Man sieht bei solchen Vergleichen,
wie viel bei einem Bild auf die richtige Beleuchtung und passende Nachbarschaft ankommt. Unter
mehreren kleineren Tafeln sind noch eine neue Auffassung der «Pallas Athene» als von guter
malerischer Durchführung, — ein neues Selbstbildnis daneben besonders hervorzuheben.
Hermann Moest. Das Los des Schönen
Nicht viele, aber zum Theil hochachtbare Werke gehören dem religiösen Stoffkreis diesmal an.
Hier ist seit Jahren ein spürbares Versagen festzustellen, das einem Zeitzuge entspringt. Eine Er¬
nüchterung ist vorhanden, die als ein Rückschlag gegen die reiche Pflege des Gebiets bei den Münchnern
und Düsseldorfern in den ersten drei Vierteln des Jahrhunderts gelten kann. Das Wenige, welches
hervorgebracht wird, macht den Eindruck bestellter Arbeit für Kirchen und Kapellen oder aber des
gleichgiltigen Versuchs mit neuen Wegen der Auffassung, der Technik, — der naive Glaube und die
selbstvergessene Andacht wird selbst im Besten oft vermisst. Trotz dieses kleinen Minus indessen ist
Marr’s aufsehenerregende «Madonna» nahezu ein voller Wurf. Es ist malerisch eine sehr tüchtige
Arbeit mit einer glänzenden Behandlung des Beleuchtungsprinzips nach dem berühmten Correggio
der Dresdner Galerie, und die Lieblichkeit der « Madonna » und des Bimbo, die süsse Kindlichkeit
der kleinen Engel im Halbkreis und die ergriffene Unschuld der Grossen dahinter sind Bildelemente von
62
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
grossem Gewicht ; nur
stört mir das erstarrte
Pathos der Engelgeber-
den die Wirkung- gerade
so sehr als das knallige
Roth des Madonna- Kopf¬
tuchs, — und ich möchte
wünschen , dass der
Künstler hier nochmals
den Pinsel ansetzt.
Daneben ist auch eine
gross und wuchtig er-
dachte « Adoratio crucis »
von Thedy zu nennen,
die viele treffliche Eigen-
schäften hat und trotz
einer gewissen Herbheit
durchgebildeter Formen
Anton Alontemezzo. Leckerbissen
Züge offenbart. — Der
talentvolle, aber ungleiche
Corinth bewegt sich auf
seiner «Kreuzigung» in
der bei ihm schon be¬
kannten quattrocentisti-
schen Formenwelt der
Präraphaeliten mit dies¬
mal noch trockenerer
Farbe, überrascht dage¬
gen auf der frisch hin¬
gesetzten kleinen « Ver-
suchung des hl. Antonius »
durch die Fülle der Be¬
wegungsmotive sowie
drastischer Verkörperun¬
gen von der Sünde in
dieser vergänglichen Welt.
— Ein anmuthiges Stück
doch feine psychologische
ist der kleine MadonnenkopI in originellem Rahmen von dem auch beim Bildniss mit Auszeichnung zu
nennenden Echtler, — nicht minder distinguirt aber auch — least not last — Nonnenbruch’s
sehr empfundene «Verklärung» mit der süssen, von Engelsköpfen umgebenen Engelsgestalt, —
die nur für meinen Geschmack um ein paar Striche zu weich gehalten ist.
Von grosser Historie ist nur ein Paradebild von Braun zu nennen, das den Prinzregenten
mit seinem Stab eben die Front eines Regiments abreitend darstellt. Die malerisch widerstrebende
Aufgabe, modernes
Militär und seine
Stäbe während der
Paradestellung bild-
nissähnlich und na¬
mentlich in bayer¬
isch-blauer Uniform
darzustellen, ist, so
gut es geht, behan¬
delt, — — über¬
triebene künstler¬
ische Anforderungen
darf man an solche
Werke nicht stellen,
da hier der militär¬
ische Zweck die
Hauptsache ist. —
Mannigfach und
theilweis recht an-
muthig ist das Phan¬
tasiestück vertreten .
Da ist ein origi-
neller Einfall von
Pacher, welcher in
seinen « Abschieds¬
gedanken » mit
Franz Grassel. Enten
- Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl
M. Nounenbruch pmx. » ■>
Verklärung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
03
einer Stehlei-
Leopold Schmutzler. Ein Spazierga
runde Figuren
ö
eigentlich wenig bedeutenden Mitteln eine sehr hübsche Sache zu Stande brachte. Ein in letzter
Dämmerung dahinrollender, sehr plastisch gemalter Zug an einer Kurve, — letzter Glast am Horizont,
— am hellen Coupeefenster ein träumender Mann, vor dessen verlorenem Auge aus den Wiesennebeln
am Bahndamm Faschingsgestalten sich bilden und zu ihm empordrängen. Es liegt eine eigene Wirkung
in dem Bild, — ein feines Erhaschen jener Stimmung des einsamen Indienachthineinfahrens und melan¬
cholisch leben¬
digen Räder-
gerolls, wenn
das Herz zu¬
rückbleibt, wo
die Fahrkarte
gelöst ward.
Verwandt im
System der
Erfindung ist
diesem Bild
ein neuer
M a 1 c z e w s k i ,
dessen heuri¬
gen Gegen¬
stand ich vor
Langem von
ihm einmal in
malerisch noch
feinerer Lös¬
ung behandelt
sah: Ruhmes¬
träume eines
jungen Kunst¬
handwerkers.
Da sitzt auf
Malerlehrling
und stiert vor
sich hin, in¬
dessen die ihm
entfallenen
grossen Scha-
lang-
blonen
sam zur Erde
schaukeln ;
ihr Geräusch
macht Gestal¬
ten vor sei¬
nem Auge
wach, — bunte
Gestalten, die
er einst dar¬
stellen wird
und die ihmdie
heiteren Freu¬
den erfolg¬
reichen Künst¬
lerlebens ver¬
führerisch her¬
zaubern. Die
Kunst, mit der
Malczewski
ter oben ein in schwerofe-
wichtslosem Schweben und triebhaft bestimmter Bewegung darstellt, ist frappant, — ich kann nicht
ergründen, woran es liegt, — aber man glaubt ihm seine Fleisch und Blut gewordenen Träume.
Georg S ch u st e r - Woldan mit einem Eckehard, — das noch ungeklärte aber gewiss ent¬
wickelungsfähige Talent von M ülle r -S chönefeld in seinem «Märchen», — Huber mit einem
Lucifer, — Strathmann mit einem neueren seiner originellen und kunstgewerblich hochinteressanten
II io
6G
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ähnlich, vollendet, wesenhaft wirkend, weil das Bestimmende in ihrer Erscheinung nicht obenhin,
sondern «in der Tiefe des Seelenmysteriums begriffen» ist. — Man weiss ja, dass auch Lenbach oft
lange vor dem Malen im persönlichen Verkehr sich in das Wesen seiner Personen hineinfühlt, und wer
sein märchenhaftes Werkstatt-Museum kennt, dem ist vielleicht aufgegangen, welche starke Suggestion
es auf den ausüben muss, der öfter zur Bildnisssitzung hierher kommt : er lässt unter dem Stimmungs¬
eindruck der hier beisammen befindlichen Jahrhunderte in sorgfältig erlesenen Werken derselben den
Alltag seiner Meinungen und Launen von heute draussen, — er wird gefügig und stillbescheiden und
verräth unbewusst, was sein eigentliches Milieu ausmacht.
Unter den zahlreich vorhandenen guten Bildnissen ausserhalb der Säle von Lenbach und Kaulbach
ist diesmal Echtler besonders hervorzuheben, der den Prinzregenten in sehr schlagender und malerisch
höchst geschmackvoller Weise darstellte. Er modellirte gut, zog das Licht in der Hauptsache auf
den Kopf in jener glücklichen Art, die uns bei Herkomer und der Parlaghy schon entgegengetreten ist;
sie erfordert eine
sichere Kenntniss
der Mittel, die man
dem Bild von Echt¬
ler nachzurühmen
hat. Es ist das erste
mir bekannt eewor-
dene Bildniss von
des Künstlers Hand,
und ich bekenne
gern, eine ange-
nehme Ueberrasch-
ung davon gehabt
zu haben, weil so
des Auges charakterisirt und wie geschickt das in den Farben changirende Kleid gemalt! — so gut,
dass dem Laien die Kunst darin kaum auffallen wird. Das Inkarnat könnte ein wenig frischer und
der Schwung in der Darstellung ein wenig herzhafter sein, aber auch ohnedem erregt das Bild Auf¬
merksamkeit für sich, wie für einen sich solide und ehrlich auswachsenden Künstler, der seinen Weg
sicher geht und reifen wird. — Berenyi’s Bildniss unseres Frankfurter Malerpoeten Hans 1 homa
gehört mit seinem Kontrast von Dunkel und Hell auch zum Besseren, wenngleich zu bemerken ist,
dass der ungarische Künstler trotz des koketten Durchblicks auf einen kleinen Odenwald - Hain das
eigentlich Thoma’sche nicht recht gefasst hat. — Frau Parlaghy hat neuerdings keine glückliche
Hand, wie das hier ausgestellte Bildniss neben anderen neuen Arbeiten in Berlin zeigt. Sie wird hart,
unvermittelt, sucht schlagende Wirkungen mit rohen Mitteln. Das thut ein Künstler dauernd nur auf
Kosten seines Talentes, weil gerade diese Form des Abirrens mit dem faden Virtuosenziel im Auge
einer falschen Anschauungsrichtung entspringt; es wäre bedauerlich, wenn die schöne Begabung der
Stanislaus Grocholski '. Verlangen
reife Werke doch
sonst immer das Er-
gebniss langer Ueb-
ung zu sein pflegen.
— Auch Schwill,
dessen sehr an¬
sprechendes Selbst-
bildniss ich im vori¬
gen Jahr schon her¬
vorhob, ist wieder
sehr bemerkens-
werth. Wie treffend
ist die Dame in dem
gütigen Lauschen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
G7
Künstlerin sich auf diese Weise ruiniren sollte. — Unter vielem Trefflichen sind hier ferner anmuthDe
o
und geistvolle Mädchenköpfe von Erdtelt, — Zimmer mann’s im Ton so sehr als in der schlichten
Charakteristik vornehmes Bildniss von Staebli, — von Raff ein sehr wirkungsvolles und gut prä-
cisirtes Damenbildniss, — gute Arbeiten von Kirchbach, Thor, — von Orrin-Peck ein süsses
rubensfarbenes Kinderstück. — von Fröhlich anzuführen, ohne dass in dem hier gegebenen Rahmen
sich das Hervorragende erschöpfen liesse.
Interessante Tafeln sind auch jene von Höflinger, — ein rund herausgearbeiteter, frischer und
pikanter Frauenkopf mit kecken Farbengegensätzen, der gegen eine Fandschaft abgesetzt und als eine sehr
- sowie das anmuthige Frauenbildniss von Hoff, dessen feines,
ung, welche die
geschickte Arbeit hervorzuheben ist
o>
zu weich be¬
handeltes Ge¬
sicht von einem
teppichartigen
Fandschafts-
hintergrund
sich abhebt ;
auch diesem
ansprechenden
Suchen nach
frischer Auf¬
fassung wird
eine grössere
Herbheit erst
die rechte
Würze geben.
Beide Arbeiten
bewegen sich
in der Richt-
Richard Falkeiiberg. Ophelia
altniederlän¬
dische und die
mit ihr so eng
zusammen¬
hängende alt-
deutsche Kunst
langevertreten
hat. — —
Die Kunst¬
weise der Ju¬
gend, wie sie
von der Seces¬
sion in den er¬
sten Jahren
vertreten ward,
hat sich mit
ziemlicher Viel¬
seitigkeit des
Wollens auch
dem Bildnissgebiet zugewandt, — im Verlauf eines Jahrzehnts manche anerkennenswerthe Schöpfung
hier hervorgebracht, — im Ganzen jedoch keinen Boden gewonnen ; es ist eines der charakteristischen
Zeichen für die gegenwärtige Fage, dass das Publikum sich kühl gegen Gemaltwerden im « modernen »
Sinne verhält, und dass keines von den Talenten dieser Art auf kommt. Das liegt in der Sache
selbst begründet. Die « moderne » Kunst hat die Betonung auf die zufällige Erscheinung des Augen¬
blicks, demgemäss malerisch auf blosse Palettenkünste gelegt, — sie ist in der Charakteristik auf rein
äusserliche Momente ausgegangen, so dass der Mensch, sein Wesen, sein Charakter zur Nebensache
vielfach geworden ist. Und damit ist die Grundfrage der Bildnisskunst eben übersehen worden. Wie
man sich aber auch als Neuerer und Erfinder geberden mag- und der Tamtam kritikloser Freunde für
ö o
68
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ein paar Jahre Einem auch Recht zu geben scheint: man kommt weder in der Kunst noch sonstwo um
die Grundgesetze herum, die begriffen und berücksichtigt werden müssen, um etwas Dauerndes zu schaffen.
Auch diese Erscheinung- der modernen Kunst hat dazu noch einen anderen Haken, als gemeinhin in
o 1 o
den Erlassen der Partei-Bonzen zu lesen steht. Man kann nirgends weniger schwindeln als in der
Bildniss-Malerei ; da heisst’s : unbedingt bis in das Kleinste hinein zeichnen, die Palette unterordnen,
kraft hoher Bildung- und divinatorischer Gabe in einem Menschenantlitz lesen zu können. Dazu thut
angeborene Fähigkeit viel, — aber die Bedingung bleibt immer bestehen, dass Energie der Vertiefung
und Ausdauer die persönliche hohe Kulturstufe erzeugen müssen, von der aus der Künstler souverain
durch das Antlitz hindurch in die Menschenseele hineinblickt. Die technische Erleichterung, welche
die modernen Malprinzipien ihren Jüngern gewährt, sind sehr verhängnisvoll bei einem erdrückenden
Prozentsatz derselben geworden : es fehlt der Zwang der Versenkung, weil nicht so oft, ausdauernd,
beobachtend an ein Werk die Hand gelegt werden muss. Es geht alles so schnell heute; damit
fällt das selbsterziehliche Element in der Technik fort; das Denken innerhalb der Sache entwickelt
sich nicht weiter, — es verlernt sich mehr und mehr wie jede nicht ständig geübte menschliche
Eigenschaft. Lässt man sich als Beschauer von billigen Kunststücken nicht blenden, so wird man in
modernen Ausstellungen oft auf’s Höchste überrascht, welch’ ein Mangel von Intelligenz, an bewusstem
Sehenkönnen, an Bildung hinter der Mehrzahl der «modernen» Bildnisse gähnt. Und das fühlt das Publikum
instinktiv; daher die grosse Menge von «Dargestellten in öffentlicher Stellung» auf unseren Ausstellungen,
Erich Kubiei schky. Abendlandschaft
Carl Böhme. Scirocco (Motiv von Capri)
70
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und demgegenüber nur ein paar Brosamen wirklich und in baarem Gelde bezahlter Bildnisse, also von
Arbeiten, die über das Verhältniss des Publikums zur Sache einige gewichtige Rechenschaft geben.
An Tafeln von unleugbarem Talent und wahrscheinlicher Entwickelungsfähigkeit sind in dieser
modernen malerischen Richtung beim Glaspalast zwei Bildnisse des von den Schotten beeinflussten Malers
Kn irr hervorzuheben, dessen Halbfigur einer jungen Dame allerdings in Geschmack der Farbe und
Auffassungskraft die kleineren Bilder nicht erreicht. Auch Matiegzeck’s Damenbildniss ist eine
leine und geistvolle Arbeit voll bewussten Könnens, bei der nur der Scherz mit dem Schatten auf der
unteren Gesichtshälfte hätte wegbleiben können. In der Secession steht Uhde’s gut gemalter und
farbig in der Muffigkeit der Armeleut - Existenz famos getroffener alter Kerl auf diesem Boden;
warum aber verzichtet ein so ausgezeichneter Charakteristiker, wie Uhde vordem war, auf seine vielleicht
beste, sicher aber ent¬
wicklungsfähigste Emen-
schalt, indem er nicht
mehr als die blosse Er¬
scheinung gibt? Velas-
quez, der ihm bei der
Auffassung- vorgeschwebt
ö O
zu haben scheint, hätte
ihm auch den Hinweis
geben
onnen.
Eine merkwürdige und
leider nicht in gutem
Sinne bezeichnende Zeit¬
erscheinung ist sicher die-
jenige , dass alle die
jüngeren Leute, welche
sich von Lenbach und
seiner Richtung abge-
Otto Propheter. Bildniss des Professors Ferdinand Keller
wandt haben, um «neue
Wege» der Bildnisskunst
zu suchen, fast insgesammt
wurmstichigen Verfall-
o
manieren nachgehen und
o
sich streng hüten, beim
Nächstliegenden und Na¬
türlichsten anzuknüpfen :
nämlich bei der stamm¬
verwandten altniederlän¬
dischen und der altdeut¬
schen Bildnisskunst. Von
Jan van Eyck bis Cranach
ist hier eine Anzahl von
Meisterleistungen über-
kommen und hängt in
München, Berlin und Dres¬
den doch so leicht zu¬
gänglich aller Welt vor Augen, dass diese bloss weit aufgethan zu werden brauchen, damit sie in
der glänzenden Farben - Gluth und Pracht, der schlagenden Charakteristik, der gemiithvollen Liebe
unsere beste Volkskraft der Vergangenheit erkennen. Freilich hängt diese Kunst mit der zeich-
nerischen Illustration und dem Kunstgewerbe noch so eng und natürlich zusammen, dass ihre Neu¬
erweckung an den Lerneifer, die Ausdauer, das ehrliche Gewissen der Nachtastenden grosse An¬
forderungen stellt. Aber bedeutende Kunst erfordert immer die völlige Hingabe. Wo sich die Neigung
des Einzelnen etwa gegen die von Lenbach angebahnte Richtung wehrt, da liegt für einen ernsthaft
wollenden, weitschauenden und ein nationales Gewissen besitzenden Künstler eine weite und ent¬
wicklungsfähige Bahn. Böcklin’s Bildnisse, Thoma’s Selbstbildniss in Dresden, — was ferner der
Frankfurter Pidoll hier vereinzelt neben einigen Anderen auf Dürers und Holbein’s Bahn versuchten,
::
Ruftüel Schuster- Wold;
Phot. F. Hanfstaengl, München
Die Malerin
Ly
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
71
Carl Becker. Abend an der Nordsee
haben nachdrücklich bewiesen, wie künstlerisch und zeitgemäss diese von Dummköpfen gern als
«veraltet» ausgegebenen Stilweisen sich fortführen lassen.
Auch Anetsberger, dessen Namen ich zum ersten Male antreffe, lieferte in seinem ausge¬
zeichneten Herrenbildniss in der Secession den gleichen Beweis. Eine wie feine und bewusste malerische
Kunst ist hier entfaltet und wie trefflich ist in diesem Gesicht ein feingebildeter, kritisch veranlagter,
sehr energischer Charakter ausgedrückt! Man kann sich sogleich lebhaft vorstellen, wie die Klangart
der Stimme aus diesem Munde schallen muss, — welches die Bewegungen und Manieren des Dar¬
gestellten sein müssen.
Von den 3 guten Ausländerbildnissen, welche die Schwäche der deutschen Secessionsmalerei
ihrerseits mitverdecken müssen, ist Herkomer’s schon bekanntes Bildniss einer edelrassigen englischen
Schönheit, einer wahren Ahnin für ein kommendes mehrhundertjähriges Geschlecht, ein ebenso beredtes
Zeugniss für die geistvolle Holbein-Nachfolge in dem mit so vielen guten Holbeins und noch mehr
trefflichen Kopien gesegneten England, — zeugt auch Knopff’s ohne grossen Mittelaufwand bestechend
gut gemaltes Stück mit einem süss aufgefassten kleinen Mädchen in drolliger Stellung der Erwartung
an einer Zimmerthür dafür, wie fein, geistreich und neuartig der Künstler Anregungen der altnieder-
11 11
72
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ländischen Kunst ausgebildet hat. — - Der Dritte ist Segantini, von welchem man ein älteres
Künstlerbildniss aus der Zeit vor seiner heutigen Spachteltechnik erblickt. Auch das ist ein Meister¬
werk in seinem System äusserst stimmungsvoller Halbtöne, der tiefen Ruhe in Haltung und Heraus¬
bildung der animalischen Erscheinung, der verhaltenen Kraft in der energischen Persönlichkeitsgabe.
Was ich schon aus der neueren, herbkräftigen Stilweise des norditalienischen Malers schliessen zu
können glaubte, scheint sich auch hier zu bestätigen : wie bei dem Menschenschlag ganzer nord¬
italienischer Striche, Toskana eingeschlossen, lliesst anscheinend auch in seinen Adern in Folge
unendlich zahlreicher Berührungen der beiden Stämme auf den Völkerwanderungs- und Kaiserzügen
ein starker Tropfen deutschen Blutes, dem hier der ausgeprägte individualistische Zug zuzuschreiben
ist. Michelagniolo hatte von dieser Abstammung, der er sich selbst rühmte, die trotzige und wild¬
kühne Gewalt, — der heutige italienische Böcklin,
Marius de Maria, verdankt dem sicherlich die eigen-
thümliche Färbung seiner grübelnden Phantasie.
Die unreale Phantasiewelt in der Kunst und das
Bildniss werden bis zu einem gewissen Grade sich oft
vom eigentlichen Volks-Milieu entfernen können, ohne
an Kraft, Bedeutung, nationalem Kulturwerth desshalb
unbedingt verlieren zu müssen. In stark bewegten,
in Aufstiegszeiten eilt oft die Geistesaristokratie dem
eigentlichen Volk voraus und formt sich Ideale, in
die das Volk erst später hineinwächst. Die Weimaraner
Fitteratur - Periode, in gewisser Hinsicht auch das
Nazarenerthum bieten eine solche Erscheinung. Nie¬
mals aber darf das Sittenstück, die figür¬
liche Darstellung in realem Sinne sich vom
nationalen Fühlen eines Volks entfernen,
die Ideale des kleinen Alltagsbürgers ausser
Acht lassen und die Formenwelt aus inter¬
nationalen Gesichtspunkten entwickeln wollen. Das gänzliche Darniederliegen dieses
Gebiets, die Auslandssucht in den Darstellungsmitteln war in der Vergangenheit fast immer mit
traurigen Zeiten der deutschen Kulturentwicklung verknüpft; wir finden dann immer ein Siechen der
Volkskraft als Parallelerscheinung, — immer aber auch zugleich den Mangel einer ernsthaften Phantasie-
und Bildnisskunst grossen Stils. Hier waltet ein wichtiges und unerbittliches Gesetz. Die moderne
Wissenschaft hat es längst dahin formulirt, dass alle weittragenden Ideen und Thaten sammt ihren
Schöpfern aus den unteren Schichten einer Volksgesammtheit hervorgehen, — dass diese den Unter¬
grund nicht nur für das wirthschaftlich - gesellschaftliche , sondern auch tür das geistige Feben einer
Nation bilden, — dass nichts auf die Dauer lebensfähig ist, was nicht in der Volksmasse wurzelt.
Diese Thatsache gibt dem Sittenstück in der Kunst eine eminente Wichtigkeit als nächster Ausdruck
DIE KUNST UNSERER ZEIT
7:1
Gregor von Bochmann. Nordwyker Muschelkarren
des Volkslebens und Volksfühlens. Die Zeit ist zudem längst vorüber, in der die Kunst als ein
müssiges Spiel für Weibmänner und Frauen galt; sie wird heute als ein wichtiger Kulturfaktor ge¬
schätzt; sie beansprucht das Recht, in ihrem geistigen, seelischen, in ihrem moralischen Gehalt sehr
ernst als Kulturspiegelbild wie als Kulturbildnerin betrachtet und beurtheilt zu werden, — welchen
Standpunkt ihr gegenüber ich für das einzig würdige Männerverhältniss halte.
Wenn der heurige Glaspalast in einem gewissen Gegensatz zum vorigen einen spürbaren
Ausfall auf dem Gebiet der Genre-Malerei erkennen lässt, so ist das ein Zufall. Das Vorhandene
selbst, das sonstige Kunstschaffen in Deutschland beweisen, dass weitaus das Meiste an Kunstarbeit
bei uns diesen Zusammenhang mit dem Volk, und damit den kulturwichtigen Untergrund, noch hat.
Hier liegt für mich auch einer der ausschlaggebenden Gründe gegen das Daseinsrecht der Secession.
Die paar Fäden, welche sie mit dem Volksleben wenn auch lose verknüpften, sind zerrissen, — sie
hat andererseits aber auch nicht verstanden, Ausdruck für die nationalen Ideen einer vielleicht
weit vorausgeschrittenen Geistesaristokratie zu werden, — sie vertritt eben ihrer Entwickelung nach
und fast auf allen Linien heute das untergrundlose Malvirtuosenthum, das unter ernsten Männern zu
keiner Zeit als vollgiltig angesehen, vielmehr innerlich verachtet worden ist. Ich habe bereits oben
und im vorigen Jahr an dieser Stelle die Gründe für diese Secessionserscheinung angeführt, — ich
kann kurz rekapituliren, dass physische und geistige Schwächung gewisser moderner Künstlergruppen
hier den Ausschlag geben. Es ist in der That unendlich viel leichter, irgend ein Valeur- oder Ideen¬
kunststück zu Stande zu bringen, — wobei ganz davon abgesehen werden soll, wie Vieles aus wenig
ll*
76
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Laupheimer mit einem sehr ansprechenden Familienstück: «Ferienzeit», — in grösserem Stil
Raupp mit einem Sturmmotiv vom Chiemsee, — Rau, dessen Farbe neuerdings in’s Harte geräth,
mit einer Dorfwirthshausscene und einem in der Trauer eines jungen Paares um den gestorbenen
Erstling ihrer Ehe schlicht und innig empfundenen Bild, — mit Klosterlebenstücken Cederström,
Scholz, — mit einem kecken Karnevalsscherz Grocholski gehören mit der Freude am Leben und
seinem liebevoll beobachteten Detail gleichfalls hieher. Roubaud mit einem flotten Tatarenbild, —
Falke nberg mit einem im Ton angenehmen, gross behandelten Mädchenkopf, — Ring mit der
hübsch gemachten Figur einer jungen italienischen Gemüseverkäuferin fallen unter einer Reihe hand¬
werklich gleich vortrefflicher und poetisch empfundener Arbeiten besonders auf; es ist hier unmöglich,
erschöpfend in der Anführung dieser Bilder zu sein.
Unter den Bildern, welche intensiver eine mehr oder minder gut gelungene Annäherung an
moderne Anschauungen und Mal-Prinzipien, wie sie früher hauptsächlich vom Secessionskreis vertreten
wurden, darstellen, sind Männchen ’s gross gesehene « Steinklopferinnen » mit der ungeschminkten
Schilderung ein ehrliches, malerisch achtbares, inhaltlich das Mitgefühl packendes Stück Arbeit. In
seinen Tongängen geschmackvoll, und glücklich damit die traumhafte Dämmerigkeit des Zimmers
wiedergebend, ist das Bild von Koch mit der sinnenden Dame, und als ebenso gut im Ton die
Darstellung einer « xA.ehrenlese» von Hartmann hervorzuheben, der es freilich an präciser Zusammen¬
fassung mangelt. Auch Orrin-Peck’s «Kohlgarten» leidet trotz aller Frische an zu grosser Breite
der Entfaltung wie überhaupt an zu grossem Format ; eine ähnliche Darstellung von ihm in früheren
Jahren war ungleich kraftvoller trotz des damals schon zu tadelnden Bildumfangs. Zwischen Inhalt
und Umfang muss stets ein natürliches Wechsel verhältniss sein, — sonst kommt nie eine rechte
Wirkung heraus. Auch K 1 e in -C h e va 1 ier’s «Spielsaal» krankt trotz manches Anziehenden im
Wesentlichen an demselben Uebel.
Zu den trefflichsten Arbeiten dieser
Art in München heuer ist schliesslich auch
bei der Secession Höcker’s gutgemalte
und sehr drollig geschilderte «Werbung»
in Friesland oder dicht daneben zu zählen.
— Unter den Fremden am Königsplatz
ragt Johann sen durch zwei Innenstücke,
davon eines eine Herrengesellschaft in
behaglicher Unterhaltung vorstellt, durch
feine Stimmung und gute Charakteristik
hervor. Freilich steckt viel Manier in diesem
Impressionismus, der bei fanatischer Durch¬
führung und Festhaltung an seinem, nur
bei manchen Lichtzuständen berechtigten
Princip naturgemäss zur Schablone führt.
Pius Ferdinand Messerschmidt. Heimfahrt
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
77
Robert J. Curry. Gerettet
Der Künstler war früher ungleich frischer, — auch er scheint trotz aller Begabung allmälig dem Fluch
zu verfallen, welcher dem Palettenexperiment auf Kosten der Natur immer folgen wird.
* *
*
Ganz besonders reich ist der Glaspalast diesmal mit Landschaften beschickt, unter denen
sich eine stattliche Reihe ausgezeichneter und achtunggebietender Werke befinden, ohne dass man
gerade das Auftauchen wesentlich neuer Gesichtspunkte in der landschaftlichen Auffassung feststellen
könnte. Indessen ist das Fehlen neuer Gesichtspunkte kein Vorwurf gegen die Kunst; die gesündere
Auffassung, die Feuerbach z. B. gross gemacht und Schack bei seiner Kritik ihm gegenüber ver¬
treten hat, bricht sich heute mehr und mehr Bahn, — dass es nämlich auf ein ehrliches Naturverhält-
niss, auf das Können, auf die Beseelung und Durchgeistigung des Stoffs, auf das Heimathgewissen des
Künstlers in erster Linie ankommt; die Originalität, die Neuheit ist dabei ein Gnadengeschenk nur
insoweit, als sie mit diesen angeführten Momenten verbunden erscheint. Die Kunstgeschichte belehrt
ohnehin den, welcher sie unvoreingenommen betrachtet, dass plötzliche Offenbarungen innerhalb des
Kunstwachsthums von Generation zu Generation viel seltener sind, als es obenhin scheint; — ein
Haschen und Suchen nach Originalität ohne jene Elemente des zuverlässigen Könnens und der Be-
78
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
deutung dagegen schwört stets solche Ge¬
fahren herauf, wie sie der Secession in un¬
seren Tagen verhängnissvoll geworden sind.
Die Landschaft war das Lieblingskind
der «modernen» Kunst seit Anbeginn, weil
die bestimmenden französischen Vorbilder
vorzugsweise Landschafter waren ; es hat
sich auf diesem Gebiet thatsächlich auch
der weiteste Einfluss auf die zeitgenössische
Kunst geltend gemacht, — es ist mancherlei
Gutes damit gewonnen worden, — die
Augen unserer Maler sind für die Probleme
von Licht und Luft, von intensiverer Be-
werthung für Farbe, Form und Raum ge¬
schärft, — der Sinn für die kleinen und
intimen Reize der Natur und eine gross¬
zügige Behandlung derselben ist entwickelt.
Das sind Vorzüge und Gewinne für die
Handwerkstechnik zweifellos, — aber die
grossen Gewinne für die «Kunst» der Land¬
schaftsmalerei sind im Ganzen noch aus¬
geblieben ; man sieht nur hier und da erst
frische Ansätze, um aus den Theorien vom
Naturalismus bis zum Symbolismus etwas
für uns Brauchbares zu entwickeln, eine grosse Auffassung zu schäften, die dem natürlichen Verhältniss
der Deutschen zu seiner Heimathlandschaft entspricht. Und dies deutsche Verhältniss zur Landschaft ist
ein weitaus anderes als das der Franzosen. Ich möchte das Verhältniss der neueren Franzosen zur
Landschaft als das einer monumentalen Eitelkeit und Ichsucht bezeichnen. Er sieht sie als Coulisse
um seine eigene Person herum, — sie wirkt äusserlich als vibrirende Farbe und unbestimmte Form
auf ihn, — sie ist ihm ein Abstraktum für die Erholung, für die Stadtflucht, - — er geht «an das
Meer» oder «auf das Land», ohne das Ziel seines Veränderungswunsches zu individualisiren. Dazu
kommt ein wichtiges physiologisches Moment : Die Geschwächtheit der niedergehenden gallischen Rasse,
welche eine Schwächung der Sehkraft nach sich zieht. Im Grunde ist der Impressionismus
nicht viel Anderes als die gegebene «Kunstauffassung der Kurzsichtigkeit»
c7> O O O
Wie anders und in Hinsicht des Kunstgenies bedeutender ist die deutsche Landschaftsauffassung
o o
in den besten und allen reifen Zeitabschnitten gewesen. Gerade desshalb hat das deutsche Gelehrten-
und Künstlerthum die Antike vor allen epigonischen Völkern so gut und tief verstanden, weil die
Beseelung der Natur vor dem Auge des antiken Menschen wie vor dem des Germanen engverwandte
Ad. Echtler pinx.
Phot. F. Hantstaengl, München
Maria
03
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GÖ
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Der schüchterne Freier
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
79
Züge hat Wenn der Deutsche den Rhein hinabfährt, dann wird die Sage, die geschichtliche Romantik
der Burgen, Dome und Klöster, dann wird die alte Zeit lebendig vor ihm und beseelt die Schönheit
der Landschaft; wenn der Lorelei-Felsen in Sicht kommt, spielt die Musik Heine’s wundersames Lied
und die Seelen zittern. An die Weser, die Saale, die Donau, den Main, den Bodensee, an die Alpen
knüpfen sich volksthümliche Weisen, welche bestimmte Stellen und bestimmte Geschehnisse verherr¬
lichen und einen eisernen Liederbestand aus der ideal gestimmten deutschen Studentenjugend nicht allein
bilden, sondern auch überall im weiten Vaterland in aller Munde sind. Mit dem Harz, dem Thüringer-
Alax Liebermann. Sonntag -Nachmittag in Laren
wald, dem Riesengebirge sind lebendige Sagen aller Art verknüpft, durch deren Medium das Volk
fast ausschliesslich in diese Landschaften schaut ; ich greife nach zufälliger Erinnerung heraus : Dieselbe
Erscheinung ist überall festzustellen. In der Mark Brandenburg hat jeder See fast seine Sage. Etwas
annähernd Aehnliches hat der Franzose ebensowenig als der Romane weiterhin, - der Deutsche
hängt sich auf’s Engste an einem Ort fest, — er rundet sein Bild zu einem tiefäugigen Bildniss ab
und beseelt es mit der Phantasie und der Empfindung, — er schafft sich überall einen genau indi-
vidualisirten genius loci. Hierin liegt auch das deutsche Landschaftsproblem be-
II 12
80
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Rudolf Bereny. Hans Thoma
William Schwill. Bildniss
gründet. Die deutsche Landschaft der Zukunft
ist gar nicht anders denkbar und wird sich nicht
dauernd behaupten können, solange sie nicht
auf diesem Hauptelement gegründet ist und
damit Fühlung zum Volk gewinnt. Damit soll
indessen nicht gesagt sein, dass Märchen- oder
Sagenstaffage mit der Landschaft verknüpft sein
müssten ; dieser Inhalt kann unausgesprochen in
der dargestellten Oertlichkeit liegen ; sie muss
ausgerundet und straff geformt dem Gefühl sagen,
was sich der Künstler in dieser Art voll Liebe
gedacht und empfunden hat, als er gerade diesen
Ort zur Darstellung wählte; sie wird dann immer
schöpferisch auf den Beschauer wirken. Man
hüte sich aber auch vor dem Trugschluss, als
wandele die moderne symbolistische Landschaft
auf diesem Wege. Sie hat in ihrer Formen¬
anschauung so wenig damit zu thun als mit
der Empfindung und dem geistigen Vor¬
stellungskreis, — sie ist lediglich eine das
Gegentheil vorstehende Nachahmung fran¬
zösischer Vorbilder.
Im vorigen Jahr wies ich auf den dies¬
mal fehlenden Palmie als einen Vertreter
entwickelungsfähiger Landschaftsauffassung
hin. Keller-Reutlingen als einer der
wenigen Zukunftsleute bei der Secession
wächst sich anscheinend mit seinen bayeri¬
schen Landstadt- Motiven mehr und mehr
dahin aus; er wirkt diesmal sehr erfreulich
in seiner stimmungsvollen «Abenddämerung»
über einem Flecken am Flussufer. Da ist
ein so zusammenofefasster Ausdruck mit einer
klug zurückhaltenden, fast möchte ich sagen :
überwundenen Technik, dass die Abend¬
poesie eines bestimmten Ortes fast rein
herauskommt und die Phantasie des Be¬
schauers in derselben Art , wie es die
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
81
Dämmerung draussen immer thut, lebendig macht. Im Glaspalast zeigt ähnliche Ansätze die im Ton
feine abendliche Wasserlandschaft von Canal, — sind ferner in verwandter Art Biese, Horadam
mit Kleinigkeiten, — Böhme mit einer im Wasser ausgezeichnet gemalten Marine, — ein ebenso
gut gemachtes Seestück von Völcker, dessen Parkteich bei Abend dagegen zu sehr nach Whistler
schielt, — der diesmal nicht wie gewohnt ausgezeichnete Kubierschky, — Stäbli mit einer ton¬
schweren, monumental empfundenen Waldlandschaft, — Georg Schuster-Woldan mit einem
gut gemachten und stimmungsvollen Waldinneren, — Marr’s kleines Ackerstück, — von Urban
Jacek Malczewski. Irrkreis
ein gross gesehenes und farbig sehr bemerkenswerthes Bild vom Nemisee mit seinen schroffen Felsen¬
ufern, — von Rabending ein sehr glücklich beleuchtetes und plastisch herauskommendes Gebirgs-
dorf, — von Tina Blau ansprechende kleine Motive, — schliesslich der alternde O. Achenbach
mit einer Parthie vom Nemisee, die immer noch durch Gluth der Farbe und hohes Können imponirt,
wenngleich es an innerer Kraft mangelt, besonders hervorzuheben. Die Worpsweder, von denen
Overbeck und Modersohn Einiges ausstellten, sind heuer nicht von Belang. Gerade sie, welche
auf gutem Grunde von Anschauung, Wollen und Können stehen, fangen an, manierirt zu erscheinen;
12*
82
DIE KUNST UNRESER ZEIT.
die Portraits von krummen Birken sind zu äusserlich
als Charakteristika der Worpsweder Moorlandschaft
betont und werden langweilig. Mögen die Herren
sich vor dem Verbauern hüten : die Isoliruno- allein
o
auf dem Lande thut’-s auf die Dauer nicht.
Unter den mehr in Hinsicht der formalen Lösung
bemerkenswerthen Arbeiten ist eine durch die Be¬
obachtung des zarten Lufttons in abendlicher Thau-
wetterlandschaf sehr ansprechende Dorflandschaft von
dem in neuerer Zeit wiederholt mit Betonung ge¬
nannten Bössenroth hervorzuheben. Auch die
grosse Moorlandschaft bei Sonnenuntergang an
schwülem Sonnabend von demselben Bössenroth
ist in der feinen, vibrirenden Beweglichkeit warmer
Töne eine Arbeit von zarter Empfindung und un¬
gewöhnlichem Können, dem man nur eine schärfere
Zusammenfassung des Ausdrucks, eine grössere In-
dividualisirung im oben entwickelten Sinne wünschen
möchte; ein frisches Temperament ist vorhanden und mit ihm ein ziemlich hohes Mass bewusster Herr¬
schaft über die Mittel ; bei energischer Vertiefung und Durchgeistigung ist dem Künstler ein dauernder
und ernsthafter Erfolg unschwer erreichbar. — Strützel mit einem heimkehrenden Taglöhnerpaar
und abendlich verschleierter Wiese dazu und einem zweiten Abendbild von kräftigerer Wirkung, —
desCoudres mit einem anmuthigen Waldabhang in rosiger Beleuchtung, — Bürgel, Fink, Hoch,
Wenglein, Andersen-Lundby mit trefflichen Stimmungsstücken in einheitlicher Tongebung, —
Peters en mit einem farbenkrältigen Meerbild sind weiterhin als Bilder von solider Darstellung und
runder Wirkung zu nennen.
Als Tonmalerei sehr bemerkenswerth wegen seiner ungewöhnlichen Feinheit ist Lieber’sBild
mit einer gut gemalten und geschickt am Horizont mit der Atmosphäre zusammengebrachten Seefläche,
— ist auch ein schmelzvoll behandelter Ausschnitt
vom Donauthal von M. A. König. Als gute Exer-
citien sind mir sonst noch Arends mit seinem Ge¬
müsegarten, bei dem Luft und Raum trefflich be¬
obachtet sind, sowie die Pastell- und Kohlenzeichnungen
von Georgi mit ihren perspektivischen Lösungen
aufgefallen. — — —
In Rücksicht auf den gegebenen Raum seien nur
kurz ein paar Künstler mit Stillleben und Blumen¬
stücken gestreift, welche zahlreich und vielfach auch
Walter Georgi. Wirthsgarten
Hugo Bürgel. Flusslandschaft
HauMju'Uw’l. München
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
83
Paul Hey. Vorfrühling
sehr vortrefflich, Dank alter Münchner Ueberlieferung , vorhanden sind; Nauen, Carstens,
Kricheldorf, Bassarab, Sturtzkopf haben Gutes ausgestellt, ohne dass sie alles Beste reprä-
sentirten. Es gibt daneben viele ansprechende Arbeiten. — — —
❖
Neben dem eigentlichen Münchner Künstlerkreis haben auch heuer wieder einige andere deutsche
Kunststädte im Glaspalast Sonderausstellungen veranstaltet. So Dresden. Die Dresdner Kunst¬
zustände sind eigen¬
tümlicher Natur.
Nach längerem un¬
fruchtbarem Zu¬
stand hat sich dort,
Dank der Herbei¬
ziehung von Prell,
Kühl, Wallot, Diez
ein lebhafteres
Kunsttreiben ent¬
wickelt, das sich in
der grossen Dresd¬
ner Kunstausstell¬
ung vor 2 Jahren
gespiegelt hat. Aber
schon auf dieser
Ausstellung trat zu
Tage, dass in den
Kreisen der jünge¬
ren Künstler und
Schüler dieser ge¬
nannten Meister sich
mehr und mehr eine
bedenkliche
Ernst Otto. Elche
Neig-
84
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ung zu gallisirender Experimentirmalerei mit kunstfeindlichem Charakter herausbildete. Heute ist auch
Dresden in der schnellen Zersetzung infolge von ungesunder Geistes- und Phantasierichtung beim Nach¬
wuchs begriffen . . . der Verfall geht auch dort um . . . die materiellen Folgen werden kaum aus-
bleiben ... die einst so lebhaft begonnene frische Entwickelung Dresdens zur Kunststadt wird sicher
gehemmt, da man lokale Kunstblüthen nur mit reifen Leistungen, nie mit talentvollen Experimenten
Pietschmann
mit 2 1 humenbild-
nissen von aus-
Kunstlage.
hervorrufen wird.
Der Dresdner
Saal ist ein treues
Abbild der Dresd¬
ner
Er zeigt eine
Reihe von an¬
sprechenden Ta¬
lenten, welche der
sächsiche Stam¬
meszug nach An-
muth einstweilen
noch vor dem
Aeussersten be¬
wahrt, die aber
doch fast insge-
sammt «Talmi¬
franzosen » und
gallisirende Maler,
keine Künstler
sind. Der Einzige,
welcher sich durch
Besonnenheit
wie durch Tiefe
der Begabung
daraus erhebt, ist
geklärter Feinheit
der Palette. -
Der Düssel¬
dorfer Saal zeigt
grosse Lücken
diesmal; ein neu¬
eres grosses Ge¬
richtsbild von
Br ütt sticht mehr
durch den feinen
Ton als durch
scharfe Charak¬
teristik hervor ;
Carl Sohn’s
« Festvorbereit-
zeigt
o
Gustav Eberlein. Goethe bei Betrachtung von Schiller’s Schädel
glatter und ge¬
schmackvoller
Malerei reizende
junge Damen
im Salon beim
Herrichten von
Blumenschmuck ;
Grimm’s «Begegnung der Margaretha von Parma mit flüchtigen kalvinischen Niederländern im Jahre
1567» ist eine in allen Einzelheiten ungemein anziehende und Begabung verrathende Schöpfung der
Gebhardtschule, geht als Bild aber nicht recht zusammen, — die Wirkung ist zerstreut.
Auch der zahlreich beschickte Berliner Saal macht keinen harmonischen Eindruck. Eine
kleine Handzeichnung von Menzel ist im Vorübergehn zu erwähnen; seines besten Schülers Skarbi na
«Allerseelen» verliert in dem nicht günstigen Licht sein Bestes, nämlich die feinen Töne und Ueber-
gänge; ein Triptychon von Engel: «Von der Waterkant» wirkt allzu illustrativ trotz seiner farbigen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
85
Ludwig Fahrenkrog. Träumerei
Talentirtheit ; etwas uneingeschränkt Erfreuliches sind hingegen zwei Damenbildnisse eines jüngeren
Malers, Karl Ziegler. Da ist ein Adel und eine nach Monumentalität ringende Feinheit der Auf¬
fassung, — da ist ein Geschmack der Farbe und eine malerische Schulung des Auges, — da ist ein
Seelenblick, der noch viel Gutes von dem Künstler verheisst. — — —
Das Ausland ist im Glaspalast diesmal nur zugelassen, —
eine Massregel, die durchaus zu loben und sachlich gerecht¬
fertigt ist. So zweckmässig es ist, in grösseren Pausen die aus¬
ländische Kunst reichlich und bedeutend den Künstlern vor
Augen zu stellen, um ihnen das Reife und Ernsthafte hoch¬
stehender fremder Leistung als Anregung zu bieten, — so be¬
denklich ist es, den Durchschnittsdeutschen in seiner Auslands¬
sucht durch j ähr 1 ic he Konkurrenz noch zu bestärken; denn das
wirkt bedenklich auf die wirthschaftliche Lage unserer Künstler
zurück, welche ein staatliches Ausstellungs-Unternehmen immer
im Auge haben muss, — das hat auch solche Geisterverwirrung
zur Folge, wie sie die Gegenwart leider in hohem Masse kenn¬
zeichnet. Ich weiss mich hierbei von iedem Chauvinismus völlig
Karl Zuglcr. Bildniss J °
SG
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Irei und habe meinestheils bedeutende Leistungen des Auslandes
noch stets rückhaltlos bewundert, sobald sie eben Kunstwerke
waren. Aber gegenüber der geradezu gewissenlosen, moralisch
verderbten, knechtischen Nachahmungssucht von Auslandsmoden
in gewissen Kunstkreisen bei uns muss immer wieder Front ge¬
macht werden. Pflicht und Klugheit gebieten dem Glaspalast, von
seiner Seite dem Auslandsthum so nachdrücklich zu steuern, als
es geht. Nur eine Kunst auf vaterländischer Grundlage und
mit dem lebendigen Erbtheil unserer Altvordern ist kultur¬
bildend, wie die ganze Geschichte lehrt, und nur sie macht die
stärksten Kräfte in einer Künstlerpersönlichkeit frei und fruchtbar
in reifen, grossen Thaten.
Die Auslandskunst ist bis auf ein paar unter den Münchener
hängende bessere Werke in den Auslandssälen selbst sehr
schwach und unbedeutend vertreten. Das Meiste dürfte zudem Kunsthändlerwaare sein, die einen
Markt sucht. Man kann sich mit wenigen Anführungen begnügen. Wesentlich im Stoff und daneben
schulgeschichtlich interessant ist ein Bild aus der älteren englischen Geschichtsmalerei mit ihren harten
Linien und ihrem bunten Kolorit, — nämlich Davidson s Scene aus der Schlacht bei Trafalgar,
vor deren Beginn Nelson von seinem Admiralschiff aus eben den berühmt gewordenen Befehl an
sein kampfbereites Geschwader signalisiren lässt : « England erwartet, dass Jedermann seine Schuldig¬
keit thue». Das ist mit vielen Figuren volksthümlich , maljournalistisch, ansprechend, wenn auch
ohne grössere künstlerische Gesichtspunkte behandelt Es sind auch noch ein paar weitere Bilder
verwandter Art vorhanden. — Als Thiermalerei sehr anerkennenswerth, wenn auch in der Formatgrösse
vergriffen, ist ein Bild von Curry, das Bernhardinerhunde auf verschneitem Pass als Retter einer ver¬
schütteten Familie schildert, — wegen seiner
feinen Anmuth in Auffassung und Behandlung
einer reizenden Mädchengestalt auf Frühlings¬
landschaft - Hintergrund ist schliesslich noch ein
Aquarell von Battaglia hervorzuheben.
* *
*
Die Bildhauerkunst kann wegen der
beschwerlichen und kostspieligen Versendung
ihrer Werke auf Ausstellungen in der Regel
immer nur lückenhaft vertreten sein; sehr grosse
Plastiken sind meist sogar nur am Ort ihres
Entstehens ausstellbar und man kann von etwaigen
Vorführungen dieser Art nicht immer mit Sicher-
Josef Huber. Lucifer
Alexander Koester. Märzabend
i_y
Oarl Oussow phi». pl'0'- F Hanfctteogl. München
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
87
heit auf die zeitweise Lage der Künstlerschaft auf diesem Gebiet schliessen. Die gegenwärtige Bild¬
hauerei ist mit einer Anzahl tüchtiger Könner in der That bedeutender, als die diesjährigen Münchener
Ausstellungen auch nur annähernd schliessen lassen. Klinger, Maison, Begas, Strasser fehlen beispiels¬
weise ganz und auch sonst ist von bedeutenden Leistungen nur bedingungsweise zu berichten. —
Eberlein hat eine grössere Zahl von Werken ausgestellt; er hat den französischen Chic, die
manierirte Nachahmung eines Pigalle, der er lange, freilich virtuos, nachging, anscheinend ganz ver¬
lassen und huldigt jetzt einer massvollen Realistik, wie sie hier eine treffliche Halbfigur «Goethe’s»
mit dem Schädel von Schiller in der Hand, dazu eine Darstellung «Bismarck’s» in sitzender nach-
Adolf Männchen. Auf der Landstrasse
denklicher Stellung, ferner auch eine in der Auffassung etwas vergriffene Gruppe von «Gottvater
und Adam» zeigt; eine wirkliche Rasse fehlt diesen Figuren freilich geradeso, wie einer Anzahl kleiner
Statuetten, die den Mythos vom ersten Menschenpaar behandeln. Der Künstler sucht hier Meunier’s
feines Gefühl für die Bewegung mit dem leidenschaftlichen Affekt von Sinding zu verbinden, ohne
dass es ihm glückt, mehr als eine gewisse Anmuth zu erreichen.
In guter Stilistik bieten sich Götz mit einer das «Drama» symbolisirenden Frauenbüste und
Rossi mit einer im conventionellen Sinne gut durchgeführten Sklavin-Figur dar; auch Lederer, der
neuerdings ein hübsches Talent in den Vordergrund rückte, ist ein selbstständiger Stilist in seiner
ii 13
90
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
unsere Techniker des Kunsthandwerks für sich zu gewinnen. Jetzt kam diesen doch noch zu Statten,
was sie bei den Alten gelernt hatten und sie arbeiteten congenial den erfindenden Künstlern in die
Hände, so dass wir heute, so spät wir auch an die Reihe kamen, den Meistern neuen Kunststils in
den oben genannten Ländern an Können nicht mehr nachstehen. Es fehlt freilich bei uns noch das
breite kaufkräftige Publikum für edle Werke der Zierkunst und dadurch haben unsere Schaffenden
noch nicht Raum genug, sich auszubreiten, nicht hinreichend grosse Aufgaben, an denen sie ihre Kräfte
stählen können. Aber dafür sind die neuen Formen überraschend schnell den Meistern jeder Branche
des Kunsthandwerks geläufig worden und wir haben alle Aussicht, dass bei uns der «neue Stil» bald
nicht mehr, wie in Frankreich ausschliesslich, ein «Stil der Reichen», sondern der Stil aller Leute
von gutem Geschmack sein wird. Wer sich ein Stück modernen Kunsthandwerks nach Hause tragen
will, kann für ein paar Mark eine hübsche Aschenschale oder einen gefälligen Zinnbecher haben, um
geringes Geld ein edelgeformtes Glas, eine Vase in schönfarbig glasirtem Thon oder ein Schmuck¬
stück von feinen Linien. Wenn sich die Sache noch ein paar Jahre so weiter entwickelt, so wird bald
der obligate Rokokosalon und das nicht minder obligate « altdeutsche » Speisezimmer aus den Braut¬
ausstattungen verschwunden sein und Möbeln neuen Stils Platz gemacht haben, eines Stils, der in
seinen besseren Erzeugnissen ja auch der Zweckmässigkeit mehr Rechnung trägt, als jene alter-
thümelnden Geräthe.
Was der Münchener Glaspalast an Werken des Kunsthandwerks heuer seinen Besuchern bietet,
geht über die Darbietungen des Vorjahres noch weit hinaus. Statt der dürftigen zwei Kabinette, die
den « Dekorativen » gnädigst in der hintersten Ecke des Ausstellungsbaues angewiesen waren, stehen
ihnen in diesem Jahre mehrere geräumige Gelasse zur Verfügung, die durchweg auch in ihrer archi¬
tektonischen Ausgestaltung als werthvolle Ausstellungsobjekte gelten müssen. Dazu ist der Kreis der
ausgestellten Gegenstände wesentlich erweitert und man kann wohl sagen, dass jedes Handwerk ver¬
treten ist, dessen Erzeugnisse naturgemäss künstlerische Ausgestaltung zulassen, und dass wir jedes
Material verarbeitet finden, bei dem diese Voraussetzung zutrifft.
Neben den Räumen, die ganz den «Modernen» gehören und auch in ihrer Architektur diesem
Zwecke angepasst sind , haben die Gewaltigen des Glaspalastes noch etliche Säle und Gelasse her-
stellen lassen , die « blos schön » schlechtweg sind und weder mit neuen noch mit alten Zwecken
des Ausstellungsbaues etwas zu thun haben. Da ist z. B. ein Höfchen in reichem Renaissance¬
geschmack nach Motiven aus einem Hofe im berühmten Fuggerhause zu Augsburg von Friedrich
von Thiersch eingerichtet, mit einer von wildem Wein überzogenen Pergola, Wandmalereien, einem
plätscherndem Brunnen, Blumen, Vasen und Terracottafiguren. Ein vornehm lauschiges Eckchen aus
einem Patrizierheim, in dem man sich wohl in eine vergangene Welt zurückträumen könnte, ersetzten
nicht schmutzige Glasplatten und ein Gewirr von eisernem Sparrenwerk oben den lieben Himmel!
Vollkommenere Illusion noch weckt der «Römische Wohnraum» von Emanuel Seidl, eine ebenso
geistvolle als behagliche und ästhetisch schöne Rekonstruktion, der zur vollendeten Täuschung der
Einbildungskraft nichts fehlt, als die richtige Staffage. Wenn in dem eigenartigen Broncesessel eine
weissärmige Römerin sässe, der köstlichen Kühle geniessend, die der Marmorboden ausströmt und
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
91
der plätschernde Brunnen — es wäre ein Idyll aus der Cäsarenzeit, das nicht zu überbieten wäre.
So aber trippeln katalogbewaffnete Engländerinnen über den Mosaikstern des Bodens und tappen mit
den Fingern an den Wänden, um zu erkunden, ob’s Wirklichkeit ist, oder «Imitäschn». Es ist Beides
sozusagen, Gyps und Marmor, alte Motive und Nachgefühltes. Nachgefühltes, nichts Nachgebildetes,
daher der künstlerische Charakter des Ganzen, der aus dem Raume weit mehr macht, als ein Meister¬
stück der auf diesen Gebieten hochentwickelten Geschicklichkeit der Münchener Stukkateure. Antiker
Schmuck und diskret auf Tischen und Stellagen vertheiltes Prunkgeräth, darunter eine feine silberne
Weinkanne von Theodor Heiden verleihen
dem römischen Wohnraum auch den Ein¬
druck wirklicher Wohnlichkeit.
Einen hohen, gothischen Saal, der an
sich sehr stattlich und würdig ist, aber dem
Eintretenden ein unlösbares «Warum?» und
«Wozu?» entgegenruft, haben die Archi¬
tekten K. Hocheder und Paul Pfann aus¬
gestattet. In diesem Raum ist kunterbunt
das Heterogenste zusammengetragen, ultra¬
modern-antiknordische Gobelinmöbel von
Walter Leistikow, gothisches Kirchen-
geräth, ein alter Harnisch, neuartige und
orientalische Teppiche, Gypsabgüsse, Archi¬
tekturmodelle und Pläne, neue Renaissance¬
möbel, die genau so künstlich sind, wie
die alten, nur nicht so kunstvoll, neue
Stickereien, alte Fahnen, ein Majolika-Kamin.
Grabplatten — das Ganze wirkt eigentlich
als prächtige Verdeutlichung der babylo¬
nischen Verwirrung, die bei uns bis dato
in den dekorativen Künsten herrschte. So
viel Stile und kein Stil!
Einer der freundlichsten und harmonischsten Räume im Glaspalast ist dagegen das Kabinet
No. 29, der — nicht blos nach dem Katalog! — den Charakter eines wohnlichen Zimmers trägt.
Dieses ist in einem verfeinerten Biedermeier-Stil orehalten, ein Werk aus einem Guss: Möbel aus licht-
gelbem Holz mit Ebenholzeinlagen und Verzierungen, eine Moireetapete in mattem Grün, Kamin, Hänge¬
lampe u. s. w. aus blankem glatten Messing, einem Material, das glücklicherweise wieder in Mode
kommt und hoffentlich bald das ordinäre und fast immer in den Formen stumpfe und rohe «Cuivre
poli» verdrängt hat. Prächtig dieser Kamin mit seinem funkelnden, sauber ausgeschnittenen Messing¬
mantel, prächtig, auch in der Arbeit, diese freundlichen, hellgelben Möbel (von den Architekten
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 24, entworfen und eingerichtet von Architekt
Marlin Dülfer- München
92
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Helbig und Heiger entworfen, von A. Pössenbacher ausgeführt)! Sehr originell ist das Pianino,
aus gleichem Holz gearbeitet wie die Möbel und mit einem in Messingblech getriebenen Figurenfries
verziert. Weniger glücklich an diesem Stück wirkt der «eingelegte» Richard Wagner. Der Raum
ist bis ins letzte Detail stilgetreu gehalten, bis zum Stück der Decke, bis auf das Geschirr im Glas¬
schrank. Erfreulich ist dieses ganze gelungene Ensemble nicht blos durch die Schönheit der Arbeit
und die gefällige Wirkung, sondern auch als Beispiel dafür, wie wir heute einen vergangenen Stil
verstehen und weiterbilden gelernt haben. Wir aber schreiben nicht mehr ab, wir übersetzen auch
nicht mehr, wir denken in der anderen Sprache! Das Stilschema, das uns in den verflossenen Jahr¬
zehnten Alles war, ist uns heute nur mehr, was dem Schreibenden die Grammatik ist : das Kunstwerk
beginnt erst mit der freien Handhabung dieser Sprache !
Betrachten wir die ausgesprochen « modernen » Werke des Kunsthandwerks genauer, so finden
wir nicht ohne Ueberraschung, dass auch hier oft gerade das Beste einer Weiterentfaltung vorhandener
Kunstformen seine Entstehung verdankt. Und zwar sind namentlich reichliche gothische Elemente im
neuen dekorativen Stil zu entdecken, ohne dass aber Jemand daran denken könnte, die betreffenden
Objekte als gothisch zu bezeichnen. Aber der Geist dieses herrlichen, unserm innersten germanischen
Wesen entsprungenen Stils lebt in den neuen Formen, der Geist, nicht das Cliche, das vordem Alles
war. Die Fröhlichkeit, der unerschöpfliche Reichthum, die freie, künstlerische Phantastik der Gothik
wird wieder wach, ihre Meisterschaft, die Naturformen in den Rahmen ihrer Gesetzmässigkeit zu
bringen ohne Zwang und Gewaltthätigkeit, ihre gesunde Realistik, ihr Linienadel und ihr Humor. Es
ist freilich die lebenswarme Gothik des Strassburger Münsters und nicht die todte des Kölner Doms,
die da — Vielen unbewusst! — zu Gevatter gestanden hat. Manche sehen auch eine Gefahr für
den neuen Stil in dieser Verwandtschaft, aber, wie mich dünkt, mit Unrecht. Jeder Stil ist aus einem
früheren entwickelt und wenn wir das ganze, Jahrhunderte währende Intermezzo der gewaltsam wieder¬
belebten Antike aus unserer Stilentwicklung ausschalten, kommen wir ganz naturgemäss dazu, auf der
Gothik weiterzubauen.
Wie nahe die letztere übrigens dem modernen Geschmacke steht, beweisen etliche der präch¬
tigsten Stücke der Ausstellung, Arbeiten Fritz v. Miller’s, die in rein gothischen Formen gehalten,
sich doch dem Ensemble der modernen Kunstsachen in dem wunderschönen Raum No. 26 vorzüglich
einfügen. Miller hat, wie Wenige, ein Auge für die Grazie der Gothik und zeigt dies namentlich in
dem zierlichen Kettenwerk und Beschläg des Steinbockgehörns mit dem realistisch gearbeiteten ver¬
goldeten Silberschädel. Ein Prunkstück von hoher Originalität ist der von dem gleichen Meister —
dies anspruchsvolle Wort darf man hier wohl gebrauchen — ausgestellter, aus einem Steinbockhorn
gebildeter Fisch, ein Hecht, dessen Kopf, Schwanz, Flossen und einzelne Schuppen aus vergoldetem
Silber angefügt sind. Den Sockel bildet ein mächtiger Klotz Bergkrystall in Silbertassung, an dem
eine fein emaillirte Wasserjungfer gaukelt. Ein «Myrthenbecher», reich an entzückenden Details, ein
Galle-Glas, mit einer emaillirten Lazerte montirt, sind von gleicher Hand. Das sind freilich Stücke,
die fast nur für fürstliche Mittel erreichbar sind Der breiteren Menge der Leute von gutem Geschmack
zugänglich sind die Zinnsachen von K. Gross (ausgetührt von L. Lichtinger) hier. Vom einfachen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
93
Becherlein bis zur werthvollen, schweren Bowle sind hier alle erdenklichen Gefässe zu sehen, Flaschen
und Krüge, Weinkühler, Teller und Schalen, Alles neuartig in seiner Form, oder doch neuartig aus
alten Formen entwickelt. Gar vielerlei ist im Grunde gothisch, die flaschenartigen Vasen erinnern an
ältere japanische Broncen, — aber Alles trägt den Stempel der «neuen Kunst». Namentlich die
Behandlungsart des Zinns, die den edlen, feinen Glanz des sympathischen Metalls in seine Rechte
einsetzt und das geschmeidige Material mit dem Hammer treibt, statt es in bekannter Art in schablonen¬
hafte Forme zu giessen, namentlich diese Technik ist freudigst willkommen zu heissen. Die Haupt¬
formen der Geräthe sind getrieben , nur
nebensächlichere Ziertheile sind durch Guss,
feine Linienornamente durch Graviren her¬
gestellt. Freudig begrüssen wir dieses vor¬
nehme Zinngeräth aber auch darum, weil
es so recht darnach angethan ist, das Ver¬
ständnis für die angedeuteten Bestreb¬
ungen in weitere Kreise zu tragen. Recht
Hübsches findet sich auch unter den —
offenbar gegossenen — Edel- Zinnsachen
von F. H. Schmitz (Köln).
Auch für Kupfer -Treibarbeit sind schon
seit dem letzten Jahre neue, reizolle Formen
und ebenfalls neue, schöne Farbenwirkungen
gefunden. Die Sachen von J.Winh art & Cie.,
Wilhelm und Lind, nach Entwürfen von
H. Kellner, von Berlepsch und Anderen
gearbeitet, Kannen, Vasen, Cachepots,
Krüge und Kühlgefässe und noch manches
Andere, erfreuen das Auge durch edle
Grundformen ebensosehr, wie durch dis¬
krete und eigenartige Ornamentik und
schöne Farben. Denn auch die letzteren
spielen jetzt hier bei den Kupfergeräthen eine Rolle; man hat — wohl zum Theil bei den Japanern —
gelernt, dem Kupfer geschmackvolle neue Farben und Patinen zu geben, man arbeitet es vielfach
mit Bronce und anderen Metallen zusammen und erzielt so reiche Wirkungen. Bald gibt ein schönes,
warmes Braunroth den Grundton, bald ein gleichmässiges Patinagrün, bald auch ein tiefes Schwarz
und davon heben sich goldgelbe Broncebeschläge oder blanke Schmiedeeisengestelle prächtig ab.
Zu den gelungensten Stücken dieser Sparte zählen auch ein Theeservice von Eugen Berner mit
Mistelmotiv, einige Vasen von Schmuz-Baudiss, an denen japanische Metalllegirungen verschiedener
Art äusserst geschmackvoll zur Dekoration angewandt sind und die hübschen kleineren Sachen von
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 25, entworfen und eingerichtet von Architekt
Theodor Fischer- München
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Steinicken und Lohr. Die letztere Firma stellt auch einen höchst originellen Schirmständer, in
Messing und Eisen geschmiedet, aus, ein Stück, das beweist, wie mit liebevollem Erfindergeist die
neuen Zierkünstler sich auch des unscheinbarsten Hausgeräthes annehmen. Letzteres zeigt sich auch in
den vortrefflich erfundenen Gardinenstangenhaltern von R. Riemerschmid. Eine Reihe der Künstler
hat sich mit Beleuchtungskörpern für elektrisches Licht beschäftigt und es ist ihnen überraschend
gelungen, himmelweit weg von allem Herkömmlichen das Schöne zu finden; eine Beleuchtungsart, wie
die Glühlampe, die dem Musterzeichner absolut keine technischen Beschränkungen auferlegt, muss ihm
ja auch Gelegenheit zur reichsten Entfaltung seiner Phantasie bieten. Wir nennen die Arbeiten von
Eugen Berner, Richard Riemerschmid, Otto Eckmann, Wilhelm und Lind. Gerade diese
Sachen illustriren das Bestehen eines Bedürfnisses nach neuem Stil, zeigen, wie mit dem Bedürfniss
auch die Mittel entstehen, es zu befriedigen und wie die Sache selbst, für welche diese Mittel ersonnen
sind, zum Schmuck für das Ganze wird. Gerade auf dem Gebiet der Nutzbarmachung der Elektrizität,
die so viel praktische Fortschritte mit sich bringt, liegen auch tausend Quellen für das Schöne. In
diese Gruppe gehört auch ein Kamin für Gasheizung von Wilhelm Bertsch — dem Architekten
des ganzen Raumes No. 26. Gerade diese praktischen Gaskamine schreckten bisher Manchen ab
wegen ihrer maschinellen Hässlichkeit — hier ist gezeigt, dass sich die Einrichtung zum Mindesten
so behaglich gestalten lässt, wie die vornehme und unbequeme «Cheminee».
Im Allgemeinen — eine Anzahl sehr gediegener Arbeiten auf dieser Ausstellung ändern daran
nichts — hat die Goldschmiedekunst bei uns verhältnissmässig bis jetzt am Wenigsten vom «neuen Stil»
profitirt. Woran dies liegen mag, ist nicht ganz klar — vielleicht zunächst daran, dass Schöpfungen
in den alleredelsten Materialien naturgemäss ein kaufkräftigeres Publikum voraussetzen, als wir es
haben. Und dann ist gerade das kautkräftigste Publikum sehr konservativ und am Wenigsten tolerant
gegen die Launen des erfindenden Künstlers. Hier in München stellt ausser Fritz von Miller auch
August Offterdinger (Hanau) geschmackvolles Silbergeräth aus, Ziergefässe und Vasen, zum Theil
von reichbewegten, echt modernen Formen. Paul Merk lässt uns einige Vitrinen mit Schmuck sehen,
wobei auffallender Weise die kostbarsten Stücke an Grazie und Mannigfaltigkeit der Form von den
einfacheren weit überboten werden. Es ist als könnten sich die Zeichner nur schwer entschliessen,
kostbare Steine dem Eindruck des Ganzen unterzuordnen, sie als Zierath anzuwenden — fast immer
erscheinen sie als Hauptsachen und das Uebrige als Fassung. Wir können auch hier von den Alten
lernen — sie besetzten ihre Schmuckstücke mit Edelgestein und wollten nicht blos ihre Edelsteine
durch die Folie der Goldschmiedarbeit heben. Als werthvolle grössere Stücke sind hier noch zu nennen:
o
die etwas zu absichtlich gothisirende und für ein Gebrauchsstück zu komplizirte Tischglocke von
Blachian, die beiden einfach-schönen Sektschalen von Theodor Heiden, ein «Bierpokal» und ein
zierlicher Aufsatz von Max Strobl. Max Rothmüller bringt gefällige kleinere Schmucksachen.
Durchaus moderne Form hat Hermann Hirzel (Berlin) seinen in den «Vereinigten Werkstätten»
hier ausgeführten Schmucksachen, meist Brochen , gegeben und es ist manches Schöne, aber auch
manches Gewaltsame darunter. Das bemerken wir — selbstverständlich ! — ja noch bei vielen der
ausgestellten Arbeiten mit Missbehagen , dass sie allzu laut schreien : « Ich bin modern ! Ich bin
O'
Copyright 1898 by Kraut Haufstaengl
Franz Slmna plnx.
Copyright 189S by Franz Hantstnengl
Unschlüssig
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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originell ! » Aber das sind Dinge, die man in den Flegeljahren eines neuen Stils eben mit in den Kauf
nehmen muss. Als durchaus vornehmes, erstklassiges Stück muss der schöne Silberpokal nebst Teller,
mit einem Lorbeermotiv dekorirt, bezeichnet werden, den Steinicken und Lohr ausgestellt haben.
Das ist «modern» ohne jede Aufdringlichkeit und schön ohne «Tendenz». Nicht unerwähnt bleiben
dürfen die weich und anmuthig modellirten Medaillen meist wohl französischen Ursprungs, die in einem
Glaskästchen ausgestellt sind.
Mit aufrichtiger Befriedigung kann der Kunstfreund auf die Mannigfaltigkeit der Formen sehen,
die an den ausgestellten Möbeln auffällt. In der Wahl und Zusammenstellung der Holzarten, dem
Schmuck durch Beschläge, in dem Bestreben,
das Zweckmässige mit dem Schönen zu
vereinigen — eigentlich ist das Letztere ja
die Hauptparole der ganzen, in Rede stehen¬
den Bestrebungen — in der, meist glücklich
realisirten Absicht, einfach und vornehm zu
sein und auch die kleinste Zuthat nicht der
künstlerischen Fürsorge des Erfinders ent¬
gehen zu lassen, zeigt sich hier ein ganz
unerschöpflicher Reichthum von Phantasie
und Können. Bernhard Pankok, einer
der feinsinnigsten Münchener Stilisten, der
auch für den Buchschmuck viele wirksame
und durchgeistigte Arbeiten schon geleistet
hat, der vielseitige Richard Riemer-
schmid, Martin Dülfer, der Architekt
der Kabinette 24 und 25, L. Hohlwein,
Bernhard Wenig, F. X. Wagner, sie
Alle haben Stücke zur Ausstellung geliefert,
die höchster Beachtung werth sind. Auf
. , keinem Gebiete des Handwerks war wohl
Aus Raum No. 26, ausgelührt nach Angabe des Architekten
Wilhelm Bartsch- München noch vor Kurzem so kläglicher Schlendrian
zu beklagen, wie auf dem der Kunsttischlerei. Was nicht sklavische Nachbildung alter Form war,
war sinn- und stillose Arbeit nach schlechten Musterbüchern, ans Erfinden dachte kein Mensch.
Und nun sehen wir, dass sich nirgends so Mannigfaltiges erfinden lässt, wie hier! Und noch eins:
hier ist vielleicht der Punkt, an dem eine Popularisirung des «neuen Stils» erspriesslich einsetzen
kann. Das Allereinfachste kann schön sein im neuen Sinn, der schlichteste Holzstuhl, das bescheidenste
Schränkchen. Und Nichts braucht theurer zu werden, als es bisher war — wenn wir überhaupt von
solider Arbeit reden. Jetzt sind die Preise für modernes Kunstgeräth vielfach noch unverhältniss-
mässiof hoch, weil von vorneherein nur auf einen beschränkten Absatz, weil nur auf wohlhabende Käufer
o 7
II 14
96
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
gerechnet war. In Zukunft wird man sich auch damit beschäftigen müssen, die Verkaufswaare der
bescheideneren Werkstätten auch mit in den Bereich des eben errungenen Kunststils zu ziehen. Warum
soll ein Stuhl, der zehn oder zwölf Mark kostet, nicht auch von guter Form sein können, da die
gute Form vielfach durchaus kein Plus an Arbeit bedingt? Eins allerdings bedingt dieser Stil: saubere,
liebevolle Ausführung. Für den Winkelschreiner, der gewohnt ist, jedes Stückchen Zierwerk fertig in
einem Spezialgeschält zu kaufen und seinen formlosen Kasten aufzuleimen, ist hier nichts zu suchen.
Aber der kleinste Handwerksmeister, der Lust und Liebe zur Sache und geschickte Hände hat, kann
jetzt Gelegenheit finden, emporzukommen, wenn er mit seiner Zeit geht.
H. E. v. Berlepsch, der einer der Thätigsten der Kunst im Handwerk geworden ist, hat
zwei Kabinette eingerichtet, die auch als Muster neuzeitlicher Innendekoration in jeder Beziehung Lobes
werth sind. Ganz besonders aber interessiren uns die nach seinen Entwürfen auso-eführten Möbel der
Firma Buyten und Söhne, Düsseldorf. Es sind Holz- und Polstermöbel von noblen Formen, geziert
hauptsächlich durch Einsätze von schönmaserigem Holz, das durch ein neues Verfahren (Xylektypom)
so bearbeitet ist, dass die Zeichnungen der Maserung etwas vertieft, aber in scharfem Relief zu Tage
treten. Bei einem Th eil dieser Füllungen liegt auch ein flaches Pflanzenornament auf dem gemaserten
Hintergründe. Es handelt sich offenbar um eine Art von Aetzung, welche die weicheren oder beim
Aetzen nicht durch Firniss geschützten Theile der Holzplatte wegnimmt, die Theile von festerer
Struktur oder die abgedeckten Zeichnungen aber stehen lässt. Auch reich dekorirtes Kupfergeräth
in diesen Räumen ist nach Berlepsch’ Entwürfen getrieben und von ihm stammt auch eine Serie sehr
instruktiver Pflanzenstudien für Ornamentzwecke in einer Vitrine.
Wenden wir uns nun, der Uebersichtlichkeit halber die ausgestellten Schätze in Gruppen zu¬
sammenfassend, zu den Stickereien, so muss wohl in erster Linie der Name Hermann Obrist’s genannt
werden. Er hat die Malerei mit der Nadel, ein Gebiet, auf dem die ödeste Dilettanterei gang und
gäbe war, zur reinen Kunst erhoben, zu einem Ding, das fein genug ist, Selbstzweck zu sein. Er ist
der Zarteste, Sensitivste unter unsern modernen Ornamentikern und Frl. C. Ruch et, die seine Ent¬
würfe in Nadelmalereien umsetzt, darf nahezu als ihm congenial gelten, so hoch erhebt sich ihre
Fertigkeit über alles Handwerksmässige. Das Kissen mit dem rothen Umbelliferenmotiv aut grünem
Moire, das dreieckige Kissen, das weisse Blatt mit den dunklen, wunderbar bewegten Haferähren —
das sind Meisterstücke. Auch P ankok hat für ein seidenes Kissen den gelungenen Entwurf geliefert,
Peter Behrens, der auch durch dekorative Buntholzschnitte ehrenvoll vertreten ist, Entwürfe tür
einfache, aber sehr gut wirkende Knüpfteppiche, Bruno Paul die Zeichnung zu grossen Vorhängen,
deren geistreich erdachte Technik darin besteht, dass schwarze Seidenlitzen auf blaues Uniformtuch
aufgenäht sind. S. Meinhold arbeitet mit Erfolg im Geiste Obrist’s, M. Behmer lässt uns die
Anwendung des neuen Stils auf die Leinenstickerei sehen. In ihrer Erfindung von eigentümlich
naiver Künstlichkeit und sehr geschmackvoll sind die mikroskopisch zarten Stickereien von Ein-
gebornen Südamerikas, die Konsul W. Körte uns vorführt. E. Erber, L. M. Riess, Prinzessin
Cantacuzene, A. Naue u. A. mit ihren Stickereien verschiedenster Art wären ebenfalls mit Aus¬
zeichnung zu nennen. Otto Ubbelohde hat einen Wandschirm in Gobelinimitation ausgeführt,
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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der allerhand Nachtgevögel mit ebensoviel Stimmung als Farbenschönheit und zeichnerischem Ge¬
schick zur Darstellung bringt.
Sehr Gutes leistet speziell Süddeutschland auf dem Gebiete der Keramik und zwar sind auch
hier zahlreiche « neue Techniken » zu bewundern. Da sind die mannigfaltigen Krüge und Blumentöpfe
der Familie von Heid er (München) mit ihren koloristisch so reizvollen Glasuren und ihrem vornehm
einfachen Dekor, da sind Schmuz -Baudiss’ keramische Kabinetsstückchen, in denen die einfachste
Töpferarbeit raffinirt zu künstlerischer Vollendung gesteigert ist, da sind die süperben Geräthe aus
glasirtem Thon, die Frau E. Schmidt-
Pecht (Constanz) mit seltener Formen¬
phantasie und konsequentem Stilgefühl
fertigt, da sind die prächtigen Porzellan¬
malereien von M. Rossbach, die Vasen
von Max Lau ge r (Karlsruhe) und vieles
Andere. Glasgefässe sind im Glaspalast
merkwürdig wenig, wenn auch nur in
guten Stücken vertreten ; zu diesen zählen
die Ziergläser von F. A. O. und Paul
Krüger (München) und die Nachbildungen
irisirender altrömischer Glasgefässe von
FriedrichZitzmann (Wiesbaden). Auf
sehr hoher Stufe stehen die Glasmosaik¬
bilder nach dem Muster und wohl auch
zum guten Theil mit dem Material der
bekannten Tiffanyfenster ausgeführt von
Karl Ule in München und Karl Engel¬
brecht in Hamburg, welch’ Letzter einen
unschätzbaren Helfer in dem in Paris
lebenden Maler Christiansen besitzt.
Diese Glasbilder sind ohne Zuhülfenahme
des Pinsels aus mannigfaltig gefärbten,
opalisirenden und glatten, dicken und dünnen, gewellten_und gekörnten Glasplatten zusammengesetzt
und übertreffen in ihrer ungebrochenen Leuchtkraft und starken Zierwirkung alle Glasmalereien alten
Stils. Der beschränkte Raum gestattete uns hier kaum, auch nur das Hauptsächlichste zu erwähnen
und es mag so Manches ungenannt geblieben sein, was verdient hätte, mit in erster Reihe zu stehen.
In der Jahresausstellung der «Secession», welche heuer zum ersten Male König Ludwigs I.
prachtvoller korinthischer Tempel am Königsplatze aufgenommen hat, spielt, wie es bei dem beschränkten
Raum gar nicht anders sein kann, das Kunstgewerbe nur eine nebensächlichere Rolle, wenn auch unter
dem Wenigen, was zu sehen ist, gerade ganz hervorragende Sachen sich befinden. Im Vordergrund
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 29, entworfen und eingerichtet von den Architekten
Hclbig und Haiger- München
98
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
des Interesses stehen wohl die bekannten Gläser von Galle und Tiffany. Der Erstere, der seinen mit
ganz unbeschreiblicher Pracht und Schönheit gefärbten Gläsern nebenbei auch tiefsymbolische Bedeutung
zu geben versucht und sie mit sinnigen und übersinnigen goldenen Inschriften schmückt, behandelt
seine bunten, überfangenen und immer wieder auf’s Neue durch aufgetragene Pasten bereicherten
Gläser etwa wie Onyx oder Achatblöcke und schneidet Gemmen daraus, wahre Wunderwerke der
Technik, des Geschmacks und der Geduld. Bei Tiffany ist die eigentliche Arbeit des Glasbläsers
einfach und die Formen sind es nicht minder. Aber das Material ist mit so fabelhafter Virtuosität
gefertigt, dass das Glas selber zum Edelstein wird. Eine beispiellose Geschicklichkeit im Hervorrufen
von Absichtlichkeiten und Zufälligkeiten, ein geistvolles Ausnützen der chemischen und physikalischen
Gesetze ermöglichen es Tiffany, seinen Geräthen die farbenreichsten Muster zu verleihen; das irisirt
in allen Farbenskalen, Plauenfedermuster durchziehen das Glas, Metallglanz ziert es — es ist als seien
Opale geschmolzen und von der Pfeife des Glasbläsers zu Geräthen geformt. Die Preise der Sachen
entsprechen freilich ihrer Kunstfertigkeit vollauf.
Mannigfaltiger ist die Kollektion des Belgiers Philipp Wo 1 fers (Brüssel). Er verbindet
Elephantenzähne mit Bronce oder vergoldetem Silber, oder Gläser der Galle’schen Technik ebenfalls
mit Silberguss, dessen Vergoldung zum Theil wieder durchgeputzt ist, er giesst in Zinn und Bronce.
Vieles von seinen Arbeiten gehört eigentlich in’s Gebiet der Kleinplastik. Das gilt auch von dem
«Standspiegel« von E. M. Geyger in Florenz, der so unbeschreiblich fein ausgearbeitet ist, dass er
fast eine Radirung in Metall heissen könnte. Feiner Kunst, aber kaum dem «Handwerk» gelten die
eminent weich und anmuthig modellirten Leuchter, Aschenbecher, Rahmen, Bonbonnieren u. s. w., die
P. M. Dubois für Zinnguss modellirt hat. Dies Alles ist, wie auch die Sachen von Charpentier
im Glaspalast, nur äusserlich einem praktischen Zweck angepasst, während die Mehrzahl der deutschen
Arbeiten, die wir aufzählten, dazu angethan sind, uns das Schöne thatsächlich in den Gegenständen
des täglichen Gebrauchs in die Hand zu geben. Mehr in letzterem Sinne gearbeitet ist ein Salzgefäss
und ein aus den verschiedenartigsten edlen Materialien sehr graziös gearbeiteter Becher von Henri
Nocque in Paris.
Alles in Allem: wir sind auf gutem Wege, durch die Leistungen unserer für dekorative Zwecke
arbeitenden Künstler einen Stil zu finden und zu fixiren, der die Zeit um das Jahrhundertende für die
Nachwelt in würdiger Weise kennzeichnet und unser voller Dank gebührt allen Denen, die daran
weiterbauen.
Otto Strtttzel piux.
Phot. F. Haufctaengl, München
Am Kanal
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