ICUNST •,
UNSERER
ZEIT
EINE CHRONIK DES
v/A°DERNEN KUNSTLEBENSä?
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DIE
KUNST UNSERER ZEIT
EINE CHRONIK
DES
MODERNEN KUNSTLEBENS.
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IX
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MÜNCHEN.
FRANZ HANFSTAENGL
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
E. MÜHLTHALER'S KGL. HOF-BUCH- UND KUNSTDRUCKEREI.
Inhalts-Angabe.
1898. II. HALBBAND.
Literarischer Theil
Seite
Gurlitt, Cornelius. Walter Crane I
Meissner, P^anz Hermann. Die Münchener Jahres-
Ausstelkmgen von 1898 47
Seite
Rotten bürg, Heinrich. Benjamin Vautier . . . 29
— Das Kunsthandwerk auf den Miinchener Aus-
stellungen 1898 89
Vollbilder
Seite
Corinth, Louis. Versuchung 82
Crane, Walter. Mandelbäume, Monte pincio Rom 4
— Fries, das Skelett in Rüstung 5
— Amor vincit omnia 8
— Der Triumph des Frühlings 9
— Europa 12
— Der Wettlauf der Stunden und Ormuzd und
Ahriman 13
— La belle dame sans merci 16
— Die Brücke des Lebens 17
— Englands Emblem 20
— In des Schicksals Buch 21
— Die Schwanenjungfrauen 24
— Die Wasserlilie 25
— In den Wolken 28
— Pegasus ^ 29
V. Defr egger, F. Kraftprobe 55
Echtler, Adolf. Maria 78
Gussow, Carl. Dorfparzen 86
Höcker, Paul. Der schüchterne Freier .... 78
V. Kanal, Gilbert. Niederländisches Gehöft . . 79
Seile
V. Kaulbach, F. A. Fiau von Kaulbach ... 54
V. Lenbach, F. Erica und Marion Lenbach . . 50
— Bildniss 51
V. Löfftz, L. Orpheus und Euridike 58
Marr, Carl. Madonna 78
Nonne nbruch, M. Verklärung . 62
Rau, Emil. Die Kaiserin kommt, juchhe .... 86
Rouband, P'ranz. Die Russen vor Kars .... 82
Schuster-Woldan, Rafael. Die Malerin ... 70
— Georg. Der getreue Eckart 71
Simm, h^ranz. Unschlüssig 94
Stuck, Franz. Pallas Athene 59
Strützel, Otto. Am Kanal 98
Thedy, Max. Adoratio crucis 94
Vautier, Benjamin. Aufforderung zum Tanz . . 32
— Besuch der Neuvermählten 33
— Unfreiwillige Beichte 36
— Die entzweiten Schachspieler 37
— Bauern vor Gericht 46
— Eine Verhaftung 47
Textbilder
Seite
Becker, Carl. Abend an der Nordsee. ... 71
Beggrow Hartmann, Olga. Idylle 74
Bereny, Rudolf. Hans Thema 80
Bert seh, Wilhelm. Interieur 95
Seite
Böninger, Robert. Idyll 64
Bössenroth, Carl. Mondaufgang im Moos . . 50
Bürgel, Hugo. Flusslandschaft 82
Comp ton, Edward T. Neuschnee im Höllenthal 49
V. Bochmann, Gregor. Nordwyker Muschelkarren 73 Crane, Walter. Studien und Skizzen. . . . i — 28
Böhme, Carl. Scirocco, Motiv von Capri . . 69 I Curry, Robert J. Gerettet •]•]
Seilt
Dülfer, Martin. Interieur 91
Eberlein, Gustav. Gothe bei Betrachtung von
Schiiler's Schädel 84
Esser, Theodor. Lustige Nacht 52
Fahrenkrog, Ludwig. Träumerei 85
Falkenberg, Richard. Ophelia 67
Fink, August. Winterlandschaft an der Isar bei
Freising 53
Fischer, Theodor. Interieur 93
Georgi, Walter. Wirthsgarten 82
Graessel, Franz. Enten 62
Grocholski, Stanislaus. Verlangen 66
Gysis, Nicolaus. Studienkopf 60
Hart mann, Richard. Schiilerszene(Goethe's Faust) 72
Heibig und Haiger. Interieur 97
Hey, Paul. Vorfrühling 83
Huber, Josef. Luzifer 86 I
Hynais, Adalbert Studie 47, 58
Kiesel, Conrad. Damenbildniss 56
Koester, Alexander. Märzabend 86
Kubierschky, Erich. Abendlandschaft .... 68
Landsinger, Siegmund. Quellnymphe .... 75
Lau p heimer, Anton. In Ferien 57
Liebermann, Max. Sonntag Nachmittag in Laren 79 j
Seite
Männchen, Adolf. Auf der Landstrassc ... 87
Malczewsky, Jacek. Irrkreis Si
Messerschmidt, Pius Ferd. Heimfahrt . . . y6
Mo est, Hermann. Das Loos des Schönen ... 61
Montemezzo, Anton. Leckerbissen 62
Munk, Eugenie. Pierrot 54
Otto, Ernst. Elche 83
Peck, Orrin. Kohlkrautgarten 59
Petersen, Hans. Hochsee 48
Prophet er, Otto. Bildniss des Professors Ferd.
Keller 70
Rabending, Fritz. Aus Tirol 74
Recknagel, Otto. Gestörte Liebeserklärung . . 78
Ring, Max. Am Gemüsestand 55
Ritter, Caspar. Blumen 51
Schmutzler, Leopold. Ein Spaziergang ... 65
Schott, Walter. Kugelspielerin 88
Schwill, William. Bildniss 80
Tallmaier, Ernst. Lektüre 60
Urban, Hermann. Jugend 51
Vautier, Benjamin. Studien und Skizzen . 29—46
Wagner, Alexander. Heimkehr 65
Ziegler, Carl. Bildniss 85
WALTER CRANE
VON
CORNELIUS GURLITT
Es ist sieben oder acht Jahre her, als zwei Herren mit untadelhaften Handschuhen und blitzenden
Cylinderhüten mich besuchten, um mich, wie sie brieflich bereits angekündigt hatten, um einen
Rath zu fragen. Ich war gespannt, was die beiden Vertreter einer grossen Berliner Dekorateur -Firma
eigentlich von mir wollten.
Sie hätten gehört, sagten sie, ich sei ein Mann, der Geschmack für das «Aparte» habe. Sie
hätten die Absicht, in der Möbelbranche einmal so etwas zu machen, etwas, was Berlin noch nicht ge-
sehen habe : Ob ich ihnen nicht eine Art Böcklin in Möbeln nennen könne, der ihnen etwas zeichne
oder baue, was Aufsehen macht, so — 'was
man in Berlin eine « ausgetragene Sache »
oder kurzweg « eine Sache » nennt.
Ich wusste mir nicht gleich zu helfen.
Barock? Damit waren die Herren schon
fertig. Noch barocker, wie sie schon waren,
konnte kein Mensch mehr werden. Rococo?
Alles, was einst im 17. oder 18. Jahrhundert
in Frankreich oder Deutschland geschaffen
worden , war auch schon in den letzten
Jahren in Berlin dagewesen. Damit war man
auch fertig.
Endlich kam mir die gewünschte Idee:
Schreiben Sie an Walter Crane in London,
er solle Ihnen ein Zimmer zeichnen, die
Thürbekleidungen, die Möbel, die Tapeten,
die Stoffe, die bunten Fenster. Da bekommen
Sie sicher etwas, was in Berlin und auch in
London noch nicht gesehen worden ist, da
haben Sie ihren kunstgewerblichen Böcklin.
Die Herren notirten sich die Adresse
und gingen zufrieden ihres Weges.
11 1
Walter Crane. St. Nicolo Tolentino, Rom
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Walter Crane. Studie
Nach einio-er Zeit kamen sie mit Crane's Zeich-
nungen wieder:
«UnmögHch! Das kann bei uns jeder Zeichner
mit 1 20 Mark monatlichem Gehalt. Das ist nichts
für Berlin — sagen Sie selbst : Damit werden wir
keinen Effekt machen ! »
Ich erlaubte mir den Einwurf: «Versuchen sie es
doch ! Vielleicht weist Sie Crane den rechten Weg ;
man ist eben einfacher in England wie bei uns und
wir werden es wohl mit der Zeit auch werden. Lesen
Sie Dohme's eben erschienenes Büchlein über das eng-
lische Haus. Da ist schon Witterung kommender Zeit.
Klänge es nicht ganz hübsch, wenn Ihre Firma das
Stichwort ausgäbe : Umkehr aus dem Formenüberfluss
zur Schlichtheit ! Das wäre doch auch etwas Apartes ! »
Man versprach die Sache in Erwägung zu ziehen.
Aber ich hätte sicher von dem Crane-Zimmer gehört,
wenn es zu Stande gekommen wäre. Der von den Herren gepflogenen Erwägung letzter Schluss
war sichdich, dass Crane für das Berlin von damals nicht reif war !
Und doch waren seine Werke schon in tausend Händen. Ich kann es einem so feinen deutschen
Künstler, wie V. Paul Mohn, nicht verdenken, wenn er in der Lebensbeschreibung, die er seinem
Lehrer Ludwig Richter widmet, ein paar bittere Bemerkungen darüber einflicht, dass das englische
Illustrationswesen in unseren Kinderbüchern einen so über-
mässig starken Einfluss habe. Aber nicht Crane's Bilder-
bücher sind es, die am besten bei uns «gingen», wie der
Buchhändler sagt. Es sind ihrer zwar viele bei uns ab-
gesetzt worden, aber fast mehr an Erwachsene als an
Kinder. Sie waren uns, die an Richter Gewöhnten, fremd-
artig, zu phantastisch.
Es bedurfte erst der vermittelnden Zwischenglieder,
um Crane bei uns beliebter zu machen : Ein solches bot
Kate Greenaway in ihren berühmten Darstellungen von
Kindern und ländlichen Vorgängen. Ihre Bücher brachten
im Gegensatz zu der damals üblichen deutschen ein neues
Motiv : lebhafte Farbe ohne Buntheit, einfachere Flächen-
töne bei kräftigem Umriss, während unser Farbendruck sich
alsbald in die Thorheit eingelassen hatte, Oelbilder nach-
ahmen zu wollen. Kate Greenaway war in der äussern „ ,, ^ c^ a-
. J II aller Crane. btudie
DIE KUNST UNSERER ZEIT. 3
Ausstattung ihrer Bilderbücher sichtlich Crane's Nachfolgerin, hatte dessen Eigenart gemischt mit der
des o-länzenden Humoristen Ran ddp h Caldecott und dabei sich auf ein Gebiet geworfen, dass
Allen leicht verständlich ist, auf die Darstellung des Kindes. Sie ist als Malerin ein achtes Weib
geblieben, schuf weiblich, anmuthig, mit dem Herzen, mit spielender Kinderliebe, — verzeichnete sich
vielleicht gelegentlich, wurde dadurch aber nur um so liebenswürdiger. Sie kleidete ihre Gestalten
in das für Englands Kunst klassische Kostüm der Biedermaierzeit, in dem Reynolds, Gainsborough
und Lawrence ihre Kinderbilder malten und erreichte, dass bei uns dieses Kostüm lange Zeit nach ihr
benannt wurde. Es liegt mir fern, auf sie und ihr Werk zu schelten : Es ist fein und vornehm, wohl
IValtcr Crane, Villa Pamphili Doria, Rom
weniger «naiv» als man einst glaubte, ein Wenig von jener Süssigkeit und Selbstverkindlichung, in
die man so gern im Verkehr mit den Kleinen fällt, aber doch voll ächten Menschenthums; denn
solches ist ja nicht eitel Stärke und Selbstherrlichkeit.
Kate Greenaway's Schaffen war das erste, was Deutschland in seinen der Kunst ferner stehenden
Kreisen nach langer Unterbrechung von englischem Schaffen kennen lernten. Man lese beispielsweise
in Meyers Konversations-Lexikon IIL Auflage von 1878 nach, was da ein doch immerhin sich kundig
Dünkender über die Vorgänge in den Werkstätten jenseits des Kanales zu sagen wüsste. Rossetti
ist als Dichter genannt und dem Aufsatz über ihn beigefügt : « Zugleich ist er als Maler (Anhänger
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
der sog. präraffaelitischen
Richtung) und Zeichner
(trefflicher Illustrator) be-
kannt». Ueber die Malerei
überhaupt lehrt das Buch,
England habe seit Rey-
nolds keine ähnliche Kraft
mehr besessen und auch in
der Landschaft seien Turner
und seine Vorgänger nicht
mehr überboten worden :
Immerhin seien aber einige
mit Namen aufgeführte
Maler rühmenswerth: Die
Auswahl ist sichtlich ohne
jede Sachkenntniss ge-
macht , die eigentlichen
Walter Crant. S. Francesco Romane vom Palast
der Caesaren, Rom
Führer sind alle übersehen,
ausser Millais und nur die
Akademiker sind genannt.
Man darf der Leitung von
Meyer's Konversations-
Lexikon keinen Vorwurf
hieraus machen. Nicht bes-
ser steht es z. B. in Lübke's
Kunstgeschichte um die
Kenntnisse englischen We-
sens ! Es war damals that-
sächlich aus der deutschen
Litteratur unmöglich, sich
auch nur ein annäherndes
Bild von dem zu machen,
was in London und gar
was in den anderen Kunst-
städten des Landes die Köpfe der Maler bewegte. — So 1877, als Crane's Bilderbücher anfingen,
in Deutschland die Aufmerksamkeit der Künstler zu erwecken.
Es ist ja eine der merkwürdigen Erscheinungen im «Zeitalter des Verkehres», dass die Abschliessung
der Nationen von einander immer stärker wird. Wie es für den Frieden nicht gut ist, wenn zwei eng
verwandte Familien unter einem Dache wohnen, so scheinen die Völker den engeren Verband durch
Eisenbahn und Telegraph unter einander nicht zu vertragen. Gerade das Alltägliche, das Hausbrod,
was man isst, will man für sich haben, kennen die Nachbarn daher am Wenigsten. So ist's hüben wie
drüben : Crane selbst
gab im vorigen Jahr
ein Buch heraus «Of
the decorative Illu-
stration of Books,
old and new», wel-
ches zwar keine An-
sprüche auf grosse
Kunstgelehrsamkeit
macht, aber doch
sicher das gibt, was
der vielgewandte
Verfasser kennt und
liebt. Da ist den
Walter Crane. Skizze des Strandes des stillen Ozeans
bei Santa Barbara, Süd-Californien
alten Deutschen volle
Ehre erwiesen : Vor
Dürer und Holbein,
aber auch vor den
ihnen Vorausgehen-
den und Folgenden
neigt er sich in Be-
wunderung. Er hat
sie sichtlich fleissig
angesehen. Aber von
Ludwig Richter weiss
er nichts. Der Name
des Mannes, den wir
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Walter Crane. Weingarten Carrara
Illustratoren wohl zunächst nennen würden, fehlt in dem Buch eines Mannes, der selbst, wie Richter,
Grimm's Märchen und dazu noch nach der Uebersetzung seiner Schwester 1882 illustrirte, also eines
Mädchens, das doch sicher mit deutscher Sprache und wohl auch deutschem Wesen vertraut war. Und
doch sagt Crane, ihm scheine, als walte in Deutschland die alte kernhafte Ueberlieferung im Holzschnitt
und illustrativer Zeichnung ungebrochener, wie anderwärts ; und doch rühmt er die Kraft und Eigenart
der deutschen Künstler : Er kennt Menzel, Rethel, Schwind. Er lobt selbst Oskar Fletsch, Richter's
Nachempfinder, dessen Bilderbücher auch in England einst sehr beliebt und gewiss nicht ohne Einfluss
auf Kate Greenaway waren; er kennt Otto Hupp's kräftig stilistische Handschrift, er hat Arbeiten von
Sattler und Stuck'^gesehen, [auf wirkungsvollen Zeichnungen den Namen Seitz gefunden, er hat sich
mit den Künstlern der «Jugend» beschäftigt, deren manchen er nachrühmt, dass sie mit Geschick
dekorative Wirkung erstreben, während er bei anderen findet, dass diese überwuchert sei von groteskem
Empfinden und kränkelnder Uebertreibung; aber er fühlt den Ueberfluss von reichem Leben, Witz und
launischem Geist heraus, wie solche in Süddeutschland heimisch wohnen. Das ist aber auch so ziemlich
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Alles, was er von deutscher Kunst sagt: Auch Schnorr von Carolsfeld's Bibelwerk, dem wir einst
Weltruf nachrühmten, kennt er wohl nicht, da er es sonst schwerlich übergangen hätte.
Crane war wiederholt in Italien, sicher auch in Frankreich. Die Welt aber, in der er lebt, ist
die rein englische, die Kämpfe, die er kämpft, beziehen sich auf die dortigen Vorgänge: Er ist vom
Geist des Präraffaelitenthums völlig umfangen, er ist ein Stück der Schule, welche diesen hervorbrachte.
Man thut Unrecht, die Menschen wie Kautmannswaaren Stück für Stück abzuwägen und nach
ihrem Pfundgehalt zu bewerthen. Es fra^t sich daher auch hier nicht, wer in dieser Schule der Grösste
sei. Hier beschäftigt uns die Frage, wie Crane selbst die Dinge betrachtet, zunächst Crane der
Illustrator. Er unterscheidet ja selbst schart zwischen diesem, dem er die Aufgabe zuweist, das Buch
zu schmücken und dem Künstler, den er einen Anfertiger von Bildern für Bücher nennt, wie z. B. Chodo-
wiecki ein solcher sei. Er sucht seine Aufgabe mit einer bisher nicht erkannten Schärfe zu umfassen :
Ihm hat die Zeichnung für das Buch zwei gleichwerthige Zwecke : Sie soll den Text bildlich vergegen-
wärtigen und sie soll ihn zugleich ornamental schmücken. Und auf das letztere legt er das Haupt-
gewicht. Der Illustrator soll eine schöne, völlig harmonisch ausgestattete Buchseite schaffen, seine
Zeichnung mit dem Drucksatz in Einklang bringen und nicht ein Bild für sich schaffen wollen, das
ohne den Satz besser wirkte, das ein selbständiges Kunstwerk ist oder zu sein erstrebt. Und da
ist neben den alten Meistern Deutschlands und Italiens ihm sein Landsmann William Blake der Erwecker
der Illustrationskunst : Jener phantastische Dichter, der seine Bücher selbst schrieb, zeichnete und
druckte und zwar all dies alsbald mit Hilfe einer Platte, so dass die volle Einheit der Form und des
Inhalts gewahrt ist, Zeichnung und Handschrift in voller Uebereinstimmung, in gleich starker Individualität
hervortreten. Dieser Blake war ja freilich das, was man einen verrückten Kerl nennt in ausge-
prägtestem Maasse. Er hatte Traumphantasien, die dicht an ächte Hallucination reichten. Aber in
ihm steckte eine gewaltige Kraft freien Denkens. Es ist ja
eine der Eigenthümlichkeiten der Kunst, dass man mit ganz
normalem Denken in ihr nicht sehr weit vorwärts kommt und
dass in ihr gelegentlich Leute auftreten müssen, die auf den
ersten Blick dem « Besonnenen >> das Gegentheil seiner wohl-
gepflegten Tugend zu haben scheinen.
Dazu kam für Crane, wie er selbst in seinem Buch erzählt,
noch ein weiterer Anstoss zum Abfall von der älteren, auf
Irrwege g^erathenen Illustrationskunst. Als seinen Lehrer rühmt
er William James Linton, von dem er als Lehrling durch
drei Jahre hindurch weniger den Holzschnitt als die Kunst
lernte, auf den Stock zu zeichnen ; er rühmt an ihm den unter-
richteten Mann ebenso, wie den erfahrenen Künstler. Er ist
der Herausgeber des 1889 erschienenen Werkes «The Masters
of Wood Engraving», in welchem er sich als solcher in um-
fassender Weise zu erkennen gibt.
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Walter Crane. Flora
8 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Linton gehört als Holzschneider der Schule an, die auf Bewick zurückgeht, den Illustrator natur-
wissenschaftlicher Bücher, einen für die Geschichte der englischen Thiermalerei sehr beachtenswerthen
Mann. Die Technik des Holzschnittes hatte durch die Künstler dieser Schule eine ausserordentliche
Förderung erfahren. Der Schnitt war weich, tonreich, in^den Uebergängen flüssig geworden. Viel-
leicht ist kein Name in England bekannter für diese j Art der Stichkunst, wie jener des Birket
Foster, der ein Landschafter von feiner Hand war. Ich habe vor mir eine englische Besprechung
seiner Werke vom Jahre 1870, in welcher die «Eleganz seiner Komposition» das «realpoetische Ge-
fühl», die «delikate und graziöse Manier», die Kunst gerühmt wird, dass seine Bilder der «scenic art, »
also der Kunst des Theaters, gleichen. Aber so schlimm, wie dieser Kritiker des Art Journal ihn in
seinem täppischen Lob macht, ist er wahrlich nicht. Es steckt etwas Sentimentales in ihr, wie in den
meisten englischen Landschaftern jener Zeit, sie sind etwas «geduftet» wie man heute in den Werk-
stätten sagt, aber er bringt Holzschnitte zu Stande, die wohl verdienen, eingerahmt das Wohnzimmer
des Kunstfreundes zu schmücken und er bereitet den Aufschwung des mit verbesserten Werkzeugen
arbeitenden Feinschnittes vor, der dann in Amerika seine Vollendung erhielt.
Aber gerade das, was diese Schule erstrebte, nämlich die Erhebung des Holzschnittes zum
Werth der selbständigen bildmässigen oder doch dem Kupferstich angemessenen Leistung, das war
es, was Grane nicht wollte: Er erzählt selbst, wie ihm ein Offizier der britischen Seemacht ein paar
japanische Bücher von der Reise mitgebracht habe und wie ihn diese gefangen genommen hätten :
Die Kraft der Umrisslinie, die einfachen Farben und das kräftige Schwarz, vor Allem aber die Ueber-
einstimmung von Bild und Text an diesen Büchern wies ihm den Weg.
Bin ich recht unterrichtet, so Hess Grane eine seiner ersten Arbeiten 1863 erscheinen,
nämlich die Illustrationen zu John R. Wise's Buch : The New Forest (London, Smith, Eider & Gp.)
in demselben Jahr, in dem Foster's berühmt gewordene Pictures of English Landscape (London,
Routledge, Warne & Routledge) erschienen. Ich habe leider das Wise'sche Buch in Deutschland
nicht auftreiben können. Aber wahrscheinlich gibt es einen guten Anhalt dafür, wie Grane's Kunst
vor der Kenntniss Japans aussah.
Grane ist in Liverpool 1845 geboren. Schon sein Vater war Maler, namentlich beliebt als
Portraitist von Frauen und Kindern. Ich erinnere mich nicht, in öffentlichen Sammlungen Englands
Werke seiner Hand gesehen zu haben. Doch nahm er im Kunstleben von Liverpool eine gewisse
Stellung ein, ehe er aus Gesundheitsrücksichten 1857 nach London zog, wo er schon 1859 starb;
Liverpool ist keine Heimstätte der Kunst, oder war es damals wenigstens noch nicht. Alte Denk-
mäler fehlen dort fast ganz. Erst im 1 8. Jahrhundert ist die Stadt zur Bedeutung gekommen. Es war
nicht viel an Schönem dort öffentlich zu sehen. Auch noch heute weckt dem Kontinentalen das Stadt-
bild öfter Kopfschütteln als Bewunderung. Die Stadthalle in schwerem klassischen Stil von 1795, nicht
weit davon eine jener Nelsonsäulen nach Vorbild der römischen Titussäule, an denen England reich ist.
Als Grane Liverpool verliess, baute man eben S. George's Hall, einen Riesensaal von nicht minder schwer-
fälligem Klassizismus, mit 1 5 Meter hohen Säulen. Nur für die Kirchen wagte sich die nationale Gothik,
auch hier noch in schematischen Formen, hervor. Jetzt ist freilich Vieles dort anders geworden.
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IDIE KUNST UNSERER ZEIT. 9
In London war 1857 der erste Ansturm der Reformer des Kunstlebens zurückgeschlagen. Ich
schilderte die damals herrschenden Verhältnisse bereits in meinem Aufsatz über Edward Burne Jones
(Jahrgang VI dieser Zeitschrift, Seite 31). Was dort in der Akademie, in öffentlichen Ausstellungen
zu sehen war, zeigte wenig Einfluss der präraffaelitischen Bewegung. Die alte Kunst hielt das Scepter
in fester Hand, und sie war durch die Wucht ihrer Erfolge dazu völlig berechtigt.
Zweierlei Dinge wirkten auf Crane während seiner Lehrzeit bei Linton (1859 — 1862) ein:
Die Aesthetik John Ruskins in ihrer sprungweisen, pathetischen Denkweise, in ihrem stürmischen
Walter Crane. Studie zu dem Bilde : Sonnenaufg.ang
Anruf der Wahrheit; und die Zeichnung der Künstler, nach welchen er bei seinem Lehrherrn in Holz
zu schneiden hatte. Es waren grosse Namen darunter: Frederic Walker zuerst, der, wie Tom Taylor,
der Herauso-eber der Zeitschrift « Once a Week », erzählt, im November 1859 als ein schüchterner,
furchtsamer, linkischer Bittsteller um Beschäftigung als Zeichner auf Holz bei ihm erschien, der selbst
bei dem" tüchtigen Holzschneider Whymper seine Lehre durchgemacht hatte und nun von Schritt zu
Schritt seinen Weg vorwärts machte zu einem Maler ersten Ranges, bis ihn nur allzufrüh (1875) der
Tod erreichte. In seinen Illustrationen, wie namentlich in seinen Bildern ist Walker ein grosser
Stilist. Seine Art die englische Menschengestalt zu idealisiren, hat zweifellos auf die ganze Nation,
II 2
10
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
so auch auf Crane, ihren Einfluss behalten. Ein wahrhaft bedeutender Mensch, voll tiefer Stimmung,
voll grosser Linie, voll Reichthum und Schlichtheit des Tones ; kein Stürmer, kein Dränger, einer der
aus sich selbst reif und abgeklärt wird. Ich glaube, dass die Stunde noch kommt, in der man
Walker's Namen höher stellen wird, als es die Jüngsten thun.
War Walker ein Genosse auf dem gleichen Wege, so hat E. J. Poynter Crane rasch im
öffentlichen Leben überflügelt : Er sagt von dessen Zeichnungen, sie seien in den archäologischen
Einzelheiten und in der Sicherheit der Linie die bemerkenswerthesten gewesen in der Sammlung
für die Dalziel'sche Bibelgalerie, welche 1865 — 1870 als das Werk der jungen englischen Künstlerschaft
erschien. Poynter ist gewiss einer von den Künstlern, der einen sehr wesentlichen Antheil an der
Ausgestaltung der modernen englischen Kunst hat: Auf sein Haupt häuften sich ja auch in jüngster
Zeit deren Ehren, Er kam damals, als Crane nach seinen Zeichnungen schnitt, eben aus Paris, aus
Gleyre's Atelier zurück, wo er mit dem grossen Zeichner Dumaurier und mit Whistler gemeinsam
gearbeitet hatte. Er ist zu erwähnen als einer der Theoretiker der Kunst, als Nachfolger Redgraves in der
Leitung des Southkensington-Schule, als Schöpfer des sehr bemerkenswerthen Schmuckes in gemaltem
Thon im Speisezimmer des Southkensington-Museums, als einer der glänzendsten Meister für Innen-
dekoration : Also ein Stilist, und zwar ein solcher von architektonischem Können und kühler Berechnung.
Er stellt innerhalb der jungen Schule das akademische Gewissen dar ! Er hatte in Paris die nackte
Fiofur malen orelernt und wies die in diesem Fall so leicht durch Schämig-keit beschränkten eng-lischen
Künstler auf ein Gebiet, dem die älteren Präraffaeliten gern aus dem Weg gingen. Fast Alle haben
an ihm gelernt : Aber Poynter ist keine sinnliche Natur, er ist ein unterrichteter Künstler, der weiss,
dass mit dem Nackten eine Malerschule steht und fällt, und er ist früh berufen worden, die englischen
Kunstschulen zu leiten. Er brachte ihnen die fleissige Benutzung des Aktsaales. Mein verehrter
Lehrer, der Aesthetiker Fr. Vischer, war der Ansicht, man solle in der Kunst das Nackte, die Sinn-
lichkeit, dulden, ja es sei künstlerisch nothwendig, solange, wie er sich ausdrückte, es nicht auf Er-
regung des Nerves ausgehe. Ich wüsste kaum einen Künstler, der nach Vischer vom Vorwurfe verwerf-
licher Sinnlichkeit
freier zu sprechen
wäre. Seine nack-
ten Frauen sind
schön und in Nackt-
heit keusch bis zur
Geschlechtslosigkeit:
Crane folgt ihm oft
in dieser entsinnten
Schönheitsliebe.
Werthvoller für
Crane war Rosset-
tis und der Prä-
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^r^.
Walter Crane. Studien für das Bild: Des Jahres Ende
raffaeliten Mitwirk-
ung am Illustrations-
wesen , wie sie an
Tennyson's Ge-
dichte in der Moxon'-
schen Auflage von
1857 sich äussert.
Hier trat Crane eine
Kunst entgegen, die
an sich selbst deko-
rativ wirkt, wie jene
der Buchmaler des
Mittelalters , hier
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
11
Waller Crane. Studien für das Bild: Des Jahres Ende
freut ihn seines Meisters Linton Stich besonders, weil dieser die Zeichnung selbst wiedergiebt, die
Flüchtigkeiten und Zufälligkeiten, ohne jene Korrektheit der Maschine, die den Geist ertödtet.
Aber auch für Crane, wie für so viele in England, waren Burne Jones und William
Morris erst die Bringer der neuen Kunst. Es ist für den Berichterstatter schwer, die Sachlage klar zu
werden, wenn er bei Nennung solcher Namen nicht erwarten darf, im Kopf der Leser ein fertiges Bild des
Schaffens und Wirkens des Besprochenen vorzufinden; hinsichtlich Burne Jones darf ich wohl nochmals
auf meinen Aufsatz hinweisen, hinsichtlich Morris muss ich aber hier ein paar Angaben machen.
Morris ist der praktische Verwirklicher der dekorativen Absichten der Schule. In Keimscott
House vereinte er allerhand Werkstätten, für sich, als Privatmann anregend thätig, wie es einst für
den Staat die Fürsten gewesen waren. Gobelins weben, bunte Fenster malen, Bücher drucken —
all das betrieb er mit den feinen Organen des Künstlers und dem weiten Blick eines tüchtigen
Geschäftsmannes. Ein unwiderstehlicher Schaffensdrang trieb ihn vorwärts, um die romantisch erregte
Phantasie zu künstlerischen und kunstgewerblichen Anstrengungen umzumünzen. Er lebte und webte
in einer mittelalterlichen Welt, als Dichter, als Zeichner in seinen Einrichtungen. Und dabei war er
voll moderner Gedanken, Sozialist aus Mitleid zu seinen darbenden Mitmenschen, ein Volksredner,
der mit der Polizei öfter in Berührung kam und dabei ein vornehmer Mann, dessen ganzes Schaffen auf
die höchste, die künstlerische Verfeinerung des Luxus ausging. Gemeinsam mit Burne Jones und dem
12
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Architekten Philipp Webb
pflegte er den Geist des
Präraffaelitismus , den des
weitabgewandten Lebens in
der Tiefe des Gedanken —
er der Mann, der in Merton
Abbey eine Fabrik ohne
rauchenden Schornstein schuf,
dessen Ehrgeiz es war, dass
diese auf die Neuerungen
des Betriebs, auf Dampfkraft
und Elektrizität verzichte,
um dem Werth der Hand-
arbeit eine sachliche Hul-
digung darzubringen.
Vieles von Morris' Wesen
ist auf Crane übergegangen.
IValler Crane. Studie. \ .lUe dei Molini,
Amalfi
Gemeinsam haben sie die
Liebe zum Buch, die Biblio-
philie. Man verzeihe mir,
wenn ich wieder mit Meyer's
Konversations -Lexikon von
1874 komme. Dort heisst
es: Bibliophilie siehe Biblio-
manie; und bei diesem Stich-
wort: Die Sucht Bücher zu
sammeln : Und nun wird er-
klärt, dass es Leute gebe,
die Bücher sammeln, nicht
um ihres Inhalts wegen,
sondern um der Nebendinge
willen, des Druckes, der
Abbildungen, der Einbände,
und dass diese hauptsächlich
in England zuhause seien. Man sieht dem Artikel an, dass sein Verfasser sich über den spleenigen
Britten erhaben fühlte, von dem hie und da wohl die Zeitungen erzählten, er habe nicht Ruhe ge-
lassen, bis man ihm die und jene alte Scharteke überlassen habe, ja er habe einen lächerlich hohen
Preis für sie gezahlt. Heute würden unsere Sammler und Museen vielleicht das zehnfache zurückzahlen,
käme dadurch das Buch wieder : Vielleicht sind wir nur suggerirt vom Spleen ; vielleicht aber war
der Engländer gar nicht so verrückt, und sind wir erst durch ihn gescheidter gemacht.
Solche Bücher kannte man eben in England. Unsere schönen alten Bibeldrucke, die uns nur
« Raritäten » zu sein
schienen, sie wur-
den drüben zum
Lehrmittel neuen
Schaffens ! Crane's
erwähntes Buch
lehrt uns deutlich,
dass er bei den
« Bibliomanen » in
die Schule ging.
Im Jahre 1891
veranstaltete er eine
Ausstellung seiner
Arbeiten in « The
Walter Crane. Grande Marina, Amalfi
Eine Art Society»
in New Boadstreet
zu London. Es war
ein Zusammenfassen
seiner Erfolge und
er selbst gab im
Kataloge einen
Ueberblick über
diese. Er erzählt,
wie er 1 865 begann,
gemeinsam mit dem
Stecher und Stein-
drucker Edmund
Evans, sein erstes
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Walter Crane. Baeehantin
14 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Buch «The Fairy Ship » herauszugeben, dem dann «The Sorg of Sixpence» (1865 — 1866) folgte.
Es war nur in drei Farben gedruckt : Schwarz, roth und blau. Man warf diesen Büchern damals noch
vor, sie seien nicht kräftig genug im Ton, man fand nicht die protzigen Farben wieder, die in den
üblichen Kinderbüchern heimisch waren.
Japanisches sollte sich in ihnen mit der farbigen Kunst der mittelalterlichen Miniaturmaler und mit
dem klassischen Empfinden Jung-Englands mischen. Jetzt nennt Crane die Bilder selbst als zu frei im Ton
und zu barbarisch für jene, die durch Caldecott und Greenaway in allen Verfeinerungen der Kunstart
eingeführt seien. Gewiss ist aber, dass dadurch der Weg gewiesen wurde für eine neue Aufgabe
des Farbendruckes, dass die moderne Plakatkunst hier ihre ersten Anregungen zu suchen hat. Rasch
folgten noch mehr Bilderbücher: «Bluebeard» (1873 — 1874), «Jack and the Beanstalk» (1874 — 1875).
die Shilling Picture Books (seit 1875), »Aladdin«, «Goody Thwo Shoes », Beauty and the Beast»,
«The Frog Prince», «The Yellow Dwarf», «The Hind in the Wood», «Princess Belle Etoile»,
«Alphabet of Old Friends».
Das ist die lange Reihe der hauptsächlichen Arbeiten. Sie unterscheiden sich stark von jenen
Caldecott's ! Bei diesem grossen Humoristen ist das Bezeichnende die Hast des Stiftes, der in
kurzen geistreichen Strichen Leben, Bewegung, Charakter zu geben weiss. Bei Crane ist alles Linie,
Stil, Ueberlegung, fleissiges Studium. Man möchte glauben, dass Crane sehr eingehend die griechischen
Vasenbilder nachgezeichnet habe. Seine in erster Linie auf Umriss komponirten Gestalten klingen vielfach
an diese an. Sie scheinen zu gross für die Bildfläche, sie müssen sich beugen, um in ihr stehen zu
können. Crane kommt es auf deutliches Erzählen des Vorganges mit allen seinen Nebenumständen
an, wie es so die Kinder lieben. Crane ist nicht eigentlich witzig, wie es Caldecott in so hohem
Grade ist, er ist nicht eigentlich lebendig und belebend, er hat etwas Lehrhaftes, Doktrinäres in seiner
Kunst und in Allem, was er schafft, eine deutliche Absicht.
Wenn er selbst seine älteren Arbeiten « barbarisch » nennt, so thut man ihm wohl nicht weh,
indem man das Wort aufnimmt. Es ist trotz aller klassischen Linienführung, trotz der geraden Nasen,
kurzen Oberlippen und rundem Kinn ein nordisches Geschlecht, das er zeichnet. Leute von sehr
langen, vollen Gliedern: Kein Mensch wird darüber in Zweifel sein, dass es Engländer sind, die er
zeichnet. In einem internationalen Seebade wurde einmal im Freundeskreise die Frag-e aufg-eworfen,
ob man die in den Wellen Herumpatschenden ihrem Volksthum nach zu unterscheiden vermöge.
Das Ergebniss waren ungezählte Irrthümer. Wir erkennen die Völker mehr an ihren Kleidern oder doch
an der Art, sie zu tragen, wie am Körperbau. Bei Crane's Gestalten ist
es aber gerade dieser, der entscheidet, da die Kleidung meist eine ideale
ist. Es giebt also eine gewisse Schlankheit der Form, eine vor weit aus-
greifenden Bewegungen sich scheuende Biegsamkeit der Körper, eine
gewisse Schämigkeit in der Haltung, einen Zug um den grosslinig ge-
schwungenen Mund, der Jedem mit Volkwesen Vertrauten das englische
Wesen erkennen lässt, nicht weil er dem Engländer überhaupt eigen, sondern
weil er das Ideal seiner Art darstellt.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
15
Die «barbarische» Seite der Bilderbücher
liegt in der Farbengebung und in dem ver-
hältnissmässig geringen Reichthum des Aus-
drucks in der Zeichnung. Die stilistische Form
herrscht so vor, dass die Gestalten im Grunde
alle wie aus einer Familie stammend er-
scheinen. Nach dieser Richtung bedurfte Grane
sichtlich noch der Vertiefung und zwar dürften
hier für ihn die ersten 70 er Jahre von höchster
Bedeutung gewesen sein, in welchen er erst
in den vollen Umfancr seiner Thätii^keit trat.
Er war zwei Winter in Italien gewesen und
hatte sich hier mit den Formen der Antike
in höherem Maasse erfüllt. Unter den diesen
Aufsatz schmückenden Bildern sind eine Reihe
von damals und später in Rom gefertigten
Studien. Jeder hat das Recht, sich in der
Welt sein Theil zu suchen, um es zu lieben,
um es bildlich darzustellen. In Italien sind
tausende von Künstlern gewesen und ist Stoff
für tausende mehr. Man kann also wohl die
Ziele des Einzelnen an dem erkennen, was
er in Italien findet : Jedenfalls war es in der
Landschaft nicht das, was die Malerei der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begeisterte.
Da ist wohl der Ausblick auf St. Peter in
Rom : Aber man braucht sich nur die Kuppel
wegzudenken, um aus dem klassischen Land
in ein rein Crane'sches, aus der Campagne
in die Hügel von Kent zu kommen: Blühende
Bäume, W^eingärten, eine gesunde Freude an
der Fruchtbarkeit , am Schaffen der Natur :
Grane sieht die Blümlein auf den Wiesen des
Forums und ihm ist die kahle Rückseite einer
Mauer bei S. Francesco in Rom des Dar-
stellens werth, wenn darin ein Orangenbaum
volle Früchte bietet. Er liebt eine klassische
Welt, aber eine solche, in der man sichs
Waller Craiie. Der Morgen
16
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wohl sein lassen kann, er verliert sich nicht in das zeitlich Fremde, sondern sucht es in sich zu
eigenem Behagen aufzunehmen.
Das Jahr 1875 brachte als Ergebnisse seiner Reisen zwei Bilderbücher «Mrs. Mundi at home»
und «Amor vincit omnia». Das eine eine allegorische politische Satire, nur in Umrisszeichnung:
Ich muss gestehen» dass ich ihr nicht allzuviel Reiz abzugewinnen weiss: Das andere die Darstellung
einer Stadt der Amazonen, welche General Cupido mit seinen Truppen belagert; ein Werk voller
Erinnerungen an Italien. Aus ihm heraus entwickelte sich auch Crane's erstes grosses Bild « Amor
vincit omnia», welches mit fast allem Eigenartigen, was die englische Kunst hervorgebracht hat,
das Schicksal theilte,
von der Ausstellung
der Londoner Aka-
demie zurückgewie-
sen zu werden.
Es ist sehr merk-
würdig dieses erste
Bild des Künstlers,
der bisher für Kin-
der gearbeitet hatte,
das heisst doch mit
der Absicht lächelnd
den noch Armen im
Geist und doch so
Reichen in der Phan-
tasie die für sie er-
dichteten Geschicht-
lein zu erklären. Er
bleibt auch im Bilde
im Kinderton , im
Märchenlande. Wie
Walter Crane. Studie für das Bild : Die vier Jahreszeiten
die Dinge sich rehef-
artig abspielen, wie
die Landschaft hin-
ten, italienischer Er-
innerungen voll, be-
lebt ist von allerhand
Vorgängen, wie jede
einzelne Gestalt hin-
gestellt ist, so dass
man sie völlig be-
greife, das zeigt,
dass das Kinder-
thum in Crane nicht
eine Spielerei sei,
dass es tief in ihm
steckt. Ist die Ge-
schichte , die dar-
gestellt wird, auch
aus allerlei nur dem
Denkenden ver-
ständlichen Bezieh-
ungen zusammengesetzt, so ist das Ganze doch ein echtes Kinderbild: Man prüfe es neben vielen
unter den so selten geschickt gewählten Bilderbüchern für die Kleinen auf Deutlichkeit der An-
schauung: Der schöne Schimmelreiter, die Blasenden, die Jungfrau mit den Schlüsseln, der besiegt
knieende Sieger I
Und weiter schuf Crane in diesem Jahre 1875 den ersten Entwurf für eine Tapete, begann
für ihn also das Eingreifen in das Kunstgewerbe, Mit einem Schlage nahm Crane Besitz von dem
ganzen Schaffensgebiet, welches er in der Folge zu beherrschen lernte.
Im Jahre 1877 erschien dann die englische «Secession» siegreich auf dem Plane: Sir Lindsay
schuf der nach öffentlicher Anerkennung ringenden jungen Künstlerschaft einen Ausstellungsraum und
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
17
IValier Crane, Der Constantin- Bogen, Rom
eine Organisation in der Grosvenor Gallery und rückte hiemit neben Burne Jones auch Walter Crane
in den Vordergrund des öffentlichen Interesses.
Zunächst einige weitere Werke über Crane als Maler. Er äusserte sich selbst über seine
Absichten und Ansichten in einem in den 80 er Jahren geschriebenen Aufsatze. Er findet
die Aufgaben der Malerei neu gestellt: Früher mehr dekorativ, habe sie jetzt den Zweck, die Natur
in ihren wunderbaren Naturerscheinungen, ihrer Pflanzen- und Farbenpracht zu schildern oder geschicht-
liche Ereignisse und Vorgänge im Volksleben, oder auch die Verkörperung romantischer, poetischer
Gedanken und vieles Anderes noch wiederzugeben. Aber das Hesse sich Alles ebensogut verwerthen und
künstlerisch zum Ausdruck bringen in einem dekorativen Werke. Der Fehler liege in unserer Art
Staffeleibilder zu malen, die nicht nothwendiger Weise in Verbindung mit irgend einem anderen Gegen-
stand gedacht seien, den Maler also auch nicht zwängen, die Umgebung seines Werkes in Betracht
zu ziehen. Für den modernen Maler hat somit nichts von dem, was ausserhalb der Leinwand liegt, Bezug
zu seinem Kunstwerk. Die Unsitte der grossen Ausstellungen und Bildergallerien lehrt ihn, dass es
zwecklos sei, sich mit jenseits des Rahmen Liegenden zu beschäftigen.
Zudem bringe das moderne Verlangen nach genauer bildlicher Wiedergabe des Gesehenen
den Künstler noch weiter ab von der architektonischen, dekorativen und konstruktiven Art früherer
Maler und Handwerker, die ihre Werke mit deren Umgebung in Einklang zu bringen hatten, meistens
n 3
18
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
in einen gegebenen Raum hineinkomponiren mussten und dem verschiedenartigen Material Rechnung
zu tragen genöthigt waren.
Crane spricht diesen realistischen Bildern den Werth ab und fordert statt den in ihnen herr-
schenden Wahlspruch der Wahrheit, den der Schönheit. Doch braucht diese nicht ihrem Wesen nach
der Wahrheit zu widersprechen. Jedenfalls sei für die Dekoration Schönheit die Grundbedingung,
deren eigentliches Wesen, mit dessen Verläugnung sie zu sein aufhöre. Die Schönheit sei hier nur
bedingt durch die Umgebung. So dürfe ein Freskenbild an der Wand nicht die Empfindung hervor-
rufen, als ob ein Loch in dem Gemäuer wäre, durch das man zufällig das oder jenes zu sehen bekäme,
die Verzierung einer Vase solle sich der konvexen Form jener anpassen, diese noch mehr zum
Ausdruck bringen, nicht aber ihr widersprechen. So solle ferner beim Ausschmücken einer Wand oder
Thürfüllung das verwendete Motiv sich breit ausdehnend, diese wirklich organisch bedecken — es
soll ornamental wirken, da das der einzige Zweck eines Ornamentes sein könne. Crane giebt hiebei
vielerlei zu bedenken: Entspricht das Muster dem Ort, an dem es angebracht und dem Material,
auf dem es gearbeitet ist? stehen die Formen im Einklang mit der Umgebung und sind sie an sich
harmonisch? sind die Farben gut gewählt? zeugt das Werk von Reichthum der Erfindung und Schön-
heitssinn? sprechen sich in demselben Gedanken und poetisches Gefühl aus? Sind diese Fragen mit
Glück beantwortet, so hat der Künstler den an ihn zu stellenden Anforderungen genügt und eine
dekorative Malerei geschaffen, welche durchaus keine untergeordnete Kunstleistung sei.
Freilich passe sie nicht auf Ausstellungen, die so wie so nur ein Nothbehelf seien, um die Werke
an die Oeffentlichkeit zu bringen. Wirklich beurtheilen könne man ein echtes Kunstwerk nur in der
Umgebung, für die es geschaffen wurde. Man müsse daher sich von den Einflüsterungen der Bilder-
macher frei halten, wolle man zu einer echt dekorativen Kunst kommen. Sie sollen nicht Licht- und
Luftwirkungen, mithin den Eindruck grosser räumlicher Tiefe hervorbringen, sondern den Eindruck des
Flächenhaften geradezu erstreben, wie ihn Fresko und Tempera geben. Beide Arbeitsarten fördern
schnelles Malen und sofortige Vollendung der Arbeit. Aehnlich sei das Malen mit Oelfarben, die
durch Terpentin
oder Benzin gebun-
den, auf nicht zu
glattem Gyps auf-
getragen werden.
Gegen diese An-
schauung, wenn sie
zur Gemeingültig-
keit erhoben werden
sollten , Hesse sich
gewiss Vielerlei
sagen. Ich habe
immer gefunden.
IVa/ter Crane. \'illa Ludovisi
dass die Aesthetik,
welche die Künstler
treiben im Grunde
nichts ist als Erklär-
ung ihrer schöpferi-
schen Eigenart. So
auch hier. Nicht
weil ich glaube, dass
Crane unbedingt
recht habe, sondern
weil er für sich und
seine Begabung das
Rechte fand , sind
Walter Crane. Lohengrin
20
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
seine Erklärungen für uns von hohem Werth. Sie sind Erläuterungen zu seinen Bildern. Diese stehen
daher auch in sehr entschiedenem theoretischen Gegensatz zu der Kunst, mit welcher der Prärafifaelis-
mus als eine ausgesprochen realistische Schule anfing. Der dort eingeschlagene Weg ist, wie so oft,
der gleiche wie in andern Kunstschulen. Der Realismus ist die Vorstufe, die zum neuen Idealismus führt
und dieser, als
die Blume des
Realismus trägt
für Spätere die
Frucht der Vor-
bildlichkeit.
Aber mit der
Vollendung der
Frucht verfällt
die ganze
Pflanze. Es be-
darf nun wieder
eines neuen Re-
alismus, eines
neuen Früh-
lings , um aus
allerlei alten
Keimen Lebens-
kräftiges zu ent-
wickeln.
Folgen wir
der Reihe von
Crane's Bildern,
soweit diese hier
zur Darstellung
gebracht wer-
den kann.
Der «Raub
der Europa» """" "'""'• ""'""" Die Allegorie
i.st klar und sachlich durchgeführt. Unter der zerbrechlichen Brücke das Boot des Lebens und des
Todes: Aus einem landet das junge Leben, ersteigt, geleitet von den Eltern die Stufen, wird von
den Alten belehrt, schreitet spielend und liebend empor bis zum Höhepunkt, wo die Tromete der
Ehre erklingt, die Weltlust sich anhängt, die Schönheit den Becher füllt und die Hingabe sich an
den reifen Mann schmiegt. Glück und Ruhm locken den Verweilenden weiter, er packt sich die Lasten
wurde 1881
theilweise in Ita-
lien gemalt, in
England vollen-
det. Gemalt auf
rauhem Gips-
grund sucht es
mit Entschie-
denheit im Ton
der italienischen
Fresken sich zu
halten. Italie-
nisch sind auch
die Motive des
Hintergrunds,
die vollere, mus-
kelreichere Be-
handlung des
nackten weib-
lichen Körpers.
Die « Brücke
des Lebens »
dankt auch dem
Aufenthalt in
Rom ihre Ent-
stehung, wurde
jedoch erst
1884 vollendet.
Wal/er Crane. Freiheit
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
21
IValler Crane. Skizze zu dem Gemälde : Das Nahen des Frühlings
der unduldsamen Welt auf, Loth's Weib wendet sich sorgend zurück, bis das Alter, das schon zum
Nachen des Todes hinabschaut, selbst Stütze an der Jugend suchen muss. Nur die Hoffnung hält noch
ihr Lämpchen empor, obgleich der Weg schon die Stufen hinabführt — bis der Todte im Nachen
liegt und Atropos den Faden zerschneidet, den ihre Schwester Clotho bei der Landung des Kindleins
knüpfte und die über der Jugend thronende Schwester Lachesis fortspann.
Es ist ein merkwürdiges Bild ! Nicht der Gedanke ist's, der mich packt. Der hat etwas Aus-
geklügeltes, Gelehrtenhaftes. Nicht die Komposition, die nicht immer frei ist, und die auch ihrerseits
zeigt, dass Crane es sich nicht leicht werden Hess, nicht das ausserordentlich vertiefte Naturstudium.
Die Umrisslinie herrscht in alter Gewalt im Bilde, aber der Umriss ist unendlich viel reicher geworden
und die Fläche innerhalb seiner Grenzen hat Bewegung, Fluss, Körperhaftigkeit gewonnen. Das Merk-
würdigste scheint mir die stilistische Kraft, die hier zuerst Crane auch im Geschichtsbild ganz er selbst
sein lässt, und zwar um so stärker, als er .selbst dieses Bild als Frucht des Auflebens des Einflusses
der Antike und der Renaissance in Zeichnung und Auffassung kennzeichnet, und er in ihm trotzdem so
erstaunlich englisch bleibt.
Wie Goethe in Italien die Hexenscene seines Faust schrieb, wie ihn inmitten der klassischen
Welt die schwankenden Gestalten der Romantik nahten, so ist dem Engländer Rom mit Keat's Name
und Dichtungen auf's Engste verknüpft. Crane fand in seinem Bilde « La belle Dame sans Merci »
{1889), die Keat nachgedichtet wurde, den Ausdruck für diese Welt. Das Bild ist sehr farbig, fast
bunt. Wie Holman Hunt sieht Crane jede Einzelheit der Natur mit scharfem Auge. Die Blumen auf der
Wiese, die mit botanischer Genauigkeit gemalt sind, wie den Schmuck an der schönen Frau, dem gepanzerten
Ritter, am Sattelzeug des Pferdes. In diesem Sinn fühlt er sich als Realist. Er ist es auch schon mehr
als früher hinsichtlich der Luft- und Lichtwirkungen. Der aufziehende Mond beherrscht die Landschaft.
Trotzdem ist das Bild durchaus dekorativ empfunden, obgleich es dem widerspricht, was wir mit diesem
Namen bezeichnen : nämlich flott und breit gemalt, skizzenhaft nur auf Massenwirkung berechnet.
22 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Derselben Zeit gehören eine Reihe von Darstelhingen einzelner Frauengestalten an. Die Vor-
studien für diese Arbeiten müssen den Künstler sein ganzes Leben hindurch begleitet haben. Man sehe
die Reihe sorgfältiger Gewandstudien durch, in welchen zunächst noch das Bildnissmässige stärker sich
äussert, als in den ausgeführten Arbeiten. Sie sind selten mehr als grau in grau, meist in mit Weiss
gehöhter Zeichnung dargestellt, Zeugnisse dafür, dass Crane plastisch sieht und dass ihm das Malen
ein Uebersetzen der Form in Farbe ist. Nicht ohne Grund rühmt er die alten deutschen Holzschneider
und ihr «Clairobscur», das Zeichnen mit Weiss auf schwarzem Grund, da er es selbst bei seinen Ent-
würfen anzuwenden liebt. Es scheint diese Kunstart durch bei Bildern wie die «Quelle«, «Flora»
und anderen, die im Ton kaum über das Fresko hinaus gehen, in der Behandlung durchaus als «Paneel»,
als eine gemalte Füllung, wirken. Als Dekoration muss man auch seine « Schwanenjungfrauen »
(1894) auffassen, die lieblichen Mädchen, die sich nach dem Bade in ihr Schwanengewand werfen, um
sich in die Lüfte zu erheben. Ich missverkenne die Schwächen des Bildes nicht. Die Beine der
stehenden Jungfrau sind länger als selbst für eine Engländerin gut ist, die Gestalten erscheinen nach
Art des japanischen Musterzeichners auf der Fläche vertheilt, so dass die Absichtlichkeit der An-
ordnung nicht gerade angenehm auffällt, die weitgespannten Flügel sind ein sehr bequemes Mittel,
eine gute Raumvertheilung zu erhalten, die einzelnen Gestalten sind sich sehr ähnlich, sie sind sehr
keusch, fast Poyeter'isch geschlechtslos. Man möchte Crane das spanische Sprichwort zurufen : Mehr
Knoblauch in die Brühe ! — wenn es überhaupt gut wäre, über Schwanenjungfrauen zu streiten wenn
das Bild mehr sagen wollte, als wie Crane sich diese vorstellt. Gerade das Phantastische deckt die Eigenart
des Bildes. Aehnlich an einem der neuesten Werke, dem «Morgen», der 1896 auf der Dresdener Aus-
stellung zu sehen war. Den eigentlichen Reiz kann die Photographie nicht vollständig wiedergeben, er
liegt in dem dämmernden Roth auf duftigem Blau, im malerischen Kampf zwischen Morgenröthe und
weichender Nacht. Jenes Geschlecht schlafender Mädchen, welche die kommende Sonne erweckt, steht
ausserhalb des Menschenthums, es ist selbst ein Duftgebilde.
Friesartig erscheint das liebliche Bild der « Maienkönigin » in ihrem Zuge auf von Gazellen
gezogenen Wagen, ihrem Gefolge von jungem Volke und jungem Vieh. Das was immer wieder an diesen
schlichten Bildern anzieht, ist die Kindlichkeit, die Harmlosigkeit der Auffassung. Es steckt etwas
Märchenhaftes in dieser Kunst Crane's, etwas Traumseliges, Weitabgewendetes. Wenn man bedenkt,
dass derselbe Mann mitten im gewerblichen Leben unserer Zeit steht, als ein Kämpfer für die Werth-
schätzung der Künstler, wenn man erfährt, dass er gleich Morris seinen politischen Bestrebungen nach
Sozialist ist, so wird es einem nicht ganz leicht, sein Schaffen zu verstehen, es sei denn, dass es eine
Verneinung unserer an Schönheit verarmten Welt bedeute. Und so kann man sich vorstellen, wie
der sozialistische Künstler für Waffenkampf, Ritterwesen, antikes und feudales Herrenthum sich be-
geistert. Viele seiner romantischen Figurenbilder wirken ja auch in erster Linie dekorativ. Seinen
« Pegasus » könnte man der Metope eines dorischen Tempels entlehnt glauben. Im gleichen Sinn die
«Schicksalsrolle» 1882, ein Bild, das mir etwas zu geistreich ist, auf dem man lesen muss und zwar
lateinisch, zu dem man eine Erklärung braucht, während die Gestalten selbst schweigen. Der Drang
nach der Tiefe führt hier Crane nach Art der verflossenen deutschen Kunst ins Litterarische, in das.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
23
was besser geschrieben als gemalt wird. Einen sozialistischen Hintergedanken hat wohl auch das
prächtige Bild «Englands Wahrzeichen«, Freilich ist es nicht ein solcher, wie etwa Singer oder
Liebknecht ihn hervorbringen würden. England als mittelalterlicher St. Georg, als Heiliger, als feudaler
Herr rennt auf prächtig ausholendem Schimmel gegen den über Menschenleichen fauchenden Drachen
an. Im Hintergrund qualmende Fabriken, Soll St. Georg sie vom Drachen des Kapitalismus befreien ?
Vielleicht ist es ein Mangel meiner sozialpolitischen Einsicht, dass ich, an deutsche Sozialisten gewöhnt,
mir einen «Genossen» nicht als von starkem Vaterlandsgefühl beseelt denken kann, vielleicht ist
es aber auch ein
Mangel in meinem
Kunstverständniss,
dass ich mir die
Frage nach dem In-
halt oder vielmehr
der Nebenbedeut-
ung des Bildes erst
im Schreiben vor-
lege. Bisher sah ich
das Bild mit Kinder-
augen an und freute
mich am starken
Pferd, dem gewand-
ten Reiter, an der
lustigen Farbe, wie
ich — offen gestan-
den — auch Keat's
Romanze von der
Belle Dame sans
Merci nicht gelesen
habe und darum
Crane's Bild aus
dieser nicht weniger
glaube verstehen zu
können — als Bild !
Der « Wagenlauf
der Stunden » (The
Chariot's of the
Hours) ist Crane's
in Deutschland wohl
bekanntestes Bild ;
1887 gemalt, er-
schien es 1891 auf
der Internationalen
Ausstellung in Ber-
lin. Es ist zugleich
eines, das die pho-
tographische Wie-
dergabe fast in sei-
ner malerischen
Wirkung erreicht,
da es mit kräftige-
ren Lichtwirkungen
arbeitet, die Leb-
haftigkeit der Be-
wegung, der Fluss
Wal/er Crime. Studie für das liild: Em Bote des Frühlings rIprPn 1- f ' H
in voller Deutlichkeit zur Schau kommt. Aehnlich «Neptuns Pferde» (1893) die Darstellung der
Wogen als ansprengender Rosse.
Bei Würdigung des Malers Crane darf man nie dessen Vielseitigkeit ausser Acht lassen. So
seine Leistungen als Musterzeichner : Er hatte erfahren müssen, dass ein pfiffiger Tapetendrucker die
Zeichnungen aus seinem Bilderbuch «The Babys Opera» zu einem Muster für seine Waaren benutzt,
eine Tapete für Kinderzimmer daraus gefertigt hatte. Das Buch, 1877 erschienen, war eines der
grössten Erfolge Crane's gewesen, später gefolgt von dem verwandten «The Babys Bouquet» (1879)
24
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und dem künstlerisch noch höher stehenden «Pan Pipes» (1882) und «Babys Own Aesop» (1886) zeigen
deutlich Caldecotts und Greenaway's Einfluss an der farbigen Behandlung. Sie wird schlichter bei
wenigen, leichter behandelten Farben, doch reicher in der Wirkung, die Zeichnung klassischer, trotz des
modernen Gewandes, die Stilisirung freier von Gewaltsamkeiten. « Floras Feast » (1888) und «Queen
Summer» (1891) gehen immer weiter in der freien, eigenartigen duftigen Behandlung, in der Ueber-
windung dessen, was Crane selbst das Barbarische an seinen ersten Arbeiten nannte, führen ihn immer
mehr in's Wunderland. So ist in Queen Summer das Turnier zwischen Rose und Lilie in einer Fülle der
reizvollsten Kompositionen, mit ächtestem Dichterthum dargestellt, voll einer Romantik, die uns Deutsche
wunderlich an unsere eigene Zeit der sanften Helden und der duftigen Ritterfräulein mahnt : Zu Floras
Feast dichtete er selbst die Reime, zu dem letzten Hauptwerk « Echoes of Hellas » Hess er einem
anderen, F. G. Warr, die erklärenden Verse beifügen, hier das Griechenthum mit neuenglischem Geist
durchwirkend, den Fall von Ilion und Oreste.s' Irrfahrt. Das ist sehr geistreich, sehr fein empfunden,
von ausserordentlicher Schönheit der Linienführung : Dazu in Umdrucken nach des Künstlers eigener
Federzeichnung, ächteste unmittelbare Zeugnisse seiner Kunstart. Aehnlich das nur in einem Ton ge-
druckte «Book of Wedding Days» (1889).
Jener Tapetendrucker hatte zwar wenig Rücksicht, aber gutes Verständniss des Marktes gezeigt,
indem er Crane's Zeichnungen sich schlankweg für seine Zwecke aneignete. Bald nahm der Künstler
selbst ähnliche Arbeiten auf und zeichnete für Mr. Metford Warner oder dessen Firma Messrs.
Jeffrey & Co. eine Reihe höchst merkwürdiger Tapeten. Sie haben alle Namen : « The Margarete »
(1875) mit einem Fries aus allegorischen, des alten Chaucers Dichtungen entlehnten Gestalten,
«The House that Jack Built«, anschliessend im Text,
nicht in der zeichnerischen Darstellung an Caldecott's
berühmtes Bilderbuch, «Corona Vitae», «The Fairy
Garden» und wie sie alle heissen, namentlich aber des
Pfauenmuster und solche, die für bestimmte Gebäude,
für die arabische Halle des Malers Sir Frederic
Leighton, für Mr. Stuart Hodgson geschaffen werden.
Der Aesthetiker hat wohl mancherlei gegen diese
Tapeten und gerade ihren Reichthum an Gedanken zu
sagen : « The Hoüse that Built » giebt ein dekorativ
dargestelltes Haus wieder, vor dem die in der kleinen
Geschichte so bedeutungsvolle Kuh steht; ferner Hahn,
Hund, Katze, ein vor gothischer Architektur stehender
Mönch, das Milchmädchen und der Held der Geschichte
vor ihm knieend, die Hand zum Veriöbniss gereicht.
All das sehr stark stilisiert, sehr geschickt ineinander
komponirt, aber doch auf einer Wand hundertfach
wiederholt, so daSS die Vielheit der Darstellung deren Walter Crane. Studie zu dem Bilde : Das Nahen des FrUhlmgs
Walter Crane pini.
Phot. F. Hanfataengl, Mönchen
Die Wasserlilie
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
25
.K. - ;»;.-«
Walltr Crane. Rom vom Monte Parioli, im Frühjahr
geistigen Werth beeinflussen muss: Es kommen eben hundert von Häusern, Verlobungen, krähenden
Hahnen auf eine mit der Tapete beklebte Mauerfläche, es tritt dadurch das Maschinenmässige der
Herstellung mit harter Deutlichkeit vor das Auge des Beschauers, es widerspricht das Ganze dem Streben
nach Wirkung der künstlerischen Handarbeit, für die Crane so viel Thatkraft und Eifer einsetzte.
Er stellte sich an die Spitze einer Bewegung, die dem zeichnenden Gewerbekünstler öffentliches
Ansehen und das Recht verleihen will, dem Werk der Industrie seinen Namen mit auf den Weg in den Handel zu
geben. Er schuf Ausstellungen, in welchen nicht der Fabrikant, sondern der Zeichner die Gewerbeerzeugnisse,
zu denen er den Gedanken gab, vorführte. Die dekorativen Künstler und Handwerker, schrieb er im Vorwort
zur ersten von diesen, haben bisher nur wenig Gelegenheit gehabt, ihre Arbeiten dem grossen Publikum
vorzuzeigen, um dessen künstlerisches Urtheil anzurufen, wie es die Maler thun. In einer Zeit, in der
Jeder, der die Mittel dazu besitzt, sein Haus künstlerisch auszuschmücken sucht und in der man sich
mehr denn je um die Künste kümmert, jedenfalls mehr von ihnen spricht, weiss man von den Schöpfern
und Zeichnern der uns umgebenden kunstgewerblichen Gegenstände nichts. Bei der heute üblichen
Schaffensweise wird unstreitbar der Werth des Einzelnen, welcher so wichtig bei allen künstlerischen
Aeusserungen ist, zu sehr in den Hintergrund gedrückt, der Handel, die Maschinen, die Fabriken
haben sich mit rein kaufmännischen Absichten der Leitung bemächtigt, geschickte Handelsleute
haben den Markt künstlich heraufgeschraubt, sie haben sich gegenseitig die Erfindung irgend einer
eigenartigen Form, die dann für kurze Zeit das modernste und allerneueste war, streitig gemacht.
II 4
26
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Diese Sucht nach etwas Anderem, noch nie Dagewesenen, vertritt in unseren Tagen nur zu oft die
Stelle von künstlerischem Geschmack und wahrer Liebe zur Kunst. Wenn wir aber unsere Theilnahme
nur auf Gemälde und die zeichnenden Künste beschränken, so liegt die Gefahr nahe, dass wir den Sinn
für das Entwerfen, für das Formen verlieren, jenen Sinn für das Anpassen des Stoffes zum
darzustellenden Gegenstand, das Gefühl für die Verwandtschaft des Stoffes zum Kunstwerk, aus dem
heraus die grossen Schöpfungen der Vergangenheit entstanden sind.
Die Grundlage für jede Kunst, sagt Grane, liegt im Handwerk ; nur wenn der Handwerker ein
wirklich künstlerisches Empfinden besitzt, wenn er durch seinen Geist selbst dem an sich unwichtigsten
Gegenstand, dem einfachsten Material ein künstlerisches Gepräge zu geben weiss, das ebenso hoch steht
wie die Fähigkeit gute Bilder zu malen, ist die Kunst in einem normalen, gesunden Zustand.
Wenn unter den Handwerkern keine Künstler mehr zu finden sind, dann werden sie auch sonst
verschwinden und sich in Kaufleute und Fabrikanten verwandeln.
Durch die sogenannten « Arts and Graft Exhibitions » suchte Crane diesem Schaden zu begegnen.
Eine Menge von Schwierigkeiten war zu beseitigen. Es war bei der gewerblichen Sachlage in England,
wie anderwärts, nicht immer leicht, den wirklichen Schöpfer und Zeichner ausgestellter Objekte heraus-
zufinden, um ihm und seiner Thätigkeit gerecht zu werden. Meist haben eine ganze Reihe Künstler
an einem Gegenstand gemeinsam gearbeitet; mehrere grosse leitende Firmen wollten sich nicht der
Bedingung fügen, bei jedem Gegenstand anzugeben, wer ihn entworfen und erfunden habe. Unter den
Handwerkern fanden sich nur Wenige, die unabhängig und mit persönlichem Selbstbewusstsein für
ihre Werke einstanden. Es ist, schreibt Crane weiter, jedenfalls nicht richtig, die Spitze eines Baumes
zu begiessen, wenn die Wurzel nach Nahrung verlangt, und selbst ein ungünstiges Ergebniss seiner
Untersuchung des künstlerischen Gesundheitszustand schien ihm besser, als gänzliche Ungewissheit.
Mein Freund Peter Jessen, der kundige Direktor der
Bibliothek des Berliner Kunstgewerbe -Museums, hat Crane für
Deutschland eine neue Bedeutung gegeben , indem er meinem
Rathe folgend, ihn aufforderte, einmal eine Serie seiner Arbeiten
zur öffentlichen Ausstellung herüberzuschicken. Es kamen deren
eine grosse Zahl : Fast alle die Originale für seine Illustrationen,
mehrere selbständige Bilderund es fand sich in Ernst Seeger
auch ein Kunstfreund, der mehrere von diesen auf deutschem
Boden festhielt. Seitdem haben Crane's Gemälde auf deutschen
Ausstellungen eine Anerkennung gefunden, die ihnen in England
nicht in immer gleichem Maasse zu Theil wurden. Bietet er
doch das, wonach auch wir in so vielerlei Ansätzen streben:
Eine eigenartige Erscheinung im Kunstleben seines Volkes, die
von gewerblicher Grundlage zur hohen Kunst sich aufrichtete,
ohne je diese Grundlage zu verleugnen : Ein Künstler mit
dekorativem Streben.
Walttr Crane. Studie für ein Bild:
Die vier Jahreszeiten
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
27
Seit jene beiden Berliner Herren mich verliessen, hat englisches Gewerbe einen mächtigen, wohl
gar zu mächtigen Einfluss auf unser Schaffen erhalten. Nicht zum mindesten das was Crane erstrebt
hat. Er würde wohl der Letzte sein, der uns den Rath gäbe, seinen Bahnen zu folgen. Zum Leiter
der Kunstschule in Manchester berufen, wird er uns ein gefährlicher Rivale auf der nächsten Welt-
ausstellung werden, dem wir nicht werden Stand halten können, wenn wir ihn nachahmen. Aber es
steckt in ihm so viel Germanisches, so viel dem Deutschen Verwandtes, dass wir sein Schaffen tiefer
fassen können, als durch Nachahmung. In dem Selbstbesinnen, in dem Verlassen auf den eigenen
Geschmack, in dem Durchdringen der Form mit volksthümlichem Geist liegt das, was an ihm uns
allein vorbildlich sein sollte.
Eines der schönsten Blätter, die Crane für den Holzschnitt schuf, ist in Erinnerung an den
internationalen Feiertag, den i. Mai 1891: Voraus auf geflügelten, von Genien gefasstem Ross der
Walter Crane. Die Wahrheit und der Wanderer
Standartenträger, dahinter Arbeiter mit phrygischer Mütze und dem Banner: « Liberty, Equality,
Fraternity», hinter schwerem Ochsengespann ein Leiterwagen mit den Aufschriften: «Arbeit ist die Quelle
des Wohles«, «Wacht Arbeiter über die Einigkeit aller Länder»; neben ihnen ein Reiter mit der
Fahne « Oekonomische Freiheit», Singende, Tanzende, Flötende als Begleitung. Zwei Mädchen halten
den Globus empor, der die Inschrift trägt: «Die internationale Solidarität der Arbeit», die Männer im
Wagen helfen sie mit erhobenen Händen stützen, lieber dem Blatt die Inschrift: «Der Triumpf der
Arbeit». Ein Blatt voll Kraft, voll Leben, voll Schönheit, unverkennbar gezeichnet mit dem Herzblut
des Künstlers.
Seither sind sieben Jahren vergangen. Ich weiss nicht, ob Crane jetzt, nachdem auch unter
den Arbeitern gerade im Londoner Kongress von 1896 sich der nationale Zwiespalt so stark äusserte,
noch hofft, dass der Kampf von Volk zu Volk, der Kampf der Waffen wie jener nicht minder erbittert,
wenn auch auf Ausstellungsbanketten der «friedliche» genannte Kampf des Gewerbes und der Arbeit,
28 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
einst werde beseitigt werden können. Ob er noch auf die Gleichheit der Menschen hofft, er, dessen
ganzer Werth darin liegt, dass er den Anderen ungleich ist ; ob er mit seinen Landsleuten uns Deutschen
nicht verzeiht, dass wir den Weltmarkt, ihnen freilich zum Schaden, zu erobern trachten; dass wir das
internationale Ringen um das Brod der Fabrikarbeiter aufnehmen, in dem zwar keine Kugel, wohl
aber der Hunger nicht minder fruchtbar Wunden schlägt; ob er noch träumt ein System, eine wirth-
schaftliche Neuordnung, werde alle diese Schäden beseitigen können und wenn es dies könne, die
Masse werde diese Ordnung zweckmässig durchführen können.
Ich halte mich an seinen heiligen Georg. Der gepanzerte Wille und der Kampfesmuth des
Einzelnen wird den Drachen niederwerfen. Wohl dem Volk, das herzhafte Manneskraft hochhält und
es verträgt, dass Einer Herr seil In friedlichen Schlachten, wie die kriegerischen, siegt nicht der
Haufe, sondern der befehlende Wille. Das muss doch wohl einem Manne klar werden, der durch
eigene Kraft ein Herr geworden ist in seinem Gebiet, dem die Erkenntniss sich sicher aufdrängt, dass
nicht der gemeinsame Wunsch Vieler, sondern die leitende, andere in ihrem Thun bestimmende Kraft
weniger Starker den Triumpf der Arbeit herbeiführt.
Mir fehlt ein Bindeglied, um den Gedanken zu begreifen, dass ein so eigenartiger Künstler, wie
Grane hoffen kann, das von ihm so heiss umworbene Gebiet, die Kunst, um mich fachmässig auszu-
drücken, durch planmässig kollektivistische Produktionsweise an Stelle der individualistischen besserer
Zukunft zugeführt zu sehen.
Oder schaut hier das Kinderthum des Meisters durch die politische Maske : Verliert er sich
so gern in Träume einer schöneren Zukunft als in Träume reicherer Vergangenheit: Und glaubt er
so redlich an Träume — hier wie dort? — —
Walter Crane. Skizze vom Charles River, Concord,
Mass. U. S. A.
Walter Crane piDx
Ptiot. f UaufHUeugl, Müucheii.
In den Wolken
Original im Besitz des Herrn Commerzienrath E. Seeger in Berlin
Walter Crane piiix.
Phot. F. IIuLf^UiLUi;!. iHiai;hfU
Pegasus
BENJAMIN VAUTIER t
VON
HEINRICH ROTTENBURG
Die Leser dieser Hefte haben aus anderer Quelle wohl längst den Tod Benjamin Vautier's,
des grossen und populären Künstlers, erfahren, der am 25. April d.J. in Düsseldorf von hinnen
geschieden ist. Man braucht gar kein wüthender Verächter der Menge zu sein, um zu wissen, wie
selten die beiden Epitheta «gross und populär» auf einen Künstler zutreffen; das wahrhaft Grosse
in der Kunst ist eben fast
nie der breiten Volks-
masse mundgerecht zu
machen und sie wird es
nur dann ganz erfassen
und mitempfinden, wenn
es so tief im Herzen und
im Geiste des Volkes
wurzelt, wie bei Benjamin
Vautier und den anderen
deutschen Genremalern
von seinem Range, einem
Knaus, einem Defregger,
einem Grützner. Benjamin
Vautier, der Meister mit
dem französischen Namen
ist als Künstler urdeutsch ;
deutsch ist seine Empfind-
ung, sein Stoffgebiet, seine
Formengebung und Far-
Bcnjamiii Vautier
Originalaufuahme von Franz Hanfstaengl
bensprache, deutsch sein
Gemüth und sein Humor.
Es wurde schon manche
Feder stumpf geschrieben
über Untersuchungen,
warum gerade die eigent-
liche Genremalerei so fast
ausschliesslich Erbtheil
unseres Volkes ist: bei
den Romanen, namentlich
Italienern und Spaniern,
wird sie zu mehr oder
minder virtuosen meist
sehr äusserlichen Wieder-
gabe arrangirter Scenen ;
bei den Franzosen kennt
man sie kaum und unter
den unzähligen Pariser
Malern sind die berufs-
mässigen Darsteller genre-
hafter und anekdotischer Themen schnell gezählt, weil die Pflege des Stafifeleibildes dort unter dem
Streben nach dekorativer Wirkung sehr vernachlässigt wurde; bei den Engländern hat der hypersen-
sitive Zug ihrer modernen Kunst die gesunde Behaglichkeit sehr beeinträchtigt, welche einer richtigen
Genremalerei ihre natürliche Basis gibt; bei den Nordländern ist die möglichst treue Nachbildung
II 5
30
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
eines Naturausschnittes zur Parole geworden und jede absichtliche Anordnung und novellistische Er-
findung verpönt; und fast nur der Deutsche trifft jenen warmherzigen, gemüthstiefen Erzählerton, zu
dessen typischen Meistern wir Benjamin Vautier zählen durften.
Er ist in der Schweiz, in Morges am Genfer See, Kanton Waadt, geboren als der Sohn eines
Pfarramtskandidaten und wie Freunde des Künstlers versichern, hat er seltsamer Weise in seinem
äussern Wesen, seiner Sprache u. s. w. die Schweizer Art nie abgelegt, so sehr er sich in Kunst und
Empfindung unserer nationalen Eigenart anpasste, ja in ihr aufging. Sein Leben ist kein Künstler-
roman, der als solcher Sensation machen würde; und doch ist es interessant, gerade weil es in einer
Weise verlief, die man für die Entwicklung eines Talentes von seinem Schlag fast typisch nennen dürfte.
Er wird in einem Hause geboren, in dem von Kunst nicht viel die Rede und für sie nicht viel
Boden ist, einem strenggläubigen, gottseligen Pastorenhause, wo Güte und milde Menschenfreundlichkeit
einen wesentlich breiteren Raum einnehmen als Temperament
und Phantasie. Aber von der Mutter her ist doch der Keim
zur Sehnsucht nach dem Schönen in seiner Seele. Er hat
des Lebens ernstes Fühlen vom Vater, die Frohnatur, die
Lust am Fabuliren von der Mutter, wie ein Goethe es von
sich sagen konnte. Da ist ein Bruder der Mutter, der nicht
ohne Geschick in den schönen Künsten dilettirt und von
dessen Schaffen auch wohl die erste Anregung in die Kinder-
seele fällt. Der Knabe besucht die Schule, macht aber gerade
keine glänzenden Fortschritte, zum Schmerze des Vaters,
dessen pastoraler Lebensanschauung natürlich die denkbar
musterhafteste Schülerlaufbahn als eine erstrebenswerthe
Garantie für ein späteres gottgefälliges Dasein erscheint. Da-
für schmiert der Jüngling in der Schule und zu Hause TLsche
und Wände voll mit lustigen Fratzengesichtern, Caricaturen
der Lehrer und Kameraden. Wie viele Talente haben so angefangen ! Die Mehrzahl gewiss !
Natürlich soll der Sohn sich für die Laufbahn des Vaters vorbereiten — natürlich taugt, was
ein Maler werden will, nicht zum Seelenhirten. Aus dem Pfarramtskandidaten Vater Vautier ist in-
zwischen ein wohlbestallter Pastor in Noville im Rhonethal geworden, der seinen Sohn Benjamin mit
13 Jahren auf das Gymnasium nach Lausanne schickt. Die «Wohlbestalltheit» dauert aber nicht lange.
Wie Friedrich Pecht in seiner warmherzig geschriebenen Biographie des Künstlers erzählt, blieb der
Friede im Pastorenhause nicht auf die Dauer ungestört. Im Jahre 1847 brach in der Schweiz, eine Vor-
ahnung des tollen Jahres, jene «demokratische Bewegung» los, die unter Anderem zur Folge hatte,
dass auch die Besetzung der Pastorenstellen von Wahlen abhängig wurde. Nun war Vater Vautier,
wenn auch kein Zelot, so doch ein strenger Gottesmann und eifriger Hüter reiner Sitten und vertrug
sich nicht aufs Glänzendste mit seiner Gemeinde, die gerne zechte und fröhlich war. Als es dann
zur Wahl kam, wurde Vautier nicht wiedergewählt, ein schwerer Schlag für die Pastorenfamilie.
Benjiimin Vautier. Studienzeiclinung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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Binjamin Vautier. Studienzeichnung
Unter der Einwirkung dieser Katastrophe kam der Sohn ins Vaterhaus zurück und setzte es denn nun,
wenn auch mit schwerer Mühe durch, dass er Maler werden durfte. «Es kostete das», meint sein
Biograph, «nicht geringe Anstrengung, da es in den Augen selbst des Vaters, aber noch viel mehr
der Mitbürger, damals noch ungefähr ebenso viel heissen wollte, als wenn er unter die englischen
Reiter oder andere Gaukler gegangen wäre». Damals? — So mächtige Gewalt die Kunstpflege auch
heute über unser ganzes öffentliches Leben gewonnen hat, man braucht selbst in unserer Zeit durch-
aus nicht ein weltverlorenes schweizerisches Provinznest aufzusuchen, um in den bekannten «besten
Kreisen» eine ganz ähnliche Auffassung vom Künstlerberufe vorzufinden; zum Mindesten wird man
sehr leicht auf die Auffassung stossen, dass bei einem Maler eine einigermassen geordnete Lebens-
führung viel unwahrscheinlicher sei, als das Gegentheil.
Vielleicht hätte Benjamin auch damals seinen Willen nicht durchgesetzt, wäre der Vater nicht
durch die geschilderten Verhältnisse gezwungen worden, sich in Frankreich nach einer neuen Pastoren-
stelle umzusehen; dadurch war er auch ausser Stand gesetzt, den Sohn überhaupt noch zu unterstützen
und dieser musste nun, wohl oder übel, sein Brod selbst verdienen.
32 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Also denn: auf zur Kunst! Viel Vorschule dazu hatte der junge Mann bis dato nicht genossen.
In der Kindheit hatte er die erste Anregung zu künsderischen Dingen aus den zweifelhaften Holz-
schnitten eines wohlfeilen Bilderblattes, «le monde illustre» geschöpft, das im Vaterhause auflag, und
zur Weiterbildung hatte nicht Vieles beigetragen. Wahre Kunst war ja überhaupt in jenem schönen
Lande noch recht dünn gesät und der Malerberuf wurde zumeist ziemlich banausisch betrieben, indem
es sich meist um die mehr oder minder mechanische Herstellung billiger Landschaftsbilder zu Zwecken
der Fremdenindustrie handelte.
Benjamin Vautier wandte sich zunächst nach Genf und nahm bei dem Maler Hebert ein Jahr
lang Zeichenunterricht. Dann trat er bei einem Emailmaler in die Lehre, musste sich aber verpflichten,
vier Jahre als Leibeigener bei diesem Meister zu verbleiben und in der That hat er volle zwei Jahre
lang das wenig anregende Geschäft betrieben, Uhrgehäuse und Schmuckgegenstände mit bunten Bildchen
zu schmücken. Auch in dieser Knechtschaft vergass Vautier seine Fortbildung nicht. Er studirte
nebenbei in der Zeichnungsakademie des Museums Roth und machte regelmässig den Abendakt mit.
In seinen freien Stunden verdiente er sich ausserdem manchen Groschen durch das Malen von Portraits
und Aquarellen, die er an Kunsthändler verkaufte. Dabei wurde sein Talent immer mehr offenbar,
er wurde mit den namhaftesten Genfer Künstlern bekannt, mit Calame, von dem einst auch ein Böcklin
gelernt, mit dem Landschafter Diday, mit dem Historienmaler Lougardon und Anderen. Auch materielle
Erfolo-e wurden dem strebsamen iunaen Talent: Vautier's Arbeiten fanden immer besseren Absatz und
nach zwei Jahren war er, Dank seinem unermüdlichen Fleisse, in der Lage, sich aus seiner « Leibeigen-
schaft» loszukaufen und zwar um den Preis von 1200 Franken. Von nun ab lebte er ausschhesslich
der Kunst. Er arbeitete zunächst in Lougardon's Werkstatt, um malen zu lernen und trieb dann volle
zwei Jahre ein fleissiges Selbststudium in Genf. Als dann der für seine Zeit sehr bedeutende Genre-
maler van Muyden von Rom zurückkehrend sich wieder in seiner Vaterstadt Genf etablirte, schloss sich
Vautier an ihn ganz besonders eng an und gewann wohl auch durch ihn die Anregung, sein künftiges
«Fach», die Genremalerei, zu wählen. Der Jüngling fühlte wohl selbst, da.ss er in Genf nicht zu
Grossem gelangen konnte und fragt denn van Muyden um Rath, was er zu thun habe. Ein Aufenthalt
in Paris wäre wohl das Beste und für den französischen Schweizer auch Zunächstliegende gewesen,
aber Papa Vautier gestattete in seiner Sittenstrenge nicht, dass sein Sohn den Weg nach dem Seine-
babel einschlage. Und da Benjamin ein viel zu gehorsamer Sohn war, um das heimlich Erstrebte
gegen den Willen der Eltern zu thun, reiste er denn, seine Wünsche bescheidend, auf van Muyden's
Rath zunächst nach Düsseldorf, wo er 1850 ankam. Dort hatte sich bereits ein reges Kunstleben
zu erfreulicher Blüthe entwickelt und der junge Mann wandte sich, den Busen voll der schönsten
Hoffnungen, zur dortigen Akademie. Aber er hatte die Rechnung ohne den akademischen Geist gemacht.
Wie Fr. Pecht nach Vautier's eigenen Mittheilungen erzählt, hatte dieser als Proben seines
Könnens eine Anzahl, seiner Meinung nach, nicht schlechter Zeichnungen mitgebracht. Sie waren aber
nicht mit der scharfen Ausbildung der Konturen und den schematischen Kreuzstrichlagen gezeichnet,
wie sie damals die «deutsche Kunst» liebte, sondern nach Art der französischen Schule in kräftiger
breiter Flächenbehandlung, wobei dem Studium der Tonwerthe Rechnung getragen war, — einer terra
It Vautler pinx.
Phot. V. Hnnfttflongl. MHooben
Aufforderung zum Tanz
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
33
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
incognita (damals, wie meist heute noch) für den echten
deutschen Akademiker. Pochenden Herzens legte Vautier
seine Arbeiten dem Direktor Schadow vor, der in seiner
starren und kalten Kunstweise alt geworden, despotisch
und voll Pedanterie allem Neuen gegenüberstand. Trotz-
dem Vautier von einer einflussreichen Persönlichkeit, einem
Herrn, der zugleich ein persönlicher Freund des Düssel-
dorfer Akademiedirektors war, Empfehlungen mitbrachte,
warf dieser doch die Zeichnungen des jungen Mannes
verächtlich bei Seite mit dem kategorischen Ausspruch :
«Das ist ja Alles unbrauchbares französisches Zeug!
Sie müssen ganz von vorne anfangen, wenn Sie etwas
Rechtes lernen wollen».
Vautier gab nichts auf das Unheil des grossen
« Kunstherrn ». Und er hatte Recht. Von Wilhelm Schadow
weiss die Kunstgeschichte heute kaum mehr den Namen
und auch den nur darum, weil ihn ein Grösserer vor
ihm getragen. Benjamin Vautier aber hat zu den Besten seiner Zeit gezählt und als er jetzt —
ein Siebziger fast — den Pinsel für immer aus der Hand legte, war sein wohlverdienter Ruhm
auch noch nicht um einen Schatten verblichen.
Zunächst also schüttelte er damals den Staub des Schadow'schen Ateliers von seinen Schuhen
und arbeitete einige Monate wieder mit eisernem Fleisse Studien in der Künstlerwerkstatt eines Freundes.
Als dann die Zeit der alljährlichen akademischen Konkurrenz herankam, meldete er sich mit den neu-
geschaffenen Arbeiten und den alten Aktstudien abermals und er gefiel der Mehrzahl des Lehrer-
kollegiums so wohl, dass er sofort in die Malklasse aufgenommen wurde. Sein Studium in der Akademie
dauerte aber nur knapp dreiviertel Jahre, denn er fühlte bald, dass diese Kunsthochschule unter
der gestrengen Schadow'schen Leitung in einen Zustand
schlimmer Verwahrlosung gerathen und dort nichts mehr
für ein werdendes Talent zu holen war. So begab er sich
denn unter die Aegide von Rudolf Jordan (geb. am 4. Mai
1810 in Berlin, gest. am 26. März 1887 in Düsseldorf), der
damals im Zenith seines Ruhmes stand. Er war 1834 durch
seinen « Heirathsantrag auf Helgoland», der jetzt die Ber-
liner Nationalgalerie ziert, mit einem Schlage berühmt
geworden und erhielt sich seinen Ruf durch den künst-
lerischen Ernst seines Schaffens. Er zuerst lauschte die
Gestalten seiner Genrebilder wirklich der Natur ab und
brachte statt der schablonenmässigen, konstruirten Puppen Benjamin Vautier. Studienzeichnung
34
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
lebendige Menschen auf die Leinwand; aber er malte auch nach der Natur, er brachte, wie Ad. Rosen-
berg betont, als einer der Ersten unter den deutschen Malern das Grau der Lufttöne in seinen
Bildern aus dem Fischer- und Schifferleben ausgiebiger zur Anwendung. Dadurch lieh er neben der
harten Malweise seiner Zunftgenossen den eigenen Bildern einen Schein wahren Lebens ; in den
späteren Jahren freilich ward das Grau in seinen Bildern nahezu zum Uebermass. Vautier's Malweise
ward durch Jordan glücklich beeinflusst. Wenn er auch nie ein starker Kolorist gewesen ist, einer
von denen, welchen die Farbe neben Form und Inhalt als gleichwerthiges Element des Kunstwerks gilt,
so ist seine Farbe
doch immer gesund
und sympathisch
und seine Maltech-
nik trefflich ge-
nug , um auch
durch sich selbst
zu reizen und Be-
wunderung zu er-
regen. Dazu muss
man bedenken,
dass wir, seit einem
Jahrzehnt an die
stärksten Selbst-
herrlichkeiten und
Absonderlichkei-
ten in der Farben-
gebung, an die
kühnste Handhab-
ung der Extreme
vom farblosen Grau
bis zur tollsten Far-
bigkeit gewöhnt.
Benjamin Vaulicr. Studienzeichnung
heute kaum mehr
zu erfassen ver-
mögen, dass künst-
lerische F"reiheiten,
wie sie sich da-
mals Jordan und
Vautier heraus-
nahmen, damals als
Ausfiuss unerhör-
ter Kühnheit be-
trachtet wurden.
Bei Jordan lernte
Vautier, was ihm
zu selbständigerem
Schaffen als Maler
noch fehlte — sein
Stoffgebiet hatte
er aber noch immer
nicht so eigentlich
entdeckt. Da führte
ihn der Sommer
des Jahres 1853
ins Berner Ober-
land und er lernte dort den Genre- und Landschaftsmaler Karl Girardet kennen, der aus einer der
bekanntesten Schweizer Künstlerfamilien stammt und deren namhaftestes Mitglied war. Dieser wies
ihn sowohl auf die landschaftlichen Reize der Heimath, wie auf den malerischen Reiz und den
Gestaltenreichthum des heimathlichen Volkslebens hin, und Vautier, dem jetzt die Ahnung seiner künst-
lerischen Welt aufging, malte zunächst dort einen ganzen Sommer lang Studien nach dem Leben. Ein
richtiges grösseres Werk wollte freilich noch nicht zu Stande kommen und auch die nächsten Jahre
vergingen wieder in Suchen und Tasten, in Studiren und Experimentiren. Als dann der junge Maler
im Sommer 1856 nach Genf kam und bei seinem alten — ■ vor Kurzem nun auch verstorbenen —
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
35
Meister van Muyden wieder zu malen begann, wies ilin dieser noch energischer auf das Stoffgebiet
des Bauernlebens hin und Vautier sah seinen Beruf zum Genremaler — es gibt nun einmal kein
anständiges deutsches Wort für diesen Begriff — immer deutlicher ein. Dazu kamen die beginnenden
Triumphe des jungen
Ludwig Knaus, der
mit seinen , in Paris
gemalten, ländlichen
Genrebildern dort
und allenthalben durch-
schlagenden Erfolg er-
rungen hatte. Auch
Vautier beaab sich
noch im Herbst 1856
nach Paris, wo er frei-
lich, trotz aller übrigen
künstlerischen Anreo--
ung, nicht ganz fand,
was er suchte. Selbst
Knaus war nach dem
Urtheile seiner Zeit-
genossen der Pariser Aufent-
halt nicht ganz zum Vortheile
ausgeschlagen ; sie fanden das,
was er malt, zwar vortrefflich,
aber nur dem Gegenstande,
nicht dem Wesen nach deutsch.
Vautier blieb nur den Winter
über in der Kunststadt an der
Seine und kehrte schon nach
sechs Monaten nach Düssel-
dorf zurück, obwohl er in Paris
mit dem Malen einer figuren-
reichen Komposition begonnen
hatte. Diese, «eine Kirchen-
Benjamiii Vautier. Studien7,eichmin<;
scene», malte er nun
in Düsseldorf fertig
und sie brachte ihm
auf der grossen histori-
schen Münchener Aus-
stellung 1858 einen
grossartigen Erfolg
ein. Durch Krankheit
im Arbeiten gehindert,
musste er fast das
ganze folgende Jahr
an das Bild wenden.
Es schildert die An-
dächtigen in einer
Schweizer Dorfkirche
während des Gottes-
dienstes. Im Mittel-
punkte der betenden Gruppen
finden wir ein rührend schönes
Mädchen zwischen Mutter und
Grossmutter in seine Andacht
vertieft. Das Bild gefiel nicht
allein um der liebenswürdigen
und naturtreuen Darstellune
willen, sondern namentlich auch
durch den, in München damals
noch fast unbekannten feinen
Ton der Malerei
In einem Bericht des « Deut-
schen Kunstblattes » aus dem
Sommer 1857 ist uns ein Do-
Benjainin Vautier. Studienzeichming
kument darüber erhalten, wie es damals in Vautier's Werkstatt aussah; die Zeilen seien in Folgendem
wiedergegeben, da sie zugleich auch von einigen Bildern des werdenden Meisters in kurzen Worten
berichten: «Benjamin Vautier aus Genf, jetzt in Düsseldorf, wo ihm eine schöne, liebliche Braut blüht,
zeigt uns in seinem Atelier ein anmuthiges Bild, ein junges, blondes Mädchen am Spinnrade singend,
36 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
wie die Haltunjj des Kopfes und die geöfifneten Lippen zeigen, und daneben, den müden Kopf auf
die Hand gestützt, eine Alte am Herde sitzend. Der magere Arm der Alten, ihre ganze Stellung,
Alles hatte etwas ungemein Lebenswahres, die einfache Situation etwas sehr Ansprechendes Ergötzlich
war das Mittagsmahl in einer Bauernstube : die Mutter, eine kräftige, frische Gestalt, füllt eben die
Suppe zum zweiten Male einem derben Knaben auf, der offenbar den gesundesten und grössten
Magen in der. Familie hat und aufgestanden ist, um den Teller zu reichen, ein anderes Kind lässt es
sich schmecken, ein ganz kleines, blondgelocktes Jüngelchen, noch geröthet vom Schlaf, im Hemdchen,
nur mit Strümpfen bekleidet und in zitternden Händchen den Löffel haltend, sieht eifrig in den Teller
hinein, ein grösseres, schlankes Mädchen hat sich eben zu Tisch gesetzt und blickt zum Bilde hinaus
auf den Beschauer. Noch ein angefangenes Bild «Landleute in den Kirchenstühlen sitzend und singend»,
versprach viel, die Zeichnung und Anlage der Köpfe, der Ausdruck der Gesichter war sehr schön;
mit vorzüglicher Liebe wieder war das ausdrucksvolle Profil einer alten Frau gemalt. Eine Skizze,
ein Berner Mädchen in der kleidsamen Tracht, und schön, wie fast alle Berner- und Brienzerinnen,
war ein liebliches Seitenstück zu Schröder's (des Düsseldorfer Humoristen) Küfer. Er zeigte uns noch
eine alte hexenhafte Frau, die er mit Knaus zusammen nach dem Leben im Schwarzwald gemalt,
schaurig anzusehen, und erzählt uns, wie die Alte durchaus gewünscht, dass einer von ihnen ihr
Enkelchen, eine vierschrötige Dirne mit strohgelbem Haar, heirathen sollte, und ihnen vorerzählt,
wie schön sie die jammervolle Hütte unter dem Felsgestein, wo sie wie eine von Macbeth's Hexen
thront, herrichten wollte. »
Man sieht, nach den langen Jahren des Suchens und Zweifeins war der späterhin so fruchtbare
und an Einfällen reiche Künstler bereits im besten Zuge und nun folgte bald Erfolg dem Erfolg. Schon
vor seinen Münchener Triumphen durch das bereits erwähnte Bild «In der Kirche» hatte er 1857
auf einer Ausstellung im Haag bereits eine silberne Medaille eingeheimst, durch die Münchener Aus-
stellung war er mit einem Schlage in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Und
jedes seiner Werke gefiel nun in hohem Masse: 1859 seine noch mit Schweizer Lokalfarbe gesättigte
«Auktion im Schlosse», 1860 die «Nähschule», in welcher der Maler bereits Schwarzwälder Mädels
darstellte und 1860 die «Frauen, die ihre Männer im Wirthshause abfassen». Vielleicht ist das
letztgenannte Bild das populärste des Meisters geblieben; es hat tausende von Wänden im deutschen
Heim geschmückt und Tausende durch seinen schalkhaften, gewinnenden Humor und seine Lebens-
treue erfreut und prangt nun im städtischen Museum zu Leipzig. Der Vorgang des Bildes braucht
kaum geschildert zu werden, so bekannt ist dies Werk aller Welt: Während des Gottesdienstes haben
vier Bauern im Wirthshaus Karten gespielt und ihre Frauen, aus der Kirche kommend, überraschen
die Uebelthäter mit wohlverdientem Strafgericht. Der Aelteste der Viere hat sich vor dem ersten
Ansturm in der Ecke verborgen, der Jüngste, ein flotter Bauer in schwäbischer Tracht nimmt die
Strafpredigt seines hübschen Weibchens mit Zerknirschung entgegen. Sein älterer Genosse hat, wie
aus den abgehärmten Zügen seiner Rachegöttin zu lesen ist, schon Manches auf dem Kerbholz und
lässt, den Rücken wendend, das Strafgericht verstockt über sich ergehen. Der Vierte spielt den welt-
verachtenden Philosophen und fügt zu seiner Schlechtigkeit auch noch herausfordernde Frechheit.
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
37
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Jede der Figuren ist dem Leben abgelauscht —
bei keiner naht sich die scharfe Charakteristik
der Grenze der Caricatur.
Der 1864 gemalte «Sonntagnachmittag in
Schwaben » zeigt uns eine Episode ländlichen
«Kriegs im Frieden». Wir sehen acht junge
Mädchen, die sich am Rand eines Weidenge-
büsches auf Steinen und Baumstämmen gelagert
haben und zusammen plaudern. Sie haben wohl
den Angriff des nicht eben feindlich gesinnten
Gegners, einer Gruppe junger Burschen, die aus
dem Thalgrunde gegen sie heranzieht — längst
erwartet. Die Einen blicken dem nahenden
Schwärm bereits entgegen, die Andern maskiren
ihre Erwartung und Sehnsucht wohl nur unter
dem Scheine gleichgültiger Reden und Eine —
die, ein Sträusschen bindend, unter der alten
Weide steht — ist vom Pfeil der Liebe bereits
ganz ernsthaft , vielleicht sogar ein wenig zu
ernsthaft verwundet. Sie blickt ziemlich traurig auf den werdenden Strauss. Gegenüber auf einem
Hügel liegt das Dörfchen mit dem spitzen Kirchthurm freundlich da; die Landschaft athmet Sonntags-
frieden, das ganze Bild warm pulsirendes Leben. Der Maler hat diese Scene nicht für sein Bild er-
funden, sondern mehrfach mit Augen gesehen, er hat Wochen lang in dem Dörfchen auf dem Hügel
gelebt und ist den Menschen näher getreten, die er dann auf dem Bilde verewigt hat. Dieses Bild
lässt so recht wahr erscheinen, was Richard Muther, durchaus kein bedingungsloser Verehrer des
Meisters, aber Einer, der dessen sympathische, urdeutsche Eigenart voll würdigt, von Vautier sagt:
« Vautier entdeckte als der Ersten einer den Stimmungszauber
der Umgebung, den geheimnissvollen Einfluss, die den Menschen
mit der Scholle, auf der er geboren ist, verknüpft, die tausend
unbekannten magnetischen Strömungen, die zwischen den Dingen
und dem Gemüth, den Anschauungen und den Handlungen des
Menschen bestehen. Die Umgebung steht nicht da wie der Pro-
spekt einer Bühne, vor dem die Personen kommen und gehen,
sie lebt und webt auch im Menschen selbst».
Im nächsten Jahre, 1865, entstand das, ebenfalls ziemlich weit
bekannte Bild «Bauer und Makler», ein Stück packenden,
grimmig ernsten Bauernlebens, eine Scene, die sich hunderttausend-
mal abgespielt haben mag in Bauernstuben aller Stile. Hier ist es
11 6
Benjamin Vaulicr. Studienzeichnung
38
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ein Bauernhaus Schwabens, wohin uns der Künstler führt. Der Hausvater ist offenbar in schweren
Nöthen. Pläne und Geldrollen auf dem Tische, an dem er mit einem jüdischen Makler und einem
behäbigen Landmann sitzt, verrathen, dass es sich darum handelt, dem armen Teufel seiner Väter
Erbe abzuschwatzen. Das Weib des Bauern, den Säugling auf dem Arm hat dem Unglücklichen
abmahnend die Hand auf die Schulter gelegt: lieber Noth und Entbehrung auf der eigenen Scholle,
als losgelöst vom Heimathboden in die Fremde ziehen, vielleicht gar hinüber über das weite Meer!
Kalt und ruhig blickt der Käufer darein, während der Makler dem Bedrängten die Vortheile des
Verkaufes an den Fingern vorzählt.
Benjamin Vautier hat 1865 für dieses Bild in Paris die goldene Medaille erhalten.
Ein neues grösseres Werk und ein neuer Triumph folgte noch im selben Jahre, der «Leichen-
schmaus». Mit diesem Bild, zu dem er die Studien an Ort und Stelle, im Berner Oberland, gemalt,
griff Vautier wieder zu einem Stoff aus seiner Schweizer Heimath. Das Bild, jetzt im Besitze des
Museums zu Köln, führt uns in eine Bauernstube,
wo das Begräbniss des Hausherrn von der Schaar
der Angehörigen bei einem Glase Wein auf landes-
übliche Weise gefeiert wird. Das halbwüchsige
Töchterlein des Verstorbenen kredenzt den Leid-
tragenden den Gedächtnisstrimk; die trostlose
Wittwe, die zu trösten sich die Gevatterinnen
nach Kräften bemühen, hat neben dem Bette ihres
Gatten Platz genommen. Mehr fast, als irgend
ein anderes Werk Vautier's zeigt dieses seine
Kunst starker und gesunder Menschenschilderung,
die das Schöne und Anmuthige findet, ohne je
süsslich zu werden, das Charakteristische darstellt,
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
ohne das Hässliche zu suchen. Obwohl ein wenig idealisirt, oder doch wenigstens von ihrer besten
Seite aufgefasst, sind seine Menschen doch echte Menschen, echt in Rasse und individueller Eigenart,
echt in ihren Bewegungen und im Ausdruck ihrer Gefühle. Vautier hat manches packende Drama
und manche stille Tragödie gemalt, Sterbehäuser, Todtenbetten und Krankenstuben — aber nie finden
wir eine Spur von Pose oder Schauspielerei. Eine schöne Ehrlichkeit, eine anheimelnde Lebenswärme
überall, die weit mehr ergreift und fesselt, als der novellistische Inhalt seiner Bilder an sich.
Hier seien noch einmal Richard Muther's Worte, mit denen der moderne Kunstforscher Vautier's
liebevoller und liebenswürdiger Kunst der Menschenschilderung würdigt, angezogen ; er schreibt :
« Fast rührend zu sehen, wie schön und rein in Vautier's Kopf sich das Leben spiegelt. Wie
zart sind diese bräunigen schwäbischen Bauerntöchter, wie sympathisch und mild diese Frauen, wie
reinlich und artig die Kinder. Man möchte glauben, dass Vautier freundlich und väterlich wohlwollend
mit seinen Bauern verkehrt, sich selbst wohl fühlt bei ihren harmlosen Vergnügungen, dass er auch
ihre Schmerzen und Sorgen theilt; und über diese Eindrücke berichtet er in seinen Bildern nicht streng
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
39
und überlegen lächelnd, sondern in schonender herzlicher Weise. Er will nicht aufregen oder er-
schüttern, weder durch Witze, Komik, noch durch Trauriges Trübsal erwecken. Das Leben zeigt
ihm — wie Goethe während seiner italienischen Reise — «lauter angenehme Gegenstände» und selbst in
traurigen Schick-
salsfügungen nur
Leute, die « das
Unvermeidliche
mit Würde tra-
gen». Kein lauter
Schmerz , Alles
leise abgedämpft,
von jener Milde,
die sich im Klang
des Vornamens
Benjamin aus-
spricht. Knaus hat
etwas von Men-
zel, Vautier von
— Memhnc, auch
in der liebevollen
Intimität, mit der
er das Kleine durch-
dringt. Die alten deut-
schen und niederlän-
dischen Meister malten
in ihren religiösen Bil-
dern Alles bis zum
Nachtgeschirr Marias,
den gestickten Lilien
ihres Webstuhls oder
dem Staub, der auf
dem alten Gebetbuch
liegt, und diese echt
deutsche Freude am
ßetijaiiiin Vautier. Studienzeichnung
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Stillleben, die be-
hagliche Schilder-
ung des Kleinen,
kehrt auch bei
Vautier wieder.
Menschen und
Wohnungen, be-
lebte Natur und
Atmosphäre
setzen sich bei ihm
zu einem freund-
lichen Stück Welt
zusammen ».
Benjamin Vau-
tier hatte durch
die genannten Er-
folge als Genre-
o
maier seinen Weg
in der Kunst gefunden,
und nun folgte Bild auf
Bild aus dem Bauern-
leben der alemanni-
schen Rasse. Bald
waren es Schweizer,
bald waren es Schwarz-
wälder oder andere
Schwaben, bald war es
Ernstes, bald war es
Heiteres, was er malte,
immer war es warm
und eemüthvollerfasste
Wirklichkeit. Erfindungsreicher, weicher und mit mehr Erzählertalent begabt, als der markigere und
nervenstärkere Defregger, liebenswürdiger und poesiereicher als der scharfäugige und unerbittlich
beobachtende Knaus, schuf er sich seine Kunst, so recht gemacht, ihn, den Schaffenden und die
Sehenden zu erfreuen, eine Kunst, die ins Volk dringen musste. Und, Dank den gründlichen Vor-
6«
40 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Studien seiner Such- und Lehrjahre, schuf er so leicht, dass er, trotz aller Gründlichkeit und liebe-
vollen Durchbildung im Detail seiner Bilder zu unsern schöpferischsten Malern zählt.
Nach dem «Leichenschmaus» malte Vautier einen « Alterthumssammler im Bauern-
haus», vor dem die Inwohner ihre Schätze zusammentragen, Werthvolles und Werthloses, eine
gothische Heiligenfigur und eine alte Kaffeemühle. Dann kam (1872) eines der Hauptwerke Vautier's,
die «Fahrt über den Brienzer See zu einem Begräbniss»; es ist ein Kindersarg, den ein
junges Ehepaar in tiefer Trauer auf einem, von jungen Burschen geruderten, von einem Mädchen
gelenkten Nachen über das Wasser geleitet. Ungefähr um die gleiche Zeit entstand eine ländliche
Szene «Am Krankenbette», die Eigenthum der Berliner Nationalgalerie geworden ist. Ein junges
Weib liegt schwer krank auf dem Schmerzenslager und ihr Gatte, den eingeschlafenen Liebling auf
dem Schooss, sitzt neben ihr, den Blick ernst auf sie gerichtet, ihre Hand fest in der seinen. Ein Abschied r
Ein Gelöbniss? Ein Willkommen zu neuem Leben.'' — Jedenfalls ein ergreifendes Stück Menschenschicksal!
Im Jahre 1873 wurde auf der Wiener Weltausstellung das «Begräbniss auf dem Lande»,
ein sehr figurenreiches Bild, allgemein bewundert ; es schildert die in Ergriffenheit und wohl auch in
Neugier wartende Menge vor einem Bauernhaus, aus welchem eben ein Sarg getragen wird. Im
Vordergrunde wartet schon die Bahre ihrer traurigen Last. Frauen und Männer — getrennt aufge-
stellt nach alemannischer Art — blicken theilnahmevoll dem Sarge entgegen — im Hintergrunde hält
der gestrenge Dorfbüttel mit dem Stabe die Schuljugend zurück. Ein Bild aus der Lichtseite des
Lebens gibt Vautier wieder in seiner (schon 1868) gemalten « Ländlichen Tanzstunde ». Vordem
bäuerischen Tanzmeister mit seiner Fiedel sind in der oreräumicren Stube des Dorfwirthshauses etliche
dralle junge Dirnen angetreten und werden eben — die Fussspitzen nach auswärts! — in der «Grund-
stellung» unterwiesen; eine der Schönen hält sich am Ofen fest, um den Tanzschuh zurecht zu rücken.
Links warten die Burschen, bis auch an sie die Reihe kommen mag. Auch der «Unterbrochene
Streit» spielt im Dorfwirthshaus. Zwei Burschen haben Streit gehabt, ein Streit, dessen Spuren
wir an den handelnden Personen eben so wohl wahrnehmen, wie an dem Stillleben von umgeworfenen
Stühlen und zerbrochenen Flaschen, die umherliegen. Der Eine der Burschen, offenbar der Sieger,
wird von seiner Mutter zurückgehalten, auf dass er seinen, entschieden noch nicht ganz vertobten
Berserkerzorn nicht völlig entlade, den Unterlegenen halten Kameraden davon ab, einer bedenklichen
Revanchelust freien Lauf zu lassen. Auch der Polizeidiener ist bereits erschienen und vernimmt mit
strenger Amtsmiene Anklagen und Vertheidigungen, die ihm vorgetragen werden.
Von seinen Bauern weg in höhere Sphären führt uns der Künstler in seine «Verlobung»
(1870), ein Kostümstück, das uns eine tafelnde Gesellschaft der Rokokozeit schildert, in deren
Mitte ein Poet eben einen Toast auf das Brautpaar ausbringt. Auch der Stoff zum «Trotzkopf» ist
der gleichen Gesellschaftsschicht in gleicher Zeit entnommen: eine Frau Mama hat den Seelsorger zu
Hilfe gerufen, dass er einem hübschen Mädchen ins Gewissen reden soll. Das Trotzköpfchen hat
sich schmollend abgewendet — und Recht hat sie! Den flotten Burschen, den sie lieben mag,
soll sie nicht aufgeben und wenn sich alle Mütter und Abbates der Welt dagegen auf den Kopf
stellen ! Das ist das Recht der Jugend !
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
41
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Benjavün Vautier. Studienzeictinung
Vautier ergeht es übrigens in diesen und noch etlichen anderen Bildern genau so, wie fast allen
andern Bauernmalern in gleichem Fall. Sein überlegenes Können bewahrt ihn davor, etwas Schlechtes
zu machen, aber wirkliche Eleganz, die bestechende Grazie der Weltdame, den Chic des Salons ver-
mag er nicht recht wiederzugeben. Dazu gehört eine leichtere Hand, als sie der haben kann und
darf, der gewohnt ist, Arbeitsmenschen in ihrem Thun und Treiben nachzubilden.
So recht wieder in seinem Element ist er bei dem 1871 gemalten, figurenreichen «Zweckessen
auf dem Lande» gewesen: Die Honoratioren eines Dorfes setzen sich in einer ländlichen Wirths-
Stube eben zu Tisch. Der Herr Landrichter hat bereits das Präsidium eingenommen und die ihm
zunächst Rangirenden, wohl Pfarrer und Lehrer, sitzen neben ihm; die Uebrigen scheinen in der Wahl
ihrer Plätze noch unschlüssig, misstrauisch und wohl auch missgünstig blickt einer der Bauern auf den
andern, als fürchte Jeder sich was zu vergeben, oder in Bezug auf die ihm gebührenden Ehren zu kurz
zu kommen. «Der Besuch am Herd» (1873) vereinigt zwei liebliche Schweizer Mädchengestalten
in einem traulichen Kücheninterieur, das etwa um ein Jahr später gemalte Bild «Die entzweiten
Schachspieler» schildert mit feinem glücklichem Humor, die im Titel des Bildes gekennzeichnete
Szene. Wir finden uns im Heim eines wohlhabenden Junggesellen, der eben mit einem Besucher, einem
geistlichen Herrn Schach gespielt und sich mit diesem wegen irgend eines Zuges «zerkriegt» hat. Ver-
legen sucht der Hausherr seine Pfeife in Brand zu setzen, während der Abbe mit der Linken auf
der Tischplatte trommelt, mit der Rechten ein Zeitungsblatt sich vor die Augen hält. Als Typen,
wie dem Ausdrucke ihrer momentanen Stimmung nach, sind die beiden alten Herren virtuos gekenn-
zeichnet, liebenswürdig und doch mit schärfster Beobachtung.
42
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Aus dem Jahre 1S75 stammt die «Aufforderung zum Tanz», eines der charmantesten
Schwarzwälder Bilder des Meisters. Die Szene ist eine Gasse vor dem Dorfwirthshaus, unter dessen
Siebendach man eine fröhliche Schaar zu sonntäglichem Vergnügen versammelt sieht ; ein flotter junger
Bursch fordert zwei vorüberkommende Mädchen zum Tanze auf — die Eine hat schon eingewilligt,
die Andere scheint sich noch ein wenig zu bedenken. Das ganze Bild athmet die freundlichste
Stimmuno-; man vermeint die Tanzmusik und das Plaudern und Lachen aus dem Wirthsijarten herüber
zu hören. Noch im gleichen Jahre entstand der sehr bekannt gewordene «Abschied der Braut
vom Eltern-
hause», eine
prächtige Probe
schwäbischen
Volkslebens , in
dem Rührung
und frische Hei-
terkeit gepaart,
einen guten
Klang geben. Ein
später gemaltes
Bild Vautier's,
eine «Begrüss-
ung der Neu-
vermählten»
wirkt fast wie
eine Fortsetzung
zu dem ebenge-
nannten Bilde
und stellt den
Augenblick dar,
da der junge
Gatte glückstrah-
lend sein blühen-
des junges Weib
seinen Eltern zu-
führt. Die Mutter
hat bereits die
Hand der jungen
Frau ergriffen
und blickt ihr,
treuherzig
prü-
fend, in die Au-
gen ; das Schwe-
sterlein des
Gatten eilt der
neugewordenen
Schwägerin mit
ausgebreiteten
Armen entgegen.
Ganz anderer
Art wieder ist das
Gemälde «Vor
der Sitzung»,
mit dem unser
Maler 1876 die
Münchener
Benjamin V'atitier. .Studienzeichnung
Ausstellung be-
schickte; es ist in seinem Gegenstande nicht ganz leicht verständlich und wohl darum weniger populär
geworden. Was Kraft der Charakteristik betrifft, zählt es aber Vautier's besten Werken bei und das
ganze Milieu, der Sitzungssaal des Gemeinderaths einer kleinen Stadt, der sich eben zu einer wichtigen
Besprechung versammeln will, die Gesichter der den verschiedensten Lebenssphären angehörenden
Gemeinderäthe, die in mehrere Gruppen getrennt, theils für, theils gegen ein Projekt zu agitiren
Schemen, alles das ist meisterlich geschildert, mit jener höchsten Charakterisirungskunst, welche die
Schwächen der dargestellten Menschen scharfäugig erkennt, aber ihren Eindruck in der Schilderung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
43
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
durch das heilige Mitleid mildert : Tout comprendre
c'est tout pardonner ! Das muss der Wahlspruch des
echten Humoristen sein.
Im «Tanzsaal eines schwäbischen Dorfes»
ist das Leben und Treiben an einer solchen Stätte der
Freude mit liebenswürdiger Lebendigkeit, wenn auch
ohne besondere anekdotische Spitze geschildert. Links
sehen wir im Dunst des Hindergrundes die Tanzenden,
rechts die Musikanten und die Zuschauer — unter
Letzteren namentlich die halbflüggen Schönen , denen
der Tanzboden noch einen verbotenen Winkel des Para-
dieses bedeutet. Auf einem ähnlichen Schauplatz spielt
die figurenreiche «Tanzpause« (1878). Im «Kloster-
gang« (1879) sehen wir eine fröhlich sich tummelnde
Mädchenschaar im alterthümlichen, romanischen Kreuz-
gang eines Frauenklosters. «Katechisatio n« zeigt
uns die zum Religionsunterricht versammelte Dorfjugend
in einer Sakristei. Auch das von der Hamburpfer Kunsthalle erworbene Bild «Hinterlist» schildert
eine Kinderszene : Böse Schulbuben in der verschneiten Dorfgasse, die den Gespielen mit Schnee-
ballen auflauern. Die «Poststube» führt uns die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft vor Augen,
die sich vor Abgang des Postwagens in der guten alten Zeit in einem derartigen Warteraum ver-
sammeln mochte, vom flotten Postillon bis zum betenden Kapuziner. Kinder stehen wiederum im
Mittelpunkt der Bilder; «Der Vetter» — ein städtischer
Junge bei seinem derbfrischen bäuerlichen Verwandten zu Be-
such — , «Die Ermahnung» — ein Mädchen ermahnt vor
dem Gang zur Schule seine Puppen, recht brav zu sein,
«Eingeschlafen» (1879), «Im Walde» (1880), «Im
Bade» (1889) u. s. w. Eine ganze Reihe von kleineren
Werken hat die Schilderung einzelner liebreizender Frauen-
gestalten zum Gegenstande und auch mit diesen Arbeiten,
die für die meisten Genremaler mehr oder weniger « Brod-
arbeiten» bedeuten, lässt sich Vautier nicht zu leichtherziger
Fabrikation herab, sondern er wahrt immer seinen künst-
lerischen Rang. Wir nennen hier «Spielkätzchen», «Ein
Brief aus dem Thale», «In der Kirche», «Brigitte»,
«Winzerin», «Schifferin», «Regina», «In Erwart-
ung», «Jetzt gang i an's Brünnele» . . ., «Bärble»,
Benjatnin Vautier. Studienzeichnung « 1 J 1 e 1 OllCtte» U. S. W.
44 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Durch alle Lebensphasen und Schicksale verfolgt der Maler seine strammen Burschen und
schönen Mädels, seine Bauern und Bäuerinnen. Das prächtige Werk «Der Gang zur Civiltrauung»
ist im Besitze der berühmten Heyl'schen Galerie in Worms. Das 1887 gemalte «Bange Stunde»,
das durch seine lichte, in bestem Sinne moderne Malweise auch in technischer Beziehung lebhafte
Bewunderung hervorrief, lässt mit ergreifender dramatischer Gewalt eine Szene banger Sorge im Kranken-
zimmer eines jungen Weibes sich abspielen. «Kindlicher Trost» (1886), «Der verlorene Sohn»
(1885), «Besuch bei der Genesenden», «Verlassen» sind durchweg Familienszenen, die tief
zum Herzen sprechen. Des Lebens heitern Seite abgelauscht ist das 1881 fertig gewordene «Unfrei-
willige Beichte». Wir sehen zwei reizende junge Mädels, die unter dem alten Baum vor der
Kirche ihre Liebesgeheimnisse austauschen, nicht ahnend, dass ihnen verborgen auf der entgegen-
gesetzten Seite des Baumes der gestrenge Herr Pfarrer, scheinbar in sein Brevier vertieft, ihre Geständ-
nisse belauscht. Die beiden lichtübergossenen, jugendlichen liebenswürdigen Mädchen hier sind von
ganz besonderem malerischen Reiz. Harmlose Heiterkeit athmen auch jene Bilder des Malers, welche
Begegnungen der Städter mit gesunden Naturkindern zum Vorwurf haben: «Der Botaniker auf dem
Lande», «Ein galanter Professor», «Auf der Studienreise», «Ein williges Modell», «Das
entflohene Modell».
Im Erfinden anekdotischer, novellistischer Sujets ist Vautier so ideenreich gewesen, wie kaum
ein Zweiter. Hier zeigt er in traulicher Bauernstube am Sonntagnachmittag — er sieht die Welt
überhaupt im Sonntagsstaat am Liebsten und schildert sie selten im Arbeitskleide — Burschen und
Mädels beim «Schwarzen Peter», dort führt er uns zu gleicher Stunde in eine Schenke, wo ein
gewandter «Taschenspieler» einer Schönen eben eine Karte aus dem Mieder zieht; er verewigt
zwei Dorfmädchen, die im Städtchen den Trödelkram in der Auslage eines Krämers bewundern, er
lässt die zärtliche Auseinandersetzung eines Liebespaares durch ein in der Ofenecke verborgenes kleines
Schwesterchen belauschen; er führt eine Bauerndirne in die «Magistratische Kanzlei», wo sie im
Vorsaale den Amtsdiener und in der Schreibstube den Kanzlisten eineeschlafen findet ; er conterfeit
mit der feinsten Menschenkenntniss eine Gruppe prozessirender «Bauern vor Gericht» (1880), ein
junges Paar, das den betrügerischen Schmuel oder Veitel «Vor dem Dorfschulzen» anklagt, er
zaubert im «Gast im Herrenstübel » ein naturtreues Stück ländlichen Philisterlebens auf die Leinwand.
Das «Brautexamen» lässt er sein Liebespaar vor einem alten Pfarrherrn bestehen, der merkwürdig
an den vielgenannten Sebastian Kneipp erinnert; andere geistliche Typen zeichnet er in der «Schach-
partie»; voll Humor ist die «Barbierstube», voll anmuthiger Schelmerei die Szene «Ohne Ge-
nehmigung des Urhebers», von grosser Schärfe der Charäkterzeichnung «der Hypochonder» ;
poetisch reine Sonntagsstimmung, die stillste und lauterste fast von allen den vielen Sonntagsbildern
Vautier's athmet die in einem Dorf kirchhof des Berner Oberlands verlegte Szene «Vor der Kirche»
(1884). Eine Schwarzwälder Amme, vom älteren Brüderlein des Säuglings in ihren Nährpflicht belauscht,
stellt das Bild «Eine merkwürdige Begebenheit» (1877) dar, «Abgetrumpft» eine dralle
Bauerndirne, die eben aus einem Parkthor schreitend, dem frechen Lakaien des Herrenhauses die
gebührende Abfertigung zu Theil werden lässt.
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
45
V- /,.-■■■
Benjamin Vautier. Studienzeichnung
Benjamin Vaiiticr. Studienzeichnung
Die Zahl der Bilder, die unter Meister Benjamins Pinsel entstanden, ist fast unerschöpflich und
wollte der Chronist mehr geben als eine trockene Aufzählung, so würde ihm unter der Hand ein
Buch aus diesem knappen Nachruf. Nur eines Werkes sei noch ein wenig ausführlicher gedacht,
eines Werkes, in dem der Maler so recht seine ganze Kunst und Kraft gezeigt, ob es gleich in
seinem Gegenstande von Vautier's ureigenstem Gebiet, der Bauernschilderung, ein wenig ablag : der
«Verhaftung». Auf der Münchener Ausstellung des Jahres 1879, also zu einer Zeit, wo die
lebendige, dramatisclie Darstellung eines Gegenstandes, die Erzählerkunst des Malers in höchster
Geltung stand, erregte das Bild Sensation und wird als eine der vornehmsten Typen dieser Kunst-
gattung auch dauernd giltig bleiben : In der malerischen, alten Kleinstadt ist am frühen Morgen ein
— der Aufschrift seines Ladens nach — jüdischer Verbrecher verhaftet worden. Vor Schmerz und
Schande ergriffen ist seine Tochter oder sein Weib an der Schwelle zusammengebrochen ; eine Alte
tröstet sie. Die Nachbarn, die Zeugen der Szene waren, umstehen noch die Stätte und während die
Einen geschwätzige Neugier, ja wohl auch boshafter Hass erregt und zu lebhaften Erörterungen über
den Vorfall führt, bewegt die Andern inniges Mitleid mit den Armen an der ausgetretenen Schwelle
ir 7
46 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
des Wuchererhauses. Jede dieser Gestalten ist köstlich gesehen und köstlich getroffen , am Köst-
lichsten aber wohl die des jungen Mädchens im Vordergrund, das in tiefer, mitfühlender Ergriffenheit
zu den unglücklichen Frauen hinüberblickt.
Noch einer anderen Seite von Vautier's künstlerischem Schaffen soll nicht vergessen werden,
seine Thätigkeit als Zeichner und Illustrator. Im Jahre 1865 erschien eine von ihm mit herrlichen
Zeichnuneen versehene Prachtausgabe von Immermann's «Oberhof»; Wilh. Lübke hat u. A. diese
Vautier 'sehen Zeichnungen mit geradezu enthusiastischen Worten gewürdigt. Noch näher lag ihm,
dem «Schwabenmaler«, die Aufgabe, Auerbach's Dorfgeschichte, das «Barfüssele» mit Bilderschmuck
zu versehen und vielleicht sind hier die Bilder des nachschaffenden Zeichners wahrer und echter aus-
gefallen, als die Gestalten des seinerzeit so sehr überschätzten Salon-Romanciers. Im gleichen Jahre
wie das «Barfüssle», 1869, erschienen seine Bilder zu «Hermann und Dorothea».
Was die äusseren Ehren, die Vautier erfuhr, betrifft, so haben wir verschiedener, ihm ertheilter
Ausstellungsmedaillen schon gedacht. Er hat deren noch viel mehr erhalten, österreichische, preussische
und bayerische Orden wurden ihm verliehen und er war Mitglied der Akademien von München,
Berlin, Wien, Amsterdam und Antwerpen.
Einer der Besten seines Faches und seiner Zeit hat er sich einen Platz in der Kunstgeschichte
für immer gesichert, einen Platz, den ihm auch die neidlos zuerkennen mussten, die neben ihm nach
ganz anderen künstlerischen Zielen strebten.
Der Lorbeer, der ihm grünt, wurzelt im Herzen seines Volkes.
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Benjamin Vautier. Studienzeichnung
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DIE
Münchener Jahres-Ausstellungen von 1898
VON
FRANZ HERMANN MEISSNER
t Ein selbständiges Recht hat die Technik in der künstlerischen
Thätigkeit nicht; sie dient lediglich dem geistigen Prozess. Nur wo
der Geist keine Herrschaft auszuüben im Stande ist, gelangt sie zu
selbständiger Bedeutung, Wichtigkeit, Ausbildung und wird künstlerisch
werthlosi. Conrad Fiedler,
« Cjefühl ist Alles ! » sagt irgendwo Goethe, der grosse deutsche Idealist von Weimar, mit der
ihm eigenen Kürze der Sentenz. Ein neuerer französischer Nationalökonom hat diese Formel tenden-
ziöser gefasst ; er wendet sie auf das Leben der Völker und das Gesetz von Wachsthum und Nieder-
gang an; er weist überzeugend nach, dass die zu-
kunftsfähige Lebenskraft eines Volkes nicht auf der
Höhe von Technik, Verkehr, Existenzsicherheit, Aus-
bildung der Staatsorganisation beruht, — vielmehr
allein von der Stärke und Richtung seines
Gefühlslebens abhängt. Die Straffheit der Moral,
eine allgemeine Lebensführung mit selbstbeherrschen-
der Hinsicht auf den ganzen Volkskörper, die an-
gespannte Seelenkraft in der selbstlosen Hingabe an
fruchtbare Ideale, — das sind die schöpferischen und
erhaltenden Elemente, mit denen Sparta, Athen, Rom
im Alterthum, — Spanien, Italien, Frankreich im
Ausgang des Mittelalters aufsteigend ihre Grossthaten
verrichteten; «so herrlich weit es aber alle diese
Volkskörper in der Geschichte auf allen Gebieten
gebracht», — nichts konnte den Niedergang und
den völligen Verfall aufhalten, als schrankenloser
Egoismus des Einzelnen, schwüles Abirren von natürlichen Anschauungen und Regungen, Entartung,
gedankenlose Umwerthung der öffendichen Erscheinungen die Seelenkraft geschwächt hatten. Denn
mit der Seelenkraft verliert sich der Schwung, und ohne den blind an sich und sein Werk glaubenden
Schwung der Geister und Seelen wird nirgends mehr eine fruchtbar weiterwirkende That gelingen.
II 8
Adalbert Hynais. Studie
48
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Die genannten Staaten geben in ihrem Niedergang ebenso viele schlagende Beispiele dafür: wer in
den öffentlichen Erscheinungen aller Art zu lesen versteht, — wem Kunst und Literatur der Auf-
gangs- wie Niedergangs - Epochen mehr sagen als den blossen Gegenstand ihrer Darstellung, den
wird das sichere Walten jenes Gesetzes überall überraschen, ihn fesseln, ihm praktische Schluss-
folgerungen ermöglichen.
Was die Kunst anbelangt, die heute mit Recht als einer der wichtigsten Kulturfaktoren gilt
und den empfindlichsten Werthmesser stets für alle Zeiterscheinungen abgegeben hat, so zeigt sie
merkwürdige Parallelen der Stilgesetze in allen Aufgangszeiten, — und ebenso in den Niedergangs-
Hans Petersen. Hochsee
Zeiten. Sobald hier der mächtige zusammenfassende Herzschlag heraus ist und das Einsgefühl mit
dem Volksleben ermattet, kommt das leere Virtuosenthum an die Reihe .... die seelenmordende,
bleiche, geschminkte Routine geht um und flüstert dem Einzelnen cynische Witze in's Ohr
sie übertönt die mahnenden Stimmen der geistig Freien, Unabhängigen, Selbstvertrauenden, deren Zahl
in einer Zeit ohnehin immer beschränkt ist, und greift fressend um sich. Und ihr gegenüber hilft,
wo sie sich an einem sonst noch gesunden Körper zeigt, nur klare Selbstbesinnung und energisches
Wirken im Sinne gesellschafterhaltender Gefühlskräfte. — Das aber ist auch eine von den Kultur-
erscheinungen, dass stets innerhalb derselben Zeit Strömungen, welche die Erhaltung der Volkskraft
Edward T. Compton. Neuschnee im Höllenthal
50
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
im Auge haben, neben solchen destruktiver Art gefunden werden, und dass den Ausschlag für den
Zeitcharakter die stärkere Strömung gibt. Für die Zeitgenossen ist es demnach stets die Kardinal-
frage, entweder aufkeimende destruktive Kulturtendenzen zu unterdrücken oder aber bei bereits vor-
geschrittenem Stadium um die Gewinnung neuer Gesundheit sich thatkräftig zu mühen. — — —
Das treiieste Bild unserer Kunstströmungen geben heute so ziemlich die Jahresausstellungen ;
in Deutschland in erster Linie die Münchner, und das besonders, weil die Beurtheilung der Lage
durch die örtliche
Trennung der zwei
feindlichen Strömun-
gen auch dem Laien
einen Einblick in das
geheime Wirken der
geistigen Richtungen
möglich macht.
Man kann von dem
Glaspalast kurz
sagen, dass in ihm
sich die Kunstarbeit
des gesunden Volks
in seinem Genie wie
in seiner werkthätigen
Frische, in seiner na-
tionalen Gesinnung
und in seiner unge-
brochenen Kraft ver-
trauenerweckend
spiegelt. Auch der
diesjährige Glaspalast
wirft ein gutes Bild
zurück : in Lenbach
und Klinger zeigt er
uns trotz des dies-
Carl Bössenrot/i, Mondaufgang im Moos
maligen Fehlens der
weiteren Namen, eine
wie bedeutende und
zukunftsvolle Kunst
wir besitzen, — und
er zeigt uns in der
weiteren Gesanimt-
heit einen erfreulichen
Durchschnitt mit ge-
sundem , organisch
gewachsenem Ge-
fühlsleben, mit klaren
Anschauungen und
einer augenscheinlich
aufwärts gehenden
Technik. In ihm kri-
staliisirt sich die so-
lideRechtschaffenheit
nicht nur, welche die
Münchner Kunst seit
vielen Jahrzehnten
auszeichnet, — es ist
auch thatsächlich die
Mehrzahl der gröss-
ten Leistungen in neu-
ester Zeit in seinem
Gefolgskreis entstanden. Er steht hinter seinem Vorgänger in keiner Weise zurück. Er übertrifft auch
in seinem wirklichen Gehalt, wenn man in unbefangener Sachkenntniss abwägt, sicher seinen Secessions-
rivalen am Königsplatz. Sieht dieser zweifellos pikanter aus, so vergesse man nicht, dass Mixed-Pickles
und Sardellen auch pikant sind, — dass das Pikante aber weder für die geistige noch für die leibliche
Nahrung irgend welchen, ^ es sei denn einen vernichtenden, — Werth besitzt. — Hat der Glas-
palast einige monotone Säle und mancherlei Minderwerthiges, so ist zu berücksichtigen, dass er in seinem
K. v»u Leubacli |iiu\.
i'tiot. F. iluurstacusl, MODCbeii
Eriea und Marion Lenbaeh
F. vüu l.eiibiicti piux
fliut. 1', liaui'i.uiib'l, Mlluchcu
Bildniss
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
51
Caspar Ritter. Blumen
System einer objektiven, der ganzen nationalen Hervorbringung dienenden Kunstpflege im Wettbewerb
auf ein obenhin bestechendes Aussehen mit der Secession nicht rivalisiren kann — d. h. für ein ober-
flächliches Auge; die Secession gibt ja ihrer schönen einstigen Devise: «Nothvi^ehr für die unterdrückte
Jugend» — längst die praktische Auslegung, dass durch rabiates Auswählen unter den frischen Kräften,
— soweit sie nicht einem bestimmten Kreis angehören, — ein buntbewegter, den Laien leicht blen-
dender Eindruck zu erzielen ist; hätte der Glaspalast in diesem Jahr einmal sich zu dem gleichen
kunstmörderischen Ver-
fahren bequemt, so
würde auch der Naivste
sehen, durch welch'
eine Summe bedeuten-
der Würfe und durch-
weg gediegener Leist-
ung er dem Unter-
nehmen am Königsplatz
überlegen ist!
Von der Secession
hörte ich in München
Viele sagen, dass sie
auffällig still stände.
Das stimmt nicht. Sie
schreitet in Wirklichkeit
rapide in ihrem natür-
lichen Verfall fort. Sieht
man von einigen Frem-
Heritianti Vrban. Jugend
den ab, — deren Viele
zum Verdecken eigenen
Defizits herangezogen
sind, — so bleibt kaum
ein Dutzend Namen
solcher, die man mit
aufrichtiger Freude be-
trachten kann. Die sehr
geschickte Anordnung
der ersten Säle hilft
darüber so wenig hin-
weg als die durch-
triebene Einführung
und Anpreisung, — als
die Geschicklichkeit, mit
der die Secession einen
Theil der Tagespresse
für sich zu interessiren
verstanden hat. Es gibt
52
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
für die Zustände im Kreise der Secession keine schlagenderen Merkmale, als u. v. A. die bevorzugte
Vorführung solcher « Leistungen » wie die des einst bessere Tage als Maler gesehen habenden
A. Keller, — wie das Prinzessinnenbildniss von Hierl-Deron co ; wird die Dame wirklich diese
Karrikatur auf ihre zarte, durchgeistigte Erscheinung in ihren Zimmern aufhängen und sich überzeugen
lassen, dass diese Art von «Kunst» — « neueste Errungenschaft » sei??? Oder wie einige der oberen
Säle, deren Bilder auf uns mit allen Schauern der geistigen Umnachtung wirken, als befände man
sich in einem Irrenhaus für — moderne Maler? Solche Kritiklosigkeit beweist lediglich für jeden
Unbefangenen, wie zerfahren und verwirrt die inneren Verhältnisse der Secession sind, die heute nicht
mehr vorstellt als ein
paar wirklich begabte
Maler, an deren Rock-
schösse sich anschei-
nend alles Verderbte,
Talentlose, Verfahrene
in der neueren Malerei
unabschüttelbar ge-
, klammert hat. Sind die
paar «Könner» in die-
sem Kreise so ge-
schmacklos , sich das
auf die Dauer gefallen
zu lassen, so ist das
schliesslich ihre Sache,
— denn sie haben die
Zeche zu bezahlen, da
die Anderen nichts an
Ruf und Ansehen zu
verlieren haben. Die
Herren sollten wohl
Theodor Esser. Lustige Nacht
Überlegen , wie wenig
in neuerer Zeit sie an
Boden gewonnen haben
und wie spürbar schon
das Odium der Führer-
schaft bei einer destruk-
tiven Künstlergruppe
sich an sie gehängt !
Denn die Secession hat
mit der nationalen
Kunstleistung der Ge-
genwart im Ganzen
nichts mehr zu thun.
Sie vertritt nicht mehr
die Jugend, — denn
die wiegt im Glaspalast
über und neue Kräfte
finden bei ihr nur eine
— sehr zurückhaltende
Gegenliebe. Sie ver-
tritt nicht mehr die
social-realistische Malerei, welche auf Grund einer politischen Zeiterscheinung ein logisches Daseinsrecht
besass, — soweit die Darstellung eben wirklich künstlerisch war, — — sie vertritt auch nicht eine
auf nationaler Grundlage ruhende Phantasiekunst. Was sie in der deutlich erkennbaren Gesammtheit
ihrer Werke vertritt, ist Neuaufarbeitung veralteter Auslandsabfälle, — jetzt kommen schon die Newa-
Tataren an die Reihe, — ujeh! — , — ist ferner minderwerthiges Exercitium in Palettenkniffen, —
und nicht ein Deut mehr ! Wann hätte in den letzten Jahren die Secession ein wirklich Neues,
fruchtbar Weiterwirkendes vorgeführt? Sie vertritt auf nahezu allen Linien die Künstelei,
— nicht die Kunst. Sie schraubt mehr und mehr die Künstlerstellung io die Sphäre des wandern-
den Geigenjongleurs und Bildnissgauklers, wie sie das vorige und der Anfang unseres Jahrhunderts
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
53
August Fink. Winterlandschaft an der Isar bei Freising
gekannt hat. Sie ist Alles im Allem längst keine künstlerische Gruppe mehr, mit der man rechnen
muss, — vielmehr lediglich eine Personenklique von 5 Leuten mit 50 Palettenakrohaten etwa als
Anhang, die in ihren kokottenhaft ä Ja Maupassant anmuthenden Ausstellungen den rapiden Verfall
einer bestimmten degenerirten Gesellschaftsklasse in unserem Volkskörper darstellt. Sie theilt als patho-
logische Erscheinung mit dieser auch das ganz auffällige Nichtkönnen im «soliden» Handwerk der
Kunst und die völlige Unfähigkeit, irgend etwas über den Rahmen des ersten Einfalls, der Skizze, des
Versuchs hinaus als ein vollreifes Werk, als eine vor ernsten Männern giltige Leistung zu Stande zu
bringen; — das wirkt aus der Gesammtheit der Secessionsausstellung heraus als eine den Kunstfreund
bedrückende, — und das namentlich, wenn er «mit» der Jugend fühlt! — aber unbarmherzige That-
sache. Eine nicht aus dem Volksleben mehr oder minder hoch anwachsende Kunstweise ist nicht
lebensfähig, — der Volksinstinkt wehrt sich, solange er gesund ist, gegen in seinem Sinne anti-
nationales und antikünstlerisches Schaffen, — er hat sich erfolgreich der Secession bisher erwehrt,
54
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
— und die .Schlussfolgerung ist nicht mehr abzuweisen, dass
die Episode der « Secession » nunmehr zu Ende geht. — —
Gegenüber diesem Hurrahstil überreizter Nerven und
willenlos jedem Eindruck vom Ausland überlassener Sinne im
Secessionshaus wirkt der Glaspalast wohlthätig mit der ruhigen
und nachdrücklichen Dynamik einiger hochbedeutender Schöpf-
ungen von Zukunftstragweite und einer grossen Zahl grund-
solider Arbeiten, die auf dem Boden ehrlicher Künstlerbegeister-
ung an den Welterscheinungen und eines tüchtigen, überall
sich hervorkehrenden Handwerkskönnens gewachsen sind.
Die Hauptanziehungspunkte bilden hier diesmal zwei
unserer grössten, einander vollständig entgegengesetzten Künstler-
persönlichkeiten, — nämlich Lenbach und Kling er. Man
kann von der über ein Dutzend Werke enthaltenden, mit der
grössten Feinheit des Zufälligen vorgeführten Sonderausstellung
Lenbach' s schlechthin nichts Besseres sagen, als dass eine
neue Jugend über den Künstler gekommen ist und er die
bisher eingenommene Höhe, — so unglaublich es klingen
mag, — noch überboten hat. Seine « Halbfigur einer Zigeunerin »
ist geradezu ideal vollkommen und eine der schönsten Leist-
ungen des Künstlers, die unbedingt in ein grosses Museum
gehört. Ist dieser runde, etwas nach hinten gewandte Körper
mit dem Gewandfetzen wunderbar gemalt, — ist da ein
Schmelz, eine Wärme, eine Tiefe im Ton und eine bethörende
Stimmung, welche uns ähnliche Eindrücke von den grössten
Meistern der Geschichte, — einem Tizian, Rembrandt, Rubens,
— lebendig macht! Und diese stupende Wirkung setzt sich
heuer von Bild zu Bild fort, wobei diesmal das weniger
Vollendete seltene Ausnahme zu bilden scheint. Da ist das
erstaunlich feine und schlagend ähnliche Bildniss einer älteren Dame, — neben ihm das süsse
Köpfchen einer bekannten Münchner Malersgattin, das prächtig im flüchtigen Augenblick eines auf-
huschenden Lächelns erhascht ist, — von gleicher malerischer Genialität aber auch das Doppelbildniss
in Vollfigur von einer jungen Dame und einem Mädchen, dessen kostbare Farben bestechend aus dem
tonigen Hintergrund tauchen : in den fremdartig-feinen Zügen mit dem Feuer und dem sprühenden
Geist im Auge glaube ich Frau von Lenbach selbst zu erkennen. Ich hebe noch das kraftvolle
Schauspieler-Bildniss, den reliefartigen Bismarckkopf und Björnsons Conterfei heraus, ohne damit die
besten Stücke dieses Lenbachsaals annähernd vollzählig angeführt zu haben. — — — Was das
immer wieder Unbegreifliche an den Lenbachschöpfungen ist: er steht fast überall — seltene Ausnahme
Eugenie Munk. Pierrot
F. A. von Kaulbach pinx.
Phot. F. Haorittaengl, München
Frau von Kaulbaeh
(D
O
a
Max Ring. Am Gemüsestand
Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl
II 9
56
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
abgerechnet — sicher auf dem Boden der Natur. Seine Farben und Töne sind das Seltenste, oft
Köstlichste, das Musikalischste möchte ich sagen, was ein königlich in seinem Reich herrschender
Geist ausgesonnen hat, — es steckt eine grenzenlose Arbeit und Vorbereitung, ein unglaubliches
Beobachten und Nachdenken in diesen scheinbar so mühelos hingesetzten Tondämmerungen , die in
dieser Finesse und Dififerenzirung anscheinend niemals in der Natur vorkommen ; aber er verliert
trotzdem nur sehr
selten einmal die
Natur aus dem Auge ;
sie steht schweigsam
überall in seinen
Formen und in jedem
Gesichtsinhalt als
etwas ihm genau
Bekanntes, das er aus
primitiver, roh wir-
kender Einfachheit
erhöht, mildert und
nach seinen Maler-
instinkten umgestal-
tet. Dieser enge Zu-
sammenhang von
Natur und Geist bei
ihm und diese könig-
liche Herrschaft über
die Mittel der Kunst
bedingen Lenbach's
Grösse ; man darf
heute, wo Böcklin's
und Menzel's Werk
mit dem Alter dieser
Maler als abgeschlos-
sen gelten können,
Conrad Kiesel. Damenbildniss
von dem jugend-
frischen Sechziger
Lenbach ohne jeg-
liche Uebertreibung
sagen, dass er der
erste « Maler >: der
Gegenwart ist. Und
dabei ist seine Kunst
in ihrem ganzen Um-
fassungskreis,in ihrer
seelischen Richtung
doch vollkommen
national ; sie kann
vorbildlich dafür sein,
wie ein Künstler in
seinen Mitteln sich
die Erfahrungen aller
Völker und Zeiten
der Geschichte dienst-
bar machen darf,
ohne den Zusammen-
hang mit dem Kunst-
genius seines Vater-
landes zu verlieren. —
In einer ganz
anderen Welt der
Kunst doch eine
Lenbach verwandte Erscheinung ist Klinger, der diesmal sein vielgenanntes, in der «Kunst unserer
Zeit» schon mehrfach besprochenes Riesentriptychon : «Christus im Olymp» ausstellte. Das Bild ist
äusserst ungünstig angebracht. Der rothe Koloss zur Linken, der blaue zur Rechten sind die unge-
eignetste Nachbarschaft, — das grelle Oberlicht, das durch ein besonderes Velum hätte gedämpft
werden müssen, macht die Farben, welche im Vorjahr auf der Leipziger Gewerbeausstellung und in
der Werkstatt des Künstlers blüthenfrisch und lebendig wirkten, kalt und hart; dem Bild ist bis auf
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
57
Anton Laupheimer. In Ferien
die durch ihre tiefere Lage begünstigtere Predelle fast der ganze eigenthümliche Farbenreiz genommen.
Das ist sehr bedauerlich und sollte abgestellt werden; der Glaspalast hat doch gewiss keine Ursache,
den geschäftigen Gegnern eines seiner «Haupttrümpfe» Wasser auf die Mühle zu giessen. Das Bild
darf ich aus den wiederholten Beschreibungen wie aus Abbildungen als so bekannt voraussetzen, dass
ich ein Eingehen auf seine Einzelheiten unterlassen kann. — Was Lenbach unter den «Malern», ist
Klinger mit seinem zwischen 200 und 300 Nummern zählenden Gesammtwerk unter den «Künstlern».
Er ist Phantasiekünstler grössten Kalibers, in dem die Gedankengänge von Antike, Renaissance, der
gesammten Gegenwart nach künstlerischem Ausdruck drängen, für welchen er die Stecherkunst, die
Plastik, die Malerei verwendet hat. Seit seiner Reife steht er in den Formen streng auf der Natur;
aber er erhöht die Natur wie jeder grosse Künstler; seine Farben sind darum ebenso wenig Natur-
farben wie die von Lenbach; er sucht im Kolorit gewisse grosse symbolische Wirkungen, die seinem
Bildproblem dienen. Das haben alle grossen Künstler von Giotto bis Michelagniolo, von den Eycks
bis Dürer, von Cornelius bis Böcklin gethan, — und es ist wirklich gut, dass die Kunst in ihrem
58
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Lauf stets noch von grossen Künstlern, nie aber von schlechten Kritikern mit mangelhafter Kenntniss
der Kunstgeschichte gemacht wird. Wenngleich für Klinger persönlich die Malerei die sprödeste unter
seinen Techniken ist, hat er doch ein als Bild so ausgezeichnetes Farbenkunstwerk wie das « Paris-
urtheil >> geschaffen, und man wird auch diesen « Christus im Olymp » trotz mancher ernsten Einwände
der Zukunft überlassen können. Dies Werk geht seinen Weg mit seiner gedanklichen Grösse, seiner
edlen Formengebung, seiner Farbenkraft, — ob der Künstler es noch einmal übermalt oder nicht, —
es ist viel zu bedeutend. Wie wir Germanen aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führt, wohl
am tiefsten in die welt-
geschichtlichen Prob-
leme der Antike und
der Renaissance ein-
gedrungen sind, — so
ist auch dies Werk wie
andererseits Ibsen's
« Kaiser und Galiläer »
ein Zeuge davon; ferner
aber auch dafür, wie
grossartig der ideelle
Zusammenprall von An-
tike und Christenthum
von einer modernen
Künstlerphantasie er-
schaut worden ist.
Klinger ist im ge-
sammten Nord- und
Mitteldeutschland heute
rückhaltlos anerkannt;
wo man ihn im Ein-
zelnen nicht goutirt,
hält man sich mit gutem
Takt zurück, weil man
L
Albcil Hynais. btudie
sich sao;t, dass ein be-
deutender Künstler am
Ende doch Recht hat;
man ist durch die Er-
fahrungen mit Menzel
und Böcklin gewitzigt;
die Opponenten der
70 er und 80 er Jahre
gegen beide haben
Haare auf der Wahl-
statt gelassen, — sie
haben als schliesslich
nicht ernst genommene
Leute ihre kritische
Thorheit mit der Lauf-
bahn bezahlt und sind
grösstentheils ver-
schwunden. Aus einer
bestimmten, sehr ge-
kannten Münchner
Gruppe heraus wird
jetzt dasselbe mit Klin-
ger erlebt. Böcklin, an
dessen Stellung nicht
mehr zu tasten ist, wird verherrlicht, — aber die « Allegorie » (Böcklin hat kaum Anderes je gemalt !)
gilt ihnen u. A. als künstlerisches Unding und veraltet. Die Allegorie beherrschte leider nun alle
Zeiten der Kunstgeschichte, — wie kann man ohne sie Michelagniolo's, Ruben's Namen nennen ! —
sie wird immer, wo intensives Geistesleben sich mit dem Formentalent der Kunst vereinigt, die
Darstellung eines Künstlers bestimmen. Das wird nie anders sein und immer werden die Kunst-
gesetze aus den grossen Kunstwerken abgeleitet werden müssen. Den grossen Kunstwerken aber ist
es eigenthümlich , dass sie immer vom Wesen der schaffenden Künstlernatur bestimmt werden: der
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Kruux Stuck p1u\.
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Pallas Athene
60
DTE KUNST UNSERER ZEIT.
eine leistet Unvergängliches im malerischen Ausdruck
wie Lenbach, — der andere zieht als einsamer Phi-
losoph die Quintessenz aus der Geschichte und formt
sie zum Werk der bildenden Kunst wie Klinger, —
der dritte schildert die bunten Bilder des Lebens un-
mittelbar nach der Natur wie Menzel und Defregger,
— ein vierter lässt sich Paradiesesträume einfallen
wie Böcklin. Ein Jeder wird trotz aller Schul-
meistereien Recht behalten müssen. Das Einzige,
was in der Kunst nicht das mindeste Daseinsrecht
besitzt, das ist die Stümperei, die mit frecher Miene
vorgibt, Meisterschaft zu sein, — ist die seelenlose
Mache und jener prahlende «Verzicht» auf Geist,
Bildung, die Errungenschaften vieltausendjähriger Kul-
turarbeit, welcher im Grunde nichts als Zugeständ-
niss blödester Geistes- und Herzensarmuth ist. — ^'^''''"" ^-""- Studienkopf
Unter den übrigen, der Phantasie huldigenden Werken der Ausstellung sind einige Collektiv-
Abtheilungen zu nennen. So die interessante von Gysis mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem graziösen
Charakter, — so auch die vornehmen Tafeln von Löfftz; der Meister hat seine langerwartete Dar-
stellung von « Orpheus und Eurydike » gebracht, — zwei ausgezeichnete Männerakte und ein bekleidetes
zartes Weib dazwischen mit schönem Rythmus
der Bewegung, mit einem sehr delikaten Farben-
geschmack, mit bestechendem Schönheitsgefühl;
es ist im antikisirenden Stil der älteren deutschen
Schule eine sehr anmuthige Schöpfung, welche
es wohl verdient, in der Pinakothek neben des-
selben Meisters berühmter « Grablegung » zu
hängen. Erreicht sie diese auch nicht ganz, so ist
sie doch ein mit unendlicher Liebe und Andacht
geschaffenes Werk. — Ein sehr verheissungs-
volles koloristisches Talent ist ferner das von
Raffael Schuster- Woldan, der Jahr für Jahr
in junger Meisterschaft gewachsen ist. Er ist ein
Phänomen an Farbengeschmack und hier von
hoher Feinheit, — wofür seine «Legende» ebenso
Beweis ist als das entzückende Mädchenbildniss
mit seinem System grüner Töne. Kann man von
seinem « Selbstbildniss » sagen, dass es meisterhaft
Ernst Thallmaier. Lektüre
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Gl
charakterisirt noch ausserdem ist, so geschieht es mit einer gewissen Beruhigung, dass dieses kolo-
ristische Talent Dank neutralisirender Gabe an der Klippe des Versandens in der Koloristik schwerlich
scheitern wird. Wir wissen auch von früher her, wie herzhaft der Künstler sein kann, mit dem wir
uns in Kurzem noch näher beschäftigen werden. Uebrigens ist auch sein Damenbildniss nach dem
Vorbild des bekannten Selbstbildnisses von Vigee Le Brun eine sehr treffliche Arbeit. Bei der Secession
ist noch Stuck hervorzuheben. Seine längst bekannte «Kreuzigung» wirkt hier ungleich günstiger
Dank besserer Beleuchtung, als diejenige seiner Zeit bei der Berliner Ausstellung war, und lässt die
wuchtigen Massen der Farben viel glücklicher zusammengehen. Man sieht bei solchen Vergleichen,
wie viel bei einem Bild auf die richtige Beleuchtung und passende Nachbarschaft ankommt. Unter
mehreren kleineren Tafeln sind noch eine neue Auffassung der « Pallas Athene >> als von guter
malerischer Durchführung, — ein neues Selbstbildniss daneben besonders hervorzuheben.
Hermann Moest. Das Los des Schönen
Nicht viele, aber zum Theil hochachtbare Werke gehören dem religiösen Stoffkreis diesmal an.
Hier ist seit Jahren ein spürbares Versagen festzustellen, das einem Zeitzuge entspringt. Eine Er-
nüchterung ist vorhanden, die als ein Rückschlag gegen die reiche Pflege des Gebiets bei den Münchnern
und Düsseldorfern in den ersten drei Vierteln des Jahrhunderts gelten kann. Das Wenige, welches
hervorgebracht wird, macht den Eindruck bestellter Arbeit für Kirchen und Kapellen oder aber des
gleichgiltigen Versuchs mit neuen Wegen der Auffassung, der Technik, — der naive Glaube und die
selbstvergessene Andacht wird selbst im Besten oft vermisst. Trotz dieses kleinen Minus indessen ist
Marr's aufsehenerregende «Madonna» nahezu ein voller Wurf. Es ist malerisch eine sehr tüchtige
Arbeit mit einer glänzenden Behandlung des Beleuchtungsprinzips nach dem berühmten Correggio
der Dresdner Galerie, und die Lieblichkeit der «Madonna» und des Bimbo, die süsse Kindlichkeit
der kleinen Engel im Halbkreis und die ergriffene Unschuld der Grossen dahinter sind Bildelemente von
62
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
grossem Gewicht ; nur
stört mir das erstarrte
Pathos der Engelgeber-
den die Wirkung gerade
so sehr als das knallige
Roth des Madonna- Kopf-
tuchs, — und ich möchte
wünschen , dass der
Künstler hier nochmals
den Pinsel ansetzt.
Daneben ist auch eine
gross und wuchtig er-
dachte « Adoratio crucis »
von Thedy zu nennen,
die viele treffliche Eigen-
schaften hat und trotz
einer gewissen Herbheit
durchgebildeter Formen
Züge offenbart. — Der
talentvolle, aber ungleiche
Corin th bewegt sich auf
seiner « Kreuzigfunof » in
der bei ihm schon be-
kannten quattrocentisti-
schen Formenwelt der
Präraphaeliten mit dies-
mal noch trockenerer
Farbe, überrascht dage-
gen auf der frisch hin-
gesetzten kleinen « Ver-
suchung des hl. Antonius »
durch die Fülle der Be-
wegungsmotive sowie
drastischer Verkörperun-
gen von der Sünde in
dieser vergänglichen Welt.
doch feine psychologische _ Ein anmuthiges Stück
ist der kleine Madonnenkopf in originellem Rahmen von dem auch beim Bildniss mit Auszeichnung zu
nennenden Echtler, — nicht minder distinguirt aber auch — least not last — Nonnenbruch's
sehr empfundene «Verklärung» mit der süssen, von Engelsköpfen umgebenen Engelsgestalt, —
die nur für meinen Geschmack um ein paar Striche zu weich gehalten ist.
Von grosser Historie ist nur ein Paradebild von Braun zu nennen, das den Prinzregenten
mit seinem Stab -eben die Front eines Regiments abreitend darstellt. Die malerisch widerstrebende
All ton Montimizto, Leckerbissen
Aufgabe, modernes
Militär und seine
Stäbe während der
Paradestellung bild-
nissähnlich und na-
mentlich in bayer-
isch-blauer Uniform
darzustellen, ist, so
gut es geht, behan-
delt, — — über-
triebene künstler-
ische Anforderungen
darf man an solche
Franz Grässd. Enten
Werke nicht stellen,
da hier der militär-
ische Zweck die
Hauptsache ist. —
Mannigfach und
theilweis recht an-
muthig ist das Phan-
tasiestück vertreten .
Da ist ein origi-
neller Einfall von
Fächer, welcher in
seinen « Abschieds-
aedanken » mit
t
M. NouucDbruch pfnx.
Cuityri({lil Iti^ö by Ftuui IJaulaUiciigl
Verklärung
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
G3
eigentlich wenig bedeutenden Mitteln eine sehr hübsche Sache zu Stande brachte. Ein in letzter
Dämmerung dahinrollender, sehr plastisch gemalter Zug an einer Kurve, — letzter Glast am Horizont,
— am hellen Coupeefenster ein träumender Mann, vor dessen verlorenem Auge aus den Wiesennebeln
am Bahndamm Faschingsgestalten sich bilden und zu ihm empordrängen. Es liegt eine eigene Wirkung
in dem Bild, — ein feines Erhaschen jener Stimmung des einsamen Indienachthineinfahrens und nielan-
Malerlehrling
cholisch leben-
digen Räder-
gerolls, wenn
das Herz zu-
rückbleibt, wo
die Fahrkarte
gelöst ward.
Verwandt im
System der
Erfindung ist
diesem Bild
ein neuer
Malczewski,
dessen heuri-
gen Gegen-
stand ich vor
Langem von
ihm einmal in
malerisch noch
feinerer Lös-
ungr behandelt
sah: Ruhmes-
träume eines
jungen Kunst-
handwerkers.
Da sitzt auf
einer Stehlei-
ter oben ein
Leopold Schmiitzlcr. Ein Spaziergang
und stiert vor
sich hin, in-
dessen die ihm
entfallenen
grossen Scha-
blonen lang-
sam zur Erde
schaukeln ;
ihr Geräusch
macht Gestal-
ten vor sei-
nem i\uge
wach,- bunte
Gestalten, die
er einst dar-
-stellen wird
und die ihm die
heiteren Freu-
den erfolg-
reichen Künst-
lerlebens ver-
führerisch her-
zaubern. Die
Kunst, mit der
Malczewski
runde Figuren
in schwerge-
wichtslosem Schweben und triebhaft bestimmter Bewegung darstellt, ist frappant, — ich kann nicht
ergründen, woran es liegt, — aber man glaubt ihm seine Fleisch und Blut gewordenen Träume.
Georg S chu st er- Woldan mit einem Eckehard, — das noch ungeklärte aber gewiss ent-
wickelungsfähige Talent von Müller-Schöne feld in seinem «Märchen», — Huber mit einem
Lucifer, — Strathmann mit einem neueren seiner originellen und kunstgewerblich hochinteressanten
II 10
64
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Robert Böninger. Idyll
Bilder, das die Tragikomödie eines von
einer Schlange Überfallenen Faunen dar-
stellt, — schliesslich bei den graphischen
Arbeiten Dasio, welcher seinen geist-
reichen und graziös wie geschmackvoll aus-
geführten Einfällen eine noch feinere Würze
durch nähere Anlehnung an die Natur geben
würde, dürfen in diesem Kreis nicht über-
gangen werden. — Bei der Secession ge-
hört ihm ein wenig guter, glasiger Böcklin:
« Der Hüter des Geheimnisses « , — ein
etwas flau ausgefallener Thoma: «Tod,
Adam und Eva», — sowie eine im Ton
äusserst reizvolle Impression von «Badenden» im Waldweiher mit bemaltem geschnitztem Rahmen
von L. von Hofmann an. Das Secessionsverhängniss für die Talentvollen ist auch sein persön-
liches Verhängniss anscheinend : er bleibt ein Bruchstück und kommt über das Wollen einer freilich
genialen Inspiration nicht hinaus. — — —
Auch Fritz August von Kaulbach hat heuer eine Sonderausstellung gemacht und in dem
vorjährigen kleinen Lenbachkabinet untergebracht. Man sieht da einige geistreich erdachte und graziös
durchgeführte dekorative Skizzen, daneben aber Bildnisse. Man sähe statt einiger der Letzteren lieber
ein paar von den graziösen Genrestücken des Künstlers, die ganz fehlen. Wenngleich Kaulbach
heuer gerade kein «goldenes» Schafifensjahr in den Bildnissen hatte, so ist doch alles Vorhandene
von technischer Vollendung, vornehm und sicher im Geschmack. Eine lachende, tiefbrünette, etwas
zurückgebeugte Dame, — dann aber die vom Künstler schon oft gegebene schöne junge Dame, welche
diesmal auf einer rothgestrichenen Bank im Freien so prächtig selbstbewusst sitzt, reihen sich freilich
den glücklichen Arbeiten Kaulbach's an.
Ueberhaupt das Bildniss in der Gegenwart. Es zeigt interessante Erscheinungen. Ein so grosser
Meister wie Lenbach wirkt in einer Zeit niemals erfolgreich auf einem so sehr von der Nachfrage
des Publikums abhängenden Kunstgebiet, ohne dass nicht die Mehrzahl der Bildnisskünstler von iiim
beeinflusst würde. Auch ohne die unmittelbaren Nachahmer Lenbach's im Auge zu haben, trifft man
überall auf seine Spur: sein Geschmack in der Malerei, — seine Art, in den Menschen hineinzusehen
und alles Unwichtige lediglich unbestimmt zu behandeln, guckten aus vielen der besten Tafeln heraus, —
und Tizian, Velasquez, van Dyck bilden noch immer im Ganzen die ultima ratio der Bildnissmaler-
Gesichtspunkte — , nur dass Lenbach das Medium ist , durch dessen Brille man die Alten beschaut.
Das ist eine natürliche Erscheinung. Solange diese Spur in künstlerischer Weise gewandelt wird,
hat sie Daseinsrecht, denn in der Kunst wie in der Wissenschaft wird das Daseinsrecht nur vom
inneren Werth einer Sache bestimmt. — Der gemeinsame Grundgesichtspunkt dieser Bildnissrichtung,
welche die italienische, spanische und niederländische Renaissance in einer Reihe sehr bedeutender
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
65
Bildnisswerke ausgebildet hat, ist der, unter Absehung von allem Zufälligen des Augenblicks in Bezug
auf Aussehen und Stimmung den Menschen so darzustellen, wie er als Erscheinung, in seiner geistigen
und seelischen Sphäre über eine längere Zeitspanne hinweg auf einen kulturell hochstehenden Anderen,
— also den Bildnissmaler, — wirkt. Um ein mir gerade einfallendes Beispiel, das zahlreich vermehrt
werden könnte, anzuführen : Lionardo's Giokonda. Da ist eine junge italienische Patrizierin von vor-
nehmer fraulicher Erscheinung. Man kann das Alter nur sehr ungenau und physiognomisch eigentlich
wenig Greifbares bestimmen ; auf uns wirkt in dem Bild der Duft anmuthiger Frauenerscheinung, wirkt
ein verschleiertes Etwas in den weichen Zügen, dem sinnenden Auge. Man weiss sogleich, dass diese
Dame nicht zu einer bestimmten Tagesstunde, nicht als Augenblicksphotographie im Ausdruck fest-
Alexaiidcr U'agner. Heimkehr
gehalten ist, — vielmehr schaut man, Dank dem Fingerzeig des Künstlers, in Etwas hinein, was wahr-
scheinlich für die Dame lange Jahre hindurch charakteristisch war: die linde Schwermuth eines
unbefriedigten Gemüths. Das hat Lionardo sogleich richtig herausgelesen und alles Andere damit
zusammengestimmt. Wenn er nach einer alten Ueberlieferung während der Bildnisssitzungen Musik
machen Hess und dieser jungen Frau eines alten Mannes noch obendrein stark den Hof machte, so
offenbart uns das den bedeutenden Menschenkenner in ihm : als ein durchtriebener Lebemann, der er
mit Geist war, beurtheilte er den «Fall» nicht nur in der Beschaffenheit, sondern auch in der Ursache
richtig und wandte mit dem feinen Instinkt des geborenen Psychologen Kunstgriffe von erprobter
Dynamik an, die den eigenthümlichen Zug bei der zu malenden Madonna stärker ausprägten, sobald
er Sitzung hielt. So steht denn auch diese junge Frau seit Jahrhunderten vor uns, — schlagend
10»
66
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ähnlich, vollendet, wesenhaft wirkend, weil das Bestimmende in ihrer Erscheinung nicht obenhin,
sondern « in der Tiefe des Seelenmysteriums begriffen » ist. — Man weiss ja, dass auch Lenbach oft
lange vor dem Malen im persönlichen Verkehr sich in das Wesen seiner Personen hineinfühlt, und wer
sein märchenhaftes Werkstatt-Museum kennt, dem ist vielleicht aufgegangen, welche starke Suggestion
es auf den ausüben muss, der öfter zur Bildnisssitzung hierher kommt: er lässt unter dem Stimmungs-
eindruck der hier beisammen befindlichen Jahrhunderte in sorgfältig erlesenen Werken derselben den
Alltag seiner Meinungen und Launen von heute draussen, — er wird gefügig und stillbescheiden und
verräth unbewusst, was sein eigentliches Milieu ausmacht.
Unter den zahlreich vorhandenen guten Bildnissen ausserhalb der Säle von Lenbach und Kaulbach
ist diesmal Echtler besonders hervorzuheben, der den Prinzregenten in sehr schlagender und malerisch
höchst geschmackvoller Weise darstellte. Er modellirte gut, zog das Licht in der Hauptsache auf
den Kopf in jener glücklichen Art, die uns bei Herkomer und der Parlaghy schon entgegengetreten ist ;
reife Werke doch
sonst immer das Er-
gebniss langer Ueb-
ung zu sein pflegen.
— Auch Schwill ,
dessen sehr an-
sprechendes Selbst-
bildniss ich im vori-
gen Jahr schon her-
vorhob, ist wieder
sehr bemerkens-
sie erfordert eine
sichere Kenntniss
der Mittel, die man
dem Bild von Echt-
ler nachzurühmen
hat. Es ist das erste
mir bekannt gewor-
dene Bildniss von
des Künstlers Hand,
und ich bekenne
gern, eine ange-
nehme Ueberrasch-
werth. Wie treffend
ung davon gehabt ist die Dame in dem
Stanislaus Grocholski. Verlangen
zu haben, weil so gütigen Lauschen
des Auges charakterisirt und wie geschickt das in den Farben changirende Kleid gemalt 1 — so gut,
dass dem Laien die Kunst darin kaum auffallen wird. Das Inkarnat könnte ein wenig frischer und
der Schwung in der Darstellung ein wenig herzhafter sein, aber auch ohnedem erregt das Bild Auf-
merksamkeit für sich, wie für einen sich solide und ehrlich auswachsenden Künstler, der seinen Weg
sicher geht und reifen wird. — Berenyi's Bildniss unseres Frankfurter Malerpoeten Hans Thonia
gehört mit seinem Kontrast von Dunkel und Hell auch zum Besseren, wenngleich zu bemerken ist,
dass der ungarische Künstler trotz des koketten Durchblicks auf einen kleinen Odenwald - Hain das
eigentlich Thoma'sche nicht recht gefasst hat. — Frau Parlaghy hat neuerdings keine glückliche
Hand, wie das hier ausgestellte Bildniss neben anderen neuen Arbeiten in Berlin zeigt. Sie wird hart,
unvermittelt, sucht schlagende Wirkungen mit rohen Mitteln. Das thut ein Künstler dauernd nur auf
Kosten seines Talentes, weil gerade diese Form des Abirrens mit dem faden Virtuosenziel im Auge
einer falschen Anschauungsrichtung entspringt; es wäre bedauerlich, wenn die schöne Begabung der
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
67
Künstlerin sich auf diese Weise ruiniren sollte. — Unter vielem Trefflichen sind hier ferner anmuthige
und geistvolle Mädchenköpfe von Erdtelt, — Zimmermann's im Ton so sehr als in der schlichten
Charakteristik vornehmes Bildniss von Staebli, — von Raff ein sehr wirkungsvolles und gut prä-
cisirtes Damenhildniss, — gute Arbeiten von Kirchbach, Thor, — von Orrin-Peck ein süsses
rubensfarbenes Kinderstück. — von Fröhlich anzuführen, ohne dass in dem hier gegebenen Rahmen
sich das Hervorragende erschöpfen Hesse.
Interessante Tafeln sind auch jene von Höflinger, — ein rund herausgearbeiteter, frischer und
pikanter Frauenkopf mit kecken Farbengegensätzen, der gegen eine Landschaft abgesetzt und als eine sehr
geschickte Arbeit hervorzuheben ist, — sowie das anmuthige Frauenbildniss von Hoff, dessen feines,
nur cm wenig
zu weich be-
handeltes Ge-
sicht von einem
teppichartigen
Landschafts-
hintergrund
sich abhebt ;
auch diesem
ansprechenden
Suchen nach
frischer Auf-
fassung wird
eine grössere
Herbheit erst
die rechte
Würze geben.
Beide Arbeiten
bewegen sich
in der Richt-
Kichard Falkenberg. (Jphelia
ung, welche die
altniederlän-
dische und die
mit ihr so eng
zusammen-
hängende alt-
deutsche Kunst
langevertreten
hat. — r —
Die Kunst-
weise der Ju-
gend, wie sie
von der Seces-
sion in den er-
sten Jahren
vertreten ward,
hat sich mit
ziemlicherViel-
seitigkeit des
Wollens auch
dem Bildnissgebiet zugewandt, — im Verlauf eines Jahrzehnts manche anerkennenswerthe Schöpfung
hier hervorgebracht, — im Ganzen jedoch keinen Boden gewonnen ; es ist eines der charakteristischen
Zeichen für die gegenwärtige Lage, dass das Publikum sich kühl gegen Gemaltwerden im « modernen »
Sinne verhält, und dass keines von den Talenten dieser Art aufkommt. Das liegt in der Sache
selbst begründet. Die « moderne » Kunst hat die Betonung auf die zufällige Erscheinung des Augen-
blicks, demgemäss malerisch auf blosse Palettenkünste gelegt, — sie ist in der Charakteristik auf rein
äusserliche Momente ausgegangen, so dass der Mensch, sein Wesen, sein Charakter zur Nebensache
vielfach geworden ist. Und damit ist die Grundfrage der Bildnisskunst eben übersehen worden. Wie
man sich aber auch als Neuerer und Erfinder geberden mag und der Tamtam kritikloser Freunde für
68
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Erich Kiibleisehky. Abendlandschaft
ein paar Jahre Einem auch Recht zu geben scheint : man kommt weder in der Kunst noch sonstwo um
die Grundgesetze herum, die begriffen und berücksichtigt werden müssen, um etwas Dauerndes zu schaffen.
Auch diese Erscheinung der modernen Kunst hat dazu noch einen anderen Haken, als gemeinhin in
den Erlassen der Partei-Bonzen zu lesen steht. Man kann nirgends weniger schwindeln als in der
Bildniss-Malerei; da heisst's : unbedingt bis in das Kleinste hinein zeichnen, die Palette unterordnen,
kraft hoher Bildung und divinatorischer Gabe in einem Menschenantlitz lesen zu können. Dazu thut
angeborene Fähigkeit viel, — aber die Bedingung bleibt immer bestehen, dass Energie der Vertiefung
und Ausdauer die persönliche hohe Kulturstufe erzeugen müssen, von der aus der Künstler souverain
durch das Antlitz hindurch in die Menschenseele hineinblickt. Die technische Erleichterung, welche
die modernen Malprinzipien ihren Jüngern gewährt, sind sehr verhängnissvoll bei einem erdrückenden
Prozentsatz derselben geworden; es fehlt der Zwang der Versenkung, weil nicht so oft, ausdauernd,
beobachtend an ein Werk die Hand gelegt werden muss. Es geht alles so schnell heute; damit
fällt das selbsterziehliche Element in der Technik fort; das Denken innerhalb der Sache entwickelt
sich nicht weiter, — es verlernt sich mehr und mehr wie jede nicht ständig geübte menschliche
Eigenschaft. Lässt man sich als Beschauer von billigen Kunststücken nicht blenden, so wird man in
modernen Ausstellungen oft aufs Höchste überrascht, welch' ein Mangel von Intelligenz, an bewusstem
Sehenkönnen, an Bildung hinter der Mehrzahl der «modernen» Bildnisse gähnt. Und das fühlt das Publikum
instinktiv ; daher die grosse Menge von «Dargestellten in öffentlicher Stellung» auf unseren Ausstellungen,
Cur! Bölivie. Scirocco (Motiv von Capri)
S
70
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
und demgegenüber nur ein paar Brosamen wirklich und in baarem Gelde bezahlter Bildnisse, also von
Arbeiten, die über das Verhältniss des Publikums zur Sache einige gewichtige Rechenschaft geben.
An Tafeln von unleugbarem Talent und wahrscheinlicher Entwickelungsfähigkeit sind in dieser
modernen malerischen Richtung beim Glaspalast zwei Bildnisse des von den Schotten beeinflussten Malers
Knirr hervorzuheben, dessen Halbfigur einer jungen Dame allerdings in Geschmack der Farbe und
Auffassungskraft die kleineren Bilder nicht erreicht. Auch Matiegzeck's Damenbildniss ist eine
feine und geistvolle Arbeit voll bewussten Könnens, bei der nur der Scherz mit dem Schatten auf der
unteren Gesichtshälfte hätte wegbleiben können. In der Secession steht Uhde's gut gemalter und
farbig in der Muffigkeit der Armeleut- Existenz famos getroffener alter Kerl auf diesem Boden;
warum aber verzichtet ein so ausgezeichneter Charakteristiker, wie Uhde vordem war, auf seine vielleicht
beste, sicher aber ent-
wicklungsfähigste Eigen-
schaft, indem er nicht
mehr als die blosse Er-
scheinung gibt? Velas-
quez, der ilim bei der
Auffassung vorgfeschwebt
zu haben scheint, hätte
ihm auch den Hinweis
geben können.
Eine merkwürdige und
leider nicht in gutem
Sinne bezeichnende Zeit-
erscheinung ist sicher die-
jenige , dass alle die
jüngeren Leute, welche
sich von Lenbach und
seiner Richtung abge-
Otto Prophettr. Bildniss des Professors Ferdinand Keller
wandt haben, um «neue
Wese » der Bildnisskunst
zu suchen, fast insgesammt
wurmstichigen Verfall-
manieren nachgehen und
sich streng hüten, beim
Nächstliegenden und Na-
türlichsten anzuknüpfen :
nämlich bei der stamm-
verwandten altniederlän-
dischen und der altdeut-
schen Bildnisskunst. Von
Jan van Eyck bis Cranach
ist hier eine Anzahl von
Meisterleistungen über-
kommen und hängt in
München, Berlin und Dres-
den doch so leicht zu-
gänglich aller Welt vor Augen, dass diese bloss weit aufgethan zu werden brauchen, damit sie in
der glänzenden Farben - Gluth und Pracht, der schlagenden Charakteristik, der gemüthvollen Liebe
unsere beste Volkskraft der Vergangenheit erkennen. Freilich hängt diese Kunst mit der zeich-
nerischen Illustration und dem Kunstgewerbe noch so eng und natürlich zusammen, dass ihre Neu-
erweckung an den Lerneifer, die Ausdauer, das ehrliche Gewissen der Nachtastenden grosse An-
forderungen stellt. Aber bedeutende Kunst erfordert immer die völlige Hingabe. Wo sich die Neigung
des Einzelnen etwa gegen die von Lenbach angebahnte Richtung wehrt, da liegt für einen ernsthaft
wollenden, weitschauenden und ein nationales Gewissen besitzenden Künstler eine weite und ent-
wicklungsfähige Bahn. Böcklin's Bildnisse, Thoma's Selbstbildniss in Dresden, — was ferner der
Frankfurter Pidoll hier vereinzelt neben einigen Anderen auf Dürer's und Holbein's Bahn versuchten,
^
Raffael Schuster-WoMaii i>lnx.
Phot. F. HauMüvugl, Mnuclieu
Die Malerin
i.
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(B
+J
0)
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
71
Carl Becker. Abend an der Nordsee
haben nachdrücklich bewiesen , wie künstlerisch und zeitgemäss diese von Dummköpfen gern als
«veraltet» ausgegebenen Stilweisen sich fortführen lassen.
Auch Anetsberger, dessen Namen ich zum ersten Male antreffe, lieferte in seinem ausge-
zeichneten Herrenbildniss in der Secession den gleichen Beweis. Eine wie feine und bewusste malerische
Kunst ist hier entfaltet und wie trefflich ist in diesem Gesicht ein feingebildeter, kritisch veranlagter,
sehr energischer Charakter ausgedrückt! Man kann sich sogleich lebhaft vorstellen, wie die Klangart
der Stimme aus diesem Munde schallen muss, — welches die Bewegungen und Manieren des Dar-
gestellten sein müssen.
Von den 3 guten Ausländerbildnissen, welche die Schwäche der deutschen Secessionsmalerei
ihrerseits mitverdecken müssen, ist Herkomer's schon bekanntes Bildniss einer edelrassigen englischen
Schönheit, einer wahren Ahnin für ein kommendes mehrhundertjähriges Geschlecht, ein ebenso beredtes
Zeugniss für die geistvolle Holbein-Nachfolge in dem mit so vielen guten Holbeins und noch mehr
trefflichen Kopien gesegneten England, — zeugt auch Knopff's ohne grossen Mittelaufwand bestechend
gut gemaltes Stück mit einem süss aufgefassten kleinen Mädchen in drolliger Stellung der Erwartung
an einer Zimmerthür dafür, wie fein, geistreich und neuartig der Künstler Anregungen der altnieder-
II 11
72
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ländischen Kunst ausgebildet hat. — Der Dritte ist Segantini, von welchem man ein älteres
Künstlerbildniss aus der Zeit vor seiner heutigen Spachteltechnik erblickt. Auch das ist ein Meister-
werk in seinem System äusserst stimmungsvoller Halbtöne, der tiefen Ruhe in Haltung und Heraus-
bildung der animalischen Erscheinung, der verhaltenen Kraft in der energischen Persönlichkeitsgabe.
Was ich schon aus der neueren, herbkräftigen Stilweise des norditalienischen Malers schliessen zu
können glaubte, scheint sich auch hier zu bestätigen : wie bei dem Menschenschlag ganzer nord-
italienischer Striche, Toskana eingeschlossen, fliesst anscheinend auch in seinen Adern in Folge
unendlich zahlreicher Berührungen der beiden Stämme auf den Völkerwanderungs- und Kaiserzügen
ein starker Tropfen deutschen Blutes, dem hier der ausgeprägte individualistische Zug zuzuschreiben
ist. Michelagniolo hatte von dieser Abstammung, der er sich selbst rühmte, die trotzige und wild-
kühne Gewalt, — der heutige italienische Böcklin,
Marius de Maria, verdankt dem sicherlich die eigen-
thümliche Färbung seiner grübelnden Phantasie.
Die unreale Phantasiewelt in der Kunst und das
Bildniss werden bis zu einem gewissen Grade sich oft
vom eigentlichen Volks-Milieu entfernen können, ohne
an Kraft, Bedeutung, nationalem Kulturwerth desshalb
unbedingt verlieren zu müssen. In stark bewegten,
in Aufstiegszeiten eilt oft die Geistesaristokratie dem
eigentlichen Volk voraus und formt sich Ideale, in
die das Volk erst später hineinwächst. Die Weimaraner
Litteratur- Periode, in gewisser Hinsicht auch das
Nazarenerthum bieten eine solche Erscheinung. Nie-
mals aber darf das Sittenstück, die figür-
liche Darstellung in realem Sinne sich vom
nationalen Fühlen eines Volks entfernen,
die Ideale des kleinen Alltagsbürgers ausser
Acht lassen und die Formenwelt aus inter-
nationalen Gesichtspunkten entwickeln wollen. Das gänzliche Darniederliegen dieses
Gebiets, die Auslandssucht in den Darstellungsmitteln war in der Vergangenheit fast immer mit
traurigen Zeiten der deutschen Kulturentwicklung verknüpft; wir finden dann immer ein Siechen der
Volkskraft als Parallelerscheinung, — immer aber auch zugleich den Mangel einer ernsthaften Phantasie-
und Bildnisskunst grossen Stils. Hier waltet ein wichtiges und unerbittliches Gesetz. Die moderne
Wissenschaft hat es längst dahin formulirt, dass alle weittragenden Ideen und Thaten sammt ihren
Schöpfern aus den unteren Schichten einer Volksgesammtheit hervorgehen, — dass diese den Unter-
grund nicht nur für das wirthschaftlich - gesellschaftliche , sondern auch für das geistige Leben einer
Nation bilden, — dass nichts auf die Dauer lebensfähig ist, was nicht in der Volksmasse wurzelt.
Diese Thatsache gibt dem Sittenstück in der Kunst eine eminente Wichtigkeit als nächster Ausdruck
Kichard Hartmann. Schülerscene (Goethe's Faust)
DIE KUNST UNSERER ZEIT
73
Gregor von Bockmann. Nordwyker Muschelkarren
des Volkslebens und Volksfühlens. Die Zeit ist zudem längst vorüber, in der die Kunst als ein
müssiges Spiel für Weibmänner und Frauen galt; sie wird heute als ein wichtiger Kulturfaktor ge-
schätzt; sie beansprucht das Recht, in ihrem geistigen, seelischen, in ihrem moralischen Gehalt sehr
ernst als Kulturspiegelbild wie als Kulturbildnerin betrachtet und beurtheilt zu werden, — welchen
Standpunkt ihr gegenüber ich für das einzig würdige Männerverhältniss halte.
Wenn der heurige Glaspalast in einem gewissen Gegensatz zum vorigen einen spürbaren
Ausfall auf dem Gebiet der Genre-Malerei erkennen lässt, so ist das ein Zufall. Das Vorhandene
selbst, das sonstige Kunstschaffen in Deutschland beweisen, dass weitaus das Meiste an Kunstarbeit
bei uns diesen Zusammenhang mit dem Volk, und damit den kulturwichtigen Untergrund, noch hat.
Hier liegt für mich auch einer der ausschlaggebenden Gründe gegen das Daseinsrecht der Secession.
Die paar Fäden, welche sie mit dem Volksleben wenn auch lose verknüpften, sind zerrissen, — sie
hat andererseits aber auch nicht verstanden, Ausdruck für die nationalen Ideen einer vielleicht
weit vorausgeschrittenen Geistesaristokratie zu werden, — sie vertritt eben ihrer Entwickelung nach
und fast auf allen Linien heute das untergrundlose Malvirtuosenthum, das unter ernsten Männern zu
keiner Zeit als vollgiltig angesehen, vielmehr innerlich verachtet worden ist. Ich habe bereits oben
und im vorigen Jahr an dieser Stelle die Gründe für diese Secessionserscheinung angeführt, — ich
kann kurz rekapituliren, dass physische und geistige Schwächung gewisser moderner Künstlergruppen
hier den Ausschlag geben. Es ist in der That unendlich viel leichter, irgend ein Valeur- oder Ideen-
kunststück zu Stande zu bringen, — wobei ganz davon abgesehen werden soll, wie Vieles aus wenig
11»
74
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
bekannten Auslandswerken «gestippt» ist!, — als einen
harmlosen Stoff aus dem Volksleben richtig anzulegen,
geistig und seelisch zu durchdringen, als eine fertige und
abgerundete, sich selbst erklärende Sache hinzustellen.
Man möge den Secessionisten nur einmal zwangsweise die
__^^__ kleine Aufgabe stellen, einen Landbriefträger zu malen,
■ * ^f- ^f/tk der mit verschmitztem Lächeln einem Dorfmadel einen
'"" Brief vom Schatz bringt. Dieses einfache Motiv psycho-
logisch richtig zu lösen, es solide zu zeichnen und
natürlich zu malen, dürfte drei Vierteln der Herren völlig
misslingen. Man sehe nur einmal daraufhin die deutschen
Bilder der Secession unvoreingenommen durch, — es
fehlt überall an zureichendem Können, - an jenem ernst-
haften Gelernthaben der einfachen Kunstmittel, ohne
■■^H^ ""* deren Ausweis in den Glaspalast nichts aufgenommen
!lm^^B»i5v^Äf«&S«s««ir*«-«-!-^-^^ — ^5^ wird. Es fehlt in der Secession ganz erschreckend an
Olga Begsrow Hartmann. Idylle . :\c • c^- .1 i-i iai -i
emwandtreien Sittenstucken, die deutscher Abstammung sind.
Eine bestimmt ausgeprägte Richtung zeigt sich im Glaspalaste diessmal nur, soweit es sich
um bereits bekannte Meister handelt. Hier ist vor allem Defregger mit seiner prächtigen «Kraft-
probe » und ihrem packenden Griff in Leben und Interessen des Volks herhorzuheben ! Wie sicher
und schlichtkünstlerisch ist das komponirt, — wie kraftvoll und lebhaft geschildert, — wie köstlich
sind diese Männer mit ihrer Schätzung der Körperkraft und ihrem gespannten Interesse an der Sache
individualisirt ! Da ist so echtes Leben des blutvollen Kunstwerks, dass man sich erst noch darauf
besinnen muss, welche historische Rolle der Künstler eigentlich als Schöpfer dieser ganzen Richtung
einnimmt. Da ist auch Harburger mit seinen genial gezeichneten und köstlich charakterisirten Typen
aus dem Leben des bayerischen Landvolks mit
seinem Kraftgefühl und selbstbewusstem Daseins-
behagen, — alles dünn, grau, geschmackvoll
gemalt; ein paar Zeichnungsfolgen zeigen uns
den gefeierten Illustrator und Humoristen ; dem
Laien wird es kaum auffallen, welch' ein Auf-
wand von geistiger Kraft für eine so tiefe Durch-
dringung der Volksseele in ihrer naivsten Daseins-
bethätigung nöthig ist. — Gussow hat sein
längstbekanntes, farbenköstliches Bild der «Dorf-
parzen», — drei grundhässliche alte Weiber
um einen Säugling im Arme eines drallen Dorf-
mädchens, — ausgestellt und demonstrirt damit FiUz Rabmämg Aus Tirol
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
75
ad oculos, wie man der hartgesottenste Realist, Hässlichkeitsfanatiker, impressionistischer Maler und
doch ein Künstler mit starker volksthümlicher Wirkung sein kann. Gussow ist gewiss von jedem
Verdacht irgendwelcher national - populärer Absicht frei, und doch wirkt das Werk also, denn wo
wirkliches Talent und wirkliches Können bei einem gesunden und normal entwickelten menschlichen
Organismus sich
lediglich ihrem
Schwergewicht
überlassen , da
kommt von selbst
Derartiges her-
aus; das Antina-
tionale ist eben
stets Zeichen
krankhafter Un-
natur. — Von
S i m m ist eine
« Werbung » , —
einer seiner guten
Griffe in das Ge-
sellscliaftsleben
der Empire- und
Biedermeier - Zeit
mit graziöser Po-
etenhand und aus-
geklärtem Far-
bengeschmack,
der freilich nicht
pariserisch ist — ,
zu sehen. Einer
ähnlichen Ausge-
glichenheit der
technischen Dar-
stellung steuert
augenscheinlich
Schmitzmitzwei
reizenden Genre-
Darstellungen
desselben kleinen
Mädchens zu.
Feine Kleinmale-
reien von Lö-
with, Franke,
Glücklich,
Seiler sind mir
noch unter wei-
terem Guten die-
ser Art aufge-
fallen ; auch
Grützner, des-
sen «Jessika« nur
ein allzu
liches Inkarnat
diesmal hat, wäre
hier zu nennen.
Von den Frem-
den in der deut-
schen Abtheilung
sind in erster
Linie meisterhaft
durchgeführte
Akte von
Hy nais, — ein
neuer Quad-
gelb-
Sigmund Landsinger. Quell -Nymphe
r o n e , der stu-
pcnde Subtilität mit einer gewissen frischen Natur in interessanter Weise verbindet, — und eine
fidele Festscene von Andreotti hervorzuheben. Zu den Fremden gehört vermuthlich auch Marold,
der in dem vom vorigen Jahr übernommenen Empire - Zimmer eine Reihe von geistreichen und sehr
flott gemachten Gouaches aus dem high life aufhing.
76
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Laupheimer mit einem sehr ansprechenden Familienstück: «Ferienzeit», — in grösserem Stil
Raupp mit einem Sturmmotiv vom Chiemsee, — Rau, dessen Farbe neuerdings in's Harte geräth,
mit einer Dorfwirthshausscene und einem in der Trauer eines jungen Paares um den gestorbenen
Erstling ihrer Ehe schlicht und innig empfundenen Bild, — mit Klosterlebenstücken Cederström,
Scholz, — mit einem kecken Karnevalsscherz Grocholski gehören mit der Freude am Leben und
seinem liebevoll beobachteten Detail gleichfalls hieher. Roubaud mit einem flotten Tatarenbild, —
Falkenberg mit einem im Ton angenehmen, gross behandelten Mädchenkopf, — Ring mit der
hübsch gemachten Figur einer jungen italienischen Gemüseverkäuferin fallen unter einer Reihe hand-
werklich gleich vortrefflicher und poetisch empfundener Arbeiten besonders auf; es ist hier unmöglich,
erschöpfend in der Anführung dieser Bilder zu sein.
Unter den Bildern, welche intensiver eine mehr oder minder gut gelungene Annäherung an
moderne Anschauungen und Mal-Prinzipien, wie sie früher hauptsächlich vom Secessionskreis vertreten
wurden, darstellen, sind Männchen's gross gesehene «Steinklopferinnen» mit der ungeschminkten
Schilderung ein ehrliches, malerisch achtbares, inhaltlich das Mitgefühl packendes Stück Arbeit. In
seinen Tongängen geschmackvoll, und glücklich damit die traumhafte Dämnierigkeit des Zimmers
wiedergebend, ist das Bild von Koch mit der sinnenden Dame, und als ebenso gut im Ton die
Darstellung einer «Aehrenlese» von Hartmann hervorzuheben, der es freilich an präciser Zusammen-
fassung mangelt. Auch Orrin-Peck's «Kohlgarten» leidet trotz aller Frische an zu grosser Breite
der Entfaltung wie überhaupt an zu grossem Format; eine ähnliche Darstellung von ihm in früheren
Jahren war ungleich kraftvoller trotz des damals schon zu tadelnden Bildunifangs. Zwischen Inhalt
und Umfang muss stets ein natürliches Wechselverhältniss sein, — sonst kommt nie eine rechte
Wirkung heraus. Auch KleinChevalier's «Spielsaal» krankt trotz manches Anziehenden im
Wesentlichen an demselben Uebel.
Zu den trefflichsten Arbeiten dieser
Art in München heuer ist schliesslich auch
bei der Secession Hock er 's gutgemalte
und sehr drollig geschilderte «Werbung»
in Friesland oder dicht daneben zu zählen.
— Unter den Fremden am Königsplatz
ragt Johannsen durch zwei Innenstücke,
davon eines eine Herrengesellschaft in
behaglicher Unterhaltung vorstellt, durch
feine Stimmung und gute Charakteristik
hervor. Freilich steckt viel Manier in diesem
Impressionismus, der bei fanatischer Durch-
führung und Festhaltung an seinem, nur
bei manchen Lichtzuständen berechtigten
Princip naturgemäSS zur Schablone führt. ^'"^ Ferdinand Messeruhmidt. Ileimf.ihrt
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
77
Robert y. Curry. Gerettet
Der Künstler war früher ungleich frischer, — auch er scheint trotz aller Begabung allmälig dem Fluch
zu verfallen, welcher dem Palettenexperiment auf Kosten der Natur immer folgen wird.
Ganz besonders reich ist der Glaspalast diesmal mit Landschaften beschickt, unter denen
sich eine stattliche Reihe ausgezeichneter und achtunggebietender Werke befinden, ohne dass man
gerade das Auftauchen wesentlich neuer Gesichtspunkte in der landschaftlichen Auffassung feststellen
könnte. Indessen ist das Fehlen neuer Gesichtspunkte kein Vorwurf gegen die Kunst; die gesündere
Auffassung, die Feuerbach z. B. gross gemacht und Schack bei seiner Kritik ihm gegenüber ver-
treten hat, bricht sich heute mehr und mehr Bahn, — dass es nämlich auf ein ehrliches Naturverhält-
niss, auf das Können, auf die Beseelung und Durchgeistigung des Stoffs, auf das Heimathgewissen des
Künstlers in erster Linie ankommt; die Originalität, die Neuheit ist dabei ein Gnadengeschenk nur
insoweit, als sie mit diesen angeführten Momenten verbunden erscheint. Die Kunstgeschichte belehrt
ohnehin den, welcher sie unvoreingenommen^ betrachtet, dass plötzliche Offenbarungen innerhalb des
Kunstwachsthums von Generation zu Generation viel seltener sind, als es obenhin scheint; — ein
Haschen und Suchen nach Originalität ohne jene Elemente des zuverlässigen Könnens und der Be-
78
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
deutung dagegen schwört stets solche Ge-
fahren herauf, wie sie der Secession in un-
seren Tagen verhängnissvoll geworden sind.
Die Landschaft war das Lieblingskind
der «modernen» Kunst seit Anbeginn, weil
die bestimmenden französischen Vorbilder
vorzugsweise Landschafter waren ; es hat
sich auf diesem Gebiet thatsächlich auch
der weiteste Einfluss auf die zeitgenössische
Kunst geltend gemacht, — es ist mancherlei
Gutes damit gewonnen worden, — die
Augen unserer Maler sind für die Probleme
von Licht und Luft, von intensiverer Be-
werthung für Farbe, Form und Raum ge-
schärft, — der Sinn für die kleinen und
intimen Reize der Natur und eine gross-
zügige Behandlung derselben ist entwickelt.
Das sind Vorzüge und Gewinne für die
Handwerkstechnik zweifellos, aber die
grossen Gewinne für die « Kunst » der Land-
schaftsmalerei sind im Ganzen noch aus-
geblieben ; man sieht nur hier und da erst
frische Ansätze, um aus den Theorien vom
Naturalismus bis zum Symbolismus etwas
für uns Brauchbares zu entwickeln, eine grosse Auffassung zu schaffen, die dem natürlichen Verhältniss
der Deutschen zu seiner Heimathlandschaft entspricht. Und dies deutsche Verhältniss zur Landschaft ist
ein weitaus anderes als das der Franzosen. Ich möchte das Verhältniss der neueren Franzosen zur
Landschaft als das einer monumentalen Eitelkeit und Ichsucht bezeichnen. Er sieht sie als Coulisse
um seine eigene Person herum, — sie wirkt äusserlich als vibrirende Farbe und unbestimmte Form
auf ihn, — sie ist ihm ein Abstraktum für die Erholung, für die Stadtflucht, — er geht «an das
Meer » oder « auf das Land » , ohne das Ziel seines Veränderungswunsches zu individualisiren. Dazu
kommt ein wichtiges physiologisches Moment : Die Geschwächtheit der niedergehenden gallischen Rasse,
welche eine Schwächung der Sehkraft nach sich zieht. Im Grunde ist der Impressionismus
nicht viel Anderes als die gegebene «Kunstauffassung der Kurzsichtigkeit»
Wie anders und in Hinsicht des Kunstgenies bedeutender ist die deutsche Landschaftsauffassung
in den besten und allen reifen Zeitabschnitten gewesen. Gerade desshalb hat das deutsche Gelehrten-
und Künstlerthum die Antike vor allen epigonischen Völkern so gut und tief verstanden, weil die
Beseelung der Natur vor dem Auge des antiken Menschen wie vor dem des Germanen engverwandte
Olto Recknagel. (lestörte Liebeserklärung
Ad. Bohtler plus.
Phot. V. Hantsueugl, Münohei
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
79
Züge hat Wenn der Deutsche den Rhein hinabfährt, dann wird die Sage, die geschichtliche Romantili
der Burgen, Dome und Klöster, dann wird die alte Zeit lebendig vor ihm und beseelt die Schönheit
der Landschaft; wenn der Lorelei-Felsen in Sicht kommt, spielt die Musik Heine's wundersames Lied
und die Seelen zittern. An die Weser, die Saale, die Donau, den Main, den Bodensee, an die Alpen
knüpfen sich volksthümHche Weisen, welche bestimmte Stellen und bestimmte Geschehnisse verherr-
lichen und einen eisernen Liederbestand aus der ideal gestimmten deutschen Studentenjugend nicht allein
bilden, sondern auch überall im weiten Vaterland in aller Munde sind. Mit dem Harz, dem Thüringer-
Max Liebermann. Sonntag -Nachmittag in I>aren
wald, dem Riesengebirge sind lebendige Sagen aller Art verknüpft, durch deren Medium das Volk
fast ausschliesslich in diese Landschaften schaut; ich greife nach zufälliger Erinnerung heraus : Dieselbe
Erscheinung ist überall festzustellen. In der Mark Brandenburg hat jeder See fast seine Sage. Etwas
annähernd Aehnliches hat der Franzose ebensowenig als der Romane weiterhin, der Deutsche
hängt sich auf's Engste an einem Ort fest, — er rundet sein Bild zu einem tiefäugigen Bildniss ab
und beseelt es mit der Phantasie und der Empfindung, — er schafft sich überall einen genau indi-
vidualisirten genius loci. Hierin liegt auch das deutsche Landschaftsproblem be-
ll 12
80
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Rudolf Beriny. Hans Thotna
William Schwill. Bildniss
gründet. Die deutsche Landschaft der Zukunft
ist gar nicht anders denkbar und wird sich nicht
dauernd behaupten können, solange sie nicht
auf diesem Hauptelement gegründet ist und
damit Fühlung zum Volk gewinnt. Damit soll
indessen nicht gesagt sein, dass Märchen- oder
Sagenstafifage mit der Landschaft verknüpft sein
müssten ; dieser Inhalt kann unausgesprochen in
der dargestellten Oertlichkeit liegen ; sie muss
ausgerundet und straff geformt dem Gefühl sagen,
was sich der Künstler in dieser Art voll Liebe
gedacht und empfunden hat, als er gerade diesen
Ort zur Darstellung wählte ; sie wird dann immer
schöpferisch auf den Beschauer wirken. Man
hüte sich aber auch vor dem Trugschluss, als
wandele die moderne symbolistische Landschaft
auf diesem Wege. Sie hat in ihrer Formen-
anschauung so wenig damit zu thun als mit
der Empfindung und dem geistigen Vor-
stellungskreis, — sie ist lediglich eine das
Gegentheil vorstellende Nachahmung fran-
zösischer Vorbilder.
Im vorigen Jahr wies ich auf den dies-
mal fehlenden Palmie als einen Vertreter
entwickelungsfähiger Landschaftsauffassung
hin. Keller-Reutlingen als einer der
wenigen Zukunftsleute bei der Secession
wächst sich anscheinend mit seinen bayeri-
schen Landstadt -Motiven mehr und mehr
dahin aus; er wirkt diesmal sehr erfreulich
in seiner stimmungsvollen «Abenddämerung«
über einem Flecken am Flussufer. Da ist
ein so zusammengefasster Ausdruck mit einer
klug zurückhaltenden, fast möchte ich sagen :
überwundenen Technik, dass die Abend-
poesie eines bestimmten Ortes fast rein
herauskommt und die Phantasie des Be-
schauers in derselben Art, wie es die
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
81
Dämmerung draussen immer thut, lebendig macht. Im Glaspalast zeigt ähnliche Ansätze die im Ton
feine abendliche Wasserlandschaft von Canal, — sind ferner in verwandter Art Biese, Horadam
mit Kleinigkeiten, — Böhme mit einer im Wasser ausgezeichnet gemalten Marine, — ein ebenso
gut gemachtes Seestück von Völcker, dessen Parkteich bei Abend dagegen zu sehr nach Whistler
schielt, — der diesmal nicht wie gewohnt ausgezeichnete Kubierschky, — Stäbli mit einer ton-
schweren, monumental empfundenen Waldlandschaft, — Georg Schuster-Woldan mit einem
gut gemachten und stimmungsvollen Waldinneren, — Marr's kleines Ackerstück, — von Urban
Jacek MaUzewski. Irrkreis
ein gross gesehenes und farbig sehr bemerkenswerthes Bild vom Nemisee mit seinen schroffen Felsen-
ufern, — von Rabending ein sehr glücklich beleuchtetes und plastisch herauskommendes Gebirgs-
dorf, — von Tina Blau ansprechende kleine Motive, — schliesslich der alternde O. Achenbach
mit einer Parthie vom Nemisee, die immer noch durch Gluth der Farbe und hohes Können imponirt,
wenngleich es an innerer Kraft mangelt, besonders hervorzuheben. Die Worpsweder, von denen
Overbeck und Modersohn Einiges ausstellten, sind heuer nicht von Belang. Gerade sie, welche
auf gutem Grunde von Anschauung, Wollen und Können stehen, fangen an, manierirt zu erscheinen;
12»
82
DIE KUNST UNRESER ZEIT.
die Portraits von krummen Birken sind zu äusserlich
als Ciiarakteristika der Worpsweder Moorlandschaft
betont und werden langweilig. Mögen die Herren
sich vor dem Verbauern hüten ; die Isolirung allein
auf dem Lande thut's auf die Dauer nicht.
Unter den mehr in Hinsicht der formalen Lösung
bemerkenswerthen Arbeiten ist eine durch die Be-
obachtung des zarten Lufttons in abendlicher Thau-
wetterlandschaf sehr ansprechende Dorflandschaft von
dem in neuerer Zeit wiederholt mit Betonung ge-
nannten Bössenroth hervorzuheben. Auch die
grosse Moorlandschaft bei Sonnenuntergang an
schwülem Sonnabend von demselben Bössenroth
ist in der feinen, vibrirenden Beweglichkeit warmer
Töne eine Arbeit von zarter Empfindung und un-
gewöhnlichem Können, dem man nur eine schärfere
Zusammenfassung des Ausdrucks, eine grössere In-
waiur Georgi. wirthsgarten dividualisirung im obeu entwickelten Sinne wünschen
möchte; ein frisches Temperament ist vorhanden und mit ihm ein ziemlich hohes Mass bewusster Herr-
schaft über die Mittel ; bei energischer Vertiefung und Durchgeistigung ist dem Künstler ein dauernder
und ernsthafter Erfolg unschwer erreichbar. — Strützel mit einem heimkehrenden Taglöhnerpaar
und abendlich verschleierter Wiese dazu und einem zweiten Abendbild von kräftigerer Wirkung, —
desCoudres mit einem anmuthigen Waldabhang in rosiger Beleuchtung, — Bürgel, Fink, Hoch,
Wenglein, A ndersen-Lundby mit trefflichen Stimmungsstücken in einheitlicher Tongebung, —
Petersen mit einem farbenkräftigen Meerbild sind weiterhin als Bilder von solider Darstellung und
runder Wirkung zu nennen.
Als Tonmalerei sehr bemerkenswerth wegen seiner ungewöhnlichen Feinheit ist Lieb er 's Bild
mit einer gut gemalten und geschickt am Horizont mit der Atmosphäre zusammengebrachten Seefläche,
— ist auch ein schmelzvoll behandelter Ausschnitt
vom Donauthal von M. A. König. Als gute Exer-
citien sind mir sonst noch Arends mit seinem Ge-
müsegarten, bei dem Luft und Raum trefflich be-
obachtet sind, sowie die Pastell- und Kohlenzeichnungen
von Georgi mit ihren perspektivischen Lösungen
aufgefallen. — — —
In Rücksicht auf den gegebenen Raum seien nur
kurz ein paar Künstler mit Stillleben und Blumen-
stücken gestreift, welche zahlreich und vielfach auch
Hugo Bürgel. Flusslandschaft
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
83
Paul Hey. Vorfrühling
sehr vortrefflich, Dank aher Münchner Ueberlieferung, vorhanden sind; Nauen, Carstens,
Kricheldorf, Bassarab, Stur tzkopf haben Gutes ausgestellt, ohne dass sie alles Beste reprä-
sentirten. Es gibt daneben viele ansprechende Arbeiten. — — —
*
Neben dem eigentlichen Münchner Künstlerkreis haben auch heuer wieder einige andere deutsche
Kunststädte im Glaspalast Sonderausstellungen veranstaltet. So Dresden. Die Dresdner Kunst-
zustände sind eigen-
thümlicher Natur.
Nach längerem un-
fruchtbarem Zu-
stand hat sich dort,
Dank der Herbei-
ziehung von Prell,
Kühl, Wallot, Diez
ein lebhafteres
Kunsttreiben ent-
wickelt, das sich in
der grossen Dresd-
Ernst Otto. Elche
ner Kunstausstell-
ung vor 2 Jahren
gespiegelt hat. Aber
schon auf dieser
Ausstellung trat zu
Tage, dass in den
Kreisen der jünge-
ren Künstler und
Schüler dieser ge-
nannten Meister sich
mehr und mehr eine
bedenkliche Neig-
84
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
ung zu gallisirender Experimentirmalerei mit kunstfeindlichem Charakter herausbildete. Heute ist auch
Dresden in der schnellen Zersetzung infolge von ungesunder Geistes- und Phantasierichtung beim Nach-
wuchs begriffen . . . der Verfall geht auch dort um . . . die materiellen Folgen werden kaum aus-
bleiben . . . die einst so lebhaft begonnene frische Entwickelung Dresdens zur Kunststadt wird sicher
gehemmt, da man lokale Kunstblüthen nur mit reifen Leistungen, nie mit talentvollen Experimenten
hervorrufen wird. Pietschmann
Der Dresdner ^__|m||||^m^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^g ^
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dem ^^^^^^V ^^^H den
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wahrt, die aber ^^^^^V ^^^H scharfe Charak-
doch fast msge- ^^^^m r^ ■ x^^^l teristik hervor;
sammt «Talmi- ^^^■J^liMMHSHMl^^^^ ittH^^^^H Carl Sohn 's
franzosen» ^^^^Htlfl^^^^^^^^^ ^JW^^^^^^H
^^^^^^tä^^^^f^^^^' .^^3iiS^0/^ y^^^H ung»
keine Künstler ^^^^^^^L^^^^ ^^^H glatter und ge-
sind. Der Einzige, ^^^^H^^ "°'^'**>*!w' ^^1 schmackvoller
welcher sich durch ^^^^H "^ ^^^H Malerei reizende
Besonnenheit ^^^^^^____^^^^^^^^^^_^^^^_gj^^^H junore Damen
der Begabung Herrichten von
daraus erhebt, ist ^'"'"^ ''^"''''"- ^°^""^ ^'' Betrachtung von Schiiier's Schädel Blumeuschmuck;
Grimm's «Begegnung der Margaretha von Parma mit flüchtigen kalvinischen Niederländern im Jahre
1567» ist eine in allen Einzelheiten ungemein anziehende und Begabung verrathende Schöpfung der
Gebhardtschule, geht als Bild aber nicht recht zusammen, — die Wirkung ist zerstreut.
Auch der zahlreich beschickte Berliner Saal macht keinen harmonischen Eindruck, Eine
kleine Handzeichnung von Menzel ist im Vorübergehn zu erwähnen; seines besten Schülers Skarbi na
«Allerseelen» verliert in dem nicht günstigen Licht sein Bestes, nämlich die feinen Töne und Ueber-
gänge; ein Triptychon von Engel: «Von der Waterkant» wirkt allzu illustrativ trotz seiner farbigen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
85
Ludwig Fahrenkrog. Tiäumeiei
Talentirtheit ; etwas uneingeschränkt Erfreuliches sind hingegen zwei Damenbildnisse eines jüngeren
Malers, Karl Ziegler. Da ist ein Adel und eine nach Monumentalität ringende Feinheit der Auf-
fassung, — da ist ein Geschmack der Farbe und eine malerische Schulung des Auges, — da ist ein
Seelenblick, der noch viel Gutes von dem Künstler verheisst. — — —
Das Ausland ist im Glaspalast diesmal nur zugelassen, —
eine Massregel, die durchaus zu loben und sachlich gerecht-
fertigt ist. So zweckmässig es ist, in grösseren Pausen die aus-
ländische Kunst reichlich und bedeutend den Künstlern vor
Augen zu stellen, um ihnen das Reife und Ernsthafte hoch-
stehender fremder Leistung als Anregfung- zu bieten, — so be-
denklich ist es, den Durchschnittsdeutschen in seiner Auslands-
sucht durch jährliche Konkurrenz noch zu bestärken; denn das
wirkt bedenklich auf die wirthschaftliche Lage unserer Künstler
zurück, welche ein staatliches Ausstellungs-Unternehmen immer
im Auge haben muss, — das hat auch solche Geisterverwirrung
zur Folge, wie sie die Gegenwart leider in hohem Masse kenn-
zeichnet. Ich weiss mich hierbei von jedem Chauvinismus vollief
Karl Zieglir. Cildniss ^ °
8G
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
yostj Huder. Lucifer
frei und habe meinestheils bedeutende Leistungen des Auslandes
noch stets rückhaltlos bewundert, sobald sie eben Kunstwerke
waren. Aber gegenüber der geradezu gewissenlosen, moralisch
verderbten, knechtischen Nachahmungssucht von Auslandsmoden
in gewissen Kunstkreisen bei uns muss immer wieder Front ge-
macht werden. Pflicht und Klugheit gebieten dem Glaspalast, von
seiner Seite dem Auslandsthum so nachdrücklich zu steuern, als
es geht. Nur eine Kunst auf vaterländischer Grundlage und
mit dem lebendigen Erbtheil unserer Altvordern ist kultur-
bildend, wie die ganze Geschichte lehrt, und nur sie macht die
stärksten Kräfte in einer Künstlerpersönlichkeit frei und fruchtbar
in reifen, grossen Thaten.
Die Auslandskunst ist bis auf ein paar unter den Münchener
hängende bessere Werke in den Auslandssälen selbst sehr
schwach und unbedeutend vertreten. Das Meiste dürfte zudem Kunsthändlerwaare sein, die einen
Markt sucht. Man kann sich mit wenigen Anführungen begnügen. Wesentlich im Stoff und daneben
schulgeschichtlich interessant ist ein Bild aus der älteren englischen Geschichtsmalerei mit ihren harten
Linien und ihrem bunten Kolorit, — nämlich Davidson's Scene aus der Schlacht bei Trafalear,
vor deren Beginn Nelson von seinem Admiralschiff aus eben den berühmt gewordenen Befehl an
sein kampfbereites Geschwader signalisiren lässt : « England erwartet, dass Jedermann seine Schuldig-
keit thue». Das ist mit vielen Figuren volksthümlich , maljournalistisch, ansprechend, wenn auch
ohne grössere künstlerische Gesichtspunkte behandelt. Es sind auch noch ein paar weitere Bilder
verwandter Art vorhanden. — Als Thiermalerei sehr anerkennenswerth, wenn auch in der Formatgrösse
vergriffen, ist ein Bild von Curry, das Bernhardinerhunde auf verschneitem Pass als Retter einer ver-
schütteten Familie schildert, — wegen seiner
feinen Anmuth in Auffassung und Behandlung
einer reizenden Mädchengestalt auf Frühlings-
landschaft - Hintergrund ist schliesslich noch ein
Aquarell von Battaglia hervorzuheben.
Die Bildhauerkunst kann wegen der
beschwerlichen und kostspieligen Versendung
ihrer Werke auf Ausstellungen in der Reeel
immer nur lückenhaft vertreten sein; sehr grosse
Plastiken sind meist sogar nur am Ort ihres
Entstehens ausstellbar und man kann von etwaigen
Vorführungen dieser Art nicht immer mit Sicher- ^,,,,„,,,, ,,,,,,„, ,„,,,bend
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
87
heit auf die zeitweise Lage der Künstlerschaft auf diesem Gebiet schliessen. Die gegenwärtige Bild-
hauerei ist mit einer Anzahl tüchtiger Könner in der That bedeutender, als die diesjährigen Münchener
Ausstellungen auch nur annähernd schliessen lassen. Klinger, Maison, Begas, Strasser fehlen beispiels-
weise ganz und auch sonst ist von bedeutenden Leistungen nur bedingungsweise zu berichten. —
Eber lein hat eine grössere Zahl von Werken ausgestellt; er hat den französischen Chic, die
manierirte Nachahmung eines Pigalle, der er lange, freilich virtuos, nachging, anscheinend ganz ver-
lassen und huldigt jetzt einer massvollen Realistik, wie sie hier eine treffliche Halbfigur «Goethe's»
mit dem Schädel von Schiller in der Hand, dazu eine Darstellung «Bismarck's» in sitzender nach-
Adolf Männchen. Auf der Landstrasse
denklicher Stellung, ferner auch eine in der Auffassung etwas vergriffene Gruppe von «Gottvater
und Adam » zeigt ; eine wirkliche Rasse fehlt diesen Figuren freilich geradeso, wie einer Anzahl kleiner
Statuetten, die den Mythos vom ersten Menschenpaar behandeln. Der Künstler sucht hier Meunier's
feines Gefühl für die Bewegung mit dem leidenschaftlichen Affekt von Sinding zu verbinden, ohne
dass es ihm glückt, mehr als eine gewisse Anmuth zu erreichen.
In guter Stilistik bieten sich Götz mit einer das «Drama» symbolisirenden Frauenbüste und
Rossi mit einer im conventionellen Sinne gut durchgeführten Sklavin-Figur dar; auch Lederer, der
neuerdings ein hübsches Talent in den Vordergrund rückte, ist ein selbstständiger Stilist in seiner
II 13
83
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
durch eine lauschende
Nymphenfigur verkör-
perten « Haidestimm-
ung», — er ist sich
jedoch über das bild-
nerisch Darstellbare
noch nicht vollkommen
klar, wie die Auffassung
kundgibt. Eine schön-
heitvolle Heiligen-
gruppe in Holz von
Busch, — von Schott
eine graziöse, in der
Bewegung glücklich ge-
fasste, aber lau und
ausdrucksarm durchge-
führte Kugelspielerin
sind als grössere
Werke, — unter den
Büsten die des Malers
Burger von Sand we-
gen ihrer Lebendigkeit,
IValler Schott. Kugelspielerin
Dasio's Damenbüste
mit ihrer grossen Be-
handlung, eine solche
von Klimsch wegen
des hübschen lauschen-
den Ausdruckes be-
merkenswerth. — — ■
In der Secession hat
Volkmann eine an die
besten Schöpfungen
des Quattrocento mah-
nende Büste eines älte-
ren Herrn, — Stuck
eine Amazone auf un-
gefügem Ross diesmal
mit geringerem Glück
des Gelingens als bei
seinem früheren «Ath-
leten», — Meunier
eine Reihe von Sta-
tuetten ausgestellt. Ein
feines Lebensgefühl ,
eine frische Auffassung, einen sicheren Griff haben diese Sachen von Meunier alle, so roh und
geschmacklos sie ausgeführt sind. Sie stehen künstlerisch sicher höher als die Mehrzahl seiner Bilder,
die Gemälde eines farbenblinden, verbildeten, geschmacklosen Maltheoretikers sind. Aber gerade weil
diesen Bildern fast jegliche malerische Vorbedingung abgeht, ist Meunier Trumpf der secessionistischen
Gegenwart und war er vor Kurzem in Berlin Gegenstand einer wahren Begeisterungs - Orgie. Ein
Maler, der malen kann und durch diese Eigenschaften Aufsehen und Zuruf erregt , ist schliesslich
etwas Alltägliches und in der neueren Kunstgeschichte seit Giotto sattsam abgeleiert .... aber der
Rummel mit einem Maler ohne Geist, Geschmack, Darstellungs- und Malvermögen, — das ist das
Wahre heute und der Gipfel im Princip des Secessionismus. Und wenn naive Leute Derartiges
schlechthin pathologisch finden .... dann lächelt man überlegen und murmelt von einer « Um-
werthung aller Werthe». Sapienti sat!
DAS KUNSTHANDWERK
AUF DEN MÜNCHENER AUSSTELLUNGEN i8q8
VON
HEINRICH ROTTENBURG
Der Begriff «Kunsthandwerk» hat sich nun auch bei uns zu seinem Vortheile umgestaltet: Der
Accent ist mehr auf die erste Silbe des Wortes verlegt, während er früher auf den beiden
letzten lag. Unsere Handwerksmeister haben in den siebziger und achtziger Jahren, in der Zeit der
«Renaissance der Renaissance» sich ein gar stattliches Können erworben als Nachbilder alter Formen.
Unsere Goldschmiede gaben den Altnürnberger Meistern nichts mehr nach; unsere Kunstschlosser
schmiedeten Gitter, genau so kunstvoll wie die alten Originale, die sie kopirten; unsere dekorativen
Maler malten Blümlein und Schnörkel den Meistern des sechzehnten Jahrhunderts nach — so täuschend,
wie etwa ein französischer Generalstabsoffizier Akten fälscht. Die Technik und die Handschrift hatten
sie schnell wieder erlernt und nach der trostlosen Stilarmuth der vergangenen Jahrzehnte war die
Wiederbelebung der Renaissance ein wahres Labsal.
Nur dass diese Errungenschaft einen feineren Geschmack auf länger nicht befriedigen konnte.
Ein solcher fand bald, dass jene Wiederbelebung nur die Galvanisirung eines todten Körpers war.
Sie führte nicht vorwärts, es fehlte das bewegende Element, die Leute kamen über ein virtuoses
Abschreiben vorhandener Formen nicht hinaus. Natürlich: überbieten Hessen sich die Meister jener
grossen vergangenen Epoche nicht auf ihrem ureigensten Gebiete! Da war ein gewissenhaftes Kopiren
noch immer das Beste. Und nach den Trägheitsgesetzen kopirten wir zwei Jahrzehnte weiter einen
Stil, der nicht der unsrige war und der unsrige nicht werden konnte. Denn, Stil im höheren Sinne
ist krystallisirter Zeitgeist, nicht eine Schablone, der sich die Formensprache jeder Epoche
anpassen lässt.
Inzwischen hatten andere Länder schon die Krystallform unseres Zeitgeistes gefunden. England
zuerst, dann Frankreich. Einiges drang davon auch zu uns herüber; Vieles brachten deutsche Künstler
von ihren Reisen zurück. Einzelne wagten sich an das «künstlerische Kunsthandwerk» und hatten
Erfolg, Hermann Obrist, Otto Eckmann u. A. Das Wiederaufblühen der. Schwarzweisskunst,
die ein anmuthiges und neuartiges Stilisiren anhub, arbeitete vor. Und schon im Jahre 1897 konnten
die Münchener «Dekorativen» im Glaspalast ein paar reizende Kabinette mit Arbeiten ihres Geistes
und ihrer Hand füllen, die ideellen und materiellen Erfolg hatten und vor Allem den grossen Erfolg,
13»
90 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
unsere Techniker des Kunsthandwerks für sich zu gewinnen. Jetzt kam diesen doch noch zu Statten,
was sie bei den Alten gelernt hatten und sie arbeiteten congenial den erfindenden Künstlern in die
Hände, so dass wir heute, so spät wir auch an die Reihe kamen, den Meistern neuen Kunststils in
den oben genannten Ländern an Können nicht mehr nachstehen. Es fehlt freilich bei uns noch das
breite kaufkräftige Publikum für edle Werke der Zierkunst und dadurch haben unsere Schaffenden
noch nicht Raum genug, sich auszubreiten, nicht hinreichend grosse Aufgaben, an denen sie ihre Kräfte
stählen können. Aber dafür sind die neuen Formen überraschend schnell den Meistern jeder Branche
des Kunsthandwerks geläufig worden und wir haben alle Aussicht, dass bei uns der «neue Stil» bald
nicht mehr, wie in Frankreich ausschliesslich, ein «Stil der Reichen», sondern der Stil aller Leute
von gutem Geschmack sein wird. Wer sich ein Stück modernen Kunsthandwerks nach Hause tragen
will, kann für ein paar Mark eine hübsche Aschenschale oder einen gefälligen Zinnbecher haben, um
geringes Geld ein edelgeformtes Glas, eine Vase in schönfarbig glasirtem Thon oder ein Schmuck-
stück von feinen Linien. Wenn sich die Sache noch ein paar Jahre so weiter entwickelt, so wird bald
der obligate Rokokosalon und das nicht minder obligate «altdeutsche» Speisezimmer aus den Braut-
ausstattungen verschwunden sein und Möbeln neuen Stils Platz gemacht haben, eines Stils, der in
seinen besseren Erzeugnissen ja auch der Zweckmässigkeit mehr Rechnung trägt, als jene alter-
thümelnden Geräthe.
Was der Münchener Glaspalast an Werken des Kunsthandwerks heuer seinen Besuchern bietet,
geht über die Darbietungen des Vorjahres noch weit hinaus. Statt der dürftigen zwei Kabinette, die
den « Dekorativen » gnädigst in der hintersten Ecke des Ausstellungsbaues angewiesen waren, stehen
ihnen in diesem Jahre mehrere geräumige Gelasse zur Verfügung, die durchweg auch in ihrer archi-
tektonischen Ausgestaltung als werthvolle Ausstellungsobjekte gelten müssen. Dazu ist der Kreis der
ausgestellten Gegenstände wesentlich erweitert und man kann wohl sagen, dass jedes Handwerk ver-
treten ist, dessen Erzeugnisse naturgemäss künstlerische Ausgestaltung zulassen, und dass wir jedes
Material verarbeitet finden, bei dem diese Voraussetzung zutrifft.
Neben den Räumen, die ganz den «Modernen» gehören und auch in ihrer Architektur diesem
Zwecke angepasst sind, haben die Gewaltigen des Glaspalastes noch etliche Säle und Gelasse her-
stellen lassen, die «blos schön» schlechtweg sind und weder mit neuen noch mit alten Zwecken
des Ausstellungsbaues etwas zu thun haben. Da ist z. B. ein Höfchen in reichem Renaissance-
geschmack nach Motiven aus einem Hofe im berühmten Fuggerhause zu Augsburg von Friedrich
von Thiersch eingerichtet, mit einer von wildem Wein überzogenen Pergola, Wandmalereien, einem
plätscherndem Brunnen, Blumen, Vasen und Terracottafiguren. Ein vornehm lauschiges Eckchen aus
einem Patrizierheim, in dem man sich wohl in eine vergangene Welt zurückträumen könnte, ersetzten
nicht schmutzige Glasplatten und ein Gewirr von eisernem Sparrenwerk oben den lieben Himmel!
Vollkommenere Illusion noch weckt der «Römische Wohnraum» von Emanuel Seidl, eine ebenso
geistvolle als behagliche und ästhetisch schöne Rekonstruktion, der zur vollendeten Täuschung der
Einbildungskraft nichts fehlt, als die richtige Staffage. Wenn in dem eigenartigen Broncesessel eine
weissärmige Römerin sässe, der köstlichen Kühle geniessend, die der Marmorboden ausströmt und
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
91
der plätschernde Brunnen — es wäre ein Idyll aus der Cäsarenzeit, das nicht zu überbieten wäre.
So aber trippeln katalogbewaffnete Engländerinnen über den Mosaikstern des Bodens und tappen mit
den Fingern an den Wänden, um zu erkunden, ob's Wirklichkeit ist, oder «Imitäschn». Es ist Beides
sozusagen, Gyps und Marmor, alte Motive und Nachgefühltes. Nachgefühltes, nichts Nachgebildetes,
daher der künstlerische Charakter des Ganzen, der aus dem Räume weit mehr macht, als ein Meister-
stück der auf diesen Gebieten hochentwickelten Geschicklichkeit der Münchener Stukkateure. Antiker
Schmuck und diskret auf Tischen und Stellagen vertheiltes Prunkgeräth, darunter eine feine silberne
Weinkanne von Theodor Heiden verleihen
dem römischen Wohnraum auch den Ein-
druck wirklicher Wohnlichkeit.
Einen hohen, gothischen Saal, der an
sich sehr stattlich und würdig ist, aber dem
Eintretenden ein unlösbares «Warum?» und
«Wozu.?» entgegenruft, haben die Archi-
tekten K. Hocheder und Paul Pfann aus-
gestattet. In diesem Raum ist kunterbunt
das Heterogenste zusammengetragen, ultra-
modern - antiknordische Gobelinmöbel von
Walter Leistikow, gothisches Kirchen-
geräth, ein alter Harnisch, neuartige und
orientalische Teppiche, Gypsabgüsse, Archi-
tekturmodelle und Pläne, neue Renaissance-
möbel, die genau so künstlich sind, wie
die alten, nur nicht so kunstvoll, neue
Stickereien, alte Fahnen, ein Majolika-Kamin,
Grabplatten — das Ganze wirkt eigentlich
als prächtige Verdeutlichung der babylo-
nischen Verwirrung, die bei uns bis dato
in den dekorativen Künsten herrschte. So
viel Stile und kein Stil!
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 24, entworfen und eingerichtet von Architekt
Martin Dülfer- München
Einer der freundlichsten und harmonischsten Räume im Glaspalast ist dagegen das Kabinet
No. 29, der — nicht blos nach dem Katalog! — den Charakter eines wohnlichen Zimmers trägt.
Dieses ist in einem verfeinerten Biedermeier-Stil gehalten, ein Werk aus einem Guss: Möbel aus licht-
gelbem Holz mit Ebenholzeinlagen und Verzierungen, eine Moireetapete in mattem Grün, Kamin, Hänge-
lampe u. s. w. aus blankem glatten Messing, einem Material, das glücklicherweise wieder in Mode
kommt und hoffentlich bald das ordinäre und fast immer in den Formen stumpfe und rohe «Cuivre
poli» verdrängt hat. Prächtig dieser Kamin mit seinem funkelnden, sauber ausgeschnittenen Messing-
mantel, prächtig, auch in der Arbeit, diese freundlichen, hellgelben Möbel (von den Architekten
92 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Heibig und Heiger entworfen, von A, Pössenbacher ausgeführt)! Sehr originell ist das Pianino,
aus gleichem Holz gearbeitet wie die Möbel und mit einem in Messingblech getriebenen Figurenfries
verziert. Weniger glücklich an diesem Stück wirkt der «eingelegte» Richard Wagner. Der Raum
ist bis ins letzte Detail stilgetreu gehalten, bis zum Stück der Decke, bis auf das Geschirr im Glas-
schrank. Erfreulich ist dieses ganze gelungene Ensemble nicht blos durch die Schönheit der Arbeit
und die gefällige Wirkung, sondern auch als Beispiel dafür, wie wir heute einen vergangenen Stil
verstehen und weiterbilden gelernt haben. Wir aber schreiben nicht mehr ab, wir übersetzen auch
nicht mehr, wir denken in der anderen Sprache! Das Stilschema, das uns in den verflossenen Jahr-
zehnten Alles war, ist uns heute nur mehr, was dem Schreibenden die Grammatik ist : das Kunstwerk
beginnt erst mit der freien Handhabung dieser Sprache !
Betrachten wir die ausgesprochen « modernen » Werke des Kunsthandwerks genauer, so finden
wir nicht ohne Ueberraschung, dass auch hier oft gerade das Beste einer Weiterentfaltung vorhandener
Kunstformen seine Entstehung verdankt. Und zwar sind namentlich reichliche gothische Elemente im
neuen dekorativen Stil zu entdecken, ohne dass aber Jemand daran denken könnte, die betreffenden
Objekte als gothisch zu bezeichnen. Aber der Geist dieses herrlichen, unserm innersten germanischen
Wesen entsprungenen Stils lebt in den neuen Formen, der Geist, nicht das Gliche, das vordem Alles
war. Die Fröhlichkeit, der unerschöpfliche Reichthum, die freie, künstlerische Phantastik der Gothik
wird wieder wach, ihre Meisterschaft, die Naturformen in den Rahmen ihrer Gesetzmässigkeit zu
bringen ohne Zwang und Gewaltthätigkeit, ihre gesunde Realistik, ihr Linienadel und ihr Humor. Es
ist freilich die lebenswarme Gothik des Strassburger Münsters und nicht die todte des Kölner Doms,
die da — Vielen unbewusst! — zu Gevatter gestanden hat. Manche sehen auch eine Gefahr für
den neuen Stil in dieser Verwandtschaft, aber, wie mich dünkt, mit Unrecht. Jeder Stil ist aus einem
früheren entwickelt und wenn wir das ganze, Jahrhunderte währende Intermezzo der gewaltsam wieder-
belebten Antike aus unserer Stilentwicklung ausschalten, kommen wir ganz naturgemäss dazu, auf der
Gothik weiterzubauen.
Wie nahe die letztere übrigens dem modernen Geschmacke steht, beweisen etliche der präch-
tigsten Stücke der Ausstellung, Arbeiten Fritz v. Miller's, die in rein gothischen Formen gehalten,
sich doch dem Ensemble der modernen Kunstsachen in dem wunderschönen Raum No. 26 vorzüglich
einfügen. Miller hat, wie Wenige, ein Auge für die Grazie der Gothik und zeigt dies namentlich in
dem zierlichen Kettenwerk und Beschlag des Steinbockgehörns mit dem realistisch gearbeiteten ver-
goldeten Silberschädel. Ein Prunkstück von hoher Originalität ist der von dem gleichen Meister —
dies anspruchsvolle Wort darf man hier wohl gebrauchen — ausgestellter, aus einem Steinbockhorn
gebildeter Fisch, ein Hecht, dessen Kopf, Schwanz, Flossen und einzelne Schuppen aus vergoldetem
Silber angefügt sind. Den Sockel bildet ein mächtiger Klotz Bergkrystall in Silberfassung, an dem
eine fein emaillirte Wasserjungfer gaukelt. Ein «Myrthenbecher», reich an entzückenden Details, ein
Galle-Glas, mit einer emaillirten Lazerte montirt, sind von gleicher Hand, Das sind freilich Stücke,
die fast nur für fürstliche Mittel erreichbar sind. Der breiteren Menge der Leute von gutem Geschmack
zugänglich sind die Zinnsachen von K. Gross (ausgeführt von L. Lichtinger) hier. Vom einfachen
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
93
Becherlein bis zur werthvollen, schweren Bowle sind hier alle erdenklichen Gefässe zu sehen, Flaschen
und Krüge, Weinkühler, Teller und Schalen, Alles neuartig in seiner Form, oder doch neuartig aus
alten Formen entwickelt. Gar vielerlei ist im Grunde gothisch, die flaschenartigen Vasen erinnern an
ältere japanische Broncen, — aber Alles trägt den Stempel der «neuen Kunst». Namentlich die
Behandlungsart des Zinns, die den edlen, feinen Glanz des sympathischen Metalls in seine Rechte
einsetzt und das geschmeidige Material mit dem Hammer treibt, statt es in bekannter Art in schablonen-
hafte Forme zu giessen, namentlich diese Technik ist freudigst willkommen zu heissen. Die Haupt-
formen der Geräthe sind getrieben, nur
nebensächlichere Ziertheile sind durch Guss,
feine Linienornamente durch Graviren her-
gestellt. Freudig begrüssen wir dieses vor-
nehme Zinngeräth aber auch darum, weil
es so recht darnach angethan ist, das Ver-
ständniss für die angedeuteten Bestreb-
ungen in weitere Kreise zu tragen. Recht
Hübsches findet sich auch unter den —
offenbar gegossenen — Edel -Zinnsachen
von F. H. Schmitz (Köln).
Auch für Kupfer -Treibarbeit sind schon
seit dem letzten Jahre neue, reizolle Formen
und ebenfalls neue, schöne Farbenwirkungen
gefunden. Die Sachen vonJ.Winhart & Cie.,
Wilhelm und Lind, nach Entwürfen von
H. Kellner, von Berlepsch und Anderen
gearbeitet, Kannen, Vasen, Cachepots,
Krüge und Kühlgefässe und noch manches
Andere, erfreuen das Auge durch edle
Grundformen ebensosehr, wie durch dis-
krete und eigenartige Ornamentik und
schöne Farben. Denn auch die letzteren
spielen jetzt hier bei den Kupfergeräthen eine Rolle ; man hat — wohl zum Theil bei den Japanern —
gelernt, dem Kupfer geschmackvolle neue Farben und Patinen zu geben, man arbeitet es vielfach
mit Bronce und anderen Metallen zusammen und erzielt so reiche Wirkungen. Bald gibt ein schönes,
warmes Braunroth den Grundton, bald ein gleichmässiges Patinagrün, bald auch ein tiefes Schwarz
und davon heben sich goldgelbe Broncebeschläge oder blanke Schmiedeeisengestelle prächtig ab.
Zu den gelungensten Stücken dieser Sparte zählen auch ein Theeservice von Eugen Berner mit
Mistelmotiv, einige Vasen von Schmuz-Baudiss, an denen japanische Metalllegirungen verschiedener
Art äusserst geschmackvoll zur Dekoration angewandt sind und die hübschen kleineren Sachen von
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 25, entworfen und eini;erichtet von Architekt
Theodor Fischer- München
94 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
Steinicken und Lohr. Die letztere Firma stellt auch einen höchst originellen Schirmständer, in
Messing und Eisen geschmiedet, aus, ein Stück, das beweist, wie mit liebevollem Erfindergeist die
neuen Zierkünstler sich auch des unscheinbarsten Hausgeräthes annehmen. Letzteres zeigt sich auch in
den vortrefflich erfundenen Gardinenstangenhaltern von R. Riemerschmid. Eine Reihe der Künstler
hat sich mit Beleuchtungskörpern für elektrisches Licht beschäftigt und es ist ihnen überraschend
gelungen, himmelweit weg von allem Herkömmlichen das Schöne zu finden; eine Beleuchtungsart, wie
die Glühlampe, die dem Musterzeichner absolut keine technischen Beschränkungen auferlegt, muss ihm
ja auch Gelegenheit zur reichsten Entfaltung seiner Phantasie bieten. Wir nennen die Arbeiten von
Eugen Berner, Richard Riemerschmid, Otto Eckmann, Wilhelm und Lind. Gerade diese
Sachen illustriren das Bestehen eines Bedürfnisses nach neuem Stil, zeigen, wie mit dem Bedürfniss
auch die Mittel entstehen, es zu befriedigen und wie die Sache selbst, für welche diese Mittel ersonnen
sind, zum Schmuck für das Ganze wird. Gerade auf dem Gebiet der Nutzbarmachung der Elektrizität,
die so viel praktische Fortschritte mit sich bringt, liegen auch tausend Quellen für das Schöne. In
diese Gruppe gehört auch ein Kamin für Gasheizung von Wilhelm Bertsch — dem Architekten
des ganzen Raumes No. 26. Gerade diese praktischen Gaskamine schreckten bisher Manchen ab
wegen ihrer maschinellen Hässlichkeit — hier ist gezeigt, dass sich die Einrichtung zum Mindesten
so behaglich gestalten lässt, wie die vornehme und unbequeme «Cheminee».
Im Allgemeinen — eine Anzahl sehr gediegener Arbeiten auf dieser Ausstellung ändern daran
nichts — hat die Goldschmiedekunst bei uns verhältnissmässig bis jetzt am Wenigsten vom « neuen Stil »
profitirt. Woran dies liegen mag, ist nicht ganz klar — vielleicht zunächst daran, dass Schöpfungen
in den alleredelsten Materialien naturgemäss ein kaufkräftigeres Publikum voraussetzen, als wir es
haben. Und dann ist gerade das kaufkräftigste Publikum sehr konservativ und am Wenigsten tolerant
gegen die Launen des erfindenden Künstlers. ■ Hier in München stellt ausser Fritz von Miller auch
August Offterdinger (Hanau) geschmackvolles Silbergeräth aus, Ziergefässe und Vasen, zum Theil
von reichbewegten, echt modernen Formen. Paul Merk lässt uns einige Vitrinen mit Schmuck sehen,
wobei auffallender Weise die kostbarsten Stücke an Grazie und Mannigfaltigkeit der Form von den
einfacheren weit überboten werden. Es ist als könnten sich die Zeichner nur schwer entschliessen,
kostbare Steine dem Eindruck des Ganzen unterzuordnen, sie als Zierath anzuwenden — fast immer
erscheinen sie als Hauptsachen und das Uebrige als Fassung. Wir können auch hier von den Alten
lernen — sie besetzten ihre Schmuckstücke mit Edelgestein und wollten nicht blos ihre Edelsteine
durch die Folie der Goldschmiedarbeit heben. Als werthvolle grössere Stücke sind hier noch zu nennen :
die etwas zu absichtlich gothisirende und für ein Gebrauchsstück zu komplizirte Tischglocke von
Blachian, die beiden einfach -schönen Sektschalen von Theodor Heiden, ein «Bierpokal» und ein
zierlicher x'\ufsatz von Max Strobl. Max Rothmüller bringt gefällige kleinere Schmucksachen.
Durchaus moderne Form hat Hermann Hirzel (Berlin) seinen in den «Vereinigten Werkstätten»
hier ausgeführten Schmucksachen, meist Brochen, gegeben und es ist manches Schöne, aber auch
manches Gewaltsame darunter. Das bemerken wir — selbstverständlich! — ja noch bei vielen der
ausgestellten Arbeiten mit Missbehagen, dass sie allzu laut schreien: «Ich bin modern! Ich bin
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DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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originell!» Aber das sind Dinge, die man in den Flegeljahren eines neuen Stils eben mit in den Kauf
nehmen muss. Als durchaus vornehmes, erstklassiges Struck muss der schöne Silberpokal nebst Teller,
mit einem Lorbeermotiv dekorirt, bezeichnet werden, den Steinicken und Lohr ausgestellt haben.
Das ist «modern» ohne jede Aufdringlichkeit und schön ohne «Tendenz». Nicht unerwähnt bleiben
dürfen die weich und anmuthig modeliirten Medaillen meist wohl französischen Ursprungs, die in einem
Glaskästchen ausgestellt sind.
Mit aufrichtiger Befriedigung kann der Kunstfreund auf die Mannigfaltigkeit der Formen sehen,
die an den ausgestellten Möbeln auffällt. In der Wahl und Zusammenstellung der Holzarten, dem
Schmuck durch Beschläge, in dem Bestreben,
das Zweckmässige mit dem Schönen zu
vereinigen — eigentlich ist das Letztere ja
die Hauptparole der ganzen, in Rede stehen-
den Bestrebungen — in der, meist glücklich
reaiisirten Absicht, einfach und vornehm zu
sein und auch die kleinste Zuthat nicht der
künstlerischen Fürsorge des Erfinders ent-
gehen zu lassen, zeigt sich hier ein ganz
unerschöpflicher Reichthum von Phantasie
und Können. Bernhard Pankok, einer
der feinsinnigsten Münchener Stilisten, der
auch für den Buchschmuck viele wirksame
und durchgeistigte Arbeiten schon geleistet
hat, der vielseitige Richard Riemer-
schmid, Martin Dülfer, der Architekt
der Kabinette 24 und 25, L. Hohlwein,
Bernhard Wenig, F. X. Wagner, sie
Alle haben Stücke zur Ausstellung geliefert,
die höchster Beachtung werth sind. Auf
keinem Gebiete des Handwerks war wohl
noch vor Kurzem so kläglicher Schlendrian
zu beklagen, wie auf dem der Kunsttischlerei. Was nicht sklavische Nachbildung alter Form war,
war sinn- und stillose Arbeit nach schlechten Musterbüchern, ans Erfinden dachte kein Mensch.
Und nun sehen wir, dass sich nirgends so Mannigfaltiges erfinden lässt, wie hier! Und noch eins:
hier ist vielleicht der Punkt, an dem eine Popularisirung des «neuen Stils» erspriesslich einsetzen
kann. Das Allereinfachste kann schön sein im neuen Sinn, der schlichteste Holzstuhl, das bescheidenste
Schränkchen. Und Nichts braucht theurer zu werden, als es bisher war — wenn wir überhaupt von
solider Arbeit reden. Jetzt sind die Preise für modernes Kunstgeräth vielfach noch unverhältniss-
mässig hoch, weil von vorneherein nur auf einen beschränkten Absatz, weil nur auf wohlhabende Käufer
II 14
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 26, ausgeführt nach Angabe des Architekten
Wilhelm Bertsch - München
96 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
gerechnet war. In Zukunft wird man sich auch damit beschäftigen müssen, die Verkaufswaare der
bescheideneren Werkstätten auch mit in den Bereich des eben errungenen Kunststils zu ziehen. Warum
soll ein Stuhl, der zehn oder zwölf Mark kostet, nicht auch von guter Form sein können, da die
gute Form vielfach durchaus kein Plus an Arbeit bedingt? Eins allerdings bedingt dieser Stil: saubere,
liebevolle Ausführung. Für den Winkelschreiner, der gewohnt ist, jedes Stückchen Zierwerk fertig in
einem Spezialgeschäft zu kaufen und seinen formlosen Kasten aufzuleimen, ist hier nichts zu suchen.
Aber der kleinste Handwerksmeister, der Lust und Liebe zur Sache und geschickte Hände hat, kann
jetzt Gelegenheit finden, emporzukommen, wenn er mit seiner Zeit geht.
H. E. v. Berlepsch, der einer der Thätigsten der Kunst im Handwerk geworden ist, hat
zwei Kabinette eingerichtet, die auch als Muster neuzeitlicher Innendekoration in jeder Beziehung Lobes
werth sind. Ganz besonders aber interessiren uns die nach seinen Entwürfen ausgeführten Möbel der
Firma Buyten und Söhne, Düsseldorf. Es sind Holz- und Polstermöbel von noblen Formen, geziert
hauptsächlich durch Einsätze von schönmaserigem Holz, das durch ein neues Verfahren (Xylektypom)
so bearbeitet ist, dass die Zeichnungen der Maserung etwas vertieft, aber in scharfem Relief zu Tage
treten. Bei einem Theil dieser Füllungen liegt auch ein flaches Pflanzenornament auf dem gemaserten
Hintergrunde. Es handelt sich offenbar um eine Art von Aetzung, welche die weicheren oder beim
Aetzen nicht durch Firniss geschützten Theile der Holzplatte wegnimmt, die Theile von festerer
Struktur oder die abgedeckten Zeichnungen aber stehen lässt. Auch reich dekorirtes Kupfergeräth
in diesen Räumen ist nach Berlepsch' Entwürfen getrieben und von ihm stammt auch eine Serie sehr
instruktiver Pflanzenstudien für Ornamentzwecke in einer Vitrine.
Wenden wir uns nun, der Uebersichtlichkeit halber die ausgestellten Schätze in Gruppen zu-
sammenfassend, zu den Stickereien, so muss wohl in erster Linie der Name Hermann Obrist's genannt
werden. Er hat die Malerei mit der Nadel, ein Gebiet, auf dem die ödeste Dilettanterei gang und
gäbe war, zur reinen Kunst erhoben, zu einem Ding, das fein genug ist, Selbstzweck zu sein. Er ist
der Zarteste, Sensitivste unter unsern modernen Ornamentikern und Frl. C. Ruchet, die seine Ent-
würfe in Nadelmalereien umsetzt, darf nahezu als ihm congenial gelten, so hoch erhebt sich ihre
Fertigkeit über alles Handwerksmässige. Das Kissen mit dem rothen Umbelliferenmotiv auf grünem
Moire, das dreieckige Kissen, das weisse Blatt mit den dunklen, wunderbar bewegten Haferähren —
das sind Meisterstücke. Auch Pankok hat für ein seidenes Kissen den gelungenen Entwurf geliefert,
Peter Behrens, der auch durch dekorative Buntholzschnitte ehrenvoll vertreten ist, Entwürfe für
einfache, aber sehr gut wirkende Knüpfteppiche, Bruno Paul die Zeichnung zu grossen Vorhängen,
deren geistreich erdachte Technik darin besteht, dass schwarze Seidenlitzen auf blaues Uniformtuch
aufgenäht sind. S. Meinhold arbeitet mit Erfolg im Geiste Obrist's, M. Behmer lässt uns die
Anwendung des neuen Stils auf die Leinenstickerei sehen. In ihrer Erfindung von eigenthümlich
naiver Künstlichkeit und sehr geschmackvoll sind die mikroskopisch zarten Stickereien von Ein-
gebornen Südamerikas, die Konsul W. Körte uns vorführt. E. Erber, L. M. Riess, Prinzessin
Cantacuzene, A. Naue u. A. mit ihren Stickereien verschiedenster Art wären ebenfalls mit Aus-
zeichnung zu nennen. Otto Ubbelohde hat einen Wandschirm in Gobelinimitation ausgeführt,
DIE KUNST UNSERER ZEIT.
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der allerhand Nachtgevögel mit ebensoviel Stimmung als Farbenschönheit und zeichnerischem Ge-
schick zur Darstellung bringt.
Sehr Gutes leistet speziell Süddeutschland auf dem Gebiete der Keramik und zwar sind auch
hier zahlreiche «neue Techniken» zu bewundern. Da sind die mannigfaltigen Krüge und Blumentöpfe
der Familie von Heider (München) mit ihren koloristisch so reizvollen Glasuren und ihrem vornehm
einfachen Dekor, da sind Schmuz-Baudiss' keramische Kabinetsstückchen, in denen die einfachste
Töpferarbeit raffinirt zu künstlerischer Vollendung gesteigert ist, da sind die süperben Geräthe aus
glasirtem Thon, die Frau E. Schmidt-
Pecht (Constanz) mit seltener Formen-
phantasie und konsequentem Stilgefühl
fertigt, da sind die prächtigen Porzellan-
malereien von M. Rossbach, die Vasen
von Max Länger (Karlsruhe) und vieles
Andere. Glasgefässe sind im Glaspalast
merkwürdig wenig, wenn auch nur in
guten Stücken vertreten ; zu diesen zählen
die Ziergläser von F. A. O. und Paul
Krüger (München) und die Nachbildungen
irisirender altrömischer Glasgefässe. von
Friedrich Zitzmann (Wiesbaden). Auf
sehr hoher Stufe stehen die Glasmosaik-
bilder nach dem Muster und wohl auch
zum guten Theil mit dem Material der
bekannten Tiffanyfenster ausgeführt von
Karl Ule in München und Karl Engel-
brecht in Hamburg, welch' Letzter einen
unschätzbaren Helfer in dem in Paris
lebenden Maler Christiansen besitzt.
Diese Glasbilder sind ohne Zuhülfenahme
des Pinsels aus mannigfaltig gefärbten,
opalisirenden und glatten, dicken und dünnen, gewellten und gekörnten Glasplatten zusammengesetzt
und übertreffen in ihrer ungebrochenen Leuchtkraft und starken Zierwirkung alle Glasmalereien alten
Stils. Der beschränkte Raum gestattete uns hier kaum, auch nur das Hauptsächlichste zu erwähnen
und es mag so Manches ungenannt geblieben sein, was verdient hätte, mit in erster Reihe zu stehen.
In der Jahresausstellung der «Secession», welche heuer zum ersten Male König Ludwigs I.
prachtvoller korinthischer Tempel am Königsplatzc aufgenommen hat, spielt, wie es bei dem beschränkten
Raum gar nicht anders sein kann, das Kunstgewerbe nur eine nebensächlichere Rolle, wenn auch unter
dem Wenigen, was zu sehen ist, gerade ganz hervorragende Sachen sich befinden. Im Vordergrund
Architektur und Kunsthandwerk
Aus Raum No. 29, entworfen und eingerichtet von den Architekten
Hdbig und Haiger- Münclien
98 DIE KUNST UNSERER ZEIT.
des Interesses stehen wohl die bekannten Gläser von Galle und Tiffany. Der Erstere, der seinen mit
ganz unbeschreiblicher Pracht und Schönheit gefärbten Gläsern nebenbei auch tiefsymbolische Bedeutung
zu geben versucht und sie mit sinnigen und übersinnigen goldenen Inschriften schmückt, behandelt
seine bunten, überfangenen und immer wieder auf's Neue durch aufgetragene Pasten bereicherten
Gläser etwa wie Onyx oder Achatblöcke und schneidet Gemmen daraus, wahre Wunderwerke der
Technik, des Geschmacks und der Geduld. Bei Tiffany ist die eigentliche Arbeit des Glasbläsers
einfach und die Formen sind es nicht minder. Aber das Material ist mit so fabelhafter Virtuosität
gefertigt, dass das Glas selber zum Edelstein wird. Eine beispiellose Geschicklichkeit im Hervorrufen
von Absichtlichkeiten und Zufälligkeiten, ein geistvolles Ausnützen der chemischen und physikalischen
Gesetze ermöglichen es Tiffany, seinen Geräthen die farbenreichsten Muster zu verleihen; das irisirt
in allen Farbenskalen, Pfauenfedermuster durchziehen das Glas, Metallglanz ziert es — es ist als seien
Opale geschmolzen und von der Pfeife des Glasbläsers zu Geräthen geformt. Die Preise der Sachen
entsprechen freilich ihrer Kunstfertigkeit vollauf.
Mannigfaltiger ist die Kollektion des Belgiers Philipp VVolfers (Brüssel). Er verbindet
Elephantenzähne mit Bronce oder vergoldetem Silber, oder Gläser der Galle'schen Technik ebenfalls
mit Silberguss, dessen Vergoldung zum Theil wieder durchgeputzt ist, er giesst in Zinn und Bronce.
Vieles von seinen Arbeiten gehört eigentlich in's Gebiet der Kleinplastik. Das gilt auch von dem
«Standspiegel» von E. M. Geyger in Florenz, der so unbeschreiblich fein ausgearbeitet ist, dass er
fast eir.e Radirung in Metall heissen könnte. F"einer Kunst, aber kaum dem «Handwerk» gelten die
eminent weich und anmuthig modellirten Leuchter, Aschenbecher, Rahmen, Bonbonnieren u. s. w., die
P. M. Dubois für Zinnguss modellirt hat. Dies Alles ist, wie auch die Sachen von Charpentier
im Glaspalast, nur äusserlich einem praktischen Zweck angepasst, während die Mehrzahl der deutschen
Arbeiten, die wir aufzählten, dazu angethan sind, uns das Schöne thatsächlich in den Gegenständen
des täglichen Gebrauchs in die Hand zu geben. Mehr in letzterem Sinne gearbeitet ist ein Salzgefäss
und ein aus den verschiedenartigsten edlen Materialien sehr graziös gearbeiteter Becher von Henri
Nocque in Paris.
Alles in Allem : wir sind auf gutem Wege, durch die Leistungen unserer für dekorative Zwecke
arbeitenden Künstler einen Stil zu finden und zu fixiren, der die Zeit um das Jahrhundertende für die
Nachwelt in würdiger Weise kennzeichnet und unser voller Dank gebührt allen Denen, die daran
weiterbauen.
Otto Strütsel piux.
Phot. F. IlFiufstaeQgt, MOncbeo
Am Kanal
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