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'ApiatiTTTTOV. Lukian.
Philos.H
Gfe338ky
HEINRICH GOMPERZ
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER
GRIECHISCHEN PHILOSOPHEN
UND DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
ZWÖLF GEMEINVERSTÄNDLICHE
VORLESUNGEN / MIT ANHANG
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS
JENA UND LEIPZIG 1904
DEM ANDENKEN
MEINES FREUNDES
ROMUALD DINGLER
ZUGEEIGNET
Ouk Icttiv dvbpi äYaGLuKOtKÖv oub£v ouie Eujvti oute reXeuTrjcravTi
Oube djueXeixai vjttö 6ewv t& toutou TrpdtXM-otTct.
TTaibias \äp\v.
VORREDE
Die folgenden Vorlesungen sind vor drei Jahren zum aka-
demischen Gebrauche an der Universität Bern entstanden.
In den letzten Monaten hat sich mir die Gelegenheit geboten, in
wenigen und zerstreuten, anderen und größeren Arbeiten abge-
sparten Stunden ihnen eine Gestalt zu geben, welche die Ver-
öffentlichung vielleicht ertragen kann. Daß diese Arbeitsweise
an dem Produkt notwendig nachteilige Spuren zurücklassen
muß, konnte ich nicht verkennen. Dennoch habe ich diese
Gelegenheit ergriffen. Denn ich kann nicht hoffen, diesem
Parergon in naher Zeit eine einläßlichere Beschäftigung wid-
men zu können; und würde doch ungern darauf verzichten, eine
Arbeit der Öffentlichkeit vorzulegen, die immerhin, vielleicht
mehr noch als den Fachgenossen, einem weiteren Kreise einige
Anregung zu gewähren imstande sein mag. Gern möchte ich
glauben dürfen, diese Anregung werde stark genug sein, den
Leser über die Mängel der Ausführung hinwegsehen zu lassen,
und ihn zu vermögen, in der Aufnahme dieser Arbeit mehr an
die Größe des Dargestellten als an die Unzulänglichkeit der
Darstellung sich zu halten.
Ober die Absicht des Buches orientiert der Anfang der ersten
Vorlesung. Für die prosaischen und metrischen Übersetzungen
muß ich durchweg selbst die Verantwortung auf mich nehmen.
Wenn insbesondere die letzteren manchmal über das streng
Notwendige hinausgehen, besonders wo Aischylos in Frage
kommt, so wird sich der Leser hoffentlich nicht beklagen; und
auch mir schien wünschenswert, ihn am Geiste der Antike so
weit teilnehmen zu lassen, als möglich war ohne die Einheit des
Ganzen zu durchbrechen. Ganz selbständig war ursprünglich
VI
VORREDE
der Anhang gedacht. Ich habe ihn diesem Buche beigegeben, [
nicht nur wegen der sachlichen Anknüpfungspunkte, die sich
in der letzten Vorlesung darboten, sondern mehr noch, weil ich
annahm, so ziemlich derselbe Kreis von Lesern dürfte ihm
Aufnahms-Fähigkeit und Freudigkeit entgegenbringen.
Und so mag denn das Büchlein hinausgehen. Auf manchen
Einspruch des Verstandes, und auch auf allerhand Widerstreben
des Gemütes ist es gefaßt. Die Anerkennung aber möchte es
gern auch dem Gegner abgewinnen: daß es aus der Liebe zu
seinem Gegenstande erzeugt worden ist. j
Wien, im April 1904 H. Gomperz
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DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
ERSTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IE Lebensauffassung der griechischen Philo-
sophen und das Ideal der inneren Freiheit"
— indem ich für unsre Vorlesungen diesen
langen Titel gewählt habe, habe ich Sie wohl
wenigstens darauf schon vorbereitet, was Sie
von ihnen nicht erwarten dürfen: nämlich
keine dogmatische Darlegung eines ethischen
Systems, aber auch keine Geschichte der griechischen Philo-
sophie, oder auch nur Moralphilosophie. Was ich Ihnen ver-
mitteln möchte, ist vielmehr ein Doppeltes.
Denjenigen unter Ihnen zunächst, die mit der Geschichte der
griechischen Philosophie schon einigermaßen vertraut sind,einen
sachlichen Gesichtspunkt zum Verständnis dieser historischen
Erscheinung. Nun weiß ich wohl: nicht nur sind Gesichts-
punkte an sich nicht unbedenklich, weil sich für einen jeden
das Gesehene verkürzt und verschiebt; sondern die ausdauernde
Betrachtung von einem Gesichtspunkt aus scheint am bedenk-
lichsten, weil hier die gegenseitige Berichtigung fehlt, die sonst
wohl aus dem Wechsel der Gesichtspunkte sich ergibt. Allein
wenn jenem gegenüber an das Selbstverständliche zu erinnern
ist, daß Gesichtspunkte doch auch notwendig sind, weil ohne sie
überhaupt nichts gesehen werden kann; so nun gegen das zweite,
daß ja auch alle jene Berichtigungen nur Wert haben, sofern sie
schließlich zu einem einheitlichen Überblick von einem Zentral-
gesichtspunkt aus hinführen, die vielen Teilansichten zu einer
Gesamtansicht vereinigen. Auch in einer solchen werden frei-
Gomperz, Lebensauffassung |
2
ERSTE VORLESUNG
lieh nicht alle Züge hervortreten: manches wird sich dem Blicke
aufdrängen, andres fast verschwinden. Davon aber, ob dieses
das Nebensächliche, jenes das Hauptsächliche ist oder umge-
kehrt, wird der Wert des gewählten Ansichtspunktes abhängen.
Darauf allein also wird es schließlich ankommen, ob jener eine
Gesichtspunkt dem betrachteten Gegenstande angemessen ist.
Dies alles nun findet auf unsern Fall seine Anwendung. Der
Gegenstand, um dessen Betrachtung es sich uns handelt, ist die
Lebensauffassung der griechischen Philosophen; der Gesichts-
punkt, den wir für diese Betrachtung wählen, ist dasjenige, was
ich das Ideal der inneren Freiheit nenne, und bald näher be-
stimmen werde. Auch von ihm aus werden sich die einzelnen
Teile jenes Gegenstandes keineswegs mit gleicher Deutlichkeit
darstellen: vieles, das sonst als minder wichtig gilt, wird unsere
Aufmerksamkeit besonders auf sich ziehen; manches, worauf
sonst vor allem hingewiesen zu werden pflegt, wird uns nur in
äußerster Verkürzung erscheinen. Die Lebensauffassung des
Aristoteles z. B., die Viele als den krönenden Abschluß der
griechischen Ethik ansehen, wird uns als ein Verfallssymptom
nur kurz und anhangsweise beschäftigen; jene der Stoiker da-
gegen, die meist als eine Phase der Entartung betrachtet wird,
wird sich uns als der breite Gipfel dieser ganzen Entwicklungs-
linie darstellen. Mit alledem ist es aber nicht etwa darauf ab-
gesehen, auf Grund persönlicher Zu- und Abneigungen des
Redners dieherkömmlicheBeurteilung der Alten zu verschieben.
Im Gegenteil, gerade das soll unsere Aufgabe sein: anzukämpfen
gegen die Heranbringung moderner Maßstäbe an die Antike, und
dafür einzutreten, daß sie aus sich selbst erklärt und verstanden
werde. Rundet und schließt sich aber so das Bild dieser sonst
weit weniger zusammenhängenden Entwicklung; erscheint im
Neben- undNacheinander scheinbar auseinanderlaufender Rich-
tungen ein einheitlicher Grundgedanke; zeigt sich als strenge
Folgerichtigkeit, was sonst wohl als inkonsequente Halbheit
gelten mußte, und wiederum als ernstliche Haupttendenz, was
sonst nur als paradoxe Übertreibung beurteilt werden konnte —
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 3
dann wird eben hierin ein genügender Beweis liegen für die
Angemessenheit des gewählten Gesichtspunktes und eine hin-
reichende innere Rechtfertigung unseres ganzen Unternehmens.
Eben deshalb aber, weil ich daran glaube, daß unser Unter-
nehmen in dieser Weise gerechtfertigt ist, glaube ich auch, noch
ein Anderes Ihnen vermitteln zu können, das jenes erste vor-
aussetzt; und zwar vor allem jenen unter Ihnen, die dem Gegen-
stande noch fremd, alsNeulinge gegenüberstehen. Dieses Andere
ist das persönlich-menschliche Verständnis jener alten Denker,
wie es sich Ihnen nur ergeben kann, wenn sie selbst soviel als
möglich, und ich selbst sowenig als möglich zu Ihnen spreche.
Indem ich mich nämlich bemühen will, auszugehen, nicht von
jenen Punkten ihres Denkens und Fühlens, die uns heutigen die
bedeutendsten scheinen, sondern vielmehr von jenen, die diesen
Rang für sie selbst eingenommen haben, werden wir es nicht
so sehr mit einer logischen Ableitung von Lehren als vielmehr
mit einer psychologischen Entwicklung von Gedanken zu tun
haben. Nur demjenigen, der stets unsere Werturteile im Ohr
hat, klingt ihre Sprache fremd. Ich aber will gerade danach
trachten, Sie von Anfang an in die antike Betrachtungsweise
einzuführen. Denn, ist Ihnen erst einmal deren gemeinsamer
Grundgedanke vertraut, dann brauche ich nur mehr kurz und
scharf die geistige Anlage zu skizzieren, die jeder einzelne jener
Männer ihm entgegenbrachte, und alsbald werden Sie verstehen,
wie er in ihm gerade diese und keine andere Gestalt annehmen,
gerade diese und keine andere Ausprägung erfahren mußte.
Und alles weitere kann ich dann, teils mit den Worten, teils im
engsten Anschluß an die Worte jener Denker selbst entwickeln.
So hoffe ich, gerade von dem gewählten Standpunkt aus werde
Ihnen die betrachtete Erscheinung nicht nur in ihrer charakte-
ristischen Gestalt sich darstellen, sondern auch in hinreichender
Nähe: mit der Nähe aber ist auch in diesem Falle die Größe
untrennbar verbunden. Denn, mögen wir nun über jenen Grund-
gedanken und seine weiteren Folgen wie immer denken, eines
darf ich wohl mit unbedingter Zuversicht aussprechen: nie und
l*
4
ERSTE VORLESUNG
nirgends hat es wieder eine solche Schar von Menschen ge-
geben, die zugleich alle so großartige Charaktere, so eigenartig-
verschiedene Persönlichkeiten, und in ihrem Denken und Leben
so einheitlich ausgebildete Naturen gewesen wären, als im Hellas
des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Denn mögen wir
dieseEinheitlichkeitder Natur bei seltenenEinzelnen aller Zeiten,
etwa bei Spinoza oder Fichte, wiederfinden; mögen wir einer
ähnlichenMannigfaltigkeit etwa beiden Vertretern unsererklassi-
schen deutschen Philosophie gewahr werden; mögen wir eine
gleiche Großartigkeit bei den Heroen der indischen und christ-
lichen Religionen bewundern: einzig und unerreicht stehen doch
jene griechischen Weisen da, was das Zusammentreffen dieser
drei Stücke angeht. Und wenn es mir deshalb gelingen sollte,
Sie zum wirklichen, innerlichen Verständnis dieser Männer hin-
zuführen, dann müßte dies notwendig für Sie nicht nur eine
höchst lehrreiche Anregung Ihres Verstandes, sondern auch eine
innerliche Bereicherung Ihres Gemütes bedeuten!
Doch statt mich weiter in allgemeinen Versprechungen zu
ergehen, will ich lieber ihre Erfüllung vorbereiten. Und dazu
scheint mir am dienlichsten, daß wir jenen, nun schon so oft
erwähnten Grundgedanken der Alten zunächst einmal ganz los-
gelöst von dieser seiner geschichtlichen Beziehung ins Auge
fassen. Denn erst, wenn er Ihnen einmal als ein solcher ent-
gegengetreten ist, den auch wir neueren fassen und verfolgen
können, werden Sie sich in den Geist jener seiner großen Ver-
treterverständnisvoll hineinversetzen können. Diese also lassen
wir einstweilen ganz aus dem Spiele und beschäftigen uns statt
dessen mit dem, was ich (obwohl der Ausdruck von Herbart
schon in etwas anderem Sinne verwandt worden ist) das Ideal
der inneren Freiheit nennen möchte. Den Sinn dieses Aus-
druckes aber gilt es jetzt klar zu machen.
Frei nennen wir im allgemeinen denjenigen, der unabhängig
ist von einem anderen; frei schlechthin also müßte heißen,
wer unabhängig wäre von allem anderen, oder von allem außer
ihm; und innerlich frei, wer diese uneingeschränkte Unab-
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 5
hängigkeit besäße, nicht durch eine äußere Macht über alles (dann
wäre er Gott), sondern durch innere Erhabenheit darüber. Also
die innere Freiheit bedeutet eine Macht, nicht das äußere Schick-
sal zu bestimmen in beliebiger Weise, sondern das innere Schick-
sal zu bestimmen, unabhängig von jedem beliebigen äußeren.
Ehe ich dies auch nur mit einem Worte weiter erkläre, schalte
ich die folgende Bemerkung ein. Schon aus dem Bisherigen
sehen Sie, daß es eine vollkommene innere Freiheit nicht gibt.
Kein Mensch ist so durchaus erhaben über alles äußere, daß sein
Inneres nicht irgendwie davon abhängig wäre: soviel können wir
sagen, auch ohne noch die Begriffe des Äußeren und Inneren
näher bestimmt und erklärt zu haben. Allein damit haben wir
nichts anderes gesagt, als daß die innere Freiheit ein Ideal ist.
Denn nicht wirklich erreichbar zu sein, sondern nur in stetiger
Annäherung, das gehört zu dem Begriffe des Ideals1. Soviel
gleich hier und ein für allemal, um von dem Begriffe der inne-
ren Freiheit den Verdacht des Übertriebenen, Schwärmerischen
und Maßlosen abzuwehren. Wie schwer es sich aber rächt, wenn
dies vergessen wird, wie es auch im Altertum oft genug ver-
gessen wurde, dies wird sich uns späterhin noch vielfach ergeben.
Doch wir kehren zurück zu der Entwicklung unseres Begriffes.
Das innere Schicksal des innerlich freien Menschen, sagten
wir, müsse unabhängig sein von seinem äußeren Schicksal. Da
fragt sich zunächst, was wir unter diesem inneren Schicksal
meinen und verstehen sollen? Freilich, ein kurzes Wort scheint
sich uns wie von selbst darzubieten, dasselbe, das auch die Alten
in diesem Zusammenhange gebraucht haben: das Glück näm-
lich, sagten sie, des Mannes, sein Wohl, sei unabhängig von
seinem Schicksal; kein Erlebnis dürfe für ihn ein Unglück,
ein Übel bedeuten. Gegen diese Ausdrücke werden wir nicht
das mindeste einwenden, und nur darauf dringen müssen, daß
ihr Sinn genau bestimmt und ihre Bedeutung nicht einseitig ver-
rückt werde.
!) Vgl. des Verfassers Vortrag „Über den Begriff des sittlichen Ideals."
Bern 1902.
6
ERSTE VORLESUNG
Eine in älterer und neuerer Zeit weit verbreitete Meinung
geht nämlich dahin, daß das, was wir Glück nennen, in einer be-
sonders engen Beziehung stehe zu dem, was wir als angenehm
und unangenehm, als Freude und Leid, als Lust und Un-
lust bezeichnen. Insbesondere stellt man sich vor, Glück sei
gleichbedeutend mit dem Oberwiegen der Lust. über das
Leid, Unglück mit dem Oberwiegen des Leides über die Lust:
diese beiden Zustände verhielten sich wie positive und negative
Größen, und ihre Differenzen seien es, die wir, je nachdem
sie positiver oder negativer Natur seien, als Glück oder Unglück
auszusprechen pflegten.
Daraus folgt dann für das Ideal der inneren Freiheit entweder
die Forderung, der Lustüberschuß müsse ohne Rücksicht auf
das äußere Schicksal aufrecht erhalten werden, oder aber die
Behauptung, da diese Forderung offenbar unerfüllbar sei, so sei
auch das Ideal der inneren Freiheit ein utopisches. Jene Forde-
rung charakterisiert im allgemeinen den antiken, diese Behaup-
tung den modernen Hedonismus, wenn wir mit diesem Namen
dieLehre von derLustnatur des Glückes bezeichnen wollen. Und
in der Tat wäre eine dieser Folgerungen unausweichlich, wenn
die hedonistische Grundvoraussetzung als richtig zugegeben
werden könnte. Aber eben dieses ist mit nichten der Fall.
Zunächst erscheint schon die Auffassung der Lust- und Leid-
zustände alsGrößen, und insbesondere alsGrößenvon entgegen-
gesetztem Vorzeichen, überaus problematisch. Denn nicht nur
sind diese Zustände von so verschiedener Art, daß sie sich als
unvergleichbar darstellen, sondern es führen auch die verschie-
denen Maßstäbe, an denen man ihre Stärke zu messen versuchen
kann, in ein und demselben Fall zu ganz verschiedenen Ergeb-
nissen. Dies erfährt insbesondere derjenige, der körperlich und
geistig bedingte Lust- und Leidzustände miteinander vergleicht:
was hier vor allem in die Augen springt, ist die qualitative
Verschiedenheit, als „größer", d.h. „stärker* aber stellt sich oft
der unmittelbaren Empfindung gerade jener Zustand dar,
der auf den W i 1 1 e n die geringere Einwirkung äußert. Doch auch
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
7
hiervon abgesehen, will sich der Glücksbegriff dem hedonischen
Schema nicht fügen. Schon daß wir keineswegs, wie dieses
Schema es verlangen würde, einen Menschen stets entweder
glücklich oder unglücklich nennen, wenn nicht gerade der über-
aus seltene Fall des vollkommenen hedonischen Gleichgewich-
tes vorliegt, vielmehr in den allermeisten Fällen beide Bezeich-
nungen als gleich unangebracht empfinden, fällt hier schwer ins
Gewicht. Aber auch intensive momentane Schmerzen sind mit
dem Begriffe des Glücks ebensowenig unverträglich, wie recht
erhebliche Lustzustände mit dem des Unglücks. Dies alles legt
den Gedanken nahe, daß die Begriffe Glück und Unglück nicht
in dem hedonischen Gedankenkreis, sondern nur auf einem an-
deren Wege ihre Klärung finden können. Auf einen solchen
scheint aber die Erfahrung selbst uns hinzuweisen.
Denn noch eine Reihe von Eigenschaften, die dem Lustüber-
schuß zukommen, fehlen dem Glück. Dieses kann mehr oder
weniger rein, mehr oder weniger dauerhaft, aber nicht eigentlich
mehr oder weniger groß sein: ein Mensch kann ein wenig mehr
Lust als Leid empfinden, aber er kann nicht ein wenig glücklich
sein. DieseselbeSteigerungsunfähigkeitzeichnet aberauch einen
anderen Begriff aus, den schon die Volksweisheit dem Glücke
nahestellt: „Das wahre Glück ist die Zufriedenheit". Eine
kurze Betrachtung wird diese Gleichsetzung bestätigen und zu-
gleich genauer bestimmen.
Unzufrieden bin ich mit dem, wovon ich wünsche, daß es
anders wäre, als es ist. Zufrieden also mit dem, wovon ich
dies nicht wünsche, wobei ich mich beruhige. Dieses Anders-
wünschen und Nichtanderswünschen gehört zu den Äußerungen
des Begehrungs-, nicht zu denen des Gefühlsvermögens.
Es ist zwar durch die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit
seines Gegenstandes mitbedingt, aber doch eben nur mit-
bedingt. Auch das Leid kann ich gelassen tragen, mich bei ihm
beruhigen, es nicht-anders-wünschen. Wo dies nicht der Fall
ist, ist doch das innerliche Widerstreben gegen den Schmerz
verschieden von der Schmerzhaftigkeit der Empfindung als sol-
8
ERSTE VORLESUNG
eher, wie es auch umgekehrt ohne Schmerz ein lebhaftes Wider-
streben gibt. Dieses Anderswünschen nun wollen wir als
Wunschverneinung, dasNichtanderswünschen als Wunsch-
bejahung bezeichnen. Und den Gegenstand einer solchen
Wunschverneinung werden wir ein Übel, den einer Wunsch-
bejahung ein Gut nennen dürfen.
Damit sind nun wohl die Begriffe Zufriedenheit und Unzu-
friedenheit geklärt, noch nicht aber die des Glücks und Un-
glücks. Denn ich kann gleichzeitig zufrieden sein mit einer
Sache, und unzufrieden mit einer anderen, nimmermehr aber
glücklich und unglücklich zugleich. Diese Ausdrücke beziehen
sich also nicht auf meine Stellung zu Einzelerlebnissen und
Einzeldingen, d. i. auf Teilzustände meines Bewußtseins,
sondern auf meinen Gesamtzustand, d. i. auf meine Stellung
zu Leben und Welt als Ganzen. Wird nämlich von einem
Menschen in einem bestimmten Zeitpunkte die Welt als Ganzes
gefaßt und überdies als Gut, d.h. als Gegenstand einer Wunsch-
bejahung, so ist dieser Mensch in diesem Zeitpunkte glücklich;
unglücklich, wenn er sie gleichfalls als Ganzes faßt, jedoch als
Übel, d. h. als Gegenstand einer Wunschverneinung; weder
glücklich noch unglücklich endlich, wenn er sie überhaupt nicht
als Ganzes faßt, sondern als ein Aggregat von Stücken, von denen
er einige als Güter, andere als Übel ansieht.
Kehren wir nun zu dem Ideal der inneren Freiheit zurück!
Es sollte das Glück des Menschen unabhängig machen von seiner
äußeren Lage. Dies heißt, wie wir jetzt wissen: es enthält die
Forderung, wir sollten in allen Lagen die Welt als Ganzes zum
Gegenstande unserer Wunschbejahung machen, mit ihr als Gan-
zem zufrieden sein, keinen ihrer Teile als ein Übel anerkennen.
Das Ideal der inneren Freiheit erweist sich daher als Äußerung
eines optimistischen Universalismus. Zugleich treten die-
sem Standpunkte zwei andere gegenüber: der eines pessimi-
stischen Universalismus, welcher die Forderung in sich
schließt, die Welt als Ganzes zum Gegenstande einer Wunsch-
verneinung zu machen, keinen ihrer Teile als ein Gut anzuer-
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
9
kennen; undderdes Partikularismus, der dieTotalauffassung
der Welt grundsätzlich verwirft, und dabei verharrt, sie als ein
Konglomerat von Einzelgütern und Einzelübeln zu betrachten.
Dieser letztere Standpunkt ist ohne Zweifel zu allen Zeiten
der herrschende gewesen. Doch läßt sich nicht verkennen, daß
er zugleich als der primitive, kindliche sich darstellt, der mit
jeder Entwicklung, jedem Fortschritt wenigstens teilweise über-
wunden wird. Denn die Befangenheit im Hier und Jetzt, der
ausschließliche Sinn für das Einzelne ist offenbar allen tieferen
Stufen des tierischen und menschlichen Lebens vorzugsweise
eigen. Mit jedem Wachstum, jedem Reifen, jeder Ausbildung
erweitert sich der Umkreis, nicht nur der Betrachtung, sondern
auch der Bewertung. Das Einzelne verliert seine absolute Be-
deutung, es wird zum bloßen Gliede eines Ganzen; Länder,
Zeiten, Prinzipien werden zu den hauptsächlichsten Gegenstän-
den der Wertbeurteilung, und man sieht nicht, worin anders
diese Entwicklung gipfeln könnte als in einer universalistischen
Stellungnahme zur Totalität des Lebens und der Welt. Der
Übergang zum pessimistischen Universalismus einerseits, zum
optimistischen andererseits zieht daher vorzugsweise unser
Augenmerk auf sich.
Dieser Übergang nun, wenn er sich zum pessimistischen Uni-
versalismus hin vollzieht, kann wohl füglich Verzweiflung
heißen, geschieht er dagegen in der Richtung des optimistischen
Universalismus, so werden wir ihn Erlösung nennen dürfen.
Ein drittes gibt es nicht. Der Partikularismus ist seiner Natur
nach unfähig, eine Lebens- oder Weltanschauung im eigent-
lichen Sinne hervorzubringen; denn für ihn existieren weder
Leben noch Welt als Totalitäten. Jede Weltanschauung also,
im strengen Wortsinne, ist entweder eine solche der Verzweif-
lung oder eine solche der Erlösung.
Es ist jedoch hierbei zu bemerken, daß der Standpunkt der
Verzweiflung, in seiner Reinheit, zwar logisch möglich, aber
nicht historisch wirklich ist. Was wir vielmehr in der Ge-
schichte der Religion und Philosophie als Pessimismus kennen
10
ERSTE VORLESUNG
lernen, hateinen ganz anderen Charakter. Wir finden hier überall
die Anschauung, daß die Wunschverneinung des Lebens der
notwendige und folgerechte Standpunkt sei — für jeden, der fort-
fährt, zu den einzelnen Lebensgütern eine bestimmte, im ge-
wöhnlichenLeben herkömmliche Stellungeinzunehmen, und daß
nur durch eine radikale Änderung dieser Stellung die Wunsch-
bejahung des Lebens möglich werde. So zeigt Buddha, daß das
„Haften" am irdischen, die durch Begierden geleitete, auf Ge-
nuß gerichtete Lebensführung notwendig zum allgemeinen und
beständigen „Leiden", und so zur Wunschverneinung des Lebens
führe; so Schopenhauer, daß der blinde „Wille zum Leben"
dieselbe Folge nach sich ziehe. Aber durch die „Aufhebung des
Haftens", durch die „Verneinung des Willens zum Leben" soll
es möglich sein, zur „Aufhebung des Leidens" und so zur
Wunschbejahung des Lebens zu gelangen: zum Zustande des
„Erkennenden", des „Heiligen", der fürder in seiner Allzufrie-
denheit und Allberuhigung durch keinen äußeren Schicksals-
schlag mehr gestört werden könne. Hier verwischen sich also
gerade die Gegensätze, die am schroffsten erschienen; denn
natürlich behauptet auch kein Vertreter des Optimismus, daß
die Erlösung möglich sei ohne eine innere Umgestaltung und
Umwandlung des Erlösten. Und so ist, was wir als Pessimis-
mus kennen, im Grunde nicht eine Weltanschauung der Ver-
zweiflung, sondern selbst eine solche der Erlösung, nur daß
in dem einen Falle mehr auf Gefahren, Wege und Mittel, in dem
anderen mehr auf den Zweck, das Ziel und den Lohn der Ton
gelegt wird. Eine Verschiedenheit der Phase und des Tempe-
raments, kann man sagen, ist hier alles. Niemand fühlt das Ver-
langen nach derErlösungzu einem neuenLeben,dernichtan dem
alten verzweifelt hätte, und niemand wendet von diesem alten
Leben sich verzweifelnd ab, der nicht hoffte, durch diese Ab-
wendung zu einem neuen Leben erlöst zu werden. Jede Welt-
anschauung also, die diesen Namen verdient, ist im Grunde
eine solche der Erlösung, und jede Erlösung ist eine innere Be-
freiung, ein Hinstreben zu dem Ideal der inneren Freiheit.
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
11
Doch schon zu lange, geehrte Zuhörer, habe ich Sie dadurch
in Verwunderung, und vielleicht die meisten von Ihnen auch in
Mißmut versetzt, daß ich in unsere philosophische Erörterung
den eigentümlich religiösen Begriff der Erlösung eingeführt
habe, ohne dieses Vorgehen auch nur zu rechtfertigen oder zu
erklären. Aber nicht von ungefähr habe ich dies getan; sondern
ich wollte Sie vorbereiten auf die wichtige Einsicht, der wir jetzt
nähertreten müssen, daß das Streben nach innerer Freiheit, daß
mit anderen Worten innere Befreiung der innerste Kern und die
Summe aller Religion ist, in so verschiedenen Formen uns diese
auch in der geschichtlichen Wirklichkeit entgegentreten mag.
Diesem Satz will ich nunmehr in aller Kürze seinen paradoxen
Anschein zu entziehen suchen.
Dieser Anschein ist am stärksten auf der niedersten Stufe der
Religion. Hier beschränkt sich der Kultus darauf, durch Bitten
und Opfergaben, wo nicht gar durch Beschwörungen und Droh-
ungen von den Göttern die Zuwendung von Gütern und die Ab-
wendung von Übeln zu erlangen. Und es scheint zunächst, es
könnte nicht deutlicher die partikularistische „Weltanschauung",
und mit ihr die innere Unfreiheit zutage treten, als durch dieses
Bekenntnis zu dem absoluten Werte und Unwerte äußerer Schick-
salswendungen. Dennoch zeigt schärferes Zusehen auch eine
andere Seite der Sache. Denn was ist nun die objektive Wirkung
von Opfern und Gebeten? Daß sie Hagel und Krankheit ab-
wenden, Sieg und Langlebigkeit verleihen, glauben wir nicht
mehr. Aber daß sie die Zuversicht und den Lebensmut des
Gläubigen stärken, daß sie ihn schwierige und gefahrvolle Lagen
in geringerer Bangigkeit und erhobeneren Hauptes durchleben
lassen, und also „pro tanto" sein inneres Schicksal von seinem
äußeren Schicksale emanzipieren, müssen wir zugeben. Ein
schwacher Ansatz zu innerer Befreiung also, aber doch ein Ansatz !
Auf einer zweiten Stufe der Religion wird dieser Keim fort-
gebildet. Der Gläubige hofft, teils durch seine den Göttern dar-
gebrachten Leistungen, teils durch seinen, ihnen wohlgefälligen
Lebenswandel sich in einem künftigen Leben ein Los zu sichern,
12 ERSTE VORLESUNG
das ihn für all das Ungemach und Leiden in diesem Leben ent-
schädigen werde. Daß nun diese Hoffnung in Erfüllung gehen
werde, glauben die meisten von uns nicht mehr. Aber daß er
durch diese Hoffnung gewappnet wird gegen die Widerwärtig-
keiten dieses Lebens, daß sie für ihn an Bedeutung einbüßen,
ja aufhören, wahre Übel zu sein, daß also auf diese Weise ihm
die Wunschbejahung des Universums erleichtert, und er selbst
wiederum in höherem Grade innerlich befreit werde, dies kann
keiner von uns bestreiten.
Auf der dritten Stufe der Religion endlich verlieren diese
Hoffnungen ihre inhaltliche Bestimmtheit. Was zurückbleibt,
ist lediglich das gläubige Vertrauen zu einem liebenden und
väterlichen Wesen, das alles, was uns betrifft, irgendwie zum
Guten lenke — sei's auch nur, daß, was uns hier als schlecht
erscheint, in Wahrheit einen befriedigenden Sinn und Wert be-
deutet; ein Vertrauen, das sich mitunter steigert bis zu dem be-
seeligenden und beruhigenden Bewußtsein der („mystischen")
^Einheit mit dem letzten Grunde des Seins. Auch derjenige nun,
der dieses gläubige Vertrauen, beziehungsweise dieses beruhi-
gende Einheitsbewußtsein, keineswegs für sachlich gerechtfer-
tigt hält, kann doch nicht leugnen, daß es den Gläubigen mit
ruhiger Fassung, stiller Ergebenheit und freudiger Zuversicht j
auch das Schwerste ertragen läßt, daß also für ihn — wenn nur
sein Glaube echt und fest ist — die Übel gänzlich aus der Welt
verschwinden, daß also sein inneres Schicksal völlig unabhängig
von dem äußeren sich gestaltet, daß er also auf diese Weise der
inneren Freiheit zugeführt wird.
Und nun fragt sich: sollte diese innere Befreiung mit pro-
blematischen Annahmen theoretischer Natur unauflöslich ver-
knüpft sein? Sollte der Mensch jene Freiheit vom Schicksal,
jene Herrschaft über sein eigenes Leben, die er gewinnen kann
unter der unerwiesenen Voraussetzung, daß ihm andere Mächte
zur Seite stehen, nicht auch bewahren können ohne unbewiesene
Annahmen? Sollte er jene Gefühle der Sicherheit und Ruhe,
der Freudigkeit und Ergebenheit nur sich aneignen können durch
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 13
Vermittelung anderer Wesen, aber unfähig sein, sie aus sich
selbst zu schöpfen? Sollte mit anderen Worten die Erlösung
nur möglich sein als Fremderlösung, und nicht auch als
Selbsterlösung? Ist eine vierte Stufe der obigen Entwick-
lungsreihe undenkbar — eine Stufe, die man nun nach Belieben
religiös oder philosophisch nennen könnte, denn wir streiten
nicht um Worte — , auf der die innere Freiheit unmittelbar und
unvermittelt als selbständiges Ideal das Leben beherrschte?
Offenbar ist gerade heute keine Frage wichtiger als diese.
Sie läßt aber eine doppelte Antwort zu: eine deduktive und
eine induktive. Es kann gefragt werden, ob und wie etwas
derartiges theoretisch möglich, und es kann gefragt werden,
ob es empirisch wirklich sei? Jene Frage ist eine biologi-
sche, diese eine historische. Wir sprechen von dem biologi-
schen Problem zuerst; denn das historische wird diese ein-
leitende Vorlesung passend abschließen.
Ob und wie innere Freiheit ohne dogmatische Voraussetzungen
möglich sei — dies, sagten wir, sei das biologische Problem,,
Die Frage nach dem Ob? scheint von vornherein die bedenk-
lichere. Denn wenn die Biologie den Menschen als ein Natur-
wesen auffaßt, dessen Leben und Gedeihen von gewissen äußeren
Bedingungen abhängt, so scheint die Behauptung unhaltbar, er
sei von diesen selben Bedingungen in irgend einem Sinne un-
abhängig. Dennoch kann niemand diese Frage verneinen, der
zugibt, daß innere Freiheit mit dogmatischen Voraussetzungen
möglich ist, und der zugleich diese Voraussetzungen für falsch
hält. Denn wenn sie falsch sind, dann ist die Möglichkeit ausge-
schlossen, daß die Kraft des Gläubigen, sich gegen jedes Schick-
ais im Zustande der Wunschbejahung zu behaupten, auch nur
teilweise herrühre von der Hilfe übermenschlicher Gewalten.
Dann aber ist diese Kraft lediglich seine eigene Kraft. Durch
unrichtige theoretische Annahmen kann diese aber nicht erhöht
werden. Kein Irrtum (und keine Wahrheit) kann in einen Orga-
nismus eine Kraft hineinleiten, die nicht ohnehin schon in ihm
läge; er kann nur eine schon vorhandene auslösen und wirksam
14
ERSTE VORLESUNG
machen. Die Kraft also, die der Gläubige der feindlichen Welt
entgegensetzt, durch die er sich innerlich befreit und erlöst, ist
seine eigene Kraft: biologisch betrachtet, ist jede Befreiung
Selbstbefreiung, jede Erlösung Selbsterlösung. Selbsterlösung
ist also möglich, denn es gibt im Grunde keine andere. Die
Frage kann nur sein, wie diese Kraft ohne Auslösung durch dog-
matische Annahmen zur wirksamen Äußerung gelangen könne.
Damit stehen wir aber schon bei der Frage nach dem Wie?
Auch der Beantwortung dieser zweiten Frage aber sind wir
schon näher gerückt, indem wir den Begriff der Kraft eingeführt
haben. Freilich ist dieses Wort vieldeutig, und kann insbeson-
dere in unserem Zusammenhange zu mannigfachen Mißver-
ständnissen den Anlaß geben. Dennoch bin ich weder in der
Lage, es zu vermeiden, noch auch, es in einer wissenschaftlich
befriedigenden Weise zu definieren. Denn jene „Kraft", auf die
es uns hier ankommt, die sich in der Wunschbejahung äußert,
und die wir vorläufig die geistige nennen können, obwohl auch
sie gewiß nicht der körperlichen Grundlage entbehrt, — diese
„Kraft", sage ich, bezeichnet eine Tatsachengruppe, die (wie
das ganze Gebiet, zu dem sie gehört) von der Biologie überhaupt
noch nicht ernstlich ins Auge gefaßt werden konnte, und zu deren
wissenschaftlicher Beschreibung die Begriffe dieser Disziplin
infolgedessen auch noch lange nicht tauglich sind. Es bleibt
deshalb nur übrig, diesen Ausdruck in seiner populären Bedeu-
tung zu verwenden, mit dem Bewußtsein, daß er einer künfti-
gen biologischen Präzisierung ebenso bedürftig als würdig ist.
Die einfachste Zelle bedarf eines gewissen Kraftminimums,
um sich zu ernähren und zu verteidigen, kurz um sich zu er-
halten. Steigert sich jedoch ihre Kraft über dieses Minimum
hinaus, tritt also über jenes Kraftminimum hinaus noch ein
Kraftüberschuß auf, dann kommt dies nicht mehr ihrer Er-
haltung zugute, sondern sie spaltet sich: es entstehen zwei neue
Individuen, und das alte Individuum geht zugrunde. Dieser
Tatbestand bleibt, mit den entsprechenden Änderungen, auf allen
Stufen der Entwicklung derselbe. Überall entspricht einem
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT
15
gewissen Kraftminimum ein engster Kreis von Bedürfnissen und
Interessen, welche auf die Selbsterhaltung des Individuums ab-
zielen; einem darüber hinausgehenden Kraftüberschusse ein
weiterer Kreis von Bedürfnissen und Interessen, deren Befrie-
digung aber vielfach den wirklichen oder doch möglichen Unter-
gang des Individuums involviert. So auch beim Menschen. Der
engere Interessenkreis ist jener, den wir als den egoistischen
oder selbstischen zu bezeichnen pflegen, indem wir die Aus-
drücke Ich und Selbst auf ihn vorzugsweise anwenden, weil ein
bestimmter Zustand der eigenen Person dasjenige ist, was
uns als Ergebnis der Befriedigung dieser Bedürfnisse vor-
schwebt: dieser befriedigte Zustand kommt uns zum Bewußt-
sein als die Lust des Genusses; die auf sie gerichteten Be-
dürfnisse empfinden wir als den Drang der Begierde. Den
weiteren Interessenkreis bezeichnen wir als den der Selbst-
losigkeit oder Selbstvergessenheit, weil dasjenige, was
uns hier als Ergebnis der Befriedigung vorschwebt, nicht mehr
ein Zustand der eigenen Person ist, sondern ein objektives Re-
sultat: entweder ein Zustand anderer Lebewesen, oder das
Entstehen eines unpersönlichen Werkes. In jenem Falle
sprechen wir von liebender Hingebung, in diesem von
schöpferischer Produktivität. In beiden liegt ein Kraft-
überschuß vor, der sich auszuströmen und auszuwirken strebt.
In beiden aber geschieht diese Ausströmung und Auswirkung
vielfach auf Kosten der Selbsterhaltung: die Selbstlosigkeit wird
zur Selbstüberwindung, und führt häufig genug zur Selbst-
aufopferung. Auch die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist
von Lustzuständen begleitet; wir werden ihrer Eigenart am ehe-
sten gerecht werden, wenn wir sie als die Freudigkeit der
Liebe und des Schaffens bezeichnen.
Von hier aus ergibt sich leicht das Verhältnis dieser beiden
Typen zum äußeren Schicksal, und damit zu der Forderung der
inneren Freiheit. Die Interessen des engeren Kreises bedürfen
zu ihrerBefriedigung bestimmter äußerer Ereignisse : der Hunger
der Nahrung, die Sinnlichkeit der Wollust, die Habsucht des Be-
16
ERSTE VORLESUNG
Sitzes, der Ehrgeiz der Anerkennung usw. Diese Ereignisse
hängen vom äußeren Schicksal ab. Bleiben sie aus, so ist die
Wunschverneinung von selbst gegeben. Auf diese Weise also
wird der Mensch vom Schicksal abhängig; er ist innerlich un-
frei: der geringeren Kraftsumme entspricht das Angewiesensein
auf günstige äußere Umstände. Das größere Kraftquantum des
weiteren Interessenkreises ist auf solche nicht angewiesen. Hier
geschieht ja die Tätigkeit nicht um der Erzielung eines bestimm-
ten Effektes willen, sondern sie ist Selbstzweck, und zieht nur
den Effekt gelegentlich nach sich. Wird die eine Tätigkeit, der
eine Effekt vom Schicksal vereitelt, so tut eine andere und ein
anderer denselben Dienst (denn natürlich verstehe ich hier unter
„Liebe" nicht die noch höchst eingeschränkte Teilnahme an
dem Wohle nahestehender Individuen, sondern die allgemeine
Caritas). Unbeschadet des Wechsels der Entladungsbahn bleibt
die Kraftentladung selbst die gleiche, und mit ihr die Freudig-
keit. Die Möglichkeit der Wunschbejahung also ist in allen
Fällen gegeben. So wird der Mensch vom Schicksal unab-
hängig und innerlich frei.
Er befindet sich in einer ähnlichen Lage wie das spielende
Kind. Auch ihm kommt es lediglich darauf an, in spielender
Tätigkeit seinen Kraftüberschuß zu verausgaben. Kann es nicht
Reif spielen, so spielt es Ball. Kann es den Ball nicht nach links
werfen, so wirft es ihn nach rechts. In jedem Fall kann es zu-
frieden sein, freudig und glücklich. Und obendrein heiter, im
Bewußtsein dieser seiner Unabhängigkeit; denn jedes Bewußt-
sein eigener Überlegenheit wird von Heiterkeit begleitet. Käme
es aber diesem Kinde darauf an, einen bestimmten Effekt zu er-
zielen; wäre für ihn nur an eine bestimmte Stellung des Reifes
oder Balles eine Lust des Genusses geknüpft; machte es diese
Lust zum Ziel seiner Begierde; wäre m. a. W. seine Tätigkeit
nicht Spiel, sondern Ernst; alsbald würde es seine Unabhän-
gigkeit und Freiheit, und mit ihr seine Freudigkeit und Heiter-
keit verlieren, und dem Menschen gleichen, der in Sorge und
Angst den Gegenständen seiner Begierde nachjagt. Und ebenso
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 17
steht es mit jedem, der im richtigen Geiste einem Spiele folgt,
und auch seine „ungünstigen" Wendungen lächelnd hinnimmt,
weil es ihm ja nicht darauf ankommt, zu siegen, sondern zu
spielen, während er alsbald in Sorge und Unruhe verfallen
müßte, sobald er Gewinn und Verlust als wahre Güter und
Übel, das Spiel selbst als Ernst betrachten wollte.
Diese Stellung nun, die der Spielende zu seinem Spiel ein-
nimmt, brauchen wir nur zu übertragen auf die Stellung des
Lebenden zu seinem Leben, um die Möglichkeit einer inneren
Freiheit ohne dogmatische Voraussetzungen einzusehen. Innere
Freiheit, werden wir dann sagen, ist möglich, wo soviel Kraft
vorhanden ist, daß sie zu ihrer Betätigung günstiger äußerer
Umstände nicht bedarf; wo das Ziel des Lebens nicht gesetzt
wird in das passive Erleben jener genußreichen Zustände, auf
die unsere Begierden sich richten, und über alles in die Erhal-
tung des eigenen Ich, sondern in das aktive Ausströmen der
eigenen Kraft in Hingebung und Produktivität, auch wenn dar-
über das eigene Ich zugrunde geht. Denn jenes Ziel ist vom
Schicksal abhängig, seine Lust unsicher, mit Unruhe, Trauer
und Verzweiflung durchsetzt; dieses ist vom Schicksal unab-
hängig, seine Freudigkeit samt Ruhe, Fassung und Heiterkeit
unwandelbar. Dort ist die Wunschverneinung unausweichlich,
hier die Wunschbejahung allezeit möglich. Darum ist jenes das
innerlich unfreie, dieses das innerlich freie Leben.
Noch eine Bemerkung scheint am Platze, ehe wir weiter gehen.
Auch das Leben seiner Nebenmenschen müßte der innerlich
freie Mensch ebenso anzusehen lernen, wie das eigene. Die
Liebe, die wir als ein Hauptmittel zur inneren Befreiung kennen
gelernt haben, darf nicht verstanden werden als ein Sichab-
hängigmachen von dem äußeren Schicksale des anderen. Denn
das hieße unfrei werden, nicht frei. Die adäquate Äußerung des
Kraftüberschusses kann nicht darin bestehen, sich in den Dienst
aller fremden Kraftminima zu stellen. Der fremde Genuß und
die fremde Entbehrung können nicht anders aufzufassen sein
als die entsprechenden eigenen Zustände. Sonst schleicht durch
Gomperz, Lebensauffassung 2
18
ERSTE VORLESUNG
alle Tore des Mitgefühls die Wunschverneinung, und mit ihr
das Unglück und die Unfreiheit wieder herein. Jener „Altruis-
mus", der auf den Dienst des fremden Egoismus hinausläuft,
und der Selbstsucht nichts entgegenzustellen hat als die Ander-
sucht, ist in sich widerspruchsvoll: er postuliert einen absoluten
Wert von Nahrung und Wollust, Reichtum und Ehre, Gesund-
heit und Leben, nachdem diese Dinge eben erst in ihrem inne-
ren Unwerte erkannt worden sind. Sondern die Liebe, die aus
der inneren Freiheit kommt, ist ein Helfen um des Helfens
willen, ein Sichhingeben aus innerer Kraftfülle, das sich an sich
selbst genug ist, und es nicht als ein Obel empfindet, wenn es
sein einzelnes, konkretes Ziel nicht erreicht; ein Abstreifen aller
Abwehr- und Angriffsinstinkte in dem Gefühle, dass derjenige
ihrer nicht bedarf, der sich bewußt ist, geborgen zu sein vor
allem wahren Übel, weil er in seinen Lebenszielen unabhängig
ist von jedem äußeren Schicksal. Dieses Bewußtsein aber, wäre
es vollendet, wäre das vollkommene Bewußtsein der inneren
Freiheit.
Ich sage, es wäre das vollkommene Bewußtsein der inneren
Freiheit — denn wir dürfen uns nicht verhehlen, und ich habe
das schon früher betont: die innere Freiheit ist ein Ideal, und
als solches nie vollkommen erreichbar. Möglich ist nur die An-
näherung an diesen Grenzwert. Sie werden mir erlassen, das
im einzelnen nachzuweisen. Um so notwendiger ist es, bei
dieser Einsicht selbst einen Augenblick zu verweilen, und aus
ihr einige Folgerungen abzuleiten, die für die praktische Lebens-
auffassung, und damit auch für die Beurteilung der antiken Ge-
dankensysteme von der größten Bedeutung sind.
Für denjenigen, der ein Ideal erreicht hätte, würde es keine
Forderungen mehr in sich schließen. Solche hält es nur dem-
jenigen entgegen, der ihm erst nachstrebt. So auch das Ideal
der inneren Freiheit. Der innerlich freie Mensch könnte denken
und fühlen, tun und lassen was er will; aus dem Gesichtspunkte
der inneren Freiheit wäre es logisch unmöglich, ihm darüber
Vorschriften zugeben. Nicht so der unvollkommene, der wirk-
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 19
liehe Mensch. Für ihn bedeutet das Ideal die Forderung, sich
ihm stetig anzunähern, sich fortschreitend zu befreien. Diese
Forderung wird aber, unbeschadet des gleichen Zieles, einen
verschiedenen Inhalt haben, je nach der Verschiedenheit des
Ausgangspunktes; denn die Wege, die von verschiedenen Aus-
gangspunkten zu einem und demselben Ziele führen, können, un-
geachtet ihrer Konvergenz, doch unmöglich zusammenfallen.
Verschieden aber sind in unserem Falle die Ausgangspunkte in
der Tat; denn sie sind nichts anderes, als die unvollkommenen
Individualitäten eines jeden. Aber die unvollkommenen Indivi-
dualitäten sind zugleich individuelle Unvollkommenheiten. Der
eine wird in dieser, der anderein jener Hinsicht von der inneren
Freiheit besonders weit abstehen: jenem wird es besonders
schwer fallen, mit innerer Freiheit zu genießen, diesem, mit
innerer Freiheit zu entbehren. Bestimmte Genüsse, bestimmte
Entbehrungen werden dem einzelnen besonders leicht oder be-
sonders schwer in der rechten Weise gelingen; in bezug auf eine
bestimmte Liebe, auf ein bestimmtes Schaffen wird er sich als
besonders unfrei erfinden. Daraus wird sich jedem seine be-
sondere Aufgabe ergeben: in mancher Richtung wird seine
Vervollkommnung besonders dringlich, manche Seiten des
Ideals werden ihm in hervorragenderem Maße zugänglich sein.
So werden individuelle Lebensregeln entstehen, die sich wieder
allgemeineren Ratschlägen werden unterordnen lassen. Doch
alles dieses wird nur den Suchenden angehen, nicht den Fin-
denden, der ihnen als gemeinsames Vorbild vor Augen steht.
Beides auseinanderzuhalten, ist im Interesse der begrifflichen
Klarheit von der äußersten Wichtigkeit.
Indem nun die Suchenden auf verschiedenen Stufen der An-
näherung an das Ideal der inneren Freiheit sich selbst und ein-
ander antreffen, werden sie auch im Namen dieses Ideals Wert-
urteile fällen. Diese Werturteile werden die Grade der inneren
Freiheit, welche die einzelnen einnehmen, zu Gegenständen
haben, d. h.die Charaktere, gemessen an dem Maße desIdeals.
Ich sage mit Bedacht: die Charaktere, nicht einzelne Handlungen
2*
20
ERSTE VORLESUNG
oder Gesinnungsweisen. Denn wir sahen schon: dieselbeHand-
lung kann aus innerer Freiheit oder aus innerer Unfreiheit her-
vorgehen. Aber ebenso auch dieselbe Gesinnungsweise: wie
z. B. das Mitleid bald ein den Menschen knechtender Drang,
bald der Ausfluß innerlich freier Liebe sein kann. Und diese
Werturteile werden gefällt werden auf Grund jener beiden Ge-
fühle, mit denen wir überhaupt auf die Wahrnehmung von Kraft
oder Schwäche reagieren: nämlich auf Grund von Achtung
oder Verachtung. Also je nach dem Grade seiner inneren
Freiheit oder Unfreiheit wird ein Charakter Gegenstand der
Achtung oder Verachtung sein.
Durch diese beiden Punkte nun ist aber dieses ganze System
von Werturteilen, welche im Namen des Ideals der inneren Frei-
heitgefälltwerden, und welches wir das ethische nennen wollen,
unterschieden von einem anderen System von Werturteilen,
die wir in der Gesellschaft vorfinden, und welches das mora-
lische heißt. Denn die Moral beurteilt nicht den Menschen
als Ganzes, sondern seine einzelnen Gesinnungsweisen, und
zwar nicht auf Grund von Achtung und Verachtung, sondern
auf Grund von Anerkennung und En trüstung. Hier kommt
es darauf an, welche Gesinnung einMensch bekundet; und wenn
diese Gesinnung eine solche ist, die ihn dazu führen kann, seinen
Mitmenschen zu schaden, so reagieren wir darauf mit Entrüstung,
welche nichts anderes ist, als unser Mitgefühl mit dem Vergel-
tungsbedürfnis des (wirklicher oder möglicher Weise) Geschä-
digten. Dort dagegen kommt es lediglich an auf das Maß von
Kraft, das einen Charakter auszeichnet; und wenn dieses geringer
ist als das Durchschnittsmaß, so reagieren wir darauf mit Ver-
achtung, d. i. dem Gefühl unserer überlegenen Kraft. Offenbar
sind diese beiden Dinge sachlich voneinander deutlich unter-
schieden, und wenn sie herkömmlicher Weise unter den ein-
heitlichen Begriff der Sittlichkeit zusammengefaßt werden,
so ist dies nicht anders zu beurteilen, als jener vielfache Mangel
an „Differenzierung", der uns in allen Beziehungen auf primi-
tiven Stufen der Entwicklung entgegentritt: ganz ähnlich z. B.,
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 21
wie auch die Begriffe des Rechts einerseits, der Moral anderer-
seits sich erstsehrallmählichvoneinandergesonderthaben, — der
Moral, die, wie gesagt, die Gesinnung, des Rechts, das die Tat
zum Gegenstande seines Urteils macht. In Wahrheit ist dieser
Fall mehr als ein Beispiel, er ist eine vollkommene Parallele.
Ein Mensch kann sich sein Leben lang in den Schranken des
Rechtes halten, und doch eine unmoralische Gesinnung haben.
Ebenso kann ein Mensch eine durchaus moralische Gesinnung
besitzen, und doch ein ethisch minderwertiger Charakter sein.
Aber noch mehr! Verstöße gegen das Recht werden in aller
Regel auch moralische Defekte involvieren (der Mörder z. B.
wird in fast allen Fällen des Mitgefühls entbehren); aber in
gewissen Ausnahmsfällen mag das juristische Recht zugleich
moralisches Unrecht sein (z. B. im Falle der hartherzigen Exe-
kution eines Schuldners). Ebenso nun wird auch die unmora-
lische Gesinnung in aller Regel einen ethisch minderwertigen
Charakter bekunden (die Lüge z. B. der Feigheit, die Unredlich-
keit der Genußsucht entspringen); aber in gewissen Ausnahms-
fällen mag die moralische Mehrwertigkeit zugleich ethische
Minderwertigkeit sein (z. B. im Falle der Verzweiflung über
fremdes Unglück). Es ist also selbstverständlich, daß die Diffe-
renzierung des ethischen und des moralischen Systems, die sich
aus der Begründung des ersteren auf das Ideal der inneren Frei-
heit ergibt, die Existenzberechtigung der Moralität ebensowenig
aufhebt, als jene des Rechtes durch seine Unterscheidung von
der Moral aufgehoben wird. Übrigens wäre es ein Irrtum zu
glauben, daß dies eine dem Ideal der inneren Freiheit eigentüm-
liche Konsequenz wäre. Dieselbe müßte sich vielmehr aus jedem
Ideal ergeben, das den Anspruch macht, das ganze Leben zu
beherrschen und der Entwicklung des menschlichen Gesamt-
charakters voranzuleuchten. Denn zu dieser positiven Funk-
tion ist die Moralität ebenso unfähig wie das Recht, weil beide
im wesentlichen den negativen Charakter einer Schrankehaben,
wie sich das darin ausspricht, daß ihre Forderungen vorwiegend
die Gestalt von Verboten zeigen. Du sollst nicht!, das ist
22
ERSTE VORLESUNG
das Wesen eines Zaums, aber nicht eines Sporns. Jedes positiv
lebensbeherrschende Ideal hat deshalb auch mehr oder weniger
deutlich diese Unterscheidung gemacht1. Der Gegensatz, den
Paulus wie Luth er zwischen den Verboten des Alten und den
Geboten des Neuen Testamentes gemacht haben, fällt mit diesem
Unterschiede zusammen. Das „Gesetz des Zornes" entspricht
dem moralischen, das „Gesetz derGnade" dem ethischen System.
Dort werden einzelne Handlungs- und Gesinnungsweisen ver-
boten, hier wird die Glaubensstärke geboten, die, wie wir
gesehen haben, im Grunde mit der inneren Freiheit zusammen-
fällt. Ja, auch die Möglichkeit des Konflikts ist nicht verborgen
geblieben: wird ja nach dem „Gesetz der Gnade" gerechtfertigt,
auch wer gegen das „Gesetz des Zornes" verstößt, wenn nur
sein Glaube stark bleibt. Hat doch sogar Luth er, naheliegende
Mißverständnisse befürchtend und vielleicht überschätzend, zu
der Äußerung sich hinreißen lassen, das Gesetz der Gnade solle
man den Bauern nicht predigen; denn sie möchten es mißver-
stehen, und darin die Erlaubnis zu Mord und Brandstiftung
erblicken. Auch Spinoza hat, freilich nicht mit ausdrück-
lichen Worten, zwischen dem „nützlichen" und dem „freien"
Leben denselben Unterschied gemacht; und ebenso hat Fichte
dem Standpunkte der „gewöhnlichen Sittenlehre" den der
„wahren und höheren Sittlichkeit" mit ebensoviel Nachdruck
als Klarheit entgegengesetzt. Was dieser in seiner „Anweisung
zum seligen Leben" (namentlich von der fünften Vorlesung an)
hierüber gesagt hat, ist unvergänglich, und würde einer reiferen
J) Ich könnte sie sehr deutlich schon in den Upanishad's aufzeigen, wo
durchaus die Seligkeit der Erlösung dem Lohn der guten Werke entgegen-
gesetzt, und gelehrt wird, daß jene auch durch böse Werke nicht beein-
trächtigt werde. Man vgl. zum Beispiel die an Entschiedenheit nicht zu
überbietende Stelle: Kaushitaki-Upanishad 3. 1 (Deussen, 60 Upanishad's
des Veda, S. 43 f.), oder die andere: Brihadaranyaka-Upanishad 4. 4. 22 f.
(Deussen a. a. O. S. 480); ferner die Erläuterungen des Qankara zu der
„£ariraka-Mimansa" des Badarayana, Sutram IV. 1. 13 (Deussen, Die
Sutra's des Vedanta, S. 704 ff.). Doch würde ein näheres Eingehen auf
diese Gedankenwelt Vorerörterungen erfordern, die für diese Stelle zu
umständlich wären.
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 23
und edleren Zukunft mehr Stoff zur Würdigung und Bewunde-
rung geben, als alles, was seither über Fragen der Ethik gesagt
oder geschrieben worden ist.
Doch, geehrte Zuhörer, wir sind hiermit unvermerkt bis zu
der letzten Frage vorgedrungen, die wir in dieser einleitenden
Vorlesung behandeln wollten. Wir haben gesehen, daß und wie
innere Freiheit ohne dogmatische Voraussetzungen theoretisch
möglich ist. Wir haben noch zu fragen, ob sie sich (annäherungs-
weise natürlich) auch als geschichtlich wirklich darstellt. Und
eben haben wir zwei Männer genannt, deren Lehre allein diese
Frage im bejahenden Sinne entscheiden würde. Denn wer sie
kennt, dem bürgen die Namen Spinoza und Fichte dafür,
daß sie nichts gelehrt, was sie nicht aus der inneren Erfahrung
ihres Lebens geschöpft hatten. Ihre Lehre aber statuiert nicht
nur, wie eben ausgeführt, den Unterschied von Moralität und
Ethik, sondern sie legt auch dieser letzteren das Ideal der inne-
ren Freiheit zugrunde.
Denn dies ist die Lehre des Spinoza: die Welt als ein
notwendiges Ganzes begreifen, dessenTeile anders zu wünschen,
als sie sind, töricht ist; und diesem Ganzen freudige und er-
gebene Liebe zuwenden, und so von jeder Abhängigkeit dem
Schicksal gegenüber sich befreien.
Und dies ist die Lehre Fichtes: die wahre Sittlichkeit und
Glückseligkeit erblicken in der stetigen Annäherung an das
Ideal; dieses Ideal aber denken als die völlige Überwindung
des auf Genuß gerichteten natürlichen Triebes durch den
sittlichen Trieb, der nur mehr die reine, lautere Tätigkeit um
ihrer selbst willen bezweckt; und so fähig werden, den eige-
nen Willen in Einklang zu setzen mit dem Lauf der Welt, um
in diesem Einklang, wo nicht „glücklich", so doch „selig" zu
sein.
Dies aber, nur mit etwas anderer Betonung, wie ich früher
sagte, war auch schon die Lehre des Buddha: aufheben den
„Durst" der Begierde und das „Haften" am Genuß, und eben
damit die Abhängigkeit vom feindlichen Schicksal und das
24
ERSTE VORLESUNG
Leiden; und fürder dahinleben im seligen Bewußtsein der Er-
lösung1.
Eben dieses aber, und damit kehren wir endlich zu unserem
Ausgangspunkte zurück, ist auch die einstimmige Lehre der Al-
ten, nur mit leichter Verschiedenheit der Stimmungsfarbe und
der theoretischen Begründung, wie dies eben dem Charakter und
dem Intellekt der einzelnen unter ihnen entspricht. Ihr Grund-
gedanke aber ist Einer, und es ist derselbe, den ich eben vor
Ihnen entwickelt habe. Freilich nur entwickelt, und weder be-
gründet noch gewürdigt. Allein diese weiteren Aufgaben würden
ebenso den Rahmen dieserVorlesungen überschreiten, wie inner-
halb desselben ihre Erfüllung entbehrt werden kann. Jenes, weil
eine Würdigung dieser Lebensansicht unmöglich wäre, ohne ihr
andere Ansichten vergleichend gegenüberzustellen,und ohne ein-
gehend die Maßstäbe zu untersuchen, die einer Abschätzung
ethischer Prinzipien und Ideale überhaupt zugrunde gelegt wer-
den können; dieses, weil zum Verständnis der antiken Lehren
*) Auch hier wäre wieder die Erlösungslehre der Upanishad's heranzu-
ziehen. Doch beschränke ich mich aus dem eben angeführten Grunde
auf die Namhaftmachung zweier Stellen (Chandogya-Upanishad 7. 25. 2
und 8. 1. 6; Deussen a. a. O. S. 186 und 190), an der als die Frucht der
Erlösung ausdrücklich „ein Leben in Freiheit" bezeichnet wird.
Ebenso ließe sich leicht zeigen, daß dies der wahre Sinn der „ewigen
Wiederkunft" bei Nietzsche ist, wie er ihn namentlich in dem nachge-
lassenen „Willen zur Macht" klar und unmißverständlich ausgesprochen
hat. Vgl. Werke, Band XV. Aph. 385, 461, 476 (S. 411 f., 472, 483); aber auch
Aph. 10, 141, 163, 213, 457 (S. 22, 137, 157, 208, 466); ferner Aph. 188, 394;
191, 217, 331 (S. 185, 424; 187 f., 211, 353 f.). Die zuletzt angeführten Stellen
bieten Parallelen zu dem, was oben über die Differenzierung von mora-
lischer und ethischer Beurteilung ausgeführt wurde. An den ersteren
aber tritt unzweideutig der Gedanke hervor: die größte innere Kraft müßte
die Wunschbejahung von Allem setzen, was in der Welt enthalten ist, und
deshalb imstande sein, die Welt auch dann freudig zu bejahen, wenn sie
stets so wiederkehrte, wie sie ist, ohne durch „höhere" Entwicklungsstufen
gerechtfertigt zu werden. Darum beginnt der Abschnitt „Dionysos" mit
den Worten (Aph. 459, S. 469): „Eine Höhe und Vogelschau der Betrach-
tung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch
wirklich geht: wie jede Art ,Unvollkommenheit' und das Leiden an ihr
mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört."
DAS IDEAL DER INNEREN FREIHEIT 25
nur ein Wissen von ihrem gemeinsamen Grundgedanken, nicht
aber ein Urteil über denselben erfordert wird. Dieses Urteil
also behalten wir durchaus jenen Untersuchungen vor, die zu-
sammen ein System der normativen Ethik bilden müßten; dort
mag über den Wert und die Bedeutung des Ideals der inneren
Freiheit das letzte Wort gesprochen werden, wenn anders die
Wissenschaft ein solches über diese Dinge zu sprechen über-
haupt vermag. Hier bedeutet uns dieses Ideal eine gegebene
Größe: einen Standpunkt, den wir für einige Stunden einnehmen
wollen, um von ihm aus die verschiedenen Versuche zu betrach-
ten,die das Altertum zurFormulierungdiesesIdeals unternommen
hat, und um an diesen Versuchen eine durchaus immanente Kri-
tik zu üben. Nicht darauf also kam es in dieser einleitenden Vor-
lesung an, Ihnen diesen Standpunkt als den einzig möglichen
oder berechtigten nachzuweisen, sondern nur darauf, Sie vorerst
einmal auf ihn zu stellen. Ist mir aber dies gelungen, so stehen wir
da, wo wir stehen müssen: wir kennen das Thema, und sind so
vorbereitet, die Variationen zu verstehen. Wir kennen das Ideal
der inneren Freiheit, und sind so vorbereitet, die Lebensauffas-
sung der griechischen Philosophen zu verstehen — die gemein-
same Lebensauffassung in ihren verschiedenartigen Erschei-
nungsformen: vorbereitet durch Heraklit; begründet von
Sokrates; fortgebildet durch Antisthenes, Aristipp und
Piaton; vollendet von Zenon; verfallend in Epikur und
Pyrrhon; ausklingend in Plotin. Durch diese Namen ist der
Stoff dieser Vorlesungen bezeichnet und gegliedert.
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIE-
CHEN IM ALLGEMEINEN
ZWEITE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IR haben das letztemal das Ideal der inneren
Freiheit sachlich betrachtet und einiger-
maßen gewürdigt, und uns damit den Schlüs-
sel zum Verständnis der antiken Ethik ver-
schafft, wenn anders dieses Ideal in der Tat
all den verschiedenartigen Richtungen als
gemeinsamer Grundgedanke (oder vielleicht
noch besser: als gemeinsame Grundtendenz) zugrunde liegt,
welche die Lebensauffassung der alten Philosophen uns zeigt.
Und so können wir ohne weitere Vorbereitung unserem eigent-
lichen Gegenstande uns zuwenden.
Dieser Gegenstand ist die antike Ethik. Aber antike Ethik
heißt griechische Ethik. Denn der merkwürdige Mangel, noch
mehr an philosophischer Begabung als an philosophischem Inter-
esse, den das römische Volk nie überwunden, ja den es sogar
einigermaßen auch noch auf die modernen romanischen Völker
übertragen hat, zeigt sich in der Ethik nicht minder als in den
anderen philosophischen Disziplinen. Alles römische Philoso-
phieren, von dem wir unmittelbar oder mittelbar Kunde haben,
ist ohne Ausnahme ein Ableger der griechischen Spekulation.
Ja, in den meisten Fällen ist es noch weniger als das: lateinische
Übersetzungen, Bearbeitungen und Kompilationen griechischer
Vorlagen sind noch häufiger als lateinisch geschriebene Beiträge
zum griechischen Gedankenkreise. Wenn wir auch die verlore-
nen Schriften der pythagoreisierenden Sextier und die erhal-
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 27
tenen des Stoikers Seneca zu der zweiten Gruppe rechnen
wollen, so wird man doch nicht umhin können, die meisten der
eklektischen WerkeCiceros und wohl auch Varros, sowie das
Lehrgedicht des Epikureers Lucrez der ersten zuzuzählen. Wir
haben es also im folgenden fast ausschließlich mit hellenischen
Gedanken zu tun.
Ich sage „hellenisch" — und sofort steht vor unserem geistigen
Auge jenes typische Bild, das man übereingekommen ist, für das
des Hellenen auszugeben: das Bild eines Mannes, der, schönen
Körpers, offenen Auges, raschen Geistes, künstlerisch veranlagt,
seine Triebe „auslebt", aber durch weises Maßhalten sie mit-
einander in Einklang setzt, sein Leben zu einem harmonischen
Kunstwerke gestaltet, und dabei, ein freier Mensch unter freien
Staatseinrichtungen, seine Person dem Dienste seiner Vaterstadt
widmet. Dieses typische Bild ist im wesentlichen eine Fälschung,
und zwar eine, wenn auch gutgläubige, tendenziöse Fälschung.
Genauer gesprochen: es ist das, von Widersprüchen durchtränkte
Residuum einer Reihe sukzessiver Fälschungen. Welche typi-
sche Erscheinung immer nämlich Europa in den letzten Jahr-
hunderten bekämpfte, es mußte der Hellene ihr Gegenbild ab-
geben. Er war, wenn Sie mir einen Ausdruck von zweifelhaftem
Geschmacke verzeihen wollen, der Fahnenstock, an dem jede
Generation das Banner ihres Ideals gehißt hat. Für die Männer
der Renaissance war die Antike die einzige außerhalb des christ-
lichen Kulturkreises geschichtlich gegebene Realität, und damit
der natürliche Stützpunkt für die beginnende Reaktion gegen die
Alleinherrschaft christlicher Ideen. So ist sie in die Rolle des
„Ideals um jeden Preis" hineingewachsen, und seither ist der
Grieche, je nach der Mode des Jahrhunderts, bald ein mystischer
Seher, bald ein aufgeklärter Rationalist; bald ein Vertreter kos-
mopolitischer „Humanität", bald ein solcher des selbstgewissen
Nationalbewußtseins; bald ein Bewunderer klassischer Ruhe,
bald ein Adept romantischen Schwunges; bald ein selbstherr-
liches Individuum, bald ein entsagungskräftiger Patriot; bald ein
stürmischer Freiheitskämpfer, bald eine aristokratische Herren-
28
ZWEITE VORLESUNG
natur gewesen. Denken Sie sich nun, man hätte von ihm in allen
diesen Stellungen photographische Aufnahmen auf einer und
derselben Platte gemacht, so können Sie sich leicht vorstellen,
wie einheitlich, wie deutlich und wie richtig das Bild geworden
sein müßte, das als Ergebnis all dieser Metamorphosen übrig
geblieben wäre. Wie war es aber möglich, daß die Griechen so
verschieden überhaupt gedeutet werden konnten? Bei einem
Volke, das, wie andere auch, eine unermeßliche Mannigfaltigkeit
von Charakteren einschloß, und im Laufe einer über tausend-
jährigen Geschichte Herrschaftsphasen verschiedenster Geistes-
richtungen einander ablösen sah, scheint dies nicht einmal beson-
ders verwunderlich. Auch andere Völker würden für eine derart
vorschnell verallgemeinernde Betrachtungsweise sehr disparate
Eindrücke ergeben : auch der Typus des „Galliertums" würde sich
nicht gerade durch besondere Einheitlichkeit auszeichnen, wenn
er von Rabelais und Corneille, von Voltaire und Rousseau,
von Richelieu und Mirabeau, Danton und Napoleon, von
Pascal und Diderot in gleicherweise abgezogen werden sollte.
Was in einem Volke von Nationalcharakter vorhanden ist, pflegt
so tief zu liegen, daß es zur Darstellung von Typen und Idealen
sehr ungeeignet ist. Es kann, je nach den Umständen der Zeit
und der Individualität, eine sehr verschiedene Ausprägung finden,
und liegt sicherlich — „jenseits von gut und böse" — in den
psychophysischen Elementarvorgängen und in der Art ihrer Ver-
bindung. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, von diesen
völkerpsychologischen „Urphänomenen* eine erschöpfende
Analyse zu geben, scheint es mir doch zweckmäßig, mit ein
paar Worten einige Gesichtspunkte zur Beurteilung der griechi-
schen Volksart auf unserem Wege wenigstens flüchtig zu be-
rühren.
Mit all den Vorbehalten, die bei der Behandlung einer so be-
denklichen Materie unerläßlich sind, darf man vielleicht sagen,
daß der Grieche mit einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit der An-
schauung und Phantasie, mit einer ebenso ungewöhnlichen Be-
weglichkeit des Geistes, und mit einer nicht minder seltenen
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 29
Heftigkeit der Gefühls- und Begehrungsreaktion auf äußere Ein-
drücke, zwei Eigenschaften verband, die den Grund zu seiner
exzeptionellen Bedeutung gelegt haben: eine außerordentlich
feine Empfindung für Unterschiede und Ähnlichkeiten, und eine
ganz besondere Stärke der Leidenschaft. Auf der ersten beruht
der Sinn für das Typische, das Wesentliche der Erscheinungen,
und so wächst aus ihr die spezifische Befähigung der Hellenen
für die Auffindung wissenschaftlicher Begriffe sowohl als auch
künstlerischer Musterbilder hervor. Die zweite, die so stark war,
daß der Affekt durch alle momentane Reaktion nicht aufgezehrt
werden konnte, hat in politischer Hinsicht sowohl die Stabilisie-
rung irgend einer Verfassungsform als auch die Bildung eines
nationalen Gesamtstaates verhindert (als welches beides nur
durch die Bescheidung bei einem dauernden Kompromiß hätte
zustande kommen können), und so den äußeren Untergang der
Nation herbeigeführt; allein indem sie das Individuum von einer
schmerzlichen Enttäuschung zur anderen, und den Staat von Krise
zu Krise führte, erzwang sie jene Reaktion gegen das ungehemmte
Walten der Naturtriebe, welche der Anfang ethischer Besinnung
ist; und indem sie dieser Reaktion jene Kraft zur Verfügung stellte,
die zu ihrer ernstlichen Durchführung und Umsetzung ins Leben
erforderlich war, vermochte sie aus jenem Anfang eine folgen-
reiche und fruchtbare Entwicklung hervorzutreiben.
Diese Reaktion gegen den bloßen Naturtrieb hat (von der
eigentlich philosophischen Ethik zunächst abgesehen) im wesent-
lichen zwei Formen angenommen, die, wenn auch mit wechseln-
der Bedeutung, während der ganzen Dauer griechischer Ge-
schichte nebeneinander bestanden haben. Ihre Verschiedenheit
aber scheint mir mit einer gewißen Wahrscheinlichkeit auf sozi-
ale und wirtschaftliche Unterschiede sich zurückführen zu lassen.
Alle Hellenen waren Herren, in dem Sinne, daß neben und
unter ihnen ein Volk von Knechten der eigentlichen Handarbeit
oblag. Aber in dieser Herrenklasse selbst konnte man seit jeher
zwei Schichten unterscheiden: eine wohlhabende Schicht von
großgrundbesitzenden Patriziern, und eine in gedrückten Ver-
30
ZWEITE VORLESUNG
hältnissen lebende Schicht von Kleinbürgern und Kleinbauern.
Zwischen diesen beiden Klassen hat der säkuläre Kampf zwischen
Aristokratie und Demokratie gewütet; und dieser Gegensatz tritt
uns schon in den ältesten Erzeugnissen der griechischen Poesie
entgegen: Homer ist der Dichter der Großen, Hesiod der der
kleinen Leute.
Im Anschlüsse nun an diese beiden Gruppen der Bevölkerung
dürfte sich auch jener ethische Gegensatz entwickelt haben, von
dem ich sprechen will, ohne daß er deshalb mit ihrer Scheidung
durchaus hätte zusammenfallen müssen.
Der wohlsituierte Aristokrat, der all seine Leidenschaften be-
friedigen konnte, und der nur die Erfahrung machte, daß dieses
unbeschränkte Gewährenlassen ihn von einer bedenklichen Un-
ternehmung in die andere riß — ihm mußte der Gedanke nahe-
liegen, seine Triebe zu mäßigen, sie untereinander ins Gleich-
gewicht zu setzen, mit anderen Worten: seine Zwecke zu einem
abgestuften System zu ordnen, sein Leben harmonisch zu ge-
stalten! Und so wie er selbst auf diese Weise zu innerlicher
Befriedigung gelangte, so mußte er auch dasselbe Verhalten bei
seinem Standesgenossen gutheißen, den es aus einer steten Ge-
fahr für Stadt und Partei zu deren tauglichem Gliede machte.
So entsteht im Kreise der von keiner äußeren Macht beherrsch-
ten Großen der Gedanke der Selbstbeherrschung, oder, wie
der Grieche dies ausdrückt, der Heil-Sinnigkeit *, als des wesent-
lichen Momentes in einem, dem eigenen Ich zuträglichen, den
anderen gefälligen, also, wie der Grieche sagt, einem guten
und schönen Leben2.
Ganz anders stellten sich die Verhältnisse den kleinen Leuten
dar, die zwar auch nicht allein von ihrer Hände Arbeit lebten, aber
doch um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Diesen erschien die
Schranke, die jene erst selbst sich setzen mußten, als von außen
gegeben. Sie war festgelegt in den Verhältnissen, in dem Gesetz,
in der Tradition, in der Tatsache des Voneinanderabhängig-, des
Aufeinanderangewiesenseins. Ihre Überschreitung stellte sich
oujcppotfijvr]. 2) der Ka\oK<rfa6i'a.
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 31
hier nicht, wie dort, als eine Verletzung des Maßes dar, sondern
als eine Verletzung der Ordnung, als Schuld. Oder richtiger:
die uralten, superstitiösen Vorstellungen von Schuldbefleckung
und Entsühnung feierten hier eine Auferstehung. Und die ganze
Energie der Leidenschaft, die vor dieser Schranke, vor dem hei-
ligen Gesetz, zurückweichen mußte, stellte sich in den Dienst
des doppelten Verlangens, vor ungeschehener Verschuldung be-
wahrt zu bleiben, und von der schon geschehenen entsühnt zu
werden. Weihen, Mysterien, Sühnkulte hatte es seit unvordenk-
licher Zeit gegeben. Aber während diese Dinge in den oberen
Schichten des Volkes von einer freieren Lebensordnung absor-
biert wurden, die ihrer nur an altgeheiligten Terminen gedachte,
wurden sie in den unteren zu lebensbeherrschenden Potenzen.
Und während dort oben ein Ideal des selbstgewissen Eben-
maßes sich entwickelt hatte, erwuchs hier unten ein Ideal der
Heiligkeit. Damit sind die beiden großen Hauptströmungen
gegeben, welche das sittliche Bewußtsein desgriechischenVolkes
beherrscht haben.
Beherrscht — aber nichts ist natürlicher, als daß diese Herr-
schaft zu verschiedenen Zeiten eine sehr ungleich verteilte sein
mußte. In der alten Zeit, solange der Adel die Kultur mono-
polisierte, und noch lange nachher, solange die Nachwirkungen
dieses Zustandes dauerten — und eine soziale Schicht bleibt
tonangebend, Jahrhunderte nachdem ihr die politische Macht
entglitten ist — , mußte sich das Patrizierideal als die Oberströ-
mung, das Plebejerideal als die Unterströmung geltend machen.
Nur ganz langsam und allmählich, als die letzte und entfernteste
Konsequenz der politischen Demokratisierung, ist das letztere
emporgekommen, um schließlich die Herrschaft zu erlangen
und der Zeit sein Gepräge aufzudrücken. Wir nennen gemein-
hin diese Wendung den Verfall der Antike.
Und wo bleibt, werden Sie fragen, bei dieser Darstellung und
Einteilung die systematische Ethik der Griechen? Wo bleibt das
Ideal der Philosophen ? Jenes Ideal der inneren Freiheit, das unse-
rerBetrachtungdergriechischenEthikalsFixpunkt dienen sollte?
32
ZWEITE VORLESUNG
Ich erwidere: das Gesagte scheint mir unerläßlich zum ge-
schichtlichen Verständnis eben dieserPhilosophenethik. Es zeigt
uns den Boden, aus dem sie hervorwächst, die Folie, von der
sie sich abhebt, den Rahmen, der sie einschließt. So sehr wir
sie bewundern mögen, ist es doch unsere Pflicht, sie auch in
ihrer geschichtlichen Bedingtheit zu betrachten. Und dazu ist
vor allem erforderlich, daß Sie sich darüber klar seien, daß die
philosophische Ethik der Alten keineswegs zusammenfällt mit
dem sittlichen Bewußtsein des griechischen Volkes, vielmehr
zu allen Zeiten diesem gegenüber eine schroff und bewußt gegen-
sätzliche Stellung eingenommen hat. Auch abgesehen von der
großen Masse derer, die gewiß in Hellas nicht minder als anders-
wo ihren Impulsen nachlebten, und bei denen von einer eigent-
lichen Sittlichkeit überhaupt nicht gesprochen werden kann, da
ihnen die traditionelle Moralität einfach als eine Summe von
Antrieben und Hemmungen anerzogen war — auch abgesehen
von diesen, sage ich, haben wir uns auch den zu sittlicher Selbst-
besinnung erwachten Teil des griechischen Volkes beherrscht
zu denken von den beiden Idealen des harmonischen Lebens
und der Heiligkeit. Ihnen gegenüber erscheint das philosophi-
sche Ideal der inneren Freiheit als ein Neues und Fremdes, als
eine dritte und selbständige Weise der Reaktion gegenüber der
angeborenen Triebhaftigkeit und Leidenschaftlichkeit des grie-
chischen Stammes.
Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht auch sie, wie die bei-
den anderen sittlichen Strömungen, bis zu einem gewissen Grade
sozial bedingt gewesen wäre. Im Gegenteil: eine solche Be-
dingtheit scheint mir wahrscheinlich, und diese einleitende Vor-
lesung ist wohl der geeignete Ort, Ihnen diese für alle folgenden
Systeme giltige Betrachtungsweise darzulegen.
Was ich sagen will, wird Ihnen vielleicht leichter verständlich
sein, wenn ich die Besprechung einer analogen, modernen Er-
scheinung vorausschicke. Die Gesamtheit unserer moralischen
Anschauungen besteht aus verschiedenen Schichten, die von
dem Strome der geschichtlichen Entwicklung auf dem Boden
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 33
unseres sittlichen Bewußtseins zu verschiedenen Zeiten abge-
lagert worden sind. Neben den bürgerlichen liegen reli-
giöse, neben diesen wieder allgemein menschliche Werte:
den Kriegertugenden stehen Christentugenden, und die-
sen wiederum Persönlichkeitstugenden gegenüber. Nicht
nur Mut und Treue, nicht nur Reinheit, Demut und Liebe,
sondern auch Würde fordern wir voneinander. Unter dieser
Würde verstehen wir vor allem die Treue gegen sich selbst:
gegen die eigene Einsicht und gegen das eigene Gefühl. Als
verächtlich gilt uns, wer sich verkauft: Mund und Hand ohne
Überzeugung, den eigenen Leib ohne Liebe. Dies ist nicht immer
so gewesen: das militärische und auch das literarische Söldner-
tum hat nicht immer als ein entehrendes Gewerbe gegolten;
und die „sündige" Leidenschaft ward lange Zeit nicht als ein mil-
dernder, eher als ein erschwerender Umstand bei sittlichen Ver-
fehlungen betrachtet. Erst Fichte hat in die wissenschaft-
liche Sittenlehre die beiden Forderungen aufgenommen: unter
keinen Umständen der eigenen Überzeugung zuwiderzuhandeln,
und keine Ehe zu schließen, es sei denn aus Liebe. Fragen wir nun,
woher uns diese „sittliche Forderung" kommt, so muss, glaube
ich, die Antwort lauten: es handelt sich hier im wesentlichen
um den ritterlichen Typus des Edelmannes, wie er sich in den
Augen des Bürgers gespiegelt, gesteigert und verallgemeinert
hat. Die „Würde der Persönlichkeit" ist das, von der Bour-
geoisie idealisierte und demokratisierte Standesbewußtsein des
Adels. Der Edelmann war in der Lage, seiner eigenen Ge-
sinnung und seiner eigenen Neigung nachzuleben. Er tat es,
ohne darin etwas anderes als das Vorrecht seines Standes, ohne
darin insbesondere etwas moralisch Relevantes zu sehen. Der
Bürger, sowie er überhaupt den sozialen Begriff des Adeligen
zum ethischen Begriff des Edlen verklärte, idealisierte auch
den Begriff des Standesgemäßen und gestaltete daraus den
des Menschenwürdigen. Denn indem er sich in die Denk-
und Gefühlweise der Aristokratie hineinlebte, akzeptierte er
innerlich ihren Habitus; aber da dieser für ihn nicht mehr der
Gomperz, Lebensauffassung 3
34
ZWEITE VORLESUNG
seines Standes war, mußte er ihm als der einzig richtige für
den Menschen überhaupt erscheinen. Und da auf diese Weise
aus einer tatsächlichen Prärogative ein sittliches Postu-
lat geworden war, so fielen von diesem alle jene Einschrän-
kungen ab, die dort die praktischen Verhältnisse mit sich ge-
bracht hatten: es wurde der Begriff der Würde inhaltlich
gesteigert, und erhielt als ideale Forderung einen weit um-
fassenderen und unbedingteren Inhalt, den er als Standes-
bewußtsein jemals gehabt hatte.
Etwas ähnliches nun scheint auch in Griechenland sich zu-
getragen zu haben. Der Hellene fühlte sich als Freien im Gegen-
satze zum Sklaven. Er war als solcher unabhängigervom Schick-
sal, er brauchte weniger zu fürchten und zu hoffen; denn er ge-
noß die Sicherheit eigenen Besitzes, und er erkannte neben den
Göttern keinen Herrn über sich. Gilt dies aber auch einiger-
maßen vom Freien im allgemeinen, so natürlich vom Patrizier
in erhöhtem Maße. Sich abhängig vom Schicksal, sich besorgt
um materiellen Gewinn zu zeigen, galt deshalb als sklavenmäßig;
Erhabenheit über diese Sorgen und Interessen als das dem freien
Manne, und insbesondere dem Freien kat' exochen, dem Ade-
ligen, anständige Verhalten. Nicht anders, wie auch bei uns
Kleinlichkeit in Geldsachen deshalb dem „guten Ton" wider-
spricht, weil sie einst die Zugehörigkeit zu einem niederen Stand
verriet. (In der Demokratie will jeder Mensch als „nobel" gel-
ten.) Aber was wir nur als „krämerhaft" empfinden, empfand
der Hellene als „Sklavenart". Zeigt doch noch das lateinische
Wort Liberalität in seiner Ableitung von liber (frei), und
nicht anders das entsprechende griechische Wort1, wie vom
freien Manne vorausgesetzt wird, er müsse zu reichlichen Aus-
gaben fähig und geneigt sein.
Indem nun dieser Typus des freien Mannes von den plebeji-
schen Philosophen als allgemein menschliches Ideal übernom-
men und dementsprechend ausgestaltet wurde, entstand das
ethische Ideal der inneren Freiheit.
*) eXeuGepiöxr]«;.
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 35
Jetzt wird von jedem Menschen verlangt, daß er vom Schick-
sal absolut unabhängig, und über jedes materielle Interesse
erhaben sei. Es wird gefordert, daß der Mensch ebenso über
allen Erlebnissen stehe, in seiner Emanzipation von allem
Äußeren in derselben Weise allen Wendungen des Schicksales
als den Wendungen eines Spieles gegenüberstehe, wie dies der
„Freie", der Reiche den alltäglichen Wechselfällen des Lebens
gegenüber stets getan hatte, weil er es hatte tun können. Denn
mit den faktischen sind auch die idealen Grenzen der Forde-
rung fortgefallen. Und nun heißt, wer dieser idealen Forderung
entspricht, ein Freier, wer gegen sie verstößt, ein Knecht, auch
wenn dieser auf dem Königsthrone sitzt, jener auf dem Sklaven-
markte zum Verkaufe ausgeboten wird. Ungezählte Male hören
wir in diesem Sinne denjenigen, der den ethischen Ansprüchen
nicht genügt, einen Sklaven schelten; aber nicht jene bildliche
Analogie zwischen der Abhängigkeit von den eigenen Begierden
und der Abhängigkeit von einem Herrn ist der letzte Grund
dieser Gleichsetzung, sondern vielmehr die Tatsache, daß jede
Abhängigkeit und Beschränktheit als sklavenmäßig, jede Un-
abhängigkeit und Unbeschränktheit als Freienart empfunden
wurde.
Sie haben, geehrte Zuhörer, vielleicht die Empfindung, daß
der Gedanke der inneren Freiheit durch die Aufzeigung dieser
seiner historisch-sozialen Bedingtheit einigermaßen entwertet
wird. Es mag am Platze sein, mit ein paar Worten dieser Mei-
nung entgegenzutreten.
Jede menschliche Denk- und Gefühlsweise muß irgendwie
nach psychologischen Gesetzen entstanden sein. Der Hinweis
auf diese Entstehung wird keinem Verständigen bei Fragen der
Überzeugung als ein Gegenargument erscheinen. Sowie eine
theoretische Weltanschauung, wenn sie sich nur als äußerlich
erfahrungsgemäß und innerlich widerspruchslos erweist, da-
durch nichts von ihrem Geltungsanspruch verliert, daß Art und
Weise ihres geschichtlichen Werdens nachzuweisen sind, so
kann auch einer praktischen Lebensauffassung aus der Darlegung
3*
36
ZWEITE VORLESUNG
ihrer historischen Entwicklung kein ungünstiges Vorurteil er-
wachsen. Wenn wir trotzdem so empfinden, als müßte eine end-
gültige Anschauungs- oder Wertungsweise auch fertig und un-
bedingt, losgelöst aus jedem empirischen Zusammenhange unter
uns erscheinen, so kann diese Neigung wohl nur als eine ver-
spätete Nachwirkung von Offenbarungsvorstellungen verstanden
werden. Denn nur im Rahmen eines positiv-dogmatischen Welt-
bildes könnte ein derart unbedingtes Auftreten einer absoluten
Wahrheit erwartet werden. Dazu kommt in unserem Falle, daß
die Ausbreitung einer Denk- oder Gefühlsweise von einem klei-
neren auf einen größeren Kreis, und ebenso ihre allmähliche
Verallgemeinerung und Verfeinerung als die gewöhnlichste und
natürlichste Form geistiger Entwicklung gelten muß. Jeder
neue Gedanke und ebenso jeder neue Wert erscheint zunächst
in subjektiver Bedingtheit und sozialer Beschränktheit, um beide
erst allmählich abzustreifen. Wenn niemand die Analyse der
psychophysischen Systeme „Martin Luther" oder „Karl Marx"
als Argument gegen Protestantismus oder Sozialdemokratie be-
nutzen wird, und wenn ebensowenig irgendwer gegen die Idee
des konstitutionellen Königtums anführen wird, daß sie aus dem
Standesinteresse englischer und sizilischer Barone geboren
wurde, so muß dieselbe Vergünstigung offenbar auch dem ethi-
schen Ideal der griechischen Philosophen zugebilligt werden.
Doch es ist Zeit, von diesen allgemeinen Erwägungen zu kon-
kreteren Darlegungen überzugehen. Und zwar denke ich,
es wird zweckmäßig sein, Sie zunächst über den Entwicklungs-
gang der philosophischen Ethik der Alten vorgreifend in den
allgemeinsten Umrissen zu orientieren. Indem ich mich auf
diese Aufgabe einschränke und jene philosophischen Erschei-
nungen, die mit der Ethik nicht unmittelbar zusammenhängen,
beiseite lasse, lenke ich sofort Ihre Aufmerksamkeit auf eine
knappe schematische Tabelle, und erläutere dieselbe durch die
allernotwendigsten Bemerkungen.
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 37
Griechische Ethik
Pythagoras
Heraklit
Empedokles Anaxagoras Demokrit
Sophisten
Sokrates
Kyniker Kyrenaiker TMegariker"] Akademiker Xenophon->
(Anti- (Aristipp) [_ (Euklid) J (Piaton)
sthenes)
I I
Stoiker Epikureer Skeptiker / Peripatetiker
(Zenon) (Epikur) (Pyrrhon) / (Aristoteles)
Neuplatoniker
(Plotin)
Sie ersehen aus dieser Tabelle zunächst, daß ich die beiden
Strömungen, welche die eigentlich philosophische Ethik ein-
rahmen, verschieden behandeln mußte. Die Ethik des Maßes,
der Harmonie, der Selbstbeherrschung hat keinen besonderen
Namen: sie tritt uns bei zahlreichen nicht-philosophischen Auto-
ren entgegen; wir kennen sie aus den Schriften der älteren Phi-
losophen als die herrschende gemeine Meinung; wir sehen,
daß die philosophische Ethik bei Demokrit, bei Xenophon,
38
ZWEITE VORLESUNG
bei Aristoteles sich beinahe in sie auflöst; aber einen beson-
deren, schulmäßigen Bestand hat sie niemals gehabt. Dagegen
waren es die orphisch-pythagoreischen Mysterien, d. h.
Kulte, die ihren Ursprung auf den mythischen Sänger Orpheus
zurückführten, und mit der Lehre des Pythagoras in Verbin-
dung traten, die viele Jahrhunderte lang das Ideal der Heiligkeit
bewahrt und gepflegt haben.
Sie sehen ferner, daß sich die ganze Entwicklung der griechi-
schen Ethik in vier Perioden teilen läßt.
Die erste reicht vom sechsten bis gegen den Ausgang des
fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Sie kann als die Periode
der Vorläufer bezeichnet werden. Wir finden in ihr einer-
seits mehr oder weniger aphoristische Bemerkungen ethischen
Inhalts, andererseits Ansätze zu einer allgemeineren, ethisch-
politischen Spekulation: jenes bei Pythagoras, Empedokles,
Heraklit,Anaxagoras,Demokrit, dieses bei den sogenann-
ten Sophisten.
Die zweite Periode ist die Blütezeit ethischen Denkens.
Sie umfaßt das Wirken des Sokrates und die sieben großen
Systeme der Sokratiker. Diese lassen sich im wesentlichen in
zwei Gruppen einordnen, die einem Unterschiede der Genera-
tionen entsprechen. Die zweite Gruppe zählt vier Systeme,
deren jedes sich an ein System der ersten Gruppe besonders
enge anschließt. Auf Piaton und seine Schule, die Akademie,
folgt Aristoteles und sein Anhang, der Peripatos. Auf Anti-
sthenes und die Kyniker folgt Zenon und die Stoa. Auf Ari-
stipp und die kyrenaische Schule folgt Epikur. Und in dem-
selben Sinne könnte man vielleicht sagen, daß auf Euklid und
die Megariker Pyrrhon und die Skeptiker gefolgt seien, wenn
uns nicht über die Ethik des Euklid sowenig bekannt wäre,
daß deren Darstellung unmöglich wird. Diese sieben Systeme
sind bald nach dem Jahre 300 v. Chr. im großen und ganzen
fertig.
Es folgt die dritte Periode, die wir etwa bis ins erste Jahr-
hundert v. Chr. rechnen können. Nennen wir sie kurz: die
DIE LEBENSAUFFASSUNG DER GRIECHEN 39
Periode der Epigonen. Die kynische und die kyrenaische
Richtung erlöschen. Die peripatetische tritt an Bedeutung zurück.
Die Skeptiker setzen sich in den Besitz der platonischen Lehr-
anstalt, um unter Arkesilaos und Karneades (als „zweite und
dritte Akademie") zu blühen, bis unter dem Einflüsse stoischer
Lehren erst durch Philon v. Larissa, dann durch Antiochos
v. Askalon („vierte und fünfte Akademie") ein reformierter
Piatonismus zur Herrschaft gelangt, den man mit mehr oder
weniger Recht als Eklektizismus bezeichnet, was eine vermittelnde
Anlehnung an die übrigen Schulen bedeuten soll. Die Lehre der
Stoa wird zunächst durch Chrysipp scholastisch ausgebaut und
abgeschlossen, und später bringt die „mittlere Stoa" in Panai-
t i o s und Poseidonios zwei bekannte Gelehrte hervor. Endlich
entstehen, in wahrhaft eklektischer Anlehnung an Antiochos
und die Stoa, die Kompilationen des Cicero.
Die vierte Periode bedeutet den endgültigen Sieg der or-
phisch-pythagoreischen Unterströmung. Während der
Epikureismus in seiner starren Unwandelbarkeit verharrt, die
Skepsis eine nicht unwichtige Neubelebung erfährt, und nament-
lich die sogenannte „jüngere Stoa" in Seneca, Epiktet und
Kaiser MarcAurel eine bedeutsame Nachblüte hervorbringt, er-
hebt sich, als neues Element, zunächst in noch nicht völlig auf-
geklärterWeise derNeupythagoreismus. Er erhält einenBundes-
genossen in der jüdisch-griechischen Spekulation des Philon
von Alexandrien, und einen zweiten in dem wiederauflebenden
Studium des Piaton (Plutarch), und so bereitet sich der Ab-
schluß der antiken Philosophie vor: das System des Neuplato-
n i s m u s , das, von P 1 o t i n zu Anfang des dritten nachchristlichen
Jahrhunderts begründet, von Porphyrios und Jamblichos,
später von Proklos weiter ausgestaltet, das ganze nichtchrist-
liche Denken in sich aufnimmt, und sich erhält, bis im Jahre
529 n. Chr. Kaiser Justinian die letzte Philosophenschule, die
Akademie zu Athen, schließt und auflöst.
Es würde dem Zwecke dieser Vorlesungen nicht entsprechen,
wollte ich Ihnen im folgenden eine gleichmäßige Darstellung
40
ZWEITE VORLESUNG
dieser ganzen Entwicklung geben. Auf die vorsokratische Zeit
werden wir nur zu Anfang einen flüchtigen Blick werfen; ebenso
zum Schlüsse auf die Periode der Epigonen. Die vierte Periode
wird unsere Aufmerksamkeit nur insofern fesseln, als einerseits
die Schriften der jüngeren Stoa die Gedanken dieser Schule
in mancher Beziehung voller und klarer zum Ausdrucke bringen
(wenigstens für uns, denen die Werke der Schulgründer nur
bruchstückweise erhalten sind), und als andererseits auch noch
der Neuplatonismus den gemeinsamen Grundgedanken der an-
tiken Ethiker von einer besonderen und wertvollen Seite dar-
stellt. Unser Hauptinteresse aber wird sich auf die zweite
Periode konzentrieren. An der Persönlichkeit des Sokrates,
und zum Teil auch an der seiner unmittelbaren und mittelbaren
Schüler, vor allem an Aristipp und Diogenes werden wir das
Ideal der inneren Freiheit studieren, und gleichzeitig sehen, wie
ihrer aller Lehren nur verschiedene Brechungen des einen
Lichtes, verschiedene Wege zu dem einen Ziele sind. Und wenn
ich Ihnen diese Lehren so darlegen und jene Männer so dar-
stellen kann, wie ich möchte, dann, hoffe ich, werden Sie zum
Schlüsse geneigt sein, zwei Aussprüche sich anzueignen, die
Lukian1 von dem späten Kyniker Demonax berichtet, und die
man diesen Vorlesungen als Motto vorsetzen könnte — von
jenem Demonax, der wohl als „Eklektiker" gilt, dessen Eklek-
tizismus aber in der ebenso seltenen als wertvollen Gabe be-
stand, hinter aller Verschiedenheit der Worte die Einheit der
Gesinnung hervorzuspüren. Von ihm nämlich wird uns erzählt:
„Als ihn einer fragte, welches ihm die richtige Begriffsbestim-
mung des Glückes zu sein scheine, sagte er: Glücklich ist allein
der Freie .... Damit meine ich aber den, der nichts hofft und
nichts fürchtet." Und „als er einst gefragt wurde, welcher von
den Philosophen ihm gefiele, sagte er: Alle sind sie erstaunlich;
ich aber verehre Sokrates, bewundere Diogenes und liebe
Aristipp."
i) Demonax 20 (p. 383) und 62 (p. 394).
EINLEITUNG IN DIE SOKRATISCHE
LEBENSAUFFASSUNG
DRITTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
filllll
IR haben das letztemal die geschichtlichen
und gesellschaftlichen Bedingungen kennen
gelernt, unter denen die philosophische
Ethik der Griechen erwachsen ist, und wir
haben uns über deren Entwicklung eine all-
gemeinste Übersicht zu verschaffen gesucht.
Es ist nunmehr an der Zeit, ins einzelne zu
gehen. Und da genügt denn für unseren Zweck weniges zur
Charakterisierung der vorsokratischen Denker.
Von Pythagoras wissen wir, wie überhaupt, so auch hin-
sichtlich seiner ethischen Ansichten so gut wie nichts. Fast der
einzige Satz, der uns in dieser Beziehung überliefert ist1, besagt,
die Tugend sei eine Harmonie. Dies könnte uns zu der Ver-
mutung führen, es liege hier eine erste wissenschaftliche For-
mulierung der patrizischen Lebensauffassung, der Ethik des
Maßes, vor. Und eine solche Vermutung könnte eine weitere
Stütze zu empfangen scheinen durch den Umstand, daß der
Pythagoreerbund in Unteritalien ein entschieden aristokrati-
sches Gepräge aufwies. Allein dieser Auffassung stehen unüber-
windliche Hindernisse entgegen: einmal die Tatsache, daß in
diesem Bunde zweifellos gewisse asketische Enthaltungen vor-
geschrieben waren; sodann die Erwägung, daß mit der pythago-
reischen Lehre von der Seelenwanderung, ebenso wie mit allen
1) Diog. Laert. VIII. 33.
42
DRITTE VORLESUNG
anderen Formen dieser Lehre, fast sicherlich eine Unterschei-
dung des jenseitigen Loses der Guten und Schlechten verbunden
war, was wiederum eine Betonung der Begriffe Schuld und Ver-
dienst voraussetzt; endlich das unbestrittene Faktum, daß die
pythagoreischen Mysterien mit den orphischen nahe Berüh-
rungspunkte hatten, und daß überhaupt der geschichtliche Ein-
fluß des Pythagoreismus, sowohl bei Pia ton als später im Neu-
pythagoreismus, sich ausschließlich auf Seiten der Heiligkeits-
ethik geltend macht.
In ungemein charakteristischer Gestalt wird diese orphisch-
pythagoreische Richtung des Empfindens und Denkens uns dar-
gestellt durch jene spärlichen Verse, die uns von dem „Sühne-
lied" des Empedokles erhalten sind: sie hat hier einen er-
staunlich folgerechten Intellekt und ein wunderbar mächtiges
Temperament in ihren Dienst gezwungen, und so ein Produkt
hervorgebracht, das durch den Glanz seiner Form und die
Leidenschaft seines Gehaltes auch denjenigen hinreißt und
erschüttert, den weder ihre dogmatischen Voraussetzungen,
noch das Ethos ihrer Lebensauffassung anzuziehen vermögen.
Gleich seine Auffassung der göttlichen Dinge zeigt uns den
Dichter als rechten Theologen. Damit meine ich nicht den
Inhalt seiner Götterlehre; denn wenn er gegen die anthropo-
morphen Auffassungen des Göttlichen eifert, und von Gott
sagt 1 :
„Aber nicht schmückt ein Haupt denBau der menschlichen Glieder,
Noch auch eilen vom Rücken herab die paarigen Schwingen;
Hat weder Fuß noch bewegliche Kniee, kein zottiges Schamglied:
— Heiliger, unaussprechlicher Geist, das ist er in Wahrheit,
Der das Ganze der Welt durchstürmt mit raschen Gedanken",
— so ist dies weder in unserem Sinne charakteristisch noch ori-
ginell, sondern kaum mehr als eine Wiederholung der ähnlichen
Gedanken des alten Xenophanes3. Umso beachtenswerter
aber ist die Art, wie er von diesen Dingen redet2:
*) Frg. 134 (Diels). 2) Frg. 132. 3) Denn dieser hatte lange vorher schon
dem Gedanken, wie thöricht es sei, wenn der Mensch die Gottheit gerade
VORSOKRATIKER
43
„Selig, wer einen Schatz sich von göttlichem Wissen gesammelt;
Elend, wem über die Götter nur dunkle Vermutung zuteil ward" —
in diesen Versen spricht sich in größter Konzentration die große
Fälschung aus, die zu allen Zeiten die Theologie an der Religion
verübt hat: die grundverkehrte Annahme nämlich, als wäre es
ernstlich möglich, daß der Wert und das Schicksal eines Men-
schen abhängen könnte von der zufälligen Beschaffenheit seiner
Meinungen über irgendwelche theoretische Fragen. Ganz
dieser Geistesart entspricht denn auch der Eifer, mit dem er
in seiner eigenen Gestalt vorstelle, die außerordentlich scharfe Wendung
(Frg. 15 Diels) gegeben:
„Aber wenn Hände die Rinder und Pferde und Löwen besäßen,
Und wie die Menschen zu malen und Werke zu bilden verstünden,
Alsdann würden die Pferde den Pferden, die Rinder den Rindern
Ahnliche Götter-Gestalten und -Leiber malen und bilden,
Ganz nach der eigenen Form, wie ein jegliches selber beschaffen."
Vielmehr (Frg. 23) ist:
„Ein Gott, unter den Göttern und unter den Menschen der höchste,
Nicht an Gestalt den Sterblichen ähnlich, und nicht an Gesinnung."
Und von diesem heißt es (Frg. 26) ganz wie bei Empedokles:
„Immer bleibt er am selbigen Ort, niemals sich bewegend,
Denn es geziemt ihm nicht, sich von hier nach dort zu begeben,"
sondern (Frg. 25):
„Mühlos, nur durch die Kraft seines Geists, vollendet er Alles."
Auch den folgenden Chorgesang aus den „Schutzflehenden" des Aischy-
los (Suppl. v. 78) mag man hiezu vergleichen:
„Alles wende zum Guten ein Gott!
Aber die Plane des Zeus
Sind nicht leicht zu erspähen:
Dicht verwachsen dem Blick,
Tiefbeschattet sind die
Unaussprechlichen Herzenspfade.
Aber fest, ohne Schwanken und Fall'n,
Steht, was zur Tat durch des Zeus
Werdewort sich vollendet:
Allwärts flammt es empor
Vor der Menschen Blicken,
Selbst im Dunkel des blinden Schick-
sals.
Er stößt den Frevler von der Hoffnung hoch
Ragendem Turm hinab;
Doch nie wappnet er mit Kraft sich:
Mühelos ist m göttliches Tun.
Gleichsam im Äther thront sein Geist:
Was er vollbringt, das wirket er
Nieder aus Himmelshöhen."
44
DRITTE VORLESUNG
die religiöse Erkenntnis allem Erfahrungswissen entgegensetzt,
indem er von der Gottheit sagt, sie sei1
„Unnahbar: wir können sie nicht mit den Augen erreichen,
Oder mit Händen fassen; und dies nur wäre der breite
Fahrweg, den die Gewißheit ins Herz der Menschen zu ziehn pflegt. "
Und der rechte theologische Dogmatiker redet zu uns aus den
prächtigen Versen2:
„Freunde, ich zweifle nicht: den Worten, die ich verkünde,
Wohnet die Wahrheit ein ; doch beschwerlich dünkt es die Menschen,
Dringet je an ihr Herz des Glaubens stürmischer Anprall."
Wohlbekannte Stimmungsbrücken führen von hier aus hin-
über zu dem Gedanken an ein göttliches Sittengesetz3:
„Aber das Weltengesetz erstreckt durch die Weite des Äthers
Sich als ein lückenloses Gerüst im unendlichen Lichtglanz";
und von hier ist nur noch ein Schritt zu dem Begriffspaar Ver-
sündigung und Entsühnung; dieses aber bezeichnet die Stelle, an
der das Pathos der empedokleischen Lebensauffassung zuerst
mit voller Wucht hervorbricht. Denn von schwerer Schuld
fühlt sich der Dichter belastet, und als eine ebenso schwere,
dieser Schuld angemessene Strafe erscheint ihm sein irdisches
Leben. Denn4:
„Dies ist der Spruch des Schicksals, ein unvergänglicher, alter
Götterbeschluß, drauf breit das Siegel des Eides gedrückt ist :
Wer (von den Geistern, die langdauerndes Leben erlosten)
Sich versündigt, mit Mord die eigenen Glieder befleckend,
Oder im Zwist sich vergeht, meineidige Rede beschwörend;
Irrt dreimal zehntausend Jahre, den Seligen ferne,
Wird geboren in allen Gestalten sterblicher Wesen,
Wechselnd im Laufe der Zeit die unleidlichen Stätten des Lebens.
Denn ihn jagt der Äther ins Meer, das Meer aber speit ihn
Aus ans Land, doch die Erde empor in den Lichtglanz der Sonne,
Die aber schleudert ihn wieder zurück in die Wirbel des Äthers:
So ist bei jedem zu Gast er, und ist doch allen zum Abscheu.
Solch ein Geist bin auch ich nun, ein gottfern irrender Flüchtling,
Da ich dem rasenden Zwiste vertraut."
1) Frg. 133. 2) Frg. 114. 3) Frg. 135. 4) Frg. 115.
VORSOKRATIKER
45
Als Sündenfall aber empfindet er, mit der ganzen Heiligkeits-
ethik, die irdische Geburt, und schmerzvoll ruft er aus1:
„Oh, aus welcher Höhe, aus welcher Seligkeitsfülle
Stürzt' ich zur Erde herab, hier unter den Menschen zu wandeln!*
— weshalb er denn auch gleich als neugeborenes Kind den2:
„Unvertrauten Ort mit Weinen und Jammern begrüßte",
die Erde nämlich3:
„die unerfreuliche Stätte,
Wo der Mord und der Groll und die Scharen der anderen Keren,
Dörrendes Siechtum, Verwesung und andere Werke des Todes
Auf der Verblendungsheide in Dunkelheit sich bewegen."
„Weh4 über dich, elendes Geschlecht unseliger Menschen,
Die ihr aus solchem Hader und solchem Jammer entstandet."
„Darum5 wahrlich: solang ihr in schweren Sünden euch wälzet,
Werdet ihr nie von dem schrecklichen Weh das Gemüt euch er-
leichtern."
Worin aber bestehen denn nun im Grunde diese „schweren
Sünden?" Hierüber hat Empedokles seine eigene, uns zu-
nächst höchst barock anmutende Meinung, die uns zugleich die
eigentliche Dogmatik des Theologen erschließt. Die Fleisch-
nahrung nämlich ist es, die uns immerfort ohne unser Ver-
muten mit schwerster Blutschuld belädt, da den getöteten Tieren
menschliche Seelen einwohnen, die auf ihrer Wanderung nach
dem Tode dahin gelangten. Denn diese Seelen führt eine Gott-
heit6:
„Sie umkleidend mit dem Gewand fremdartiger Leiber."
Dabei nehmen sie alle möglichen Lebensformen an, so z. B.
werden gewisse unter ihnen7:
„Unter den Tieren zum bodenschläfigen Löwen der Berge,
Oder zum Lorbeer unter den wohlbefiederten Bäumen."
So ist es ja auch unserem Dichter ergangen, der von sich
selbst erzählt8:
*) Frg. 119. 2) Frg. 118. 3) Frg. 121. *) Frg. 124. 5) Frg. 145. 6) Frg. 126.
7) Frg. 127. 8) Frg. 117.
46
DRITTE VORLESUNG
„Einst war Knabe ich schon und Mädchen, war Strauch und war
Vogel,
War auch der stumme Fisch, der aus den Fluten emportaucht."
Dadurch aber geschieht es, daß uns fortwährend unerkannt,
in Tiergestalt, unsere Nächsten umgeben, und Bilder des Ent-
setzens enthüllen sich der Phantasie des Dichters, die hier förm-
lich in Grauen schwelgt1:
„Aber in fremder Gestalt — und er betet noch in seiner Torheit —
Schlachtet der Vater den eigenen Sohn; doch es stürzen die Opfer
Winselnd zum Opferer hin; doch er, taub gegen ihr Schreien,
Schlachtet sie doch, und bereitet im Haus sich die gräßliche Mahlzeit.
Ebenso greifen: der Sohn den Vater, die Kinder die Mutter,
Reißen das Herz ihr heraus, und verzehren die teueren Glieder."
Hier ist ein Punkt, wo die Exaltation des Moralreformers
kaum noch zu unterscheiden ist von der Monomanie des Geistes-
kranken. Und der Dichter fährt fort2:
„O, daß nicht vorher schon ein grausamer Tag mich vernichtet,
Eh' ich den Frevel des Fraßes mit meinen Lippen vollführte!"
Aber wie ihm, so geht es allen. Und er ruft ihnen zu3:
„Laßt ihr nicht ab vom kreischenden Morden? Seht ihr denn noch
nicht,
Wie ihr einander zerfleischt im Leichtsinn eures Gemütes?"
Allein — und hier wird das superstitiöse Element des ganzen
Gedankenganges so kraß, daß wir uns mitten in der Erschütte-
rung eines Lächelns kaum enthalten können — nicht nur Tiere,
auch manche Pflanzen bergen ja solche Gefahren. Darum er-
geht die Warnung4:
„Elende, ganz elende, berühret nimmer die Bohnen!"
„Und5 enthaltet euch gänzlich der heiligen Blätter des Lorbeers!"
Diese Lage der Menschheit aber verkündet der Dichter nicht
aus eigener Einsicht, sondern ein anderer hat sie erkannt, der
große Pythagoras. Ihn preist er deshalb aus vollstem Herzen 6 :
„Damals lebte ein Mann von überschwenglichem Wissen,
Der sich erworben hatte den größten Reichtum des Geistes,
i) Frg. 137. 2) Frg. 139. 3) Frg. 136. 4) Frg. 141. 5) Frg. 140. 6) Frg. 129.
VORSOKRATIKER
47
Und vor Allen ein Meister in jeder Weisheit und Kunst war.
Denn, sobald er nur mit all seinen Sinnen sich regte,
Da erkannt* er von allen Dingen ein jegliches leichtlich,
Selbst in die Ferne, auf zehn oder zwanzig Geschlechter der
Menschen."
Dieser also hat die ungeheure Verschuldung erkannt und
auch den Weg der Entsühnung gewiesen. Denn nichts anderes
tut not, als abzulassen vom Morden. Dann wird auch den Seelen
in ihren späteren irdischen Verkörperungen ein besseres Los
fallen. Stufenweise werden sie sich reinigen und erheben1:
„Endlich aber werden den erdbewohnenden Menschen
Sie zu Sehern und Hymnensängern und Ärzten und Fürsten,
Sprießen dann zu Göttern empor, und schwelgen in Ehren."
„Haus- und Tischgenossen2 der andern Unsterblichen sind sie
Ledig des menschlichen Wehs, dem sie für immer entronnen."
— bezeichnend genug, wie der Zauberpriester auf der einen
Seite die höchste Stufe der Menschheit darstellt, und auf der
anderen selbst schon den Keim der Gottheit in sich trägt! An
diesem Grenzpunkte meint nun der Dichter für seine Person
schon zu stehen. Denn weit emporzuragen über das gemeine
Menschenmaß ist für einen solchen Wundermann etwas Selbst-
verständliches, ja Geringes 3 :
„Doch, was rühm' ich mich deß, als wär's was besonderes, daß ich
Mehr bin als die, demVerderben geweihten, sterblichen Menschen? "
Und also redet er deshalb seine Freunde an, die in Agrigent,
seiner Heimat, wohnen4:
„An des lichten Akragas Ufer, am Fuße des Burgbergs,
In der gewaltigen Stadt, um treffliche Werke sich mühend,
Aller Schlechtigkeit bar, der Fremden gastliche Zuflucht:
Freunde, ich grüß' euch, doch nicht mehr als Mensch; als unsterb-
liche Gottheit
Ehrt mich auf meinem Weg nach Verdienst die Schar der Begleiter:
Heilige Binden umwinden mein Haupt, und schwellende Kränze.
Zieh' ich mit diesem Gefolge nun ein in die blühenden Städte,
Da verehren mich Männer und Weiber ; aber es folgen
*) Frg. 146. 2) Frg. 147. 3) prg. n3. 4) Frg. 112.
48
DRITTE VORLESUNG
Auch Unzählige mir, den Weg des Heils zu erforschen :
Um Orakel befragen die einen mich, andere wieder
Um den heilenden Spruch für alle Arten von Krankheit;
Denn es zerwühlt sie allzulang schon schreckliches Siechtum."
Doch nicht nur für sich selbst, für die ganze Menschheit er-
hofft und verheißt er (wie sich's für den Theurgen gebührt) auf
diesem Wege die Erlösung: die Wiederkehr jener besseren
Zeiten, die einst schon die Menschen gesehen1:
„Jene kannten den Kriegsgott nicht, nicht den Gott des Getümmels,
Kannten nicht Zeus, den König, nicht Kronos und nicht Poseidon,
Sondern es herrschte Kypris allein (die Göttin der Liebe).
Diese stimmten sie gnädig mit wohlgefälligen Gaben,
Künstlich gefertigten Bildern und köstlich duftenden Salben;
Brachten lautere Myrrhe dar, und es qualmte der Weihrauch;
Schütteten auch zur Erde die Güsse goldigen Honigs.
Aber nie troff der Altar von der Stiere lauterem Mordblut,
Sondern dieses galt als der größte der Frevel den Menschen :
Auszutilgen ein Leben, und zuckende Glieder zu essen."
„Zahm2 war alles: Vögel und Tiere hingen den Menschen
Freundlich und traulich an, und es brannte die Flamme der Liebe."
Geehrte Zuhörer! Ich habe Sie lange genug bei dieser wunder-
lichen Erscheinung festgehalten, aber hoffentlich nicht zu lange.
Denn sie bringt uns alle Züge dessen lebendig nahe, was wir als
die orphische Lebensauffassung kennen gelernt haben und was
uns in seinen Wirkungen noch oft begegnen wird: bei Piaton,
bei den Neupythagoreern, bei Plotin. Alle charakteristischen
Momente dieser Richtung des griechischen (und nicht nur
griechischen) Empfindens sind hier beisammen: „Altruis-
mus" und „Gesetzesfurcht", Schuldbewußtsein und Entsüh-
nungsverlangen, asketische Enthaltung und krasse Superstition,
und zuletzt die Erlösung durch den priesterlichen „Seher und
Hymnensänger", den selbst schon halb göttlichen Theurgen.
All diese Elemente haben (in Hellas jedenfalls) ihre Verbin-
dung stets bewahrt; und es mag nützlich gewesen sein, diesen
1) Frg. 128. 2) Frg. 130.
VORSOKRATIKER
49
Gefühls- und Gedankenkreis gleich hier in einer seiner ältesten
und verhältnismäßig glücklichsten Verkörperungen uns einzu-
prägen.
Dagegen läßt sich zwar aus den ethischen Fragmenten des
Heraklit eine deutliche und zureichende Vorstellung von seiner
Lebensauffassung kaum gewinnen, immerhin aber tritt uns in
ihnen ein durchaus anderer Geist entgegen, und es scheint mir,
daß sich hier das erste Aufleuchten des Ideals der inneren Frei-
heit wenigstens ahnen läßt. Nicht darauf freilich ist Gewicht
zu legen, daß hier der Spielbegriff nicht ohne ethische Bedeut-
samkeit auftritt; denn die eine Äußerung1: „Die Welt ist ein
spielender, brettspielender Knabe" verliert viel von ihrer Be-
deutung durch die andere, erläuternde2: „Die schönste Welt-
ordnung ist wie ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehricht-
haufen."3 Auch wenn es heißt4: „Gut und schlecht ist das-
selbe", braucht darin noch nicht mehr zu liegen als ein Hin-
weis auf die Relativität aller Werte, und wir dürften hieraus
!) Frg. 52 (Di eis). 2) Frg. 124. 3) Immerhin mag es vielleicht auf diese
Anschauung einiges Licht werfen, wenn wir uns des in der ersten Vor-
lesung über das Spiel Gesagten erinnern, und sodann eine Parallelstelle
aus der indischen Gedankenwelt betrachten. In der „£ariraka-Mimansa"
des Badarayana nämlich stehen (Deussen, Die Sutra's des Vedanta,
S. 309 ff.) nacheinander die beiden folgenden Sätze: „Nicht, weil ein Be-
weggrund sein muß" und „Vielmehr, wie in der Erfahrung, ein bloßes
Spiel"; und diese erläutert der Kommentar des £ankara in folgender
Weise: Gegen die Lehre von der Schöpfung kann man einwenden, nehme
man an, daß Gott „zu diesem Unternehmen durch einen in ihm liegenden
Beweggrund getrieben worden sei, so widerspricht das der Allgenugsam-
keit . . .; soll hingegen kein Beweggrund vorhanden sein, so wird auch die
Tätigkeit unmöglich." Dagegen aber ist zu sagen: „Wie es ... in der Er-
fahrung vorkommt, daß einer, der alles hat, was er wünscht, ein König
oder . . . Minister, auch ohne einen besonderen Beweggrund sich zum
bloßen Spiele mit Scherz oder Lustwandeln beschäftigt, ... so mag auch
die Tätigkeit Gottes ohne irgend ein anderes Motiv von selbst und nur
zum Spiele statthaben. . . . Wenn übrigens für uns auch diese Anordnung
des Weltkreises als ein sehr schweres Unternehmen erscheint, so ist
dieselbe doch für den höchsten Gott nur ein bloßes Spiel, weil sein
Kraftvermögen unermesslich ist. . . ." 4) Frg. 58.
Gomperz, Lebensauffassung 4.
50
DRITTE VORLESUNG
allein nicht schließen, daß dem Ephesier eine Auffassung, die
in der Welt kein Übel sieht, als höher gegolten habe, denn eine
solche, für die alle Güter verschwinden. Dennoch ist dieses die
ausdrücklich bezeugte Lehre des Heraklit. Denn er sagt1:
„Für den Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Men-
schen aber halten das eine für recht, das andere für unrecht."
Damit stimmt der Ton überein, den er auf die Einheit des
Universums und auf die strenge Gesetzmäßigkeit alles Ge-
schehens legt; denn wir erinnern uns ja, daß die Auffassung der
Welt als eines einheitlichen Ganzen die erste Bedingung für
ihre Wunschbejahung ist — wie sie denn auch später mit der-
selben Abzweckung von den Stoikern wie von Spinoza her-
vorgehoben wurde. Aber auch diese Wunschbejahung selbst
hat er nicht nur gelehrt, sondern geradezu unter dem Namen
des Wohlgefallens2 für das höchste Gut erklärt3. Wenn es aber
nur von dem Menschen abhängt, auf solche Art sich selbst zu
erlösen, so ist er innerlich frei von jedem äußeren Schicksal;
und demgemäß hören wir4: „Der Charakter des Menschen ist
sein Schicksal." Diese Auffassung wird endlich dadurch er-
heblich befestigt, daß die Stoiker von Heraklit in ihrer theore-
tischen Weltanschauung so vielfach abhängig sind; denn dies
ist verständlicher, wenn sie auch in bezug auf deren praktische
Folgen bei ihm Anknüpfungspunkte fanden.
In eine viel spätere Zeit führt uns zunächst eine Nachricht,
die sich auf Anaxagoras bezieht. Und wenn wir ihr glauben
dürfen, so hat er zuerst das Ideal der inneren Freiheit geradezu
ausgesprochen, und zwar in einer Form, die, wie wir weiter-
hin sehen werden, erst sehr spät ihre folgerechte Ausbildung
erfahren hat. Er soll nämlich5 als das Ziel des Lebens bezeichnet
haben „die Kontemplation und die aus dieser entstehende Frei-
heit." Leider aber ist uns diese eine Äußerung ganz unzu-
sammenhängend überliefert.
Ganz anders steht es um die ethischen Fragmente des Demo-
krit. Trotz ihrer großen Zahl und ihrer Fülle von praktischer
i) Frg. 102. 2) eüapeCTr](Jic;. 3) a. 21 (Diels). 4) Frg. 119. A. 29 (Diels).
VORSOKRATIKER
51
Lebensweisheit geben auch sie kein durchaus zusammenhängen-
des Bild seiner Lebensauffassung und gehen vielfach nicht über
den Charakter des Gnomischen hinaus. Trotzdem lassen sich
drei wichtige Züge unterscheiden, die ich im folgenden unter
äußerster Beschränkung in der Auswahl des Mitzuteilenden
darstelle und belege. Erstens steht Demokrit der Ethik des
Maßes sehr nahe: die Beschränkung der Begierde wird ge-
priesen, jedes Übermaß verpönt. Die verständige Selbstbeherr-
schung macht uns vom Schicksal in hohem Grade unabhängig:
„Die Menschen", sagt er1, „haben die Gestalt des Schicksals ge-
bildet als Ausrede für ihre eigene Unentschlossenheit. Denn nur
schwach kämpft das Schicksal gegen die Einsicht an; das Meiste
im Leben aber vermag eine verständige Scharfsichtigkeit einzu-
richten." Und ebendahin gehört die herkömmliche Schätzung des
Staatswesens2: „Eine wohlgeleitete Stadt ist das, was am aller-
meisten recht ist; in ihr ist alles enthalten; ist sie heil, ist
alles heil; geht sie zugrunde, geht alles zugrunde." An solchen
Stellen scheint es, als werde, im Sinne der gemeinen Meinung,
dem Schicksal immer noch ein gewisser Einfluß auf das Glück
der Menschen eingeräumt; aber andere Äußerungen kommen
wieder der Lehre von der Selbstgenügsamkeit der „Tugend"
nahe. „Die Götter", heißt es3, „geben den Menschen alles gute,
wie einst so jetzt — nur das nicht, was schlecht und schäd-
lich und unnütz ist. Denn dieses schenken die Götter den Men-
schen weder einst noch jetzt, sondern sie selbst gelangen dazu
durch Geistesblindheit und Unverstand."4 Liegt nun hierin eine
weitgehende Obereinstimmung mit dem, was wir als die Grund-
stimmung des Sokrates kennen lernen werden, so geht die
Annäherung an einer anderen Stelle fort bis zur auffälligsten
Berührung mit jenem wichtigsten Stück der sokratischen Lehre,
das, wie sich uns zeigen wird, eben die intellektualistische Um-
i) Frg. 119 (Diels). Vgl. Frg. 176. 2) Frg. 252. 3) Frg. 175. 4) Vgl. Koran, Sure
4, Vers 81: „Was immer gutes dir widerfährt, ist von Allah, und was
immer Böses dir widerfährt, ist von dir selber." (Übersetzung von Henning,
5. 111.)
4*
52 DRITTE VORLESUNG
Schreibung jener Grundstimmung ist, und wir hören 1 : „Die Ur-
sache der Verfehlung ist die Unkenntnis des Besseren." Endlich
kann nicht bezweifelt werden, daß Demokrit in theoretischer
Hinsicht Hedoniker war: „Das Maß des Zuträglichen und Unzu-
träglichen ist Freude und Freudlosigkeit",2 und3: „Das beste
für den Menschen ist, sein Leben hinzubringen in möglichst viel
Wohlgemutheit und möglichst wenig Schmerz." Aber diese
„Wohlgemutheit"4 ist nun nicht einfach Lust,5 „wie einige, sich
verhörend, ausgeführt haben, sondern ein Zustand, in dem die
Seele windstill und ruhig dahinlebt, von keiner Angst oder
Geisterfurcht oder sonstigen Leidenschaft beunruhigt." Also
nicht die von außen kommende, sondern die von innen ent-
springende Lust macht das Glück der inneren Freiheit aus, und
darum fügt er an jener Stelle6 hinzu: „Dies aber (nämlich in
möglichst viel Wohlgemutheit zu leben und in möglichst wenig
Schmerz) kann geschehen, wenn man nicht ans Vergängliche
seine Freuden heftet", und wir hören7, man solle „selbst aus
sich selbst die Freuden nehmen." Schon hier also hat die an-
tike Hedonik nicht, wie ein so großer Teil der modernen, die
Tendenz, den Menschen von der Außenwelt abhängig zu machen,
indem sie ihn seine Handlungen mit Rücksicht auf ihre lust-
oder leidvollen Folgen wählen heißt, sondern gerade umgekehrt
ist sie auf die Herstellung einer solchen Gemütslage abgezweckt,
welche ihm auch unter den schlimmsten äußeren Verhältnissen
einen Glücksüberschuß gewährleisten kann. Dieser selben
Orientierung der hedonischen Theorie werden wir später immer
wieder begegnen: nicht nur bei Ar i stipp, sondern auch noch
bei Epikur, dessen Lehre an die des Demokrit vielfach er-
innert, und dessen Anlehnung an diesen hinsichtlich der theo-
retischen Philosophie wohl ebenso durch ethische Gesichts-
punkte mit bestimmt worden sein wird, wie die der Stoiker an
Heraklit.
Die Stimmung, die uns in den Bruchstücken des Abderiten
1) Frg. 83. 2) Frg. 188. Vgl. Frg. 4. 3) Frg. 189. *) eSeüJIfirJ! 5) Diog. Laert. IX.
45 (A. 1. Diels). 6) Frg. 189. 7) Frg. 146. Vgl. Frg. 37, 170, 171,40, 172,235.
VORSOKRATIKER
53
entgegentritt, darf uns, wenn wir uns ihre verschiedenen Spitzen
abgeschliffen denken, zugleich als die in jener Zeit, in der
zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, herrschende Stimmung
in sittlichen Dingen gelten. Daß man sich klug, anständig und
würdig betragen, und in Krieg und Frieden als guten Bürger der
Stadt erweisen solle — dies wird so ziemlich das Um-und-auf
der damaligen Lebensweisheit gewesen sein. Es wird deshalb
auch insbesondere den Gegenstand jenes Moralunterrichtes
gebildet haben, der damals zuerst erteilt wurde. Die Männer,
von denen er ausging, hießen Sophisten. Die Bedeutung des
spitzfindigen Trugschlußdrechslers, die diesem Namen heute
anhaftet und schon bald nach jener Zeit sich an ihn heftete, war
ihm damals fremd. Das Wort bezeichnet nur einen „Weis-
heitler"— wir würden sagen :einen„Denker",einen„Studiertenft.
Und in jenem Zeitalter verstand man unter einem Sophisten
einen enzyklopädischen Wanderlehrer: einen Mann, der von
Stadt zu Stadt zog, und gegen Bezahlung alle jene Künste und
Wissenschaften lehrte, die dem begüterten jungen Manne in
seiner Privatwirtschaft wie besonders im öffentlichen Leben von
Nutzen sein konnten. Es war, was der Engländer „a liberal
education" nennt, aber natürlich in sehr bescheidenem Umfange:
Elemente der Kriegskunst, der Rechtswissenschaft und vor allem
der Redekunst werden ihren Grundstock ausgemacht haben.
In der einen oder anderen Form hat sie aber auch Ansätze zu
moralischer Unterweisung enthalten. Stücke aus einer der-
artigen Lehrrede, die dem Sophisten Antiphon zugeschrieben
worden sind, sind uns erhalten: sie zeigen keine bemerkenswerte
Besonderheit. Eher könnte man eine solche bei Prodikos ver-
muten, doch gestattet hier die Dürftigkeit der Nachrichten kein
endgültiges Urteil. Ähnlich steht es mit dem ältesten und be-
rühmtesten aller Sophisten, mit Protagoras. Von ethischen
Unterweisungen des G o r g i a s und H i p p i a s ist uns kaum etwas
bekannt.
Von einer sophistischen Moral zu sprechen, geht unter diesen
Umständen nicht an. Die Sophisten vertraten das sittliche Be-
54
DRITTE VORLESUNG
wußtsein ihrer Zeit. Nun war diese Zeit freilich eine solche der
sogenannten „Aufklärung", eineZeit kritischer Prüfung, gähren-
der Reformbestrebungen, weitverbreiteten Rationalisierungs-
dranges. Und e i n Problem wenigstens ist damals viel, und auch
von sophistischer Seite verhandelt worden, von dem man eine
bedeutende Wirkung auf die Moralphilosophie erwarten könnte:
die Frage, ob die Kulturgüter (Sprache, Recht usw.) „von Natur"
oder „durch Satzung" entstanden seien, mit anderen Worten, ob
sie auf notwendigen Bedingungen der menschlichen Natur, oder
auf konventioneller Willkür beruhten. Allein, soweit uns die
Quellen unterrichten, ist dieses Problem gerade in bezug auf
die Moralität in jener Zeit gar nicht, und auch eine Generation
später nur gelegentlich erörtert worden, und zwar, wie es
scheint, keineswegs von sophistischer Seite. Denn von den
beiden Männern, denen Piaton die Ansicht zuschreibt, die
moralischen Regeln seien Vorurteile, welche der Jugend im
Interesse der bestehenden Machtverhältnisse eingepflanz
würden, und deren sich die maßgebenden Kreise zu diesem
Zwecke bedienten, ist Kallikles nichts weniger als ein Sophist,
vielmehr ein grimmiger Sophistenhasser; von Thrasymachos
aber ist uns anderweitig1 eine Äußerung überliefert, die eine
ganz andersartige Wertschätzung der Moralbegriffe voraussetzt.
Demnach wird es auch kaum angehen, wenn Aristoteles
den „Alten" jene Ansicht ganz allgemein zuschreibt2, dies
gerade auf die hier in Frage kommende Sophistengruppe zu
beziehen.
Wenn trotz dieser Sachlage die Sophisten schon zu ihrer Zeit
als eine die traditionelle Sittlichkeit auflockernde Potenz em-
pfunden wurden, wie dies die Angriffe des Aristophanes be-
weisen, und wenn wenige Jahrzehnte später Pia ton nicht genug
Eifer daran wenden kann, die sokratische Ethik der sophistischen
*) Frg. 8 (Diels). Man vgl. doch auch Frg. 1 u. 6, die zwar sachlich nichts
beweisen, aber doch zu dem Bilde, das Piaton im „Staat" entwirft, be-
sonders schlecht stimmen, und die Vermutung bestärken, hinter dem
Sophisten verberge sich hier irgend eine zeitgenössische Figur. 2) Soph.
el. 12, p. 173a 7.
VORSOKRATIKER
55
entgegenzusetzen, so hat das verschiedene Gründe. Zunächst
ist es eine altbewährte Methode, eine beliebigen Motiven ent-
quellende Antipathie gegen irgend eine Richtung durch Angriffe
auf deren angeblich unmoralische Tendenzen zu stützen. Die
Sophisten aber, als die ersten berufsmäßigen Vertreter der
„Wissenschaft" waren die natürlichen Gegenstände jener wenig
freundlichen Empfindungen, mit denen der „gesunde Menschen-
verstand" zu allen Zeiten auf dasjenige reagiert hat, was ihm
alsunfruchtbareZeitverschwendungundanspruchsvolleNichtig-
keit erscheint. Die „Wolken" des Aristophanes sind, einem
großen Teile ihres Inhaltes nach, in diesem Sinne die erste Satire
auf den spezifisch wissenschaftlichen Geist, und ihrer Tendenz
nach von den entsprechenden Partien in Swifts „Gulliver"
(Laputa) wenig verschieden. Piaton andererseits hatte reich-
lich Beweggründe außersittlicher Art, die Sophisten mißgünstig
darzustellen: teils hatte er nochdieRivalität miterlebt, die (wenig-
stens im Bewußtsein vieler Zeitgenossen) zwischen ihnen und
seinem großen Lehrer geherrscht hatte; teils hat er sie in seinen
Gesprächen als Masken für mehrere seiner Mitschüler ver-
wandt, die er aus ganzer Seele haßte — ein Haß, zu dem neben
demZeloteneiferfür die (angeblich) „rechte Lehre des Meisters"
gewiß auch der Gelehrteningrimm gegen den „verderblichen
Irrtum" und die persönliche Abneigung gegen die Rivalen ihre
Beiträge geliefert haben.
Sodann aber heißt auch: eineSache lehren, immer: die Selbst-
verständlichkeit ihrer Autorität anzweifeln. Vom Daß zum
Darum ist dann ebenso nur ein Schritt, wie vom Darum zum
Warum, von diesem zum Ob, und endlich zum Nein! Der mit
der Begründung eingeleitete Rationalisierungsprozeß pflegt
selten anders als mit der Bestreitung zu enden. In diesem Sinne
mochte, wo nicht ein Vorwurf gegen die Lehre der Sophisten
berechtigt, so doch eine Abneigung gegen ihr Treiben begreif-
lich sein.
Von der Redekunst ferner konnte, wie ein gerechter, so auch
ein unrechter Gebrauch gemacht werden. Auch für den letzte-
56
DRITTE VORLESUNG
ren Fall mag wohl der Unterricht besondere Vorsorge gelegent-
lich getroffen haben. Und auch sonst war in jenem zungen-
fertigen und streitsüchtigen Volke der dialektisch Geschulte
der natürliche Gegenstand einer mit Neid gemischten Ent-
rüstung.
DerletzteGrundindeßwarein anderer. Die Sophisten lehrten
gegen Bezahlung, und lebten von diesem Einkommen. Das er-
schien den Alten als ein unwürdiges Beginnen. Piaton hat
die nie versiegende Schale seines Spottes darüber ausgegossen,
und die Jahrhunderte haben ihm kritiklos nachgespottet, mit
stetig zunehmendem Vorwiegen der Entrüstung. Erst in unserer
Zeit hat man gefragt, ob denn die Ausübung eines geistigen
Berufes, der zugleich seinen Mann nährt, etwas Tadelnswertes
sei? Und sicherlich sollten mit diesem Verdikte besonders
unsere heutigen Universitätslehrer vorsichtig sein, die von ihren
Schülern „Kollegiengelder" beziehen, und denen es also gewiß
am wenigsten zukommt, in ihren entgeltlichen Vorlesungen die
Sophisten wegen ihres nicht unentgeltlichen Unterrichtes schlecht
zu machen. Lebt man sich in diese Betrachtungsweise ein, so
kann die Banausenverachtung der Alten schließlich als Ausfluß
sklavenhälterischen Vorurteils erscheinen.
Dennoch glaube ich nicht, daß damit die Sache erledigt ist.
Wir treiben heute einen Kultus mit der Arbeit, und blicken auf
den, der keine „Beschäftigung" hat, herab. Aber dies ist keines-
wegs der einzig mögliche Standpunkt, und vielleicht ist der
unsrige recht einseitig und ungerecht. Denn eines wird man
sich eingestehen müssen: wenn die Erhebung über die mate-
riellen Interessen die Würde der Persönlichkeit ausmacht,
dann wird derjenige, für den diese Interessen von vornherein
keine Rolle spielen, der ethisch wertvollen Gesinnung näher
stehen als ein anderer, den seine Notdurft zwingt, eben diese
Interressen zum fortwährenden Mittel- und Angelpunkte seines
Denkens, Höffens und Fürchtens zu machen. „Es scheint aber,
sagt1 deshalb Aristoteles mit Recht, auch der Reichtum bei-
1) Eth. Nie. IV. 8, p. 1124 a 20.
VORSOKRATIKER
57
zutragen zur Großherzigkeit". Natürlich ist auf diese Wirkung
nicht mit Sicherheit zu rechnen, denn es gibt Reiche genug, die
gerade umgekehrt zu Dienern ihrer Güter werden. Und auch,
wo sie eintritt, ist sie in keinem Sinne ein Verdienst. Aber, ob
Verdienst oder nicht, die bloßeGewohnheit, sich nicht mit seinen
persönlichen Angelegenheiten zu befassen, und sein Interesse
auf andere, außerpersönliche Werte zu wenden, wird dem In-
haber eines gesicherten Wohlstandes in vielen Fällen eine ganz
andere innere Haltung verleihen, als die dem Erwerbenden die
alltägliche Richtung seiner Aufmerksamkeit aufdrückt: eben jene
Haltung, die dem Griechen als die des „freien Mannes" erschien.
So blasphemisch dies Ihnen daher auch klingen mag, man wird
unbefangener Weise kaum umhin können, von einem, wenn
auch nur propädeutischen, sittlichen Werte des Besitzes zu
sprechen.
Auf die Sophisten angewandt, zeigt nun diese Überlegung, daß
es keine ganz unrichtige Empfindung war, die dem entgeltlichen
Moralunterrichte mißtrauisch gegenüberstand. Ja, man kann
sagen, daß die ganze Stellung des Sophisten an einem inneren
Widerspruche litt. Er sollte — auch im Sinne der aristokrati-
schen Ethik des Maßes — seine Hörer zu freien, unabhängigen
Männern erziehen, und er selbst war kein freier, unabhängiger
Mann. Er sollte Grundsätze einimpfen, die unmöglich seine
Grundsätze sein konnten. Zwischen dem Inhalte und den Be-
dingungen seiner Unterweisung, zwischen seiner Lehre und
seinem Leben klaffte ein Gegensatz. Zu keiner Zeit aber war
man gegen einen solchen empfindlicher als damals; macht ja
doch der Einklang von Leben und Lehre zu einem guten Teile
die Größe der griechischen Ethik aus. Mußte aber dieser, dem
Wesen des Sophisten immanente Widerspruch schon von der
großen Zahl derjenigen empfunden werden, denen er nur als
der Kontrast zwischen dem Habitus des patrizischen Zöglings
und dem des plebejischen Erziehers zum Bewußtsein kam, so
noch unvergleichlich stärker von jenen philosophischen Geistern,
denen er zugleich den tiefen Gegensatz von innerer Freiheit und
58
DRITTE VORLESUNG
Unfreiheit bedeutete. Ihnen wäre eine Lebensstellung ebenso
unerträglich als undenkbar gewesen, in der von der Zahl und
dem Zustimmungsgrade der Zuhörer die Höhe der Entlohnung
und das Maß der eigenen Lebenshaltung abgehangen hätte. In
diesem Sinne behält Piaton letztlich Recht, wenn er kein gegen-
sätzlicheres Verhältnis sich denken konnte, als das der Sophisten
zu Sokrates!
Geehrte Zuhörer! Sokrates ist ohne Zweifel in der ganzen
Geschichte der philosophischen Ethik diejenige Gestalt,
deren Verständnis zugleich am wichtigsten und am schwierigsten
ist. Ihnen jene Wichtigkeit klar zu machen, wird in den nächsten
Vorlesungen meine Aufgabe sein; in der Zeit, die uns heute
noch zur Verfügung steht, soll von diesen Schwierigkeiten die
Rede sein. Auch kann ich Ihnen diese vorbereitenden Bemer-
kungen nicht ersparen. Denn schon bei der geringsten eigenen
Beschäftigung mit diesem Gegenstande werden Ihnen nicht nur
in der älteren, sondern auch in der neueren Literatur die ver-
schiedensten Darstellungen begegnen. Sokrates der Revolu-
tionär — Sokrates der Aristokrat; Sokrates der Sozialre-
former — Sokrates der Ethiker; Sokrates der Prediger —
Sokrates der Mann der Wissenschaft; Sokrates der Mystiker,
Sokrates der Dogmatiker, Sokrates der Skeptiker — all diese
Auffassungen sind vertreten worden. Sie haben ein Recht, zu
fragen: kann unter diesen Umständen überhaupt etwas, und,
wenn etwas, was kann über Sokrates mit Bestimmtheit ausge-
sagt werden? Und ich habe die Pflicht, diese Frage zu beantwor-
ten, und gleichzeitig meine eigene Auffassung zu rechtfertigen.
Die erste großeSchwierigkeit für unsere Kenntnis des Sokrates
Hegt darin, daß er nichts geschrieben hat. Kein Fragment, kein
Satz, kein Wort ist uns unmittelbar überliefert1. Der Mund des
*) Von den bekannten Versen, die er im Kerker gedichtet haben soll,
durfte ich hier wohl absehen, da die uns erhaltenen zwei Zeilen besten-
falls die Übertragung eines Äsopzitats in gebundene Rede darstellen.
VORSOKRATIKER
59
großen Meisters ist stumm für alle Zeiten. Aber er hat nicht
nur nichts geschrieben, er hat auch keine abgeschlossenen Lehr-
vorträge gehalten. Im zwanglosen Gespräch, und nur im Ge-
spräch hat sich seine philosophische Wirksamkeit geäußert.
Und in diesen Gesprächen hat er sich nicht als der belehrende,
sondern als der fragende Teil verhalten. Auch wenn wir diesen
Unterredungen selbst beiwohnen dürften, würden wir also nicht
eine eigentliche Lehre des Sokrates kennen lernen. Nur aus
der Art und aus den Voraussetzungen seiner Fragestellung
könnten wir die Richtung seines Denkens erschließen. Nun
uns dies aber nicht vergönnt ist, kennen wir wenigstens die
Aussage von Zeugen, die jenen Gesprächen selbst beigewohnt
haben, und über dieselben getreulich berichten wollen? Eine
kritische Durchmusterung der erhaltenen Zeugnisse lehrt, daß
kein einziges diesen beiden Bedingungen genügt.
Bei den späten Anekdoten, die uns überliefert werden, kann
von unmittelbarer Zeugenschaft ohnehin nicht die Rede sein.
Aristoteles gibtuns einige knappeNotizen über seine Grund-
ansichten, und nach den Zusammenhängen liegt kein Grund
vor, des Berichterstatters Absicht, wahrheitsgetreu und bloß
im historischen Interesse zu referieren, anzuzweifeln. Allein
Aristoteles ist lange nach dem Tode des Sokrates geboren.
Wenden wir uns nun zu den Zeitgenossen, so begegnen wir
reichlichen Anspielungen in den Komödien des Ar istophanes.
Aber diese Anspielungen sind Verhöhnungen von so offenbar
tendenziöser Natur, daß sie kaum ernstlich ins Gewicht fallen.
Es bleiben die Schriften jener jüngeren Freunde, die man un-
genau seine Schüler zu nennen pflegt. Allein die Mehrzahl der-
selben ist verloren: nicht nur die des Antisthenes, des Ari-
stipp, des Phaidon, sondern auch jene des Aischines, von
denen wir hören, sie seien die treueste Wiedergabe des Originals
gewesen. Nur von zwei Jüngern sind Werke auf uns gekommen,
welche Gespräche und Reden des Sokrates enthalten: von
Piaton und von Xenophon. Wie steht es nun mit der Zu-
verlässigkeit dieser Berichte?
60
DRITTE VORLESUNG
Die Schriften des Piaton zerfallen für unseren Gesichtspunkt
in drei ungleiche Gruppen. Eine Schrift, die „Gesetze", hat
die Form eines Gespräches, an dem Sokrates nicht beteiligt
ist. Eine andere Schrift, die „Apologie", läßt Sokrates allein
sprechen: sie gibt sich für jene Verteidigungsrede aus, die er
gehalten habe, als er von Meietos, Anytos und Lykon der
Gottlosigkeit und des Jugendverderbs angeklagt wurde — eine
Klage, die zu seiner Verurteilung und Hinrichtung geführt hat.
Alle übrigen Werke haben die Form von Gesprächen, an denen
Sokrates teilnimmt, undzwar in einigen als Nebenfigur (es sind:
„Parmenides", „Sophist", „Staatsmann", „Timaios", „Kritias",
die als PI atons Spätwerke gelten können), in der großen Mehr-
zahl als gesprächsführende Hauptperson. Sprechen wir von
dieser zahlreichsten Gruppe zuerst! Daß nicht alle; die ihr zu-
gehörigenDialoge einfach wahrheitsgetreueBerichte sein können
oder auch nur sein wollen, folgt hauptsächlich aus zwei Argu-
menten, einem äußeren und einem inneren. Das äußere Argu-
ment: Piaton nennt sich in keinem einzigen dieser Gespräche
als anwesend, er nennt sich in einem derselben, dem „Phaidon" l,
ausdrücklich als abwesend; und er verlegt eine Reihe von Ge-
sprächen in eine Zeit, der er weder selbst angehört noch sie
auch bald darauf aus authentischen Berichten kennen gelernt
haben kann (so den „Parmenides", das „Gastmahl" u. a.). Das
innere Argument: in zahlreichen und zwar gerade in den wichtig-
sten Gesprächen (so im „Gastmahl", im „Phaidon", im „Phai-
dros", im „Staat") trägt Sokrates eine Lehre (die sogenannte
„Ideenlehre")vor,vonderAristotelesausdrücklich2bezeugt,sie
sei dem Sokrates fremd gewesen. Nun besteht aberzwischen je-
nen Schriften, auf die eines dieser Argumente Anwendung findet,
und allen übrigen keinerlei äußerer Unterschied: jene geben sich
um nichts weniger für geschichtlich aus als diese; und es ist des-
halb die Schlußfolgerung unausweichlich, daß die Einführung
des Sokrates in die platonischen Gespräche eine literarische
Fiktion ist, und daß diese Gespräche nicht als geschichtliche
1) p. 59 b. 2) Metaph. XIII. 4, p. 1078 b 30 und ibid. 9, p. 1086 b 3.
VORSOKRATIKER
61
Zeugnisse angesehen werden können. Wie steht es nun mit der
Apologie? Hier fallen jene beiden Argumente allerdings fort.
Pia ton nennt sich ausdrücklich1 als bei dem Vortrage dieser
Rede anwesend, und sie enthält keine Ansichten, die wir
von vornherein dem Sokrates nicht zutrauen könnten. Da-
für müssen uns einige andere Umstände bedenklich machen.
Zunächst wissen wir, daß auch die Abfassung fiktiver Reden
solcher Art im Altertum gebräuchlich war, und es sind uns, ab-
gesehen von der platonischen, nicht weniger als vier andere
Verteidigungsreden des Sokrates teils erhalten, teils mittelbar
bekannt: erhalten eine Rede, die unter dem Namen des Xeno-
phon überliefert ist, und eine andere, die von dem spätgriechi-
schen Rhetor Libanios herrührt; bekannt eine Apologie von
Piatons Schüler Theodektes, und eine andere von seinem
Zeitgenossen, dem Redner Lysias. Diese letztere war wie-
derum die Entgegnung auf eine ebenso fiktive Anklagerede,
die der Redner Po ly kr ates etwa fünf Jahre nach dem Ende des
Sokrates veröffentlicht hatte. Dazukommt, daß fast alle antiken
Historiker ohne weiteres in ihre Geschichtswerke fingierte Reden
einzulegen pflegen, die gar nicht den Anspruch erheben, wieder-
zugeben, was wirklich gesprochen wurde, sondern vielmehr den,
auszuführen, was hätte gesprochen werden können, das heißt:
was sich etwa passender und geistvoller Weise in der betreffen-
den Lage hätte sagen lassen. Dagegen ist uns wohl — abgesehen
natürlich von den Publikationen aus dem Konzept — aus dem
ganzen Altertum kaum ein einziges Beispiel bekannt, daß irgend
eine längere Rede wortgetreu nacherzählt worden wäre. Und in
der Tat ist dieses Verhalten improvisierten Reden gegenüber
ganz natürlich, ja fast allein denkbar, in einer Zeit, in der die
Erfindung der Schrift bereits die Gewohnheit des raschen Aus-
wendiglernens untergraben, und doch noch nicht die Stenogra-
phie die des Nachschreibens eingebürgert hatte. So wird also
von vornherein eine starke Vermutung dafür erzeugt, daßPlaton
in der Apologie nicht erzählen will, wie Sokrates sich wirklich
») p.34a und 38 b.
62
DRITTE VORLESUNG
verteidigt habe, sondern vielmehr zeigen, wie er sich hätte ver-
teidigen können, — also dafür, daß in dieser Schrift Piaton
selbst den Sokrates in dessen eigener Maske verteidigt. Sieht
man nun das Werkchen daraufhin näher an, so findet man in
der Tat manches, das sich nach dieser Auffassung besser erklärt:
so eine weitausgreifende Ausführung über die Entstehung
des gegen Sokrates aufgespeicherten Obelwollens, die der
rückblickenden Betrachtung näher liegt als der Improvisation
des Augenblicks; und vor allem eine Menge auffälligen Selbst-
lobs, die als Äußerung des Jüngers sich ebenso leicht begreift
wie sie im Munde des Meisters wunderlich wäre. Daneben frei-
lich finden sich auch Einzelheiten, die wir nur verstehen können,
wenn sie authentisch sind: so die Angaben über eine Zeugen-
aussage, über das Stimmenverhältnis, und besonders über eine
plötzliche und inkonsequente Sinnesänderung hinsichtlich der
zu beantragenden Strafe. Und so ist es weitaus das Wahrschein-
lichste, daß die Rede im wesentlichen Piaton angehört, jedoch
eine Reihe von Zügen der Originalrede verarbeitet hat. Wie
weit aber diese Entlehnung geht — das wird voraussichtlich für
alle Zeiten im Dunkeln bleiben müssen.
Wir wenden uns zu Xenophon. In vier seiner Schriften sind
Reden des Sokrates enthalten: in der „Hauswirtschaftslehre"
(Oeconomicus), in der „Verteidigung des Sokrates" (Apologie),
im „Gastmahl"(Convivium),und vorallem inden „Erinnerungen"
(Memorabilien). Allein in der zuerst genannten Schrift fungiert
er im wesentlichen als Wiedererzähler von Auseinandersetzun-
gen, die unter der Maske eines sonst unbekannten Ischomachos
offenbar kein anderer als Xenophon selbst von sich gibt, und
wo er selbst redet, zeigt er sich in Dingen bewandert, deren
Kenntnis bei Sokrates ebenso überraschend wie bei Xeno-
phon selbstverständlich ist. Dieser nämlich hat im Dienste des
persischen Gegenkönigs Kyros d. J. einen asiatischen Feldzug
mitgemacht; und siehe da, auch Sokrates, der fast nie aus Athen
herausgekommen ist, zeigt sich über Kyros und die Verhält-
nisse seines Hofes aufs beste unterrichtet, und redet überdies
VORSOKRATIKER
63
von Ereignissen, über die ihn Xenophon schon deshalb nie
hat reden hören können, weil sie später fallen als des letzteren
Abschied von Athen1. Es ist also über jeden Zweifel erhaben,
und auch allgemein anerkannt, daß die Reden des Sokrates
in dieser Schrift ganz ebenso fiktiv sind wie in den Dialo-
gen Piatons. Nun gibt aber eben diese Schrift sich selbst als
bloße Fortsetzung der wichtigeren Memorabilien. Denn nachdem
in diesen zahllose Reden des Sokrates nacherzählt wurden, bei
denen Xenophon zugegen gewesen sein will, beginnt der Oeco-
nomicus mit den Worten2: „Ich hörte aber auch einmal, wie
er(!) sich über die Hauswirtschaft folgendermaßen unterredete".
Es erhebt, mit anderen Worten, der Oeconomicus um keines
Haares Breite weniger den Anspruch, authentisch zu sein, als die
Memorabilien; und daraus folgt, daß, wenn wir jenen als durch-
aus ungeschichtlich ansehen, wir es mit diesen nicht gut anders
halten können. Auch finden sich in ihnen ebenfalls Angaben über
Völkerschaften des Perserreiches3, die wir viel eher dem Xeno-
phon als dem Sokrates zutrauen dürfen. Endlich ist kürzlich auch
darauf überzeugend hingewiesen worden, daß die Memorabilien
mehrfach Ansichten, und zwar vornehmlich solche superstitiöser
Natur, enthalten, die in anderen Schriften des Xenophon sich
ganz ebenso finden, mit den aristotelischen Berichten über die
sokratische Lehre aber sich kaum vereinigen lassen. Und zum
Überfluß wird uns die Schlußfolgerung, die sich so aufdrängt
(daß nämlich die xenophontischen Sokratesreden in ganz dem-
selben Sinne fiktiv sind wie die platonischen), auch als die Auf-
fassung des Altertums bestätigt. Denn Diogenes Laertios
sag* (gewiß nach einer besseren Quelle) im Leben des A r i s t i p p 4,
Xenophon sei diesem Sokratikerübel gesinntgewesen, und habe
deshalb dem Sokrates eine Rede gegen ihn in den Mund ge-
legt; und ebenso habe auch Piaton im „Phaidon" ihn schlecht
gemacht. Verlieren aber so die Memorabilien ihren geschicht-
lichen Charakter, dann kann ihn weder das „Gastmahl" behaup-
i) Oec. 4. 18ff. 2) Oec. T. T. 3) Bes. Comm. III. 5. 26; III. 9. 2 und IL T. 10.
4) II. 65.
64
DRITTE VORLESUNG
ten, bei dem Xenophon gar nicht anwesend gewesen sein will,
noch die „Apologie", bei der er (wegen seines asiatischen Aufent-
haltes) nicht einmal zugegen gewesen sein kann, und deren
Echtheit überdies bestritten ist. Und so kommen wir zu dem
Schluß, daß uns über keine einzige Äußerung des Sokrates
eine vollkommen zuverlässige Nachricht eines unmittelbaren
Zeugen überliefert ist.
Dies sind die äußeren Schwierigkeiten, die unserem Verständ-
nisse des Sokrates im Wege stehen. Ihrer ungeachtet wage ich
zu sagen, daß mir das Bild dieses Mannes so deutlich wie nur
das eines Lebenden vor Augen steht. Die Quellen aber, die uns
dasselbe vermitteln können, sind drei anZahl. IhrerBesprechung
müssen wir den kurzen Rest der heutigen Vorlesung widmen.
Zunächst verliert das Zeugnis des Aristoteles dadurch, daß
es nicht unmittelbar ist, wenig an Wert. Denn der Stagirit war
ein langjähriger, persönlicher Schüler Piatons, ebenso wie
dieser ein mehrjähriger, persönlicher Jünger des Sokrates ge-
wesen war. Ihm standen also jene direkten Nachrichten, die wir
so schmerzlich vermissen, reichlich zu Gebote; und dazu, ihm
eine tendenziöse oder nachlässige Wiedergabe dessen, was er
so erfahren, zuzutrauen, haben wir kaum an irgend einem Punkte
Anlaß. Das Wenige also, was er uns über Inhalt und Methode
des sokratischen Denkens mitteilt, können wir im wesentlichen
für authentisch halten.
Sodann aber legen zwar die Sokratiker dem Sokrates ihre
eigenen Gedanken in den Mund, aber sie legen sie doch eben
dem Sokrates in den Mund. Sie setzen nicht einfach vor ihre
eigenen Äußerungen den Namen des Meisters und einen Doppel-
punkt, sondern sie entwickeln, was sie sagen wollen, in einer sol-
chen Form, wie sie meinen, daß der Meister es hätte aussprechen
können. Sie schildern uns, mit anderen Worten, die Persönlich-
keit des Sokrates, und lassen erst diese jene Gedanken aus-
sprechen. Und zwar kann dies mit voller Zuversicht behauptet
werden. Denn sowohl der platonische wie auch der xenophon-
tische Sokrates wird uns als eine charakteristische Figur vor-
VORSOKRATIKER
65
geführt, die mit dem, was wir von Piaton und Xenophon
selbst wissen, durchaus nicht zusammenfällt. Und diese beiden
Figuren stimmen auch untereinander bis zu einem gewissen
Grade überein. Ja, mehr als das: so verschieden auch der
Lehrgehalt bei beiden Autoren ist, hinsichtlich der Persön-
lichkeit findet sich kaum ein eigentlicher Widerspruch, son-
dern nur ein Unterschied im engsten Sinne. Xenophon
nämlich zeichnet gewisse allgemeine Umrisse, Piaton über
diese hinaus ein ins einzelne gehendes, höchst individuelles und
lebendiges Charakterbild. Es kann sich also nicht fragen, ob
wir uns die Persönlichkeit des Sokrates nach der Schilderung
des Xenophon oder nach der des Piaton denken sollen,
sondern nur, ob wir das Plus, daß wir bei Pia ton antreffen,
uns aneignen dürfen oder nicht? Daß nun Piaton im höchsten
Grade das mimetische Talent, die Gabe der Menschen- und
Charakterdarstellung besaß, wird kein Leser seiner Schriften
bezweifeln. Niemand kann also bestreiten, daß er in seinen
Dialogen die Persönlichkeit des Sokrates nachbilden konnte.
Es fragt sich nur, ob er dies auch wollte? Das heißt: wir sind
berechtigt, die Persönlichkeit des platonischen Sokrates für
die des geschichtlichen zu nehmen, sobald wir kein Motiv an-
geben können, das P 1 a t o n bewogen haben könnte, die historische
Gestalt durch eine fiktive zu ersetzen. Nun ist, bei der durchweg
bewundernden Behandlung des Sokrates, das sonst bei Pia ton
so häufige parodistische Motiv von vornherein auszuschlie-
ßen. Folglich bliebe nur die Möglichkeit einer idealisieren-
den Umarbeitung übrig. .Daß aber der platonische Sokrates
eine Idealgestalt wäre, diese Eventualität können wir aus meh-
reren Gründen für unmöglich erklären. Denn einmal haben die
charakteristischen Züge dieses Bildes (die Art der Gespräch-
führung, die Ironie, das Daimonion) mit Piatons ethischem
Ideal auch nicht den mindesten Zusammenhang, und hätten also
niemals zu dessen Verkörperung ersonnen werden können. So-
dann aber ist dieses Bild der Eigenart P 1 a to n s nicht einmal kon-
genial: Piaton ist der personifizierte Schwung, der platonische
Gomperz, Lebensauffassung 5
66
DRITTE VORLESUNG
Sokrates ist die personifizierte Sachlichkeit. Die Folge davon
ist, daß Pia ton trotz aller Kunst den Sokrates gar häufig aus der
Rolle fallen und platonisieren läßt. Aber sobald dies geschieht,
sobald Sokrates pathetisch wird und in Bildern schwelgt, ver-
säumt Piaton kaum je, anzudeuten, daß dies nun eben nicht
mehr die sokratische Art sei, indem er ihn sich entweder auf
alte Mythen berufen läßt, die er nur nacherzähle („Gorgias„,
„Phaidon", „Staat"), oder auf fremde Reden, die er nur wieder-
gebe („Gastmahl"), oder auf einen plötzlichen Anfall von En-
thusiasmus, über den er sich selbst verwundere („Phaidros").
Kurz, wir erhalten aus alledem den Eindruck, daß die sokra-
tische Persönlichkeit, die Piaton uns darstellt, ihm als ein
Fremdes, Gegebenes gegenübersteht, dem er die Darlegung sei-
ner eigenen Gedanken mit außerordentlicher Kunst, aber nicht
mit durchgängigem Erfolge anzupassen bemüht ist. Dann kann
aber dieses Fremde, Gegebene eben nur die geschichtliche Per-
sönlichkeit des Sokrates sein, oder, wie ich es an anderem
Orte ausgedrückt habe: „Die platonischen Dialoge sind Kunst-
werke, zu denen das platonische Denken den Stoff, aber die
sokratische Persönlichkeit die Form abgegeben haben." Fragen
Sie aber, wie man denn die Persönlichkeit eines Mannes getreu
darstellen könne, indem man ihn zugleich sagen lasse, was er nie
gesagt hat — so fragen Sie nur nach der Möglichkeit stilisierter
Darstellung überhaupt. Und die Antwort wird lauten müssen:
wenn Piaton den Sokrates in der Apologie sprechen läßt, was
er damals etwa hätte sagen können, so läßt er ihn sowohl in der
Apologie als auch sonst so reden, wie er hätte sprechen können.
Und dieses Wie?, von einem großen Meister dargestellt, ist ge-
wiß nicht weniger charakteristisch, als es dieses oder jenes au-
thentische Diktum wäre. Wie wir daher über die sokratische
Lehre zwar keinen wortgetreuen Bericht, wohl aber ein höchst
sachkundiges und zuverlässiges Exzerpt besitzen, so auch von
der sokratischen Persönlichkeit zwar keine Photographie, statt
dessen aber ein künstlerisch vollendetes (und daneben ein mittel-
mäßiges) Porträt.
VORSOKRATIKER
Zu diesen beiden Quellen kommt nun als dritte, und nicht
weniger wichtige, der Rückschluß von den Jüngern auf den
Meister. Drei höchst originelle und höchst verschiedene Män-
ner: Piaton, Antisthenes und Aristipp sind uns sowohl
ihrer ethischen Grundstimmung wie auch ihrer theoretischen
Grundansichten nach bekannt. Sie alle meinen, seinem Geiste
treu zu bleiben und seine Gedanken zu Ende zu denken. Die
Entwicklung ihrer Ideale und Lehren verläuft in auseinander-
gehenden Strahlen, die man nur bis zu ihrem gemeinsamen
Schnittpunkte rückwärts zu verfolgen braucht, um auf die Per-
sönlichkeit und die Lehre des Sokrates zu treffen. Dieses Ver-
fahren stellt die Probe auf das andere dar, und eine Auffassung,
welche diesem wie jenem entspricht, darf so ziemlich sicher
sein, die wesentlichen Momente des geschichtlichen Tatbe-
standes nicht zu verfehlen. Eine solche Auffassung aber hoffe
ich, Ihnen in den nächsten Vorlesungen darlegen zu können.
Ihre Obereinstimmung mit den beiden ersten Quellen wird sich
uns dabei fortlaufend Schritt für Schritt ergeben; die mit der
dritten wird bestätigend hinzutreten, sobald wir dazu gelangen
werden, uns mit der platonischen, antisthenischen und aristippi-
schen Ethik selbst zu beschäftigen.
5*
SOKRATES I
VIERTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IE äußeren Hindernisse, die sich unserer
Kenntnis des Sokrates in den Weg stellen,
haben wir nun überwunden: wir haben ge-
sehen, welchen Berichten wir vertrauen
können; daß wir dem Aristoteles glauben
müssen hinsichtlich der Lehre, dem Pia ton
hinsichtlich der Persönlichkeit, und beider
Angaben kontrollieren an den Idealen und Theorien der Jünger.
Von der Persönlichkeit sollten wir nun den Ausgang nehmen;
denn sie ist, in diesem Falle mindestens, das Grundlegende und
Entscheidende. Doch da treten meiner Darstellung alsbald
die inneren Schwierigkeiten entgegen.
Es sind deren im Grunde zwei. Die Persönlichkeit eines
Menschen können wir nur erkennen in seinem Leben. Ein Leben
aber können wir nur erfassen entweder in seiner Breite, oder
in seinen Höhepunkten. Wir können das Wesen und die Art
eines Mannes auf uns wirken lassen: einmal, indem wir die
gewohnte Stimmung seines Alltagsdaseins in uns aufnehmen,
und so einen Gesamteindruck in uns erzeugen; sodann, indem
wir ihn in jenen seltenen Einzelaugenblicken betrachten, wo er
all seine Kräfte und Anlagen zusammennimmt und den Grund-
zug seines Seins offenbart.
Allein von solchen außerordentlichen Ereignissen im Leben
des Sokrates wissen wir wenig. Was ist damit gewonnen,
wenn ich Ihnen sage, daß er einige Schlachten mitgemacht und
sich dabei durch ungewöhnliche Tapferkeit ausgezeichnet hat?
SOKRATES I
69
Daß er, einmal durchs Los zur Teilnahme an der Leitung der
Volksversammlung berufen, um den Buchstaben des Gesetzes
zu wahren, den Drohungen einer wütenden Menge getrotzt hat?
Daß er, als die demokratische Staatsverfassung auf kurze Zeit
von der oligarchischen Herrschaft der sogenannten 30 Tyrannen
abgelöst wurde, sich furchtlos geweigert hat, zu der ungesetz-
lichen Verhaftung des Leon von Salamis die Hand zu bieten?
Über den platonischen Schilderungen des sokratischen All-
tagslebens aber liegt ein Zauberduft, den jeder Versuch ver-
scheucht, einzelne Stellen aus dem Zusammenhange zu reißen
oder durch allgemeine Worte die gemeinsamen Züge jener
anschaulichen Einzelheiten herauszuheben. Ich kann Ihnen
sagen, daß S o k r a t e s den angestammten Bildhauerberuf vernach-
lässigte, und daß seine häuslichen Verhältnisse von großerDürf-
tigkeit waren. Ich kann Ihnen von der sprichwörtlichen Einfach-
heit und Mäßigkeit seines Lebens reden; Ihnen erzählen, wie
er die Tage damit verbrachte, auf dem Markt, in den Ringschulen,
kurz an allen öffentlichen Orten mit älteren und jüngeren Mit-
bürgern sich zu unterreden; wie er in diesen Unterredungen,
halb angeregt durch eine zufällige Wendung des Gespräches,
halb die Gelegenheit suchend, über ein ihn beschäftigendes
Problem zur Klarheit zu gelangen, bald die Führung des Ge-
spräches übernimmt; wie er durch die wunderlichsten Fragen
und an der Hand der alltäglichsten Beispiele (von Eseln und
Pferden, Schneidern und Schustern), unter steter Betonung
seiner Unwissenheit und seines Wissensdurstes den Anderen
auffordert, über seine scheinbar einfachsten und klarsten Be-
griffe Rechenschaft abzulegen; wie sein Kreuzverhör diesen bald
in Verwirrung bringt, bald wieder zu neuen Klärungs- und
Lösungsversuchen anregt; wie sich diese Erörterungen mit Vor-
liebe um die Grundbegriffe des praktischen Lebens bewegen,
so daß der Mitunterredner sich bestürzt als zu jedem Handeln
und Wirken unfähig erscheint, und ihm, bald unter mißmutigem
Groll, bald auch unter Tränen, die eigene Unzulänglichkeit zum
Bewußtsein gebracht wird; — aber ich muß zweifeln, ob solche
70
VIERTE VORLESUNG
Mitteilungen imstande sind, das leibhaftige Bild des Sokrates
in Ihnen zu erwecken.
Andererseits können wir im Rahmen dieser Vorlesungen
diesem Bilde nicht auf den Wegen Piatons uns nähern, und
den Mann, sein Wesen und Wirken im Rahmen der mannig-
faltigen, ihm zugehörigen Umgebungen kennen lernen. Ich kann
Sie nicht an der Hand des platonischen „Lysis" in die Ring-
schule führen, an der des „Laches" auf den Markt, an der des
„Protagoras" in die Sophistenversammlung, an der des „Gast-
mahls" zum nächtlichen Schmause, wo Sokrates, nachdem
unsterbliche Reden gewechselt wurden, alle anderen, und selbst
den Gastgeber, unter den Tisch trinkt, um alsbald, klaren Kopfes
und ruhigen Geistes, wieder seiner gewohnten Lebensweise
nachzugehen. Diejenigen, welche den Meister, vom Jünger ge-
führt, auf diesen Gängen im Geiste begleitet haben, bilden eine,
über alle Länder und Zeiten zerstreute, über alle Grenzen der
Sprache und des Glaubens hinausgreifendeGemeinschaft. Allein
zu ihr führt kein anderer Eingang als das Studium Piatons.
Wir müssen uns hier mit einem sehr unvollständigen Ersatz-
mittel begnügen: einem Surrogat, dessen glücklichen Besitz wir
der großen Katastrophe verdanken, die über Sokrates am
Ende seines Lebens hereingebrochen ist.
Im Jahre 399 v. Chr. nämlich, als der Meister über 70 Jahre
alt geworden war, ward gegen ihn eine Klage eingebracht, deren
Wortlaut viele Jahrhunderte später der Gelehrte Favorinus1
nach Einsicht in den im athenischen Archiv aufbewahrten Ori-
ginalakt so angegeben hat: „Meietos, Sohn des Meietos, von
Pitthos, hat gegen Sokrates, Sohn des Sophroniskos, von
Alopeke, folgendeKlage eingebracht und beschworen: Sokrates
ist schuldig, die Götter nicht anzuerkennen, welche die Stadt
anerkennt, sondern ein anderes, neues Geisterwesen einzu-
führen; er ist ferner schuldig, die Jugend zu verderben. Bean-
tragt wird die Todesstrafe." Um gegen diese Anklage sich zu
verteidigen, erschien Sokrates vor der großen, aus 500 oder
!) Bei Diog. Laert. II. 40.
SOKRATES I 71
600 Bürgern bestehenden Jury. Meietos und seine beiden
Mitankläger Anytos und Lykon hielten ihre Anklagereden.
Von Belastungszeugen ist nichts überliefert. Und dann hielt
Sokrates seine Verteidigungsrede. In welchem Sinne nun
Piatons Bericht über diese Rede aufzufassen ist, habe ich Ihnen
neulich auseinandergesetzt. Es hat sich ergeben, daß er zwar
nicht als eine geschichtlich treue Widergabe derselben ange-
sehen werden kann, daß er aber allerdings Piatons Meinung
über den Fall ausdrückt und zugleich Sokrates sprechen läßt,
wie er nach Piatons Überzeugung hätte sprechen können. Ich
glaube deshalb, Ihnen ein wenigstens teilweises Verständnis der
sokratischenPersönlichkeit noch am besten vermitteln zu können,
indem ich Sie mit dem hauptsächlichsten Inhalte und den be-
zeichnendsten Stellen der platonischen Apologie bekannt mache.
Nachdem sich Sokrates wegen seiner schlichten Redeweise
entschuldigt hat, unterscheidet er von der eben zur Verhandlung
stehenden Anklage eine frühere und gefährlichere, mit der Ver-
leumder seit vielen Jahren die Ohren des Volkes angefüllt
haben, indem sie von ihm behaupteten, was man eben von allen
Philosophen zu behaupten pflegt: daß sie nämlich (wie die alten
Naturphilosophen) die unterirdischen und himmlischen Erschei-
nungen studieren (und so die angestammte Religion unter-
graben), und daß sie (wie die Sophisten) die schwächere Sache
zur stärkeren machen. Was nun das erste anbelangt, so ver-
stehe er von diesen Dingen auch nicht das mindeste, was er aber
nicht sage, um eine solche Wissenschaft herabzusetzen, wenn
wirklich jemand in ihr gesicherte Kenntnisse habe, sondern nur,
weil er eben an ihr durchaus keinen Teil habe. Und es könnten
die Anwesenden bezeugen, daß er nie von solchen Gegenständen
spreche. „Aber auch,1 wenn ihr vielleicht von irgend wem ge-
hört habt, daß ich Leute zu erziehen suche und (dafür) Geld
nehme, auch an alledem ist nichts Wahres. Denn auch dies
(zwar) scheint mir eine schöne Sache, wenn einer imstande ist,
Menschen zu erziehen, wie Gorgias von Leontinoi, Prodikos
i) Apolog. p. 19dff.
72
VIERTE VORLESUNG
vonKeos und Hippias von Elis. Denn diese alle, ihr Männer,
gehen in alle Städte und vermögen die jungen Leute, denen es
doch frei stünde, von ihren Mitbürgern mit wem sie wollten
häufigen Umgang zu pflegen, — diese also sind sie im stände
dahin zu bringen, daß sie von dem Umgang mit jenen ablassen
und mit ihnen verkehren, und ihnen (noch obendrein) Geld
geben und Dank wissen. Denn — da ist (ja z. B.) noch ein an-
derer gelehrter Mann hier, ein Parier, den ich selbst hier am
Orte gesehen habe. Ich begegnete nämlich zufällig einem Manne,
der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als alle anderen zu-
sammen, — Kallias (mein' ich), den Sohn des Hipponikos.
Diesen also frag' ich — er hat nämlich zwei Söhne — Kallias,
sag' ich, wenn deine beiden Jungen Füllen oder Kälber wären,
so könnten wir für sie wohl einen Aufseher nehmen und an-
stellen, der im stände wäre, sie in der ihnen zukommenden
Tüchtigkeit gefällig und tauglich zu machen; es wäre das aber
ein Bereiter oder ein Ackersmann; nun sie aber Menschen sind,
wen hast du vor, ihnen zum Aufseher zu nehmen? Wer wäre
(wohl) kundig in bezug auf eine solche Tüchtigkeit, die mensch-
liche und bürgerliche? Denn ich denke, du wirst darüber nach-
gedacht haben, da du ja die Söhne hast. Gibts einen solchen,
sag' ich, oder nicht? O, freilich, sagt er. Wer denn, sag' ich,
und wo ist er her, und was kostet sein Unterricht? Euenos,
sagt er, Sokrates, aus Paros, fünf Minen. Und da pries ich den
Euenos selig, wenn er wirklich diese Kunst versteht und so
herrlich unterrichtet. Auch ich selbst würde mir also schön vor-
kommen und damit Staat machen, wenn ich das verstünde. Aber
ich verstehe es (eben) nicht, ihr Athener! — Jetzt möchte mich
aber vielleicht einer von euch unterbrechen (und sagen): Aber,
Sokrates, was treibst du denn (eigentlich)? Woher sind denn
diese Verleumdungen gegen dich entstanden ? Denn gewiß, wenn
du nicht, mit allen Anderen verglichen, etwas ganz außerordent-
liches getrieben hättest, so wäre nicht über dich eine solche Nach-
rede und ein solcher Ruf entstanden, — wenn du nicht etwas ganz
anderes getanhättestals die Mehrzahl. Sag' uns also, was es ist, da-
SOKRATES I
73
mit wir nicht ohne Sachkenntnis über dich (entscheiden)." Diese
Frage wolle er beantworten. „Ich habe nämlich, ihr Männer,
diesen Ruf erlangt durch nichts anderes, als durch eine gewisse
Weisheit. Was für eine Weisheit aber ist das? Wie eben etwa
die menschliche Weisheit ist. Denn in dieser ist es wirklich
möglich, daß ich weise bin; jene aber, von denen ich eben
sprach, mögen vielleicht in einer höheren, als der Menschheit
zukommt, weise sein — oder ich weiß nicht, wie ich mich aus-
drücken soll, denn ich verstehe ja gar nichts von ihr, und wer
das behauptet, der sagt die Unwahrheit und will mich damit
verleumden. Und, ihr Athener, macht mir keinen Lärm; auch
nicht, wenn ich mich zu überheben scheine. Denn, was ich sagen
will, sind nicht meine Worte, sondern ich werde sie euch auf eine
glaubwürdige Aussage zurückführen. Denn über meine Weis-
heit, ob sie wirklich existiert und welcher Art sie ist, darüber
werde ich euch als Zeugen führen — den delphischen Apollo n.
Nämlich — ihr erinnert euch doch wohl des Chairephon.
Der war mein Kamerad von Kindheit an und war auch ein
Parteigenosse von euch Demokraten, und ist da mit euch emi-
griert und mit euch wieder zurückgekommen. Und ihr wißt ja,
wie Chairephon war, wie eifrig in allem, was er angriff. Und
so kam er auch einmal nach Delphi und war so verwegen, an
das Orakel folgende Frage zu richten — und, wie gesagt, lärmt
nicht, ihr Männer — ; er fragte also, ob jemand weiser sei als
ich. Und die Pythia gab zur Antwort, es sei niemand weiser.
Und dies wird euch dieser sein Bruder hier bezeugen, nachdem
jener gestorben ist. — Bedenkt aber, weswegen ich das erzähle.
Ich will euch nämlich klar machen, wie die Verleumdung gegen
mich entstanden ist. Nämlich, als ich das hörte, dachte ich bei
mir folgendes: was mag wohl der Gott sagen wollen, und was
gibt er da für ein Rätsel auf? Denn ich bin mir doch wahrlich
bewußt, nicht sehr weise und auch nicht (einmal) etwas weise
zu sein. Was meint er also, wenn er sagt, ich sei der Weiseste?
Denn lügen tut er doch gewiß nicht; das wäre ja gegen seine
Natur. Und lange Zeit war ich ratlos, was er wohl meine? Dann
74
VIERTE VORLESUNG
aber wandte ich mich, ungern genug, dazu, es etwa auf folgende
Art zu finden. Ich ging zu einem, der als weise galt, um hier,
wenn irgendwo, das Orakel zu widerlegen und dem Spruch klar
zu machen: ,Dieser ist doch weiser als ich, obwohl du gesagt
hast, ich sei es.4 Als ich nun diesen untersuchte — den Namen
brauche ich ja nicht zu nennen, es war aber ein Politiker, mit
dem ich eine solcheErfahrung machte, ihr Athener — und wie ich
mit ihm sprach, hatte ich den Eindruck, daß dieser Mann zwar
vielen anderen Menschen und besonders sich selbst weise vor-
komme, es aber nicht sei; und da suchte ich ihm zu zeigen, daß
er glaube, weise zu sein, ohne es zu sein. Und infolgedessen
wurde ich ihm verhaßt und vielen Anwesenden. Ich aber dachte
im Weggehen so bei mir: weiser als dieser Mensch bin ich
schon; denn es mag zwar wohl sein, daß keiner von uns beiden
etwas rechtes und ordentliches weiß; aber er glaubt etwas zu
wissen, obwohl er nichts weiß; ich aber glaube ebensowenig
etwas zu wissen, wie ich eben nichts weiß. Es sieht also aus,
als ob ich eben um dieses wenige weiser wäre denn er, daß ich,
was ich nicht weiß, mir auch nicht einbilde zu wissen. Und da
ging ich zu einem anderen, der weiser zu sein schien als jener
(erste), und hatte (aber) eben diesen selben Eindruck; und da
wurde ich auch ihm und vielen anderen verhaßt." Nach den
Politikern sei er nun zu den Dichtern gegangen und habe sie
über ihre Werke ausgefragt. Aber unglaublicherweise hätten
sie über ihre eigenen Schöpfungen fast noch ungenügender
Auskunft gegeben als die Laien; und so habe er eingesehen,
daß die Dichter nicht infolge eines besonderen Wissens produ-
zieren, sondern kraft einer gewissen Naturanlage und im Enthu-
siasmus, dabei aber sich einbilden, alle Dinge zu verstehen.
Sokrates kam also zu der Meinung, er sei ihnen in demselben
Sinne überlegen wie den Politikern. Endlich habe sich seine
Untersuchung den Handwerkern zugewandt, und hier habe er
in der Tat ein gediegenes fachliches Wissen angetroffen. Aber
auch hier denselben Dünkel wie bei den Dichtern, indem näm-
lich jeder Meister, weil er sein Handwerk verstand, auch alles
SOKRATES I
75
andere zu verstehen meinte. Und dieser ihr Weisheitsdünkel
habe ihr wirkliches Wissen reichlich aufgewogen. Aus dieser
Ausforschung nun seien ihm all der Haß und die Verleumdung
entstanden. Denn, sagt er, bei einer solchen Unterredung
„meinen die Zuhörer immer, ich müsse darin ein Wissen be-
sitzen, worin ich den anderen widerlege. In Wahrheit aber, ihr
Männer, dürfte es so stehen, daß der Gott weise ist und in
seinem Orakel eben das sagen will, daß die menschliche Weis-
heit wenig oder (gar) nichts wert ist. Und es scheint, daß er
nicht von Sokrates dieses aussagen wollte, sondern sich meines
Namens nur bedient hat, um mich als Beispiel zu verwenden —
so, als wollte er sagen : derjenige, ihr Menschen, ist (noch) der
weiseste, der wie Sokrates eingesehen hat, daß er in Wahrheit
nicht zur Weisheit taugt." Nun fänden sich zahlreiche junge
Leute, denen es Vergnügen macht, ihm bei diesen Gesprächen
zuzuhören, und die dann auch ihrerseits ihn nachahmen. Und
diejenigen, welche sie ausforschen, zürnten dann ihm und be-
schuldigten ihn, daß er die Jugend verderbe. Und so sei die
jetzt zur Verhandlung stehende Anklage entstanden, in der
M e 1 e t o s behaupte, er sei schuldig, die Jugend zu verderben. „Ich
aber, ihr Athener, behaupte, daß Meietos schuldig ist, (euch)
geflissentlich zum besten zu haben, da er leichtfertig Leute vor
Gericht zieht und so tut, als wäre er ernsthaft besorgt um
Dinge, an denen ihm niemals etwas gelegen ist. Ich will euch
aber auch zu beweisen trachten, daß sich das so verhält. — Und
nun komm (einmal) her, Meie tos, und sag' mir: „Ist es nicht so,
daß dir viel daran liegt, daß die jungen Leute so trefflich als
möglich werden?" „Jawohl." (Sie werden bemerken, daß die
folgenden Antworten des Meietos von der äußersten Dummheit
sind. Es ist Piaton nicht zuzutrauen und ist gar nicht seine
Art, daß er dem Gegner solchen Unsinn in den Mund gelegt,
sich die Aufgabe in diesem Maße erleichtert hätte. Ich halte
deshalb den folgenden Dialog im wesentlichen für geschichtlich.)
„Also komm' und sage diesen (hier), wer sie bessert. Denn
offenbar weißt du's, da dir ja daran liegt. Denn den, der sie
76
VIERTE VORLESUNG
schlechter macht, hast du ja herausgefunden, wie du behauptest,
da du mich hier hereinbringst und anklagst; also jetzt, bitte,
sag' ihnen auch deutlich: wer ist es denn, der sie besser macht?
— Siehst du, Meietos, wie du schweigst und keine Antwort
weißt? Aber scheint dir das nicht eine Schande zu sein und
ein genügender Beweis für das, was ich sage, daß dir das gar
nicht am Herzen liegt? Aber sag' uns (doch), Bester, wer macht
sie besser?" „Die Gesetze." „Aber das frag' ich doch nicht,
Bester, sondern: welcherMensch? Der freilich auch vor allem die
Gesetze kennen muß." „Diese, Sokrates, die Richter." „Wie
sagst du, Meietos? Diese Männer hier wären imstande, die
jungen Leute zu bilden und besser zu machen?" „Ganz gewiß."
„Alle, oder nur einige von ihnen, andere aber nicht?" „Alle."
„Ein schönes Wort, bei der Hera, und eine Fülle von nützlichen
Menschen. Aber wie? Die Zuhörer hier — bessern (auch) sie
oder nicht?" „Auch sie." „Und die Ratsherrn?" „Auch die
Ratsherrn." „Aber nun, Meietos, die Teilnehmer an der
Volksversammlung, verderben die etwa die Jugend, oder machen
auch sie alle sie besser?" „Auch sie." „Alle Athener also,
scheint es, machen (die jungen Leute) gut — mich ausgenommen;
und ich allein mache sie schlecht! Meinst du's so?" „Ja, so
mein' ich's, ganz entschieden." „Da hast du mich freilich zu
einem großen Unglück verdammt. Und nun sag' mir: meinst
du, daß es sich auch bei den Pferden so verhält? Daß (nämlich)
alle Menschen sie besser machen und einer sie verdirbt? Oder
ist, ganz im Gegenteil, einer imstande, sie besser zu machen,
oder ganz wenige: die Reiter; wenn aber der große Haufe sich
mit den Pferden einläßt und sie gebraucht, so verdirbt er sie?
Verhält es sich nicht so, Meietos, mit den Pferden und auch
mit den übrigen Tieren? Ganz gewiß, ob du und Anytos nun
ja! sagt oder nein! Denn es wäre wahrlich ein großes Glück,
wenn nur einer die Jugend schlechter machte, alle anderen aber
ihr nützten. Aber, Meietos, du zeigst ja schon zur Genüge,
daß du nie (auch nur) an die Jugend gedacht hast, und beweisest
uns deutlich, daß dir an dem gar nichts gelegen ist, weswegen du
SOKRATES I
77
mich (hier) hereingebracht hast. — Noch aber sag' uns, beim
Zeus! Meietos, lebt sich's besser unter guten Mitbürgern oder
unter schlechten? Antworte, Freund! Ich frage dich ja nichts
schwieriges. Fügen nicht die Schlechten ihren Nächsten schlech-
tes zu, die Guten aber gutes?" „Ja freilich." „Gibt es nun
einen, der vorzöge, von seinen Mitmenschen geschädigt statt
gefördert zu werden? Antworte, Bester! Denn auch das Gesetz
heißt dich antworten. Gibt es einen, der es vorzieht, geschädigt
zu werden?" „Das nicht." „Und nun, klagst du mich an, daß
ich die jungen Leute verderbe und schlechter mache — ab-
sichtlich oder unabsichtlich?" „Absichtlich, mein' ich." „Wie?
Meietos! So viel weiser bist du in deinen Jahren als ich in
meinen Jahren, daß du zwar (schon) eingesehen hast, daß stets
die Schlechten ihren Nächsten schlechtes tun, die Guten aber
gutes; ich aber habe es in der Unwissenheit so weit gebracht,
daß ich nicht einmal das weiß, daß, wenn ich einen Bekannten
schlecht mache, ich Gefahr laufe, von ihm Übles zu erfahren,
und also ein so großes Übel absichtlich mir zuziehe, wie du
behauptest? Das glaube ich dir nicht, Meietos, und, glaub'
ich, auch kein anderer Mensch; sondern, entweder verderbe ich
sie (überhaupt) nicht, oder, wenn ich sie verderbe, (geschieht es)
unabsichtlich: du also hast in beiden Fällen Unrecht. Verderbe
ich sie aber unabsichtlich, dann entspricht es nicht dem Ge-
setz, einen wegen derartiger unfreiwilliger Verfehlungen hierher
zu zitieren, sondern vielmehr, ihn bei Seite zu nehmen, aufzu-
klären und zurecht zu weisen. Denn offenbar werde ich, was
ich unabsichtlich tue, aufgeben, wenn ich's einsehe. Du aber,
mit mir zu reden und mich aufzuklären, — das hast du ver-
mieden und hast es nicht gewollt. Hieher aber hast du mich vor-
laden lassen, wo nach dem Gesetz diejenigen erscheinen sollen,
die der Strafe bedürfen, nicht aber der Belehrung. — Aber, ihr
Athener, das ist doch wohl schon klar, was ich sagte, daß sich
Meietos um diese Dinge niemals, weder viel noch wenig, ge-
kümmert hat. Trotzdem aber, Meie tos, sag' uns doch noch,
wodurch du meinst, daß ich die jungen Leute verderbe. Der
78
VIERTE VORLESUNG
von dir eingereichten Klage nach offenbar dadurch, daß ich sie
anweise, jene Götter nicht anzuerkennen, die die Stadt aner-
kennt, sondern ein anderes neues Geisterwesen. Behauptest du
nicht dies: daß ich sie durch (solche) Anweisung verderbe?"
„Und zwar behaupte ich das mit aller Entschiedenheit." „Bei
diesen Göttern selbst nun, Meietos, von denen jetzt die Rede
ist, sag' es noch deutlicher — mir und diesen Männern. Ich
nämlich kann nicht verstehen, ob du meinst, ich lehrte, man
solle zwar an das Dasein von irgendwelchen Göttern glauben,
und ich glaubte also auch selbst an Götter und sei nicht ganz
und gar gottlos, und nicht darin bestünde meine Schuld, (sondern
darin, daß ich) nicht an jene glaube, an welche die Stadt glaubt,
vielmehr an andere, und dies sei eben, was du mir vorwirfst, daß
es andere (sind)? — oder ob du behauptest, daß ich selbst über-
haupt an keine Götter glaube und auch Andere (eben) dieses
lehre." „Das meine ich, daß du überhaupt nicht an Götter
glaubst." „O du unbezahlbarer Meietos, was redest du da?
Nicht einmal die Sonne und den Mond halte ich für Götter, wie
die anderen Menschen?" „Nein, beim Zeus, ihr Richter, denn
er behauptet, die Sonne sei ein Stein und der Mond eine Erde."
„Gegen Anaxagoras glaubst du wohl, lieber Meietos, deine
Anklage zu vertreten, und so sehr verachtest du diese Männer
und hältst sie für so ungebildet, daß sie nicht wissen, daß es die
Bücher des Klazomeniers Anaxagoras sind, die von diesen
Reden voll sind! Und das also erfahren die jungen Leute von
mir, was sie (doch) alle Augenblicke um eine Drachme, wenns
hoch kommt, beim Buchhändler kaufen können, um dann den
Sokrates auszulachen, wenn er es sich zuschreibt — besonders
wo es doch so ungereimtes Zeug ist! Aber beim Zeus!, in diesem
Sinne (also) meinst du, daß ich an keinen Gott glaube?" „Ja,
beim Zeus, an keinen und in keinem Sinne." „Du bist ungläubig,
Meietos, und zwar, wie mir scheint, auch dir selbst gegenüber.
Denn mir kommt vor, ihr Athener, daß dieser Mensch über-
mütig und zügellos ist, und daß er einfach aus Obermut und
Zügellosigkeit undKinderei dieseKlage eingebracht hat. Denn es
SOKRATES I
79
ist, als ob er ein Rätsel machen und probieren möchte : wird wohl
derweiseSokrates bemerken, daß ichSpaß mache und mir selbst
widerspreche, oder werde ich ihn und die anderen Zuhörer
drankriegen? Denn er scheint sich mir in seiner Klage selbst
zu widersprechen, grade als ob er sagte: Sokrates ist schuldig,
nicht an Götter zu glauben, sondern an Götter zu glauben. Und
das ist doch die Art eines Spaßmachers. — Untersuchet aber
mit mir, ihr Männer, wieso mir das so vorkommt; du aber,
Meietos, antworte uns; und ihr — worum ich euch schon an-
fangs gebeten habe, daran erinnert euch — und macht keinen
Lärm, wenn ich in der gewohnten Weise rede. Gibt es jemanden,
Meietos, der an ein Menschenwesen glaubt, aber nicht an
Menschen? Er soll antworten, ihr Männer, und nicht immerfort
Lärm machen! Gibt's einen, der zwar nicht an Pferde glaubt,
wohl aber an ein Pferdewesen? Oder einen, der zwar nicht an
Flötenspieler glaubt, wohl aber an ein Flötenspielerwesen? Es
gibt keinen, bester Mann! Wenn du nicht antworten willst, so
sage ich's dir und diesen anderen. Auf das aber antworte jetzt:
gibt's einen, der glaubt, es gebe ein Geisterwesen, Geister aber
nicht?" „Es gibt keinen." „Was du für Fortschritte gemacht
hast, daß du endlich antwortest, — da dich diese Männer dazu
zwingen! Also, du behauptest, ich glaube an ein Geisterwesen
und lehre (daran zu glauben), es sei nun neues oder altes: aber
an ein Geisterwesen glaube ich doch nach deiner Rede, und das
hast du ja auch in deiner Anklageschrift eidlich erhärtet. Wenn
ich aber an ein Geisterwesen glaube, so ist es offenbar absolut
notwendig, daß ich auch an Geister glaube. Ist es nicht so? Es
ist so; denn da du nicht antwortest, so nehme ich an, daß du's
zugibst. Halten wir aber nicht die Geister entweder für Götter
oder für Götterkinder? — Ja oder nein?" „Gewiß." „Also,
wenn ich an Geister glaube, wie du behauptest, und wenn —
erster Fall — die Geister zu den Göttern gehören, dann wäre
das, was ich sage, daß du Rätsel aufgibst und Spaß machst,
indem du sagst, ich glaube nicht an Götter, und doch wieder an
Götter, da ich doch an Geisterglaube; wenn aber hinwiederum
80
VIERTE VORLESUNG
— zweiter Fall — die Geister irgendwie unebenbürtige Kinder
von Göttern sind, sei es von Nymphen oder von irgendwelchen
anderen (Weibern), wie man ja auch sagt — welcher Mensch
könnte glauben, daß es zwar Götterkinder gibt, Götter aber
nicht? Das wäre ebenso unsinnig, wie wenn einer meinte, es
gebe wohl Kinder von Pferden und Eseln, nämlich Maultiere,
Pferde und Esel aber nicht? Aber es ist ja gar nicht möglich,
Meietos, daß du das (aus einem anderen Grund) in deine Klage
hineingeschrieben hast, als weil du (entweder) uns auf die Probe
stellen wolltest, oder weil du in Verlegenheit warst, was für eine
wirkliche Schuld du mir vorwerfen könntest. Daß du aber
irgend einem Menschen, der auch nur ein bißchen Verstand hat,
einreden könntest, daß es nicht derselbe sei, der an ein Geister-
wesen und an Götter glaubt, und wiederum derselbe, der weder
an Geister, noch an Götter, noch an Heroen glaubt, — dazu ist
gar keine Möglichkeit vorhanden." Es sei also klar, daß er nicht
dessen schuldig sei, was Meietos ihm Schuld gebe. Wenn aber
jemand sage: es sei doch eine Schande, so eine Beschäftigung
zu treiben, bei der man Gefahr laufe, ums Leben zu kommen,
so erwidere er, ein Mann von auch nur einigem Wert werde
nicht die Chancen des Lebens und Sterbens in Rechnung ziehen,
sondern allein darauf sehen, ob er Recht oder Unrecht tue. Und
wenn man von einem Oberen an einen Posten gestellt werde,
so müsse man dort aushalten, ohne sich um die Gefahr des
Todes zu kümmern. Nun habe nach seiner Oberzeugung der
Gott ihm aufgetragen, in der philosophischen Prüfung seiner
selbst und anderer sein Leben zu verbringen. Wenn er also
jetzt aus Furcht vor dem Tode seinen Posten verließe, dann
könnte man ihn mit Recht vor Gericht stellen als einen, der
nicht an Gott glaubt, da er ihm ungehorsam wäre und weise zu
sein meint, ohne es zu sein. Denn dieses tue, wer den Tod
fürchte. Ob nämlich der Tod ein Gut oder ein Übel sei, das
wisse er nicht; das aber wisse er, daß es unrecht und schimpf-
lich sei, dem Besseren nicht zu gehorchen. Wenn man ihm
also ein Übereinkommen vorschlüge: er solle freigesprochen
SOKRATES I
81
werden, dafür aber sich verpflichten, die Menschenprüfung zu
lassen, so müßte er das ablehnen. Denn er würde nie aufhören,
jedem, dem er begegnete, Fremden und Einheimischen — den
letzteren aber als den Näherstehenden noch mehr — zu sagen,
was er immer und allein sage: „Schämst du dich nicht, mein
Bester, als ein Bürger von Athen, einer so großen und wegen
ihrer Macht und Weisheit so berühmten Stadt, dich zwar darum
zu bekümmern, daß du möglichst viel Geld und Ruhm und Ehre
habest, um Einsicht und Wahrheit und darum aber, daß du eine
möglichst tüchtige Seele habest, kümmerst du dich nicht und
denkst nicht daran? Und wenn einer von euch ausweicht und
sagt, er kümmere sich schon darum, werde ich ihn nicht gleich
loslassen und weggehen, sondern ich werde ihn ausfragen
und ausforschen und mit Gründen überwinden, und wenn mir
scheint, daß er keine Tüchtigkeit hat, (sie) aber (zu haben) be-
hauptet, werd' ich ihm vorwerfen, daß er, was am meisten wert
ist, am wenigsten schätzt, das geringere aber höher." So sei er
nun einmal. Und wenn ihn die Athener töteten, so würden sie
sich selbst mehr schaden als ihm. „Denn mir kann weder
Meietos noch Anytos schaden. Sie könnten es ja auch gar
nicht. Denn ich glaube, es ist nicht nach der Ordnung der
Welt, daß der bessere Mann vom schlechteren geschädigt wird.
Sondern er kann mich vielleicht töten oder verbrennen oder
entehren; aber dies hält vielleicht dieser oder jener für große
Übel, ich aber nicht, sondern vielmehr, wenn einer handelt, wie
jetzt dieser, nämlich wenn er einen Menschen ungerechterweise
zu töten sucht. Jetzt also, ihr Athener, ist gar keine Rede davon,
daß ich für mich spreche — wie wohl einer glauben möchte — ;
sondern für euch (rede ich), daß ihr euch nicht versündigt an
dem Geschenk des Gottes, indem ihr mich verurteilt. Denn
wenn ihr mich tötet, werdet ihr nicht leicht einen anderen
solchen finden, der geradezu — wenn es auch recht lächerlich
klingt — vomGotte der Stadt beigegeben ist, — sowie ein großes
und edles Roß, das aber infolge seiner Größe etwas schläfrig
ist, es nötig hat, von einer Stechfliege wach erhalten zu werden.
Gomperz, Lebensauffassung Q
82
VIERTE VORLESUNG
Als eine solche nun hat mich, scheint mir, der Gott der Stadt
zugeführt " Dafür aber, daß er wirklich im Dienste
einer derartigen Mission wirke, und durch sein Tun nicht seinen
eigenen Vorteil suche, könne er einen Zeugen führen: seine
Armut. Er verteidigt sich nun ausführlich gegen den echt an-
tiken Vorwurf, daß er sich an den Staatsgeschäften nicht aktiv
beteilige und beruft sich für die Wahrheit seiner Darstellung
auf das Zeugnis seiner anwesenden Jünger und deren älterer
Verwandter. Von diesen Freunden mögen denn auch, wie
Xenophon1 berichtet, einige zu seinen Gunsten gesprochen
haben, und auch die Tradition2, daß Pia ton unter diesen ge-
wesen, jedoch durch die Menge von der Tribüne herabgelärmt
worden sei, tritt in einer Form auf, der nicht von vornherein
der Glaube abgesprochen werden kann. Und endlich rechtfertigt
er sich, daß er von den herkömmlichen Mitteln, die Richter zu
rühren, keinen Gebrauch mache.
Bei der nunmehr folgenden Abstimmung wurde Sokrates
mit einem Mehr von etwa 60 Stimmen schuldig gesprochen.
Es folgt daher die Verhandlung über das Strafausmaß. Die Klä-
ger beantragen die Verhängung der Todesstrafe. Sokrates er-
hält das Wort, um einen Gegenantrag zu stellen. Er sagt, von
Rechtswegen müßte er, der sich nur einer wohltätigen Wirksam-
keit bewußt sei, auch auf eine Belohnung antragen, und zwar,
da er zur Wohlfahrt der Stadt doch wirklich etwas beigetragen
habe, zum mindesten auf dieselbe Belohnung, die den olympi-
schen Siegern zuteil werde, die doch nur zum Schein der Wohl
fahrt beitragen: nämlich auf die lebenslängliche Verköstigun*
aus Staatsmitteln, die sogenannte Speisung im Prytaneum. S^
aber sei es ihm sehr schwer, einen Antrag zu stellen. Denn aucl
in der Verbannung würde ihm seine Lebensweise wieder dif
selben Fährlichkeiten zuziehen. Und von ihr könne er einm-
nicht lassen. „Und euch davon zu überzeugen, das ist nun d«o
allerschwierigste. Denn sage ich, das hieße: dem Gotte unge-
horsam sein, und deshalb könne ich nicht Ruhe geben, so meint
1) Apolog. 22. 2) Diog. Laert. II. 41.
SOKRATES I
83
ihr, ich scherze, und glaubt mir nicht; sage ich aber wieder-
um, es sei eben das für den Menschen das größte Gut, jeden
Tag über die Tugend Gespräche zu führen, und über das andere,
worüber ihr mich reden hört, wenn ich mich selbst und die an-
deren erforsche, und ein Leben ohne Erforschung sei für einen
Menschen gar nicht lebenswert, — wenn ich das sage, glaubt ihr
mir noch weniger." Er könne also höchstens auf eine geringe
Geldstrafe antragen, z. B. auf eine Mine Silbers, oder, da sich
ihm etliche Freunde,, worunter Pia ton, zu Bürgen erböten, etwa
sogar auf 30 Minen. Das also beantrage er.
Dieser Antrag hat sein Leben nicht gerettet. Die Geschwore-
nen verurteilten ihn mit erhöhter Majorität zum Tode. Damit
war die eigentliche Verhandlung zu Ende. Allein „so lange die
Behörde beschäftigt ist, und mich noch nicht dorthin führen
läßt, wo ich sterben muß, hindert ja nichts, daß wir uns unter-
reden, solange es erlaubt ist". Sokrates spricht deshalb noch
einmal, mit den Worten beginnend: „Nur um eines kurzen Zeit-
raumes willen habt ihr, Athener, euch von sehen derer, die
Athen schmähen wollen, dem Ruf und der Beschuldigung aus-
gesetzt, daß ihr Sokrates, den Weisen, getötet hättet; denn,
wenn ich auch nicht weise bin, so werden es doch gewiß die-
jenigen behaupten, welche euch herabsetzen wollen. Hättet ihr nun
noch eine kleine Zeit gewartet, so wäre dasselbe von selbst ein-
getreten; denn ihr seht ja mein Alter, wie weit es schon im
Leben vorgerückt, und wie nahe es dem Tode ist." Er apostro-
' phiert nun zunächst jene, die gegen ihn gestimmt, und weissagt
ihnen, seine Jünger würden sein Werk fortsetzen, und jene also
1 nichts durch seinen Tod gewinnen. Dann wendet er sich an die
1- „wahren Richter", die für ihn gestimmt, und meint, er habe
Grund zu der Annahme, daß der Tod für ihn nicht ein Übel,
sondern ein Gut bedeute: „Betrachten wir es aber auch von
dieser Seite, wie stark die Hoffnung ist, daß er ein Gut sei.
Nämlich offenbar ist das Totsein eins von zwei Dingen: ent-
weder ist es so, als ob der Tote nichts wäre und von gar nichts
ein Bewußtsein hätte; oder es ist, wie man sagt, eine Verwand-
6*
84
VIERTE VORLESUNG
lung und ein Umziehen aus dieser Behausung hier in eine an-
dere. Ist es nun eine Bewußtlosigkeit, und gleicht einem Schlafe,
in dem der Schlafende nicht einmal irgend einen Traum hat,
dann wäre ja der Tod ein unbezahlbarer Gewinn. Denn ich
denke, wenn einer neben eine solche Nacht, in der er also ge-
schlafen hat, daß er nicht einmal träumte, alle anderen Tage und
Nächte seines Lebens stellen, und nun nach (reiflicher) Über-
legung sagen sollte, wie viele Tage und Nächte er in seinem
Leben besser und angenehmer verlebt habe als diese Nacht,
dann, denk' ich, würde nicht nur irgend ein Privatmann, sondern
der Großkönig (selbst) diese Tage und Nächte sehr viel rascher
überzählen können als die übrigen. Ist also der Tod etwas der-
gleichen, so nenn' ich ihn einen Gewinn; denn auf diese Weise
erschiene ja die Ewigkeit nicht länger als eine Nacht. Ist aber
dagegen der Tod gleichsam eine Auswanderung von hier an ei-
nen anderen Ort, und ist das wahr, was überliefert ist, daß also
dort alle Toten beisammen sind, was gäbe es dann für ein grö-
ßeres Gut, ihr Richter, als dieses? Denn wenn man bei dieser
Auswanderung im Hades statt dieser angeblichen Richter hier,
die man ja dann los wäre, die wahren Richter fände, von denen
es ja heißt, daß sie dort richten: Minos und Radamanthys
und Aiakos und Triptolemos, und die anderen Halbgötter,
die in ihremLebengerecht waren, wäre das ein schlechter Tausch?
Oder aber, mitOrpheus zusammenzutreffen, und mitMusaios
und mit Hesiod und mit Homer, wieviel würdet ihr wohl da-
für geben? Ich wenigstens will viele Mal sterben, wenn das
wahr ist. Denn für mich wäre ja das Leben dort auch deshalb
herrlich, weil ich da dem Palamedes begegnen würde, und
dem Aias, dem Sohn des Telamon, und wer sonst von den
Alten durch einen ungerechten Richterspruch geendet hat: ich
würde dann meine Leiden mit den ihrigen vergleichen, und ich
denke, das wäre nicht übel. Und nun die Hauptsache: zu leben,
indem man die dorten prüft und erforscht wie die hier: wer von
ihnen (wirklich) weise ist, und wer sich's nur einbildet, ohne es
zu sein. Was würdet ihr nicht darum geben, ihr Richter, den
SOKRATES I
85
(Ag a m e m n o n) zu prüfen, der das große Heer nach Troja geführt
hat, oder den Odysseus oder den Sisyphos — und unzählige
andere könnte man ja nennen, Männer und Weiber. Mit all
denen dort zu reden und zu verkehren, und sie auszuforschen,
das wäre ja eine unfaßbare Seligkeit! Und die dorten töten einen
deswegen ganz gewiß nicht; denn man ist dort nicht nur über-
haupt glücklicher als hier, sondern nun auch für alle kommende
Zeit unsterblich — wenn es nämlich mit der Überlieferung seine
Richtigkeit hat. — Aber auch ihr, ihr Richter, müsset in bezug
auf den Tod guter Hoffnung sein, und dieses eine als die
Wahrheit erkennen, daß es für einen guten Mann kein
Übel gibt, wederimLebennochnachdemTode, und daß
sein Schicksal von den Göttern nicht vernachläßigt wird. So
ist auch das meine jetzt nicht zufällig so geworden, sondern so-
viel ist mir klar, daß es für mich schon besser war, zu sterben
und mich von den Geschäften zurückzuziehen. Und deshalb
zürne ich denen, die mich angeklagt und verurteilt ha-
ben, nicht besonders. Freilich: nicht in dieser Gesinnung haben
sie mich angeklagt und verurteilt, sondern sie dachten mir zu
schaden, und insofern verdienen sie Tadel. Um das eine aber
bitte ich sie: wenn meine Söhne heranwachsen, und es scheint
euch, daß sie sich um Geld oder um sonst etwas mehr kümmern
als um die Tüchtigkeit, und daß sie sich einbilden, etwas zu sein,
was sie nicht sind; dann straft sie, ihr Männer, indem ihr sie
ganz ebenso ärgert, wie ich euch geärgert habe, und scheltet sie,
wie ich euch gescholten habe, daß sie sich nicht um das küm-
mern, um was sie sich kümmern sollten, und sich einbilden,
etwas vorzustellen, obwohl sie nichts wert sind. Und wenn ihr
das tut, dann wird mir Gerechtigkeit von euch widerfahren sein,
mir und meinen Söhnen. — Aber es ist ja (wohl) schon Zeit,
fortzugehen: mir zum Tode, euch zum Leben. Wer aber von
uns dem besseren Schicksal entgegengeht, das weiß niemand,
als nur der Gott." Und nach diesen Worten wurde Sokrates
in das Gefängnis abgeführt.
SOKRATES II
FÜNFTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
mm
IR haben neulich angefangen, uns mit der so-
matischen Persönlichkeit zu beschäftigen,
und glaubten, dieselbe noch am bestenkennen
lernen zu können aus der Haltung, die sie auf
dem Höhepunkte und zugleich am Ende ihres
Lebens der drohenden und eintretenden Ka-
tastrophe gegenüber eingenommen und be-
wahrt hat. Ich will nun heute diesen Teil meiner Aufgabe zu
Ende führen, indem ich zunächst noch den Tod des Sokrates
darstelle. Über ihn berichtet Pia ton in dem Gespräche „Phai-
don«. Die Reden über die Unsterblichkeit der Seele, welche den
größten Teil dieses Dialogs einnehmen, sind für durchaus un-
historisch zu halten. Die Schlußkapitel jedoch, in denen das
Ende selbst geschildert wird, müssen zwar, da Piaton aus-
drücklich angibt, daß er nicht zugegen war, gleichfalls als
stilisierte Wahrheit angesehen werden, allein hier ist es von
vornherein wahrscheinlich, daß sich Piaton an die gewiß
reichlich vorhandene mündliche Tradition angelehnt haben
wird, und ihr Inhalt bietet uns keinen Anlaß, diese Vormeinung
aufzugeben.
Nach dem Berichte Piatons1 also, den dieser dem Phaidon
in den Mund legt, versammelten sich am Morgen des Tages, an
dem Sokrates den Schierlingsbecher leeren sollte, in seinem
Kerker eine stattliche Anzahl von Jüngern: Phaidon aus Elis,
Euklid und Terpsion aus Megara; Simmias, Kebes und
i) Phaedo p. 59b.
SOKRATES II
87
Phaidonides aus Theben; Apollodor, Kritobul, Kriton,
Hermogenes, Epigenes, Aischines, Antisthenes, Kte-
sipp und Menexenos von Athen. Es wurden nun tagsüber
philosophische Unterhaltungen gepflogen. Gegen Abend aber
beschloß Sokrates eine Ausführung mit den Worten1: „Ihr
nun, Simmias, Kebes und ihr anderen, werdet späterhin ein-
mal diese Reise (ins Jenseits) antreten; mich aber, würde ein
Tragiker sagen, ruft schon jetzt das Geschick. Und es ist wohl
schon ungefähr Zeit zu baden, denn ich denke, es ist besser,
wenn ich mich wasche, eh' ich das Gift trinke, und nicht den
Weibern die Mühe mache, daß sie den Leichnam waschen müs-
sen." — Nach diesen Worten sagte Kriton: „Gut, Sokrates,
aber was hast du mir oder diesen aufzutragen wegen deiner
Kinder, oder wegen sonst einer Sache: wie könnten wir am
meisten in deinem Sinne handeln? — Wenn ihr tut, was ich
immer sage, Kriton, erwiderte er, und nichts neues: mir und
den meinigen und euch selbst werdet ihr zu Dank handeln, wenn
ihr, was immer ihr tut, euch um euch selbst bekümmert — auch
wenn ihr's nicht jetzt versprecht. Wenn ihr aber jetzt noch so-
viel und entschieden versprecht, und kümmert euch dann nicht
um euch selbst, und wandelt nicht, sozusagen, in den Spuren
der Reden, die jetzt und früher von uns gesprochen wurden, so
werdet ihr gar nichts leisten. Dies also, entgegnete (Kriton),
wollen wir uns vornehmen; aber wie sollen wir dich begraben?
Wie ihr nur wollt, sagte er, wenn ihr mich nämlich fassen könnt,
und ich euch nicht entwische! Und dabei lachte er leise, blickte
auf uns und sprach: Ich kann den Kriton nicht überzeugen, ihr
Männer, daß dies hier der Sokrates ist, der jetzt (mit euch)
redet, und jedes Wort an seine Stelle setzt, sondern er denkt,
ich sei jener, den er in kurzer Zeit als Leichnam sehen wird,
und so fragt er, wie er mich begraben soll? Daß ich aber eben
in einer so langen Rede auseinandergesetzt habe, daß, wenn ich
das Gift werde genommen haben, ich nicht mehr bei euch blei-
ben, sondern ganz fortgehen werde zu irgend welchem Glück
i) Phaedo p. 115a.
88
FÜNFTE VORLESUNG
der Seligen, das, kommt ihm vor, rede ich nur so, um euch zu
trösten, und auch mich selbst. Ihr müßt also jetzt, fuhr er fort, für
mich dem Kriton die entgegengesetzte Bürgschaft leisten, als
die war, die er für mich den Richtern geleistet hat. Er nämlich
hat sich dafür verbürgt, daß ich ganz gewiß dableiben würde;
ihr aber müßt euch dafür verbürgen, daß ich ganz gewiß nicht
dableiben werde, wenn ich tot bin, sondern ganz weggehen, —
damit der Kriton es besser erträgt. Denn sonst würde er, wenn
er meinen Leib verbrennen oder begraben sieht, sich meinet-
wegen aufregen, als ob mir etwas Schreckliches widerführe, und
würde beim Begräbnis sagen: da bahren sie den Sokrates auf!
oder: da tragen sie ihn hinaus! oder: da begraben sie ihn!
Denn du weißt ganz gut, lieber Kriton, sagte er, daß eine un-
richtige Ausdrucksweisenichtnur an undfürsichetwasUngebühr-
liches ist, sondern auch den Seelen einen Schaden zufügt. Aber es
heißt: sich wacker halten, und sagen, daß mein Leib begraben
wird, und zwar so begraben, wie es dir paßt, und wie du meinst,
daß es den Gesetzen am besten entspricht. — Nach diesen
Worten nun stand er auf und ging in ein (anderes) Zimmer, um
zu baden. Kriton aber folgte ihm, und hieß uns warten. Wir
warteten also, und dachten nach und sprachen über das Gesagte,
bald aber auch über die Größe des Schicksalschlages, der uns
getroffen hatte. Denn es war uns geradezu, als müßten wir, des
Vaters beraubt, als Waisen den Rest unseres Lebens verbringen.
Nachdem er aber gebadet hatte, führten sie seine Kinder zu
ihm — er hatte nämlich zwei kleine Buben und einen großen.
Und auch die Weiber aus seinem Hause kamen. Mit denen
redete er in Kritons Gegenwart, und gab ihnen die Aufträge,
die er eben wollte. Dann hieß er die Weiber und Kinder weg-
gehen, und kam selbst zu uns heraus. Und es war schon nahe
an Sonnenuntergang; denn er war lange drinnen geblieben. Er
kam also nach dem Waschen herein und setzte sich, redete aber
danach nicht mehr viel. Und da kam (auch schon) der Diener
derEilfmänner, trat zu ihm und sprach: Sokrates, an dirwerde
ich nicht bemerken, was ich an anderen bemerkt habe, daß sie
SOKRATES II
89
mir zürnen und fluchen, wenn ich auf Befehl der Obrigkeit ih-
nen ansage, daß sie das Gift nehmen sollen. Denn ich habe
dich schon sonst in dieser Zeit als den Wackersten, Sanftesten
und Besten kennen gelernt von allen, die je hier hereingekom-
men sind, und auch jetzt bin ich sicher, daß du nicht mir zürnst,
sondern denen, von denen du weißt, daß sie daran schuld sind.
Nun aber — du weißt ja, wozu ich komme — und trachte das,
was sein muß, so gut es geht, zu ertragen. Und dabei weinte er,
kehrte sich um und ging hinaus. Sokrates aber blickte ihm
nach und sagte: Und auch du lebe wohl! Wir aber werden also
tun. Und, zu uns gewendet: Wie liebenswürdig der Mensch ist!
Und schon die ganze Zeit kam er zu mir herein, und redete mit
mir, und war der reizendste Mensch. Und jetzt (seht), wie hübsch
er um mich weint! Und nun, Kriton, wollen wir ihm folgen,
und man soll mir das Gift bringen, wenn es schon gerieben ist;
wenn aber noch nicht, so soll es der Mensch reiben! Aber ich
denke, sagte Kriton, die Sonne ist noch über den Bergen, und
noch nicht untergegangen. Und ich weiß doch, daß andere das
Gift ganz spät nehmen, (lange) nachdem sie gemahnt worden
sind, und vorher noch recht gut essen und trinken, einige auch
noch eine Schäferstunde halten mit denen, nach denen sie Ver-
langen tragen. Also dränge doch nicht; denn es hat noch Zeit.
Und mit Recht, Kriton, entgegnete (Sokrates), machen's diese
so, von denen du sprichst; denn sie meinen davon einen Vorteil
zu haben; und mit (demselben) Recht werde ich's nicht so ma-
chen, denn ich meine, wenn ich's etwas später trinke, so würde
ich keinen Vorteil davon haben, und nur mir selber zum Ge-
spött werden, wenn ich am Leben klebte und sparte, wo nichts
mehr ist. Aber (jetzt) geh', folg' mir, und tu' nichts anderes! —
Und als Kriton das hörte, winkte er einem Sklaven in seiner
Nähe. Und der Sklave ging hinaus, und nach einiger Zeit kam
er zurück, in Begleitung des Mannes, der ihm das Gift geben
sollte. Der trug es zubereitet in einem Kelch. Als nun Sokra-
tes den Mann sah, sagte er: Schon recht, Bester, aber (sag'
mir) — denn du kennst dich ja damit aus — was soll ich machen?
90
FÜNFTE VORLESUNG
Ganz einfach, erwiderte dieser, trinken; dann auf- und abgehen,
bis dir die Beine schwer werden; dann dich hinlegen, und dann
wird es schon selbst wirken. Und dabei reichte er dem Sokra-
tes den Kelch. Und dieser nahm ihn, und ganz heiter, . . . ohne
zu zittern, ohne sich zu verfärben, ohne eine Miene zu verziehen,
ganz wie sonst blickte er den Mann mit seinen Stieraugen an,
und: Was meinst du, sagte er, könnte man von diesem Trunk
eine Trankspende darbringen? Ist's erlaubt oder nicht? Jener
aber sagte: Sokrates, wir bereiten (gerade) soviel, wie wir
meinen, daß es richtig sei zu trinken. Ich verstehe, sagte er;
aber beten darf man doch wohl zu den Göttern, und muß es auch,
daß die Umsiedlung von hier nach dort glücklich von statten
gehe. Darum also bitte ich, und so möge es geschehen. Und
mit diesen Worten setzte er an, und heiter und ruhig trank er's
aus. Und die meisten von uns waren bis dahin noch so ziem-
lich imstande gewesen, das Weinen zurückzuhalten. Als wir
aber sahen, wie er trank — und (schon) getrunken hatte, da
nicht mehr; sondern mir selbst zum Trotz brach der Tränen-
strom hervor, und ich verhüllte mich, und beweinte mich selbst.
Denn nicht seinetwegen (weinte) ich da, sondern über mein
eigenes Schicksal, daß ich eines solchen Freundes beraubt sei.
Kr i ton aber war noch vor mir aufgestanden,da er dieTränen nicht
mehr zurückhalten konnte. Apollodor aber hatte schon die
ganze Zeit ununterbrochen geweint; in diesem Augenblicke aber
brüllte er laut, vor Heulen und Schreien, und es war niemand
unter den Anwesenden, den er nicht erschüttert hätte — außer
Sokrates selber. Der aber sagte: Was macht ihr, ihr komischen
Leute? Ich habe doch nicht zum wenigsten deshalb die Weiber
weggeschickt, damit sie nicht solche Unordnung machten; denn
man sagt, man solle in andächtiger Stille scheiden. Seid doch
ruhig und bezwingt euch! Und da wir das hörten, schämten wir
uns, und hörten auf zu weinen. Er aber ging auf und ab. Dann
sagte er, es würden ihm die Beine schwer, und er legte sich auf
den Rücken. So nämlich ordnete es jener Mann an. Und zu-
gleich griff ihn dieser, der ihm das Gift gegeben hatte, an, und
SOKRATES II
91
nachdem einige Zeit verstrichen war, besah er die Füße und
Beine. Dann drückte er kräftig seinen Fuß und fragte ihn, ob
er es spüre, was (Sokrates) verneinte. Und etwas später eben-
so die Waden. Und indem er so von unten nach oben ging, zeigte
er uns, wie jener erkaltete und erstarrte. Und indem er ihn an-
rührte, sagte er: Wenn es bis zu seinem Herzen kommt, dann
ist es aus. Als ihm nun schon beinahe die Bauchgegend erkaltet
war, da enthüllte er sich — denn er hatte sich verhüllt — und sagte
— und das waren seine letzten Worte — : Kriton, sagte er, wir
sind dem Asklepios einen Hahn schuldig. Bringt ihn aber
dar, und versäumt es nicht! Ja, erwiderte Kriton, das wird ge-
schehen. Denke aber nach, ob du sonst nichts mehr zu sagen
hast? Auf diese Worte gab er keine Antwort mehr, sondern
nach einiger Zeit machte er eine Bewegung, und der Mann deckte
ihn auf. Da waren seine Augen gebrochen. Und da drückte ihm
Kriton Mund und Augen zu. — Dies . . . war das Ende unseres
Freundes, von dem wir behaupten, er sei von allen seinen Zeit-
genossen, die wir gekannt haben, der beste, und überdies der
verständigste und rechtschaffenste gewesen."
f> eehrte Zuhörer! Ich habe Ihnen diese ausführlichen Ex-
VJ zerpte aus den Quellen gegeben, weil sich, wie ich glaube,
die Eigenart des großen Mannes, von dem wir reden, nicht durch
Vermittlung irgend welcher referierender oder resümierender
Schlagworte dem Verständnis erschließt, sondern weil nur die,
wenn auch noch so flüchtige, unmittelbare Berührung von ihr
einen einigermaßen zuverlässigen Eindruck zu geben imstande
ist. Ist aber diese meine Absicht einigermaßen erreicht worden,
dann werden Ihnen vor allem drei Eigenschaften als im höchsten
Grade charakteristisch aufgefallen sein: eine außerordentliche
Furchtlosigkeit, eine außerordentliche Scherzfähigkeit
und eine außerordentliche Verstandesmäßigkeit. Alle drei
aber weisen zurück auf eine ebenso außerordentliche innere
Freiheit, und leiten sich aus ihr ab.
92
FÜNFTE VORLESUNG
Der erste dieser drei Punkte ist zu augenfällig, um einer ein-
gehenderen Erläuterung zu bedürfen. So ist wohl kein anderer
Mensch gestorben — wir mögen nun wen immer zum Ver-
gleiche heranziehen. Nicht, als ob nicht auch in vielen anderen
Fällen, von denen wir wissen, das Ende rein gewesen wäre von
jener Jämmerlichkeit, wo eine erlöschende Existenz sich an die
kleinen Güter des Lebens klammert, und es nicht über sich bringt,
sie fahren zu lassen ; und auch frei von jenem ergreifenderen Jam-
mer, da eine mächtige Kraft sich in vergeblichem Widerstande
erschöpft, und endlich gebrochen wird. Aber eins von zwei
Dingen finden wir dann fast immer: entweder der Wille zum
Leben ist schon geschwunden vor der Entscheidung; oder die
stürmische Erregung dieses größten Augenblicks äußert sich,
wo nicht als verzweiflungsvolle Angst, so doch in anderen For-
men: als Starrsinn des Trotzes, als Zuversicht der Seligkeits-
hoffnung, als Rausch des Heroismus. Von alledem ist in diesem
Falle keine Spur zu finden. Kein Zug von müder Resignation,
aber auch keiner von überquellender Steigerung des Gefühls
zeigt sich in der gelassenen Haltung und ruhigen Heiterkeit des
sterbenden Sokrates. Wir sehen: hier endet ein Mensch in
seiner vollen und unvergleichlichen Kraft; aber selbst da es um
ihr Sein und Nichtsein geht, vermag diese Kraft nicht aufs lei-
seste die vollkommene Gewalt zu erschüttern, mit der dieser
Mensch sie selbst beherrscht. Die Glut des Lebens sprengt
nicht die Form, in die sie gegossen ist; diese zerfällt erst in dem
Augenblick, da jene erkaltet. Wer diese Probe bestand, dem
konnte Piaton mit Recht das Wort in den Mund legen: „Für
einen guten Mann gibt es kein Übel, weder im Leben noch im
Tode." Er hat ihn damit auf dem Höhepunkte seines Lebens im
knappsten Ausdruck das Ideal der inneren Freiheit aussprechen
lassen.
Der zweite Punkt, den ich nannte, die Scherzfähigkeit, ist
als die sokratische Ironie berühmt. Ob jedoch diese Auffassung
dem Tatbestande durchaus gerecht wird, ist mir einigermaßen
zweifelhaft. Daß freilich eine so weitgehende Gleichgiltigkeit
SOKRATES II
93
gegen die äußere Lage und eine so vollkommene Freiheit von
jeder innerlichen Angst, wie wir sie eben angedeutet haben, gar
nicht bestehen kann, ohne eine unvergleichliche Ruhe, Leichtig-
keit und Heiterkeit des Geistes und Gemütes zu erzeugen,
versteht sich von selbst. Und wenn wir in unserer einleitenden
Betrachtung die Gleichung: Leben = Spiel, als einen besonders
adäquaten Ausdruck des Bewußtseins innerer Freiheit erkannten,
so ist eben dies der Eindruck, den die Persönlichkeit des So-
krates auch schon im Altertume gemacht hat. Schon Piaton
sagt1, Schönheit, Reichtum und alles andere, wegen dessen die
Menschen glücklich gepriesen werden, habe er verachtet: »Allen
diesen Gütern schreibt er keinen Wert zu, und uns (die wir sie
besitzen) achtet er für nichts, sondern ironisch und scherzend2
verhält er sich sein Leben lang gegen die Menschen." Ebenso
Epiktet3, nachdem er das ethisch wertvolle Leben einem Spiel,
und näher einem Ballspiel verglichen hat: „Also konnte auch
Sokrates Ball spielen. Wieso? Im Gerichtssaal spielen." Er
zitiert nun das Gespräch mit Meietos4, dessen dialektische
Kunstgerechtheit er offenbar mit der Eleganz des geübten Ball-
spielers in Parallele setzt, und fährt dann fort: „(So redete er),
als ob er Ball spielte. Was für ein Ball war aber damals zur
Hand? Das Leben, die Freiheit, die Verbannung, das Gift,
der Verlust seines Weibes, das Hinterlassen von Waisenkin-
dern. Das war zur Hand, womit er spielte. Aber er spielte
nichtsdestoweniger, und warf den Ball der Ordnung gemäß."
Und wieder ganz ähnlich Plotin, wo er das ganze äußere Leben
einem Kinderspiel vergleicht5: „Wenn also Sokratesauchspielt,
so spielt er doch nur mit dem äußeren Sokrates." Insofern also
mag die herkömmliche Auffassung der sokratischen Ironie in
ihrem Rechte bleiben. Eine tiefer dringende Betrachtung jedoch
kann sich hierbei schwerlich beruhigen, führt uns aber zugleich
zu dem dritten der oben vorläufig angedeuteten Punkte hinüber,
den ich als die Verstandesmäßigkeit charakterisierte.
i) Conviv. p. 216e. 2) Ttafcwv, wörtlich: spielend. 3) Diss. II. 5. 18. 4) Statt
dessen er aus Flüchtigkeit Anytos nennt. 5) Enn. III. 2. 15, p. 267.
FÜNFTE VORLESUNG
Die Ironie des Sokrates besteht nämlich, genau besehen,
eigentlich darin, daß er die eigenen, persönlichen Lebenslagen
so auffaßt, erörtert und beurteilt, wie wir anderen dies mit ge-
gebenen, fremden Situationen zu tun pflegen. Unsere Stellung-
nahme zu jenen Fragen, die uns am nächsten „angehen", ist uns
zumeist vorgezeichnet durch eine instinktive Reaktion auf den
äußeren Eindruck, und deshalb gegeben im Gefühl. Wir fra-
gen nicht, und wägen nicht die Gründe dafür und dawider
ab, ob nicht vielleicht der Tod für uns ein Gut, unser Henker
ein Freund, oder auch nur der Mann, mit dem wir gerade strei-
ten, viel klüger sei als wir? Diese subjektive Stellung zu sol-
chen Dingen wird uns durch unsere Interessen diktiert. Sie
nennen wir unseren Ernst. Und wir sind nicht gewohnt zu be-
zweifeln, daß jedermanns Ernst unserem Ernste gleichen müsse.
Äußert sich daher jemand so, als würden für ihn alle diese Vor-
aussetzungen nicht gelten, als „gehe ihn nichts an", wovon wir
denken, es müsse ihn doch offenbar mehr angehen, als alles
andere; als sei seine Stellung zu solchen Fragen ihm nicht im -
Gefühl gegeben, sondern nur aufgegeben als ein durch <
Gründe zu suchendes; als sei sie, mit einem Worte, eine ob- t
jektive, und, können wir hinzufügen, als fürchte er nicht, i t
was wir fürchten, und hoffe nicht, was wir hoffen; — dann sind ! j<
wir geneigt, anzunehmen, diese Äußerungen seien nicht der Aus-
druck seiner wirklichen Meinung, sondern er verstelle sich ?
nur; sie seien also nicht im Er nst zu nehmen,sondern im Scherz.
In der Tat schließen wir nie anders auf die Scherzhaftigkeit eines
Wortes, als weil wir dem, der es ausspricht, eine andere Ernst-
haftigkeit zumuten. Allein wenn dieser Schluß sonst oft berech-
tigt ist, muß er es auch hier sein? Warum sollte einer scher-
zen, vor seinen Richtern über Leben und Tod? Aber die Frage
sagt viel zu wenig: wie könnte das ein Mensch — ohne so frei
zu sein von unserem Ernst, daß wir jenen „Scherz" für einen (
Scherz zu halten gar nicht mehr vermögen? Wer sein Leben
zum Scherz aufs Spiel setzt, dem ist dieser Scherz Ernst — und K
die ganze Unterscheidung hat ein Ende. Und gerade dies ist es, e:
SOKRATES II
95
was wir bei Sokrates mit Recht erwarten werden. Denn wer
so entfernt ist von der ursprünglichsten Furcht, wie wir dies
eben bei ihm gesehen haben, bei dem hat jene instinktive Re-
aktion auf den äußeren Eindruck, jene gefühlsmäßige Stellung-
nahme aufgehört, die wir sonst als seinen Ernst hätten voraus-
setzen können. Wo bleibt also dann die „Ironie"? Sie sehen,
in diesem Sinne ist sie nichts als das Zerrbild, als das sich
die innere Freiheit in den Köpfen der innerlich Unfreien spie-
gelt. Denn das ist ja innere Unfreiheit, wenn Einem die äußeren
Dinge durch Vermittlung unerschütterlicher „Interessen" seine
Stellung zu ihnen diktieren; eben dadurch wird er von ihnen
abhängig, ist seineWunschbejahung eingeschränkt und gebunden.
Und eben dadurch, daß er diese Diktatur bricht, diese subjek-
tive Befangenheit abstreift, wird er von ihnen unabhängig —
und eben das ist die innere Erlösung und Befreiung!
Aber ich gehe nun noch ausdrücklich auf unseren dritten
Punkt ein, auf die sokratische Verstandesmäßigkeit. Denn nicht
zufällig mußte ich eben sagen: das Gefühl sei hier ersetzt durch
Gründe, die emotionelle Stellungnahme also durch die in-
tellektuelle. Denn dies ist die spezifische Form, in der sich
bei Sokrates der Erlösungsprozeß vollzogen hat. Dies haben
jene wohlgefühlt,die (wie Hegel und Nietzsche)ihm vorgewor-
fen haben, er habe die Instinkte des Griechentums in Verwirrung
gebracht. Und gewiß: das Irrewerden des Instinkts ist ein großes
Unglück, wenn und solange der Versuch mißlingt, ihn durch die
Vernunft zu ersetzen. Ist er es aber auch dann, wenn er gelingt?
Uud können wir dies behaupten, die wir eben dadurch nicht
mehr Tiere sind, sondern Menschen? Doch, wir wollen nicht
urteilen, wir wollen verstehen: verstehen, zunächst den all-
gemeinen Zusammenhang von Verstandesmäßigkeit und innerer
Freiheit; und weiter die untrennbare Verknüpfung beider in
der sokratischen Persönlichkeit.
Wir haben eben gesehen, daß die innere Befreiung voraus-
setzt die Abstreifung des Subjektiven in unseren Eindrücken:
eben jener Gefühle, Begierden, Interessen, deren sich die äuße-
96
FÜNFTE VORLESUNG
ren Güter als Fesseln bedienen, um uns in Abhängigkeit und
Unfreiheit zu erhalten. Was nach dieser Abstreifung übrig bleibt,
ist das Objektive des Vorgangs oder der Lage: der Tatbestand
selbst. Aber jene subjektiven Momente, die gewöhnlich zu dem
objektiven Tatbestande hinzutreten, bilden zugleich einen großen
Teil jener besonderen Umstände, welche dem einzelnen Er-
lebnis zugehören, über jene allgemeinen Züge hinaus, die ihm
mit anderen, ähnlichen Erlebnissen gemeinsam sind. Sie müssen
daher, wenigstens zeitweilig, zurückgedrängt werden, immer
dann, wenn ein persönliches Erlebnis zum Behufe des Denkens
unterBegriffegebrachtoderzumBehufe der Mitteilung inWorte
gefaßt werden soll. Denn an sich kann ein solches subjektiv-
persönliches Erlebnis weder logisch formuliert noch sprachlich
ausgesagt werden. Es ist, als höchst persönlicher Eindruck, ein
einzigartiges und einzigmaliges Vorkommnis. Wort und Begriff
aber bezeichnen ein Vorkommnis nur, insofern es mit anderen
ähnlich ist, mit ihnen zu einer Art gehört. In einer so alltäg-
lichen Aussage, wie etwa in dem Satze: „Ich ging im Wald spa-
zieren", ist eine außerordentlich weitgehende Abstraktion von
den individuellen, und namentlich auch von den subjektiven
Zügen des Eindrucks vollzogen: nicht nur alles, was diesen Wald
von anderen Wäldern, diesen Spaziergang von anderen Spazier-
gängen unterscheidet, ist damit abgestreift, sondern namentlich
auch alles, was Eindruck und Stimmung dieser Lage vor denen
anderer, mit den gleichen Worten wiederzugebender Lagen aus-
gezeichnet haben mag: die Pracht des Sommermorgens, die
Frische des Schrittes, die Sammlung von Geist und Gemüt.
Denken Sie nun, statt an ein solches, an ein in noch höherem
Grade die subjektive Stellungnahme einschließendesErlebnis : an
Freude oder Trauer, Sieg oder Niederlage, Verlust oder Gewinn,
so sehen Sie: um es auch nur auszusprechen als einen Tatbe-
stand von dieser oder jener Art, wird schon erfordert die Über-
windung zahlloser subjektiver Momente, die innere Erhebung
über so und so viele „Interessen", und damit die innere Befrei-
ung von ihnen. Daß es auf einer oberen Stufe und in einem
SOKRATES II
97
größeren Maße ebenso ist, mit der Lyrik im engsten Sinne wie
mit der subjektiven Poesie überhaupt, das ist uns ja seit Goe-
the ein Gemeinplatz. Der Dichter aber, dem es gegeben ist „zu
sagen, was er leidet", wiederholt damit nur in einer höheren
Sphäre, was schon das Kind tut, wenn es sagen lernt: „Ich hab'
mich angestoßen". Denn auch dies muß es lernen: der ursprüng-
liche Ausdruck solcher Erlebnisse ist begriff loser Schmerz und
wortloses Weinen. Hat es aber jenes einmal gelernt, dann weint
es nicht mehr: mit der verstandesmäßigen Überwältigung des
Erlebnisses hat es sich zugleich von seiner ausschließlich-per-
sönlichen Stellung zu ihm befreit. Eine Stufenleiter also, auf
der objektive Auffassung des Tatbestandes und innere Befrei-
ung Hand in Hand gehen, haben wir zweifellos vor uns; was
Wunder, wenn sie auch zugleich den Höhepunkt erreichen?
Daß aber diesem Prozeß auch größte sittliche Bedeutung zu-
kommt, wird uns schon auf einer verhältnismäßig niederen
Stufe offenbar: ich denke an jenes Gebiet der Moralität im en-
geren Sinne, das wir die Gerechtigkeit nennen. Denn Rechts-
gefühl heißt nichts anderes, als: eine Lage, an der ich zunächst
beteiligt bin als Partei, so ansehen, wie sie sich mir darstellen
würde, wenn sie stattfände zwischen Fremden, oder auch mit
vertauschten Rollen. Auch hier wieder ist es dem primitiven
Menschen eigen, das Unliebe, das ihm ein anderer zufügt, und
das ihm Liebe, das er anderen zufügt, nur anzusehen als solches;
Anzeichen aber und Bedingung höherer Ausbildung, abzusehen
davon, daß ich gewinne oder verliere, und, entblößt von dieser
subjektiven Färbung der Interessen, den Tatbestand ins Auge
zu fassen, wie er an sich ist. Und wer würde zweifeln, daß auch
dieses Fähigwerden zur Gerechtigkeit ein Schritt ist (wenn auch
nur einer der ersten) auf dem Wege zur inneren Freiheit?
Daß also ein innerer Zusammenhang besteht zwischen dem
Ideal der inneren Freiheit und zwischen einem Maximum jener
Verstandesmäßigkeit, die objektiv den Tatbestand in den Vor-
dergrund stellt, wie er an sich ist und seinen allgemeinen Merk-
malen nach unter Begriffe gebracht und ausgesprochen werden
Gomperz, Lebensauffassung 7
98
FÜNFTE VORLESUNG
kann, — das sehen Sie. Damit ist nicht gesagt, daß in jedem
Falle, wo ein Mensch diesem Ideale nahekommt, gerade dieser
Zusammenhang vor allem deutlich werden, gerade diese Seite
des Ideals uns in die Augen fallen, gerade dieser Zug seines
Wesens der hervorstechendste sein muß. Wir sagten ja schon
bei früherer Gelegenheit: das Ideal hat viele Tore, und ein jeder
wird durch ein anderes eingehen, je nach dem Wege, den ihm
sein Ausgangspunkt vorzeichnet. Dieser Ausgangspunkt der
ethischen Entwicklung aber ist der ursprüngliche, unvollkom-
mene Charakter. Gäbe es nun absolute Vollkommenheit, so
müßten sich an diesem Zielpunkte alle Einseitigkeiten der Her-
kunft und der Straße ausgleichen. So aber wird zwar jeder, in-
dem er dem Ziele näher kommt, auch die anderen Grundeigen-
schaften des innerlich freien Menschen in sich entwickeln, eine
aber wird dennoch dominieren, und ihr eigentümliches Gepräge
ihm aufdrücken. Bei dem einen mag dies die Liebe sein oder
die schöpferische Produktivität, bei dem anderen die Freudig-
keit und Heiterkeit, bei dem dritten aber die Sachlichkeit.
Und damit sind wir zu Sokrates zurückgekehrt. Bewun-
dern wir auch an ihm die seltenste, freudigste Ruhe und
Heiterkeit, und eine selbstvergessene Schöpferkraft, der direkt
oder indirekt die ganze begriffliche Geisteswissenschaft des
Abendlandes entsprungen ist, so werden wir doch der geschich-
lichen Wahrheit am nächsten kommen, wenn wir sagen: die
Persönlichkeit des Sokrates ist ihrem innersten Wesen
nach charakterisiert durch eine nahezu vollkommene innere
Freiheit, die sich uns in erster Linie als fast absolute Sach-
lichkeit offenbart.
Und wenn Sie nun, geehrte Zuhörer, nach allem Vorangehen-
den, was ich hiermit sagen will, richtig verstehen und nachem-
pfinden, dann werden Sie jetzt auch unschwer dasjenige, was
gemeinhin die „Lehre" des Sokrates heißt, in ihrer Eigenart
und in ihrem Zusammenhange mit der Persönlichkeit ihres Ur-
hebers begreifen. Aber ihrer näheren Darlegung schicke ich
nochmals die Bemerkung voraus, daß mitRücksicht auf die Form
SOKRATES II
99
des somatischen Denkens (als welches sich nur fragend und
anregend äußerte — Hebammendienste leistend, ist ein platoni-
sches Lieblingsgleichnis) diese sogenannte Lehre nicht als eine
eigentliche Lehre betrachtet werden darf, sondern daß sie eine
von uns beliebte Zusammenfassung jener, zum Teil vielleicht
nicht einmal direkt ausgesprochenen Voraussetzungen ist, die
dem sokratischen Frage- und Antwortspiel zugrunde gelegen
haben. Was wir aber über diese Voraussetzungen wissen, ist
der Hauptsache nach das Folgende.
Aristoteles sagt1: „Sokrates beschäftigte sich mit den
ethischen Problemen und durchaus nicht mit der gesamten
Naturforschung". Bei dieser Beschäftigung „suchte er zuerst
allgemeine Begriffsbestimmungen aufzustellen . . . Denn diese
beiden Dinge kann man mit Recht dem Sokrates zuschreiben:
die allgemeinen Begriffsbestimmungen und die induktiven
Reden"2. Er bestimmte aber „alle Tugenden" als „Einsichten",
„Vernunft", Sachkunde" oder Wissen3, so daß es also dasselbe
sei „die Gerechtigkeit zu kennen und gerecht zu sein"4. Daher
erklärte er auch insbesondere „die Tapferkeit für ein Wissen"5,
und da das Wissen für alle Menschen nur eines ist, so seien
auch „Selbstbeherrschung, Tapferkeit und Gerechtigkeit für
Männer und Weiber dieselben"6. Dieses Wissen gewährleistet
aber die Tugend, und „es ist nicht möglich, daß der Wissende
sich nicht in der Gewalt habe; denn es wäre ja schrecklich,
wenn, wo die Einsicht ist, etwas anderes stärker wäre"7. Viel-
mehr ist „nichts stärker als die Einsicht"8. Sokrates behauptete
aber durchaus nicht, diese Einsicht selbst zu besitzen; denn
„deswegen fragte Sokrates, antwortete aber nicht; er gestand
nämlich, daß er kein Wissen habe"9.
Sie sehen, sehr imponierend ist die Masse der Zeugnisse, die
uns übrig bleiben, gerade nicht. Dafür scheinen sie im wesent-
i) Metaph. 1.6, p. 987 b 1; vgl. de partt. anim. 1.4, p. 642 a 28. 2) Metaph.
XIII.4, p.l078b 17ff. 3) Eth. Nie. VI. 13, p.H44b 19 und 28. *) Eth.Eud. 1.5,
p. 1216b 7. 5) Eth. Nie. III. 11, p. 1116b 4. 6) p0lit. 1. 13, p. 1260a 21. 7) Eth.
Nic.VII.3,p.ll45b23. 8) Eth.Eud.VII. 13, p. 1246b 34. 9) Soph.E1.33,p.l83b7.
7*
100
FÜNFTE VORLESUNG
liehen zuverlässig. Unsere erste Aufgabe aber muß die sein,
ihren Gehalt uns dadurch näher zu bringen, daß wir ihn kurz
in eine uns geläufigere Sprache übertragen.
Sokrates ging also, das ist die Meinung, darauf aus, die ethi-
schen Grundbegriffe in der Weise zu bestimmen, daß er Ant-
worten auf die Fragen provozierte, was jede Tugend eigentlich
sei? Er fragte also etwa: Was ist die Tapferkeit? Was ist die
Rechtschaffenheit? usw. Als die Methode zur Auflösung dieser
Probleme aber schwebte ihm dasjenige vor, was Aristoteles
die „induktiven Reden" nennt. Das heißt, wie wir nach den über-
einstimmenden Darstellungen des Piaton und des Xenophon
schließen können, er wollte die ethischen Fragen nach Analogie
der technischen behandelt wissen. Er verwendete somit die spe-
zifischen Tüchtigkeiten der einzelnen Gewerbe (des Reiters,
Schusters, Flötenspielers), also die Kunstfertigkeiten, zur Illu-
stration der allgemeinen menschlichen Tüchtigkeit, also der
„Tugend". Er meinte, wer wisse, wie ein guter Schuh beschaffen
sei, werde auch einen solchen machen; und ebenso wäre auch
derjenige tapfer, der wüßte, was Tapferkeit sei. Wie also den
tüchtigen Schuster, so müßte das rechte Wissen auch den tüch-
tigen Menschen ausmachen. Den Inhalt dieses Wissens aber
mochte er wohl wieder und wieder zu bestimmen versuchen;
allein er war sich nicht bewußt, ihn auch endgültig bestimmt zu
haben. Und eben deshalb, weil er dieses Wissen nicht hatte,
sondern nur postulierte, — eben deswegen konnte er seine
Voraussetzung (daß nämlich der Besitz desselben hinreichen
würde, ein ethisches Leben zu gewährleisten) nicht an der Er-
fahrung erproben.
Diesen Sätzen gegenüber drängen sich sofort zwei Einwände
auf. Erstens nämlich ist es doch nicht einmal richtig, daß die
theoretische Kenntnis vom Wesen eines guten Schuhes schon
den guten Schuster macht. Um ein solcher zu werden, bedarf
es vielmehr noch außerdem der praktischen Übung. Zweitens
aber trägt doch jene theoretische Kenntnis nur insofern etwas
dazu bei, das Wesen eines tüchtigen Schusters auszumachen,
SOKRATES II
101
als wir voraussetzen können, er sei, um in seinem Gewerbe
nach Kräften zu prosperieren, entschlossen, möglichst gute
Schuhe zu machen. Nur weil er von vornherein diesen Zweck
verwirklichen will, hängt diese Verwirklichung lediglich von
seiner Kenntnis der zugehörigen Mittel ab. Könnten wir vor-
aussetzen, er wolle gar keine guten Schuhe machen, — und diese
Voraussetzung wäre zum Beispiel in allen jenen Fällen berechtigt,
in denen wir von „Schleuderware" zu sprechen pflegen — so
dürften wir gewiß nicht annehmen, er werde sie machen, so-
bald er nur wisse, wie sie zu machen seien. Welches Recht
haben wir nun zu der Annahme, jeder Mensch wolle tapfer,
gerecht usw. sein? Es scheint demnach, daß außer der Ein-
sicht in das Wesen des Guten und der Übung in seiner Be-
tätigung auch noch der Wille, es zu verwirklichen, erfordert
wird.
Wie sollen wir uns nun denken, daß sich Sokrates zu diesen
scheinbar so naheliegenden Schwierigkeiten verhalten hat?
Ihre gesonderte Besprechung wird uns zeigen, daß sie ihm
kaum zum Bewußtsein gekommen sind, zugleich aber auch, wie
dies möglich, ja, warum es fast notwendig gewesen ist.
Weder in der aristotelischen noch in der platonischen noch
in der xenophontischen Darstellung findet sich auch nur die
Spur einer Auseinandersetzung mit der Behauptung, daß ein
Mensch ein Geschäft zwar verstehen, aber nicht ausüben könnte,
weil ihm die nötige Übung fehle. So energisch später Kyniker
und Peripatetiker auf diesen Sachverhalt hingewiesen haben,
indem sie neben der Einsicht zur Tugend noch, jene die ent-
sprechende Kraft, diese den entsprechenden Habitus forderten
— nirgends findet sich auch nur angedeutet, daß schon Sokrates
diesen Gesichtspunkt gekannt, geschweige denn widerlegt hätte.
Auch ist dies nicht so verwunderlich, wie man auf den ersten Blick
denken möchte. Zunächst liegt der Tatbestand, für den, der die
Verhältnisse im großen und rohen betrachtet, gar nicht zutage.
Er sieht vielmehr, daß es Meister gibt, die eine Kunst ausüben,
und von ihr auch eine zureichende Kenntnis haben; und ferner,
102
FÜNFTE VORLESUNG
daß diese Kunstübung von einem Meister auf den anderen über-
tragen wird durch einen Prozeß, der damals nicht anders wie
heute als „Lehren" resp. „Lernen" bezeichnet wird. Was liegt
da näher, als der Schluß, daß das Wesen dieses Vorganges eben
in der Mitteilung jener Kenntnis bestehe? Auch heute noch
würde ja wohl der gemeine Mann auf die Frage: Wie lehrt der
Meister den Lehrling sein Handwerk? erwidern: Indem er ihm
zeigt, wie man's macht. Hätte sich aber auch Sokrates auf die
Psychologie des Lernens näher eingelassen, so hätte ihm das
Ungenügende seiner Voraussetzung noch keineswegs einleuchten
müssen. Er hätte, solange der Lernende die Kunst noch nicht
voll ausüben konnte, immer noch gemeint, jener habe eben die
Unterweisung noch nicht völlig „verstanden". Wir freilich
meinen es besser zu wissen. Wir stellen uns vor, daß das „Ver-
ständnis" einer Kunst, das einzige an ihr, was „gelehrt", nämlich
mitgeteilt werden kann, auf einer assoziativen Verbindung zwi-
schen Sinnesempfindungen, resp. deren Gedächtnisbildern be-
ruht; daß also z. B. beim Lesenlernen dieses „Wissen" darin
besteht, daß mit dem Gesichtsbilde des Zeichens A die Gehörs-
vorstellung des Lautes A verbunden wird. Dagegen meinen wir,
das praktische „Erlernen" der Kunst beruhe auf der Herstellung
einer Assoziation zwischen dem Sinneseindruck und — nicht
mehr einem andern Sinneseindruck, sondern — einem be-
stimmten Bewegungsimpuls; beim Lesenlernen z. B. bestehe
das „Können" darin, daß mit dem Gesichtsbild A jene Innerva-
tion der Sprachorgane assoziiert wird, welche den Laut A her-
vorbringt. Und wir glauben endlich, aus Erfahrung zu wissen,
daß, wenn jeneAssoziation,die wir gemeinhin „Merken" nennen,
schon nach ein- oder doch wenigmaliger Paarung fixiert werden
kann, diese, die wir als „Einüben" bezeichnen, zu ihrer Stabili-
sierung eine oftmalige Kombination erfordert; daß also, kurz ge-
sagt, dieBedingungen für die Herstellung einer festen Verknüpf-
ung zwischen einer Vorstellung und einer anderen Vorstellung
viel leichter zu realisieren sind als die für die Verbindung einer
Vorstellung mit einem Bewegungsimpuls. Daß aber in dem
SOKRATES II
103
Kindheitsstadium der Geisteswissenschaft diese Unterscheidung
verkannt werden konnte, wird uns gewiß nicht wundernehmen.
Dazu kommt aber weiter, daß die persönliche Eigenart des
Sokrates ihm die Einsicht in diese Verhältnisse noch ganz be-
sonders erschweren mußte. Denn wir haben als den hervor-
stechendsten Zug derselben eine ganz ungewöhnliche Sachlich-
keit kennen gelernt. Das heißt aber: es ward bei ihm das Be-
wußtsein fast ausschließlich von objektiven Vorstellungen be-
herrscht, neben denen die subjektiven Impulse nahezu völlig
in den Schatten des Unbewußten oder doch Unbemerkten zu-
rücktraten. Wenn er also auf sein eigenes Bewußtsein reflek-
tierte — und niemand kann auf ein fremdes reflektieren — , so
fand er überhaupt nur solche objektiv-wertige Vorstellungen,
sagen wir: Wahrnehmungen und Erkenntnisse, vor; und ganz
fern mußte ihm der Gedanke liegen, daß Widerstände, die er
gar nicht empfand, bei anderen das Fortschreiten von sittlicher
Erkenntnis zu sittlichem Tun behindern könnten. Insofern sehen
wir schon hier, daß der Intellektualismus seiner Natur den
Intellektualismus seiner Lehre mit Notwendigkeit hervorge-
trieben hat.
Ähnlich steht es nun aber auch mit dem zweiten Punkte. Die
sokratische Lehre setzt voraus, daß, wie im Handwerk, so auch
im Leben, überall, wo das Wissen vorhanden ist, wie es „gut"
gemacht wird, auch der Wunsch gegeben sein müsse, es „gut"
zu machen. Dabei fällt uns sofort der Doppelsinn des Wortes
„gut" auf. Beim Handwerker ist das „Gute" das Zweckmäßige,
dasjenige, was imstande ist, den gewünschten Zweck zu ver-
wirklichen. Beim Menschen im allgemeinen ist es das sittlich
Gebilligte. Das Gute, im Sinne des Zweckmäßigen, hat aber
allerdings auch beim Menschen ein Analogon. Was einer
wünscht, das nennt er ein Gut, was er nicht wünscht, ein Obel.
Gut und Übel sind in diesem Sinne einfach andere Namen für
die Eigenschaft des Gewünscht- und Nichtgewünschtwerdens.
Und da wir, was wir wünschen, auch wollen, vorausgesetzt, daß
wir es überhaupt verwirklichen können, und daß kein anderer,
104
FÜNFTE VORLESUNG
stärkerer Wunsch dem entgegensteht, so kann man nun freilich
sagen: ein jeder wolle, was (für ihn) gut ist, und wenn er nur
erst wisse, wie er's anstellen müsse, um es zu erreichen, so werde
er's auch sicherlich wollen, und dem entsprechend handeln. Die
sokratische Lehre wäre also ganz richtig, wenn das sittlich Gute
mit diesem wunschlich Guten schlechthin zusammenfiele. Hat
nunSokrates diese Identität wirklich behauptet? Sicher scheint
mir, daß er die beiden „Gut" nicht auseinandergehalten hat.
Von allen anderen Gründen abgesehen, ergibt sich dies schon
daraus, daß noch Pia ton an ungezählten Stellen diese Unter-
scheidung unbekannt ist1. Dieser aber war nicht der Mann,
einmal entdeckte logische Distinktionen zu vergessen. Deshalb
wird man nicht sagen dürfen, Sokrates habe zwei disparate
Begriffe zusammengeworfen. Beide hatten sich vielmehr noch
gar nicht differenziert. „Gut" bedeutet ursprünglich alles, dessen
Vorstellungvon einer „ZustimmungdesGemütes" begleitet, alles,
was irgend welche „freundliche" Gefühle erregt, was also in
irgend einem Sinne bejaht wird — es sei nun diese Bejahung
näher eine Wunschbejahung, eine Billigungsbejahung, oder eine
Gefallensbejahung. In diesem Sinne also ist ebensowohl die Er-
füllung eines Wunsches „gut", mit der man zufrieden ist, wie
ein Gegenstand, der einem gefällt, oder ein Verhalten, das man
billigt. Ganz so daher, wie in dieser Zeit das Wort „schön"
die moralische und die ästhetische Bejahung zusammenfaßt, so
drückt auch das Wort „gut" sowohl die Wunschbejahung wie
die Billigungsbejahung aus. Und dabei handelt es sich nicht
um die zufällige Einheit eines Wortes, sondern um die noch un-
geschiedene Einheit des Begriffs. Diese Begriffssonderung ist
ja eben die Aufgabe, mit der die Philosophie zu allen Zeiten
gerungen hat, und in deren Überwindung sie stets die Philo-
sophie der Zukunft hervortreibt. Darüber aber, daß dieser
Differenzierungsprozeß damals noch in seinen ersten Anfängen
stand, wird sich niemand wundern, der bedenkt, daß ja eben
*) Man sehe beispielshalber Gorg. p. 460b, oder vgl. ebenda p. 499e mit
506d! Oder man lese daraufhin den ganzen Dialog „Hippias Minor" !
SOKRATES II
105
erst mit Sokrates dieses philosophische Ringen auf ethischem
Gebiete beginnt. Aber auch hier treten die persönlichen Gründe
zu den sachlichen ergänzend und entscheidend hinzu. Die ab-
solut sachliche, ihrer Naturinstinkte unbewußte Persönlichkeit
des Sokrates konnte auf Wünschen und Wollen als auf einen
besonderen, unabhängigen Faktor überhaupt nicht reflektieren.
Nur ein Wollen, das mit dem Erkennen selbstverständlicher
Weise mitgegeben ist, und deshalb eine besondere Beachtung
weder herausfordert noch erträgt, konnte in das psychologische
Schema eines Bewußtseins passen, das seinen Begehrungsim-
pulsen so fremd gegenüberstand, daß es sie unter dem Namen
des Daimonion für eine göttliche Stimme nahm. Derjenige,
dem sein Ich allein im Denken aufging, konnte unmöglich die sitt-
liche Bedeutsamkeit des Wollens bemerken. Und wenn schon
das ganze Altertum diesen Intellektualismus nie völlig überwun-
den hat, wenn im platonischen „Gorgias" Sokrates dem Polos
beweist, was er wolle 1 ; wenn die gesamte antike Ethik unter dem
Begriffe der ,,Eudaimoniea(Wohl) ein als gegeben angenommenes
Willensziel verstanden, und, statt zu fragen: was der Mensch
wollen solle?, vielmehr gefragt hat: worin die Eudaimonie be-
stehe, die er will?, — so ist dieserlntellektualismusbei Sokrates
doppelt notwendig: nicht nur durch die theoretischen Voraus-
setzungen seiner Zeit gefordert, sondern auch durch seine per-
sönliche Eigenart bedingt.
Wir haben schon im bisherigen vorgreifend einige Beiträge
gegeben zu der letzten Frage, mit der wir uns heute zu beschäf-
tigen haben: zu der Frage nämlich nach dem Zusammenhange
der sokratischen Lehre mit der sokratischen Persönlichkeit.
Wir haben, kurz gesagt,' gefunden, daß von einer so eminent
sachlichen und verstandesmäßigen Natur eine andere als eine so
eminent intellektualistische Lehre nicht erwartet werden könnte:
wem das eigene Leben fast ganz aufgeht im Denken, dem
muß, wenn er bei der Bildung seiner Begriffe seine eigensten
und innersten Bedürfnisse zu Rate zieht, das Ideal des Lebens
!) p. 475 e.
106
FÜNFTE VORLESUNG
auch zusammenfallen mit dem Ziel des Denkens, dem Wissen.
Insofern wir aber gesehen haben, daß jene Sachlichkeit zugleich
die spezifische Form ist, in der sich die innere Befreiung des
Sokrates vollzieht, haben wir auch schon eine erste Brücke
von seiner ethischen Lehre zu diesem Ideale selbst geschlagen.
Blieb ihm allein das Denken übrig nach Aufhebung aller Ab-
hängigkeit von der äußeren Welt, so mußte es ihm eben als der
adäquate Ausdruck seiner persönlichen Lebensstimmung er-
scheinen.
Eben deshalb aber, weil, was sich hier in einem einzelnen
Individuum abgespielt hat, nur eine typische Seite allgemein
menschlicher Verhältnisse hervortreten läßt, muß dem soma-
tischen Intellektualismus auch eine gewisse objektive Eignung,
das Ideal der inneren Freiheit auszudrücken, zugestanden wer-
den. Denn in der Tat ist das Denken diejenige unserer Fähig-
keiten, die von unserm äußeren Schicksal verhältnismäßig am
wenigsten stark und am wenigsten unmittelbar abhängig ist. Die
Gefühle werden durch die äußeren Gegenstände und Verhält-
nisse unmittelbar erregt, die Begierden sind unmittelbar auf sie
gerichtet. Durch diese also hängen wir mit jenen aufs direkteste
zusammen, sind wir von ihnen am stärksten abhängig. Dies
zeigt sich darin vor allem, daß sie am augenfälligsten im Gefolge
jener wechseln. Je nach dem Wandel des äußeren Schicksals
sind wir „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt", wird
Freude von Trauer, Furcht von Hoffnung abgelöst. So steht es
mit dem Wissen nicht. Gewiß werden wir die Bedeutsamkeit
jener Gesichtspunkte nicht verkennen, die von Augustinus bis
Schopenhauer immer wieder zu der Lehre vom sogenannten
Primat des Willens geführt haben. Gewiß ist der Intellekt ur-
sprünglich ein Diener der Interessen. Und noch verschiebt sich
mit jeder wechselnden Welle des Gefühls kaleidoskopisch die
Gruppierung unserer Gedanken. Ganze Systeme der Wissen-
schaft entspringen den Bedürfnissen des Gefühls; und allgemein
wird man sagen dürfen, daß jedes Denken stillsteht, sobald es
an der Triebkraft der Affekte fehlt. Dennoch befreit sich das
SOKRATES II
107
Werkzeug des Intellekts allmählich in weitem Maße von der
richtunggebenden Einwirkung der Instinkte, ja es wirkt hem-
mend, verändernd und fördernd auf sie zurück — vor allem da-
durch, daß sich neben den allgemein biologischen spezifisch
intellektuelle Bedürfnisse ausbilden, die wohl noch die
Energie, aber nicht mehr die Richtung und die Ergebnisse des
Denkens bestimmen: das Verlangen nach Widerspruchslosig-
keit, nach Kenntnis, nach Zusammenfassung und Erklärung,
kurz nach Wahrheit. Und unleugbar ist es, daß z. B. unser
Wissen um das Einmaleins von unserer äußeren Lage und ihrem
Wechsel kaum noch in nennenswerter Weise beeinflußt wird.
Indem aber dieses in die Augen springt, wird auch klar, wie eine
intellektualistische Theorie als adäquater Ausdruck des Ideals
der inneren Freiheit erscheinen, und es bis zu einem gewissen
Grade auch wirklich sein kann. Denn für eine Stimmung, die
ganz erfüllt ist von dem Bewußtsein, daß alles wertvolle an uns
von allem äußeren unabhängig, daß unsere Tüchtigkeit oder
Tugend schlechthin unverlierbar ist, ist es wohl eine ungemein
naheliegende Folge, diesen unseren Wert, diese unsere Tüchtig-
keit und Tugend eben in das unverlierbarste unserer Besitz-
tümer, in das Wissen zu setzen. Und so entbehrt, von dieser
Seite her, die sokratische Lehre auch nicht ihrer objektiven
Berechtigung: wie wir schon früher die Erkenntnis überhaupt
als einen der charakteristischen Wege zur inneren Befreiung
und Erlösung erkannt haben, so wird die vorherrschende
Schätzung des Wissens in vielen Fällen zwar nicht eine Gewähr,
wohl aber eine natürliche Folge hochgesteigerter innerer Frei-
heit sein1.
In subjektiver Beziehung aber ist dieser Zusammenhang
Ihnen nunmehr hoffentlich über jeden Zweifel einleuchtend ge-
worden. Trotz allem gesagten hätte nie ein Mensch die Mei-
!) In der Tat ist die intellektualistische Formulierung des Freiheitsideals
keineswegs auf Griechenland beschränkt, vielmehr bildet der Spruch: „Aus
der Erkenntnis die Erlösung" (£ankara bei Deussen, Die Sutra's des
Vedanta, S. 283) die gemeinsame Voraussetzung aller indischen Systeme
(Vedanta, Samkhya, Buddhismus usw.).
108
FÜNFTE VORLESUNG
nung, daß alle nach dem Guten streben, daß niemand wissent-
lich fehle, und daß die Kenntnis des Guten ausreiche zum sitt-
lichen Tun, zur axiomatischen Grundlage seiner Lehre gemacht,
der täglich an sich selbst das Gegenteil erfahren hätte. Das
konnte nur, wer so frei war von blinden Impulsen des Begeh-
rens wie Sokrates. Hinter dieser Zweideutigkeit im Begriffe
des Guten steht, als ihre einzig mögliche Voraussetzung und
Erklärung, die wünsch- und begierdelose, in sich beruhigte und
befriedigte Natur eines innerlich freien Menschen. Damit
Sokrates sagen konnte: „Nichts ist stärker als die Einsicht",
mußten in ihm selbst jene sonst übermächtigen Fesseln gelöst
sein, mit denen wir anderen an bestimmte äußere Lagen, ge-
nießend und zurückbebend, gekettet sind. Sondern, der diesen
Satz zuerst gesprochen hat, mußte imstande sein, jeder äußeren
Lage unerschüttert gegenüberzutreten; er mußte die Kraft be-
sitzen, das Ganze der Welt und des Lebens jederzeit wunsch-
los und freudig zu bejahen. Das aber heißt: er mußte, soweit
das menschenmöglich ist, innerlich frei sein. Und so sehen
Sie, daß sich die recht geschaute Persönlichkeit des Sokrates
und seine recht verstandene Lehre wechselseitig bedingen und
erklären.
Nun dürfen Sie, geehrte Zuhörer, freilich nicht glauben, daß
damit, was über Sokrates zu sagen wäre, auch nur im Umriß
erschöpft ist.
Die tieferen Gründe seiner Verurteilung bilden ein Problem
für sich. Doch ist es mir zweifelhaft, ob wir bei dem Stande
unserer gesicherten Kenntnisse uns darüber ein abschließendes
Urteil zu bilden vermögen.
Ähnlich steht es mit der Frage nach seinen politischen An-
sichten. Nur ist es hier von vorneherein wahrscheinlich, daß er
seine Forderung des sachverständigen Wissens auch auf dieses
Gebiet ausgedehnt, und im Gegensatze zur demokratischen
Beamtenbestellung durch Wahl und Los die Herrschaft der
Sachkundigen gefordert haben wird. In der Tat beruht nicht
nur die ganze platonische Staatslehre auf diesem Prinzip, son-
SOKRATES II
109
dem auch von Antisthenes wird uns erzählt1, er habe (anläß-
lich eines Pferdemangels) den Athenern geraten, durch Volks-
beschluß die Esel zu Pferden zu ernennen; und denen, die dies
unsinnig fanden, geantwortet: „Aber auch zum Feldherrn wird
man ja bei euch, ohne etwas gelernt zu haben, durch bloße Volks-
abstimmung." In welcher Richtung sich aber des Sokrates
politische Desiderata im einzelnen bewegt haben mögen, wissen
wir nicht.
Auch ist die Beschaffenheit seiner Definitions- und Induktions-
versuche von größter Bedeutung für die Geschichte der Logik;
allein wir können uns auf gelegentliche und darum notwendig
unzulängliche Seitenblicke in dieses Gebiet nicht einlassen, und
müssen uns auf das ethisch Bedeutsamste beschränken.
Auf Einen Punkt aber muß ich Sie, eben in diesem Interesse,
noch mit Nachdruck hinweisen. Er bildet zugleich den Über-
gang zum folgenden. Es fragt sich nämlich: hat die sokratische
Forderung des sittlichen Wissens wirklich keine, über diesen
rein formalen Begriff hinausgehende Bedeutung? Hat So-
krates wirklich nur das Wissen um die Begriffe des Guten, der
Tugend usw. postuliert, und nicht vielmehr das richtige Wissen
um das Angenehme, das Nützliche oder dergl.? Diese Frage
ist meines Erachtens mit der größten Entschiedenheit zu be-
jahen. Davon abgesehen, daß er ja, hätte er das „Wissen" in-
haltlich bestimmt, sich selbst ein solches Wissen hätte zuschrei-
ben müssen, und nicht der Unwissende hätte sein wollen, der
er sein wollte — die Frage wird gerade durch jene Umstände
in diesem Sinn entschieden, die manchen für die andere Alter-
native zu sprechen scheinen: durch die ethischen Lehren seiner
Jünger. Wir finden bei Piaton eine Fortbildung der somati-
schen Lehre vom Wissen zu der Lehre vom Schauen der un-
körperlichen Ideen. Wir finden, daß bei Aristipp an die Stelle
des bloßen (inhaltlich unbestimmten) Wissens das Wissen um
das rechte Genießen tritt. Dieselbe Rolle spielt bei Antisthe-
nes das Wissen um die natürlichen Bedürfnisse, bei Xenophon
1) Diog. Laert. VI. 8.
110
FÜNFTE VORLESUNG
das Wissen um den Nutzen der Dinge. Hat also nicht vielleicht
Sokrates selbst eine dieser Lehren vorgetragen? Nein!, müs-
sen wir antworten; denn sonst hätten sich die anderen nicht
aus der seinen entwickeln, ihre Vertreter ihn nicht in gleicher
Weise für sich reklamieren können! Natürlich kann Sokrates
bald in der einen und bald in der anderen Richtung Definitionen
versucht, bald dieser, bald jener Lehre zugeneigt haben. Aber
an eine entschiedene Vertretung einer dieser Doktrinen ist gar
nicht zu denken. Ich führe diesen Gedankengang noch ein
wenig näher ins einzelne aus.
Das xenophontische Wissen ist sehr simpler Natur. Es
besteht in Erkenntnissen wie dem, daß man sich Freunde er-
werben müsse, wenn man von ihnen gefördert werden wolle1,
oder daß die Unenthaltsamkeit das Vermögen aufzehrt und die
Gesundheit untergräbt2. Ein so naheliegendes Wissen aber
kann man nicht postulieren, man kann es nur besitzen. Ein
solcher Sokrates hätte nicht bloß fragend anregen können, er
hätte lehrend predigen müssen. Dies tut denn auch der xeno-
phontische Sokrates zur Genüge, ja zum Überdruß. Aber vom
geschichtlichen Sokrates wissen wir durch Piaton und Ari-
stotelesgerade das eine, daß er dies nicht getan hat. Das xeno-
phontische Wissen ist also nicht das sokratische.
Das platonische Wissen setzt die Ideenlehre voraus. Aber
gerade von ihr sagt uns Aristoteles, daß sie dem Sokrates
fremd war.
Das aristippische und das antisthenische Wissen end-
lich schließen einander gegenseitig aus. Hätte Sokrates die
kynische Bedürfnislosigkeit gelehrt: der Luxus- und Genuß-
mensch Ar i stipp hätte sich weder selbst als Sokratiker be-
trachten3, noch hätten ihn seine Genossen als solchen aner-
kennen können4. Und hätte er die kyrenaische Lustlehre be-
kannt: nie hätte derselbe Antisthenes,als dessen Lieblingssatz
i) Comm. II. 4.1 ff. 2) Co mm. 1.5.3. 3) Diog. Laert. II. 71 ; 76; 80. *) Xeno-
phon, Comm. II. 1 u. III. 8; Piaton, Phaed. p.59c; Aristoteles, Rhet.
II. 23, p. 1398 b 29.
SOKRATES II
111
überliefert wird1: „Ich wäre lieber verrückt, als daß ich Lust
empfände", Sokrates in dem Maße als ethisches Vorbild an-
erkennen und verehren können, wie er das getan hat2.
Es bleibt also notwendig dabei: das „Wissen" des Sokrates
war ein formales Wissen, dem jeder bestimmte Inhalt fehlte. Und
dies allein konnte es auch sein, weil es eben kein besessenes,
sondern ein bloß postuliertes Wissen war. Eben deshalb aber
hatte es auch die Fähigkeit, sich mit dem verschiedensten In-
halte zu erfüllen. Und diese Erfüllung ist die Fortbildung der
sokratischen Lehre in den ethischen Lehren der Sokratiker.
In dem Anstoß hierzu erschöpft sich indes die Wirksamkeit
des Sokrates keineswegs. Mit dem Keim einer ethischen Lehre
hat er auf seine Jünger das unausgesprochene Ideal seiner Per-
sönlichkeit, die Idee der inneren Freiheit verpflanzt. Von dem
unbedeutenden, in die triviale Ethik des Maßes zurückfallenden
Xenophon abgesehen, tritt es bei allen Sokratikern unverkenn-
bar hervor. Piaton, Aristipp und Antisthenes errichten
ethische Lehrgebäude, die alle drei in dem Ideal der inneren
Freiheit, in der Forderung unbedingter Erhabenheit über alles
Äußere, in der Lehre von der Selbsterlösung gipfeln. Und eben
diese Übereinstimmung der Jüngerideale ist der entscheidende
Beweis dafür, daß der Meister dasselbe, wo nicht ausgesprochen,
so um so mehr verkörpert haben muß: sie drückt das Siegel auf
unsere Auffassung des geschichtlichen Sokrates. Wie die so-
matische Lehre, so entfaltet sich auch das der sokratischen Per-
sönlichkeit immanente Ideal in der Ethik der sokratischen
Schulen.
1) Diog. Laert. VI. 3. 2) Vgl. Diog. Laert. VI. 11.
DIE KYNIKER
SECHSTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörerl
N den letzten Vorlesungen haben wir uns mit
dem Ausgangspunkte der philosophischen
Ethik der Griechen bekannt gemacht: mit
der Persönlichkeit und Lehre des Sokrates.
Wir gehen nun daran, ihre Fortbildungen
kennen zu lernen, wie sie bedingt sind
einerseits durch das in jener Persönlichkeit
verkörperte Ideal der inneren Freiheit und das dieser Lehre zu-
grunde liegende Postulat des Tugendwissens, andererseits durch
das individuelle Temperament und die theoretischen Voraus-
setzungen ihrer Hauptvertreter. Von den philosophischen Rich-
tungen, die auf diese Weise entstehen, und die man, je nach dem
Vorwiegen des religiösen oder des philosophischen Interesses,
als Sekten oder als Schulen bezeichnen kann (das Griechische
kennt für beides nur ein Wort1), fassen wir zunächst die ky-
nische ins Auge.
Ihr Begründer ist Antisthenes, des Sokrates unmittelbarer
Jünger; ihr bekanntester Vertreter dessen Schüler Diogenes
vonSinope; in mancher Beziehung wichtig wiederum des Dio-
genes bedeutendster Nachfolger Krates. Die Folge dieser
Namen ist zugleich charakteristisch für die äußere Entwicklung
des Kynismus. Die kynische Lehre von der Mühe, Bedürfnis-
losigkeit und Entbehrung als dem einzigen Wege zu Tugend und
Glück scheint Antisthenes nur theoretisch vorgetragen zu
haben2, wenn er auch, seiner Armut entsprechend, in den dürf-
!) aipeaiq. 2) Diog. Laert. VI. 2.
DIE KYNIKER
113
tigsten Verhältnissen gelebt hat. Ob schon er, oder erst Dio-
genes, die typische Kynikertracht (Mantel, Ranzen und Stab1)
angenommen hat, ist zweifelhaft2, sicher dagegen scheint es, daß
dieser letztere zuerst sein Leben durch Betteln gefristet hat. Bei
Krates endlich erscheint das Bettlerleben, das bei jenem sich
noch von selbst aus seiner Mittellosigkeit ergeben hatte, als
Gegenstand freier Wahl; denn es ist überliefert3, er sei ur-
sprünglich ein reicher Mann gewesen und habe seines Ver-
mögens freiwillig sich entäußert. Damit stellt sich der kynische
| Philosoph, als eigentlicher Bettelmönch, gleichberechtigt neben
I die beiden anderen weltgeschichtlichen Hauptformen dieser Er-
scheinung: neben den buddhistischen Bhikschu und den Frate
: minore des Hlg. Franciscus von Assisi. Auch die buddhisti-
schen Nonnen und der von der Hlg. Clara gestiftete zweite
: Orden des Hlg. Franz finden in Hipparchia, der Gattin und
Bettelgenossin des Krates, ihr Gegenbild. Auf diese Ver-
! wandtschaft gleich anfangs hinzuweisen, schien mir in mancher
; Beziehung vorteilhaft; die Besonderheiten, nicht nur der Lehre,
I sondern auch der Grundstimmung werden sich im folgenden
I von selbst herausstellen.
Wie sich schon aus dem Gesagten ergibt, nehmen auch hier,
wie bei Sokrates, neben den Lehren die Persönlichkeiten ein
besonderes Interesse in Anspruch; daß man jene nur aus diesen
recht verstehen kann — dieses Zusammenstimmen von Denken
und Leben ist ja ein Hauptreiz so vieler griechischer Philo-
sophen. Aber auch hier haben wir mit einigen äußeren Schwierig-
keiten zu kämpfen. In bezug auf Antisthenes empfinden wir
schmerzlich die Dürftigkeit persönlicher Nachrichten. Immerhin
läßt sich vermuten, wenn diekynischeLehre überhaupteinen fort-
: währenden siegreichen Kampf gegen die eigenen Naturinstinkte
fordert, so habe bei ihrem Urheber das Moment des Kampfes
! mehr im Vordergrund gestanden als das des Sieges: seine inner-
lich zwiespältigeNatur habe nach jenerSelbstüberwindung mehr
sich gesehnt und gerungen, als sie stetig erkämpft und voll-
*) xpi'ßwv, inipa und ßdicrpov. 2) Diog. Laert. VI. 13 u. 22. 3) Diog. Laert. VI.87.
Gomperz, Lebensauffassung g
114
SECHSTE VORLESUNG
zogen; und es hätten darum Bitterkeit und Pathos wesentliche
Elemente seiner Lebensstimmung ausgemacht. Ganz anders bei
Krates und vor allem bei Diogenes. Bei ihm erscheint die-
selbe Lehre als der Ausfluß einer geschlossenen Individualität,
die, des Sieges gewohnt und bewußt, in jenem Selbstkampf ihr
eigentümliches Leben auswirkt, und darum, von unerschütter-
licher Ruhe und Zuversicht getragen, eine hinreißende Fröhlich-
keit und einen sprudelnden Übermut entwickelt. Er ist deshalb
f die rechte Inkarnation des kynischen Ideals. Und unsere Kennt-
nis seiner Person leidet weniger unter dem Mangel als unter
dem Überfluß an Berichten. Denn diese bestehen, von verein-
zelten Zitaten abgesehen, hauptsächlich in einer Fülle jener
Anekdoten, in deren Hervorbringung das Altertum ebenso un-
erschöpflich wie unbedenklich war, und die uns zumeist in
späten Sammlungen, speziell für die älteren Philosophen in der
Kompilation des Diogenes Laertios erhalten sind. Von
diesen Geschichtchen nun kann kaum eine einzige als absolut
authentisch gelten. Dennoch darf, wie ich glaube, an dergeschicht-
lichen Treue des Bildes, das sie in ihrer Totalität uns zeigen,
nicht gezweifelt werden: so lebensvoll und charakteristisch ist
es. Denn in sich vollendete Gestalten bringt nur entweder die
Natur oder aber die Phantasie eines großen Dichters hervor.
Der zweite Fall aber ist hier ausgeschlossen. Sollten also sogar
(was durchaus unglaublich ist) alle einzelnen Züge, aus denen 1
sich für uns das Bild des Diogenes zusammensetzt, erfunden
oder von anderen auf ihn übertragen sein, so müßten wir den-
noch dieses Gesamtbild selbst für historisch zutreffend halten,
und annehmen, daß die einzelnen ungeschichtlichen an die
Stelle analoger, originaler Details getreten sind — ähnlich wie
ein Schiff seiner Form nach dasselbe bleiben kann, wenn auch
im Laufe der Zeit all seine einzelnen, stofflichen Bestandteile
durch andere ersetzt worden wären. Diese Betrachtungsweise
(die wir auch auf den Charakter des Ar i stipp werden an- I
wenden müssen) ermöglicht uns, von den Kynikern eine einiger-
maßen lebensvolle Anschauung zu gewinnen und ihre Lebens-
DIE KYNIKER
115
auffassung bis zu einem gewissen Grade von innen heraus zu
verstehen.
Um nun zu diesem Verständnis zu gelangen, wird es, glaube
ich, am besten sein, wenn Sie sich einen Menschen denken, der
zwar das sokratische Ideal der inneren Freiheit als das seine
anerkennt, in sich aber nicht jene Loslösung von aller subjek-
tiven Stellungnahme vorfindet, die das Eigentümliche der soma-
tischen Persönlichkeit ausmacht, sich vielmehr durch sein
„Haften" an den Dingen an der Erreichung jenes Ideals, an der
Erhabenheit über alles Äußere, an der Wunschbejahung jeder
Lebenslage verhindert fühlt. Ein solcher Mensch wird zwar
ebenfalls davon überzeugt sein, daß der ideale, also der „gute"
Mann des Glückes völlig gewiß sei, daß es für ihn kein Obel
geben könne, ja er wird sogar diesen Satz, der für ihn nicht die
Beschreibung seines ihm geläufigen und darum uninteressanten
Zustandes, sondern die eines ersehnten Zieles darstellt, allererst
mit Entschiedenheit aussprechen; aber er wird hinzufügen
müssen, daß diese richtige Seelenverfassung, diese „Tugend",
nicht schon durch eine bloß theoretische Einsicht verbürgt wird,
daß sie vielmehr innerlich erkämpft werden muß und den Sieges-
preis dieses Kampfes ausmacht. In dieser Lage befindet sich der
Kyniker. Hinsichtlich der näheren Bestimmung dieses Kampfes
ergaben sich aber für ihn zwei sehr verschiedene Denkmotive.
Einerseits mußte er, der Natur der Sache entsprechend, fest-
stellen, daß zur Überwindung jener triebhaften subjektiven In-
stinkte, welche sein „Haften" an den Dingen bedingten, deren
Ausrottung erfordert wird; und diese Umbildung des Willens,
diese Aneignung der „sokratischen Kraft"1 faßten die Kyniker
auf als „Bildung" oder „Erziehung"2, als „Übung"3, als „Mühe"
oder „Arbeit"4. Andererseits aber standen sie viel zu sehr im
Banne des allgemein griechischen und des speziell sokratischen
Intellektualismus, um nicht diesen selben Erlösungsprozeß auch
wieder als das Gewinnen einer befreienden „Einsicht"5 ver-
l) Antisthenes (Diog. Laert. VI. 11). 2) TTcuöefa. 3) "AöKriai<;. 4) TTövo^.
5) Q>p6vr]Gi<;.
8*
116
SECHSTE VORLESUNG
stehen zu wollen. Diese Einsicht aber konnte nicht mehr ein-
fach das formale Wissen des Sokrates sein, das ganz außer
aller Beziehung zu den Aufgaben des ethischen Kampfes stand,
sondern es mußte nun einen ganz bestimmten Inhalt bekommen.
Die zu lösende Aufgabe war ein Umwollen: es sollte nicht mehr
das Eine (die genußreiche Befriedigung der Begierden), sondern
nur mehr das Andere (die Tugend) erstrebt werden. Dieser
Vorgang, ins Theoretische übertragen, ergibt die Forderung, es
solle der Unwert des Einen und der Wert des Anderen einge-
sehen werden. Für diese Begriffe nun fanden die Kyniker auf
der einen Seite den Ausdruck, der Mensch müsse das, was seinen
inneren Wert begründe, als ihm zugehörig und notwendig, kurz
als wesentlich *, das was jenen Wert nicht berühre, als ihm fremd
und zufällig, kurz als unwesentlich2 erkennen3. Auf der anderen
Seite aber knüpften sie an den aus der sophistischen Zeit stam-
menden, neulich besprochenen Gegensatz von Natürlich und
Konventionell an: sie postulierten den ausschließlichen Wert
des Natürlichen, und erklärten alles andere für bloße Kon-
vention und Illusion, oder, wie der Kyniker sagt, für „Ein-
bildung" (wenn wir seinen schwer übersetzbaren Kunstaus-
druck4, der einerseits einen ungreifbaren, nichtigen Dunst, an-
dererseits ein aufgeblasenes, hohles Wesen bedeutet, durch
dieses Wort unzulänglich genug wiedergeben dürfen). Insoweit
nun der Kyniker imstande war, diese „Einbildung" zu über-
winden, ergab sich für ihn eine höchst eigentümliche Lebens-
ansicht. In dem Bestreben, alle gefühlsmäßigen Beziehungen
zu den Dingen abzustreifen, mußte er sich allein an den nackten
Tatbestand halten, und alle Werte, die wir auf Grund unserer
Empfindungen in sie hineinverlegen, alles, was wir Pietät und
Sentiment nennen, negieren. Daher kommt, wie Sie sehen
werden, eine ganz besondere Art von Witz; daher eine hoch-
gemute, auf das Gefühl der inneren Freiheit von all diesen Ein-
bildungen und der in sich beruhigten Sicherheit gegründete
!) OiKeiov. 2) 'AWoxpiov. 3) Beide Termini auch bei Piaton, Conviv. p. 205e,
also wohl echt sokratisch. 4) TOqpo«;.
DIE KYNIKER
117
Freudigkeit; eben daher aber auch jener Gegensatz gegen unsere
angestammten Gefühlsweisen, dem der Name „Cynismus« mit
einem gewissen Rechte geblieben ist. So klar aber dieser Be-
griff des Eingebildeten ist, der des Natürlichen ist nicht ganz
frei von Mehrdeutigkeit. Denn wenn die Kyniker auf der einen
Seite nur die Tugend als wertvoll gelten lassen wollen, nur das
Sittliche gut und das Schimpfliche schlecht nennen, alles andere
aber als „indifferent"1 bezeichnen, so hat es auf der anderen
doch wiederum den Anschein, als würden sie auch jenes Mini-
mum von Bedürfnissen für natürlich erklären, das jedermann
allezeit befriedigen kann, und das deshalb dem äußeren Schicksal
entrückt ist und der inneren Freiheit nicht im Wege steht. Und
damit hängt zusammen, daß sie auch das jenem Minimum ent-
sprechende Verhalten als ein „natürliches" für ethisch wertvoll
erklärt und so einen Grundstock positiver moralischer Normen
anerkannt zu haben scheinen, wenn auch freilich dieser Ge-
sichtspunkt in ihrer Praxis wie in ihrer Theorie recht wenig
hervortritt. Wir werden später sehen, daß an diese beiden
Punkte die Stoa angeknüpft und sich dadurch in die größten
Schwierigkeiten verstrickt hat. Auf diese Gelegenheit versparen
wir daher auch die sachliche Würdigung dieses Problems. Der
Grundgedanke des Kynismus aber bleibt die Herstellung der
inneren Freiheit, das heißt der Unabhängigkeit vom Schicksal,
durch die theoretische Einsicht in den Unterschied der natür-
lichen, unverlierbaren und der bloß eingebildeten, haltlosen
Werte, und durch die praktische Übung in der Entbehrung. Ich
stelle im folgenden einige Nachrichten zusammen, die sowohl
dieses systematische Gerippe mit Fleisch und Blut umkleiden,
als auch Ihnen das Wesen des Kynikers anschaulich machen
sollen.
Da es sich hierbei vornehmlich um Äußerungen des Dio-
genes handeln wird, so möchte ich Ihnen gleich vorweg drei
Anekdoten mitteilen, aus denen Sie den Witz und Geist des
Mannes kennen lernen können, ohne daß sie mit seiner ethischen
*) 'Aöictcpopov.
118
SECHSTE VORLESUNG
Lehre in näherem Zusammenhange stünden. „Als sich jemand,"
erzählt Diogenes Laertios1, „darüber wunderte, daß in
Samothrake so viele Weihgeschenke (von solchen) aufgestellt
seien (die infolge ihres Gelübdes gerettet wurden), meinte er: es
wären noch viel mehr, wenn auch die nicht Geretteten welche
aufgestellt hätten." „Auf die Frage," wird weiter berichtet2,
„warum die Leute den (gewöhnlichen) Bettlern etwas schenkten,
den Philosophen aber nicht, antwortete er: weil sie zwar darauf
gefaßt sind, lahm und blind, nicht aber darauf, Philosophen zu
werden." „Einst führte ihn," hören wir endlich3, „einer in ein
luxuriös eingerichtetes Haus und ersuchte ihn, nichtzu spucken.
Als er sich nun räusperte, spuckte er dem anderen ins Ge-
sicht, und meinte, einen schlichteren Fleck habe er nicht ge-
funden."
Dieser sprühende Witz ist aber durch die ganze Art des Ky-
nikers bedingt. Er ist der Ausfluß, sowohl des Gefühles der
Überlegenheit, das ihm das Durchschauen der „Einbildung" ge-
währt, wie auch der Empfindung der Freudigkeit, die er dem Be-
wußtsein der inneren Freiheit verdankt.
Für dieses letztere haben wirZeugnisse dieMenge. Abgesehen
davon, daß es wohl zunächst die Kyniker sind, die Aristoteles
im Auge hat, wo er4 gegen jene polemisiert, die den guten Men-
schen für glücklich erklären, auch wenn er gefoltert würde oder
anderen großen Schicksalsschlägen anheimfiele, wirdunsz.B. von
Antisthenes der Satz überliefert5: die Tugend sei hinreichend
zur Glückseligkeit, und der andere6: vollkommen werde man,
wenn man einsehe, daß man den Übeln entfliehen könne. Aber
auch Diogenes sagt uns7: wenn nichts anderes, so habe er doch
dieses der Philosophie zu danken, daß er gegen jedes Schicksal
gewappnet sei. Es blicke ihn an8 und spreche den homerischen
Vers: „Diesen wütenden Hund vermag ich nimmer zu treffen."
Reichtum9, Ruhm, Lust, Leben müsse man verachten, über ihr
i) VI. 59. 2) Diog. Laert. VI. 56. 3) Diog. Laert. VI. 32. 4) Eth. Nie. VII. 14,
p. 1153b 19. 5) Diog. Laert. VI. 11. 6) Diog. Laert. VI.8. 7) Diog. Laert. VI.63.
8) Stob. Ekl. II. p. 348 (Meineke). 9) Stob. Floril. 86. 19 (Meineke).
DIE KYNIKER
119
Gegenteil aber, über Armut, Schande, Schmerz und Tod erhaben
sein. Dieser letztere ist1 kein Übel, denn er ist nichts Schimpf-
liches. „Der Besitz2 gehört nicht zu mir; Verwandte, Hausge-
nossen, Freunde, Ruhm, vertraute Orte, Lebensweise — all das
ist unwesentlich." „So wird man frei." Darum sagt er3: „Seit
mich Antisthenes befreit, habe ich nicht wieder gedient."
Dieser „Freiheit zieht er nichts vor".4 Ja, er fühlt sich nicht
nur als frei, sondern auch als Befreier. Den Herakles, läßt
ihn Lukian5 sagen, ahme er nach; statt des Löwenfelles trage
er den Mantel, statt der Keule den Stab; aber wie jener (nach
kynischer Deutung) ziehe er zu Felde gegen die Lüste, ent-
schlossen, das Leben zu reinigen: „Ein Befreier bin ich der
Menschen, und ein Arzt der Leidenschaften." Und bei Krates
lesen wir6: Als Kyniker „wirst du leicht das Beutelchen öffnen
und mit deiner Hand etwas herausnehmen und geben können,
und nicht, so wie jetzt, dich winden und zaudern und zittern,
als ob deine Hand schlagrührig wäre. Aber (ferner): wenn's
voll ist, so wirst du's gleichmütig sehen, und wenn's leer ist,
dich nicht betrüben, und wenn du's gebrauchen willst, wirst du's
leicht können, und wenn du's nicht hast, dich nicht danach
sehnen, sondern leben, zufrieden mit dem, was da ist, kein Ver-
langen tragen nach dem, was nicht da ist, und an dem, was dir
begegnet, dich nicht ärgern."
Aus diesem Bewußtsein der Erlösung vom Obel aber ent-
springt, wie Sie schon bemerken, eine herzerwärmende Freudig-
keit. Derselbe Krates, von dem ich eben sprach, hat7 in lusti-
gen, Homer parodierenden Versen die Stadt „Ranzen" ge-
priesen, als Insel im Meere der „Einbildung", auf die sich kein
Schmarotzer und kein Weichling verirren könne, die Brot,
Feigen, Zwiebel und Knoblauch in Fülle hervorbringe und wo
es keinen Kampf gibt um Geld oder um Ruhm. Und von eben
demselben sagt uns Plutarch8, er habe „mit seinem Bettelsack
i) Epiktet, Diss. I. 24. 6. 2) Epiktet, Diss. III. 24. 68. 3) Epiktet, Diss. III.
24. 67. 4) Diog. Laert. VI. 71. 5) Vit. auct. 8, p. 548. 6) Teles S. 28 (Hense).
7) Diog. Laert. VI. 85. 8) De tranquill, anim. 4, p. 466 e.
120
SECHSTE VORLESUNG
und seinem Mantel unter Scherzen und Lachen sein Leben wie
ein Fest verbracht". Der Kyniker Metrokies soll sich1, der
im Winter in den Schafhürden, im Sommer in den Tempel-
hallen schlafe, für glücklicher erklärt haben als den persischen
Großkönig mit seiner babylonischen Winter- und seiner medi-
schen Sommerresidenz. Und die anekdotische Illustration hierzu
liefern die bekannten Geschichten von Diogenes und Alexan-
der: als dieser auf jenen zutrat und ihm sagte: ich bin Alexan-
der, der große König, soll er2 erwidert haben: und ich bin
I Diogenes, der Kyniker. Und der Aufforderung, sich etwas
auszubitten, habe er3 mit den Worten entsprochen: geh' mir aus
dem Licht! Von Diogenes sind uns aber auch ausdrücklich die
beiden Definitionen bezeugt4: „Glück ist allein die wahre Fröh-
lichkeit und (der Zustand, in dem) man sich niemals betrübt, in
welchem Orte und in welchen Umständen man sich auch be-
finde", und: „Nur das erkläre ich für das wahre Glück, wenn
Einer seiner Vernunft und Seele stets Ruhe und Heiterkeit be-
wahrt." Dabei betone ich: einen Widerspruch mit der kynischen
Verachtung der Lust darf man in solchen Äußerungen nicht er-
blicken wollen. Die „Lust", welche der Kyniker bekämpft, ist
die durch die Vorstellung äußerer Dinge bewirkte Gemüts-
erregung, die uns von eben diesen Dingen abhängig macht. Die
„Fröhlichkeit", die er zuläßt, ist das Lustgefühl, das aus dem
Bewußtsein der Unabhängigkeit von diesen selben Dingen, also
aus dem Gefühle der eigenen Kraft entspringt. Wir werden
später sehen, daß auf dieser Unterscheidung eine ganze Rich-
tung des antiken Hedonismus beruht, und daß sie der stoischen
Affektenlehre zugrunde liegt. In diesem Sinne ist es zu verstehen,
wenn Antisthenes zwar einerseits die Lust für ein Übel erklärt5,
andererseits aber doch die „Lust nach der Mühe" für erstrebens-
wert6 und die „nicht hinterher bereute Lust" für ein Gut7 hält.
i) Plutarch, an vit. ad inf. 3, p. 499af. 2) Diog.Laert.VI.60. 3) Diog.Laert.
VI. 38. 4) Stob. Floril. 103. 20—21 (Meineke). 5) Diog. Laert. VI. I; IX. 101 ;
Gellius, N. A. IX. 5. 3; Euseb. praep. Ev. XV. 13. 7. 6) Stob. Floril. 29. 65
Meineke). 7) Athenaeus XII. p. 513a.
DIE KYNIKER
121
Um nun aber zu diesem Zustande der Freiheit und Freudig-
keit zu gelangen, ist, wie eben ausgeführt, jene radikale Ände-
rung der Gefühls- und Begehrungsweise erforderlich, die wir
mit einem neueren Ausdrucke die „Umwertung aller Werte" zu
nennen pflegen. Aber auch dieser Ausdruck selbst ist — kynisch !
Denn in seinem „Panther" hat Diogenes von sich gesagt1, er
habe „die Werte umgeprägt", woraus dann wohl die Legende ent-
standen ist, er habe, ein also lautendes Orakel mißverstehend,
Falschmünzerei getrieben. In anderer, mehr populärer Form
wird ihm derselbe Gedanke beigelegt, wenn man ihm die
Äußerung zuschreibt2, das Wertlose halte man für wertvoll, das
Wertvolle für wertlos; denn für eine Statue bezahle man 3000,
für eine Portion Mehl aber nur 2 (Münzeinheiten). Und förm-
lich programmatisch zugespitzt klingt der Ausspruch3: „Dem
Schicksal setze ich den Mut entgegen, der Konvention die Natur,
der Leidenschaft die Vernunft."
Diese radikale Umwertung nun kann praktisch nur durch die
„Übung" vollzogen werden. Denn sowie4 das Leben im Genuß
die Entbehrung schmerzlich empfinden läßt, so macht die
Übung in der Entbehrung die Verachtung des Genusses leicht.
„Schlechterdings nichts im Leben kann ohne Übung recht ge-
macht werden, sie aber ist imstande, alles zu besiegen." So ist
denn das ganze Leben des Kynikers „Übung". Indem er es
freiwillig mit Entbehrung und Mühe erfüllt, reißt er sich seine
Neigung zu Bequemlichkeit, Wohlleben und Genuß, die ihn
zum „Sklaven" der Verhältnisse machen würde, gewaltsam aus
dem Herzen, und Herakles, der vielgeplagte Heros, wird sein
Schutzheiliger, — der Patron der „Mühe". Darum ist der
Mantel sein einziges Kleid, das Betteln sein einziges Gewerbe,
die öffentlichen Plätze und Hallen seine einzige Lagerstätte,
Bohnen, Zwiebeln und Knoblauch seine einzige Nahrung, Was-
ser sein einziges Getränk. Und diese äußerste Bedürfnislosig-
keit gelw stellenweise geradezu in dasjenige über, was wir mit
*) Diog. Laert. VI. 20. 2) Diog. Laert. VI. 35. 3) Diog. Laert. VI.38. *) Diog.
Laert. VI. 71.
122
SECHSTE VORLESUNG
seinem Worte Askese nennen. Diogenes soll1 im Sommer
sich in durchglühtem Sande gewälzt, und im Winter verschneite
Statuen umarmt haben. Und von Krates wird erzählt2, er habe
absichtlich mit öffentlichen Dirnen Streit gesucht, um sich im
Ertragen der gemeinsten Schimpfreden zu üben.
Mit dieser Pflege der „Übung" aber geht der Kultus der „Ver-
nunft" Hand in Hand. Sie soll dieselbe Umwertung theoretisch
begründen, die jene praktisch verwirklicht. „Die Einsicht, sagt
Antisthenes3, ist die sicherste Schutzmauer: sie kann nicht
einstürzen, und nicht durch Verrat verloren gehen." Ebenso
Diogenes4: „Nur durch Unvernunft ist man unglücklich." Und
mit einem Wortspiel, das nur annäherungsweise wiederzugeben
ist, sagt er5, man müsse sich entweder auskennen oder auf-
hängen.
Die Leistung der Vernunft aber besteht darin, das wahre
Wesen der Dinge von dem trügerischen Scheine der Illusion,
der „Einbildung" zu scheiden. Darum erklärte Antisthenes6
die Illusionslosigkeit7 für den letzten Zweck, und rühmte Me-
nander von Monimos8, dieser habe ein Wort gesprochen,
das dem Delphischen „Erkenne dich selbst!" nichts nachgebe:
„Einbildung", sprach er, „sei jedwede Wertung nur."
Die Menschen sind sovollerEinbildung,daß sie auchzwischen
geistiger Krankheit und Gesundheit nur eine konventionelle
Grenze ziehen. Denn, meintDiogenes9, wenn Einer denZeige-
finger ausstreckt, so findet man's ganz in der Ordnung; streckte
er aber statt dessen den Mittelfinger aus, so würde man ihn für
f verrückt halten. Nur „um eines Fingers Breite" seien also die
Menschen vom Wahnsinn entfernt. „Einbildung" ist es insbe-
sondere, wenn man meint, zwei gleiche Dinge oder Vorgänge
würden verschieden, weil sie durch einen besonderen Ort oder
eine besondere Zeit oder sonst einen nebensächlichen Umstand
i) Diog. Laert. VI. 23. 2) Diog. Laert. VI. 90. 3) Diog. Laert. VI. 13. 4) Diog.
Laert. VI. 71. 5) Diog. Laert/VI. 24. 6) Clem. Alex. Strom. II. 130, p. 498.
7) 'A-rucpfa. 8) Diog. Laert. VI. 83. 9) Diog. Laert. VI. 35.
DIE KYNIKER
123
näher bestimmt sind. Wer kümmert sich darum, wenn Verrückte
Lärm machen? Was aber ist die gute Nachrede anders1? Ist
es nicht gleich, zu welcher Stunde man ißt? Auf die Frage, zu
welcher Zeit man frühstücken solle, erwidert deshalb Diogenes2:
„Wenn du reich bist, wann du willst; wenn du arm bist, wann
du kannst." Was soll es ausmachen, ob man seine Bedürfnisse
an diesem oder jenem Orte befriedigt? „Er pflegte deshalb3
alles öffentlich zu tun, auch dasjenige, was der Göttin des
Düngers und jener der Liebe heilig ist." Und wenn er auf dem
Markte aß, so sagte er wohl: wenn das Frühstücken (an sich)
nicht ungehörig ist, so ist es auch auf dem Markte nicht unge-
hörig. Die Menschen sind auch so toll4, daß sie sich zwar gar
nicht scheuen, das wirklich Schimpfliche, wie Mord, Diebstahl
und andere Verbrechen beim Namen zu nennen; aber das Natür-
liche und Unvermeidliche, was die Notdurft des Leibes und der
Liebe betrifft — gerade davon soll man nicht öffentlich reden.
Zur „Einbildung" gehört es weiter, wenn man sich einredet, es
liege etwas daran, wie und von wem der eigene Leib bestattet
werde. So wurde Diogenes einmal gefragt5, ob er einen Diener
oder eine Dienerin habe? Auf seine verneinende Auskunft nun
fragte der Andere voll Mitgefühl: „Wer wird dich also hinaus-
tragen, wenn du tot bist?" Er aber gab zur Antwort: „Der, der
in meine Wohnung wird einziehen wollen." Er meinte ferner6,
es wäre gar nichts dabei, Menschenfleisch zu essen: es seien ja
doch nur dieselben Stoffe, die der Betreffende vorher in seiner
Nahrung zu sich genommen habe. Ist es also nicht „Einbildung",
den Stoff, den ich als Brot ohne weiteres esse, als Menschen-
fleisch nichtzu essen? Und ebensowenig wird ein Ding dadurch
heiliger, daß es in einem Tempel aufgestellt wird.
Diese ganze Betrachtungsweise gilt nun auch insbesondere
für die geschlechtlichen Beziehungen. Diese sind zwar an und
für sich etwas Natürliches, und wir haben schon gesehen, daß
Diogenes deshalb für sie die Öffentlichkeit nicht scheute. Eben-
i) Epiktet, Diss. 1.24.6. 2) Diog.Laert. VI. 40. 3) Diog.Laert. VI.69. *) Cicero,
de off. I. 35. 128. 5) Diog. Laert. VI. 52. 6) Diog. Laert. VI. 73.
124
SECHSTE VORLESUNG
so wird vonKrates und Hipparchia berichtet1, sie hätten ihre
eheliche Intimität den Blicken der Welt nicht entzogen; und in
der Tat sieht man nicht, wie das Paar, wenn es ohne Haus im
Freien lebte, dies leicht hätte vermeiden können. Aber sich nun
vorzustellen, es sei etwas Besonderes um den Verkehr mit einer
schönen Frau, oder immer mit derselben, oder gar mit einer
bestimmten — das ist „Einbildung"! Die Liebe wird deshalb
hier ausschließlich unter dem Gesichtspunkte derpathologischen
Störung betrachtet. Eine derartig prononcierte gefühlsmäßige
Stellungnahme kann der Kyniker nicht dulden, und die Vernunft
zeigt ihm ja auch, daß in bezug auf den Geschlechtsverkehr die
Eine nicht tauglicher ist als die Andere. Es handelt sich also
hier um eine fixe Idee, die unnachsichtlich ausgerottet werden
muß. Wenn ich, sagt Antisthenes2, der Aphrodite habhaft wer-
den könnte, so würde ich sie erschießen. Diogenes nennt3 die
Liebe die Beschäftigung der Müßigen. Und Krates „dichtet"4:
„Die Liebe heilt der Hunger, und, wenn nicht, die Zeit.
Kannst diese du nicht brauchen, nun, so häng dich auf!"
Aber auch die Ehe ist Sache der bloßen Konvention. Diogenes
proklamiert deshalb die „freie Liebe" in des Wortes weitester
Bedeutung: „Die Weiber müßten gemeinsam sein5; die Ehe sei
gar nichts; es solle der Mann, der die Frau dazu bringen könne,
mit der verkehren, die sich dazu bringen lasse." Einstweilen
aber rühmt sich Antisthenes6, er gehe nur mit solchen Wei-
bern um, die allen anderen zu schlecht seien, und die infolge-
dessen mit ihm eine Riesenfreude hätten. Diogenes aber fand,
daß der Weise, auch wenn ihm kein Weib zur Hand sei, sei-
nen Trieb befriedigen könne7; er befolgte dieses Rezept auf
offenem Markte und bedauerte nur, daß er sich den Hunger nicht
ebenso leicht vertreiben könne8. Dabei ist es nicht weniger
i) Diog. Laert. VI. 97; Sext. Emp. Pyrrh. I. 153; Clem. Alex. Strom. IV. 121,
p. 619 usw. usw. 2) Clem. Alex. Strom. II. 107, p. 485. 3) Diog. Laert. VI. 51.
4) Diog. Laert. VI. 86. 5) Diog. Laert. VI. 72. 6) Xenophon, Conviv. IV. 38;
Diog. Laert. VI. 3. ?) Galen, de loc. äff. VI. 5. 8) Diog. Laert. VI. 46; Athe-
naeus IV, p. 158 f.
DIE KYNIKER
125
charakteristisch für den „Aufklärungs"-Eifer unseres Kynikers
alsfürdieallezeitmythenbildendeKraftdeshellenischenDenkens,
daß er diese seine Methode für eine Erfindung des Hermes aus-
gab *, und bemerkte, wenn die Menschen sie befolgt, und sich nicht
verblendeter Weise in unnütze Weibergeschichten eingelassen
hätten, wäre weder Troja gefallen noch P r i a m o s getötet worden.
Ebenso aber, wie die einseitige Wertschätzung Eines Menschen
in der Liebe, gehört auch die einseitige Wertschätzung Eines
Volkes oder Landes im Patriotismus zur „Einbildung". Daß ich
an einem Orte geboren bin, verleiht diesem doch gar keinen
Vorzug vor allen anderen Orten! Darum antwortet Diogenes2
auf die Frage, wo er her sei (zum erstenmal in der Welt-
geschichte), er sei ein „Weltbürger"3. Und Krates jubelt in
schönen und feierlichen Versen4:
„Nicht Eine Vaterstadt, Ein Vaterhaus
Nur kenn' ich: wo in irgend einem Land
Ein Stadtort und ein Haus errichtet ist,
Stehen sie für uns bereit, uns aufzunehmen."
Der Kyniker ist aber nicht damit zufrieden, selbst den täu-
schenden Schein der Illusion zu durchschauen, und sich so zur
inneren Freiheit durchzuringen. Er will auch seine Mitmenschen
aufklären und befreien. Sie erinnern sich an das dem Diogenes
beigelegte Wort, er sei ein Befreier der Menschen und ein Arzt
der Leidenschaften. Als man ihm vorwarf, daß er an unreine
Orte gehe, erwiderte er5: „Das tut auch die Sonne, aber sie wird
nicht verunreinigt." Und scherzhaft wird ihm die Äußerung
zugeschrieben6: „Die anderen Hunde tun den Feinden weh; ich
aber den Freunden — um sie zu retten." Krates aber soll es7
soweit getrieben haben, daß er in fremde Häuser hineinging, um
die ihm unbekannten Einwohner „zurechtzuweisen" und in sei-
nem Sinne zu bessern — wovon ihm denn der Beiname des
„Türaufreißers"8 zuteil geworden ist.
i) Dio Chrys. or. VI. 16ff. 2) Diog. Laert. VI. 63. 3) KoanoiroXm^. 4) Diog.
Laert. VI. 98. 5) Diog. Laert. VI. 63. 6) Stob. Floril. 13. 27 (Meineke). 7) Diog.
Laert. VI. 86. 8) OupeiravoiKTric;.
126
SECHSTE VORLESUNG
Fragen Sie mich nun zum Schlüsse nach dem ethischen Werte
des Kynismus und nach der wissenschaftlichen Haltbarkeit sei-
ner Lehre, so muß meine Antwort einigermaßen eingehend
ausfallen. Zunächst liegt eine unzulängliche theoretische Vor-
aussetzung des Systems auf der Hand. Ich meine den sophi-
stisch-demokritischen Gegensatz von Natur und Kultur. Denn
der kynische Kampf gegen die „Einbildung" ist ja im wesent-
lichen eine Negation der Kulturwerte. Allein es widersteht un-
serer heutigen Denkweise durchaus, den Kulturfortschritt anders
aufzufassen, denn als eine Etappe, und zwar als eine Fortsetzung
der Naturentwicklung. Es ist nicht wahr, meinen wir, daß der
Geschlechtstrieb ein natürliches, die Liebe ein eingebildetes Be-
dürfnissei; sondern dieseerscheintunsnurals einebesondere, und
zwar als eine fortgebildete, differenzierte Form jenes Grund-
triebes. Es ist auch nicht wahr, daß das Weltbürgertum natür-
lich, das Staatsbürgertum illusionär sei; sondern hier ist (ge-
rade umgekehrt) die erstere Gefühlsweise eine Fortbildung und
Erweiterung der letzteren. Die Zubereitung gekochter Speisen
fassen wir nicht als den Gegensatz, sondern als eine besondere
Form der allgemein animalischen Ernährung auf. Und das Woh-
nen in Häusern steht dem tierischen Unterschlupf nicht entgegen,
sondern setzt ihn fort. Dieser Anschauungsweise, die freilich auch
noch in neuerer und neuester Zeit ihre eifrigen Gegner gefunden
hat (z.B. Rousseau und Tolstoi), werden wir uns schwerlich
entziehen können und wollen. In ihrem Sinne ist aber auch die
innere Freiheit selbst nicht ein reiner Gegensatz gegen die Tota-
lität der natürlichen Instinkte, sondern entwickelt sich selbst aus
ihnen, wie auch der ihr zugrundeliegende Kraftüberschuß aus
dem jenen zugrundeliegenden Kraftminimum hervorwächst. Die
„Umwertung der Werte" muß sich deshalb durchaus nicht durch
bloße Ausrottungder auf die Außendinge gerichtetenlmpulse voll-
ziehen; sie kann vielmehr auch in der Weise vor sich gehen, daß
diese letzteren, die uns allerdings von Außenwelt und Schicksal
abhängig machen, mehr und mehr neben jenen Affekten zurück-
treten, die dem bloßen, unverlierbaren und gesicherten Besitze an
DIE KYNIKER
127
Kraft entspringen, und die wir seinerzeit unter der allgemeinen
Bezeichnung der Freudigkeit zusammengefaßt haben. Die Ky-
niker selbst waren hier auf dem besten Wege. So wie sie die
Lust der gestillten Begierde mit Recht als knechtend verwarfen,
und ihr die Heiterkeit der selbstsicheren Freiheit entgegensetz-
ten, ebenso hätten sie folgerecht die ganze, unser Wünschen und
Begehren nach der Außenwelt orientierende Subjektivität von
der nur dem eigenen Innern entquellenden Subjektivität, also von
der Freudigkeit allgemeinster Wunschbejahung ablösen lassen,
und der knechtenden und ins Übel verstrickenden Kraft der
egoistischen Interessen die erlösende Macht der inneren Freiheit
entgegenstellen müssen. Diese Konsequenz haben zum großen
Teil die Stoiker gezogen. Daran aber, daß die Kyniker dies
nicht getan haben, ist zum einen Teile eben jene unhaltbare
theoretische Voraussetzung schuld.
Zum andern allerdings die unleugbare praktische Einseitigkeit
der ganzen Richtung. Daß der ideale Mensch mit innerer Frei-
heit müßte entbehren können, ist ohne Zweifel richtig. Aber
ebenso richtig ist, daß er auch mit innerer Freiheit muß genießen
können. Das rechte Entbehren ist nur die eine Seite des rechten
Erlebens; das rechte Genießen ist die andere. Jenes muß geübt
werden, aber auch dieses. Die Kyniker haben nur die eine Seite
gesehen, die andere nicht. Sie konnten sich der inneren Frei-
heit annähern, aber nur auf dem Wege der Entbehrung. Der-
jenige, der auf den beiden möglichen Wegen — je nachdem ihn
das Schicksal auf den einen oder den anderen stellt — eben da-
hin gelangen könnte, müßte (vom Standpunkte des Ideales selbst
aus) ethisch höher gewertet werden. Wir werden nächstens
sehen, inwiefern dies für die rivalisierende Schule der Kyre-
naiker zutrifft.
Deswegen sollten wir gegen die Kyniker nicht ungerecht sein.
Es hat zu allen Zeiten Naturen gegeben, und es wird zu allen Zeiten
solche geben, deren egoistische Instinkte so stark sind, daß sie die
Oberhand erlangen, sobald sie nicht systematisch bekämpft wer-
den. Solche können nur im steten Streite gegen die Begierde, und
128
SECHSTE VORLESUNG
das heißt: in freiwilliger Entbehrung, dem Ideale zustreben. Zu
allen Zeiten hat deshalb, wo immer das Erlösungsbedürfnis stark
und tief war, auch eine gewisse Gruppe von Charakteren nur in der
freiwilligen Armut dasselbe befriedigen können. Und was in
der Vergangenheit für Buddha, Krates und Franziskus ge-
golten hat, wird auch in der Zukunft gelten. Wo immer wieder-
um das Ideal der inneren Freiheit Anhänger finden wird, wird
es unter diesen auch wieder Bettelmönche geben. Und für sie
wird Diogenes für alle Zeiten ein Vorbild bleiben: das Vorbild
eines Mannes, der zwar das gemeinsame Ideal nicht in eine ta-
dellose Theorie gekleidet hat; der ihm auch nur in immerwäh-
rendem Kampfe mit sich selbst, und nur auf dem ihm allein
gegebenen Wege der Entbehrung sich annähern konnte; der ihm
aber bei alledem so nahe gekommen ist, wie kaum ein anderer,
von dem wir wissen.
DIE KYRENAIKER
SIEBENTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IE Kyniker, so mußten wir neulich schließen,
haben dem Ideal der inneren Freiheit mit
Festigkeit zugestrebt, aber nur auf dem einen
Wege des Entbehrens: wie sie überhaupt
durch die gewaltsame Unterdrückung und
Ausrottung der natürlichen Instinkte den Er-
lösungsprozeß vollzogen, so glaubten sie auch
durch möglichste Einschränkung alles Genießens sich von der
knechtenden Herrschaft der Genußobjekte befreien zu kön-
nen. Der Begriff des innerlich freien Genießens wird also hier
grundsätzlich negiert. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß
diese Konsequenz zwar vielleicht für gewisse Naturen, aber
keineswegs mit allgemeiner Geltung oder gar notwendig aus
dem Ideale der inneren Freiheit abgeleitet werden kann. Den
schlagendsten Beweis hierfür haben, in ihrer Lehre wie in ihrem
| Leben, jene anderen Fortbildner des Sokratismus erbracht, mit
denen wir uns heute beschäftigen wollen : die Kyrenaiker.
Die Geschichte der kyrenaischen Schule zerfällt in zwei Epo-
chen. In der zweiten finden durch Theodoros, Hegesias,
Annikeris und Bion interessante und lehrreiche Umbildungen
der Schuldoktrin statt. Um diese selbst kennen zu lernen, müssen
wir also jene ganze Nachblüte zunächst beiseite lassen, und nur an
die ältere kyrenaische Schule uns halten. In dieser ragen neben
dorn Stifter, dem älteren Ar istippos vonKyrene, noch hervor:
seine Tochter Arete, und sein Enkel, der jüngere Aristipp.
Nun sprechen wohl manche Gründe für die Annahme, es habe
Gomperz, Lebensauffassung 9
130 SIEBENTE VORLESUNG
erst dieser Letztgenannte die ethische Lehre der Schule im ein-
zelnen ausgeführt und begründet. Allein wir wissen von ihm
wie von seiner Mutter so gut wie nichts, und es bleibt uns des-
halb nur übrig, an dieser Stelle zunächst allein von dem älteren
Aristippos zu handeln, über dessen Persönlichkeit wir nicht
allzu spärlich unterrichtet sind, und auf den ja auch ohne Zwei-
fel wenigstens die Grundzüge der kyrenaischen Ethik zurück-
gehen.
Antisthenes hatte sich durch die Stärke seiner Instinkte in
der Verfolgung des sokratischen Ideals behindert gefühlt und
hatte deshalb ihre Ausrottung als die wesentliche Aufgabe des
ethischen Lebens betrachtet. Als der Typus dieser Instinkte
aber war ihm der Drang nach Lust erschienen. Gegen sie pre-
digte er deshalb einen schonunglosen Vernichtungskrieg. Die-
sem unglücklichen Temperamente des ersten Kynikers steht
das glückliche Temperament des ersten Kyrenaikers im aus-
gesprochensten Gegensatze gegenüber. Seine sinnlich-geistige
Subjektivität hindert ihn gar nicht an der Wunschbejahung
des All, ist vielmehr selbst auf diese hingeordnet. Die Erlösung
erscheint hier als bloße Steigerung und Vollendung animalischen
Wohlgefühls und natürlicher guter Laune. Um zu ihr zu ge-
langen, braucht er also weder mit Antisthenes die Subjektivität
zu unterdrücken, noch sie mit Sokrates abzustreifen. Die in-
nere Freiheit ist vielmehr bei ihm schon ursprünglich als ele-
mentare Genußfähigkeit und ruhige Freudigkeit angelegt. So-
krates ist über die Wendungen des Schicksals erhaben, indem er
sie alle mit gleichmäßig objektiver Sachlichkeit betrachtet;
Diogenes, indem er sie alle gleichmäßig kämpfend über-
windet; Aristipp, indem er sie alle gleichmäßig freudig ge-
nießt.
Ein solcher Mann mußte notwendig auch die sokratische Lehre
auf seine Weise modifizieren. Nach dieser ist die Tugend ein
Wissen. Aber ein Wissen wovon? Für Aristipp kann sie
nichts anderes sein als ein Wissen vom rechten Genießen. Um
nun diesen Standpunkt wissenschaftlich zu begründen, knüpft
DIE KYRENAIKER
131
er an eine Ansicht an, die wir von Demokrit her kennen: „Das
Maß des Zuträglichen und Unzuträglichen ist Freude und Freud-
losigkeit." Gut nämlich ist, was sich der Mensch wünscht; er
wünscht sich aber, so wird hier behauptet, nichts anderes als Lust
und Leidlosigkeit. Von Kindheit an, so sollen die Kyrenaiker
gelehrt haben *, sind wir der Lust vertraut, und wenn wir sie be-
sitzen, suchen wir nichts anderes, und nichts fliehen wir so sehr,
als ihren Gegensatz, den Schmerz. Wenn aber Lust und Gut
gleichwertige Begriffe sind, dann wird das sokratische Wissen
vom Guten zu einem Wissen von Lust und Leid. „Die Einsicht
ist zwar ein Gut, aber nicht an sich selbst zu erstreben, sondern
um dessentwillen, was durch sie erlangt wird2."
Wie nahe in der Tat auch sachlich gerade diese Fortbildung
der sokratischen Lehre lag, sehen wir daraus, daß wir sie auch
in Piatons „Protagoras" finden, ohne daß wir zureichende
Gründe hätten, an diesen Stellen eine Anspielung auf die kyre-
naische Lehre vorauszusetzen. Was Piaton damit sagen wollte,
und ob es ihm mit dieser Darlegung voller Ernst war — dies
sind schwierige Fragen, über die zu handeln hier nicht der Ort
ist. Tatsache aber bleibt, daß er in einem langen Abschnitte3
den Gedankengang entwickelt: Lust und Gut, Leid und Übel
bedeuten dasselbe; das Wissen, in dem die Tugend bestehe,
sei eine Maß- oder Rechenkunst, welche die Aufgabe habe, die
lustvollen und die leidvollen Folgen jeder Handlung zu sum-
mieren und gegeneinander abzuwägen; und eben deshalb ent-
springe jede Verfehlung aus Unwissenheit; denn es wäre doch
absurd, anzunehmen, ein Mensch tue das Üble, das heißt aber
das Leidvolle, weil er von dem Streben nach Lust dazu hin-
| gerissen werde; jede solche Verfehlung müsse vielmehr einem
Mangel an Einsicht entstammen, indem die als Folge der be-
treffenden Handlung zu gewärtigende Lustbilanz unrichtig ver-
anschlagt werde — wie Sie sehen, die wunderlichste Verteidi-
; gung des sokratischen Intellektualismus durch eine grob sensua-
listische Theorie, die sich denken läßt, und die nur möglich ist,
i) Diog. Laert. II. 88. 2) Diog. Laert. II. 91. 3) Protag. p. 351b— 358e.
9*
132
SIEBENTE VORLESUNG
weil Piaton die Verwechslung der beiden Begriffe des „Guten"
(Erwünscht und Gebilligt) hier gleichsam zum Prinzip er-
hoben hat.
Derselbe Grundgedanke nun liegt auch der ethischen Doktrin
des Aristipp zugrunde. Die Ausführung freilich ist verschie-
den. Denn gerade n i ch t die Summe gegenwärtiger und künftiger
Lustzustände soll das „Ziel" sein, sondern allein die Lust des
Augenblicks. Diese Lehre gehört zu den am meisten mißver-
standenen Punkten in der gesamten Geschichte der Ethik. Sie
gilt als die Theorie eines, nur dem Augenblicksgenuß hingege-
benen Lebemannes, und wird daher als eine Verirrung der he-
donischen Denkrichtung angesehen, geeignet, zu den unsittlich-
sten Konsequenzen zu führen,und dieNützlichkeitsmoralzukom-
promittieren, die doch in allen ihren modernen Formen gerade
auf die besonnene Abwägung der Folgen das Hauptgewicht legt.
Dem gegenüber hoffe ich, Ihnen zeigen zu können, daß gerade
diese Bestimmung — in ihrem wahren Sinne verstanden — die
kyrenaische Hedonik theoretisch wie ethisch hoch über die mo-
derne erhebt, und ihr den gebührenden Platz an der Seite an-
derer Erlösungsreligionen anweist. Doch wird es zweckmäßig
sein, ehe wir uns in die Frage der Deutung und Wertung ver-
tiefen, erst die vier Gründe kennen zu lernen, auf die — soviel
wir wissen — Aristipp selbst diese Lehre gestützt hat.
Es müsse sehr schwierig sein, argumentierten die Kyrenaiker
erstens1, jene Zusammenrechnung der Lustzustände durchzu-
führen (wörtlich: sie auf einen Haufen zusammenzutragen), da
oft dasjenige, was Lust bewirke, selbst leidvoll sei, und also als
negativer Posten zähle. In der Tat verstrickt sich die hedonische
„Rechenkunst" meist in die unlösbare Schwierigkeit, daß sie
den moralischen Wert einer Handlung als abhängig denken muß
von der Wertsumme einer unendlichen Reihe, deren Glieder
eben deshalb zum größten Teile unbekannt bleiben müssen. In-
des scheint Aristipp diese entscheidende Einwendung nicht
in dieser ihren vollen Schärfe formuliert zu haben, und das eben
i) Diog. Laert. II. 90.
DIE KYRENAIKER
133
mitgeteilte Argument stellt sich deshalb nur als der einleitende
Hinweis auf eine äußere Schwierigkeit dar.
Dazu tritt aber nun zweitens die Erkenntnis einer inneren
Unmöglichkeit, mit der die „protagoreische" Hedonik allerdings
behaftet ist. Sie setzt nämlich voraus, daß Lust und Leid gedacht
werden können wie positive und negative Größen, die einander
aufheben, so daß die Verhinderung eines Schmerzes gleichwertig
wäre einer Lust, der Verzicht auf eine Lust gleichwertig einem
Schmerz. Hieran knüpft sich dann leicht die Konsequenz, daß
die Lust überhaupt ihrem Wesen nach nur als Abwesenheit der
Unlust aufgefaßt, und also die volle Schmerzlosigkeit als das
„Ziel" betrachtet wird. Indem nun die Kyrenaiker nach dem
Zeugnisse des P a n a i t i o s 1 diese auch heute (z. B. bei S c h o p e n -
hauer) wieder beliebte, aber auch schon im Altertum durch
Hegesias und Epikur vertretene Lehre entschieden bekämpf-
ten, wiesen sie mit Nachdruck auf ein Grundgebrechen jener
ganzen hedonischen „Rechenkunst" hin. Sie unterschieden
nämlich2 nicht zwei, sondern drei hedonische Zustände, indem
sie neben Lust und Leid die hedonische Indifferenz als selbst-
wertiges Drittes anerkannten, das weder (als Schmerzlosigkeit)
mit der Lust noch (als Lustlosigkeit) mit dem Leid gleichgesetzt
werden dürfe3. Dann aber fehlt, nach dem eben Gesagten, den
hedonischen Zuständen der (in diesem Falle notwendig ein-
dimensionale) Größencharakter, und damit wird die ganze Vor-
aussetzung jener „Rechenkunst" hinfällig.
In noch höherem Grade aber rechtfertigen die Kyrenaiker
das ihnen von Piaton4 zuerkannte Epitheton der „Feinheit"
durch das folgende, dritte Argument5: Die Summe der Lustzu-
stände, also das (hedonisch aufgefaßte) „Glück", ist nur eine
„Zusammenstellung6." Der Mensch aber strebt gar nicht nach
einem solchen „System", sondern nach der einzelnen Lust. Und
das „Glück" ist deshalb gar nicht um seiner selbst willen be-
i) Diog. Laert. II. 87. 2) Diog. Laert. II. 90; Sext. Emp. adv. Math. VII. 199;
Euseb.Praep. Ev. XIV. 18.32. 3) Diog.Laert. 11.89. *) Phileb. p.53c. 5) Diog.
Laert. II. 87 f. 6) auöTruim.
134
SIEBENTE VORLESUNG
gehrenswert, sondern nur wegen der einzelnen Lustzustände,
aus denen es besteht. Verdeutlichen wir uns diesen Gedanken-
gang, indem wir ihn in eine etwas modernere Terminologie über-
tragen, so erhalten wir etwa die folgenden Sätze: unser Lust-
verlangen ist auf einen qualitativ bestimmten Gefühlszustand
gerichtet; Gefühlsqualitäten lassen aber keine reale Summierung
zu; eine Lustsumme ist deshalb etwas, was nur gedacht, aber
nicht empfunden werden kann, und hat infolgedessen für das
Begehrungsvermögen keinen selbständigen Wert. Diese Ein-
sicht, daß man eine Begierde nicht mit Gedankendingen ab-
speisen kann, und daß eine sensualistische Theorie nicht mit
metaphysischen Begriffen operieren darf, scheint mir allerdings
unanfechtbar, und für die modernen hedonischen Theorien
verhängnisvoll.
Endlich aber ist uns noch ein viertes Argument überliefert,
das unser Interesse ganz besonders in Anspruch nimmt, weil es
uns von der moralischen Theorie zur ethischen Gesinnung hin-
überleitet. Der folgende Gedankengang des Aristipp nämlich
wird uns von Aelian1 bezeugt: er kümmere sich nicht um das
Vergangene und nicht um das Zukünftige. Denn dies sei das
Zeichen der Wohlgemutheit2, und der Beweis einer gesunden
Vernunft. Er richte aber seinen Sinn auf den Tag, und wieder-
um auf jenen Teil des Tages, in dem der Betreffende handle oder
überlege. Denn allein die Gegenwart sei in unserer Ge-
walt, und weder das Vergangene noch das Zukünftige; denn
jenes bestehe nicht mehr, von diesem aber sei noch unsicher,
ob es sein werde. Es versteht sich von selbst, daß Aristipp
hiermit nicht sagen will, wenn er einen Zweck erreichen wolle,
wende er nicht die dazu tauglich scheinenden Mittel an. Einen
solchen Unsinn hätte man einem geistig gesunden Menschen
nie zutrauen sollen. Was aber will er denn sagen? Und schließt
nicht ein solcher Grundsatz in der Tat jede praktische Besonnen-
heit und sittliche Verantwortlichkeit aus? Auf diese Frage
antworte ich zunächst durch den Hinweis auf ein anderes Zitat.
1) V. H. XIV. 6. 2) Der Kunstausdruck des Demokrit.
DIE KYRENAIKER
135
In der Bergpredigt1 lesen wir: „Sorget euch also nicht um das
Morgen; denn das Morgen wird für sich selbst sorgen: jedem
Tage genügt seine Plage". Dem Urheber dieser Sätze pflegt man
gemeinhin nicht eben unmoralische Gesinnung vorzuwerfen.
Dennoch besagen sie genau dasselbe, wie die Lehre des Ari-
stipp, und sind auch ganz denselben Mißdeutungen von seiten
unverständiger Interpreten ausgesetzt. Aber Sie können mir
einwenden: die Sätze der Bergpredigt, die den angeführten vor-
ausgehen, zeigen deutlich genug, daß diese ihren Sinn nur erhal-
ten können unter der Voraussetzung eines absoluten Gottver-
trauens; daß sie also uns sagen wollen: sei frei von jeder Furcht,
denn Gottes Kraft wird sich jedem etwaigen Übel entgegenstellen,
und sie ist stark genug, um es zu überwinden. Aber wenn Sie
sich nun dessen erinnern, was wir in der einleitenden Vorlesung
eingehend besprochen haben, so werden Sie sehen: an dieser
dogmatischen Voraussetzung kann der Sinn jener Sätze nicht
| hängen. Dem Vertrauen auf die göttliche Kraft in dem Gedan-
kenkreise der Fremderlösung entspricht in dem der Selbst-
erlösungdas Vertrauen aufdieeigeneKraft. Es ist das Zeichen
innerer Unfreiheit, vor irgend einer äußeren Lebenslage sich
zu fürchten. Denn jeder möglichen Lage mit freudiger
Wunschbejahung zu begegnen — das eben ist das Wesen der
inneren Freiheit; und eben das Bewußtsein, die hierzu erfor-
derte Kraft zu besitzen — ist das der inneren Befreiung und Er-
lösung. In beiden Fällen also ist der Sinn des Verbotes dieser:
sorge dich nicht um die Zukunft; denn, was immer geschehe,
— die (göttliche, resp. eigene) Kraft steht dir dafür gut, daß es
für dich kein Übel sein wird. Zugleich aber sehen Sie auch: in
beiden Fällen kann sich das Verbot nur beziehen auf eine solche
Sorge um die Zukunft, welche der selbstischen Begierde, dem
Haften am Genuß und dem Zurückbeben vor der Entbehrung ent-
springt; nicht aber kann es betreffen das Anpassen der Mittel an
solche Zwecke, welche wir uns liebend oder schaffend setzen,
die also eine Äußerung unseres Kraftüberschusses sind. Damit
i) Matth. VI. 34.
136
SIEBENTE VORLESUNG
ist wohl zur Genüge dieanscheinendeParadoxie aufgehoben, die
beiden Lehren anhaftet, aber freilich an der einen ebenso ein-
seitig beachtet, wie an der anderen übersehen wird. Noch nicht
aber ist erklärt der Zusammenhang zwischen dieser allgemeinen
Äußerung des inneren Freiheitsbewußtseins und der spezifisch
hedonischen Form der aristippischen Lehre; indes kann uns
diese Erklärung jetzt nicht mehr schwer fallen, und sie wird sich
uns am leichtesten ergeben, wenn wir, an neulich Gesagtes an-
knüpfend, die antike Hedonik mit der modernen vergleichen.
Es gibt zwei Wege, um ein Maximum von Lust zu erzielen.
Es kann geschehen dadurch, daß im weitesten Ausmaße jene
äußeren Bedingungen hergestellt werden, mit denen durch
Befriedigung der natürlichen Instinkte in allen Menschen
sich Lust verknüpft; und es kann geschehen dadurch, daß im
weitesten Ausmaße eine solche Umbildung der Instinkte
bewerkstelligt wird, daß nun mitallenäußerenBedingungen
Lust verknüpft wird. Ich brauche nicht mehr besonders zu be-
tonen, welcher dieser beiden Wege der inneren Unfreiheit,
welcher der inneren Freiheit entspricht: der erstere Weg
macht uns von dem äußeren Schicksal ebenso gewiß abhängig,
als uns der letztere von ihm unabhängig macht. Jener Weg
aber deckt sich mit dem Prinzip der modernen Hedonik eben-
so wie dieser mit dem der antiken. Auf jenem finden wir
uns in unserem Tun beschränkt und empfinden das Leben als
Ernst — denn wer weiß, ob wir nicht etwas tun, was uns oder
anderen wehe tun könnte! Auf diesem finden wir uns frei
und empfinden das Leben als Spiel — denn wir wissen, daß,
geschehe was immer, wir und alle andern tüchtigen Männer
dem geschehenen immer noch eine lustvolle Seite werden ab-
gewinnen können. Daher ist dieses das Prinzip der antiken
Hedonik überhaupt, und der kyrenaischen insbesondere: der
Mensch soll instand gesetzt werden, aus jeder beliebigen
Lebenslage ein Maximum von Lust herauszupressen,
und sie so freudig zu genießen. Also, nicht um die äußere Lust-
bilanz der Ereignisse handelt es sich hier, sondern um die
DIE KYRENAIKER
innere Lustbilanz der Empfindungen. Nicht ein bestimmtes
Handeln wird dem Menschen vorgeschrieben, und gar nicht
das wird ihm empfohlen, sein Tun so einzurichten, daß daraus
möglichst viel Lust sich ihm ergebe; sondern, wie immer er
handle und was immer er tue — er soll so beschaffen sein,
daß ihm auf j e d e n F a 1 1 freudiger Genuß daraus erwächst. Nur
so aufgefaßt kann eine hedonische Theorie das Ideal der
inneren Freiheit ausdrücken wollen.
Ist nun aber dieses in der Tat die Lehre des Aristipp? Mit
dürren Worten ist uns dies freilich nicht überliefert1. Allein, was
wir von ihr wissen, scheint mir jede andere Auffassung auszu-
schließen. Denn wir hören ausdrücklich2, er habe nicht wie
E p i k u r den gegenwärtigen Schmerz durch freudigeErinnerungen
und Hoffnungen überwiegen lassen, vielmehr genüge es3, wenn
*) Eine Nachricht scheint sogar dieser Interpretation direkt im Wege zu
stehen. Diog. Laert. II. 91 wird nämlich als kyrenaische Lehre angeführt
„daß nicht jeder Weise in Lust lebe, und nicht jeder Tor in Unlust,
sondern in der Regel". Dies ist nun, so wie es dasteht, natürlich
ebenso barer Unsinn, wie die bald folgende „Lehre" des Aristipp, daß
„die Sinne nicht immer die Wahrheit bezeugen" (II. 93). Indes will
ich nicht auf dieser Entstellung bestehen, und annehmen, ein kyrenaisches
„Dogma" habe gelautet: Der Weise empfinde nicht immer Lust, sondern
nur meistens. Dann aber ist dies aufs engste zusammenzuhalten mit
dem anderen Lehrstück (ibid. 11.93) von der empirischen Realität
des Weisen (elvat töv oocpöv). Dies ist nämlich eine ähnliche Korrelation,
wie die beim perspektivischen Sehen: so wie hier dasselbe Objekt in der
Nähe größer, in der Ferne kleiner erscheint, so wird umgekehrt dasselbe
Ideal stets inhaltlich gesteigert, wenn es als unerreichbarer Grenzwert,
und stets inhaltlich verkürzt, wenn es als empirische Größe gedacht wird.
Denn, ob man nun sagt: Der empirisch-vollkommene Mensch findet an
den meisten Lagen seine Lust, oder: Der empirische Mensch kommt dem
Ideal der Vollkommenheit um so näher, an je mehr Lagen er seine Lust
findet — diese beiden Aussagen involvieren nicht einen anderen Voll-
kommenheits-, sondern nur einen anderen Idealbegriff; die Verschieden-
heit bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form des Ideals.
Da ich nun erst anläßlich der stoischen Ethik auf die letzteren Fragen ein-
gehen möchte, so stelle ich einstweilen die kyrenaische Lehre so dar, wie sie
unter Zugrundelegung eines formal korrekten Idealbegriffes formuliert wer-
den müßte. 2) Diog. Laert. II. 89; Athen. XII. p.544af. 3) Diog. Laert. II. 91.
138
SIEBENTE VORLESUNG
man die eine, eben vorhandene Lust genieße. Dies kann schon
an sich kaum etwas anderes heißen, als daß vom Weisen die
Fähigkeit gefordert wird, in jeder Lage einen Lustgehalt zu ent-
decken; und diese Deutung wird vollends zur Gewißheit, wenn
wir bedenken, daß (wie sich zeigen wird) Epikur ohne jeden
Zweifel vom Weisen verlangt, er müsse jeden Schmerz von
innen heraus zu kompensieren imstande sein, Aristipp aber
nach dem gesagten nur hinsichtlich der Mittel, nicht hinsicht-
lich des Inhalts dieser Forderung von ihm abweicht. Und
ebenso stimmt zu dieser Auffassung aufs beste, was wir weiter
erfahren. Denn wenn das Ziel in dieser Weise bestimmt ist,
so erhebt sich weiter die Frage nach dem Wege, der zu ihm hin-
führt, die Frage nämlich: wie lernen wir, den Dingen und Lagen
ihren Lustgehalt auszusaugen? Auf die entsprechende Frage
hatte der radikale kynische Pessimismus die Antwort bereit ge-
halten: indem uns die Vernunft zur Ausrottung der Instinkte
verhilft. Der gemäßigte kyrenaische Optimismus kann nur er-
widern: indem wir durch Einsicht zur Umbildung derselben
gelangen, nämlich zur Steigerung aller freudigen und zur Unter-
drückung aller schmerzlichen Gefühle. Denn diese letzteren
beruhen auf einer unrichtigen Wertung; und diese verschwindet
vor der Erkenntnis. Und wenigstens der zweite Teil dieser Ant-
wort ist uns auch bezeugt. Leidvolle Begierden, wie Liebe und
Neid, hören wir1, empfinde der Weise überhaupt nicht; denn
sie entspringen aus „leerem Schein" oder „bloßer Meinung"2.
Und ebenso befreie ihn die Einsicht von Geister- und Todes-
furcht3.
Jedoch, mag alles bisherige noch einigermaßen problematisch
scheinen, alle Zweifel schwinden, sobald wir die Persönlich-
keit des Aristipp ins Auge fassen: sowohl unmittelbar nach
den Quellen, die uns zur Verfügung stehen (und über deren
Beschaffenheit ich schon neulich ein Wort gesagt habe), als
auch mittelbar nach dem Eindruck, den er auf seine Zeitgenossen
*) Diog. Laert. H. 92. 2) Kevrj öoEct; man vgl. den xücpoc; der Kyniker! 3) Vgl.
Demokrit und Epikur!
DIE KYRENAIKER
139
gemacht hat, und den das Altertum in einem höchst charakte-
ristischen Bilde von ihm aufbewahrt hat. Und gleich die Haupt-
sache, die nicht genug betont werden kann, daß ihn nämlich
seine Lustlehre nicht abhängig gemacht habe von den Genuß-
objekten, sondern ihn vielmehr über sie erhoben habe, bezeugt
uns Horaz in den Versen1:
„Leise gleit' ich zurück zur Regel des Aristippus:
Trachte die Dinge mir, nicht mich den Dingen zu fügen."
Bestrebt und befähigt also müssen wir ihn denken, nicht etwa,
das an sich Angenehme dem Unangenehmen vorzuziehen, son-
dern jedem Erlebnis seinegute Seite abzugewinnen. Und wieder-
um sagt uns derselbe Zeuge2:
„Jedes Ding, jeder Stand, jede Lage passt Aristippus:
Stets auf Größeres aus, der Gegenwart immer gewachsen."
Und bei Diogenes Laertios3 lesen wir: „Er war aber im-
stande, sich jedem Orte und jeder Zeit und jeder Rolle anzu-
passen, und jede Situation konsequent durchzuspielen .... Er
genoß die Lust am Vorhandenen, jagte aber nicht mühselig nach
dem Genüsse des Nichtvorhandenen. Deshalb nannte ihn auch
Diogenes (von Sinope) eine königliche Kynikernatur." Und
in demselben Sinne wird Piaton die Äußerung zugeschrieben4:
„Dir allein ist es gegeben, sowohl ein Prachtgewand zu tragen
wie einen Fetzen."
Aber auch er selbst war sich dieser seiner Lebensrichtung
bewußt, und bezeichnete sie als „Freiheit". Denn auf die Frage
des Sokrates,ober herrschen oder dienen wolle, läßt ihn Xeno-
phon5 erwidern: „Ich rechne mich aber (nicht zu den Herr-
schenden, und) auch nicht zu den Dienenden, sondern es dünkt
mich, daß es einen mittleren Weg gebe zwischen diesen, weder
den der Herrschaft, noch den der Knechtschaft, sondern den
der Freiheit, der am sichersten zur Glückseligkeit führt." Und
in welchem Sinne er nun den Genuß eben als Ausfluß dieser
i) Ep. I. 1. 18. 2) Ep. I. 17. 23. 3) Ii. 66. 4) Diog. Laert. II. 67. 5) Comm. II.
1. 11.
140
SIEBENTE VORLESUNG
Freiheitversteht,darübergibtein (unverkennbar gegen den Kynis-
mus polemisierender) Ausspruch Aufschluß, der uns in zwei Ver-
sionen überliefert ist. Das eine Mal lautet er1: „Die Lust über-
windet, nicht wer sich ihrer enthält, sondern wer sie genießt,
ohne von ihr hingerissen zu werden." Und das andere Mal2:
„Die Lust zu beherrschen, und nicht von ihr überwältigt zu
werden, ist das beste; nicht aber, sie nicht zu genießen." Und an
eben dieser letzterwähnten Stelle findet sich auch das Wort, das
als Motto über seine ganze Philosophie gesetzt werden könnte.
Als ihm nämlich wegen seines Verhältnisses zu der bekannten
Hetäre Lais Vorwürfe gemacht wurden, erwiderte er: „Ich be-
sitze (sie), aber ich werde nicht (von ihr) besessen." Und in
demselben Sinne wird folgende Geschichte erzählt3: „Als er
einst indasHaus einer Hetäre ging, und einer der ihn begleiten-
den jungen Leute errötete, sprach er: „Nicht das Hineingehen
ist schlimm, sondern das Nichtmehrherausgehenkönnen."
Gegen jede solche Lebensauffassung erhebt sich die Behaup-
tung, es sei unmöglich, sich an einer Sache zu erfreuen, über
ihren Verlust aber sich nicht zu betrüben. Wie wenig Berech-
tigung diesem Vorurteil zukommt, vermögen wir theoretisch
leicht einzusehen: es ist begründet, wo der Genuß wesentlich
auf der passiven Befriedigung einer Begierde beruht; ganz haltlos
dagegen, wo dieFreudigkeit jenes Auswirken der eigenen inneren
Aktivität begleitet, welches durch das äußere Objekt nur ausgelöst
wird. Aristipp aber hat praktisch gezeigt, wie falsch jene
Voraussetzung ist. Er sei gleich groß im Nehmen wie im Ver-
schmähen, wird von ihm gesagt4, und zum Belege wird berichtet,
der Tyrann Dionys ios von Syrakus habe ihm einmal drei
schöne Sklavinnen zur Auswahl geschickt; er aber habe gemeint,
auch dem Paris habe es nicht gefrommt, eine Wahl zu treffen,
und habe sie alle drei mit sich genommen; an der Tür seines
Hauses aber habe er sie alle drei entlassen. Noch charakteristi-
scher ist ein anderer Zug5: „Auf einer Reise trug sein Diener
i) Stob. Floril. 17. 18 (Meineke). 2) Diog. Laert. II. 75. 3) Diog. Laert. II. 69.
4) Diog. Laert. II. 67. 5) Diog. Laert. II. 77.
DIE KYRENAIKER
141
das Geld, klagte aber über die Last. Da sagte er: schütte weg,
was zuviel ist, und trage, was du kannst!" Einen interessanten
Wink in der Richtung, daß wirklich diese Erhabenheit über das
materielle Interesse mit seiner Genußfreudigkeit eng zusammen-
hängt, gibt die folgende geistvolle Anekdote1: „Es wird erzählt,
er habe einmal ein Rebhuhn um 50 Drachmen kaufen lassen.
Als ihm nun jemand hierüber Vorwürfe machte, fragte er:
Hättest du's nicht um einen Obolus gekauft? Und, als jener be-
jahte : So wenig gelten mir (eben) die 50 Drachmen." Und in einer
, anderen Fassung derselben Geschichte2 fügt er hinzu: „Also,
nicht ich hänge am Vergnügen, sondern du hängst am Geld."
In dieser souveränen Stellung des Ari stipp zu allen äußeren
Werten wurzelt nun jene früher erwähnte Fähigkeit, sich in jede
Lage zu schicken. Ihm selbst wird auf die Frage, was ihm die
Philosophie eingebracht habe, die Antwort zugeschrieben3: „Mit
allem guten Mutes umgehen zu können," und dies erinnert nicht
nur uns an die sokratische Furchtlosigkeit, sondern auch er selbst
soll auf die Erkundigung, wie Sokrates gestorben sei, versetzt
haben4: „Wie ich zu sterben wünschte." Nur ein anderer Aus-
druck hierfür ist der Satz5, der Weise sei nie in Verlegenheit.
Zu seiner Erläuterung wird6 eine lustige Geschichte erzählt.
Dionysios nämlich, an dessen Hofe Aristipp lange gelebt hat,
habe sich auf diesen Satz berufen, als der Philosoph ihn um
Geld ersuchte; dieser aber habe erwidert: Gib mir nur erst das
Geld, und dann werden wir untersuchen (ob das ein Wider-
spruch ist?). Als er nun das Geld hatte, sagte er: Siehst du,
daß ich nicht in Verlegenheit war?
Der Philosoph, der den Tyrannen um Geld bittet, macht uns
leicht den Eindruck des gemeinen Schmarotzers. In den Augen
Aristipps erschien dieses Verhältnis in anderem Lichte. Daß
die innere Freiheit und Würde des Menschen durch irgend- .
welche äußere Reden oder Handlungen eine Einbuße erleiden
könnte, galt ihm als völlig undenkbar. Solange er in seinem
i) Diog. Laert. II. 66. 2) Diog. Laert. II. 75. 3) Diog. Laert. II. 68. 4) Diog.
Laert, 11.76. 5) Diog. Laert. II. 82. 6) Ebenda.
142
SIEBENTE VORLESUNG
Inneren die rechte Stellung zu den Dingen einnimmt, ist sein
äußeres Verhalten gänzlich irrelevant. Wenn er Geld brauchen
kann, und jener bereit ist, es herzugeben, dann stellt sich ihm die
Ablehnung als eitle Ziererei dar, als ein Ausfluß jenes „leeren
Scheines", welcher der kynischen „Einbildung" aufs nächste
verwandt ist, und deren Verachtung beide Teile zu ähnlichen
Verstößen gegen das geführt hat, was ihnen als bloß konven-
tioneller Wert erschien. „Leerer Schein" ist es z. B.1, wenn
man am Umgang mit einer Hetäre Anstoß nimmt, weil schon
viele mit ihr verkehrt haben: es stößt sich doch auch niemand
daran, daß man auf einem Schiffe fährt, auf dem schon viele ge-
fahren sind, oder in einem Hause wohnt, in dem schon viele
gewohnt haben. So findet er auch, daß sich sein Verhältnis zu
Dionysios in nichts von anderen Tauschgeschäften unter-
scheide: er komme eben2, um zu geben, was er habe (nämlich
Weisheit), und zu nehmen, was er nicht habe (nämlich Geld).
Und auf die Frage, warum die Philosophen die Reichen auf-
suchen und nicht umgekehrt, erwidert er3: Weil diePhilosophen
wissen, daß es ihnen an Geld fehlt, die Reichen aber nicht wissen,
daß sie der Weisheit bedürfen. Als ihn Dionysios anspuckte,
heißt es4, ließ er sich das ruhig gefallen; und als er deswegen ge-
tadelt wurde, meinte er: wenn sich die Fischer mit Meerwasser
bespritzen lassen, um einen ganz kleinen Fisch zu erbeuten, soll
ich mich nicht mit gewässertem Wein bespritzen lassen, um einen
so großen Fisch zu fangen? So wie es leerer Schein wäre, sich
hier zu zieren, so auch, wollte man, um einem Freunde zu
nützen, sich bedenken, vor dem Tyrannen einen Fußfall zu tun:
es ist nicht meine Schuld, sagt er5, sondern die des Dionys,
wenn er seine Ohren an den Füßen trägt. Und in ihrem Gegen-
satze zu Piatons etwas pedantischer Würde wird (unter Be-
nutzung zweier euripideischer Verse) seine Lebensauffassung
trefflich durch folgende Anekdote6 charakterisiert: Dionysios
habe einmal bei einem Gelage beide Philosophen Purpurkleider
i) Diog. Laert. II. 74. 2) Diog. Laert. II. 77. 3) Diog. Laert. II. 69. *) Diog.
Laert. II. 67. 5) Diog. Laert. II. 79. 6) Diog. Laert. II. 78.
DIE KYRENAIKER
143
anlegen und ihm vortanzen geheißen; Pia ton aber habe sich
! dessen geweigert, indem er sprach:
„Nie könnt' ich mich in Weiberkleider hüllen!"
Ar i stipp aber habe ruhig das Gewand umgenommen, und, im
Begriffe zu tanzen, schlagfertig erwidert:
„Aber auch im Tanz
Nimmt, wessen Sinn gesund ist, keinen Schaden. "
So sehen wir, wie Aristipp, als rechter Jünger des So-
I krates, allen Wert ins Innere des Menschen verlegt, wo er, von
I allen äußeren Zufällen unabhängig, geborgen ist. Und sehr
j glaublich klingt, was uns eine späte Quelle1 berichtet: er habe
den jungen Leuten empfohlen, sich auf die (Lebens-) Reise eine
solche Wegzehrung mitzunehmen, welche auch bei einem Schiff-
I bruche mit ihnen gerettet werden könne. Und wie ihm endlich
das Bewußtsein dieser unvergänglichen Besitztümer als das
einzig wahre Freiheitsbewußtsein erschien, dafür mag zum
Schluß noch folgende Geschichte2 zeugen: „Auf die Frage eines
! Vaters, wieviel er für die Erziehung seines Sohnes verlangen
j würde, erwiderte er: 1000 Drachmen. Da aber jener ausrief:
! beim Herakles! wie übermäßig ist deine Forderung! Für
1000 kann ich mir ja einen Hofmeister kaufen! — versetzte er:
und wirst dann sogar zwei Sklaven haben: erstens den, welchen
I du kaufst, und zweitens deinen Sohn!"
In der Tat, die hedonische Theorie der Kyrenaiker ist sehr
anfechtbar. Darüber werden wir alsbald näher zu sprechen
haben. Aber daß Aristipp zu den innerlich freiesten Menschen
| zählt, die wir kennen, scheint mir nicht zweifelhaft. Ja, mag es
auch in den Lehrbüchern üblich sein, Kyniker und Kyrenaiker
als „unvollkommene Sokratiker" zu bezeichnen — wir werden
j doch sagen dürfen: soweit wir nach unseren Quellen urteilen
I können, werden diese drei: Sokrates, Diogenes und Aristipp
an innerer Freiheit von keinem anderen übertroffen. Und um
*) Exc. ex floril. Joh.Damasc. 11.13. 138 (Meineke). 2) Plutarch, de lib. educ.
7, p.4ff.
144
SIEBENTE VORLESUNG
Ihnen zu zeigen, daß dieses Urteil nicht meiner Subjektivität
entspringt, erinnere ich Sie aufs neue an jene Äußerung des
späten Kynikers Demonax1, die uns schon einmal vorge-
kommen ist. Denn dieser selbe Philosoph, der das gemeinsame
Ideal der griechischen Ethik so klar ausgesprochen hat, indem
er2 das „Glück" als „Freiheit" bestimmte und diese wieder als
Abwesenheit von Hoffnung und Furcht erklärte, erwiderte, wie
wir hörten, auf die Frage, welche Philosophen er anerkenne:
„Erstaunlich sind sie alle; ich aber verehre Sokrates, bewun-
dere Diogenes, und liebe Aristipp."
Allein, geehrte Zuhörer, mögen wir von diesem Gesichts-
punkte aus die Person des ersten Kyrenaikers noch so hoch
stellen, gegen die Lehre seiner Schule lassen sich, gerade von
ihm aus, ganz erhebliche Bedenken nicht unterdrücken. Auf
diese aber müssen wir hier mit einigen Worten eingehen, nicht
nur, weil dies zur Würdigung dieser geschichtlichen Erschei-
nung, sondern auch, weil es zum Verständnis jener Fortbildung
unerläßlich ist, welche dieseLehrebeiden jüngerenKyrenaikern
erfahren hat. Es sind drei Punkte, auf die ich in diesem Zu-
sammenhange Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte.
Zunächst ruht dieHedonik (in allen ihren Formen) auf einer
völlig unhaltbaren theoretischen Voraussetzung. Sie verkennt
nämlich das prinzipielle Wesen des menschlichen Begehrens,
und speziell des Wollens als seiner ausgesprochensten Grund-
form, in seiner psychophysischen Bedeutung. Aber wie
alle anderen verhängnisvollen Irrtümer schließt auch dieser,
freilich einseitig entstellt, einen bedeutenden Wahrheitsgehalt
ein. Sonst wäre er ungefährlich. Um zunächst bei dem mehr
äußerlichen anzufangen, so ist unleugbar, daß jede Vorstel-
lung eines künftigen, als lustvoll gedachten Erlebnisses eine
Tendenz hat, den Willen im Sinne seiner Realisierung zu be-
stimmen; und ferner, daß die Realisierung jedes Wollens schon
als solche die Tendenz hat, Lust zu erzeugen. Durch den
zweiten dieser Umstände wird aber die Neigung verstärkt, den
i) Lucian, Demonax 62, p. 394. 2) ibid. 20, p. 383.
DIE KYRENAIKER
145
ersten in dem Sinne zu interpretieren, als ob nur die Erwartung
künftiger Lust Gegenstand des Wollens zu sein vermöchte,
während schon die alltäglichen Erscheinungen der Gewohnheit
und Suggestion uns zeigen, daß die wesentliche Bedingung einer
Zweckvorstellung nicht ihr Lustcharakter ist, sondern vielmehr
der Umstand, daß sie als „herrschende" im „Blickpunkte" des
Bewußtseins steht, mag ihr nun diese „herrschende" Stellung
durch ihren Lustcharakter oder auf irgend eine andere Weise
! erteilt worden sein. Aber freilich, auch damit ist noch nicht
! das letzte Wort gesprochen. Denn die „herrschende" Vor«
! Stellung kann lediglich die Richtung des Wollens bestimmen;
j außerdem aber bedarf dieses, um überhaupt von statten zu gehen,
einer Triebkraft, und als solche kann nie etwas anderes fun-
gieren als eine affektive Erregung. Und hier liegt nun die
Wurzel des Mißverständnisses bloß. Bei den hedonisch gefärb-
ten Zwecken nämlich fallen die herrschende, richtunggebende
Vorstellung und der erregende, treibende Affekt zusammen.
Daher erscheint dieser Fall der theoretischen Betrachtung
leicht als der einfache, typische Grundfall, welcher der Deutung
aller anderen Fälle zugrunde gelegt werden muß. Allein eben-
sogut kann der Affekt seinen Ursprung ganz wo anders haben:
sei es, daß er an einer anderen Vorstellung haftet (wie wenn
das Mittel gewollt wird um des Zweckes willen), sei es, daß er
in einem organischen Zustande wurzelt (wie wenn momentane
Aufregung in mehr oder weniger sinnlosen Handlungen sich
entlädt), sei es endlich, daß er nur das Vorhandensein eines
aufgespeicherten Kraftvorrates ausdrückt (wie in den Fällen, von
denen wir seinerzeit gehandelt haben: in der liebenden Hin-
gebung, in der schöpferischen Produktivität und im Spiel über-
haupt). Diese Sachlage verkennt jede hedonische Willens- und
Begehrungstheorie.
Hieraus aber folgt zweitens ein anderes. Die realen Faktoren
des Begehrens und Wollens überhaupt, und insbesondere auch
jener Begehrungsumbildung, die wir als den Erlösungsprozeß
zur Genüge kennen, liegen in den Kraftverhältnissen. Daß ein
Gomperz, Lebensauffassung 10
146 SIEBENTE VORLESUNG
Kraftüberschuß aus einem Kraftminimum hervorwächst und es
überwindet — in dieser dynamischen Gleichgewichtsänderung,
wissen wir, besteht die innere Befreiung; d. h. also darin, daß
die eben an letzter Stelle genannte Art der Willensbestimmung
stetig diejenige verdrängt, die wir an erster Stelle angeführt
haben. Aber da jede Willensbefriedigung von Lust begleitet zu
sein pflegt, so kann auch diese Entwicklung nicht eine völlige
Elimination der hedonischen Zustände bedeuten. Wohl aber
bedingt sie eine qualitative Änderung dieser Zustände. Denn,
Sie erinnern sich, dem Kraftminimum entspricht die Lust des
Genusses, dem Kraftüberschuß die Freudigkeit des Tuns. Allein
diese Änderung hat eine lediglich sekundäre Bedeutung; sie
ist für jene primäre Entwicklung lediglich das Anzeichen,
sowie die Rauchsäule, welche der Lokomotive entströmt, das
Anzeichen ist für den realen dynamischen Vorgang, daß die
Maschine den Eisenbahnzug hinter sich her zieht. Jeder Ver-
such daher, das Wesen des Erlösungsprozesses hedonisch zu
beschreiben, setzt einen Strang von Symptomen an die Steile
der Reihe wirkender Ursachen: es ist, als wollte jemand
das Dahinbrausen des Zuges aus der Form und Richtung der
entwickelten Rauchsäule verstehen. Dieser entscheidende Ein-
wandsteht jedem Versuche entgegen, das Ideal der inneren Frei-
heit in einer hedonischen Theorie zu formulieren.
Drittens aber ist nun eben dieses zu sagen: wenn schon der
Erlösungsprozeß unter hedonischen Gesichtspunkten beschrie-
ben werden soll, dann muß notwendig der erwähnte Unter-
schied der Lustzustände in den Vordergrund gerückt, und die
innere Befreiung dargestellt werden als das stetige Zurück-
treten der passiven Lust am Äußeren hinter die aktive Freudig-
keit des eigenen Inneren. Gänzlich unzulänglich also muß eine
Theorie dieser Aufgabe gegenüberstehen, die diesen Unterschied
grundsätzlich ignoriert und die prinzipielle Gleichwertigkeit
aller Lustzustände voraussetzt. Soviel freilich muß zugestanden
werden: da die passive Lust des Genusses abhängig ist von
jenen Wendungen des äußeren Schicksals, die sich unserer Ge-
DIE KYRENAIKER
147
walt entziehen und nur zu häufig Leid statt Lust uns aufnötigen;
und da auf der anderen Seite die aktive Lust der Selbstauswir-
kung von diesen Wendungen unabhängig und also jedem für so-
lange sicher ist, als er ihre Vorbedingungen in sich verwirk-
lichen kann; so mag in der Regel auch im hedonischen Sinne
der innerlich freie Mensch „glücklicher" sein als der unfreie,
obwohl natürlich auch Fälle denkbar sind, wo ein dauernd
günstiges äußerliches Schicksal diesen Unterschied ganz oder
nahezu ausgleicht. In diesem Sinne kann deshalb die innere
Freiheit freilich auch als ein Lustmaximum angesehen werden.
Allein es ist klar, daß eine so vermittelte und keineswegs not-
wendige Folge unfähig bleiben muß, uns das wesentliche des
Vorganges, um den es sich handelt, begreifen zu lassen. Gerade
dies aber ist der Standpunkt des Ari stipp: jede Lust stellt er
grundsätzlich jeder anderen gleich; und das aus seiner Persön-
lichkeit unverkennbar hervorleuchtende Prinzip, die vom äuße-
ren Schicksal unabhängigen Lustarten auf Kosten der von ihm
abhängigen aufzusuchen und auszubilden, verbirgt er hinter der
in ihrer Allgemeinheit und Unbestimmtheit durchaus mehrdeu-
tigen Forderung, in jeder Lebenslage einen Lustanlaß aufzu-
spüren. Dann aber werden wir urteilen dürfen: seine Lehre
war von vornherein nicht dazu geeignet, ein angemessener
Ausdruck für sein Leben zu werden.
Hier aber müssen Sie sich daran erinnern, daß eben diesen
Unterschied, dessen Beachtung wir bei den älteren Kyrenaikern
vermissen, die Kyniker gesehen haben. Wir hörten ja, daß
Antisthenes einen doppelten Lustbegriff kannte, und auch, daß
j derselbe Diogenes, der gegen die „Lüste" zu Felde ziehen
, wollte, Heiterkeit und Fröhlichkeit für das Wesen des „Glückes"
; erklärt hat. Nur meinten sie zu Unrecht, diese letzteren könnten
j nur gewonnen werden, wenn auf jene erstem Verzicht geleistet
I würde, während das Ideal der inneren Freiheit die Forderung
! in sich schließt, der Mensch müsse auch während der Befrie-
; digung seiner „niederen" Bedürfnisse seine innere Freudigkeit
über seine äußere Lust dominieren lassen. Erst dies hieße
10*
148
SIEBENTE VORLESUNG
wahrhaft „die Lust überwinden", und nur ein in diesem Sinne
modifizierter Kynismus hätte dem Postulate genügt, das Ideal
der inneren Freiheit hedonisch zu konstruieren — soweit dies
überhaupt möglich ist.
In diesem Sinne einer Synthese der beiden Doktrinen ist nun
die kyrenaische Lehre in der Tat wenige Generationen nach
Aristipp umgebildet worden, und diese Umbildung knüpft sich
an den Namen des „Atheisten" Theodoros. Dieser nämlich
schloß sich, obwohl ein Schüler des jüngeren Aristipp, in den
wesentlichsten Bestimmungen den Kynikern an. Gleich ihnen
scheint er die Volksgötter geleugnet zu haben und deshalb (un-
genauerweise) ein „Atheist" genannt worden zu sein. Gleich
ihnen erklärte er nur die Welt für sein Vaterland l. Gleich ihnen
verteidigte er den öffentlichen Geschlechtsverkehr2. Gleich
ihnen betonte er die Selbstgenügsamkeit des Weisen3. Gleich
ihnen wollte er nur das Schöne als Gut, nur das Schimpfliche als
Übel gelten lassen4. Hatte ferner schon Diogenes einen großen
Teil der moralischen Normen auf bloße „Einbildung" zurückge-
führt,undinsbesondereKannibalismus,BlutschandeundTempel-
schändung für „natürlich" erklärt, so sagte5 ganz in demselben
Sinne Theodor, Tempelraub, Diebstahl und Ehebruch seien
nicht „von Natur" schimpflich, sondern nur infolge einer ihnen
anhaftenden „Meinung", und der Weise werde sich vor ihnen „zur
rechten Zeit" nicht scheuen ; jene „Meinung" aber diene dazu, die
Unverständigen im Zaume zu halten. Dieser letzte Zusatz darf
nicht übersehen werden, wenn die Tragweite dieser berüchtigten
Lehre abgeschätzt werden soll. Denn offenbar setzt sie voraus, daß
die Verständigen sich schon selber beherrschen werden — wie
ja auch Aristipp geäußert hatte6, wenn alle Gesetze aufgehoben
würden, so würde das an seinem Leben nichts ändern, und eben
dies sei die Frucht der Philosophie. Die „rechte Zeit", zu der
jene Normen ihre Kraft verlieren würden, kann also schwerlich
etwas anderes sein, als eine Aufhebung der normalen sozialen
i) Diog. Laert. 11.99. 2) Ebenda. 3) Diog. Laert. 11.98. *) Stob. Floril. 119.
16 (Meineke). 5) Diog. Laert. 11.99. 6) Diog. Laert. 11.68.
DIE KYRENAIKER
149
Bedingungen und ein partieller Wiedereintritt des „Naturzu-
standes", in dem dann der Weise seinen Anteil an dem „Kampf
aller gegen alle" auf sich nehmen müßte. Ferner ist zu beachten,
daß — wie dies der kynischen Lehre entspricht — jene „kon-
ventionelle" Natur nicht allen, sondern nur diesen besonderen
Moralvorschriften beigelegt wird, und es liegt auf der Hand,
daß die von ihnen geschützten Kulturgüter (Kultus, Ehe und
Privateigentum) diese Auffassung in viel höherem Grade als
andere (z. B. Leben und Gesundheit) zulassen, ja wirklich (und
keineswegs nur im Altertum) herausgefordert haben. Endlich
aber ist als selbstverständlich vorauszusetzen, daß auch jene
eventuellen Verstöße gegen die „Konvention" nur für solche
Fälle zugelassen werden sollen, in welchen sie nicht aus einer,
die innere Freiheit aufhebenden Begierde hervorgehen. Denn
als Anhänger dieses Ideals erklärt sich Theodor nicht nur aus-
drücklich in den mitgeteilten Aussprüchen, sondern hat für das-
selbe auch durch sein Verhalten Zeugnis abgelegt. Denn als er
mit dem Kreuzestode bedroht wurde, gab er die berühmt ge-
wordene Antwort1, es mache keinen Unterschied, ob er „am
Boden" oder „hoch oben" verfaule.
Hier aber ist uns vor allem ein anderes wichtig. Ganz im Sinne
des diogeneischen Ausspruches nämlich, das „Glück" bestehe
darin, wohlgemut zu sein und niemals zu trauern, modifizierte
nun Theodor die kyrenaische Lehre, indem er an die Stelle der
äußeren „Lust" die innere „Freude" setzte. „Als letzte Werte",
heißt es2, „nahm er Freude und Trauer an: jene die Folge der
Einsicht, diese des Unverstandes. Güter aber nannte er Einsicht
und Gerechtigkeit, Übel deren Gegensätze, indifferent aber Lust
und Schmerz." Diese „Freude" nun darf nicht etwa als eine
Lustsumme (im „protagoreischen" Sinne) aufgefaßt werden;
denn dann wäre ja die einzelne Lust ein konstituierendes Ele-
ment dieses letzten Wertes, müßte also notwendig für ein Gut
und könnte unmöglich für gleichgültig erklärt werden. Vielmehr
ist unzweifelhaft, und erhellt auch aus der Wahl des Wortes zur
i) Cicero, Tusc. I. 43. 102. 2) Diog. Laert. II. 98.
150 SIEBENTE VORLESUNG
Genüge, daß hier als wertvoll nur eine qualitativ bestimmte
Art der Lust anerkannt werden soll, und zwar kann nach der
ganzen Lage damit nichts anderes gemeint sein, als eben die
habituelle, innere Freudigkeit. Zu ihr aber, sagt Theodor,
führen zwei Wege: Einsicht und Gerechtigkeit. Was nun die
„Einsicht" betrifft, so versteht sich ein solches intellektuelles
Moment in einer griechischen Theorie von selbst, und wir
wissen ja, daß Kyniker und Kyrenaiker einstimmig das Erkennen
des wahrhaft und das Durchschauen des nur scheinbar Wert-
vollen für die unerläßliche Vorbedingung der inneren Befreiung
erklären. Es scheint aber, daß Theodor auch in dieser Rich-
tung einen Schritt über seine Vorgänger hinausgetan habe.
Denn man hat längst vermutet, ihm gehöre der von Cicero1
angeführte Gedanke an: nur unvorhergesehenes Übel erzeuge
Betrübnis, gegen dieses aber könne man sich schützen, indem
man sich im voraus darauf gefaßt mache. Ist dies nun richtig,
so spielen bei unserem Denker die intellektuellen Vorgänge
doch eine wesentlich andere Rolle als etwa bei Diogenes oder
Aristipp. Sie dienen nämlich dann nicht mehr bloß zur theo-
retischen Umschreibung, sondern auch zur praktischen
Vermittlung der Willensumbildung. Daß aber eine solche
Vermittlung zu ihr wesentlich gehört, und bei einer zulänglichen
Theorie der Erlösung nicht übersehen werden darf, dies wird
sich uns bei Besprechung der stoischen Lehre zur Genüge
herausstellen. Unter der „Gerechtigkeit" aber hat man entweder
dasBefolgen jener Rudimente eines „natürlichen" Sittengesetzes
zu verstehen, die Theodor noch anerkannt haben dürfte; oder
aber das Wort bezeichnet allgemein die richtige Willensbe-
schaffenheit, und ergänzt dann die Einsicht in ganz ähnlicher
Weise, wie dies bei den Kynikern die „Übung" getan hatte.
Einen solchen Sprachgebrauch aber könnte man in einer Zeit
nicht auffallend finden, in der, wie Sie sehen werden, auch
Piaton die Gerechtigkeit als einen inneren Zustand der Seele
definiert. Von den kynischen Einseitigkeiten aber hat sich
I) Tusc. III. 13. 28 ff.
DIE KYRENAIKER
151
Theodor jedenfalls freigehalten. Davon gibt auch eine hübsche
Anekdote1 Zeugnis, die wohl mit Recht auf ihn bezogen wird.
Da er nämlich einst, von zahlreichen Schülern umgeben, an
dem Kyniker Metrokies vorbeiging, sei dieser eben damit be-
schäftigt gewesen, das Gemüse auszuwaschen, das ihm als ein-
zige Nahrung diente, und habe ihm höhnisch zugerufen: „Wenn
du Gemüse wüschest, brauchtest du nicht so viel Schüler zu
unterrichten!", er aber habe geantwortet: „Und wenn du mit
den Menschen umzugehen verstündest, brauchtest du nicht Ge-
müse zu waschen." So sehen wir, daß Theodor zwar aus dem
Kynismus alle jene Elemente übernommen hat, die ihm zur Aus-
prägung und Begründung des gemeinsamen Ideals brauchbar
schienen, dabei aber doch die antisthenische Freiheit im Ent-
behren durch die aristippische Freiheit im Genießen ergänzt
hat, und werden deshalb behaupten dürfen, daß wir in seiner
Lehre die vollkommenste hedonische Konstruktion des Ideals
der inneren Freiheit kennen, die dasselbe im Altertum (und auch
später) gefunden hat, ja wohl auch die beste, deren es seiner
Natur nach überhaupt fähig ist.
Eine andere Weiterbildung des Kyrenaismus dagegen, die
sich an den Namen des Hegesias knüpft, zeigt nur um so deut-
licher, daß ein wirklicher Fortschritt allein auf dem Wege des
Theodoros möglich war. Schon Krates2 hatte den Hedonis-
mus dadurch ad absurdum führen wollen, daß er meinte,
es gebe doch mehr Leid als Lust, und, mit diesem Maßstabe ge-
messen, werde daher das Leben stets eine Leidbilanz ergeben:
Glück im hedonischen Sinne sei unmöglich. Derselben Argu-
mentation bedient sich nun Hegesias3. Aber da ihm die he-
donische Voraussetzung als unumstößlich gilt, und er sich nicht
entschließen kann, ein Mehr von äußerem Leid durch die innere
Freudigkeit aufwiegen zu lassen, so zieht er aus ihr eine andere
Konsequenz. Er findet nämlich, sowohl Lust wie Schmerz ent-
sprängen unserem „Haften" an äußeren Gütern. Würde dieses
unterdrückt, so würde mit aller Lust auch aller Schmerz ver-
») Diog. Laert. II. 102. 2) Teles S. 38 (Hense). 3) Diog, Laert. II. 94.
152
SIEBENTE VORLESUNG
schwinden, und es würde sich dann der günstigste aller uns
überhaupt erreichbaren Zustände ergeben: nämlich ein solcher
völliger Indifferenz. Dies aber ist in der Tat möglich. Denn
nichts ist „von Natur" angenehm oder unangenehm1, sondern
erst unsere subjektive Stellung zu den Dingen schafft diese
Werte. Nur dann also, wenn wir diese Subjektivität gänzlich
unterdrücken und uns „in bezug auf das, was Lust gewährt, in-
different verhalten"2, wenn wir also weder Reichtum noch Ar-
mut, weder (äußere) Freiheit noch Knechtschaft, weder edle
noch unedle Abkunft, weder Ehre noch Schande, ja auch weder
Leben noch Tod uns wünschen und daran Vergnügen finden3,
fällt uns das „Ziel" zu: das schmerzlose Leben. Dieser Ge-
dankengang nun ist nicht dem Hegesias allein eigentümlich.
Wir kennen ihn als charakteristisch für eine weit bedeutsamere
weltgeschichtliche Erscheinung. Es ist der Gedankengang des
Buddha. Das Ideal der inneren Freiheit bleibt bei Hegesias
bestehen. Aber es wird Mittel zum Zweck. Es ist „der Weg
zur Aufhebung des Leidens". An diesem Punkte schlägt die op-
timistische in die pessimistische Selbsterlösungslehre um.
Der Pessimismus aber hat sich zu allen Zeiten (auch in den
unsern) dem Hedonismus an die Fersen geheftet. Auch er-
scheint mir diese Konsequenz als eine ziemlich unvermeidliche.
Doch kann ich die Gründe dieser Ansicht hier nicht näher ent-
wickeln. Ganz unzulänglich ist jedenfalls der Versuch, den ein
anderer Kyrenaiker, Annikeris, unternommen hat, um sich
dieser Folgerung zu entziehen. Er gibt zu, daß das Leid die
Lust überwiege4. Aber die bloße Schmerzlosigkeit, die ja auch
dem Toten zukommt, ist nicht das Glück5. Dennoch wird der
Weise glücklich sein6. Denn er freut sich nicht nur an Lüsten,
sondern auch — an anderen Menschen. Das Nähere ist wider-
sprechend überliefert7. Die Liebe und das Wohlwollen für
Freunde, Eltern und Vaterland, die Freude am Verkehr und an
i) Diog. Laert. II. 94. 2) Diog. Laert. II. 96. 3) Diog. Laert. II. 94 f. 4) Diog.
Laert. II. 96. 5) Clem. Alex. Strom. II. 130, p. 498. 6) Diog. Laert. II. 96.
7) Diog. Laert. und Clem. Alex. a. a. O.
DIE KYRENAIKER
153
ehrenvollen Bestrebungen werden angeführt. Diese Lehre ist
geschichtlich höchst merkwürdig, denn unvermittelt taucht hier
der Begriff der „Sympathie" auf, und Annikeris erscheint als
ein Vorläufer Shaftesburys, der diesen Begriff später zu so
hoher Bedeutung gebracht hat. Aber in systematischer Bezie-
hung wird damit nichts gebessert. Meinte Annikeris, wir
i hätten Freude am Umgange mit anderen, so sind dies Lust-
I zustände, die von vornherein mitzuzählen waren, und dann
! wäre seine Behauptung gegenstandslos, das Glück könne auch
I mit dem Überwiegen des Leides zusammenbestehen. Wollte er
; aber sagen, wir hätten Freude durch Teilnahme an der Lust der
anderen, so bewegt sich seine Argumentation im Kreise. Denn
; wenn auch bei diesen das Leid überwiegt, wie kann uns dann
i die Teilnahme an ihrem Schicksal glücklich machen? Dieser
I Versuch also, dem Hegesias seine Voraussetzung zuzugeben,
seine Folgerung aber zu bestreiten, muß als gescheitert ange-
sehen werden. Und um so mehr erscheint Theodoros als der
Gipfelpunkt dieser Entwicklung.
Freilich fast auch als ihr Endpunkt. Denn einen weitreichen-
i den Einfluß hat er nicht ausgeübt. Nur einer seiner Schüler ist
I uns einigermaßen näher bekannt. Es ist der Borysthenite B i o n.
| Dieser bezeichnet einen Übergangspunkt zwischen den Lehren
i der älteren und der jüngeren sokratischen Schulen. Interessante
Beziehungen ließen sich von hier aus nach rückwärts wie nach
vorwärts verfolgen. Eine solche zur Stoa wird uns später be-
schäftigen. Hier mag, als Anknüpfungspunkt, ein Anklang
an Hegesias erwähnt werden. Dieser hatte, wie Sie sich er-
innern, betont, es stehe bei uns, uns zu den Dingen zu stellen,
wie wir wollen. In ganz ähnlichem Sinne nun sagt Bion1: Der
j Schiffer ändert nicht den Wind, sondern die Stellung der Segel,
j Packt man die Schlange in der Mitte, so beißt sie, nicht aber,
wenn man sie am Kopfe faßt. So richtet sich auch bei den
I Dingen das „Beißen" nach dem „Greifen". In dieser Kunst be-
steht die Lebensweisheit. Wer sie versteht, wird, wie ein guter
*) Teles S.3ff. (Hense).
154
SIEBENTE VORLESUNG
Schauspieler, die Rolle des Unglücklichen ebensogut spielen
wie die des Glücklichen. Damit ertönt als Ausklang der kyre-
naischen Hedonik das Gleichnis, das sich auch uns seinerzeit
zum Ausdrucke des Ideals der inneren Freiheit aufgedrängt
hatte, und sich allen seinen Anhängern immer wieder ergibt:
das rechte Leben ist ein Spiel. Es findet sich im Neuplatonis-
mus, in der Stoa, aber auch schon bei Piaton. Mit diesem
werden wir uns zunächst eingehend beschäftigen müssen.
PLATON
ACHTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
REI von den Jüngern des Sokrates haben
dem Ideale der inneren Freiheit eine eigen-
tümliche Gestalt gegeben: Antisthenes,
Aristippos und Piaton. Von den beiden
ersten haben wir gesprochen; zu dem dritten
müssen wir uns heute wenden. Wir treten
damit in eine andere Welt. In eine andere,
sage ich — deshalb noch nicht: in eine bessere, oder: in eine
schlechtere. In der Tat, ein solches Werturteil abzugeben,
möchte ich mich nicht getrauen; denn allzu schwer lassen sich
hier Vorzüge und Nachteile gegeneinander abwägen. Wenn
ich es zunächst mit einiger Übertreibung sagen darf: neben
einer unermeßlichen theoretischen Vertiefung stoßen wir bei
diesem Übergange auf eine entschiedene praktische Verflachung.
Sokrates, Diogenes, Aristipp sind vor allem große Men-
; sehen; sie sind sehr mittelmäßige Gelehrte, und sind Schrift-
i steller teils gar nicht, teils nur nebenher: ihr Leben ist ihre
Lehre, ihre Persönlichkeit ihr Werk. Pia ton ist ein Gelehrter
von fast beispielloser Vielseitigkeit, Fruchtbarkeit, Anregungs-
kraft und Geistesmacht, und vielleicht der größte, hinreißendste
I und vollendetste Schriftsteller aller Zeiten; aber, neben jene
| gehalten, erscheint sein Leben arm, und er selbst als ein kleiner
Mensch. Gewiß, es kann nicht anders sein: ein Ideal kann nicht
bloß das Herz erfüllen und in Taten sich offenbaren, es muß
auch den Kopf ergreifen, in Reden und Schriften sich darstellen;
aber es büßt dafür schwer an seiner lebendigen Realität, und
156
ACHTE VORLESUNG
seine heroische Epoche geht damit zu Ende. Es ist dieselbe Er-
scheinung, der wir auch auf religiösem Gebiete stets begegnen;
ja man kann geradezu sagen: mit Piaton tritt die Lebensauf-
fassung der griechischen Philosophen aus der evangelisch-apo-
stolischen in die patristisch-theologische Periode ein.
Gewiß, der Eindruck, den ich eben auszusprechen versucht
habe, ist mitbedingt durch äußere Umstände. Von Kynikern und
Kyrenaikern kennen wir neben kurzen Umrissen ihrer Lehren
vor allem eine Fülle von biographischen Anekdoten; ihre Werke
sind verloren. Von Piaton besitzen wir neben spärlichen bio-
graphischen Notizen die Gesamtheit seiner Werke. Allein, es
wäre kurzsichtig, diesen Zustand der Überlieferung für eine pri-
märe Tatsache zu halten. Denn warum hat Leben und Charakter
des Diogenes oder Aristipp in so frischem Andenken sich i
erhalten, indes ihre Schriften vergessen wurden? Und warum
sind die Schriften Piatons mit solcher Treue bewahrt worden,
während die persönlichen Züge so blaß und spärlich sind? Im I
großen und ganzen sicherlich darum, weil schon das Altertum
so beiden Teilen am meisten gerecht zu werden glaubte. Und
soweit wir dies Urteil nachprüfen können, werden wir, jeden-
falls soweit Pia ton in Frage kommt, es nur zu dem unsern ma-
chen können.
Denn, wie gesagt, auch von Piaton haben die Alten Geschich-
ten erzählt. Aber nicht nur geben diese kein deutliches Bild
seiner Persönlichkeit, sondern sie lassen uns dies nicht einmal
allzu sehr bedauern. Zum großen Teil sind sie frostig und
eines etwas steifen und pedantischen Herrn würdig. Wenn er
zum Beispiel seinen Schüler Xenokrates gebeten haben soll1,
seinen eigenen Sklaven zu schlagen, weil er selbst zornig sei,
und in diesem Zustande es sich nicht zutraue; oder wenn er 1
den Trunkenen rät2, in den Spiegel zu schauen, damit sie von
ihrem ausgelassenen Gebaren ablassen, so erscheint das gar
sehr wie studierte Kathederweisheit, und liegt von der Freiheit
eines Diogenes oder Aristippos himmelweit ab. Auch seine
i) Diog. Laert. III. 38. 2) Diog. Laert. HL 39.
PLATON
157
unglücklichen sizilischen Erlebnisse lassen uns vermuten, daß
er im praktischen Leben eine wenig imponierende, ja vielleicht
sogar eine etwas komische Figur gemacht habe1. Der Mensch
also, wie ersieh unter anderen Menschen, in der Wechselwir-
kung seines Innern mit der äußeren Welt dargestellt hat, ist uns
wenig bekannt, und wir können wahrscheinlich dem Schicksal
! dafür danken, daß es uns diese weniger erfreuliche Seite seines
Wesens verdeckt, und uns nur mit seiner Innerlichkeit allein
! bekannt gemacht hat, wie sie sich dem einsam Denkenden und
| Schreibenden zu offenbaren pflegte.
Denn Piaton, der Denker und der Schriftsteller, ist so ziem-
lich die merkwürdigste Person der antiken, und wohl auch der
gesamten Philosophiegeschichte. Und zwar deshalb, weil es
kaum jemals wieder eine so innige Verschmelzung und Durch-
dringung so disparater Eigenschaften, Denkmotive, Gefühlswei-
sen und Darstellungsformen gegeben hat. Bei keinem Mystiker
finden wir einen höheren Schwung als in der Liebesrede des
„Phaidros", bei keinem Logiker eine schärfere Dialektik als in
! den Erörterungen des „Parmenides", bei keinem Humoristen
j eine sonnigere Heiterkeit als in den Sophistenschilderungen des
i „Protagoras", und dem schließt sich als viertes Element der
adelige Sinn des vornehmen Griechen an, wie er etwa in vielen
Darlegungen des „Staates" zutage tritt. Die Synthesis all dieser
Gaben aber finden wir im „Gastmahl", jener gewaltigsten Sym-
phonie von Gestalten, Reden und Gedanken, die ebenso fein ab-
gewogen ist im Aufbau ihrer Sätze, wie hinreißend auf ihrem
Höhepunkte, und rauschend in ihrem Ausklang — einer Gedan-
kendichtung, die überhaupt nur mit der „Divina Commedia" und
dem „Faust" verglichen werden kann, aber auch aus dieser Ver-
gleichung unbesiegt hervorgeht; denn, wenn sie hinter ihnen
zurücksteht an Umfang und Reichtum, so übertrifft sie doch beide
i) Nach Plutarch (Vita Dionis 13) scheint es, daß er, an den Hof des
jüngeren Dionysios gekommen, um Syrakus im Sinne seines Idealstaates
zu regenerieren, seine Wirksamkeit damit eröffnete, daß er, seiner päda-
gogischen Theorie getreu, dem Tyrannen Unterricht in der Geometrie
erteilte: gewiß ein Meisterstück der Pedanterie!
158
ACHTE VORLESUNG
an Tiefe des Gehaltes ebenso wie an Einheitlichkeit der Form.
Doch von diesem Wunderwerke mehr zu reden, ist überflüssig
für jene, die es kennen und verstehen, und vergeblich für
alle anderen. Von dieser höchsten Verbindung kehre ich zu-
rück zu den Elementen. Denn die vier Richtungen, von denen
ich sprach, scheinen mir auch auf ihre Hauptquellen zurückzu-
weisen.
Der vornehme Sinn entstammt Piatons sozialem Milieu. Aus
einer uralten Familie hervorgegangen, hat er seine Jugendein-
drücke nie vergessen. Er war und blieb zu allen Zeiten ein
Kavalier: das Ideal einer ebenmäßig-harmonischen Lebensge-
staltung, fern von Übermaß und Einseitigkeit, aber zugleich
auch dasjenige eines im Innern geordneten und nach außen
mächtigen Athen hat er nie verleugnet.
Aus der Schule des Sokrates wiederum empfing er die An-
regung zu jener scharfpointierten Art der Fragestellung und
Beweisführung, die uns in allen seinen Werken in Erstaunen
setzt: nur daß die außerordentliche Feinheit seiner Selbstbeob-
achtung und die außerordentliche Beweglichkeit seines Geistes
jene Methode in den Dienst eines Weit- und Tief blicks stellten,
und sie mit einer Fülle blendenden Geistes verzierten, von de-
nen wir beim Meister freilich keine Spuren finden.
Zugleich aber fiel der Abglanz von dessen Persönlichkeit auf
ihn, und macht sich in der spielenden Anmut seiner Rede, in
der überlegenen Heiterkeit seiner Darstellung in so hohem
Grade geltend, daß dadurch besonders seine früheren Schriften
als Kunstwerke vielleicht noch höher stehen denn als philoso-
phische Abhandlungen.
Was er aber zu alledem als sein Eigenstes mitbrachte, das
war der Schwung seines Gemütes, seine „befiederte Seele", mit
ihrer ehrfürchtigen Bewunderung alles Großen, der Kraft ihrer
Begeisterungsfähigkeit, der Neigung im Spiel der dichterischen
Phantasie zu schwelgen, der Sehnsucht nach dem Auf blick zu
einer höhern Welt.
Dieser Vielseitigkeit seines Wesens entsprechend suchte und
PLATON 159
fand auch seine praktische und theoretische Lebensauffassung
Anlehnung und Anknüpfung an die verschiedensten fremden
| Empfindungsweisen und Gedankengänge. Doch kann ich auch
hiervon nur dasjenige erwähnen, was für seine Ethik von un-
mittelbarer Bedeutung ist. Denn ohne solche, entsagungsvolle
aber notwendige Beschränkung müßte uns hier der Stoff ins
Ungemessene wachsen, damit aber zugleich seine Übersichtlich-
keit verlieren und die Verhältnisse des Ganzen durchbrechen.
Nur das allerwesentlichste kann deshalb hier und im folgenden
zur Sprache kommen.
Von Sokrates also hat Piaton das Ideal der inneren Freiheit
übernommen. Daß es für den sittlich wertvollen Menschen kein
Übel geben könne, hat für ihn allezeit festgestanden. Schon in
! jungen Jahren hat er diesen Satz von der Persönlichkeit seines
großen Meisters abstrahiert, und darum, wie Sie sich erinnern,
I den sterbenden Weisen den Satz sprechen lassen1: „Dieses eine
muß man als die Wahrheit erkennen, daß es für einen guten
Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch nach dem Tode; und
daß seine Angelegenheiten von den Göttern nicht vernachlässigt
werden." Fast mit denselben Worten aber, die er hier jenem
i in den Mund legt, faßt er selbst, viele Jahre später, den Inhalt
; seines Hauptwerkes zusammen2: „Diese Meinung also muß man
hegen in betreff des gerechten Mannes: ob er nun in Armut
: verfalle oder in Krankheiten oder in sonst etwas von den Din-
; gen, die als Übel gelten; (alles) dieses wird für ihn enden als
irgend ein Gut, im Leben oder nach dem Tode. Denn gewißlich
wird von den Göttern nicht vernachlässigt werden, wer sich
entschließen will, gerecht zu werden
Von der sokratischen Lehre wiederum bleibt ihm stets das
Postulat der Rationalität des Ethischen. Besteht es auch nicht
j allein in einer Vernunfteinsicht, so muß doch die Vernunft eine
I entscheidende Rolle bei seinem Zustandekommen spielen. Nicht
i nur den Satz hätte Pia ton in allen Phasen seiner Entwicklung
als unantastbares Axiom betrachtet: „Ohne Vernunft keine Sitt-
i) Apolog, p. 41 d. 2) Resp# x, p. 613a.
160
ACHTE VORLESUNG
lichkeit", sondern auch den weitergehenden: „Nur durch Ver-
nunft ist Sittlichkeit möglich."
Von der ihm angestammten Ethik des Maßes ferner übernimmt
er die Forderung, es müsse das Wesen des Ethischen in einer
ebenmäßigen Ausgleichung widerstreitender Kräfte, in einem
harmonischen Verhältnis unserer Fähigkeiten, in einem seeli-
schen Gleichgewicht bestehen: es müsse, mit anderen Worten,
der ethische Wert in einen Schönheitswert sich auflösen lassen.
Es ist, als hätte seiner Lebensauffassung der Satz des Pytha-
goras zum Leitstern gedient: „Die Tugend ist eine Harmonie."
Befand er sich aber so in Übereinstimmung mit der aristokra-
tischen Seite des Pythagoreismus, so stand seinem eigensten
Wesen dessen orphische Seite noch weit näher. Piaton war
vor allem andern eine enthusiastische Natur. Für den Enthu-
siasmus aber war kein Raum in der sokratischen Wissenslehre.
Die Dichter werden — wir haben es ja gehört — in der „Apo-
logie" getadelt: nicht aus Einsicht schüfen sie ihre Werke, son-
dern nur aus einem gewissen Enthusiasmus. Begeisterung —
dieser Begriff hat keine Stelle in dem Gedankenkreise des So-
krates. Was soll man auch mit ihr anfangen? Sie lehrt einen
nichts, ja sie behauptet nicht einmal etwas. Also kann man ihr
nicht zustimmen. Aber ebensowenig kann man sie widerlegen.
Der Begeisterte kann nicht antworten. Also kann man ihn nicht
fragen; um so weniger überführen. Begeisterung ist Wahnsinn.
Aber Wahnsinn ist völliger Mangel an Einsicht und Vernunft,
er ist der Grenzbegriff aller erdenklichen Unwissenheit und
deshalb auch aller erdenklichen Fehlerhaftigkeit und Schlechtig-
keit. Er ist, mit anderen Worten, die absolute Dummheit. Für
den sokratischen Gesichtspunkt enthüllen Wahnsinn, Begeiste-
rung, Schwung nur ihre negative Seite: sie heben den Vernunft-
gebrauch auf oder setzen ihn doch herab. Es sind Defekte des
Verstandes: der Wahnsinn erscheint als Blödsinn. Ganz anders
bei Piaton. Es ist nicht ohne weiteres richtig, sagt er1, daß
der Wahnsinn ein Übel sei. Denn „die größten Güter erlangen
i) Phaedrus p. 244 äff.
PLATON
161
wir durch den Wahnsinn, sofern er uns nämlich als eine Gabe
der Götter geschenkt wird. Denn die Prophetin in Delphi und
die Priesterinnen in Dodona haben doch sicherlich, trotz ihres
Wahnsinns, vieles Schöne für Hellas getan, in privaten und
öffentlichen Angelegenheiten; bei Verstand aber sind sie nur
kurze Zeit oder gar nicht. Und wenn wir die Sibylle nennten
und die anderen, so mit göttlicher Sehergabe vielen vieles
Künftige geweissagt und so geholfen haben, so würde unsere
Rede unnötig ausspinnen, was jedermann offenbar ist. Dieses
Zeugnis aber ist wert angeführt zu werden, daß, da unsere Alt-
vordern die Namen festsetzten, sie den Wahn für nichts Schänd-
liches oder Schimpfliches hielten. Unmöglich hätten sie sonst
die schönste der Künste, welche die Zukunft erkennt, mit An-
wendung eben dieses Namens Wahnsagung1 genannt. Sondern,
weil er etwas Schönes ist, wenn er durch göttliche Schickung
entsteht — in dieser Ansicht setzten sie es so fest. Die Jetzigen
aber, des Schönen unkundig, haben aus dem N ein R gemacht,
und sie Wahrsagung2 genannt. Denn auch die Erforschung des
Künftigen, welche von den geistig Gesunden geschieht, durch
Vögel und andere Zeichen, die durch Vernunft der menschlichen
Meinung Wissen und Kunde verschaffen, nannten sie Wißsa-
gung3, was man jetzt, stolz auf ein langes Ei, Weissagung4 nennt.
Um wie viel nun die Wahrsagung vollkommener und ehrenvoller
ist als die Weissagung, der Name schöner als der Name, und
die Sache als die Sache, um so viel ist auch, nach dem Zeugnis
der Alten, der Wahn schöner als das Wissen, nämlich der gött-
liche Wahn als das menschliche Wissen." Piaton sieht eben
im Wahnsinn die positive Seite: die Steigerung des Gefühls,
den Wegfall der verstandeskühlen Hemmung, das elementare
Entzücken und Verzweifeln. Für diese Stimmung nun fand er
im ganzen Umkreis seiner Erfahrung nur einen Anknüpfungs-
punkt. Für die Großen seines Volkes war der Enthusiasmus
i) Mavuoi ; die Übertragung des Wortspiels rührt von Schleiermacher her.
Die ganze Erörterung ist nicht als bitterer Ernst zu verstehen. 2) M(xvtikti.
3) OiovoiOTiKn; ebenfalls Übertragung Schleiermachers. 4) OlaivitfTuai.
Gomperz, Lebensauffassung JJ
162
ACHTE VORLESUNG
etwas, das man zwar, getreu altehrwürdiger Überlieferung, zu
festgesetzten Zeiten in Mysterien und Festspielen über sich er-
gehen ließ, damit aber auch erledigte und abtat: Aristoteles
spricht, wie immer, in ihrem Sinne, wenn er, in einer berühmten
Definition die tragische Erregung als eine Reinigung der Seele,
als ein purgierendes Entfernen der Affekte darstellt. Nur in
jener Region, wo die Orphik zu Hause war, wo abergläubische
Vorstellungen und überschwengliche Empfindungen wundersam
zusammenflössen, nur bei den „Stillen im Lande", die sich in
Schuldgefühl verzehrten und an Erlösunghoffnung berauschten,
— nur da fand Piaton gleichgestimmte Seelen. Aber wenn der
Romantiker bei der Volksreligion Zuflucht sucht, so wandelt
sich, mehr noch als sein Gedanke, ihr Gefühl. Piaton über-
nahm den orphischen Dualismus und führte ihn in die Welt-
geschichte des Geistes ein. Aber er ward eben dadurch ein
anderer Dualismus. Der Gegensatz, der die Orphik beherrschte,
war der von Heiligkeit und Schuld. Der Zwiespalt, der Pia tons
Inneres zerriß, war der von idealem Streben und sinnlicher Be-
gierde.
Piatons Wesen, und damit versuchen wir die letzte psycho-
logische Wurzel der platonischen Lebensauffassung aufzudecken,
glich weder dem des Antisthenes noch dem des Aristipp.
Er war nicht einfach wie jener ein unglücklich, oder wie dieser
ein glücklich veranlagter Normalmensch, der in seinem Innern,
der sokratischen Sachlichkeit entgegenstehend, eine einheitliche
Masse subjektiven Gefühles vorfand, das es nun entweder zu
unterdrücken oder umzubilden gegolten hätte. Dort rangen
vielmehr zwei alte und unversöhnliche Feinde miteinander: auf
der einen Seite die sinnliche Begierde, die „egoistischen" Inter-
essen, die Instinkte der verständigen Selbsterhaltung; auf der
anderen die „edlen" Leidenschaften, die außerpersönlichen
Interessen, die Instinkte begeisterter Selbstüberwindung. Das
Ergebnis der Auseinandersetzung dieser individuellen Voraus-
setzung mit der idealen Voraussetzung der sokratischen Per-
») Poet. 6, p. 1449 b 28.
PLATON
163
sönlichkeit, mit der theoretischen Voraussetzung der somati-
schen Lehre, und mit der sozialen Voraussetzung der aristokra-
tischen Lebensansicht — ist die platonische Ethik.
Diese Auseinandersetzung und Ausgleichung hat sich nicht
mit einem Schlage vollzogen. Piatons Denken hat nicht nur
nach dem ersten Abschlüsse seines Lehrsystems noch mehr-
fache Wandlungen durchgemacht, sondern vor allem auch vor-
herschon sich nur schrittweise entwickelt. Wir könnten dieseEnt-
wicklung in seinen Schriften genau verfolgen, stünde die Zeit-
folge derselben fest. Auch ohne auf die Streitigkeiten über diese
Frage näher einzugehen, glaube ich soviel als gesichert an-
nehmen zu können, als nötig ist, um diesen Werdegang in den
größten Zügen zu skizzieren.
Piaton soll, als er mit Sokrates bekannt geworden war, die
Dichtungen verbrannt haben, die er bis dahin hervorgebracht
hatte. Diese Nachricht ist nicht hinreichend beglaubigt, aber
ohne Zweifel dem richtigen Gefühle für einen Vorgang ent-
sprungen, für den sie uns als ein brauchbares Symbol gelten
mag: dafür nämlich, daß er den platonischen Schwung in die
verborgenen Tiefen seines Innern zurückgedrängt hat, als die
sokratische Sachlichkeit über ihn Macht gewann. Dieser Zu-
stand dauerte auch nach dem Tode des Meisters noch geraume
Zeit. Der Jüngling schien nicht zu erfüllen, was der Knabe ver-
heißen hatte und der Mann zu halten bestimmt war. Seine
Jugendwerke fußen inhaltlich durchaus auf sokratischer Grund-
lage und zeugen formell nur von größtem mimetischen Talent,
höchster plastischer Kraft und scheinbar ungetrübtester, anmutig-
ster Heiterkeit. Soweit sie im engeren Sinne ethischen Inhalts
sind, wie der „Protagoras", der „Laches", der „Charmides",
der kleinere „Hippias", drehen sie sich um die bestrittenen Kon-
sequenzen der sokratischen Wissenslehre. Ist das Tugendwissen
ein Wissen von Lust und Unlust? Ist die Tugend, wenn sie doch
ein Wissen sein soll, lehrbar, wie jedes andere Wissen auch?
Sind alle Tugenden, wenn doch ihnen allen das Wissen vom
Guten zugrunde liegt, letztlich nur eine? Lassen sich und wie
ll*
164
ACHTE VORLESUNG
lassen sich auch Tapferkeit und Selbstbeherrschung auf ein
Wissen zurückführen? Ergibt sich aus der Wissenslehre nicht
die parodoxe Folgerung, daß, wie auf anderen Gebieten der ab-
sichtliche Fehler von geringerer Unwissenheit zeugt als der un-
absichtliche, so auch die wissentliche sittliche Verfehlung als
Zeichen kleinerer Schlechtigkeit aufgefaßt werden müßte, denn
die unwissentliche? Dies etwa sind die Fragen, die hier erörtert
werden: erörtert im Redekampf mit scharfenWorten und spitzen
Begriffen, denen versöhnend Geist und Humor zur Seite stehen,
anscheinend die Zeugen inneren Friedens. Doch dieser Schein
ist oberflächlich. Was unter ihm verborgen ruhte, im „Gorgias"
tritt es das erste Mal zutage.
Schon die Art der Darstellung verrät den beginnenden Wan-
del. Neben das Wechselspiel der Gedanken tritt die Entgegen-
setzung mächtiger Affekte. Die Menschen werden aus Denk-
maschinen zu leidenschaftlich bewegten Lebewesen. Es ist, als
wäre der Schleier des sokratischen Intellektualismus von
Piatons Augen gefallen. Hören Sie z. B. die Sätze1, in denen
Kallikles das Recht des Stärkeren verficht: „Die Natur aber,
meine ich, zeigt selbst dieses an, daß es recht ist, daß der Bes-
sere mehr besitze als der Schlechtere und der Stärkere mehr
als der Schwächere. Sie erweist es aber vielfach so gut wie bei
den anderen Tieren auch bei den ganzen Staaten und Stämmen
der Menschen, daß das Rechte eben darin besteht, daß der Hö-
here über den Geringeren herrsche und mehr besitze als er.
Denn auf Grund eines solchen Rechtes ist Xerxes gegen Hellas
zu Felde gezogen und sein Vater gegen die Skythen, und —
aber unzählige derartige Fälle könnte man anführen. Ich denke
aber, im Einklang mit der Natur des Rechts geschieht solches,
und, beim Zeus! im Einklang mit dem Gesetze der Natur, wenn
auch vielleicht nicht mit dem Gesetze, das wir künsteln, indem
wir die Edelsten und Gewaltigsten unter uns, wie die Löwen,
durch Beschwörungsformeln und Zaubersprüche knechten wol-
len — dadurch nämlich, daß wir ihnen vorreden, es müßten alle
i) Gorg. p. 483 d.
PLATON
165
gleich viel haben, und das sei das Schöne und das Rechte. Ich
denke aber, wenn einmal ein Mann von wahrhaft zulänglicher
Beschaffenheit kommt, dann schüttelt er all das Zeug ab, zer-
bricht es und läßt es hinter sich, tritt mit Füßen all unser Ge-
schreibsel und unseren Spuk und unsere Beschwörungsformeln
und alle widernatürlichen Satzungen, und unser Knecht steht
offenbar vor uns als Herr; — und da blitzt denn das Recht der
Natur hervor1." Und, als Gegenstück dazu, eine Stelle2 aus der
Rede, in der Sokrates das Totengericht schildert: „Wenn sie
nun vor den Richter kommen, und zwar die aus Asien vor Rha-
damanthys, dann tritt Rhadamanthys zu einem jeden hin,
und beschaut seine Seele, ohne zu wissen, wem sie zugehört,
sondern oft, wenn er an die des Perserkönigs kommt oder sonst
eines anderen Herrschers oder Fürsten, so findet er nichts Gesun-
des an dieser Seele, sondern, daß sie ganz zerpeitscht ist und
voll von Narben, infolge ihrer Meineidigkeit und Ungerechtigkeit,
die jede seiner Taten seiner Seele eingebrannt hat, und alles findet
er verkrümmt von Lüge und Frevel, und nichts Gerades, weil er
ohneWahrheitgewandelt ist. Und er sieht, daß wegen derWildheit
und Schwelgerei und Überhebung und Zügellosigkeit seiner
Taten seine Seele strotzt von Disharmonie und Häßlichkeit; und
da schickt er sie alsbald schimpflich in den Kerker, wo ange-
kommen sie gewärtig sein muß, die ihr gebührenden Leiden zu
*) Übrigens möchte ich bei dieser Gelegenheit die Frage aufwerfen, ob
nicht dieser Vergleich mit dem Löwen, der in der Jugend zahm ist, später
aber seine wahre Natur zeigt, eine leichte Reminiszenz verrät an die
Strophen des Aeschylos (Agam. v. 691):
„Es zog einst einen Löwen Doch bald wuchs er und zeigte
Im Haus, der noch die Brust nahm, Die Artung seiner Eltern:
Ein Mann auf mit seinen Kindern. Zum Dank für frühere Pflege
Zahm zu Beginn seines Lebens Hält er nach bösem Schafmord
War er, ein Liebling der Kleinen Strengstens verbotene Mahlzeit;
Und auch dem Alten zur Freude: Alles verwüstet dem Herrn er,
Oftmals lag er ihm im Arm Dessen Haus mit Blut bespritzt
Wie ein neugebornes Kind, (Wehrlos jammernd sieht's der
Leckt" ihm strahlenden Blicks die Knecht):
Hand Scheint als Priester des Unheils von
Und bat schmeichelnd um Nahrung. Gott dem Hause gesendet."
2) Gorg. p.524d.
166
ACHTE VORLESUNG
ertragen." Aber auch der Lehrgehalt des Gesprächs zeigt eine
bemerkenswerteBesonderheit. Zwarwirddie sokratischeGrund-
überzeugung mit den stärksten Worten ausgesprochen1: „Denn ich
behaupte, daß Mann und Weib, wenn sie gut und trefflich sind,
auch glücklich seien, elend aber, wenn ungerecht und schlecht."
Und echt sokratisch heißt es2: „Denn ich denke, es gibt für den
Menschen kein größeres Obel als eine unrichtigeAnsicht über
die Gegenstände unserer Unterredung." Aber wenn nun jene
Grundüberzeugung insbesondere dahin zugespitzt wird, es sei
wünschenswerter, unrecht zu leiden, als unrecht zu tun3, und,
wenn man schon unrecht getan habe, gestraft zu werden, als
ungestraft zu bleiben 4, weil die Strafe von der seelischen Schlech-
tigkeit befreie5, so sieht man deutlich, wie hier auf den soma-
tischen Stamm das orphische Reis gepfropft, und an die Stelle
der Auffassung: Verfehlung gleich Unwissenheit, die andere:
Verfehlung gleich Schuld, gesetzt ist. Denn die Unwissenheit
kann nur aufgehoben werden durch Belehrung. Die Strafe aber
belehrt nicht, sie sühnt. Soll sie nun dennoch bessern, so hat
hier, sei's auch unvermerkt, ein entschiedenerWechsel des Stand-
punkts stattgefunden. Und nur dem neuen Standpunkte entspricht
auch jene Betonung der Jenseitsvorstellungen und ihrer ethi-
schen Bedeutsamkeit, die uns an der angeführten Stelle entgegen-
getreten ist.
Diese Schwingungsphase des platonischen Denkens und Emp-
findens erreicht ihren Kulminationspunkt im „Phaidon". Nicht
nur wird hier die orphisch-pythagoreische Unsterblichkeitslehre
zum Gegenstande der philosophischen Beweisführung gemacht,
sondern auch die asketische, sinnenfeindliche Stimmung erreicht
ihren Höhepunkt. Der Leib heißt hier geradezu ein Übel6, die
Befreiung und Trennung der Seele von ihm das Geschäft des
Philosophen7, und die vier Kardinaltugenden werden ausdrück-
lich Reinigungen genannt8, mit dem Beifügen, dies sei auch der
eigentliche Sinn der alten Mysterienkulte.
i) Gorg. p. 470 e. 2) Gorg. p. 458 a f. 3) Gorg. p. 469 c. *) Gorg. p. 472 e.
5) Gorg. p. 477a. 6) Phaed. p.66b. 7) Phaed. p. 67 d. 8) phaed. p. 69c.
PLATON
167
Diesem größten Ausschlag nach der Seite der Askese hin
folgt aber ein bedeutsamer Rückschlag; und im „Staate" sehen
wir die Verschmelzung und Ausgleichung der verschiedenen
Tendenzen zu dem spezifisch platonischen Lehrgehalte vollzogen.
Ich versuche, seine Darstellung mit der seiner Entwicklung aus
den früher dargelegten Voraussetzungen individueller, sozialer,
theoretischer und idealer Art zu verbinden.
Geehrte Zuhörer! Wir haben gesehen, daß es der Kampf der
„höheren" mit den „niederen" Interessen, der Widerstreit des
leidenschaftlichen Affekts mit der sinnlichen Begierde ist, der
Piatons Lebensauffassung die Orientierung gibt. Diesen Dua-
lismus nun versuchte er an den orphisch-pythagoreischen Dua-
lismus anzuknüpfen. Hier aber war der entscheidende Gesichts-
punkt der von Gerechtigkeit und Friede: ähnlich wie bei den Pro-
pheten des Alten Testamentes das Ideal darin besteht, daß Israel
in Gerechtigkeit wandle vor dem Herrn. Der Bruch dieses Frie-
dens, die Ungerechtigkeit gegen den Mitmenschen ist es, welche
die Schuld begründet. Von diesem sozial-moralischen Gesichts-
punkte aus aber erscheint die Begierde insofern minderwertig,
als gar häufig sie es ist, die zu Unrecht und Gewalttat verleitet.
Diese Geringachtung der Sinnlichkeit nun konnte Piaton im
vollen Umfange sich aneignen. Die Begierde als das böse Prin-
zip — dieser Begriff ist durch ihn in die philosophische Ethik ein-
geführt worden, um aus ihr nicht sobald wieder zu verschwinden.
Ebenso hat er aus diesem Gedankenkreis die Hochschätzung der
Gerechtigkeit übernommen, die bei ihm nicht nur eine der vier
Kardinaltugenden ist, sondern geradezu dieTotalität aller ethisch
wertvollen Eigenschaften bezeichnet, und deren Rolle im „Gor-
gias" uns schon beschäftigt hat. Allein dem Ideal der Heiligkeit
stand er doch verhältnismäßig fremd gegenüber. Und so setzt
er denn in der endgültigen Fassung seines Systems dem „be-
gehrlichen" Seelenteil nicht die Reinheit, sondern vielmehr das
„Mutartige" entgegen, d. h. den idealen Schwung, die edle Lei-
denschaft. Aber auch das sokratische Axiom, daß Sittlichkeit
nur durch Vernunft möglich sei, konnte er aus seinem Denken
168
ACHTE VORLESUNG
nicht verbannen. Und so stellt er denn sie als ein Drittes und
Höheres neben Begierde und Leidenschaft, und knüpft den ethi-
schen Wert der Affekte an die Bedingung, daß sie der Vernunft
gehorchen und dienen. Sollen also nun diese beiden die Sinn-
lichkeit schlechthin unterdrücken? Das könnte man erwarten,
und dies deutet auch Piaton im „Phaidon" an. Hier aber
legt sich das ererbte Ideal von Maß, Harmonie und Schönheit
ins Mittel. Nicht die Unterdrückung und Ausrottung einer Seite
der menschlichen Natur durch die anderen verlangt er, sondern
der wünschenswerte sittliche Zustand besteht ihm in dem rich-
tigen, harmonischen Verhältnis aller drei Vermögen. Die Seele
befindet sich nur dann im Gleichgewicht, sie ist nur dann eben-
mäßig, harmonisch und schön, wenn in ihr die Vernunft herrscht,
die Leidenschaft dient und die Begierde beherrscht wird. Und
eben diesen idealen Zustand nennt nun Piaton, mit einer merk-
würdigen Verschiebung des Begriffsinhaltes, die Gerechtigkeit1.
Soll aber nun auf Grund dieser Konstruktion das sokratische
Ideal der inneren Freiheit Bestand haben, so muß eben die also
aufgefaßte „Gerechtigkeit" mit der „Glückseligkeit" identisch
sein; denn nur, wenn schon der bloße Besitz einer also verfaß-
ten Seele die Totalität alles ernstlich Wünschenswerten bedeutet,
nur dann können alle äußeren Schicksalswendungen und alle
Hemmungen der selbstischen Interessen den Menschen nicht an
seinem wahren Gute berühren. Das Bild, das Piaton mit Vor-
liebe zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes verwendet, ist das
der Gesundheit2: so wie das Heil des Leibes in dem richtigen
Verhältnis, in der inneren Harmonie seiner Teile besteht, so
auch das Heil der Seele in ihrer richtigen Verfassung und in
dem Gleichgewicht ihrer Vermögen. Sittlichkeit gleich seelische
Gesundheit, ist vielleicht die prägnanteste Zusammenfassung
der platonischen Ethik3. Und daß wirklich in diesem Sinne die
i) Resp. IV. p. 441 e ff. 2) So schon Gorg. p. 526 und passim. 3) Daß jedoch
dieser Grundsatz, eben weil er aus der Lebensauffassung der Harmonie über-
nommen ist, von Piaton durchaus nicht als Erstem ausgesprochen wurde,
lehrt in sehr instruktiver Weise eine Stelle der äschyleischen „Eumeniden"
(v. 527), die wir weiter unten aus einem anderen Anlasse mitteilen werden.
PLATON
169
Gerechtigkeit1 und die Wohlfahrt2 gleichwertige Begriffe seien
— eben dies zu beweisen ist das Hauptabsehen des „Staates".
Denn dieses wird am Eingange des zweiten Buches3 ganz aus-
drücklich als das Problem hingestellt, dessen Untersuchung nun
in Angriff zu nehmen sei: ob das Los des Gerechten, der für
einen Ungerechten gilt, und deshalb alle üble Nachrede, körper-
lichen Qualen und zuletzt den Tod erleidet, jenem des Unge-
rechten, der für gerecht gilt, und deshalb alle Ehre, Macht und
Lust genießt, vorzuziehen sei oder nicht? Die zusammenfassende
Antwort aber, die im zehnten Buche4 steht, habe ich Ihnen schon
früher mitgeteilt: daß es nämlich für einen gerechten Mann in
Wahrheit nur Gutes geben könne, Übel aber nur zum Schein.
Wenn nun aber in diesen Worten, statt wie an der entsprechen-
den Stelle der „Apologie" vom „guten", vielmehr vom „gerech-
ten" Manne die Rede ist, so haben wir in diesem Wortwandel
den Niederschlag der ganzen platonischen Entwicklung zu er-
blicken: indem aus dem das Rechte erkennenden zunächst der
gegen andere gerechte, und aus diesem wiederum der innerlich
recht verfaßte (seelisch gesunde) Mann geworden ist. Daß näm-
lich in diesem Zusammenhange die „Gerechtigkeit" in der Tat
dieses letztere bedeutet, sagt Pia ton ausdrücklich, und schon
Chrysipp5 hat ihn so verstanden und deswegen angegriffen.
Denn nachdem er die vier Kardinaltugenden als die verschie-
denen Seiten der harmonischen Seelenverfassung beschrieben
hat: die Weisheit als die Herrschaft der Vernunft, die Tapfer-
keit als den Dienst der Leidenschaft, die Selbstbeherrschung als
das Regiertwerden der Begierde, und die Gerechtigkeit als die
Herstellung und Erhaltung dieses Gesamtzustandes, fährt er also
fort6: „InWahrheit nun erschien freilich die Gerechtigkeit als et-
was derartiges, aber nicht in bezug auf die äußereTat desMenschen,
sondern in bezug auf die wahrhaft innerliche gegen sich selbst
und das Seine, indem sie keinen seiner Teile etwas ihm nicht
Zukommendes tun läßt . . ." Die Gerechtigkeit ist also von ihrer
i) AiKatoaüvri. 2) Eubatiuovia. 3) ReSp. II. p. 360 e ff. 4) Resp. X. p. 613a.
5) Frg. 288 (Arnim III). 6) Resp. IV. p. 443 c.
170
ACHTE VORLESUNG
ursprünglichen Bedeutung als Wissen des Rechten vorerst im
orphischen Sinne zu der sozialen Tugend des gerechten Han-
delns um-, und hierauf wiederum zu der individuellen Tugend
der rechten innern Seelenverfassung zurückgebogen worden.
Freilich nicht mit vollem Bewußtsein. Denn Piaton meinte
das Mittel gefunden zu haben, um an diese innere Rechtschaffen-
heit auch die äußere Gerechtigkeit unlöslich zu knüpfen.
Er konstruiert nämlich den Staat nach Analogie des Einzel-
menschen. Wie dieser aus drei Seelen-Kräften oder Teilen, so
besteht jener aus drei Ständen. Der Vernunft entspricht der
Stand der vernünftig Leitenden, der Lehrstand, die Philosophen,
oder, wie Piaton sagt, die „Wächter"1. Der Leidenschaft kor-
respondiert der Stand der leidenschaftlich Angreifenden und
Abwehrenden, der Wehrstand, die Krieger, oder, nach Piaton,
die „Helfer"2. Der Begierde endlich ist jener Stand analog, der
dem Lebensunterhalte des Ganzen dient, der Nährstand, Acker-
bauer und Handwerker. Wie sich nun die Seele in der richtigen
Verfassung befindet, wenn die Vernunft herrscht, die Leiden-
schaft nur in ihrem Sinne sich äußert, und die Begierde, von
beiden beherrscht, sich auf die Besorgung der animalischen
Funktionen beschränkt, so ist auch die rechte Staatsverfassung
dadurch charakterisiert, daß die Philosophen regieren3, die Krie-
ger ein Werkzeug in ihrer Hand sind, und das Volk, beiden un-
terworfen, lediglich seine wirtschaftlich bedeutsamen Geschäfte
treibt4. Die richtige Verfassung besteht somit in beiden Fällen
darin, daß jeder Faktor „das Seine" tut und nichts anderes. Und
eben dies ist auch das Wesen der Gerechtigkeit: das eine Mal
der inneren (individuellen), das andere Mal der äußeren (sozia-
len). Während also die „Gerechtigkeit" des Individuums in
der Beschaffenheit seines Innern sich erschöpft — dies ist die
l) OuXciKec;. 2) 'EmKoupot. 3) Doch muß man bedenken, daß der Philosoph
einen Zustand vor sich hat, in dem alle< Staatsämter durch Volkswahl oder
Los besetzt werden. Auch eine Beamtenschaft, deren Mitglieder wissen-
schaftliche Studien betrieben und Prüfungen abgelegt haben müssen, wäre
ihm ohne Zweifel schon als eine unermeßliche Annäherung an sein Postu-
lat erschienen. 4) Resp. IV. p. 434 c.
PLATON
171
Folgerung, die aus PI atons Voraussetzungen zwingend sich er-
gibt — konstituieren seine äußeren Handlungen, je nachdem sie
der idealen gesellschaftlichen Struktur entsprechen oder nicht,
Elemente der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Staates.
Mit anderen Worten: allein des Menschen Charakter wird mit
den Maßstäben der Ethik gemessen ; sein Tun verfällt dem Urteil
der Politik. So unausweichlich aber diese Konsequenz vom
platonischen Standpunkte aus ist, so wird sie doch nirgends ge-
zogen. P 1 a t o n war vielmehr überzeugt, daß beide Vollkommen-
heiten Hand in Hand gehen, und daß eine „Ungerechtigkeit" im
sozialen Sinne nie ohne eine entsprechende ethische „Ungerech-
tigkeit" sich ereignen könne1. Aber nicht nur hat er es unter-
lassen, diese Überzeugung irgendwie zu begründen, sondern es
leuchtet auch ihre Unhaltbarkeit ein. Denn wenn vielleicht im
Idealstaate der Idealmensch durch seine Vernunft stets nur das
sozial Gerechte als ihm aufgegeben erkennen könnte, so müßte
doch jedenfalls in einer unvollkommenen Gesellschaft, mangels
einer wirklich „gerechten" politischen Ordnung, auch der „Ge-
rechteste" vielfach „ungerecht" handeln, zum Beispiel der inner-
lich „gerechte" Handwerker sich irgendwie an Kriegsdienst und
Regierung beteiligen2. Man wird also Pia ton schwerlich den
Vorwurf ersparen können, daß er zwischen beiden Arten der
Gerechtigkeit nicht hinreichend unterschieden, und, wie beim
„Guten", so auch hier auf die bloße Gleichheit des Wortes wie
auf eine Identität von Tatsachen sich verlassen hat. Indes,
dieser Vorwurf trifft ihn nicht allzu hart. Denn jede Ethik
der inneren Freiheit hat mit den größten Schwierigkeiten zu
kämpfen, sobald sie versuchen will, aus ihrem Prinzip auch
die moralischen Normen abzuleiten. Wir haben ja in unserer
ersten Vorlesung gesehen, daß nur ein Verzicht auf diesen Ver-
such und eine reinliche Scheidung zweier zwar verwandter,
aber selbständiger Kultursysteme diesen gordischen Knoten
durchhauen kann. Und bei Besprechung der stoischen Lehre
werden wir gar bald erkennen, in welche Verwicklungen sie
*) Z.B. Resp. IV. p.442eff.; IX. p. 591a. 2) Man denke an Sokrates!
ACHTE VORLESUNG
sich dadurch gestürzt hat, daß sie zu dieser radikalen Operation
sich nicht entschließen konnte, und auf wie künstlichem Wege
allein es ihr möglich war, sich diesen Schlingen zu entwinden.
Doch ehe wir zu einer Würdigung des platonischen Systems uns
wenden, ist erst noch ein Punkt ins reine zu bringen.
Was aber, können Sie nämlich fragen, erkennt denn eigentlich
jene Vernunft, der die Leitung von Individuum und Gesellschaft
so ausschließlich überantwortet wird? Das Gute, hatte Sokra-
tes gelehrt. Und an dieser formalen Bestimmung hält Piaton im
Grunde fest, wenn er auch an ihr eine Modifikation vornimmt,
welche nicht nur für die theoretische Philosophie von größter Be-
deutung geworden ist. Aber ihre Motive liegen doch zu einem so
großen Teile auf diesem, uns hier fernliegenden Gebiete, daß
ich mich an dieser Stelle ganz besonders kurz fassen muß. Für
Sokrates war das Tugendwissen ein Wissen um die Bedeutung
der ethischen Grundbegriffe. Aus diesen Begriffen nun hat
Piaton jene übersinnlichen Realitäten gemacht, die er Ideen
nennt. Er ging dabei einerseits von der Erscheinung aus, daß
der logische Wert eines Begriffes als unabhängig gedacht wird,
nicht nur von der zufälligen sprachlichen Einkleidung, die jedes-
mal für ihn gewählt wird,sondern auch von der Natur der anschau-
lichen Vorstellungen, durch welche der einzelne sich ihn ver-
sinnlichen mag. Andererseits bediente er sich dabei genau dessel-
ben Prinzips, dem auch wir noch zu folgen pflegen, wenn wir eine
Vielheit gleicher Vorgänge, zum Beispiel herabfallender Körper,
auf ein einheitliches Gedankending, etwa das „Gesetz der Schwe-
re" als auf ihre zureichende Ursache zurückführen. Denn ganz
in demselben Sinne scheinen dem Piaton die räumlich und
zeitlich so weit verbreiteten gleichen Eigenschaften der Einzel-
dinge, zum Beispiel ihr Rotsein, „erklärt" durch die Annahme,
sie seien die Wirkung eines einheitlichen „Prinzips", der „Röte
an sich". Ebenso nun führte er auch die Eigenschaften des Guten,
Gerechten, Schönen usf. zurück auf eine, an und für sich selbst
bestehende „Güte", „Gerechtigkeit", „Schönheit" usw. Diese
„Ideen" nun sind die Gegenstände der vernünftigen Erkenntnis
PLATON
173
oder genauer, einer intellektualen Anschauung, in Beziehung
auf welche die Vernunft dem sinnlichen Sehvermögen entspricht.
Die Forderung einer unbedingten Vernunftherrschaft in diesem
Sinne enthält daher in sich den Keim zur Verherrlichung eines
„beschaulichen" Lebens, das, als der kontemplative Weg zur
Vollkommenheit, dem genießenden wie dem tätigen vorgezogen
würde. Doch ist dieser Keim weder bei Pia ton, noch auch bei
Aristoteles, sondern, wie sich zeigen wird, erst bei Plotin
zur vollen Entfaltung gelangt. Dazu aber hat vorzugsweise der
j folgende Umstand mitgewirkt. In allen einzelnen, empirischen
Erscheinungsformen finden wir die ethischen Eigenschaften nur
annäherungsweise verwirklicht. Sie sind hier mit anderen, ein-
schränkenden Elementen vermischt — oder, wie wir heute
sagen würden, sie sind von diesen wirklichen Erscheinungen
! eben nur als Grenzbegriffe abgezogen. Für Pia ton dagegen
bedeutet diese begriffliche „Unreinheit" eine negativ zu wer-
tende „Trübung", die ihm bewirkt scheint durch jene notwen-
dig unvollkommene Realisierung, welche allein die „Idee" in der
i Welt der sinnlichen Erscheinung und des grob-materiellen Stoffes
I finden kann. Denn natürlicher Weise stellt die „Idee" ihren In-
halt in voller, begrifflicher Reinheit dar; da das „Gute an sich"
nichts anderes ist als gut, so kann es selbstverständlich keine
Beimischung des Schlechten enthalten — ebensowenig wie das
„Gesetz der Schwere" etwas von jenen „Störungen" in sich ent-
halten kann, ohne die es doch niemals auf reale Vorgänge An-
wendung finden kann. Da nun aber die ethisch wertvollen
Eigenschaften — und diese stehen für Pia ton ganz überwiegend
im Vordergrunde — Gegenstände der positiven Wertschätzung
sind, so müssen die „Ideen", welche diese Eigenschaften in soviel
höherem Grade enthalten als irgend welche einzelnen Menschen
oder Taten, notwendig auch um ebensoviel höher gewertet wer-
den als jene. Damit aber gewinnen die Ideen neben ihrem er-
klärenden Wert als Seiendes einen normativen Wert als
Sein-Sollendes: aus den Begriffen werden Musterbilder,
aus den Ideen Ideale. Damit tritt der Begriff des Ideals zum
174
ACHTE VORLESUNG
ersten Male in der Geschichte der praktischen Philosophie zu-
tage — und das Wort, mit dem wir ihn bezeichnen, prägt ihm
noch heute die Spur dieses seines platonischen Ursprungs auf.
Aber diese weltgeschichtliche Tat zu würdigen, ist hier nicht
unsere Aufgabe. Uns interessiert zunächst ihre Konsequenz für
die platonische Ethik. Und da bitte ich Sie, sich folgendes klar
zu machen. Als Ideale sind die Ideen Gegenstände begeisterter
Bewunderung. Das heißt aber: unter der Hülle des sokratischen
Intellektualismus lösen sie wiederum den platonischen Schwung
aus — eben jenen „philosophischen Eros", der als der Führer
in die Welt der Ideen im „Gastmahl" gefeiert wird. Während
also nach dem Lehrgehalt des platonischen Systems die Ver-
nunft es ist, die in dem „gerechten" Menschen die höchste Stelle
einnimmt, neben und über Begierde und Affekt; erweist sich bei
näherem Zusehen psychologisch auch diese „Vernunft" als
ganz durchsetzt von Elementen des Gefühls; ja, man könnte sa-
gen: sie ist selbst nur der „mutartige" Seelenteil noch einmal,
nur verkleidet als die altehrwürdige „Einsicht", und in dieser Tra-
vestierung lauter und ungescheuter als die höchste Kraft der
menschlichen Natur anerkannt und proklamiert. Soviel aber
scheint mir jedenfalls festzustehen : wenn wir uns fragen, wie denn
derplatonischeldealmensch eigentlichpsychologischzu beschrei-
ben sei, dann werden wir ihn besonnener Weise weit weniger cha-
rakterisiert sein lassen dürfen durch ein Prävalieren des theore-
tischen Interesses, als vielmehr durch das Vorherrschen leiden-
schaftlich-begeisterter Selbstüberwindung.
Geehrte Zuhörer! Wir haben nun Piatons Entwicklung bis
zu dem Punkte verfolgt, an dem seine ethischen Hauptgedanken
zum ersten Mal zu der Einheit eines Systems sich zusammen-
falteten. Hier machen wir Halt, um dieses System ein paar
Augenblicke kritisch zu betrachten. Denn, was wir an Neben-
und Spätgedanken noch zu beachten haben werden, wird in
verschiedenen Richtungen auseinander gehen, und darum der
Würdigung keinen einheitlichen Angriffspunkt mehr bieten.
Blicken wir nun zunächst auf das Verhältnis des platonischen
PLATON
j zu den beiden anderen sokratischen Systemen, so treten seine
eigenartigen Vorzüge bald hervor. Sie konzentrieren sich in
jenem Dualismus, der dem Piatonismus mit allen Formen aske-
tischer Lebensauffassung gemein ist, und der zum Ausdrucke
des Ideals der inneren Freiheit so wenig entbehrt werden kann,
daß wir ja auch Kyniker und Kyrenaiker schließlich auf ihn hin-
treiben sahen: den Dualismus des Äußern und Innern, Niedern
und Höhern, Selbstischen und Außerpersönlichen, Leidenden
und Tätigen, Genießenden und Schaffenden, Knechtenden und
Erlösenden. Aber dieser Dualismus war in den beiden anderen
! Systemen nicht von vornherein angelegt: der Kynismus will in
erster Linie durch Ausrottung der Gefühle die über alle Schick-
salswandlungen erhabene sokratische Sachlichkeit realisieren;
der Kyrenaismus dieselbe Befreiung vollziehen, indem er durch
Umbildung des Gefühlslebens jede mögliche Lage zum Gegen-
stande eines Genusses macht. Der Piatonismus dagegen will die,
zum Teil als Vernunft verkleideten Instinkte der Selbstüberwin-
dungüberdiederSelbsterhaltungdominierenlassen,unddasdurch
nichts Äußeres zu erschütternde Bewußtsein dieses Verhältnisses
| zurGrundlagederinnerenFreiheit machen. Erzieltalsowedermit
dem Kynismus auf eine Gesamtunterdrückung, noch mit dem Ky-
renaismus auf eine Gesamtrehabilitierung des Trieblebens, son-
dern erkennt und empfindet den ethischen Wertunterschied der
zwei großen Instinktgruppen. Darin besteht seine große und dau- -\
ernde Leistung fürdas Ideal der innerenFreiheit. Aber auch dieses
sehen wir nun freilich: es kann nicht verkannt werden, daß auch
P 1 a to n noch übermäßig im Banne desgriechischen Intellektualis-
mus steht, und durch die Einführung der „Vernunft" an eine
Stelle, wo sie gar wenig zu leisten vermag, die Klarheit jener
Erkenntnis getrübt, ja das Wesen jenes Dualismus zum
| guten Teile verfälscht hat: die philosophische Ethik wäre vor
endlosen Wortstreitigkeiten bewahrt geblieben, hätte Piatons
erdrückende Autorität jahrtausendelang, statt für den Schein-
gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft, vielmehr für jenen
Realgegensatz von Interesse und Begeisterung Zeugnis abgelegt,
176
ACHTE VORLESUNG
von dem seine persönliche Lebensauffassung ohne Zweifel ent-
scheidend beherrscht ward.
Aber noch eine andere, ebenso verhängnisvolle Schwäche
seiner Lehre werden wir nicht übersehen können. Es ist wahr,
Piaton hat das Ideal entdeckt. Aber er hat es aufgefaßt als eine
seiende und ruhende, ein für alle Mal gegebene (wenn auch
übersinnliche) Realität, nicht als ein Postulat, das werden
soll, in steter Annäherung und Bewegung. Dieser Mißgriff
in der Form ist aber nicht ohne Folge geblieben für den Inhalt.
Denn nun konnte er die Erlösung nicht beschreiben als die kon-
tinuierlich fortschreitende Überwindung der „niederen" Triebe
durch die „höheren" Affekte, sondern er mußte sie sich erschöp-
fen lassen in der Herstellung eines bestimmten, „richtigen"
Verhältnisses zwischen beiden. Aber welches ist der Inhalt
dieses „richtigen" Verhältnisses? Wieviel darf der sinnlichen
Begierde zugestanden werden? Inwieweit soll sie durch die
„Vernunft" eingeschränkt werden? Wann ist dieses Verhältnis
ein „harmonisches" und „ebenmäßiges"? Auf diese Frage ver-
sucht Piaton nicht einmal eine Antwort zu geben, und die
meisten asketischen Theorien haben von ihm dieselbe Ratlosig-
keit übernommen. Ihnen allen fehlt eine materiale Bestim-
mung ihres Prinzips, und so bleibt dieses im Grunde rein for-
mal: es schreibt nichts anderes vor als die Herstellung einer
„richtigen" Seelenverfassung; aberweiche Seelenverfassung die
„richtige" ist — das zu bestimmen, bleibt subjektiver Meinung,
Empfindung und Willkür überlassen. Wir werden seinerzeit
sehen, wie schon bei Aristoteles diese logische Unzulänglich-
keit bis ins Groteske sich steigert. Heute aber müssen wir den
Kern der platonischen Ethik verlassen, um noch rasch einige
ihrer Neben- und Weiterbildungen wenigstens flüchtig ins Auge
zu fassen.
Und da muß zunächst eines Gedankenkreises Erwähnung ge-
schehen, der zwar für die platonische Spekulation selbst nur einen
Nebenertrag bedeutet, in der Folge aber sich bedeutsamer ge-
zeigt hat als diese selbst. Piaton hat aus der Orphik und dem
PLATON
177
Pythagoreismus die Lehre von einem unkörperlichen und un-
vergänglichen Seelenwesen übernommen. Daß nun diese Lehre
I an und für sich die Eignung besitzt, für das Ideal der inneren
I Freiheit einen theoretischen Ausdruck abzugeben, läßt sich nicht
bezweifeln. Denn das Bewußtsein, mein eigentliches Ich werde
gar nicht berührt von allen Leiden und anderen Schicksalen
! meiner leiblichen Erscheinung, schließt ja die Erhabenheit über
I sie alle ohne weiteres in sich. Das Bedenkliche dieser Anschau-
! ungsweise liegt vielmehr auf der entgegengesetzten Seite: die
! Unsterblichkeitslehre ohne anderen Zusatz müßte diese Wir-
kung in einem viel zu hohen Grade nach sich ziehen. Die
Oberzeugung, mein Ich sei auf alle Fälle geborgen, ohne Rück-
j sieht auf die Beschaffenheit meines äußeren Tuns und meiner
inneren Gesinnung, würde die vollkommene Negation jeder
Ethik, jeder Moralität, ja jeder praktischen Besonnenheit bedeu-
ten. Sie würde die schrankenlose Willkür des Individuums zur
Folge haben, jedes Selbsterhaltungsstreben vernichten, jede ge-
sellschaftliche Organisation zerstören, kurz, eine kaum auszu-
denkende Sprengwirkung auf den Bestand eines geordneten
Einzel- und Gemeinschaftslebens ausüben. Es hat deshalb sei-
nen guten innerenGrund, wenn wir keine philosophische Unsterb-
lichkeitslehre kennen, die nicht durch Hinzufügung eines Dog-
mas von der jenseitigen Vergeltung diese Wirkungen aufzuheben
strebte, indem sie als Bedingung für eine wünschenswerte Form
des Fortlebens eben jene Bestimmtheit des diesseitigen Lebens
darstellt, die aufzuheben sonst die unmittelbare Tendenz der
Unsterblichkeitslehre wäre. Aber die Vergeltungslehre setzt,
wenn sie nicht, wie im buddhistischen Begriffe des „Karma",
den Eintritt von Lohn und Strafe als eine naturgesetzliche Not-
wendigkeit begreift, den Glauben an richtende und vergeltende
Gottheiten voraus, und damit ersetzt sie die Selbsterlösungs-
lehre durch eine Fremderlösungstheorie — davon abgesehen,
daß sie in allen Fällen das Ideal an die tatsächliche Wahrheit
sehr problematischer Annahmen knüpft. Von all diesen Konse-
quenzen nun ist Pia ton nicht freizusprechen; aber dieser ganze
Gomperz, Lebensauffassung 12
178
ACHTE VORLESUNG
Gesichtspunkt steht doch bei ihm keineswegs im Vordergrunde.
Denn nicht nur im „Gorgias" *, sondern auch im „Staate"2 führt
er diese Jenseitsvorstellungen wie geflissentlich erst nach Ab-
schluß der eigentlichen Untersuchung in einem Anhange aus,
so daß sie in jene sachlich in keiner Weise eingreifen, und in
dem zuletzt genannten Werke bemerkt er ausdrücklich3, nachdem
einmal die innere Identität von Tugend und Glückseligkeit nach-
gewiesen sei, könne es ja nicht mehr schaden, auch auf die äußere
Vergeltung hinzuweisen. Allein diese Nachhut hat sich stärker
gezeigt als die ganze Streitmacht. Das göttliche Gericht war
viel handgreiflicher als die innerliche Selbsterlösung. Die abend-
ländische Menschheit hat bewiesen, daß sie nur für diese Form
der Erlösungslehre reif war. Die Abfälle von Piatons Gedan-
kenschmaus sind zum täglichen Brote des Volkes geworden. Zu
Zeiten, wo die eigentümliche Form seiner Freiheitslehre höch-
stens hier und da einem einsam schreibenden Mönche bekannt
war, wurden Himmel und Hölle von allen Kanzeln gepredigt.
Und die Fremderlösungslehre, die er, halb andächtig halb scherz-
haft, seiner eigensten Doktrin angehängt hatte, — sie hat seine
und alle übrigen Formen des sokratischen Selbsterlösungsge-
dankens siegreich überwunden. Und so hat er selbst sein eige-
nes Schicksal besiegelt, sein eigenes „Karma" gewirkt.
Allein Piatons Entwicklung hatte mit dem „Staate" noch
keineswegs ihren Abschluß gefunden. Noch zwei weitere Stufen
derselben sind uns bekannt, wenn auch freilich für die Ethik
nicht ebenso bedeutsam wie die früheren.
Im „Philebos" nimmt er aufs neue die Untersuchung auf,
worin das Gute seinem Wesen nach bestehe, und zwischen dem
kynischen und dem kyrenaischen Standpunkte vermittelnd, und
ihrer beider berechtigten Kern seinem eigenen Systeme ein- und
unterordnend, gelangt er4 zu dem Ergebnis, das Gute bestehe aus
fünf Elementen: Maß, Schönheit, Vernunft, Erkenntnis und jene
Lust, deren Abwesenheit nicht als Unlust empfunden wird. Es
ist für unsere Zwecke unnötig, auf die Erörterungen dieses
i) Gorg. p. 523 äff. 2) ReSp. X. p. 608c ff. 3) ReSp. X. p.612b. *) Phileb. p.66.
PLATON
dunkeln, im einzelnen an feinen Beobachtungen und Gedanken
reichen, im ganzen aber doch schon einigermaßen senilen Wer-
kes näher einzugehen. Das Gesagte muß genügen, um Ihnen zu
zeigen, daß Pia ton hier an den allerwesentlichsten Gesichts-
punkten seiner früheren Lehre festhält: nämlich an der ent-
scheidenden Bedeutsamkeit von Maß und Vernunft — wenn
auch im einzelnen manches sorgfältiger behandelt, manches
freilich auch unplastischer und unbestimmter geworden ist, und
wenn auch im allgemeinen mit der erlahmenden Schwungkraft
seines Enthusiasmus die leidenschaftliche Begeisterung an Be-
deutung verloren, und dafür das erkenntnismäßige Element der
Vollkommenheit an Nachdruck gewonnen hat. Man könnte sogar
in gewissem Sinne sagen: PlatonseiimAlterdemlntellektualis-
mus seiner Jugend wieder näher gekommen ; die Vernunft sei aus
ihrer vorwiegend symbolischen zu einer mehr selbstwertigen
Stellung vorgerückt; der Philosoph sei mit den Jahren in den
Wortlaut seiner Lehre hineingewachsen. Doch all dies ist, wie
gesagt, für uns nicht von ausschlaggebender Bedeutung.
Dagegen nimmt die letzte Phase der platonischen Lebensauf-
fassung wenigstens in einer Beziehung unser Interesse beson-
ders in Anspruch. Sie liegt uns vor Augen in den „Gesetzen",
in denen er den Idealstaat der „Republik" durch eine „zweit-
beste", leichter zu realisierende Verfassung ersetzen will. Diese
Absicht ist auch für die Stimmung des Werkes charakteristisch.
Es ist eine höchst merkwürdige Mischung von erlahmtem Inter-
esse für die Grundfragen und gesteigerter Sorge um das Detail.
Je weniger er der Welt im ganzen Geschmack abgewinnen kann,
desto mehr fühlt er sich verpflichtet, im einzelnen zum guten
zu raten. Je weniger ihn die Totalität seiner Vorschläge selbst
befriedigt, um so sorgfältiger wägt er jeden von ihnen ab. Er
sagt es selbst: wenn schon ein Zustand, wie man sich ihn
wünschte, nicht zu erreichen ist, so muß man wenigstens tun,
was man kann. „Nun sind wohl," meint er1, „freilich die mensch-
lichen Angelegenheiten keiner großen und ernsten Bemühung
i) Legg. VII. p. 803 b.
12*
180
ACHTE VORLESUNG
wert. Dennoch ist es notwendig, sie ernst zu nehmen. Dies ist
zwar nicht erfreulich. Nachdem wir aber einmal da sind, so
möchte es uns wohl geziemen, dies auf irgendeine uns anstehende
Weise zu tun." Von dieser pessimistischen Resignation aus
kommt er nun zu dem Vergleiche von Leben und Spiel. Dieser
Vergleich, ich habe es öfter betont, muß sich stets als Ausdruck
für die Lehre von der inneren Freiheit aufdrängen. Denn wer
das äußere Leben als unfähig betrachtet, uns wahrhaft zu för-
dern oder zu schädigen, der kann es nicht im letzten Sinne ernst
nehmen; dann erscheint es aber als Spiel. Bei Bion ist uns
dergleichen schon vorgekommen; und wir werden später sehen,
welche Bedeutung der Spielbegriff für die stoische wie für die
neuplatonische Lebensauffassung gewinnt. Piaton nun wird
von der müden Weltverachtung seines Greisenalters zu dem
Gedanken geführt: Das Leben ist nur ein Spiel!1 Schon im
letzten Buche des „Staates" kommt2 gelegentlich ein Vergleich
des Lebens mit einem Würfelspiel vor, sowie auch der Satz,
daß die menschlichen Dinge keiner ernstlichen Bemühung wert
sind. Dann war im „Philebos"3 von „der gesamten Tragödie
und Komödie des Lebens" gesprochen worden. Ins Religiöse
wird der Gedanke weiterhin gewendet, wenn Piaton in den
„Gesetzen"4 mit offenbarer Anspielung auf das bekannte Wort
des Heraklit und im Zusammenhange einer emphatischen Ver-
kündung des optimistischen Universalismus, Gott den Brett-
spieler nennt. Noch deutlicher heißt es an einer anderen Stelle5:
„Lasset uns ein jedes von uns lebendigen Wesen als ein gött-
liches Wunderwerk betrachten — sei es nun, daß es gefertigt
sei als ein Spielzeug jener, sei es im Ernste: denn dieses er-
*) Diese Nuancierung des Gedankens mag mit Piatons Unsterblichkeits-
annahmen zusammenhängen: wird der Ernst ins Jenseits verlegt, so bleibt
für das Diesseits nur die Spielauffassung übrig. So auch Mohammed,
Koran 29. 64 (Übersetzung von Henning S. 395): „Und dieses irdische
Leben ist nichts als ein Zeitvertreib und ein Spiel, und siehe, die jen-
seitige Wohnung ist wahrlich das Leben." Ebenso noch Koran 6. 32 (S. 145),
47. 38 (S. 500) und 57. 19 (S. 534). 2) ReSp. X. p.604c. 3) Phileb. p. 50b.
4) Legg. X. p. 903 d. 5) Legg. I. p. 644 d.
PLATON
181
kennen wir ja doch nicht." Am ausführlichsten aber lesen wir
an einem anderen, freilich dunkeln und auch hinsichtlich des
Wortlautes nicht ganz zweifelfreien Orte1: „Ich behaupte aber,
man müsse das Ernsthafte ernsthaft betreiben, das nicht Ernst-
hafte aber nicht; von Natur aber sei Gott aller seligen ernsten
Bemühung würdig, der Mensch aber sei, wie wir früher sagten,
hergestellt als irgendein göttliches Spielzeug und in Wahrheit
sei dieses das beste an ihm. An diese Weise also müsse man
sich halten, und, möglichst schöne Spiele spielend, müsse jeder
Mann und jedes Weib also dahinleben, der entgegengesetzten
Gesinnung wie jetzt. Was ist also das richtige? Spie-
lend soll man dahinleben. Welche Spiele aber opfern und
singen und tanzen? Solche, daß man imstande sei, die Götter
sich gnädig zu stimmen, die Feinde abzuwehren und im Kampfe
zu siegen." Wenn man aber etwa aus diesen Äußerungen sich
nicht allzuviel machen möchte, so erhalten sie, wie jüngst auch
von anderer Seite bemerkt worden ist, durch ein mittelbares
Zeugnis erhöhtes Gewicht. Aristoteles nämlich bestreitet ge-
legentlich mit Heftigkeit den Satz, die „Eudaimonie" sei ein
Spiel. „Nicht im Spiel also," sagt er2, „besteht das Glück. Denn
ungereimt wäre es, daß das Ziel ein Spiel sei und man des
Spieles halber sich das ganze Leben abmühen und dulden
sollte. Ernstlich arbeiten aber und sich abmühen des
Spieles halber, das scheint armselig und allzu kindermäßig."
Aristoteles nun hat nicht die Gewohnheit, offene Türen ein-
zurennen und mit Windmühlen zu kämpfen. Eine derartige
Auseinandersetzung — freilich keine allzu tiefsinnige, wie Sie
bemerken — stellt offenbar eine Polemik dar. Gegen wen aber?
Die Möglichkeit, daß ein anderer Sokratiker die These ver-
fochten hätte, das ethische „Ziel" bestehe in einer spielenden
Auffassung des Lebens, kann nicht schlechthin ausgeschlossen
werden; denn so gut wie Bion konnte ja auch einer seiner Vor-
läufer (z. B. sein Lehrer Theodoros) diesen Gedanken ver-
1) Legg. VII. p. 803c. 2) £th. Nie. X. 6, p. 1176b 27; vgl. auch Polit. VIII, 1,
p. 1337 b 35.
182
ACHTE VORLESUNG
treten. Weitaus wahrscheinlicher aber, weil den Gewohnheiten
des Stagiriten entsprechender, erscheint die Annahme, er habe
hier seinen Lehrer Piaton im Auge. Dann aber muß er die in
den „Gesetzen" hervortretende Lebensauffassung ernster ge-
nommen haben, als die meisten heutigen Ausleger. Und dann
dürfen wir, da ja das Bild offenbar das Abgebildete voraussetzt,
in diesem Tatbestande einen neuen und letzten Beweis dafür
erblicken, daß Pia ton auch in der letzten Phase seines Denkens
und Empfindens dem Ideale der inneren Freiheit treu ge-
blieben ist.
DIE STOA I
NEUNTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IR haben in den letzten drei Vorlesungen jene
Ausprägungen des somatischen Freiheits-
ideals kennen gelernt, die von den unmittel-
baren Jüngern des Meisters herrühren: der
Sokratismus der ersten Generation ist
an uns vorübergezogen. Aber der Tiefe des
Freiheitsbewußtseins entsprach eine ge-
wisse Oberflächlichkeit der Freiheitslehre: weder die kyni-
sche noch die kyrenaische Ethik sind über das mehr Andeutungs-
weise undSkizzenhafte als Lehrhafte und Systematische der soma-
tischen Theorie hinausgekommen. Ich habe auf diesen Umstand
schon zu Beginn der letzten Vorlesung hingewiesen, nicht ohne
dem Bedauern Ausdruck zu geben, daß diese heroisch-prak-
tische Epoche so bald zur Neige ging. Aber auch bei Piaton
ist der Wandel noch keineswegs ein vollständiger. So ent-
schieden hier Lehre und Theorie schon vorherrschen vor Leben
und Praxis — es ist doch kein Zufall, daß das platonische System
sich uns zeigt als begriffen im Flusse einer beständigen Ent-
wicklung. Dies ist nur möglich, wo als das wahrhaft Wesent-
liche noch die lebendige Gesinnung gilt und nicht die tote For-
mel. Das platonische Denken bedeutet den Anfang, aber auch
nur den Anfang der sokratischen Dogmatik. An den Anfang
aber schließt sich auch hier die Blüte. Die zweite, zum Teil
auch die dritte Generation steht noch im Banne der neuen Ge-
danken. Die dritte aber, und vor allem die vierte, bringt nun
die großen, in sich geschlossenen Lehrsysteme der inneren
184
NEUNTE VORLESUNG
Freiheit hervor: das stoische, das epikureische und das skep-
tische (wenn auch das letztgenannte, seinem Inhalte nach, diesen
Charakter nicht voll zu entfalten vermag). Hier kann von einer
„Entwicklung" nichtmehr dieRede sein. Wenn man Chrysipp,
Epikur oder Karneades zugemutet hätte, seine Ansichten zu
ändern, so hätte er das als das Ansinnen einer ehrlosen Hand-
lung empfunden und zurückgewiesen. Und, was von den Ein-
zelnen, das gilt auch von den Schulen. Lange Denkerreihen
lehren hier — dasselbe. Geschieht es, weil sie auch — dasselbe
erleben? Doch wohl schwerlich! Vielmehr, weil das Band
länger und dünner geworden ist, das ihr Denken mit ihrem Er-
leben verknüpft. Wenn also hier die individuelle Mannigfaltig-
keit der systematischen Einheit weicht, so hat das seinen Grund
darin, daß überhaupt der subjektive Erlebnisinhalt zurücktritt
hinter den objektiven Denkinhalt; denn dieser ermöglicht natür-
lich in viel höherem Grade Übereinstimmung und Zusammen-
schluß als jener. Nun hat es zu allen Zeiten Männer gegeben,
welche eine solche Wandlung als einen unzweifelhaften Fort-
schritt ansehen. Wo es sich um Fragen der Lebensauffassung
handelt, kann ich mich zu einem solchen Dogmatismus nicht
bekennen. Dies ist Ihnen aus dem, was ich eben ausgeführt
habe, wohl hinreichend deutlich geworden. Aber ebensowohl
auch, daß es mir doch wieder ungerecht schiene, nun in dieser
Entwicklung einseitig nur einen Rückschritt zu erblicken. In
der Geschichte der Ideen und der Ideale verlangen eben die
verschiedenen menschlichen Kräfte ihr Recht. Wessen einst
das Herz voll war, davon geht späterhin auch der Kopf über.
Das Gemüt, in seinen Erlebnissen und Erfahrungen, sammelt
den Stoff; aber auch der Verstand mag fordern, daß ihm Ge-
legenheit werde, an diesem Stoff sich zu betätigen und auszu-
wirken, ihn zu sichten und zu formen. So ist es immer und
überall gewesen; so mußte es vor allem unter Griechen ge-
schehen, denen die Verstandesmäßigkeit angestammt war im
Grunde ihres Wesens; und an einem Ideal, das gleich seinen
ersten theoretischen Ausdruck in der extrem-intellektualistischen
DIE STOA I
185
Lehre des Sokrates gefunden hatte. Also nicht, um Sie zu
mißgünstiger Kritik anzueifern, habe ich dieses vorausgeschickt,
sondern um von vornherein den Eindruck des Unlebendigen
abzustumpfen und zu erledigen, den vielleicht der eine oder
andere von Ihnen bei der Darstellung dieser spät-sokratischen
Systeme empfangen mag.
Unter diesen aber nimmt das stoische weitaus den ersten
Rang ein. Es ist das ausgeführteste unter all den ethischen Ge-
! dankengebäuden des Altertums; und schon dies wäre ein Grund,
[ bei ihm etwas eingehender zu verweilen; denn es wird in vieler
! Hinsicht von Vorteil sein, wenigstens einen solchen Gedanken-
bau sowohl in seinem Aufbau als Ganzes, wie in der Gliederung
und Ausarbeitung seiner Teile zu überblicken; und das ver-
mögen wir an diesem Punkte am leichtesten, am sichersten und
am besten. Ein zweiter Grund liegt in dem Umstände, daß, wie
mir scheint, die stoische Ethik noch vielfach in wesentlichen
I Punkten mißverstanden zu werden pflegt; und gegen solche
Mißverständnisse kann ich Sie nur durch Mitteilung der am
i meisten charakteristischen Quellenstellen von vornherein wapp-
nen. Und ein dritter Grund endlich liegt in der großen inneren
I Wichtigkeit der stoischen Gedanken; denn diese bieten, wie
sich zeigen wird, in vieler Hinsicht in der Tat eine angemessene
Beschreibung und Theorie des Erlösungsprozesses.
Ehe ich aber nun an diese eingehende Darstellung der
stoischen Ethik gehe, muß ich wohl noch ein Doppeltes voraus-
schicken: ein paar kurze, orientierende Bemerkungen über die
äußere Geschichte der Schule, und eine allgemein-schematische
Ubersicht über den inneren Zusammenhang des ganzen Systems.
Die Stoa entwickelte sich aus dem Kynismus. Ihr Begründer
Zenon1 war ein Schüler des Krates. Unter den Schülern des
Zenon nimmt, wie wir sehen werden, Ariston von Chios eine
i wichtige Sonderstellung ein. Die Schulüberlieferung aber
pflanzte Kleanthes, und nach diesem Chrysippos fort: einer
der schreibseligsten und streitsüchtigsten Scholastiker aller
i)~~Um 300 v. Chr.
186
NEUNTE VORLESUNG
Zeiten, der das System der „älteren Stoa" kodifiziert und im
wesentlichen abgeschlossen hat. Aus der sogenannten „mitt-
leren Stoa"1 habe ich Ihnen seinerzeit Panaitios und Posei-
donios genannt, über deren ethische Standpunkte uns indes
so widersprechendes berichtet wird2, daß sie hier außer Be-
tracht bleiben müssen. Während uns aber von allen diesen
Denkern nur Bruchstücke ihrer Werke erhalten sind, liegen uns
von einigen Vertretern der „jüngeren Stoa" wichtige Gesamt-
leistungen vor: insbesondere die zahlreichen Schriften des
jüngeren Seneca3, ferner das „Handbüchlein" und die von
Arrian herausgegebenen Vorträge des Epiktet4, und endlich
die Selbstgespräche des Kaisers Marc Aurel5. Doch werde
ich auf diese zeitlichen Unterschiede nur soweit eingehen, als
unbedingt nötig ist, und im übrigen die stoische Ethik als Ganzes
darstellen. Und zwar zunächst, wie schon gesagt, in einer all-
gemeinen, auf die Grundzüge beschränkten Obersicht.
Eine psychologische Ableitung dieser Lehre aber vermag ich
Ihnen nicht zu bieten. Denn zu sehr tritt hier die individuelle
Lebensauffassung hinter den systematischen Lehrgehalt zurück.
Nur die schlichte Kraft und die demütige Frömmigkeit des
Kleanthes wird uns einigermaßen lebendig. Zenon selbst
aber stellt sich dar als eine still-eifrige Gelehrtennatur, und ich
wüßte nicht zu sagen, welchen lebendigen Antrieben seine große
systematische Kraft gedient hat. Nur daß er an Krates als an
den Vertreter der (ihm durch Xenophons „Memorabilien" be-
kannt gewordenen) sokratischen Lebensauffassung sich ange-
schlossen, aber durch seine „Schamhaftigkeit" von den Kynikern
sich unterschieden habe, wird uns berichtet6. Doch besagt das
letztere kaum mehr, als was wir auch sonst wüßten: daß nämlich
seinem Wesen eine weit weniger kräftige, aber darum auch weit
weniger einseitige Ausgestaltung des Sokratismus entsprochen
hat. Wie aber diese zugleich abschwächende und erweiternde
i) Um 100 v. Chr. 2) Vgl. Diog. Laert. VII. 103 und 128 mit Seneca, ep.
87. 35! 3) um 60 n. Chr. 4) Um 100 n. Chr. 5) Gestorben 180 n. Chr.
6) Diog. Laert. VII. 2 f.
DIE STOA I
187
Umbildung des Kynismus im einzelnen durch seine Persönlich-
i keit bedingt war, ist uns undeutlich. Nur ihr Ergebnis liegt uns
| vor Augen. Und es muß deshalb hier genügen, die Theorie der
Schule als solche zu skizzieren.
Das sokratische Ideal der inneren Freiheit wird von der Stoa
nicht nur festgehalten, sondern nach jeder Richtung hin ausge-
führt und vertieft. Das Bewußtsein, daß nur die Tüchtigkeit ein
Gut, nur die Schlechtigkeit ein Übel, alles Äußere aber gleich-
gültig sei, ist die Grundüberzeugung der Schule.
Sie unterscheidet nun aber: einerseits die Freiheit im Erleben,
andererseits die Freiheit im Tun.
Die Freiheit im Erleben wiederum muß sowohl in positiver
wie in negativer Beziehung näher bestimmt werden.
Die negative Bestimmung bildet die Affektenlehre. Der Kynis-
mus hatte, wie Sie sich erinnern, die Unterscheidung zwischen
den knechtenden und den befreienden Gemütserregungen an-
gebahnt: Antisthenes unterschied eine zweifache Lust, Dio-
genes setzte der Lust des Genusses die Fröhlichkeit, Theo-
; doros die Freude entgegen. Die nähere Ausführung dieser An-
sätze führte die Stoiker zu ihrer eigentümlichen Affektenlehre:
; zur Scheidung der richtigen von den unrichtigen Affekten.
Die positive Bestimmung des rechten Erlebens bezieht sich
; auf die Frage, wie die äußeren Erlebnisse aufzufassen seien. Die
Antwort lautet, ganz wie später bei Spinoza: als integrierende
Teile des Universums, in dessen allgemeine Wunschbejahung
: sie auf diese Weise einzuschließen sind — ein Standpunkt übri-
gens, den bereits Pia ton an einer schon erwähnten, merk-
| würdigen Stelle der „Gesetze" 1 vertreten hatte. Solange nun
aber der Intellektualismus nicht vollständig überwunden ist, und
i eine bestimmte Auffassung daher noch nicht einfach als Gegen-
j stand einer Forderung betrachtet wird, die der Ethiker an den
Willen der Menschen stellt (welchem sie dann als ein Sollen
entgegentritt); solange vielmehr die Voraussetzung zu Recht be-
steht, die Auffassung müsse sich richten nach dem Sein der auf-
^TLegg. X, p. 903b ff.
NEUNTE VORLESUNG
gefaßten Objekte; so lange muß, statt zu verlangen, die Erleb-
nisse sollten als integrierende Teile des All aufgefaßt werden,
vielmehr bewiesen werden, daß sie dies seien. Es muß, mit
anderen Worten, die Welt für die praktische Einheits-Auffassung
und Bejahung theoretisch präpariert werden, und eben hierin
besteht, wie Chrysipp1 ausdrücklich bemerkt, der einzige
Zweck der Physik. Zu diesem Behufe nun knüpfte Zenon an
Heraklit an, dessen Physik ja vermutlich selbst schon im
Dienste einer ähnlichen Lebensauffassung gestanden hatte. Die
Stoiker lehren deshalb die unzertrennliche Einheit des All in
dreifacher Beziehung. Zunächst besteht es aus einem einzigen
Stoff, dem Feuer. Und auch die verschiedenen Erscheinungs-
formen dieses Urstoffes, die Elemente, existieren nicht neben-
und außereinander, sie sind nicht undurchdringlich, sondern
durchdringen einander gegenseitig: es besteht eine allgemeine
Mischung und Verschmelzung2. Zweitens aber: auch Geist und
Materie sind nicht zwei verschiedene Substanzen. Der Geist
ist nur eine besondere Erscheinungsform des Stoffes, und auch
er durchdringt alle anderen Erscheinungsformen desselben. Leib
und Seele des Menschen bilden eine Einheit, und ebenso auch
Stoff und Geist der Welt: unser Leib ist nur ein Stück der all-
gemeinen Weltmaterie, unser Geist nur ein Teil der allgemeinen
Weltvernunft. Es besteht somit weder ein psychophysischer
noch ein theokosmischer Dualismus, sondern vielmehr ein mo-
nistisch-materialistischer Pantheismus. Drittens endlich: die
Welt ist auch eine Einheit hinsichtlich der Ereignisse, die nach-
einander in ihr stattfinden. Jeder Vorgang folgt auf den vorher-
gehenden mit Notwendigkeit. Es geschieht nichts, das auch
anders geschehen könnte, sondern alles ergibt sich notwendig
aus der Beschaffenheit des Universums. Und da dieses Uni-
versum ein vernünftig-beseeltes ist, so heißt dies: alles geschieht
nach dem göttlichen Ratschlüsse, das Schicksal3 und Gott4 sind
gleichwertige Begriffe. Über allem Weltgeschehen waltet eine
fatalistische Prädestination. So ist um jedes räumliche Außer-
*) Frg. 68 (Arnim III). 2) Kpäöi<; bi öAuuv. 3) Eiuapjuevn.. 4) Zeus.
DIE STOA I
189
I einander, um jede qualitative Verschiedenheit und um alles
I zeitliche Nacheinander ein dreifach-ehernes Band gelegt, das
I alles zu einem einheitlichen All zusammenzwingt. Und nun
kann natürlich das ethisch richtige Erleben nur darin bestehen,
daß jeder Vorgang nicht so verstanden wird, wie er als einzelner
an sich ist, oder wie er das einzelne Erlebende affiziert, sondern
! vielmehr als ein Geschehen an dem einen, notwendigen und
! göttlichen All. Die positive Bestimmung des innerlich freien
! Erlebens ist freudige Ergebung.
Was nun andererseits das innerlich freie Tun betrifft, so steht
die Stoa unter dem Einflüsse auseinandergehender Motive.
Einerseits entwickelt sie die schon bei den Kynikern erkenn-
baren Keime eines allgemein verbindlichen Sittengesetzes. Ge-
| wisse Handlungsweisen sollen dem Menschen „natürlich" sein
(eine Formulierung, zu der auch die Lehre der älteren Akade-
; mie mitgewirkt hat, von der wir noch werden sprechen müssen):
i vor allem, sich selbst zu erhalten und seine Mitmenschen zu
fördern. Aber andererseits würde natürlich die innere Freiheit
aufgehoben, wenn nun jenen Gütern ein absoluter Wert zuge-
: schrieben würde, auf deren Verwirklichung jene „natürliche"
! Tätigkeit sich richtet; denn dann müßte ihr Verlust als wahres
Obel anerkannt werden. So werden dieStoiker genötigt, zweierlei
Werte zu unterscheiden: relative, welche die Richtung der sitt-
lich richtigen, also der tugendhaften Tätigkeit bestimmen; und
einen absoluten, der in dieser Tätigkeit selbst besteht, ohne
Rücksicht auf ihren Erfolg. Um ein Beispiel zu betrachten:
das Leben meines Freundes hat für mich relativen Wert; denn
es ist dem Menschen „natürlich", seinen Freunden das Leben zu
retten, wenn er in Gefahr ist. Absoluter Wert aber kommt nur
dieser meiner rettenden Tätigkeit selbst zu: unterlasse ich sie,
so setze ich damit für mich ein Übel; kein solches aber bedeutet
mir der Tod des Freundes an sich. Mit anderen Worten: die
äußeren Güter geben mir den Stoff meines Tuns und bestimmen
seine Richtung; mein innerer Wert aber hängt lediglich von
diesem Tun selbst ab. Das Leben ist ein Spiel, in dem die
190
NEUNTE VORLESUNG
relativen „natürlichen" Werte den Einsatz darstellen, und die
auf deren Verwirklichung hingeordneten „natürlichen" Triebe
die Spielregeln bilden; Gegenstand der ethischen Beurteilung
aber ist allein dasjenige, was von Gewinn oder Verlust des
Spieles völlig unabhängig ist: die Art und Weise nämlich, wie
ich in der jeweiligen Lage die Spielregeln zur Anwendung
bringe. Nur sie ist ein wahres Gut und die alleinige Bedingung
meiner Glückseligkeit.
Dies also ist nach der stoischen Lehre der Inhalt der Erlösung.
Aber auch ihre Form behandeln sie in eigentümlicher Weise.
Sie knüpfen nämlich an den allgemein sokratischen Begriff des
Wissens an, und nennen denjenigen, welcher den ethischen For-
derungen durchaus entspricht, den Weisen. Alle anderen sind
Toren: es gibt keinen allmählichen, sondern nur einen plötz-
lichen Obergang von diesem Zustand zu jenem; der Prozeß der
Erlösung vollzieht sich in einem einzigen Augenblick1. Wenn
trotzdem auch unter den Toren Unterschiede von ethischer
Bedeutsamkeit bestehen, so gründen sich dieselben nicht auf
den widerspruchsvollen Begriff einer teilweisen Erlösung, son-
dern können sich lediglich auf die größere oder geringere Chance
beziehen, der vollen Erlösung teilhaft zu werden2.
Lassen Sie mich nun, geehrte Zuhörer, da ich zur näheren
*) Dieser auffallende Satz ist jedoch nur als eine Folgerung aus den weiter-
hin wiederzugebenden begrifflichen Erwägungen zu betrachten, und nicht
etwa (wie man leicht denken könnte) als eine solche aus Erfahrungen
plötzlicher „Bekehrung". Bedürfte es hierfür eines Beweises, so würde
dieser durch den stoischen Begriff des „unbewußten Weisen" (aoqpöc;
6iaXe\r]0uü<;: Frg. 539 — 542) geliefert, welcher voraussetzt, daß die „Recht-
fertigung" nicht durch einen Bewußtseinsvorgang erfolgt, sondern nur
späterhin durch einen solchen erfaßt werden kann: „Denn diejenigen,
welche bis zum Gipfel der Weisheit vorgedrungen sind, und ihre Grenze
eben erst erreichen, können um ihre eigene Vollendung nicht wissen.
Denn es ist unmöglich, daß beides zur gleichen Zeit eintrete: das Anlangen
an der Grenze und das Bewußtsein von diesem Anlangen" (Frg. 541).
2) Derselbe Gedanke auch in Indien, wo wir bei £ankara lesen: „In betreff
der Erlösung ... ist ein Unterschied des Grades nicht möglich" (D e u s s e n,
Die Sutra's des Vedanta, S. 681).
DIE STOA I
191
Ausführung dieses vorläufigen Schemas übergehen will, gleich
bei dem letzten Punkte verweilen. Es handelt sich darum, wie
die Stoa den Begriff „Ethisches Ideal" auffaßt und behandelt.
Den ersten Ansatz zur Bildung dieses Begriffes fanden wir in
der sokratischen Forderung des Wissens. „Wer das rechte
Wissen um die Tugend hätte, der hätte auch sie selbst" — das
ist die eigentliche Form der sokratischen Lehre, und alle ihre
Sätze über die Tugend gelten im strengen Sinne nur von diesem
hypothetischen Wissenden. Daß nun er selbst ein solcher
Wissender nicht sei, und ebensowenig irgend ein anderer, den
er kenne, dies hat Sokrates stets mit Nachdruck hervorgehoben
und bekannt. Daß es aber einen solchen geben könne, daran
scheint er nicht den leisesten Zweifel geäußert oder gehegt zu
haben. So klar also hier der Idealbegriff hervortritt, sein Ver-
hältnis zur empirischen Wirklichkeit bleibt unbestimmt. Wesent-
lich dasselbe wird man von dem platonischen Ideal des „Ge-
rechten" sagen dürfen; die anderen Sokratiker aber zeigen in
dieser Hinsicht eher einen Rückschritt als einen Fortschritt.
Das sokratische Bewußtsein des Nichtwissens scheinen die
Jünger jedenfalls vom Meister nicht übernommen zu haben; es
mag sein, daß sie an der Möglichkeit, das Ideal zu realisieren,
schon deshalb nicht meinten zweifeln zu können, weil es ihnen
in Sokrates verwirklicht schien. Bei den Kynikern nun hat es
geradezu den Anschein, als wollten sie sich selbst für die
„braven Männer" ausgeben; und von den Kyrenaikern wird uns
ausdrücklich bezeugt1, sie hätten die Realität des Weisen be-
hauptet, was sie freilich alsbald nötigte2, dem Weisen nicht
„stets", sondern nur „in der Regel" die Wahrung der inneren
Freiheit beizulegen. Die Stoiker nun folgten in diesen Spuren.
Schon Zenon hat3 die Menschen in „gute" und „schlechte"
eingeteilt, und behauptet4, alle Verfehlungen seien gleich; denn
| das sittlich Richtige könne ebensowenig wie das gedanklich
Richtige eine intensiv variable Größe sein: wenn von zwei
i) Diog. Laert. II. 93. 2) Diog. Laert. 11.91. 3) Stob. Ekl. II. p.198 (Meineke),
i 4) prg. 527 (Arnim III).
192 NEUNTE VORLESUNG
Menschen der eine 100 Stadien von einem bestimmten Orte
entfernt sei, der andere aber nur ein Stadion, so seien doch eben
beide nicht an jenem Orte, und ebenso seien auch alle „Schlech-
ten" in ganz gleicher Weise nicht „im Richtigen". In anderer
Form1 lautet derselbe Gedanke so: ein Mittleres zwischen Tu- \- .
gend und Schlechtigkeit gibt es ebensowenig, wie zwischen
einem geraden und einem krummen Holze. So ergibt sich der
Satz2: alle sittlich guten und auch alle sittlich schlechten Hand-
lungen haben je untereinander gleichen Wert. Es ist wichtig, sich
darüber klar zu werden, was hier vorgeht. Die ethische Beur-
teilung wird, statt auf den Grad der Annäherung an das Ideal,
auf seine Erreichung oder Nichterreichung gegründet: weil ein
Mensch einen noch höheren Wert erringen könnte, wird ihm
jeder Wert abgesprochen. Es werden hier also miteinander :
verwechselt: das Ideal als Ziel und das Ideal als Maßstab des
ethischen Fortschritts. Der Grund dieser Konfundierung aber
liegt darin, daß das Ideal grundsätzlich als realisierbar gedacht
wird. Dies hat nun freilich auch seine gute Seite. Denn, wo
die entgegengesetzte Annahme zugrunde liegt, da besteht die
Gefahr, daß die ethischen Anforderungen in der Praxis auf ein
allzutiefes Niveau herabsinken: daß neben das absolute Ideal, i
als das theoretisch denkbare sittliche Maximum, ein relativer iti
Durchschnittstypus als das praktisch genügende ethische Mini-
mum gesetzt wird. So ist es in der religiösen Moralphilosophie ;
da geschehen, wo in der Dogmatik juristische Begriffe vorwalten, is
und wo deshalb alle wirklich lebenden und deshalb notwendig
unvollkommenen Menschen als der ewigen Verdammnis ver-
fallen gedacht werden müßten, wenn nicht schon ein sehr viel s
geringerer denn der denkbar höchste Grad von Vollkommenheit
als ein praktisch genügendes Surrogat dieses letzteren zugelassen : r
würde. Dieser Gefahr also ist dieStoa gewiß nicht erlegen. Uner-
müdlich hat sie alle erdenklichen Vorzüge auf den Weisen ge-
!) Diog. Laert. VII. 127 (Frg. 536, wo die Quellenangabe durch einen Druck-
fehler entstellt ist). 2) Frg. 526, 529, 531; vgl. Cicero, Paradox. 3, Sext.
Emp. adv. Math. VII. 422 u. d. Frgg. 468, 524, 528, 530, 532, 533, 535, 539.
DIE STOA I
193
häuft1: ihn sogar an Gott herangerückt2, ja in gewissem Sinne
selbstüberGotthinausgehoben3. Ja,sosehr fiel ihr der Begriff des
Weisen mit dem Inbegriff aller denkbaren Vortrefflichkeit zu-
sammen, daß sie nicht mehr recht zu sagen wußte, wie denn
noch individuelle Unterschiede zwischen den verschiedenen
Einzelweisen bestehen könnten4: eine Fragestellung, die so recht
zeigt, in welche Absurditäten sich derjenige verstricken muß,
| der die Einheit des Ideals in eine Vielheit von Realitäten aus-
| einanderzieht. Allein gerade, weil auf diese Weise an der abso-
! luten Vollkommenheit des ethischen Maximums intransigent
festgehalten und ihm auch kein ethisches Minimum als Be-
schwichtigungsmittel an die Seite gesetzt ward, mußte seine Er-
reichbarkeit wieder höchst fraglich erscheinen. Und damit erhob
i eine andere Gefahr um so bedrohlicher ihr Haupt: ich meine
die, daß die ethische Energie überhaupt erlahmen und einer
praktischen Indifferenz Platz machen konnte. „Die Sterne, die
i begehrt man nicht": was nützt also der Begriff des vollkommen-
sten, tugendhaftesten und glückseligsten Weisen, wenn der ein-
zelne nicht hoffen kann, ihn zu verwirklichen, und wenn ihm
mit keiner Annäherung an denselben ernstlich gedient ist? Von
dieser Gefahr aber kann man nicht ebenso behaupten, daß die
Stoa sie überwunden hätte. Denn auf die Frage, ob das Ideal von
Menschen überhaupt erreicht werde, geben die Stoiker sehr
verschiedene Antworten. Während Seneca sogar den wenige
Jahrzehnte vorher verstorbenen jüngeren Cato einen Weisen
nennt5, verhält sich die Mehrzahl der Zeugen weitaus skep-
tischer. Einen oder zwei Weise6 habe es gegeben, scheint eine
beliebte Antwort gewesen zu sein7. Er sei so selten wie der
Vogel Phönix8. Ja, es wird auch geradezu ausgesprochen,
> J) Vgl. Frg. 545 („Wegen des Übermaßes seiner Größe und Schönheit
i sieht es aus, als würden wir nur Fiktionen vorbringen, und nicht solches,
i was zum Menschen und seiner Natur paßt." Chrysipp.) 2) Frg. 245—252,
606, 607. 3) Seneca, de prov. 1. 5 und 6.6. 4) Stob. Ekl. II. p. 237 (Mei-
; neke). 5) De constant. 2. 1. 6) Wohl Sokrates und Diogenes. 7) Frg.
658, 668. 8) Seneca ep. 42. 1; Frg. 658.
Gomperz, Lebensauffassung 13
194
NEUNTE VORLESUNG
bisher sei noch kein Weiser bekannt geworden !. Aber die Stoa
fühlte wohl, daß ihr Ideal auf solche Art zu einer lächerlichen
Fratze zu werden drohte. Und sie suchte deshalb dem Begriffe
der Annäherung an das Ideal, des ethischen Fortschritts2 Zu-
geständnisse zu machen. Dies ist aber doch nur in ganz unzu- j
reichender Weise geschehen. Denn obwohl Poseidonios von
Sokratikern und Kynikern erklärte3, sie seien im Fortschreiten
begriffen gewesen ; obwohl S e n e c a nach dem Vorgange früherer
drei Klassen derFortschreitenden unterschied4, und schonC h r y-
sipp die höchste derselben nur mehr durch eine recht feine
Distinktion von den Vollendeten begrifflich zu trennen ver-
mochte5; die Schule rechnet den ethischen Fortschritt doch nur
zu jenen „vorzüglichen" Dingen, denen ein absoluter Wert
nicht zukommt, und läßt ihn als wahres Gut nicht gelten6: eine I
der unglaublichsten Lehren, zu denen je sterile Folgerichtigkeit
sonst achtungswürdige Denker verführt hat. In diesem Punkte I
also kann die stoische Lehre von radikaler Unzulänglichkeit un- j
möglich freigesprochen werden. Aber auch das übrige Altertum ä
ist hier zu einer entschiedenen Klarheit nicht vorgedrungen.
Und ebensowenig hat (aus den früher angedeuteten Gründen) j
das Christentum den Idealbegriff wahrhaft fruchtbar zu gestalten
vermocht. Fichte vielmehr blieb es vorbehalten, ihn von all
diesen Zweideutigkeiten durch die Bestimmung zu befreien, I
daß das Ideal als der Grenzbegriff einer stetigen Annäherung
zu denken sei.
Doch wir wenden uns von der Form zum Inhalt des stoischen
Ideals zurück. Seinen Kern bildet, wie bei allen Sokratikern, die
Forderung der inneren Freiheit. Als stoisches „Paradoxon"
wird angeführt7: „Nur der Weise ist frei, jeder Törichte ein !
Knecht." Und Chrysipp sagt8: „Nur das sittlich Richtige9 ist
ein Gut," was Seneca wiederholt10. Ebenso läßt Cicero seinen Ii
1) Sext. Emp. adv. Math. IX. 133; Plut. de Sto. repp. 31, p. 1048e. Vgl. Frg. 619.
2) TrpoKOTrrj. 3) Diog. Laert. VII. 91. *) Ep. 75. 8 ff. 5) Frg. 510. 6) Frg. 127, ! 1
135, 136. 7) Cicero, Parad. 5; Frg. 355; vgl. Frg. 356— 365, 544, 591, 593,
597,599,603. 8) Frg. 29— 37. 9) Wörtlich: das Schöne (tö k<x\6v). io) De I
benef. VII. 2. 1.
DIE STOA I
195
Stoiker sagen1, darum handle es sich, daß es für den Weisen
überhaupt kein Obel gebe2. Und auf Zenon selbst wird die
Wiederholung des (von den Späteren in unzähligen Wendungen
variierten) alten kynischen Satzes zurückgeführt3, daß die Tugend
ausreichend sei zur Glückseligkeit. Bei Seneca lesen wir4, der
Weise sei über den Schmerz erhaben, und, in schwungvoller
Ausführung5: „Wenn wir einmal aus dieser schmutzigen Nie-
derung zu jener ragenden Höhe entwichen sind, dann wartet
unser Ruhe des Gemütes und, nach Austreibung alles Irrtums,
vollkommene Freiheit. Was das bedeutet, fragst du? Nicht
Menschen fürchten, nicht Götter. Nichts Schimpfliches wollen
und nichts Übermäßiges. Ober sich selbst volle Gewalt haben.
Ein unschätzbares Gut ist es, sein eigener Herr zu werden."
Nun machen freilich gerade Senecas Tiraden oft genug den
Eindruck einer recht hohlen Deklamation: um so mehr, wenn
wir mit ihnen das sehr wenig erfreuliche Leben des kaiserlichen
Hofphilosophen zusammenhalten. Immerhin sind sie für uns
von Wert als rhetorische Nachbildungen älterer, uns verlorener
Äußerungen. Dagegen geben uns zu solchem Mißtrauen weder
Leben noch Sprache bei Epiktet einen zureichenden Grund.
Aus den Schriften dieses Philosophen, dem es um die von ihm
vertretene Sache herzlich und innig ernst war, werde ich des-
halb im folgenden mit Vorliebe meine Belege schöpfen. Hier
führe ich zunächst einige solche an, die für den Freiheitsbegriff
und das Freiheitsbewußtsein der Stoa zeugen mögen. So lesen
wir6: „Wenn das wahr ist, und wir weder schwätzen noch heu-
i cheln, indem wir behaupten, Gut und Übel liege für den Men-
schen in seinem Willen, alles andere aber berühre uns nicht:
was erregen wir uns noch? Was fürchten wir noch? Das,
worum es uns ernst ist, das ist in niemandes Gewalt. Was aber
in der anderen Gewalt ist, darum kümmern wir uns nicht. Was
| für ein Ungemach können wir noch haben?" Und so recht aus
einem, von unerfreulichen Erfahrungen übersättigten Lehrer-
i) Tusc. III. 10. 22. 2) vgl. Frg. 287, 567, 575. 3) Frg. 49-67, 582—586, 595.
i *) De prov. 6. 6. 5) Ep. 75. 18. 6) Diss. I. 25. 1.
13*
196
NEUNTE VORLESUNG
herzen scheint der Ausrufzu dringen1: „Einen jungen Menschen
gebt mir, der mit der Absicht (zu mir) in die Schule kommt,
und um den Preis ringen will, und sagen: Alles andere mag
bleiben, wo es will! Mir wird's genug sein, wenn ich ungehin-
dert und schmerzlos dahinleben kann, das Haupt erheben gegen
die Dinge wie ein freier Mensch, aufblicken zum Himmel wie
ein Freund Gottes, ohne Furcht vor irgend etwas, das mich be-
treffen kann!" Und in einem anmutigen Zwiegespräche mit
Zeus legt er diesem die folgenden Worte2 in den Mund:
„Epiktet, wenn's möglich wäre, so hätt' ich auch dein bißchen
Körper und dein bißchenBesitz frei und unangreifbar geschaffen.
So aber vergiß nicht, daß diese nicht dein sind, sondern kunst-
voll gebackener Dreck. Da dieses nun aber nicht möglich war,
so hab' ich dir ein Stück meiner selbst gegeben: nämlich diese I i
Kraft, zu wollen und nicht zu wollen, zu begehren und nicht zu
begehren, kurz deine Gedanken zu regieren. Wenn du dich
um die kümmerst und auf sie deine Sache stellst, dann wirst i
du nie gehemmt, nie gefesselt werden, wirst nie wehklagen, c
wirst nie tadeln, wirst niemandem schmeicheln. — Nun, ist das j
etwas Kleines? Da sei Gott vor!" Gern drückt Epiktet diesen i i
Gedanken auch so aus: man müsse lernen, zwischen dem, was i
bei uns stehe3, und dem, was nicht bei uns stehe4, zu unter- ii
scheiden. So z. B.5: „Von den Dingen stehen einige bei uns, ; >;
andere nicht. Bei uns : unser Meinen, Wollen, Begehren, Fliehen,
mit einem Worte: unsere Taten. Nicht bei uns: Körper, Besitz, c
Ehre, Macht — . Was nun bei uns steht, ist von Natur $
frei, nicht zu hindern, nicht zu hemmen ; was aber nicht, schwach, [
knechtisch, hemmbar, fremd. Bedenke nun, daß, wenn du das
von Natur Knechtische für das Freie hältst und das Fremde für \
das Eigene, du gehemmt werden, trauern, dich erregen und j .
tadeln wirst — so Götter als Menschen. Wenn du aber nur das
Deine für dein hältst und das Fremde, so wie es sich verhält, für
ein Fremdes, dann wird dich nie jemand nötigen, noch hemmen, \
1) Diss. II. 17. 29. 2) Diss. i. i. io. 3) jö ecp r^tv. 4) jö oük eqp1 r^iv.
5) Enchirid. 1. 1.
DIE STOA I
197
du wirst nie jemand tadeln noch einen Vorwurf machen; nichts
wirst du gegen deinen Willen tun, niemand wird dir schaden,
du wirst keinen Feind haben; denn du wirst ja nichts erleiden,
was dir schadete." Oder wiederum1: „Bei uns steht unser
Wille und alle Taten unseres Willens. Nicht bei uns: unser
Leib, unser Besitz, unsere Eltern, Brüder, Kinder, unser Vater-
land, kurz unsere Genossen. Worein werden wir nun das Gute
setzen? " Endlich2: „Was muß man also in solchen
Lagen sich gegenwärtig halten? Was anders als: was ist mein,
was ist nicht mein? Was kann ich, was kann ich nicht? Ich
muß sterben: muß ich auch klagend sterben? Ich muß gefesselt
werden: muß ich's auch jammernd? Ich muß in die Verbannung:
hindert mich jemand, lachend und wohlgemut und fröhlich zu
gehen? — Gib das Geheimnis preis! — Nein, denn das steht
bei mir. — Aber ich werde dich fesseln. — Wie meinst du,
Mensch? Mich? Meine Beine wirst du fesseln, meinen Willen
aber könnte nicht einmal Zeus selber überwinden. — Ich werde
dich ins Gefängnis werfen. — Ja, das Körperchen. — Ich werde
dir den Kopf abschlagen lassen. — Hab' ich je behauptet, daß
gerade mein Hals nicht abgeschnitten werden kann?"
Im Sinne jener eigentümlichen stoischen Psychologie, die ganz
intellektualistisch jedes Gefühl auf ein Urteil, und doch zugleich
ganz voluntaristisch jedes Urteil auf einen Willensakt zurück-
führt3, sagt Epiktet auch oft, unser Glück hänge ja nicht von
den Dingen ab, sondern von unseren Ansichten4 über die Dinge.
So z. B.5: „Was regt die Leute auf und macht sie so bestürzt?
Der Tyrann und seine Lanzenträger? Woher? Keine Spur!
Was von Natur frei ist, kann von nichts erregt und gehemmt
werden, als nur von sich selbst. Sondern die Ansichten regen
ihn auf. Denn wenn ihm der Tyrann sagt: ich werde deine
Beine fesseln, dann sagt der, der das Bein in Ehren hält: Nein!
Hab' Erbarmen! Wer aber den Willen in Ehren hält, der sagt:
Wenn es dir so gut scheint, so bind' es! — Dir liegt nichts dran?
*) Diss. I. 22. 10. 2) Diss. I. T. 21. 3) Er heißt die innere „Zustimmung"
(ouYKaTdeeatq). 4) AoTiuaxa. 5) £>iss> I. 19. 7.
198
NEUNTE VORLESUNG
— Nein. — Ich werde dir zeigen, daß ich der Herr bin. — Wieso
du? Mich hat Zeus frei (auf die Erde) entlassen. Oder meinst
du, er werde den eigenen Sohn knechten lassen? Meines Leich-
nams aber bist du Herr: nimm ihn!" Oder ein andermal1:
„Was ist Weinen und Schreien? Ansicht! Was Unglück? An-
sicht! Was Streit? Was Zwiespalt? Was Tadel? Was Klage?
Was Lästerung? Was Geschwätz? Das alles sind Ansichten
und sonst nichts. Und sind Ansichten über Dinge, die nicht bei
uns stehen als ob sie Güter und Übel wären. Wenn einer diese
Ansichten übertrüge auf die Dinge, die bei seinem Willen stehen,
dem bürgte ich wohl dafür, daß er sich Wohlbefinden wird, was
immer seine Umstände seien!" Und noch deutlicher2: „Nicht die
Dinge erregen die Leute, sondern die Ansichten über die Dinge.
Zum Beispiel: der Tod ist nichts Schreckliches — sonst wär' er
auch Sokrates so erschienen — , sondern die Ansicht über den
Tod, daß er schrecklich sei — das ist das Schreckliche. Wenn
wir uns also gehemmt fühlen oder uns aufregen oder trauern,
so dürfen wir nie einem andern die Schuld geben, sondern nur
uns selbst, d. h. unseren Ansichten. Ein Zeichen von Unbildung
ist es, anderen Vorwürfe zu machen; ein Zeichen beginnender
Bildung, sich selbst; ein Zeichen vollendeter Bildung: weder
anderen noch sich selbst3." Und um nun mit diesen Belegen
für Epiktets Bewußtsein der inneren Freiheit zu Ende zu
kommen, noch einen Satz4: „Zustand und Charakter des ge-
wöhnlichen Menschen: er erwartet Förderung und Schädigung
nie von sich selbst, und immer von außen; Zustand und Cha-
rakter des Philosophen: er erwartet alle Förderung und Schä-
digung von sich selbst."
Fragen Sie mich nun, geehrte Zuhörer, wie denn der Mensch
sich diese „richtigen Ansichten", die ihn von allem Obel befreien
sollen, eigentlich aneignet, so lautet die stoische Antwort: für
jeden ist ein Übel nur, was seinen Wünschen widerspricht;
wer also allem Wirklichen innerlich zustimmt, wer dem Not-
wendigen nie mit Wunschverneinung begegnet, sondern das, was
i Diss. III. 3. 18. 2) Enchirid. 5. 3) Vgl. Frg. 543. *) Enchirid. 48. 1.
DIE STOA I
199
Gott will, stets auch selber will, für den gibt es kein Obel. Diesen
Gedanken hatte MusoniusRufus dahin formuliert *, man müsse
„das Notwendige als ein es Wollender erleben". Sein Schüler
Epiktet aber drückt ihn so aus2: „Trachte nicht, daß die Ereig-
nisse sich so ereignen, wie du willst, sondern wolle sie, wie sie
sich ereignen; so wirst du dich Wohlbefinden." Und am klarsten
in folgenden Sätzen3: „Bedenke! das Ziel des Sehnens ist: das
Ersehnte erlangen; das Ziel des Verabscheuens ist: dem Verab-
scheuten nicht begegnen. Wer aber das Ziel des Sehnens ver-
fehlt, der ist nicht glücklich; und wem das Verabscheute be-
gegnet, der ist unglücklich. Wenn du nun einzig deine eigenen
Taten, und zwar die widernatürlichen (d. h. unsittlichen) unter
ihnen verabscheust, wird dir nie etwas begegnen, was du ver-
abscheust. Verabscheust du aber Krankheit oder Tod oder Ar-
mut, so wirst du unglücklich sein. Entferne also diesen Abscheu
von alle dem, was nicht bei uns steht, und übertrage ihn auf
deine eigenen, widernatürlichen (unsittlichen) Handlungen."
Daraus folgt4: „Sage nie: ich hab's verloren, sondern: ich hab's
zurückgegeben. Ist das Kind gestorben? Du hast's zurückge-
geben. Ist die Frau gestorben? Du hast sie zurückgegeben5.
Hat man dir dein Gut genommen? Du hast also auch dieses
zurückgegeben. — Aber der dir's genommen hat, war ein
schlechter Kerl. — Allein, was geht's dich an, durch wen der
Geber (Zeus) es von dir zurückfordern läßt?" In demselben
Sinne heißt es6: „Wenn du wünschst, daß deine Kinder und
dein Weib und deine Freunde ewig leben, so bist du elend; denn
*) Stob. Floril. 108. 60 (Meineke). 2) Enchirid. 8. 3) Enchirid. 2. 4) Enchi-
rid. 11. 5) Eine, ganz dem Geiste dieser Maxime entsprechende, förmliche
„Verzichterklärung" eines nordamerikanischen, puritanischen Geistlichen
am Totenbette seiner Frau findet man bei James, The varieties of religious
experience, S. 303. Wer diese rührende autobiographische Erzählung ge-
lesen hat, dem mag die Lust vergehen, die stoischen Forderungen als
leere Phrasen zu belächeln. Ebenso mag man vergleichen, was Merx (Idee
und Grundlinien einer allgemeinen Geschichte der Mystik, S. 31) von Elfa-
dil aus Chorasän (8. Jahrhundert) berichtet: „Als sein Sohn starb, lachte
der sonst nicht einmal lächelnde Mann und sprach: Wenn Gott etwas
beliebt, so beliebt es mir auch." 6) Enchirid. 14.
200
NEUNTE VORLESUNG
du wünschst, daß bei dir stehe, was nicht bei dir steht, und daß
dein sei, was nicht dein ist. Und ebenso: wenn du wünschst,
daß dein Sklave nichts Unrechtes tue, so bist du ein Narr; denn
du wünschst, daß Schlechtigkeit nicht Schlechtigkeit sei, sondern
etwas anderes. Willst du aber nichts verfehlen, wonach du dich
sehnst — das kannst du. Übe dich also in dem, was du kannst.
— Herr ist über jeden der, der Gewalt hat über das, was jener
sich wünscht und nicht wünscht, es ihm zu geben oder zu neh-
men. Wer also frei sein möchte, der wünsche nichts und fliehe
nichts von dem, was bei anderen steht. Sonst ist er notwendig
unfrei." Und, mit der in der Schule gebräuchlichen religiösen
Wendung, sagtEpiktet weiter1: „Immer ziehe ich das vor, was
geschieht. Denn was Gott will, achte ich mehr, als was ich will.
Als ein Diener und Begleiter schließe ich mich ihm an, verlange
mit ihm, sehne mich mit ihm, kurz, will mit ihm." Oder auch2:
„Wag' es, blick auf zu Gott, und sprich: Brauche mich fürder,
wie du willst! Ich bin einstimmig mit dir, bin dein. Nichts von
dem, was du beschließest, bitte ich dich zu ändern. Führ' mich,
wohin du willst! Kleide mich, wie du willst! Willst du, daß
ich herrsche, diene, bleibe, fliehe, arm bin, reich bin? In jedem
von diesen Stücken will ich dich vor den Menschen vertreten."
Als Worte endlich, die jedermann jederzeit sich vor Augen
halten solle, führt er neben Versen des Kleanthes, die wir
gleich kennen lernen werden, noch an3: die Verse des Euri-
pides:
„Doch wer mit Anstand vor dem Schicksal weicht,
Der heißt uns weise und der Götter kundig"4;
die Worte des platonischen Sokrates: „Aber, o Kriton, wenn
es den Göttern so gefällt, so möge es also geschehen"; und die
l) Diss. IV. 7. 20. 2) Diss. II. 16. 42. 3) Enchirid. 53. *) Er hätte auch
noch den Vers des Äschylos (Prom.v.547) hinzufügen können: „Nimmer
vermag eines Menschen Entschluß die Harmonie des Zeus zu stören", zu
dem schon der antike Scholiast bemerkt: „In erhabener und der Tragödie
angemessener Weise (üijjnXOü«; Kai TpcrpKUJc;) nennt er das Schicksal die
Harmonie des Zeus".
DIE STOA I
201
desselben Weisen in der „Apologie": „Töten können mich Me-
ietos und Anytos wohl, schädigen aber nicht." In demselben
Sinne sagt auch S e n e c a 1 : „Was ist die Aufgabe des guten Man-
nes? Sich dem Schicksal ergeben." Und Marc Aurel2: „Nur
dem vernünftigen Wesen ist es vergönnt, den Ereignissen mit
freiem Willen zu gehorchen; das bloße Gehorchen aber ist
notwendig für alle."
Es steht aber nicht so, als ob diese Ergebung der späteren
Stoa allein eigentümlich wäre, wenn auch zuzugeben ist, daß
dieses Moment im Laufe der Zeit entschiedener hervortritt,
und daß dieser Gedanke ursprünglich von einem ganz ande-
ren nicht immer deutlich unterschieden wurde. Wenn zum
Beispiel Zenon3 das „Leben in Übereinstimmung mit der
Natur" für das ethische Ziel erklärt, so schillert der Sinn dieser
Forderung zwischen „Ergebung in den natürlichen Weltlauf"
und „Sittlichkeit als Befriedigung der natürlichen Triebe". Und
wenn Chrysipp4 dies dahin erläutert, es handle sich „sowohl
um die eigene Natur als um die des All, indem man nichts tun
dürfe, was das allgemeine Gesetz zu verbieten pflegt, welches
die rechte Vernunft ist, die alles durchdringt, dasselbe wie Zeus
. Eben das aber sei die Tugend und Glückseligkeit des
Vollkommenen, wenn alles getan wird in Übereinstimmung
zwischen der Seele des einzelnen und dem Willen des Allenkers"
— so ist jene, schon von Cicero5 bemerkte Zweideutigkeit
nicht völlig geschwunden. Ja, sogar die folgenden Verse des
Klea n th e s6 zeigen noch keine vollkommen scharfe Unterschei-
dung zwischen dem Naturnotwendigen und dem sittlich Gefor-
derten:
„Nimmer geschieht ohne Dich, o Gott, eine Tat hier auf Erden,
Noch auch im Ätherhimmel, dem göttlichen, oder im Meere,
Als nur allein, was die Bösen im Unverstände vollbringen.
Aber, was ungrad auch, vermagst Du grade zu machen,
Was ohne Ordnung, zu ordnen: das Feindliche, Dir ist es freund-
lich.
i) De prov. 5. 8. 2) eiq eauxöv X. 28. 3) Diog. Laert. VII. 87. 4) Frg. 4.
5) Frg. 13 (Arnim III). 6) stob. Ekl. I. p. 32 (Meineke).
202
NEUNTE VORLESUNG
Und so hast Du in eins das Edle dem Schlechten verschmolzen,
Eine Ordnung geschaffen von allen ewigen Dingen.
Diese verlassen in Flucht die Schlechten unter den Menschen,
Sehnen sich nach dem Besitz von Gütern, die UnglücksePgen ;
Sehen und hören nicht Gottes Gesetz, das allen gemeinsam:
Folgten sie dem verständig, sie führten ein herrliches Leben."
Aber doch hat schon Zenon die Lehre von der Schicksalsnot-
wendigkeit vorgetragen1; und welche andere Bedeutung hätte
ihr in seinem Systeme zukommen können, wenn nicht die,
die Forderung unbedingter Ergebung in alles Geschehen theo-
retisch zu begründen? Und von Kleanthes besitzen wir außer
den früher angeführten auch noch andere Verse2, die unver-
kennbar diese Forderung aussprechen:
„Führ' Du mich, Zeus, und Du mich, Schicksalsgöttin,
Wohin es immer mir von Euch bestimmt ist!
Ich folg' Euch ohne Furcht. Doch würd' ich feig,
Und wollt' es nicht, ich müßt' Euch dennoch folgen."
Und von Chrysipp endlich wird uns folgende Äußerung be-
richtet3: „Solange mir die Zukunft unbekannt ist, halte ich
mich daran, daß ich das von Natur Wohlgestaltere zu erlangen
suche; denn Gott selbst hat mir den Trieb zu solcher Wahl ver-
liehen. Wüßte ich aber, daß mir bestimmt ist, jetzt krank zu
sein, so verlangte auch ich danach." Den Anfang dieses Zitates
nun werden Sie nächstens besser verstehen. Schon jetzt aber
ist klar, daß hier nicht nur die unbedingte Ergebung gelehrt,
sondern auch ihr Wesen in lehrreicher Weise näher bestimmt
wird. Sehr genau nämlich wird hier die tätige von der tat-
losen Ergebung unterschieden. Jene bezieht sich auf das Wirk-
liche. Diesem mit Wunschverneinung zu begegnen, wird ver-
pönt. Keineswegs aber, die Zukunft handelnd zu beeinflussen.
Die Wunschbejahung, in der die Stoa mit Recht das Wesen der
inneren Freiheit sieht, ist von einer Willensbejahung durchaus
verschieden: ich darf handeln, um X zu realisieren; aber, wird
es nun nicht verwirklicht, so darf ich Non-X nicht anders wün-
i) Diog. Laert. VII. 23 und 149. 2) Epiktet, Enchirid. 53. 3) Frg. 191.
DIE STOA I
203
sehen, als es ist1. „Denn während ich dir, sagt Seneca2, mit
vollendeter Deutlichkeit das Wünschen verbiete, gestatte ich dir
das Wollen.«
Das Begehren also muß umgebildet werden zur allgemeinen
Wunschbejahung, wenn innere Befreiung vor sich gehen soll.
Aber nun fragt sich: wie kommt diese Umbildung selbst zu-
stande? Zwei Bedingungen derselben haben wir seinerzeit in
unserer einleitenden Betrachtung erwähnt: die Auffassung jedes
Erlebnisses als eines unabtrennbaren Teiles von Welt und Le-
ben; und die Pflege freudiger Bejahungsgefühle gegen diese
Totalität. Die zweite dieser Bedingungen ist an sich emotioneller
Natur, kleidet sich aber für den stoischen Intellektualismus in
das Gewand einer Tatsachenfrage. Die erste dagegen gehört
ganz eigentlich dem Gebiete des Theoretischen an: sie stellt jene
intellektuelle Vermittlung des Erlösungsprozesses dar, an die
ich Sie schon anläßlich der Lehre des Kyrenaikers Theodoros
; erinnern mußte. Wir können sie als die Forderung bezeichnen,
alles einzelne von einem,, höheren Generalisationszentrum" aus
zu betrachten, oder auch mit Spinoza als die Maxime, es „sub
specie aeterni" anzuschauen. Die Stoa steht durchaus auf dem-
; selben Boden, und die Übereinstimmung des Chrysipp3 mit
den Kyrenaikern in dieser Hinsicht ist auch schon im Altertume
(von Cicero) bemerkt worden. Und über die Lehre von der
Einheit der Welt habe ich schon früher im allgemeinen gespro-
| chen. Schon Zenon hat diese Einheit betont4, und sie ist seit-
her feststehendes Dogma der Schule5. Begründet wird sie unter
1 anderem damit, daß zwischen den einzelnen Teilen der Welt
Wechselwirkung stattfinde, was nur innerhalb eines einheitlichen
] Ganzen möglich sei6; und näher dahin ausgeführt, daß das
Universum einen, Menschen und Götter umfassenden Staat
*) Vgl. Frg. 572 (Der Weise „wird Tod und Schmerzen vermeiden, soweit
es möglich und recht ist. . . . Kann er sie aber trotz redlicher Bemühung
nicht vermeiden, so wird ihr Hereinbrechen ihn nicht elend machen".
Augustinus nach stoischem Muster). 2) £p. 116. 1. 3) Frg. 417. Vgl.
Frg. 482 u. 565. 4) Diog. Laert. VII. 143. 5) Frg. 530 ff. (Arnim II). 6) Sext.
Emp. adv. Math. IX .78 ff.; Marc Aurel, elc, eauxov VI. 38.
204 NEUNTE VORLESUNG
bilde1. Diese einheitliche Welt istaber auch vollkommen. Diesen
zweiten Satz nun würden wir heutzutage einfach aussprechen als
dieForderung, dem einheitlichen Weltganzen freudig zu begeg-
nen. Auch fehlt es nicht völlig an Ansätzen zu einer solchen
Auffassung. Wenn zum Beispiel Epiktet sagt2: „So wie keine
Zielscheibe aufgestellt wird, um verfehlt zu werden, so gibt es
auch in der Welt nichts, was seiner Natur nach übel wäre",
so meint er offenbar: die Gegenstände unseres Wünschens
könnten nicht dazu bestimmt sein, wunschverneint zu werden.
Allein, wie schon angedeutet, hat der unverwüstliche griechische
Intellektualismus auch dies zu beweisen unternommen; frei-
lich mit recht ungenügenden und zum Teil äußerst trivialen
Gründen, die nicht selten fast an die klassische Behauptung
Christian Wolffs erinnern, die Sonne sei schon deshalb un- I
gemein nützlich, weil es ohne sie keine Sonnenuhren geben
könnte. Aber nicht diese verunglückten Beweisversuche inter-
essieren uns hier, sondern ihr Ergebnis. Und da sehen wir denn,
daß Chrysipp nicht nur zeigen wollte3, daß „an derWelt nichts
auszusetzen und zu tadeln" sei, sondern auch geradezu aus-
sprach4: „Weder ist es möglich, alle Schlechtigkeit überhaupt zu
beseitigen, noch wäre diese Beseitigung schön," das heißt wün-
schenswert. Und überhaupt beweist er ein lebhaftes Bewußtsein
davon, daß auch das, was an sich oder von unserem Standpunkte
aus als schlecht erscheint, dennoch zur Allseitigkeit, Harmonie
und Vollkommenheit des Weltganzen erforderlich sein mag „wie
der (absichtlich) ungeschickte und (darum) lächerliche Vers im
Drama"; denn „dem ganzen Gedicht verleiht auch das einen ge-
wissen Reiz, was an sich schlecht ist"5. Er selbst scheint aber
nun auch schon diese Lehre von der Vollkommenheit der Welt
dazu verwendet zu haben, um jedes einzelne Erlebnis, eben als
Teil dieses Ganzen betrachtet, als wünschenswert hinzustellen.
Denn nachdem er an einer schon angeführten Stelle6 gesagt
i) Frg. 1127 ff. (Arnim II), Frg. 333ff. (Arnim III). 2) Enchirid. 27. 3) Frg.
1178 (Arnim II). 4) Frg. 1182 (Arnim II). Vgl. Frg. 1169, 1176, 1181, 1184
(Arnim II). 5) Frg. 1181 (Arnim II). 6) Frg. 191 (Arnim III).
DIE STOA I 205
hatte: „Wüßte ich aber, daß es mir bestimmt ist, jetzt krank zu
sein, so würde auch ich das wünschen," fährt er fort: „Denn
auch der Fuß, wenn er Bewußtsein hätte, würde wünschen, be-
schmutzt zu werden." Das Gleichnis, das hier zu gründe liegt,
hat in Epiktets Ausführung1 näher folgende Gestalt: „In wel-
chem Sinne nun heißt von den äußeren Dingen das eine natür-
lich, das andere unnatürlich? Wenn man uns isoliert betrachtet.
Denn auch von dem Fuße werde ich sagen, es sei ihm natürlich,
rein zu sein. Aber wenn du ihn als Fuß nimmst, und nicht iso-
liert, dann wird es ihm anstehen, auch in den Schmutz zu treten,
auch auf Dornen, manchmal aber auch, amputiert zu werden
— im Interesse des ganzen (Menschen); andernfalls fungiert er
nicht mehr als Fuß. Etwas Ähnliches nun muß man auch bei
uns annehmen. Was bist du? Ein Mensch. Wenn du (dich) nun
isoliert betrachtest, wird es dir natürlich sein, alt zu werden,
reich und gesund zu sein; wenn aber als Menschen und als Teil
eines Ganzen, wird es dir im Interesse dieses Ganzen bald an-
gemessen sein, zu erkranken, bald eine gefahrvolle Seereise zu
unternehmen, bald zu verarmen, manchmal aber auch, vor der
Zeit zu sterben. . . . Denn was ist der Mensch? Ein Teil eines
Staates: zunächst jenes Götter und Menschen umfassenden Staa-
tes, sodann auch des Staates im engsten Sinne, der eine kleine
Nachbildung des Allstaates ist2." Und an einer andern Stelle3
sagt derselbe Stoiker: „Was ist der Beruf eines Bürgers? Kei-
nen privaten Nutzen zu haben, keine Sache vom Standpunkt der
Isoliertheit zu erwägen, sondern so, wie wenn die Hand oder
der Fuß Vernunft hätten und der natürlichen Ordnung (im
Geiste) folgen könnten; dann würden sie nämlich all ihr Wün-
schen und Sehnen auf das Ganze beziehen. Darum sagen die
Philosophen mit Recht: Wenn der Tüchtige die Zukunft voraus-
wüßte, so würde er mithelfen auch zum Kranksein, Sterben und
Verstümmeltwerden; da er nämlich einsehen würde, daß dies
1) Diss. II. 5. 24 ff. 2) Der Begriff des Allstaates (s. oben!) begegnet schon
bei der alten Stoa einmal im Dienste derselben Argumentation wie hier
(Frg. 333). 3) Diss. II. 10. 4.
206
NEUNTE VORLESUNG
von der Ordnung des Universums ihm so zugeteilt wird, und
daß das Ganze dem Teil, und der Staat dem Bürger vorgeht."
Müssen wir nun diese Ansichten im ganzen und großen als
eine angemessene Beschreibung des Erlösungsprozesses be-
zeichnen, so gilt in der Hauptsache dasselbe auch von jenen an-
deren Bestimmungen, die zusammen die stoische Affektenlehre
ausmachen. Ehe ich jedoch diese darstelle, gestatten Sie mir
wohl eine kurze psychologische Vorbemerkung.
In dem, was wir allgemein einen Affekt oder Erregungszustand
nennen, können wir zwei Elemente auseinanderhalten: ein Ele-
ment „Empfindung"undeinElement„Drang". Wenn ich Schmerz
fühle, so ist das Element des Dranges nach Änderung, die Wunsch-
verneinung, das Irgendwiefortwollen, dasjenige also, was mich,
wenn der Zustand sich steigert, um mich schlagen läßt — dieses,
sage ich, kann sehr wohl unterschieden werden von der bloßen
Schmerzempfindung, die ich als eine, wenn auch unbestimmte
Qualität an einer bestimmten Leibesstelle lokalisiere. Und das
eigentlich Peinigende ist nicht das zweite, sondern das erste
Element. Daher kommt es, daß man den Schmerz erträglich
machen kann, indem man die Aufmerksamkeit auf ihn konzen-
triert: es wird dadurch seine qualitative Bestimmtheit erhöht,
er wird bis zu einem gewissen Grade objektiviert, und der Drang,
das innerliche Sichsträuben, also das Subjektive des Zustands
(als welches zu jenem Objektiven stets im umgekehrten Ver-
hältnisse steht) wird auf diese Weise gedämpft. Dasselbe gilt,
mit den entsprechenden Veränderungen, von der Lust, und auch
von den anderen Affekten, wie Hoffnung und Furcht.
Die Stoiker nun unterscheiden diese beiden Elemente sehr
bestimmt. Sie behaupten, die Empfindung des Schmerzes,
respektive der Lust sei in der menschlichen Natur gegründet,
und auch der Weise sei ihr unterworfen; des inneren Dranges
aber, jenes Gefühls des Unaushaltbaren, beziehungsweise des
Die-Lust-erlangen-müssens — ihrer vermöge er Herr zu werden.
„Der Weise", sagt Chrysipp1, „empfindet Schmerz, aber nicht
_____
DIE STOA I
207
Qual; denn er gibt mit der Seele nicht nach." Und Seneca1:
„Er empfindet Schmerz. Denn die menschliche Empfindung
brennt keine Tugend weg. Aber er fürchtet ihn nicht. Unbesiegt
blickt er von oben auf seine Schmerzen." Und im Gegensatze
I zu den Kynikern, denen er mit Unrecht ein Ideal der Empfin-
dungslosigkeit andichtet, meint er2: „Dieser Unterschied besteht
zwischen uns und jenen: unser Weiser besiegt sein Leiden, aber
er empfindet's; der ihrige empfindet es nicht einmal." Und eben
dahin gehört auch das dem Poseidonios zugeschriebeneWort3,
das freilich theatralisch genug klingt: „Du setzest es nicht durch,
Schmerz! So lästig du seiest, nie werde ich zugeben, daß du ein
Übel bist." Die Stoa leugnet auch keineswegs, daß die Schmerz-
empfindung sich stets physiologisch bemerkbar machen, und
auch wohl Tränen auslösen werde; sie behauptet nur, daß bei
alledem die innere Freiheit gewahrt, und jener ganze patholo-
gische Zustand von unserem innersten Selbst als etwas ihm
Äußerliches betrachtet werden könne4. In unsere Sprache über-
setzt, heißt dies, der Affekt sei erst dann vollständig, wenn
die jeweils gegebene Empfindung oder Vorstellung zum Gegen-
stande einer Wunschbejahung oder Wunschverneinung gemacht
werde. Die Stoiker nun, in ihrer intellektualistischen Psycho-
logie, halten dafür, daß die Äußerungen des Begehrens stets
ein Urteil zur Voraussetzung haben5, wenn sie sie nicht gar,
wie Chrysipp6, in einem solchen sich erschöpfen ließen. Die
Affekte, lehrte Zenon7, seien gewisse unvernünftige Kontrak-
tionen, Depressionen, Exaltationen, Chocs und Diffusionen,
die auf das Urteil folgen (daß der Inhalt der gegebenen Vorstel-
lung ein Gut oder ein Übel sei). Diese Urteile nun können wahr
oder falsch sein. Sie sind falsch, wenn etwas als Gut oder Übel
beurteilt wird, was dies nicht ist (also namentlich ein äußeres
Ding). In diesem, und nur in diesem Falle heißt der Stoa der auf
i) Ep. 85. 29. 2) Ep. 9. 3; vgl. De brev. vit. 14. 2! 3) Cicero, Tusc. II. 25. 61.
4) Seneca, De ira I. 16. 7; II. 2—4; Epiktet, Enchirid. 16; Diss. I. 18. 19;
Chrysipp, Frg. 439, 441. 5) Frg. 380, 382, 383, 459. 6) Frg. 461. ?) Galen,
Hippoer. et Plat. IV. 3. Vgl. Frg. 384, 391—394, 406, 461, 463, 466, 468, 481.
208
NEUNTE VORLESUNG
das Urteil folgende Zustand ein „Affekt"1. Ist dagegen das zu-
grunde liegende Urteil richtig (erklärt es also eine Tugend für
ein Gut, oder eine Schlechtigkeit für ein Übel), dann nennt sie
den also begründeten Gefühlszustand eine „Wohlaffiziertheit"2.
Wir werden vielleicht besser tun, beide Zustände kurz als rich-
tige oder unrichtige Affekte zu unterscheiden. Das vielberufene
stoische Ideal der „Apathie" bedeutet also durchaus nicht einen
Zustand der Affektlosigkeit im Sinne des heutigen Sprachge-
brauches, sondern nur die Freiheit von unrichtigen Affekten.
Die „Eupathie" hingegen ist eingeschlossen in den Begriff der
„Apathie".
Wir wissen heutzutage mit einer so intellektualistischen Kon-
struktion nicht mehr sehr viel anzufangen; denn uns scheint
selbstverständlich, daß nicht die Urteilsbewertung primär ist,
sondern die Wunschbewertung: daß wir nicht etwas wünschen,
weil wir's für ein Gut halten, sondern es ein Gut nennen, weil
wir es wünschen. Auch die Stoiker selbst mußten sich davon
überzeugen, daß die bloße Einsicht in die Unrichtigkeit der Wert-
urteile nicht ausreicht, um das Wunschverhalten zu ändern: sie
meinten deshalb3, jene Fehlurteile seien nicht gewöhnliche Irr-
tümer, sondern eingewurzelte verkehrte Meinungen gleich den
Wahnvorstellungen der Geisteskranken, und jeder Unweise sei
eigentlich ein Narr4. Wir werden also von jenen Grundsätzen
der Affektenlehre, die uns bishervorgekommen sind, urteilen
müssen, daß sie zwar einer sehr gekünstelten Auffassung sich
bedienen, aber doch mit ihrer Hilfe eine fundamentale Wahrheit
ausdrücken wollen: daß nämlich das innerlich freie von dem
innerlich unfreien Erleben durch die Art und Weise sich unter-
scheidet, wie unser Wunschverhalten zu den vorgestellten Er-
lebnissen Stellung nimmt.
Obwohl nun die Gefühlszustände an sich bei richtigen und
unrichtigen Affekten natürlich von gleicher Art sind, so erschei-
nen sie doch als angemessen oder unangemessen, je nachdem
i) ndeoq. 2) eimdGeia: Frg.433, 435. 3) Stob. Ekl. II. p. 172 (Meineke). Vgl.
Frg. 421—430, 475, 478, 480. 4) Cicero, Parad. 4. Vgl. Frg. 658, 662—668.
DIE STOA I
209
sie an richtige oder unrichtige Werturteile sich schließen. Die
Stoa definiert daher1 den unrichtigen Affekt auch als einen
„übermäßigen Drang", oder als eine „unnatürliche Seelenbe-
wegung", der gegenüber dann der richtige Affekt als ein „angemes-
sener Drang" oder als eine „natürliche Seelenbewegung" bezeich-
net wird. Im einzelnen aber unterscheidet sie nun vier Haupt-
arten der unrichtigen Affekte: Begierde, Furcht, Trauer und
Lust2. Es sei also zum Beispiel3 die Begierde ein solches un-
vernünftiges Begehren, welchem die Meinung zugrunde liege,
es könnte ein Gut erlangt werden, dessen Gegenwart unser Le-
ben glücklich gestalten würde, und diese Meinung enthalte in
sich das Prinzip einer ungeordneten Seelenbewegung, indem
sie das Erwartete als ein wahrhaft Begehrenswertes hinstelle.
Und dem entsprechen die Definitionen der übrigen unrichtigen
Affekte4. So wird etwa die Geldgier (eine der 27 (!) Unterarten
der Begierde5) zurückgeführt auf die Meinung, daß das Geld ein
Gut sei6, und so fort. Die unrichtige Schätzung der Güter also
erzeugt die unrichtigen Affekte. Dagegen erzeugt ihre richtige
Schätzung richtige Affekte, und deren werden drei unterschie-
den7: der Begierde entspricht der Wunsch, der Furcht die Vor-
sicht, der Lust die Freude, die „beste der WohlafHziertheiten"8;
nur die Trauer findet begreiflicher Weise kein Gegenglied. Und
beide Reihen von Klassen werden dann mit chrysippischer Scho-
lastik noch vielfach weiter eingeteilt9. Diese „richtigen Affekte"
nun sind natürlich nicht, wie man wohl in älterer und neuerer
Zeit gemeint hat, Zugeständnisse an die gemeine Ansicht, und
auch nicht Freibriefe für geringere Stärkegrade der verpönten
Gefühlszustände — schon der Peripatetiker Kritolaos10 wollte
*) Frg. 377, 378, 389, 412, 462, 479. 2) Frg. 378, 381, 412. 3) Frg. 394. 4) Frg.
385—388, 391—393, 400, 404, 407, 412. 5) Frg. 397. 6) Frg. 456. 7) Frg. 431,
432, 437—439. 8) Frg. 436. 9) Mit jener Sucht „die Philosophie mit zahl-
reichen ungereimten und unnützen Namen anzufüllen", die an Chrysipp
(Frg. 255) schon Plutarch mit Recht verspottet, hat er schließlich 70 „un-
richtige« und 9 „richtige« Affekte unterschieden (Frg. 397, 401, 409, 414, 432).
1(J) Frg. 411 (Arnim III).
Gomperz, Lebensauffassung 14
210
NEUNTE VORLESUNG
in dieser Unterscheidung nur einen „Wortkampf" sehen — , son-
dern sie sind die notwendigen „Erzeugnisse der Tugend" l, näm-
lich des richtigen Wissens um Güter und Übel. Der Weise
verlangt nach den wahren Gütern. Dazu gehört nach stoischer
Lehre die tätige Gemeinschaft mit den Mitmenschen. Darum ist
er2 wohlwollend, sanftmütig, zärtlich, liebevoll. Er scheut die
wahren Übel. Darum fühlt er Scham und Scheu. Er hat
aber auch das Bewußtsein, jene zu besitzen, und von diesen frei
zusein. Darum empfindet erFröhlichkeit, Freudigkeit und Wohl-
gemutheit. Darin besteht seine „Affektlosigkeit", die genau zu
unterscheiden ist von der anderen „Affektlosigkeit" des Harten
und Stumpfen3: so wie dieser unter, so steht er über den un-
richtigen Affekten.
Sie bemerken, geehrte Zuhörer, daß diese Bestimmungen im
engsten Zusammenhange stehen mit denen des Diogenes und
des Theodoros. Die Fröhlichkeit und Wohlgemutheit sind von
jenem, die Freudigkeit ist von diesem übernommen. Aber die
stoische Affektenlehre stimmt nicht nur mit diesen älteren Ver-
suchen überein: sie ist auch eine im wesentlichen richtige psy-
chologische Beschreibung des Erlösungszustandes. Die Affekte,
die uns von den äußeren Dingen abhängig machen, sind ausge-
schaltet; jene, die aus dem eigenen Innern hervorquellen, sind
beibehalten und gesteigert. Die stoische „Eupathie" schließt
die affektiven Begleiterscheinungen der inneren Unfreiheit aus,
und gipfelt in jener Freudigkeit, die sich uns seinerzeit als cha-
rakteristisch für die innere Freiheit erwiesen hat.
i) Frg. 76. 2) Frg. 431, 432, 435. 3) Frg. 448.
DIE STOA II
ZEHNTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IR haben in der letzten Vorlesung die stoische
Lebensauffassung und das zu ihrem Ausdrucke
konstruierte System kennen gelernt, soweit
der Hauptpunkt der inneren Freiheit und
die aus ihm sich ergebende Art des Erlebens
in Betracht kommt: alle Erlebnisse sollen
wir als unselbständige Teile des Allgeschehens
auffassen, diesem mit freudiger Ergebung begegnen und so
auch mit jenen in allen Fällen wunschlos zufrieden sein.
Heute gilt es, die Kehrseite zu betrachten. Wir hörten ja: unser
Wünschen soll stets mit der verwirklichten Gegenwart sich
decken; unser Wollen aber soll in der Zukunft bestimmte
Zwecke selbst verwirklichen. Es fragt sich, was für Zwecke dies
sein mögen?
Und da sagte ich Ihnen schon neulich: was das innerlich freie
Tun angeht, stand die Stoa unter dem Einflüsse zweier ent-
gegengesetzter Motive. Die Schwierigkeit aber, um die es sich
handelt, ist unausweichlich, sobald das moralische Wertsystem
von dem ethischen nicht durchaus getrennt wird. Denn jeder
Versuch, die Normen des überlieferten Sittengesetzes aus der
Forderung der inneren Freiheit abzuleiten, stellt den Denker,
der ihn unternimmt, vor eine überaus bedenkliche Antinomie.
Zunächst muß für den Standpunkt der Stoa ein Gesichtspunkt
ausgeschaltet werden. Dem unvollkommenen Menschen er-
wächst aus seiner Anerkennung eines ethischen Ideals selbst-
verständlicherweise die Pflicht der Vervollkommnung, und diese
14*
212 ZEHNTE VORLESUNG
kann auch da, wo es um sein Tun sich handelt, Geltung bean-
spruchen. Er wird vieles tun und vieles unterlassen müssen,
um ethische Fortschritte zu erzielen und Rückschritte zu ver-
meiden. Aber diese ganze Betrachtungsweise ist durch die
stoische Fassung des Idealbegriffes ausgeschlossen. Wir sahen
ja, die Stoa fragt nicht: was müssen wir tun, um weise zu
werden?, sondern sie fragt: was würden wir tun, wenn wir
weise wären? Aber auf diese Frage kann es jedenfalls vom
spezifisch ethischen Standpunkte aus keine Antwort geben. Denn
aus der Pflicht der Vervollkommnung lassen sich keine Regeln
ableiten, die für den schon Vollkommenen gelten könnten. Für
den idealen Menschen von vollkommener innerer Freiheit kann
das Ideal der inneren Freiheit offenbar keine Norm des Handelns
an die Hand geben: alles, was er tun mag, muß ja dem Ideal
entsprechen; sonst wäre er, gegen die Voraussetzung, nicht der
ideale Mensch. Ethische Pflichten also können für den
Weisen nicht in Frage kommen.
Ganz anders steht es mit den moralischen Pflichten. Daß
der innerlich freie Mensch gegen seine Mitmenschen nur in be-
stimmter Weise handeln werde, ist eine an sich keineswegs
sinnlose Behauptung. Dafür aber stellt sich eben an diesem
Punkte um so bedrohlicher die erwähnte Antinomie ein.
Der „Weise" nämlich ist, wie wir wissen, unabhängig von
allen Schicksalen. Den Verlust von Ehre, Gut, Gesundheit und
Leben faßt er nicht als Übel auf. Diese Dinge haben für ihn
keinen wahren Wert. Dann aber, scheint es, können sie in
seinen Augen auch für die Anderen keinen wahren Wert haben.
Gesetzt also, er tastete durch seine Taten die Ehre, das Gut,
die Gesundheit oder auch das Leben seiner Nebenmenschen
an, so würde er ihnen damit doch keinen wahren Schaden zu-
fügen: alles, worüber er Gewalt hat, ist ja für sie nur ein
Äußeres; was aber für sie ein Inneres ist, ihre Tugend, Einsicht,
Freudigkeit, das kann er durch sein Handeln gar nicht erreichen.
Er kann also ihnen ebensowenig schaden wie sie ihm. Und
daraus folgt, daß aus dem Gesichtspunkte der inneren Freiheit
DIE STOA II
213
alle möglichen Arten, wie der Weise gegen sich selbst oder
andere handeln mag, als vollkommen gleichwertig sich dar-
stellen.
Dagegen gründet sich das überlieferte Sittengesetz gerade
auf die Voraussetzung, daß jenen äußeren Gütern ein Selbst-
wert zukomme. Denn es verpönt vor allen anderen jene Hand-
lungsweisen, durch die ein Mensch Ehre, Besitz, Gesundheit
und Leben seiner Mitmenschen gefährdet. Mit anderen Worten:
die Moralität ist der kristallisierte Niederschlag der egoistisch-
unfreien Wertungsweise, die sie nur zu einer altruistisch-un-
freien verallgemeinert; die Ethik der inneren Freiheit dagegen
beruht auf der grundsätzlichen Bekämpfung und Überwindung
dieser Wertungsweise. Wie also sollte es möglich sein, eben
jenes Gesetz aus dieser Forderung abzuleiten? In diese Anti-
nomie verstrickt sich jeder Versuch einer praktischen Philo-
sophie, der beide Gesichtspunkte anerkennt und sich dennoch
nicht entschließen kann, sie durchgehends rein zu scheiden:
die Ethik aufzufassen als eine ideale Forderung der Persönlich-
keiten an sich selbst und aneinander zu gunsten innerlich freier
Charaktergestaltung; die Moralität aber als eine praktische For-
derung der Individuen aneinander, zu gunsten von Zwecken,
die sie realisieren wollen — ganz ohne Rücksicht darauf, ob
dieses ihr Wollen bei dem einen aus unfreier, bei dem anderen
aus freier Gesinnung entspringen möge. Dieses Problem aber
erwies sich auch für die Stoa als ein zentrales und unausweich-
liches.
Nur einer hat sich von all diesen Schwierigkeiten frei erhalten:
des Schulgründers Zenon großer Schüler, Ariston von Chios.
Dieser hielt, im Gegensatze zu seinem Lehrer und zu seinen
Mitschülern, an der absoluten Wertlosigkeit aller äußeren Dinge
unverbrüchlich fest, und zog daraus die Konsequenz, daß es un-
möglich sei, ein den Weisen verpflichtendes Sittengesetz fest-
zustellen1. In dieser einseitigen, aber folgerechten Weise hat
') Vgl. hiezu £ankara (bei Deussen, Die Sutra's des Vedanta, S. 438):
„Der Verpflichtete wird verpflichtet, weil ein zu Meidendes oder zu Er-
214
ZEHNTE VORLESUNG
er zwar die Moralität und ihre Berechtigung völlig ignoriert,
dafür aber die Ethik der inneren Freiheit in der Reinheit ihres
Prinzipes durchgeführt.
Er leugnet, daß den menschlichen Handlungen ein verschie-
dener Wert zukommen könne, je nachdem sie gewisse äußere
Güter realisieren oder nicht. Vielmehr erklärt er den Zustand
der Indifferenz1 gegenüber ihnen allen für das ethische Ziel2.
In ihm allein besteht die Tugend, und sie ist deshalb nur eine,
wenn sie sich auch verschieden äußert. VerschiedeneTugenden
aber gibt es ebensowenig wie verschiedene Moralgebote. Die
einzige Tugend ist vielmehr die Erhabenheit über alles Äußere,
also die innere Freiheit; und diese ist ebenso einheitlich wie
die Sehkraft. Sowie man, sagt er3, diese, wenn sie etwas Weißes
sieht, Weißsehen, wenn aber Schwarzes, Schwarzsehen nennen
kann, so kann auch die eine Tugend Einsicht heißen, wenn sie
Handlungen zum Gegenstande hat, und Selbstbeherrschung,
wenn Gefühle usw. Einzelne sittliche Vorschriften aber sind
langendes vorhanden ist. Derjenige nun, ... für den nichts mehr be-
steht, was er vermeiden oder erlangen könnte, kann nicht verpflichtet
werden." (Vgl. ibid. S. 27.) Sofort wird auch die Konsequenz des Ari-
ston in Betracht gezogen, nämlich „daß derjenige, welcher die voll-
kommene Erkenntnis besitzt, weil auf ihn keine Verpflichtung mehr
Anwendung findet, nun handeln wird, wie es ihm beliebt". Diese Kon-
sequenz nun wird zwar abgelehnt, mit der Begründung, daß „dasjenige,
was zu allem Handeln antreibt, nur jener Wahn ist, und dieser Wahn
besteht nicht mehr bei dem, welcher die vollkommene Erkenntnis besitzt",
d. h. also, es wird ihr begegnet durch die Behauptung, der Weise werde
überhaupt nicht handeln. (Vgl. ibid. S. 42.) Allein es liegt auf der Hand,
daß hier die Möglichkeit einer nicht aus Bedürftigkeit, sondern aus Kraft-
fülle entspringenden Tätigkeit übersehen wird — eine Möglichkeit, die
doch derselbe Autor, wie ich anläßlich der Lehre des Heraklit gezeigt
habe, sehr wohl beachtet hat, wo es sich um das Tun Gottes handelt.
Sowie Gott müßte also auch der Weise folgerecht „bloß zum Spiel" han-
deln „wie es ihm beliebt" (wie übrigens ibid. S. 648 auch angedeutet wird)
— und eben diese konsequente Lehre ist die des Ariston, wie sich im
folgenden zeigen wird. !) 'Abmqpopi'a. 2) Cicero, Acad. prior. II. 42. 130;
De legg. I. 21. 55; De fin. IV. 17. 47; Diog. Laert. VII. 160. 3) Plut. De virt.
mor. 2, p. 440 f.; vgl. Galen, Hippoer. et Plat. V. 5 i. fin. und VII. 2 princ.
DIE STOA II
215
für den Weisen überflüssig und für den Toren unnütz: „Wenn
ein Mensch, meint er1, die Tugend als das alleinige Gut lieben
und die Schlechtigkeit als das einzige Übel hassen gelernt, alles
andere aber, wie Reichtümer, Ehren, Gesundheit, Kraft und
Macht als ein Mittleres erkannt hat, das weder zu den Gütern
noch zu den Übeln zu rechnen ist; dann wird er niemanden
brauchen, der ihm sagt: So sollst du spazieren gehen, so sollst
du essen, dies geziemt einem Manne, das einer Frau, dies einem
Verheirateten, das einem Ledigen. . . . Wer, fährt er fort2, einem
Wahnsinnigen Vorschriften geben wollte, wie er sprechen, wie
er dahergehen, wie er sich in der Öffentlichkeit, wie im Privat-
leben benehmen solle, — der wäre verrückter als jener, dem er
seine Ratschläge gibt: seine schwarze Galle muß man kurieren,
und den Grund des Wahnsinns entfernen. Dasselbe gilt auch
von diesem anderen Wahnsinn: ihn selbst muß man vertreiben."
Wie aber wird denn nun der Weise handeln? Auch auf diese
Frage gibt Ariston eine unzweideutige Antwort: wenn er wirk-
lich vollkommen ist, dann kann er tun, was er will. „Wunder-
bar und herrlich, sagt er3, wirst du leben, wirst tun, was dir
gerade einfällt, niemals eine Gier empfinden, und niemals eine
Furcht." Dieses „Tun, was ihm einfällt", bedeutet aber natür-
lich nicht ein planloses Tasten, sondern der Weise wird sich
zur Auswirkung seiner Kraft bestimmte Zwecke setzen, und die
zu ihrer Verwirklichung tauglichen Mittel anwenden. Auch dies
weiß Ariston sehr wohl4: er werde die indifferenten Dinge je
nach den Umständen vorziehen, gerade so, wie man D, I oder
O voranstelle, je nachdem man Dion, Ion oder Orion schreiben
wolle. Und für diese souveräne Erhabenheit des innerlich freien
Menschen über die äußeren Dinge hat sich auch dem Ariston
wieder, als ihr angemessenster Ausdruck, das Spielgleichnis
aufgedrängt5: der Weise gleiche einem guten Schauspieler, der,
ob er nun in der Rolle des Agamemnon auftrete oder in der
i) Seneca, Ep. 94. 8. 2) Seneca, Ep. 94. 17. 3) Cicero, De fin. IV. 25. 69;
vgl. auch besonders IV. 16.43! 4) Sext. Emp. adv. Math. XI. 64 ff. 5) Diog.
Laert. VII. 160.
216
ZEHNTE VORLESUNG
desThersites,sie beide gleichgut durchführen werde. Sowenig
soll der moralische Wert des Lebensinhalts den ethischen
Wert der Lebensführung berühren. Dieses Bild aberkennen
wir schon von dem Kyrenaiker Bion her, der ein ganz ähnliches
gebraucht hat. Und auch das ist beachtenswert, besonders, wenn
wir erwägen, daß auch die übrigen Sätze des Bion („Wie das
Greifen, so das Beißen" usw.) eine ganz stoische Lebensauf-
fassung bekunden. Auch waren Ariston und Bion so ziemlich
genaue Zeitgenossen. Dies alles aber erwähne ich, weil uns von
Ariston berichtet wird1, er sei „zur Lustlehre abgefallen".
Was aber diese Nachricht besagen will, wird uns nun ziemlich
klar sein: daß nämlich diese beiden Richtungen, die von so ver-
schiedenen Seiten her das Ideal der inneren Freiheit am reinsten
erfaßt hatten, sich dieser Übereinstimmung auch bewußt ge-
worden sind, und daß etwa Ariston es nicht verschmäht haben
wird, die „Freude" des Theodoros als den Gefühlszustand des
„Weisen" anzuerkennen. Diese über die Grenzen der Sekten
hinausgreifende Annäherung aber, die uns die Quellen gerade
noch erraten lassen, und welche für die törichte Beschränktheit
dogmatischer Schulstandpunkte als ein „Abfall" erschien, wird
uns in gewissem Sinne als der höchste Punkt gelten dürfen, den
die Lebensauffassung der griechischen Philosophen überhaupt
erreicht hat.
Die Stoa als Ganzes aber, geehrte Zuhörer, besaß nicht die-
selbe Freiheit gegenüber dem allgemeinen Bewußtsein und der
Tradition. Sie konnte sich keinen Weisen denken, der nicht zu-
gleich ein guter Gatte, Vater und Bürger wäre2. Auch für ihn
also, so empfand sie, muß es noch eine bindende moralische
Norm geben, die ihn hindert, sich über Leben, Gesundheit, Be-
sitz und Ehre seiner Nächsten hinwegzusetzen. Allein wie diese
Norm begründen, wenn doch der Weise diese selben Dinge
gering achten soll, sofern sie ihn selbst betreffen? Hier glaubte
Zenon einen Ausweg gefunden zu haben — ja, er hat in der
Tat einen gefunden, dem nur freilich schwere Bedenken anderer
i) Athen. VII. p. 281c ff. 2) z. ß. Frg. 697, 731 (Arnim III).
DIE STOA II
217
Art anhängen. Diese werden wir später zu berühren haben;
jetzt aber ist die Lehre selbst darzustellen, die wir zwar aus ein-
zelnen Äußerungen späterer Nachfolger uns rekonstruieren
müssen, die aber doch ohne Zweifel schon dem Schulgründer
angehört, da alle ihre Hauptbegriffe ausdrücklich auf ihn zu-
rückgeführt werden1. Ihr wesentlicher Inhalt aber ist der fol-
gende.
Alle Organismen üben von Natur gewisse Funktionen aus,
die in ihrer Selbsterhaltung gipfeln2. Diese Funktionen heißen
die ihnen „eigentümlichen Tätigkeiten"3, und zeigen sich schon
bei Pflanzen und Tieren4 (weshalb man jenen Ausdruck keines-
falls durch „Pflichten" wiedergeben darf). Sie richten sich auf
die Herstellung gev/isser „natürlicher" Zustände, wie Leben3
Gesundheit oder Kraft5, welchen eben deshalb ein „Wert"6 für
den Organismus zukommt7; nur ist dieser biologische Wert
streng zu unterscheiden, nicht nur vom ökonomischen, sondern
auch vom ethischen Werte8. Er äußert sich aber bei selbstbe-
wußten und vernünftigen Wesen, wie beim Menschen, darin, daß
er der Gegenstand eines „Triebes"9 ist, oder, wie man auch
sagen kann, einer „Wahl" 10, indem der Mensch instinktiv die
einen Zustände vorzieht, die anderen nicht. Jene heißen des-
halb die „vorzüglichen", diese die „unvorzüglichen"11. Nun aber
ist der Mensch nicht ein isoliertes Wesen, sondern steht mit
allen anderen Geschöpfen in dem allgemeinen Weltzusammen-
hange, und lebt deshalb nur dann der Natur entsprechend, wenn
er nicht nur seine eignen, sondern auch die fremden biologi-
schen Werte zu realisieren sucht12. Es gehört also zu seinen
„eigentümlichen Tätigkeiten" nicht nur die Sorge um sein
eigenes Leben, seine eigene Gesundheit, seine eigene Kraft,
l) So das ouoXofouiuevuuc; fr) qpuaci lf\v bei Diog. Laert. VII. 87; die opjiui
ibid. VII. 4; das kciGtikov ibid. VII. 25; die Trporyfiueva und änoirporyfiueva bei
Stob. Ekl. II, p. 156 (Meineke) und Cicero, de fin. IV. 25. 69 ff. 2) Frg. 178
—183, 187. 3) KaetiKovxa: Frg. 186, 188,497. 4) Frg. 493, 494. 5) Frg. 140,
141, 497. 6) 'Agfa. ?)Frg.l43. 8) Frg. 124— 126. 9) fOpuri: Frg. 178. 10) '6KXoTn:
Frg. 118. Vgl. Frg. 142, 190—196. n) TTporrruiva, 'AiroirporiYiueva: Diog. Laert.
VII. 104—107. Vgl. Frg. 128—136. 12) Frg. 4. Vgl. Frg. 333—339.
218
ZEHNTE VORLESUNG
seinen eigenen Reichtum, kurz, um seine eigenen „vorzüglichen"
Zustände, sondern auch die um die entsprechenden Werte seiner
Eltern, Freunde, Mitbürger usw.1: auch ihre biologische Wohl-
fahrt ist für ihn „vorzüglich"2. Biologisch „wertvoll" und „vor-
züglich" sind mithin gleichwertige Begriffe3, und der Inbegriff
der unter sie fallenden Zustände bildet den Gegenstand der
dem Menschen „eigentümlichen" natürlichen Tätigkeit. Das
Wissen nun (um diese „eigentümlichen" Tätigkeiten) ist die
Tugend4 (als die „Vollendung" der menschlichen Natur5); und
wenn jene Tätigkeiten aus diesem Wissen um ihre Bedeutung
hervorgehen (und damit zugleich nicht als zufällige Einzelhand-
lungen, sondern als Glieder einer auf Grundsätzen beruhenden
Lebensführung sich darstellen, mithin als „der Tugend gemäße
Tätigkeiten"6, die durch „den Charakter des Sicheren und Habi-
tuellen und durch eine eigene Festigkeit"7 ausgezeichnet sind),
dann heißen sie „richtige Tätigkeiten"8, im Gegensatze zu jenen
nur äußerlich und zufällig der Norm konformen Akten, die nicht
aus einem solchen Bewußtsein entspringen und darum nur als
ethisch „indifferente eigentümliche Tätigkeiten"9 bezeichnet
werden10. Es ist also dieselbe äußere Handlung, je nachdem sie
jenes innere Wissen zur Voraussetzung hat und aus ihm ent-
springt, oder nicht, bald eine „indifferente eigentümliche", bald
eine „richtige" Tätigkeit: das bloße „Spazierengehen" zum Bei-
spiel, oder das bloße „Schuldenzahlen" gehört in die erste, das
„vernünftige Spazierengehen" aber, und das „gerechte Schulden-
zahlen" in die zweite Kategorie11. Wer nun in jeder Lebenslage
die „richtige Tätigkeit" setzt, deriebt „in Übereinstimmung mit
der Natur"12, und diese Übereinstimmung ist das oberste ethi-
sche Ziel13, das einzig wahre Gut14 und der absolute Wert, das
i) Frg. 340—348, 495, 731. 2) Frg. 136. Vgl. Frg. 309, 318. 3) Frg. 122, 126, 145.
4) Frg.265. Vgl. Frg. 198, 200a, 264, 278, 283. 5) Frg. 257, 260. 6) ' evep^ata
kcct dpexi^v. 7) Frg.510. Vgl. Frg. 542. 8) KaxopGaijuara. 9) Meöa KaG^KOvra.
10) Frg. 494. Vgl. Frg. 284. ") Frg. 498, 501. Vgl. Frg. 511, 512, 515, 516.
12) f OjuoAoyou|U€vuj<; Tfj cpüaei. 13) Frg. 4 — 9. 14) Unter den Begriff des
wahren Gutes fallen daher streng genommen nicht nur die Tugenden,
sondern auch ihre Träger, Äußerungen, Wirkungen usw., wie denn Chry-
DIE STOA II
219
Glück1. Aber nun beachten Sie wohl: dies alles gilt von den
„richtigen Tätigkeiten" als solchen, und ohne Rücksicht darauf,
ob sie auch das „Vorzügliche" realisieren2. Denn die Setzung
der Tätigkeit steht bei uns, ihr Erfolg aber nicht; und nur was
bei ihm steht, ist für den Stoiker ein Gut. Es ist mithin zwischen
dem Wahlwert und dem Glückswert auf das genaueste zu
unterscheiden3: die biologischen Werte und Unwerte, das
„Vorzügliche" und „Unvorzügliche" bestimmen den Inhalt des
richtigen Handelns, aber ihr Besitz ist für das Glück vollkommen
indifferent4. Denn gut ist nur, was nützt, schlecht, was schadet5;
der Besitz jener äußeren Güter aber ist weder nützlich noch
schädlich,vielmehr hinsichtlich der menschlichenVortrefflichkeit
durchaus gleichgültig6. Mit anderen Worten: diese Dinge haben
einen relativen Wert, insofern sie den Inhalt der sittlichen
Tätigkeit bestimmen; der einzig absolute Wert aber besteht
! in der Kenntnis und grundsätzlichen Ausübung dieser Tätigkeit
selbst. Im Sinne dieser Lehre hat deshalb Antipater von Tarsos
das ethische Ziel ganz richtig darein gesetzt7, man müsse „kon-
sequent und unverbrüchlich alles, was bei einem steht, tun, um
| das von Natur Vorzügliche zu erlangen"; ebenso bestimmt
| auch der Skeptiker Karneades das ethische Prinzip der Stoa
vollkommen korrekt, wenn er sagt8: „Alles zu tun, um das der
Natur Entsprechende zu erlangen, auch wenn wir es nicht er-
reichen, sei nach der Meinung der Stoiker sittlich, allein um
seiner selbst willen anzustreben, und das einzige Gut"; und
| endlich bezeugt dasselbe Plutarch mit den Worten9: „Denn
das Ziel besteht in der vernünftigen Auswahl . . jener (biologi-
schen Werte10); diese selbst aber und ihr Besitz sind nicht das
sipp (Frg. 95— 108) dies mit ebenso unfruchtbarer Spitzfindigkeit als un-
erträglicher Breite auseinandergesetzt hat. Ein Eingehen auf diese Auf-
j Zählungen und Einteilungen aber wäre hier nicht nur zwecklos, sondern
zweckwidrig. 1) Frg. 126. 2) Frg. 504, 505, 507, 509. 3) Frg. 118. Vgl. Frg. 195.
(Die üH(a €k\€ktiki^ ist deshalb noch nicht öu|uß\r|TiKri Trpöc; töv euocu'uova
ßfov). 4) 'Aoidcpopov. 5) Frg. 75, 76. 6) Frg. 117. 7) Antipater Frg. 57; vgl.
Frg. 58 und Diogenes v. Babylon Frg. 44—46 (Arnim III). 8) Cicero, de fin
V. 7. 20. Vgl. Frg. 18, 497. 9) Frg. 195. ">) TTptfrra Kcnra <J>uaiv.
220 ZEHNTE VORLESUNG
Ziel, sondern gleichsam nur der Stoff" (an dem es verwirklicht
werden soll). Ich wiederhole also noch einmal kurz die Lehre
der Schule: es gibt „Vorzügliches"; die auf Verwirklichung des-
selben gerichtete Tätigkeit heißt die dem Menschen „eigen-
tümliche"; das richtige Wissen um diese Tätigkeiten ist die
„Tugend"; diese Tätigkeiten selbst aber, sofern sie aus diesem
Wissen hervorgehen, sind das einzig wahre Gut, und zugleich
das Glück.
Diese schwierige Konstruktion, mit ihrem doppelten Wertbe-
griffe, ist in älterer und neuerer Zeit vielfach mißverstanden
worden. Man hat gemeint, sie bedeute ein Zugeständnis an die ge-
wöhnliche Lebensauffassung: die äußeren Dinge, welche die Stoa
als „Güter" nichthabe anerkennen wollen, habesieals „Vorzüg-
liches" doch wieder eingeführt, und so durch die bloße Ände-
rung eines Wortes mit der Strenge der Grundsätze sich ab- j
finden wollen. Cicero wird in seiner Schrift „von den
Zielen"1 nach dem Vorgange griechischer Autoren nicht müde,
sich hierüber lustig zu machen; und auch Plutarch äußert sich
in ähnlicher Weise2, wenn er auch die stoische Lehre selbst
mit weit größerem Verständnis auffaßt und darstellt, als der
römische Kompilator. Auch in modernen Werken findet sich
dieses ganze Lehrstück unter der Rubrik „Milderung des sitt-
lichen Idealismus". Allein diese ganze Betrachtungsweise ist
der Absicht der Stoa durchaus unangemessen. Ihr zufolge soll
das „Gute" ein Wissen sein, nämlich die „Tugend", das „Vor-
zügliche" aber der Inhalt dieses Wissens. In diesem Zusammen-
hange die Frage aufwerfen, ob nicht neben der Tugend auch der
Besitz der äußeren Güter einen Wert habe, ist nicht anders, als
wollte man einer Lobpreisung der Geometrie durch den Ein-
wand entgegentreten, dann müßte doch auch den Dreiecken
ein selbständiger Wert zugestanden werden.
Freilich,wenn man einmal umjeden Preisden Versuchmachen
will, die auf einen doppelten Wertbegriff gegründete Lehre der
Stoa unter Zugrundelegung einer einheitlichen Wertskala dar-
i) De fin. IV. und V. 2) De comm. not. 4, p. 1060c ff. und 26, p. 1070 ff.
DIE STOA II
221
zustellen, dann entsteht die Schwierigkeit, daß dieselben Objekte
einerseits „indifferent", andererseits „wertvoll" sein sollen *.
Aber an dieser Schwierigkeit ist dann nicht die kritisierte Lehre
| schuld, sondern der Kritiker, der es unternimmt, sie in unange-
messenen Begriffen zu formulieren. Dieses Unternehmen aber
\ ist allerdings schon früh, und keineswegs nur von gegnerischer
Seite gewagt worden. Die korrekte Lehre ist die2, man rede von
Indifferenz in zweifachem Sinne3: einmal, sofern das Indifferente
nichts zum Glück oder Unglück beitrage, und in diesem Sinne
I seien Reichtum, Gesundheit, Ehre usf. indifferent; sodann,
insofern das Indifferente keinen natürlichen Trieb (des Be-
gehrens oder Verabscheuens) errege, und in diesem Sinne
seien nur solche Dinge indifferent wie die Anzahl der Kopf-
haare, oder das Ausstrecken eines Fingers. Aber doch haben
auch schon die alten Stoiker zugegeben4, dem „Vorzüglichen"
komme eine „zweite Stelle und ein sekundärer Wert zu, und es
nähere sich in gewisser Weise der Natur des Guten". Und sehr
bedenklich wird diese Zweideutigkeit, wenn Seneca erklärt5,
bei ihm nähmen die Reichtümer einen gewissen Rang ein, bei
der Masse der Menschen aber den obersten.
In gewisser Weise liegt hier freilich ein Widerspruch vor.
Aber er liegt nicht da, wo man geneigt ist, ihn zu suchen. Er
entsteht nicht aus einer schwankenden Schätzung der äußeren
Güter, sondern aus der Zwiespältigkeit der Gesichtspunkte, daß
der Weise dieselben Dinge für nichts achten soll, sofern sein
Besitz in Frage kommt, und sie doch wieder in Ehren halten,
sofern es sich um ihren Besitz durch andere handelt. So wirft
zum Beispiel Plutarch dem Chrysippos6 vor, er rechne auf
der einen Seite das Leben nur zu den von Natur indifferenten
Dingen, sage aber auf der anderen doch: es sei auch für den
Toren besser zu leben als nicht zu leben, selbst wenn er nie
weise werden sollte. Aber was hätte Chrysipp anderes sagen
1) Vgl. Chrysipp Frg. 137 (Arnim III). 2) Frg. 118—122. 3) Ein dritter Sinn
der Indifferenz (Gleichwertigkeit) kann hier außer Betracht bleiben. 4) Frg.
128. 5) De Vit. beat. 22. 5. 6) Frg. 760. Vgl. Frg. 761, 762.
222
ZEHNTE VORLESUNG
sollen, wenn er doch nach der feststehenden Doktrin seiner
Schule zwar das Ermordetwerden nicht für ein Übel halten
durfte, wohl aber das Ermorden für ein solches erklären mußte?
Derselbe Autor rückt dem Chrysipp1 die Äußerung vor, der
Weise werde die Rede- und Staatskunst so betreiben, als ob
Reichtum, Ehre und Gesundheit Güter wären. Aber dies ver-
steht sich von selbst, wenn er jene Künste gerecht ausüben
soll. Denn die Gerechtigkeit beruht auf der Voraussetzung eines
Wertes der äußeren Güter, und eben in diesem ihrem, durch
den „Trieb" offenbarten „Wert" besteht jene „Natürlichkeit"
von Recht und Gesetz, die derselbe Chrysipp behauptet2. Der
Weise also muß — nichts anderes wird hier behauptet — als
Staatsmann einen Wert der äußeren Güter für die Regier-
ten voraussetzen; denn nur auf Grund dieser Voraussetzung
kann er sowohl die Zivil- wie die Kriminaljustiz verwalten.
Wollte er von dieser Voraussetzung abgehen, dann könnte er
nur mit Aristo n „tun, was ihm gerade in den Sinn kommt", wäre
somit an keine allgemein gültige Regel mehr gebunden. Die
Anerkennung eines relativen Wertes des „Vorzüglichen" und
die eines allgemeinen Sittengesetzes sind eben logisch unzer-
trennlich: Ariston konnte jenen nur leugnen, weil er auch die-
ses bestritt3; so wie man aber das letztere beibehalten wollte,
mußte man auch den ersteren in irgend einer Form einführen.
Der angebliche Widerspruch der stoischen Ethik ist ja in
unserer heutigen Sittlichkeit genau so enthalten, weil auch wir
die radikale Trennung der ethischen von der moralischen Be-
urteilung noch nicht durchgeführt haben. Wenn ich den Ver-
lust einer größeren Geldsumme als indifferent empfinde, werde
ich geachtet; nehme ich aber diese selbe Summe einem anderen
l) Frg. 698. 2) Frg. 308 ff., 611. 3) Vgl. Frg. 26 u.27 (Arnim III). An der letz-
teren Stelle sagt Chrysipp gegen Ariston (von seinem Standpunkt aus
ganz konsequent): „Denn wer behauptet, allein die Sittlichkeit habe einen
Wert, der hebt damit die Pflege der Gesundheit, die Verwaltung des Ver-
mögens, die Regierung des Staates, die Regeln des geschäftlichen und
die Formen des privaten Lebens auf, und gibt so schließlich auch jene
Sittlichkeit selbst Preis, in der er alles aufgehen lassen wollte."
DIE STOA II
223
weg, dann bin ich ein Gegenstand der Entrüstung. Wer eine
Einbuße an Ehre geduldig erträgt, wird von der christlichen
Moral wegen seiner Gottergebenheit gerühmt; wer aber dieselbe
Einbuße einem andern zufügt, wird von ihr als Ehrabschneider
verdammt. Wenn nun ein Marsbewohner auf die Erde herab-
käme, bei uns eine einheitliche Wertskala voraussetzte, und uns
fragte: gilt bei euch die Ehre als ein Gut? — was könnten wir
ihm antworten? Auch wir müßten erwidern: ein Gut in dem
! Sinne, daß sich der Weise um ihren Verlust grämen würde,
ist sie nicht; wohl aber in dem Sinne, daß die Menschen von
j Natur vorziehen, sie zu besitzen, und deshalb auch von dem
Weisen verlangen, daß er sie ihnen nicht nehme. Nichts anderes
aber drückt auch der stoische Wert-Dualismus aus: er ist das
Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem Ideale der inneren
Freiheit und dem Postulat eines allgemeinen Sittengesetzes; und
| ich sehe nicht, wie ein solches Kompromiß vermieden werden
könnte, solange wir an dem Freiheitsideale festhalten wollen,
und doch in der Ethik vor dem Immoralismus des Ariston
zurückschrecken.
Der stoischen Fassung dieses Kompromisses aber muß nach-
I gerühmt werden, daß sie das Wesentliche des Freiheitsbewußt-
seins wahrt, ohne doch etwas psychologisch Widersprechendes
\ zu verlangen. Denn die beiden Wertungsweisen können in der
; Tat nebeneinander bestehen: der stoische „Weise" hätte seine
„Triebe" soweit unterdrückt, daß sie ihre Bedeutung für das
Wunschverhalten verlieren, für das Willensverhalten
aber bewahren. Er liebt die Reichtümer nicht, sagt Seneca1,
aber er zieht sie vor. Er „fühlt kein Mitleid, aber er hilft"2.
Und, so hörten wir schon neulich, während ihm das Wünschen
verboten wird, wird ihm doch das Wollen gestattet3.
So gipfelt also die stoische Lehre, wie wir sie bisher darge-
stellt haben, in einer Lebensauffassung, für die allein das Tun
Bedeutung hat, nicht aber dasjenige, was durch dieses Tun er-
1) De Vit. beat. 21. 4. 2) Seneca, de clem. II. 6. 4. Vgl. Frg. 450—452, 641.
1 3) Seneca, Ep. 116. 1. Vgl. Frg. 196!
224
ZEHNTE VORLESUNG
reicht wird. Die Lebensgüter sind für den Menschen bloß der
Stoff, an dem er sich zu betätigen hat1; und ganz allein von der
Art dieser Betätigung hängt ebenso sein Glück wie sein Wert
ab. Diese Denkweise bezeugen uns die Quellen vielfach. „Der
Ruhmsüchtige, sagt Marc Aurel2, hält eine fremde Tätigkeit
für ein eigenes Gut; der Genußsüchtige eine eigene Passivität;
der Verständige sein eigenes Tun." Und ferner3: „Nicht im Er-
leiden, sondern im Wirken liegt Gut und Übel des vernünftigen,
gesellschaftlichen Wesens, sowie auch seine Tüchtigkeit und
Schlechtigkeit ..." Ebenso Seneca4: „Du meinst, der Weise
werde von den Übeln belästigt? Er gebraucht sie. So wie
Phidias nicht nur in dem kostbaren Elfenbein, sondern auch
in dem geringeren Marmor hätte arbeiten können, so wird auch
der Weise zwar, wenn er kann, seine Vortrefflichkeit im Reich-
tum entfalten, wenn aber nicht, in der Armut." Ebenso verhalte
es sich mit Vaterland und Exil, mit Feldherrn- und Soldaten-
stand, mit Stärke und Schwäche: „Welches Schicksal immer
er empfange, er wird etwas Bedeutendes daraus gestalten."
Epiktet aber erklärt geradezu5: „Sowie der Stoff des Zimmer-
mannes Holz ist, und der des Statuengießers Erz, so ist der Stoff
der Lebenskunst das eigene Leben eines Jeden." Und näher
führt er aus6: „Ist Gesundheit ein Gut, Krankheit ein Übel?
Nein, Mensch! Sondern, in der rechten Weise gesund sein, ist
ein Gut; in der unrechten ein Übel. So daß man sogar aus der
Krankheit Vorteil ziehen kann. Bei Gott! Oder meinst du, aus
dem Tode nicht? aus der Verstümmelung nicht? . . . Aus Allem.
Aber auch von dem, der Einen schmäht? Und welchen Vor-
teil hat der Athlet von dem, der ihn einübt? Den allergrößten!
Und dieser übt mich ein: er lehrt mich das Ertragen, die Zorn-
losigkeit, die Sanftmut. ... Ein schlechter Nachbar? Ja, für sich
selbst! Für mich aber gut: er lehrt mich Milde und Anstand.
Ein schlechter Vater? Sich selbst; mir aber gut. Das ist der
Zauberstab desHermes Trage Krankheit, Tod, Mittellosigkeit,
i) Frg. 195. 2) eiq eauTÖv VI. 51. 3) ei<; eauxöv IX. 16. *) £p. 85. 39f.; vgl.
De vit. beat. 22. 1 ff.! 5) Diss. I. 15. 1. 6) Diss. III. 20. 4 ff.
DIE STOA II 225
Schmach, Todesurteil: durch den Stab des Hermes wird all
das zu Vorteil .... Was immer du nennst, ich will daraus
etwas Beseligendes, Beglückendes, Erhabenes, Beneidenswertes
machen."
Legt aber so die stoische Lebensauffassung alles Gewicht auf
die Tätigkeit, und weder auf den Stoff, an dem diese vor sich
geht, noch auf den Erfolg, den sie verwirklicht, so liegt auf der
Hand, daß diese Tätigkeit jetzt nicht mehr gedacht werden kann
als eine ernste, vielmehr gedacht werden muß als eine spie-
lende. Denn wir wissen ja: eben das macht das Wesen des
Ernstes aus, in seinem Gegensatze zum Spiel, daß bei ihm die
Tätigkeit gleichgültiges Mittel ist für bestimmte Erfolge, bei je-
nem aber der Erfolg gleichgültige Wirkung einer beliebigen Tä-
tigkeit. Die Gleichung: Leben=Spiel erscheint daher von vorn-
herein als der angemessenste bildliche Ausdruck für jenes Be-
griffssystem. In der Tat wird sie in dieser Funktion reichlich
verwendet. Schon Chrysipp1 hat in ausführlicher Weise das
Bild des Ballspiels herangezogen, um die rechte Weise zu er-
läutern, in der Wohltaten zu erweisen und zu empfangen sind,
und schon dies kann kaum ohne die Absicht geschehen sein, im
Gegensatze zu der „Indifferenz" des zugewendeten äußeren Vor-
teils alles Gewicht auf die Art der Zuwendung, also der Betäti-
gung an jenem gleichgültigen Stoffe, zu legen. „Die Stoffe, sagt
dann weiter Epiktet2, sind indifferent, ihr Gebrauch ist nicht in-
different. Wie also soll man zugleich die Ruhe bewahren und sich
| nicht erregen, und doch zugleich bei der Sache, nicht nachlässig
1 und nicht flüchtig sein? Wenn man die Würfelspieler nachahmt.
| Die Spielmarken sind indifferent. Die Würfel sind indifferent.
Wie kann ich wissen, was fallen wird? Aber die (geschehenen)
Würfe mit Kunst und Sorgfalt verwerten — das ist meine Auf-
i gäbe." So auch im Leben. „Sei sorgfältig; denn was du tust,
ist nicht gleichgültig. Aber doch zugleich ruhig und erregungs-
los; denn die Dinge sind gleichgültig. Du wirst sehen,
. —
l) Frg. 725. 2) Diss. II, 5. 1 ff.
Gomperz, Lebensauffassung |5
226
ZEHNTE VORLESUNG
daß es so auch die geschickten Ballspieler machen. Keinem ist
etwas an dem Ball gelegen, als ob der ein Gut oder ein Übel wäre;
sondern am Schlagen und Auffangen. Darin besteht die Wohlge-
setztheit, darin die Kunst, die Raschheit, die Gewandtheit, daß j
ich, ohne auch nur die Brust zu bewegen, ihn auffangen kann; |
und der andere ihn bekommt, wenn ich werfe. Wenn wir ihn j
aber mit Aufregung und Angst fangen und werfen, was ist das J;
noch für ein Spiel? . . . Das ist eine Schlacht, aber kein Spiel! i
So konnte also auch Sokrates Ball spielen. — Wieso? — Im r
Gerichtssaal spielen. (Denn) er spricht ... als ob er mit einem I
Ball spielte. Was für ein Ball ward da geworfen? Das Leben, |t
die Freiheit, die Verbannung, der Verlust seines Weibes, das V;
Zurücklassen von Waisenkindern. Damit spielte er; aber er 1
spielte nichtsdestoweniger, und warf den Ball mit Anstand."
Daß aber dieses Bild nicht nur zufällig einmal gewählt wird, son- i
dem dem Philosophen als adäquater Ausdruck seiner Lebens- i
auffassung stets gegenwärtig ist, das zeigen Stellen, wie die fol- j
genden1, an denen es bloß anspielungsweise herangezogen wird: ! )•
Ich will ja gar nicht in den Kaiserpalast hineingehen2, brauche
mich also auch nicht aufzuregen, wenn mich die Garde nicht
hineinläßt. — Aber warum versuchst du's denn überhaupt, \
und kommst her? „Weil mir scheint, ich müsse mitspielen, so- \
lange das Spiel dauert." Oder3: man soll sich gegen den Macht- \
haber verhalten wie Sokrates gegen die dreißig Tyrannen.
„Das Spiel durchführend gehe ich zu ihm und gehorche, solang
er mir nichts Schlechtes oder Unanständiges befiehlt. Wenn er
mir sagt: verhafte den Leon von Salamis!, da sag' ich: ich spiel'
nicht mehr mit. — Verhaftet ihn selbst! — Da spiel' ich weiter.0
Die folgende Äußerung Jean Pauls4 entbehrt daher nicht der
Komik: „Der, für den das ä u ß e re (bürgerliche, physische) Leben
mehr ist als eine Rolle: der ist ein Komödiantenkind, das seine
i) Vgl. auch Diss. I. 24. 20 — eine Stelle, die unten in anderem Zusammen-
hange anzuführen sein wird. 2) Diss. IV. 7. 19. 3) Diss. IV. 7. 30. *) „Über
die natürliche Magie der Phantasie", 1. „Jus de tablette für Mannsperso-
nen", Anhang zum „Quintus Fixlein" (Werke, Band III, S. 203).
DIE STOA II
227
Rolle mit dem Leben verwirrt und das auf dem Theater zu
weinen anfängt. Dieser Gesichtspunkt... erhebt zu einer
Standhaftigkeit, die erhabener, seltener und süßer ist als die
stoische Apathie." Schiefer nämlich kann man die Lehre der
Stoa nicht auffassen; denn eben dieser „Gesichtspunkt" ist die
stoische Apathie. Viel tiefer und verständnisvoller erscheint
mir deshalb die Auffassung der stoischen Lebensansicht, die
Adam Smith in folgende Sätze gekleidet hat, und die zwar im
Sinne des achtzehnten Jahrhunderts einigermaßen hedonisch
ausgeschmückt ist, dennoch aber das wesentliche dieses Stand-
punktes scharf und treffend hervorhebt: „Die Stoiker, sagt er1,
scheinen das menschliche Leben als ein Spiel angesehen zu ha-
ben, das großes Geschick erfordert, in dem aber auch ein Ein-
fluß des Zufalles stattfindet, oder doch dessen, was gewöhnlich
als Zufall gilt. Bei solchen Spielen pflegt der Einsatz eine Klei-
nigkeit zu sein, und die ganze Freude am Spiel beruht darauf,
daß gut, loyal und geschickt gespielt wird. Sollte der gute Spie-
ler trotz all seines Geschicks durch den Einfluß des Zufalls
verlieren, so soll für ihn der Verlust mehr ein Gegenstand der
Heiterkeit als ernstlicher Betrübnis sein. Er hat keinen falschen
Zug gemacht; er hat nichts getan, dessen er sich schämen müßte;
er hat die ganze Freude des Spiels vollständig genossen. Sollte
umgekehrt der schlechte Spieler trotz all seiner Fehler in der-
selben Weise gewinnen, so kann ihm dieser Erfolg nur wenig
Genugtuung bereiten. Er wird von der Erinnerung an alle Feh-
! 1er, die er gemacht hat, verfolgt. Und auch während des Spiels
kann er kaum einen Bruchteil des Genusses empfinden, den es zu
gewähren vermag. Infolge seiner Unkenntnis der Spielregeln sind
Angst, Zweifel und Zaudern die unangenehmen Empfindungen,
I die fast jedem seiner Züge vorhergehen; und wenn er ihn getan
S hat, vollendet das vernichtende Bewußtsein, ihn als groben Irr-
jtum zu erkennen, den unerfreulichen Umkreis seiner Empfin-
dungen. Das menschliche Leben, mit all den Vorzügen, die es
möglicherweise auszeichnen können, soll, nach den Stoikern, als
i) Theory of moral sentiments, P. VII, Sect. II, Chapt. 1 (11. Aufl., S. 492 ff.).
15*
228
ZEHNTE VORLESUNG
ein bloßes Zweipfennigspiel angesehen werden: als eine Sache,
die viel zu unbedeutend ist, um eine ernsthafte Sorge zu ver-
dienen. Unsere einzige Sorge sollte sich nicht auf den Einsatz,
sondern auf die richtige Methode des Spielens beziehen. Setzten
wir unser Glück in den Gewinn des Einsatzes, so würden wir
es in etwas setzen, was von Faktoren abhängt, die außer unserer
Gewalt und unserem Einfluß entzogen sind, und würden uns
ewiger Furcht und Unruhe, und oft traurigen und verzehrenden
Enttäuschungen aussetzen. Setzen wir es aber in das gute, loyale,
kluge und geschickte Spielen, kurz in die Angemessenheit unseres
eigenen Verhaltens, so setzen wir es in das, was bei gehöriger
Übung, Erziehung und Aufmerksamkeit durchaus unserer Ge-
walt und unserer Leitung unterworfen ist. Unser Glück ist völ-
lig sicher, und über den Einfluß des Schicksals erhaben. Wenn
der Erfolg unserer Handlungen unserer Macht entrückt ist, so
ebenso auch unserer Sorge, und wir können seinetwegen nie
Angst oder Furcht empfinden, noch auch je eine traurige, ja
nicht einmal eine ernste Enttäuschung erleben."
Geehrte Zuhörer! Wir sind mit diesen Zitaten, und mit den
allgemeinen Gesichtspunkten, auf die sie sich beziehen, dem
Punkte nahegerückt, an dem wir unser Urteil über die stoische
Lebensauffassung abschließend werden zusammenfassen müs-
sen. Doch muß ich vorher noch meine Darstellung durch einige
Einzelzüge ergänzen. Wir sind nämlich bisher nicht über die all-
gemeine Feststellung hinausgegangen, daß die Stoa ein für alle
Menschen gültiges Sittengesetz anerkannte. Sie werfen nun aber
vielleicht noch die Frage auf, welchen Inhalt sie denn diesem
im besonderen unterlegte. Da jedoch diese Frage für unsere
Zwecke recht wenig Interesse besitzt, so kann ich meine Ant-
wort sehr kurz fassen.
Über den Inhalt des Sittengesetzes, das heißt, stoisch gespro-
chen, über die Frage, was eine „eigentümliche" Tätigkeit sei
und was nicht, haben unter den Stoikern endlose Streitigkeiten
stattgefunden. Von solchen Streitfragen, die über eine mehr
rigorose und eine mehr laxe Auffassung zwischen Antipater
DIE STOA II 229
und Diogenes von Babylon verhandelt wurden, ist uns allerlei
überliefert1. Aber wenn Sie hören, daß sogar darüber gestritten
wurde, ob es eine dem Weisen „eigentümliche" Tätigkeit sei, in
der Schule die Beine übereinander zu schlagen2, so wird Ihnen
wohl die Lust vergehen, sich in diese Mysterien einweihen zu
lassen3. Interessanter ist, daß die Lüge unter Umständen als er-
laubt galt4, und daß Zenon, wie wir aus einer biographischen
Notiz5 schließen müssen, die geschlechtliche Enthaltsamkeit als
; widernatürlich verwarf. Das meiste aber, was wir erfahren,
sind Proteste gegen die Konvention, die Zenon aus dem ky-
I nischen Kampf gegen die „Einbildung" herübergenommen hat.
i) Antipater Frg. 61, Diogenes Frg. 49 (Arnim III). 2) Frg. 711 (Arnim III).
3) Diese Dinge haben freilich nicht nur eine komische Seite. Sie sind
vielmehr die verzerrten Reste eines der liebenswürdigsten Züge der älte-
sten Stoiker: ihres feinen Taktgefühls. Von Zenon wird (Diog. Laert. VII.
23) berichtet, er habe einen jungen Schwätzer mit den Worten zurecht-
gewiesen: wir hätten doch wohl dazu zwei Ohren und nur Einen Mund,
um mehr zu hören als zu reden. Und als (Diog. Laert. VII. 19) jemand
zahlreiche Aussprüche des Antisthenes tadelte, entgegnete er: Anti-
sthenes werde ja wohl auch einiges Gute geäußert haben; er frage also
i seinen geehrten Mitunterredner, ob er sich nicht auch derartiger Aus-
sprüche erinnere? Als aber dieser die Frage verneinte, versetzte er:
„Schämst du dich also nicht, wenn Antisthenes etwas Verfehltes ge-
sagt hat, dieses herauszusuchen und im Gedächtnis zu behalten, dessen
aber, was er Richtiges bemerkt hat, dich nicht einmal zu erinnern?"
Besonders aber möchte ich hier hervorheben das Gespräch zwischen
Kleanthes, Arkesilaos und einem Ungenannten, von dem uns eben-
falls Diogenes Laert ios (VII. 171) erzählt. Als der Ungenannte dem
Arkesilaos Immoralität vorwarf, hieß ihn Kleanthes schweigen, indem
er bemerkte: „Wenn auch seine Grundsätze die Moralität aufheben, so
sind doch seine Taten von ihr erfüllt." Darauf Arkesilaos stolz: „Ich
lasse mir nicht schmeicheln"; und dagegen Kleanthes lächelnd: „Ist
es denn eine Schmeichelei, wenn ich behaupte, daß dein Leben mit deinen
Grundsätzen nicht übereinstimmt?" Hier zeigt sich ein „Takt des Her-
zens", der im Altertum recht selten ist. Der Unglücksmensch Chry-
sipp freilich hat alles verdorben. Denn der Takt ist vernichtet, wenn
er in einzelne „Tugenden" zerteilt und kunstgerechten Regeln unterworfen
wird. Und dann entstehen Fragen wie die obigen. 4) Frg. 554, 555. 5) Diog.
Laert. VII. 13.
230
ZEHNTE VORLESUNG
Er sowohl wie Chrysipp leugnen, daß Kannibalismus1, freie
Liebe2, Unzucht wider die Natur3 und Blutschande4 widernatür-
lich seien. Und für die letztere Behauptung führt Zenon5 ein
Argument ins Treffen, das für den Kynismus zu charakteristisch
ist, als daß ich es nicht (wenn auch in gemilderter Form) wieder-
geben sollte: warum, fragt er nämlich, sollte gerade diese Be-
rührung des Mutterleibes verpönt sein, da man ihn doch sonst
auf so viele Arten ohne Tadel berühren darf? Allein, so be-
zeichnend derartiges für die kynische Denkweise sein mag, für
die Stoa handelt es sich dabei doch wesentlich um eine ge-
schichtliche Zufälligkeit: diese Bestimmungen haben auf die
Folgezeit keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt, und den Kern
der stoischen Ethik nicht berührt.
Anders aber steht es mit einer Frage der speziellen Moral:
mit der nach der Zulässigkeit des Selbstmords. In dieser Be-
ziehung besagt die offizielle Version der stoischen Lehre6: der
Selbstmord sei je nach den Umständen bald pflichtmäßig, bald
pflichtwidrig; „natürlich" nämlich sei er, wenn er im Interesse
von Vaterland oder Freunden erfolge, oder auch bei heftigen
Schmerzen, Verstümmelungen und unheilbaren Krankheiten.
Aber schon diese Fassung des Lehrstücks ist nicht unbedenklich.
Zwar die Aufopferung für Freunde und Vaterland liegt ganz in der
Richtung des stoischen Universalismus, und daß der Teil dem
Ganzen nachstehe, kann sehr wohl als „natürlich" im Sinne der
Schule gelten. Dagegen liegt die Sache anders hinsichtlich der
drei übrigen Fälle. Denn wo bleibt hier der Grundsatz, daß wir
das Leiden „gebrauchen" müssen, um leiden zu lernen? Und
so scheint Plutarch nicht so ganz Unrecht zu haben, wenn er
fragt7, wie denn ein Mensch, der (nach stoischer Lehre) alle
i) Frg.746— 750; vgl.Diog. Laert. VII. 36. 2) Frg.728; vgl. Diog. Laert. VII. 33.
3) Frg. 706; vgl. Sext. Emp. Pyrrh. III. 200. 4) Frg. 743—746, 753. 5) Sext. Emp.
Pyrrh. III. 205. 6) Frg. 757. Vgl. Frg. 691, 759, 765—767. Nur Frg. 768 geht
etwas weiter, indem hier auch Tyrannenzwang, Armut und Wahnsinn als
zureichende Gründe des Selbstmords zugelassen werden. Indes macht dies
den Eindruck einer nachträglichen Rechtfertigung der stoischen Praxis in
der Kaiserzeit. 7) De Sto. repp. 18, p. 1042d und de comm. not. 11, p. 1063c.
DIE STOA II
231
Güter besitze und von aller Furcht vor irgendwelchen Übeln
frei sei, sich um einer indifferenten Sache willen umbringen
könne ? Nun erwidert C h r y s i p p auf solche Bedenken freilich 1 :
Leben und Tod seien ja gleichfalls indifferent, und es könne also
offenbar „natürlich" sein, den Tod den Schmerzen vorzuziehen.
Und theoretisch ist dies ohne Zweifel richtig. Allein, wie soll
bestimmt werden, welches dieser indifferenten Dinge im einzel-
nen Falle „vorzüglich" sei. Denn dem Ermessen des Einzelnen
die Entscheidung zu überlassen, dies wäre zwar selbstverständ-
lich auf dem Standpunkte des Ariston, muß aber auf dem des
Chrysipp durchaus unannehmbar erscheinen. Mit der Pflicht
der Selbsterhaltung aber, oder mit den natürlichen „Trieben"
kann offenbar in einem solchen Falle kollidierender Instinkte
nicht argumentiert werden. Und so erscheint es als ein ziemlich
willkürlicher Machtspruch des Philosophen, wenn er in solchen
Fällen den Schmerz für „unvorzüglicher" erklärt als den Tod;
und ein solcher scheint mit dem Ansprüche der Schule, ein all-
gemein verpflichtendes Naturgesetz der Sittlichkeit zu kennen,
schlecht vereinbar. Von einer einläßlicheren Kasuistik der mög-
lichen Fälle aber ist uns gerade bei diesem Punkte nichts über-
liefert. Und so werden wir denn schon diese amtliche Fassung
der Lehre als eine keineswegs einwandfreie und recht wenig
befriedigende bezeichnen müssen.
Aber auch bei ihr ist weder die Praxis noch die Theorie der
Stoa stehen geblieben. Beide zeigen sich vielmehr der Zulässig-
keit des Selbstmords entschieden geneigter. Schon Zeno n soll2,
als er sich im Alter den Finger brach, dies als ein Zeichen, daß
die Natur ihn rufe, aufgefaßt und sich alsbald aufgehängt haben.
Der Selbstmord des jüngeren Cato, den dieser aus Verzweif-
lung über den Umsturz der republikanischen Verfassung Roms
verübte, hat seinem Heiligenschein keinen Abbruch getan, ob-
wohl er unter eine jener Kategorien nicht ohne Gewaltsamkeit
gebracht werden könnte. S e n e c a läßt3 ganz unbefangen die Wahl
zwischen „Besiegung" und „Beendigung" der Übel. Marc Aurel
*) Frg. 759. 2) Diog. Laert. VII. 28. 3) Ep. 29. 12.
232
ZEHNTE VORLESUNG
scheint1 an den Selbstmord keine andere Bedingung zu knüpfen,
als daß er mit innerer Freiheit geschehe. Und Epiktet erklärt
geradezu2: „Erinnere dich, daß die Türe offen steht. Sei nicht
feiger als die Kinder. So wie diese, wenn ihnen die Geschichte
nicht gefällt, sagen: ich spiel' nicht mehr; so sag' auch du, wenn
dir etwas so(!) erscheint: ich spiel' nicht mehr, und geh' von
dannen; wenn du aber bleibst, so jammere nicht!" Dem stehen
nun freilich, und zum Teil von denselben Männern, entgegen-
gesetzte Erklärungen und allerhand Kautelen gegenüber3. Aus
alledem aber geht hervor, daß in dieser Beziehung wirkliche
Klarheit nicht erzielt wurde. Und das ist begreiflich. Denn auf
der einen Seite wird die Fähigkeit, das stärkste aller selbstischen
Interessen zu unterdrücken, stets als ein Anzeichen großer in-
nerer Freiheit sich darstellen; auf der anderen aber hatte der
„Atheist" Theodoros nicht umsonst gewarnt4: wie sollte das
nicht ein Widerspruch sein, wenn man einerseits sagt, nur
das Rechte sei ein Gut, nur das Unrechttun ein Obel, und
wenn dann der, der die menschlichen Schicksalswendungen
so verachtet, sich von ihnen aus dem Leben hinausstoßen
läßt?
In Wahrheit aber scheint es sich hiermit folgendermaßen zu
verhalten. Wie immer es mit der Aufopferung für höhere Zwecke
stehe: um eigenen Leiden zu entgehen, wird ein Mensch von
vollkommener innerer Freiheit sich jedenfalls nie das Leben
nehmen. Der Unvollkommene aber wird mit Recht so han-
deln, wenn er mit einem höheren Grade von innerer Freiheit
sterben als weiterleben kann. Die Stoa aber hat den Begriff
einer ethischen Pflicht des unvollkommenen Menschen über-
haupt nicht erfaßt, und konnte deshalb auch die Lösung dieses
Problems nicht finden5. Auch in dieser Beziehung also hat sich
i) Gt<; eauxöv V. 29. 2) Diss. I. 24. 20. 3) Epiktet, Diss. I. 9. 16 und I. 1. 27.
4) Stob. Floril. 119. 16 (Meineke); vgl. eine ganz ähnliche Äußerung des
Diogenes (von Sinope) bei Aelian, V. H. X. 11. 5) Am nächsten ist ihr noch
Musonius Rufus gekommen in der Mahnung (Stob. Floril. 7. 24 Meineke) :
„Ergreife das schöne Sterben, wann du kannst, damit du nicht bald —
DIE STOA II
233
ihre unzulängliche Bestimmung des ethischen Idealbegriffes
empfindlich gerächt.
Und diesen Mangel werden wir nun noch ein letztes Mal be-
tonen müssen, indem wir zu einer zusammenfassenden kritischen
Würdigung der stoischen Ethik uns wenden. Diese ist bei wei-
tem das ausgeführteste und durchgebildetste ethische System
der Griechen. Sie hat auch den gemeinsamen Grundgedanken
der Selbsterlösung, das Ideal der inneren Freiheit ausdrücklicher
und bewußter entwickelt als alle anderen Schulen. Die absolute
Selbstgenügsamkeit des ethischen Wertes und die vollkommene
Erhabenheit des idealenMenschen über alleFügungen des Schick-
sals sind mit ihrem Andenken so innig verwachsen, daß diese Ge-
danken noch heute allgemein als spezifisch stoische gelten. Die
Stoa hat ferner das Wesen dieses Erlösungszustandes durchaus
richtig als Übereinstimmungunseres Begehrens mit der Wirklich-
keit, somit als Wunschbejahung bestimmt. Sie hat gesehen, daß
diese Wunschbejahung zustande kommt, indem jedes einzelne
Erlebnis als unablösliches Glied des einheitlichen Weltgesche-
hens betrachtet wird. Und sie hat ihre gefühlsmäßige Äußerung
darin erkannt, daß die uns knechtenden Affekte der Gier und
Furcht beseitigt, und die Freudigkeit, als der Affekt der inneren
Freiheit, an ihre Stelle gesetzt wird. Sie hat endlich den höchst
wertvollen und fruchtbaren Gedanken ins hellste Licht gestellt,
daß der erlöste Mensch seine Erlebnisse nicht als selbstwertig
auffassen wird, sondern als ihm gestellte Aufgaben, daß er sein
gesamtes äußeres Leben ansehen wird als den gegebenen Stoff
seiner innerlich freien Betätigung; und sie hat in der Gleich-
sterben zwar dennoch müssest, schön sterben aber nicht mehr könnest."
Originell ist übrigens dieser Gedanke nicht. Denn schon Sophokles
(Aias v. 479) spricht ihn aus:
„Nein, schön zu leben oder schön zu sterben ziemt
Dem Adligen**;
und vielleicht noch besser die lakedaimonische Grabschrift (bei Plutarch,
Vita Pelopidae 1), in der freilich an Selbstmord nicht gedacht ist:
»Nicht das Leben hielten für gut, nicht den Tod, die hier liegen,
Sondern den Mann nur, der gut sich in beidem bewährt.**
234
ZEHNTE VORLESUNG
Setzung von Leben und Spiel für diese Lebensauffassung den
angemessensten bildlichen Ausdruck gefunden.
Dagegen hat es die Stoa nicht vermocht, jener innerlich freien
Tätigkeit einen befriedigenden Inhalt zu geben; weder die ethisch
geforderte Aktivität des vollkommenen noch die des unvoll-
kommenen Menschen hat sie in genügender Weise bestimmen
können. Von diesem letzteren verlangt das Ideal vor allem
andern Selbstvervollkommnung. Aber dieser Begriff ist der
Stoa fremd. Ihr Idealbegriff, der sich nicht auf eine postulierte,
sondern auf eine irgendwie vorgefundene Realität bezieht, hat
den Ergänzungsbegriff der Annäherung erdrückt, und sogar zur
Folge gehabt, daß die chrysippische Scholastik den sittlichen
„Fortschritt" unter die ethisch indifferenten Dinge gezählt hat.
Aber auch bei der Bestimmung der vollkommenen Aktivität ge-
riet die Stoa auf einen Irrweg. Sophisten, Kyniker und Akade-
miker lockten sie auf den Boden der Voraussetzung, daß gewisse
Handlungsweisen „natürlicher" seien als andere. Aber wer auf
diesem Grund sein Gebäude errichten will, um den ist es ge-
schehen. Jene Bedeutung des „Natürlichen", die man etwa zu
Wertunterscheidungen verwenden könnte, hat mit Ethik oder
Moralität nicht das mindeste zu tun: sonst müßte es die schwer-
ste Sünde sein, nach rückwärts zu gehen, oder sich auf den Kopf
zu stellen. In anderem Sinne aber ist alles Wirkliche gleich
natürlich, und die mißbilligte Handlung um nichts unnatürlicher
als das über sie gefällte Mißbilligungsurteil. Der Begriff der
Natur wird dann zu einem bloßen Mantel, unter dem sich jede,
wie immer motivierte Wertung verbergen kann. So hat auch
die Stoa aus überlieferten Normen, kynischen Rationalismen
und subjektiven Stimmungsbedürfnissen ein seltsames Geflecht
bereitet, und mit diesem, als mit einer äußeren Regel seines
Tuns, hat sie den Weisen gebunden. Darüber aber entgingen
ihr die beiden inneren Prinzipien der freien Betätigung: die
hingebende Liebe und die zeugende Schöpferkraft. Wohl wird,
besonders in späterer Zeit, von Liebe viel gesprochen; Marc
Aurel wäre hier vor allen zu nennen. Aber diese stoische
DIE STOA II
235
Liebe, die sich in einem „Helfen ohne Mitleid" äußert, ist eine
Weise des äußern Verhaltens, nicht ein innerliches Überströmen
von Kraft. Und von der Produktivität wird kaum geredet. Dem
Altertum waren eben, zwar gewiß nicht beide Zustände, wohl
aber das Bewußtsein derselben fremd. Christentum und Roman-
tik, St. Paulus und Fichte mußten kommen, ehe ihre begriff-
liche Formulierung möglich ward. Und damit hängt zusammen,
daß der stoischen Affektenlehre der Begriff der Begeisterung
fehlt; denn die „Freude" an ihrem verhältnismäßig untergeord-
neten und bescheidenen Plätzchen kann ihn nicht ersetzen.
Hier zeigt sich, Piaton gegenüber, eine ausgesprochene In-
feriorität. Die Folge aber ist der Dualismus der stoischen Wert-
lehre. Der „Weise" ist die verkörperte sittliche Norm. Aber
diese Norm heißt ihn lediglich solche Werte schaffen, die für
ihn gar keine wahren Werte sind. Es fehlt ihm also jene innere
Beziehung zum Objekt seines Tuns, die den Liebenden mit
dem Geliebten und den Schaffenden mit seinem Werke verbin-
det. Diese handeln aus dem Drang ihres von Kraft überfließen-
den erlösten Innern; und darum ist ihr Tun im höchsten Sinne
frei. Er handelt nach einer ihm von außen gegebenen Regel; und
darum ist sein Tun, zwar nicht unfrei, aber doch gebunden. Dies
ist, wie mir scheint, der tiefste Grund dafür, daß das stoische
Ideal trotz allen seinen Vorzügen etwas Kahles und Ärmliches
an sich hat. Die Freiheit führt den Stoiker nicht zur Auswirkung
eines lebendigen Ich, sondern zum Aufgehen in einem toten
Gesetz. Eine tiefe innere Verwandtschaft mit der Kant' sehen
Lebensauffassung läßt sich hier nicht verkennen. Aber eben
deshalb, weil das enge, persönliche Ich hier nicht überwunden
wird zugunsten eines ausgeweiteten, überpersönlichen Ich,
sondern vielmehr ausgerottet wird, um einer abstrakten, unper-
sönlichen Formel Platz zu machen — ebendarum ist die stoische
Grundstimmung am Ende doch nur Resignation. Es stünde aber
schlimm um das Ideal der inneren Freiheit, wenn dies sein letz-
tes Wort bleiben müßte. Das muß es nicht. Und darum ist auch
die stoische Ethik nicht das letzte Wort der Selbsterlösungslehre.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
ELFTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
ACHDEM wir in den letzten beiden Vor-
lesungen uns mit der Lebensauffassung der
Stoa bekannt gemacht hatten, mußten wir zum
Schlüsse feststellen, die Grundstimmung die-
ser Männer lasse sich doch kaum anders kenn-
zeichnen als durch das Schlagwort: Resig-
nation! Schon dies bedeutetaber ohneZweifel
eine Abnahme an Kraft: auch mit voller innerer Freiheit wird
jaderjenige allem gewachsen sein, der dazu stark genug ist; und
nur ein Mangel jenes Kraftüberschusses, von dem ich Ihnen oft
gesprochen habe, kann die Wahrung der inneren Freiheit an
die Bedingung eines Verzichtes knüpfen. Denn so richtig es ist,
daß die innere Freiheit in der Tat nicht berührt wird, solange
der Verzicht in unserer Macht steht, und also dasjenige, was die
Freiheit aufheben würde, wirklich fern gehalten werden kann;
so muß doch gesagt werden, daß die Lebensstimmung einem
weit schwächlicheren Erlösungshabitus entspricht, die das Übel
in greifbarer Nähe vor sich sieht, und sich seiner nur eben noch
erwehrt. Nun wäre ja dieses für die Stoa schon etwas zu viel
behauptet. Auf was sie verzichtet, ist nicht irgend etwas Be-
stimmtes und ihr Bewußtes, sondern nur wir, als Zuschauer,
sehen, daß hier eine Scheu besteht vor der unmittelbar-persön-
lichen Auswirkung der eigenen Kraft an individuellen Zielen,
und daß so an die Stelle eines warmen und reichen Lebens die
Bindung an eine kalte und tote Formel tritt. Unverkennbar da-
gegen wird die Erscheinung, von der ich rede, bei den beiden
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
237
Systemen, von denen wir heute sprechen wollen: der Epikureer
verzichtet grundsätzlich auf das tätige, der Skeptiker auf das
denkende Leben. Jenem erscheint die öffentliche Wirksamkeit,
diesem die entschiedene Überzeugung als allzu gefährlich: dort
könnte der Kampf, hier die Forschung die Persönlichkeit in zu
hohem Grade in Anspruch nehmen; dort könnte die Niederlage,
hier der Irrtum allzu peinliche Folgen nach sich ziehen. Vor
diesen Gefahren und Aufregungen muß sich daher schützen,
wer das gemeinsame „Ziel" beider Schulen, die „Erregungs-
losigkeit" nicht verfehlen will: der Eine, indem er in einen be-
schränkten und stillen Lebenskreis sich zurückzieht, der Andere,
indem er von allen folgenreichen und unwiderruflichen Ur-
teilen sich zurückhält. Nur auf diesen Wegen ist innere Frei-
heit erreichbar; aber auf ihnen ist sie's! Diese positive Ansicht
des Bildes steht deshalb auch für die Anhänger beider Richtungen
durchaus imVordergrund. Und auch Siewerden, wennSiemir nun
zur näheren Betrachtung derselben folgen, von ihnen wohl einen
wesentlich günstigeren Eindruck gewinnen, als diese einleitende
Darstellung wohl vermuten ließe. Sie sollte von vornherein die
Schranken des Gebietes andeuten; seinen Inhalt aber haben wir
nun erst kennen zu lernen. Zu diesem Zwecke aber ist es not-
wendig, beide Systeme durchaus gesondert zu besprechen. Und
zwar handeln wir zunächst von Epikur.
Die erste Frage, die uns hier entgegentritt, ist die: ob wir denn
überhaupt ein Recht und einen Grund haben, die epikureische
Lehre selbständig zu behandeln, und ob sie nicht ihres hedoni-
schen Charakters wegen viel richtiger, zusammen mit den Syste-
men eines Theodoros, Hegesias und Annikeris, als Fortbil-
dung der kyrenaischen Doktrin hätte dargestellt werden sollen?
Manches schiene für eine solche Auffassung und Einschätzung
zu sprechen, und manche Einwendungen, die sich zunächst auf-
drängen, wird man kaum als entscheidend gelten lassen können.
Zunächst ist der Mangel eines äußeren Schulzusammenhanges
recht unerheblich. Epikur selbst rühmte sich freilich1, von
i) Frg. 123 (Usener).
238
ELFTE VORLESUNG
niemand als von sich selbst etwas gelernt zu haben, und ohne
Zweifel hätte es ihm nicht geschadet, wenn er etwas reichlichere
Kenntnisse sich angeeignet hätte. Allein, wie überhaupt Auto-
didakten nicht eben häufig durch besondere Originalität sich
auszeichnen, vielmehr meist jene Anregungen, die ihnen von
ungefähr zugetragen werden, um so kritikloser aufnehmen, je
weniger sie imstande sind, sie gegen andere Ansichten zu halten
und abzuwägen, so gilt ähnliches auch von unserm Philosophen.
Denn wie er in der Physik an der Atomenlehre des Demokrit
nur relativ unwesentliche Abänderungen vorgenommen hat, so
zeigt auch seine Ethik nicht nur mit der dieses großen Physikers,
sondern auch mit jener der Kyrenaiker zahlreiche Berührungs-
punkte. Und seine Doktrin weicht von den Lehren der einzelnen
kyrenaischen Denker kaum stärker ab, als diese untereinander.
Wollte man daher lediglich den theoretischen Gehalt seiner
Ethik, für sich genommen, ins Auge fassen, so könnte es aller-
dings angemessener scheinen, ihn dieser Entwicklungsreihe als
ein nicht allzu bedeutsames Glied einzuordnen. Von diesem
Standpunkte aus wäre dann seine Lehre etwa in folgender Weise
zu charakterisieren und zu beurteilen.
Aristipp hatte verlangt, der Mensch solle imstande sein, in
jedem Augenblicke jede beliebige Lage unmittelbar zu genießen,
und hatte in diesem Sinne die Lust für das höchste Gut erklärt.
Andererseits hielt es Hegesias für unmöglich, im Ganzen des
Lebens die Lust über das Leid überwiegen zu lassen; um also
wenigstens den günstigsten der für Menschen erreichbaren he-
donischen Zustände zu verwirklichen, nämlich die Schmerz-
losigkeit, forderte er die völlige Überwindung aller lust- und
leidschaffenden selbstischen Interessen, und setzte das „Ziel*
in die so zu erringende hedonische Indifferenz. Epikur nun
stimmte mit beiden überein hinsichtlich des Zieles, aber mit
keinem in bezug auf die Mittel. Denn zu so radikaler Stellung-
nahme fehlte ihm die Kraft. Er besaß nicht jene ungebändigte
Genußfreudigkeit, aus der Aristipp die Sicherheit geschöpft
hatte, jede Lebenslage in ihrer lebendigen Fülle anpacken und
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
239
niederringen zu können; aber auch nicht jene Fähigkeit der
Selbstüberwindung, die dem Hegesias ermöglichte, über alle
Begierden, samt ihrer Befriedigung und Nichtbefriedigung, sich
souverän zu erheben. So ermäßigte er denn die Forderungen
nach beiden Seiten hin und lehrte: nicht daraufkomme es an,
mit positivem Genuß das Leben zu erfüllen, vielmehr sei es
genug, in keinem Moment die Schmerzlosigkeit sich entreißen
zu lassen; dazu aber sei weder erforderlich, daß jedem Schmerz
eine ebenso starke, gegenwärtige Lust das Gleichgewicht halte,
noch auch, daß wir von aller Empfänglichkeit für Leiden und
Genießen uns grundsätzlich befreien; vielmehr genüge es, wenn
man die Bedürfnisse und das Leben einer derartigen Regelung
unterwerfe, daß man den inneren und äußeren Anlässen zu
schmerzlicher Erregung nach Möglichkeit aus dem Wege gehe;
wenn man ferner jenerLeidempfindungen sich gänzlich entledige,
die auf bloßer Einbildung beruhen; und wenn man endlich in
klugem Lebensgenüsse eine hinreichend große Menge angeneh-
mer Erinnerungen in sich aufspeichere; denn diese möchten
dann wohl dazu ausreichen, um jenem unvermeidlichen Rest
von Schmerz das Gleichgewicht zu halten, der trotz aller jener
Vorsichtsmaßregeln gelegentlich sich einstellen wird. Von die-
ser Lehre aber würden wir alsdann sagen müssen, sie halte zwar
fest an dem Grundgedanken des antiken Hedonismus, nämlich
an seiner Orientierung nach dem Ideal der inneren Freiheit;
aber da sie unverkennbar einer erlahmenden Kraft entspringe,
die, was ihr an frischer Ursprünglichkeit abgehe, durch aller-
hand Surrogate ersetzen müsse, so zeige sie ihn doch ohne
Zweifel im Stadium des beginnenden Verfalls: denn, wenn auch
das Ideal hier noch aufrecht stehe, so doch nur, weil es durch
mannigfache Vorsichtsmaßregeln und Kunstgriffe gestützt und
gepölzt werde; all das aber könne nicht darüber wegtäuschen,
daß dieses schwankende und zitternde Gebäude den baldigen
Einsturz drohe.
All das nun kann man wirklich sagen. Und dennoch würde
man damit der epikureischen Lebensauffassung weder sachlich
240
ELFTE VORLESUNG
noch geschichtlich gerecht. Denn in Wahrheit kann sie trotz
alledem ihren Anspruch wohl begründen, als ein selbständiges
Ganzes, und nicht bloß als ein später Trieb des kyrenaischen
Stammes betrachtet zu werden. Diesen Anspruch aber stützt
sie auf folgende Gründe.
Zunächst eine unbestreitbare Tatsache: die einzelnen kyre-
naischenSchulenhabensich kaum über das Leben ihrer Gründer
hinaus erhalten, und die ganze Richtung, von Ar i stipp bisBion,
erfüllt kaum mehr als ein Jahrhundert; der Epikureismus aber
ist ein halbes Jahrtausend lebendig geblieben, und hat auch noch
auf die Anfänge des neuzeitlichen Denkens mächtig hinüberge-
wirkt. Freilich, auch hier fehlt es nicht an Vorbehalten. Vor
allem: der großen äußeren entsprach nur eine sehr geringe
innere Lebendigkeit. Keine bedeutende Persönlichkeit, kein
ursprünglicher Denker ist in dieser Schule aufgetreten. Nur mit
untergeordneten Nebenfragen hat sich hier die wissenschaftliche
Arbeit beschäftigt; alle Hauptpunkte sind geblieben, wie sie der
Meister hinterlassen hatte: niemand wagte, an sie zu rühren,
weder umbildend noch fortbildend. Das 250 Jahre jüngere
Lehrgedicht des Luc rez stimmt vielfach wörtlich mit den Schrif-
ten des Epikur überein. So waltet in der ganzen Geschichte
der Schule die Haltung starrer Orthodoxie: sie pflanzt die Über-
lieferung fort und erweitert sich durch Bekehrungen, aber sie
kennt weder Sektenbildung noch Abfall. Schon dem Skeptiker
Arkesilaos war dies merkwürdig; denn „auf die Frage, warum
zwar von anderen Schulenzur epikureischen Übertritte vorkämen,
von der epikureischen zu den anderen aber niemals, erwiderte
er1: weil zwar aus Männern Kastraten werden können, aber aus
Kastraten keine Männer". Indes spricht diese giftige Bemerkung
gewiß nur einen kleinen Teil der Wahrheit aus. Vielmehr weist
uns schon dieser ganze Sachverhalt auf einen ganz anderen Fak-
tor als den entscheidenden hin: auf die machtvoll-überlegene
und dogmatisch-selbstsichere Persönlichkeit des Schulgründers
nämlich, die, im vollsten Gegensatz zu Sokrates, nicht zum
1) Diog. Laert. IV. 43.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
241
Forschen angeregt, sondern Überzeugungen auferlegt hat, und
mit dem Druck und Gewicht ihrer Autorität für alle Folgezeit
jede Regung individueller Selbständigkeit erstickte.
Das Zweite aber, was den Epikureismus auszeichnet, gegen-
über allen anderen hedonischen Systemen der Sokratiker, ist
der Umstand, daß er, ganz wie die Stoa, sich nicht auf die Ethik
beschränkt, sondern auch logische, und vor allem physikalische
Theorien in den Dienst seiner praktischen Tendenz gestellt hat:
I auf diese Weise die ethische Lehre zu einem vollständigen phi-
losophischen System erweiternd. Zwar wird man nicht behaup-
ten können, daß Epikur in seiner Physik besonders glücklich
gewesen sei; ja, die Grobheit und Plumpheit seiner Naturphilo-
sophie steht an Feinheit und Tiefe gerade auch gegen jene er-
kenntnistheoretischen Untersuchungen unendlich zurück, die
uns von Aristipp selbst überliefert werden. Allein, während
diese in der kyrenaischen Schule nur eine geringe Folge gehabt
zu haben scheinen, und überdies mit der kyrenaischen Lebens-
auffassung einen mehr theoretisch-analogischen als praktisch-
| organischen Zusammenhang besitzen, istdie epikureische Physik
j einewesentliche Voraussetzungund Ergänzung derepikureischen
Ethik. Ja, in gewissem Sinne beruht gerade auf ihr das eigen-
tümliche Pathos dieser Weltanschauung. Denn, wie wir sehen
werden, ist der epikureischen Physik vor allem die Aufgabe
gestellt, alles Geschehen „natürlich" zu erklären, und so zu
zeigen, daß keine „übernatürlichen " Eingriffe in dasselbe statt-
finden, und daß also jede Religion ein Irrglaube ist, die nicht nur
das Dasein von Göttern lehrt, sondern auch einen Einfluß
derselben auf das Weltgeschehen überhaupt und das Menschen-
leben insbesondere annimmt. So wird der Epikureismus zum
Hort der „Aufklärung": zwar nicht einer „atheistischen" im
strengen Wortsinn, aber doch einer „deistischen", wenn Sie so
wollen; der Stützpunkt jener, uns aus dem achtzehnten Jahr-
hundert so vertrauten Abneigung gegen „Fanatismus und
Schwärmerei"; der Vorkämpfer des Ideals der Selbsterlösung,
gegenüber allen jenen Keimen zu einer Theorie der Fremd-
Gomperz, Lebensauffassung \Q
242
ELFTE VORLESUNG
erlösung, die sich schon in den antiken Systemen zeigen. Epi-
kur hat es selbst gesagt1: „Sinnlos ist es, von den Göttern zu
erflehen, was man sich selbst zu verschaffen imstande ist."
Darin besteht die große und unersetzliche Bedeutung seiner
Schule für die geistige Ökonomie des späteren Altertums: alle
antimystischen und antiobskurantistischen Instinkte und Ele-
mente der Zeit fanden hier ihren natürlichsten Stütz- und
Sammelpunkt. Aber auch diese Bedeutung verdankt der Epi-
kureismus offenbar vor allem der Persönlichkeit seines Stifters.
Sein trotzig-kühnes Selbstbewußtsein scheint ganz von dem Ge-
danken erfüllt: Ich gegen die Welt — und stärker als sie! Und
so verkörpert er, in mancher Hinsicht noch entschiedener als
alle seine Vorgänger und Rivalen, das große sokratische Ideal:
Innere Befreiung aus eigener Kraft!
Diese Persönlichkeit des Epikuros nun, die wir schon in so
verschiedenen Lichtern haben schillern sehen, ist das dritte und
entscheidende Moment, das eine völlig selbständige Darstellung
und Würdigung seiner Lehre rechtfertigt und fordert. Denn ohne
Zweifelhabenwiresin ihmmit einerder interessantestenErschei-
nungen des Altertums zu tun: interessant an sich, durch die Ver-
einigung scheinbar unverträglicherZüge; und doppelt interessant
an seinem geschichtlichen Orte, durch die gänzlich unantikenEle-
mente seines Wesens. Es ist deshalb eine überaus reizvolle Auf-
gabeln diese „problematischeNatur" so weiteinzudringen,bis der
Punkt erreicht ist, von dem aus betrachtet die Widersprüche sich
lösen, der Kontrast mit der Umgebung verständlich wird, Vor-
züge und Schwächen in Leben und Lehre sich erklären, und das
Ganze auseinandergehender Tendenzen zu einem einheitlichen
Bilde sich zusammenschließt. Doch ist diese verlockende Aufgabe
zugleich notwendig so schwer; so vieles entzieht sich strengerBe-
weisbarkeit, und bleibt der Intuition des psychologischen Taktes
überlassen, daß ich hier noch weniger als sonst den Anspruch er-
heben kann,IhnenmehralshypothetischeundplausibleErgebnisse
zu vermitteln, denen notwendig viel Subjektives anhängen muß.
!) TTpoaqpujvr](Ji<; 65 (Wotke, Wiener Studien, Band X).
EPIKUR UND DIE SKEPSIS 243
Treten wir, möglichst frei von Vorurteilen, an die Persönlich-
keit Epikurs heran, wie sie in seinen Schriften, seinen Bruch-
stücken und seinen Briefen uns erhalten ist, so fällt uns, wie
schon angedeutet, zunächst ein Doppeltes ins Auge: ein schwer-
fälliger und pedantischer Schullehrer, der seine proletarische
Herkunft nicht verleugnen kann, predigt, mit den feierlichen
Allüren eines Propheten, die Prinzipien eines blasierten Grand-
seigneurs; und inmitten einer durchaus objektiven Zeit, deren
Interesse ausschließlich auf das Gegenständliche gerichtetscheint,
sehen wir einen Mann vor uns, der selbstgefällig seine Empfind-
samkeit genießt, ihren Ausdruck schwülstig übertreibt, und sich
doch wieder mit Bewußtsein ironisiert. Doch ehe ich versuche,
diese Eindrücke auf ihre psychologische Quelle zurückzuführen,
wird es notwendig sein, sie an der Hand des überlieferten Mate-
rials zu belegen.
Der proletarische Schullehrer zunächst ist nicht bildlich ge-
meint. Nicht nur, daß sein Vater diesen Beruf ausübte, wird uns
glaubwürdig berichtet1, sondern auch, daß er ihn in demselben
unterstützte2. Auch wird man diese seine Anfänge in dem
Manne nicht verkennen, der seine Freunde im Auswendiglernen
seiner eigenen Schriften geübt3, und ihnen auf dem Totenbett
ans Herz gelegt haben soll4, „der Lehren eingedenk zu bleiben".
Auch seine Doktrin läßt diesen geistigen Habitus erkennen, noch
mehr in ihren logischen und physikalischen als in ihren ethi-
schen Theorien; denn etwas Handgreifliches, Krasses, über-
mäßig Einfaches haftet ihnen an. Seine Erkenntnistheorie be-
gründet er auf das „Einleuchten" der Wahrnehmungen5. Die
Götter nehmen nach ihm Nahrung zu sich6, und reden mit ein-
ander griechisch7. Die Sonne ist nicht größer als sie erscheint8
usw. Seine Lustlehre begründet er mit der Bemerkung9, wenn
Einer einen Leib habe, und Empfindung, so werde er die Lust
1) Strabon XIV. 1. 18, p. 638. 2) Diog. Laert. X. 2 f. 3) Diog. Laert. X. 12.
4) Diog. Laert. X. 16. 5) Frg. 247 (Usener). 6) Voll. Herc. VI. col. 13. ') Frg.
356/7. 8) Ad Pythoclem S. 39. 2 (Usener); Lucrez V. 564 ff. u. sonst. 9) Plut.
adv. Colot. 27, p. 1122d.
16*
244
ELFTE VORLESUNG
als das Gute erkennen; weiter brauche es keinen Beweis1. Und
dem Ausdruck fehlt die Feinheit ebenso wie dem Gedanken. Wo
Epikur die körperliche Lustempfindung als das ursprünglichste
Element alles Glückes darstellen will, sagt er2: „Denn ich weiß
nicht, was ich mir unter dem Guten vorstellen soll, wenn ich
die Freude an den Geschmäcken und die am Geschlechtsver-
kehr und die an den Tönen und die an den Gestalten in Abzug
bringe." Und sein Lieblingsschüler Metrodor, ihn über-
bietend3: „Nichts heißt das mit dem Erretten der Hellenen, und
mit den Kränzen, die man ob der Weisheit von ihnen bekommt,
sondern essen muß man und Wein trinken, o Timokrates, ohne
dem Bauch zu schaden, und in Heiterkeit;" und „Im Bauche,
mein lieber Naturforscher, liegt das Gute." Will nun aber der-
selbe Metrodor die andere Seite der Sache betonen, und die
größereDauerhaftigkeit der geistigen Lustzustände hervorheben,
so tut er auch dies mit ebenso geschmackvollen Worten: „Oft
schon, sagt er4, haben wir auf die körperlichen Lüste gespuckt."
Und ebendahin gehört die Äußerung5 des Epikuros selbst: der
„Sophist" Nausiphanes habe „aus dem Munde — geprahlt".
So hat sich ein wirklich gebildeter Mensch in Griechenland
ebensowenig ausgedrückt wie bei uns. Und wenn Epikur vor
der „Bildung" gewarnt6 und die „Erlösung aus dem Kerker der
allgemeinen Bildung und der Politik" für notwendig erklärt7
hat, so hatte er zwar wohl in erster Linie das nutzlose theore-
tische Studium im Auge, gab aber so seiner gegensätzlichen Stel-
lung zur „gutenGesellschaft" wahrscheinlich ebenfalls Ausdruck.
Dieser Mann nun ward, durch die seltsamste Fügung des
Schicksals, dazu bestimmt, das Prinzip eines „verfeinerten
Lebensgenusses" theoretisch undpraktischzu vertreten. Einiger-
maßen freilich werden wir die Vorstellung jedenfalls ändern
müssen, die wir uns von seinem „Garten" zu machen gewohnt
») Frg. 397. 2) Frg.67; vgl. 68. 3) piut. non posse suav. 16, p. 1098 c f.; vgl.
Cicero, Nat. Deor. I. 40. 113. 4) piut. non posse suav. 3, p. 1088 b. Vgl. auch
TTpoaqpoivriaiq 47 (Wotke), wo dasselbe „Bild" begegnet. 5) Frg. 93. 6) Frg.
117 und 163. ?) TTpooqpu»vriat<; 58.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS 245
sind. Der Kreis von Freunden und Freundinnen, der sich hier
um ihn versammelte, und dessen stille Zurückgezogenheit ihm
das Getriebe der Welt ersetzte, kann schwerlich eine Elite von
Wissen, Geist und Vornehmheit dargestellt haben. Um dieses
behaupten zu dürfen, wissen wir schon jetzt genug von Epikur,
und auch von seinem Lieblingsschüler Metro dor. Und mag
auch die Lebensgefährtin dieses letzteren, die Hetäre Leon-
tion, drei Bücher gegen den Peripatetiker Theophrast ge-
schrieben haben — auch unter literarischen Hetären kann es
noch große Unterschiede geben. Sehr viel wahrscheinlicher ist
mir, nach der ganzen Lage der Dinge, daß dieser berühmte
„Garten" den Augen eines gebildeten Atheners als ein „Salon"
der Vorstadt erschienen sein wird, in dem sich um den Meister
talentierte Schriftsteller geringer Bildung, freigeistige Spießbür-
; gerund mindere Hetären zusammenfanden. „Des esprits-fortsdu
faubourg" — hätte man eine ähnliche Erscheinung in Paris vor
einigen Jahrzehnten genannt. Dem entsprach denn wohl auch
die Bescheidenheit der Genüsse, aus denen sich in dieser Um-
gebung Epikur seine Glückseligkeit nicht ohne Pedanterie auf-
zubauen unternahm. Seiner kränklichen Konstitution1 war von
vornherein eine außerordentlich mäßige Lebensweise ange-
messen; auch wird wohl die uns bezeugte Geringfügigkeit seines
Budgets2 in seinen Vermögensverhältnissen begründet gewesen
sein. So scheinen denn Wasser und Brot den Grundstock seiner
Diät ausgemacht zu haben3. Auch war die Theorie bei der Hand,
diese Lebensweise aus Prinzipien zu rechtfertigen. Denn „die
Selbstgenügsamkeit, lehrt er4, halten wir für ein großes Gut,
nicht um immer nur wenig zu genießen, sondern um, wenn wir
das Viele nicht haben, mit dem Wenigen vorlieb zu nehmen, in
der festen Überzeugung, daß, wer des Aufwandes nicht bedarf,
ihn am meisten genießen wird". Und auch dieser „Aufwand"
muß recht bescheiden gedacht werden. Schreibt doch Epikur
mit liebenswürdigem Humor an einen Bekannten5: „Schick mir
1) Diog.Laert. X.7. 2) Frg.158, 181, 182. 3) Ad Menoeceum S. 64. 1 (Usener);
Stob. Floril. 17. 30 (Meineke). 4) Kupicu ÖÖSai 30 (Usener). 5) Frg. 182.
246
ELFTE VORLESUNG
einen Käse von Kythros, damit ich schwelgen könne, wenn ich
will." Aufs Wort also werden wir ihm glauben, wenn er sagt1:
„Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir nicht
die Lüste der Zügellosen und die im Genuß gelegenen . . . , son-
dern, nicht krank zu sein am Körper und nicht erregt in der
Seele. Denn nicht ununterbrochenes Trinken und Schmausen,
noch Genuß von Knaben und Weibern, und von Fischen und
dem andern, was eine reiche Tafel trägt, zeugt das angenehme
Leben, sondern nüchterne Vernünftigkeit, welche die Ursachen
jedes Vorziehens und Hintansetzens erforscht, und die Einbil-
dungen austreibt, von denen her das meiste Wirrsal die Seelen
ergreift". Wenn ich aber früher von den Maximen eines bla-
sierten Grandseigneurs sprach, so meinte ich damit eben diese
Absichtlichkeit in der Fernhaltung unangenehmer Eindrücke
und in der Steigerung der Genußfähigkeit. Alle unnützen Er-
regungen nämlich, wie etwa die Ruhmsucht oder die Liebe2,
muß man sich vom Leibe halten, und zwischen den verschie-
denen Lüsten eine sorgsame Auswahl treffen3, auch den kleine-
ren Schmerz dem größeren vorziehen4. „Denn es geziemt sich,
alles dieses zu beurteilen nach der Abmessung, und in der Hin-
blickung (!) auf das Nützliche und Unnützliche5."
Solche Grundsätze aber, sagte ich weiter, verkünde Epikur
im feierlichen Tone eines Propheten. Einiges derartige ist uns
eben vorgekommen. Hier will ich nur noch zwei längere Stellen
aus dem großen Lehrbrief an Menoikeus anführen, denen man
imponierend- feierliche Diktion und wahrhaft empfundene
Würde gewiß nicht absprechen kann: „Weder zaudere irgend
ein Jüngling zu philosophieren6, noch ermüde darin irgend ein
Greis. Denn weder unreif ist irgend wer noch überreif, um
die Gesundheit der Seele zu erlangen. Wer aber sagt, es sei
noch nicht die Zeit zu philosophieren, oder sie sei schon vor-
bei, der gleicht Einem, der sagte, es sei noch nicht an der
Zeit, oder es sei nicht mehr an der Zeit, um glücklich zu
i) Ad Menoeceum S. 64. 8. 2) Frg. 574. 3) Frg. 572. 4) Frg. 449. 5) Ad
Menoeceum S. 63. 13. 6) Ad Menoeceum S. 59. 2 ff.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
247
sein. Es philosophiere daher so Jüngling als Greis: jener
um alternd jung zu werden an Gütern, durch den Reiz der ver-
gangenen Erlebnisse; dieser um alt, doch zugleich jung zu sein,
durch die Furchtlosigkeit vor dem Zukünftigen " Und weiter1:
„Wer meinst du wohl, daß stärker sei als der, der um die Götter
die geziemende Meinung hat, und in bezug auf den Tod sich
durchaus furchtlos verhält, und das Ziel der Natur verstanden
hat, und von der Summe aller Güter einsieht, daß sie leicht zu
vollenden und leicht zu beschaffen ist, daß aber die Fülle der
Übel entweder geringe Zeit hat oder geringes Leid, und in betreff
der von Einigen2 als Allherrscherin eingeführten Notwendigkeit
verkündet, daß Einiges durch Zufall geschieht, Anderes durch
uns; denn er sieht, daß die Notwendigkeit nichts ist, der Zufall
unbeständig, wir selbst aber keinem Herrn unterworfen3. ...
Dieses nun und Verwandtes erwäge bei dir und mit deines-
gleichen jeden Tag und jede Nacht, so wirst du niemals, weder
wachend noch schlafend, dich erregen. So wirst du leben, wie
ein Gott unter den Menschen. Denn nicht gleicht einem sterb-
lichen Wesen ein Mensch, der in unsterblichen Gütern dahin
lebt.«
Ich komme nun zu dem letzten Punkt, den ich erwähnte: zu
dem, was ich Epikurs unantikes Wesen nannte: zu seiner Sen-
timentalität, seinem Schwulst, seiner Selbstironie. Natürlich
weiß ich wohl, daß es immer bedenklich bleibt, einem ganzen
Zeitalter eine Gefühlsweise abzusprechen. Denn meist finden
wir, je mehr wir in den Geist einer Epoche eindringen, daß er
sich um so weniger von dem unserer eigenen Zeit unterscheidet.
So kann uns etwa das Altertum durch das achte Buch von Pia-
tons „Staat", das Mittelalter durch den „Decamerone" des
Boccaccio plötzlich nahegerückt erscheinen. Dennoch wird
wohl niemand, der, von der Lektüre klassischer Autoren kom-
mend, die „Konfessionen" des Heiligen Augustinus zur Hand
nimmt, den Eindruck abwehren können, daß hier eine neue
und dem Altertum fremde (wenn auch in ihm, namentlich seit
3) S. 65. 1 ff. 2) Den Stoikern. 3) Vgl. S. 62. 4.
248
ELFTE VORLESUNG
der „hellenistischen" Epoche einigermaßen vorbereitete) Welt
sich vor ihm auftue: die Welt der Innerlichkeit. Diese
neue, subjektivistische von der alten, objektivistischen Welt
durch eine scharfe begriffliche Grenze zu trennen, ist frei-
lich schwer. Doch wird man, was wir alle bei solchem Ver-
gleich empfinden, vielleicht dahin aussprechen dürfen, daß
hier zuerst Gedanken und Gefühlsweisen nicht mehr als Zu-
stände des ganzen, einheitlichen leiblich-geistigen Menschen,
sondern selbständig als Gegenstände der Beurteilung und Be-
wertung auftreten; und daß dieser Selbstwert der einzelnen
Bewußtseinszustände, samt der grübelnden Versenkung in
die Tiefe des Eigenbewußtseins das Moment ist, das dem anti-
ken Geiste als ein Neues entgegentritt. Diese Versenkung hat
zunächst in der christlichen Gewissenserforschung sich aus-
gestaltet. Aber wenn sie hier, wie bei dem großen afrikanischen
Kirchenlehrer, meist eine Tendenz zur Selbstverdammung bei
sich führt, so ist sie doch auch die Vorbedingung jener feineren
Psychologie, die wir überhaupt in der neueren Zeit zu besitzen
uns einbilden, und kann ebensowohl auch zu jener Selbst-
gefälligkeit führen, die uns als Stolz auf die eigene Empfindungs-
größe und als Bewußtsein der Selbstüberlegenheit in den Epo-
chen der Empfindsamkeit und Romantik entgegentritt. Eine
solche Selbstgefälligkeit nun, mit Ansätzen sowohl in der
sentimentalen wie in der selbstironisierenden Richtung, scheint
mir bei Epikur unverkennbar: indem einerseits die Empfind-
samkeit eine Neigung zu übertreibend-schwülstiger Ausdrucks-
weise nach sich zieht, und diese ihm wiederum den Anlaß gibt,
sie selbst zu parodieren. Beispiele dieser verschiedenen Ten-
denzen sind uns zum Teil schon vorgekommen, und werden uns
auch wohl noch gelegentlich begegnen. Ich beschränke mich
hier auf einige wenige, besonders charakteristische Züge, die
meist seinen Briefen entnommen sind. So sagt zum Beispiel
Epikur von sich selbst1, daß er „zerschmolz vor tränenreicher
Lust". Und unter den größten Qualen, meint er2, würde er
i) Frg. 186. 2) Frg. 601.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS 249
immer noch sagen: „Wie süß!" Einer Hetäre schreibt er1:
„König Päan, liebes Leontinchen, mit welchem Beifallssturm
hastdu uns erfüllt bei der Lektüre deines Briefchens!"; und einer
befreundeten Dame2: „Ich wäre imstande, mit Kugeleile mich
zu euch hinzurollen, wohin ihr mich ruft, wenn ihr nicht selbst
zu mir kommt." Ebenso schreibt er an einen schönen Jüngling3:
„Ich werde sitzen und deinen ersehnten und göttergleichenEintritt
erwarten." Für ein Geschenk dankt er4, indem er es „ein him-
melsgroßes Zeichen eures Wohlwollens" nennt, und von einem
! Freunde, der sich in einer Hafenstadt für einen Bekannten ver-
< wendet hatte, sagt er5: „Wie wohl und eifrig und edel schritt er
meerwärts hinab, Mithres dem Syrer zu helfen!"
Damit sind wir aber, geehrte Zuhörer, soweit gekommen, daß
| es nun gilt, einen Versuch zu machen, diese merkwürdige
I Mischung von Eigenschaften auch zu verstehen. Und da wage
[ ich denn — obwohl Einiges, was hier berührt werden muß, erst
im folgenden seine nähere Begründung finden kann — etwa
dieses zu vermuten. Der Grundzug im Wesen Epikurs war
ein unerhörtes Selbstbewußtsein, ein titanisches Gefühl der
eigenen Kraft, oder (wenn Sie mir einen Ausdruck gestatten
I wollen, der befremdlich klingt, aber doch an dieser Stelle seinen
guten und ernsten Sinn hat) er war heroische Eitelkeit.
Diesem unbegrenzten Kraftgefühl aber entsprach nur eine
begrenzte, wenn auch große und achtunggebietende Kraft. Und
das dunkle Bewußtsein dieser Diskrepanz warf auf die ganze
Epikureische Persönlichkeit einen Schatten von Schwermut
und Unruhe. Diese wenigen Elemente genügen, wie mir scheint,
um den Aufbau der ganzen, hochkomplizierten Gestalt zu be-
greifen. Gehen wir zunächst unter diesen Gesichtspunkten das
schon Besprochene noch einmal in aller Kürze durch.
Die intellektuelle Eigentümlichkeit wird nun ohne weiteres
verständlich. Es muß Alles klar sein. Denn was könnte ihm,
dem großen Epikur, unklar sein? Je einfacher, faßlicher, evi-
denter sich ihm die Dinge darstellen, desto entschiedener emp-
1) Frg. 143. 2) Frg. 125. 3) Frg. 165. 4) Frg. 183. 5) Frg. 194.
I
250 ELFTE VORLESUNG
findet er seine Überlegenheit — sowohl über die Probleme, die
er durchschaut und durchdringt, als auch über alle anderen,
gegenwärtigen und vergangenen Denkrivalen, die in ihnen so
viel Schwierigkeiten und Dunkelheiten finden konnten. Aber
seine geistige Kraft reicht zu einer wahren Überwindung aller
Probleme nicht aus. Darum müssen primitive und oft kindliche
Scheinlösungen diesen Mangel verdecken. Und zugleich findet
hier dasjenige statt, was sich auch sonst nicht selten ereignet hat:
eine durch Anwandlungen dunkler Schwermut heimgesuchte
Natur flüchtet sich in das blendend helle Licht eines krassen
Realismus. Der Materialismus als Rettungsanker für phanta-
stische Naturen ist ja keine ganz vereinzelte Erscheinung: gleich
der bedeutendste Epikureer, der Römer Lucrez, fällt wohl
ziemlich sicher unter diese Kategorie. Vom Meister selbst läßt
sich ganz soviel kaum behaupten. Doch scheint mir das eben
Gesagte immerhin wahrscheinlich.
Dann das scheinbar idyllische Leben in der Zurückgezogen-
heit des „Gartens". Die ganze Mühseligkeit, die hier auf die
Erzielung und Erhaltung des Genusses aufgewendet wird, zeigt
aufs deutlichste die Neigung zum Leiden an, die zugrunde liegt
und überwunden werden soll. Aber zugleich sehen Sie: auch
die Flucht aus der Welt beruht zum guten Teile auf einer Selbst-
täuschung; sie ist in Wahrheit Flucht vor sich selbst. In Epikurs
Wesen lag es ja, allen Regungen auszuweichen, deren er nicht
hätte Herr werden können; denn dann hätte sich die Diskre-
panz aufs unzweideutigste fühlbar gemacht: zwischen der Idee,
in der er stärker war als Alles, und der Wirklichkeit, in der
Vieles stärker war als er. Solche Regungen aber wären offen-
bar alle jene gewesen, wo der Ruhm, der äußere Erfolg in Frage
kamen. Sich befehdet, sich unterliegend, sich gedemütigt zu
sehen, das hätte sein Selbstbewußtsein tödlich verwundet, und
alsbald wäre seine „Erregungslosigkeit" gewichen. Gegen diese
Gefahren nun verschanzt er sich in seinem Garten, und schafft
sich so statt der wirklichen Welt mit ihren Mißerfolgen eine
Scheinwelt voll lauter Erfolgen. Niemand hat ja Zutritt, der nicht
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
251
die Meinung des Meisters von sich selbst teilen würde. Der
Kreis, der sich um ihn gruppiert, verehrt ihn wie ein unfehl-
bares Orakel. In diesem Spiegel aber genießt er sich selbst.
Das ist die Freundschaft, die „das größte Gut ist von denen,
welche die Weisheit bereitet zur Glückseligkeit des ganzen
Lebens" K Und weil er sich heroisch vorkommt in seinen Rück-
sichten und Gefälligkeiten, darum ist2 „Wohltaten erweisen an-
genehmer als Wohltaten erfahren"3; und darum4 würde der
Weise kein Bedenken tragen, für seinen Freund die größten
Schmerzen zu ertragen.
Über den Propheten aber ist es kaum nötig zu reden. Einem
Manne, der in seinem Testamente5 eine Stiftung zur Feier seines
eigenen Geburtstags errichtete, und der6 seine Lehren selbst
als „Orakelsprüche" bezeichnete, mußte das Bewußtsein seiner
welterlösenden Mission offenbar höchst lebendig einwohnen,
und bei ihm dürfen wir sicher sein, daß auch die eindringlichste
Feierlichkeit der Rede keine absichtslose war. Allein diese
Absichtlichkeit wäre nicht notwendig ein Übel, und sie wirkt
bei Epikur im ganzen weniger störend, als man geneigt wäre
zu erwarten. Das Schlimme ist vielmehr, daß doch recht oft
auch hier jene verhängnisvolle Diskrepanz zwischen Wollen
und Können bemerklich wird. Denn der Vornehmheit und
Feierlichkeit, die er erstrebte, stand, wie wir gesehen haben,
seine durch Geburt und Erziehung bedingte, recht kommune
und grobe Redeweise entgegen. Statt nun jene mit dieser aus-
zugleichen, überspannte er sein Ideal im Gegensatze zu seiner
Natur; und so kam dann gar häufig jene geschraubte und ge-
spreizte Ziererei, jene schwülstige Affektation zustande, von der
wir uns an einigen Beispielen überzeugt haben.
i) Kup. hol. 27. 2) Frg. 544. 3) ich fürchte , im Verhältnis zu dem ent-
sprechenden Worte des Evangeliums muß hier gelten: Wenn zweie das-
selbe sagen, ist es nicht dasselbe. Denn wie könnte man in der Epiku-
reischen Persönlichkeit, dieser Inkarnation der Selbstbehauptung, einen
Drang zur Selbsthingabe verstehen? 4) Frg. 546. 5) Frg. 217. 6) TTpoo-
<pu>vnat<; 29 (Wotke).
252 ELFTE VORLESUNG
Und von da bis zur Selbstgefälligkeit war nur mehr ein kleiner
Schritt. Sie lag ja von vornherein tief in seinem Wesen be-
gründet. Wurzelhaft war in ihm das Bedürfnis, an sich selbst
sich zu erfreuen. Aber wo die Kraft nicht ausreicht, so große
Taten zu setzen und so große Werke zu schaffen, daß sie diesem
Bedürfnis Genüge tun könnten, da liegt (gerade für feinere
Naturen, deren Wahrheitsinstinkt sich über diesen Sachverhalt
nicht täuschen läßt) die Versuchung nahe, diesen echten Titeln
falsche zu unterschieben, die nichts beweisen, weil sie nicht im
siegreichen Kampfe mit der widerstrebenden Wirklichkeit ge-
wonnen wurden. Dann entsteht die Empfindsamkeit, als ein
Schwelgen in der Größe und Erhabenheit der eigenen Ge-
fühle. Und wir haben gesehen, daß Epikur dieser Versuchung
nicht selten unterlegen ist. Aber ebensowenig konnte ihm
jener Abstand entgehen, der auch in seiner Ausdrucksweise
zwischen Wollen und Können klaffte. Das Unwahre seines
Schwulstes ist seinem Gefühl sicher nicht verborgen geblieben.
Und diesem unbehaglichen Bewußtsein gegenüber gab es nun
für eine Seele, die um keinen Preis eine Schwäche sich ein-
gestehen konnte, keinen anderen Ausweg, als aufs neue die
Stellung der Überlegenheit einzunehmen — sich selbst gegen-
über, keinen anderen somit, als die eigene Affektation zu paro-
dieren, sie so als eine gewollte darzustellen, und zu diesem
Behufe sich selbst zu ironisieren. Also auch, was diese Ironie
bedeutet, wissen wir jetzt; und daß sie, trotz des gleichen Namens,
mit jener des Sokrates psychologisch auch nicht Einen Zug
gemeinsam hat, darauf brauche ich Sie wohl nicht mehr be-
sonders aufmerksam zu machen. Vielmehr scheint es keinen
größeren Gegensatz geben zu können als den dieser beiden
Männer: nichts, sollte man meinen, könnte ihnen gemeinsam
sein. Und doch wäre ein solches Urteil vorschnell und trüge-
risch. Denn Eines ist ihnen in der Tat gemeinsam, und es ist
das Wichtigste und Entscheidendste von allem: auch Epikur
nämlich hat das sokratische Ideal mit innerster Überzeugung
sich zu eigen gemacht; seine Lebensauffassung ruht auf dem
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
253
Gedanken der inneren Freiheit, und seine Lehre gipfelt
in ihm.
Daß freilich dieses Ideal für ihn etwas ganz anderes bedeuten
mußte, als für irgend einen andern Sokratiker, versteht sich von
selbst. Und uns kann es auch keine Mühe mehr machen, festzu-
stellen, worin diese Bedeutung besteht. Epikur, so sahen wir
ja, war innerlichst eine über Alles selbstbewußte Natur. Sie wäre
lieber gestorben, ehe sie sich gestanden hätte, daß irgend etwas
auf der Welt stärker sei als sie. Und nun ist es der Stolz dieses
Titanenbewußtseins, der sich ausspricht, ja der enthusiastisch
ausbricht in den Gedanken: mag das Schicksal sich gegen mich
verschwören, mag die Welt gegen mich aufstehen, ich werde
zeigen, daß sie nichts vermögen, gegen mich, Epikur, des
Neokles Sohn, der weder Mensch noch Gott noch Schicksal
als Herrn über sich erkennt, sondern frei ist durch eigene
Kraft. Ich weiß nicht, geehrte Zuhörer, ob Sie so empfinden
wie ich. Und es kann nicht meine Aufgabe sein, Ihnen Wert-
urteile vorzuschreiben. Aber, wenn ich mein ganz persön-
liches Gefühl aussprechen darf, so muß ich sagen: dieser
felsenfeste Glaube an das Ideal der inneren Freiheit läßt mich
fast über alles hinwegsehen, was ich als seine höchst frag-
würdigen psychologischen Grundlagen zu erkennen glaube;
denn das Freiheitsbewußtsein selbst zwingt mir Achtung und
Ehrfurcht auf, mögen seine Wurzeln woher immer ihre Nah-
rung ziehen. Dafür aber, daß dieses Bewußtsein in der Tat bei
Epikur in voller Lebendigkeit bestanden hat, bin ich Ihnen
noch die Belege schuldig. Hören wir denn seine eigenen Worte!
„DerPhilosophie," sagt er1, „mußt du dienen,damit dir die wahre
Freiheit zufalle"; und2: „Die wertvollste Frucht der Selbstgenüg-
samkeit ist die Freiheit." „Der Weise ist immer glücklich3."
Er selbst sei bei Wasser und Brot bereit, mit Zeus um den Preis
der Glückseligkeit zu wetteifern4. Der Weise werde, wenn er
krank sei, oft über das Übermaß seiner körperlichen Leiden
l) Frg. 199. 2) TTpoö(pa»vri0i<; 77 (Wotke). 3) Frg. 397 , 506 und 508.
4) Frg. 602.
254
ELFTE VORLESUNG
lachen1. Auch im „Stier des Phalaris"2 werde er sagen3:
„Wie süß! Wie wenig beachte ich das!" „Der Weise wird
glücklich sein, auch wenn er gemartert wird4." Er wird sich
nicht töten, auch wenn er erblindet5. Von Metrodor aber rühmt
Epikur6, er sei „unerschrocken gegen Schmerz und Tod". Und
dieser selbst ruft aus7: „Ich bin dir zuvorgekommen, Schicksal,
und habe alle Zugänge verrammelt, so daß mich nicht einmal
dein Hauch berühren kann!" Auch darf man nicht sagen, dies
seien bloße Worte, zu denen die Taten fehlten — was oft ge-
nug nur die Ausrede derjenigen ist, die nicht einmal erhabene
Worte und große Vorsätze sich zumuten. Denn Epikur hat für
diesen seinen Glauben auch die Blutzeugenschaft abgelegt. Auf
seinem Totenbette nämlich schreibt er8: „An einem glücklichen
und zugleich am letzten Tage unseres Lebens schreiben wir
euch dieses. Harnverhaltung ist eingetreten, und Schmerzen der
Eingeweide, die keinen Zuwachs übrig lassen in bezug auf ihre
Größe. All dem aber stellen wir entgegen die seelische Freude,
welche aus der Erinnerung an die von uns geführten Unter-
suchungen entspringt. Du aber, würdig der hilfreichen Ge-
sinnung, die du von Kindheit an gegen mich und die Philo-
sophie bewiesen hast, sorge für die Kinder des Metrodoros!"
Die Möglichkeit dieser inneren Freiheit aber zu beweisen und
die Mittel zu ihrer Verwirklichung anzugeben, ist auch die Auf-
gabe seiner ethischen Theorie. Die letztere in dieser ihrer Ab-
zweckung darzustellen, und sie zugleich aus seiner Persönlich-
keit zu erklären, ist deshalb das Einzige, was mir jetzt noch
zu tun bleibt. Dies wird aber nach allem Bisherigen recht kurz
sich erledigen lassen, und um so kürzer, weil Epikur, darin der
Stoa ungleich, seine Ethik von der Begründung der traditionellen
Moralität durchaus getrennt hat. In letzterer Beziehung nämlich
hören wir nur, er habe Recht und Moralität auf einen Gesell-
schaftsvertrag zurückgeführt9, und gelehrt, daß sich ihnen der
!) Frg. 600. 2) einem Marterinstrument. 3) Frg. 601 und 604. 4) Frg. 601.
4 Frg. 15, 496 und 498. 6) Frg. 37. 7) Cicero, Tusc. V. 9. 27; Plut. De trän-
quill, anim. 18, p. 476c. 8) Frg. 122 und 138. 9) Küp. ooL 31— 38.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
255
Weise dennoch fügen werde1, nicht nur um der Strafe, sondern
auch, um der Furcht vor Entdeckung zu entgehen2; auf die Frage
\ aber, ob er die Moralvorschriften auch dann beobachten würde,
wenn er wüßte, daß eine Entdeckung ausgeschlossen ist, habe
er keine Antwort gefunden3. Dies alles aber lassen wir, da es
unseren Gesichtspunkt nicht näher berührt, beiseite, und
fragen uns nur, wie er zu der hedonischen Konstruktion der
Erlösungslehre gekommen ist, und in welchem Sinne er sie aus-
! gestaltet hat?
Einen zwingenden Grund dafür, daß Epikur seine Lebens-
stimmung gerade als Lustlehre formuliert hat, werden wir frei-
lich nicht angeben können. In gewissem Sinne ist ja meistens die
theoretische Grundüberzeugung das Zufälligste am Menschen,
nämlich dasjenige, was am wenigsten von seiner Natur, und am
meisten von seiner Umgebung abhängt. Denn aus sich selbst
vermag ein Jeder von uns nur weiterzuschreiten, sei es zu-
stimmend und fortbildend, sei es ablehnend und umbildend; auf
den ersten Ausgangspunkt aber muß er durch Andere gestellt
werden, wenn nicht in dauernder Einwirkung so doch in flüch-
tiger Anregung. Wir können deshalb wohl auch in diesem Fall
höchstens verstehen, was dem jungen samischen Schullehrer
den Hedonismus so anziehend machen mochte. Und dies
scheint nicht wunderbar. Denn erstlich hat diese Lehre sich zu
allen Zeiten besonderer Gunst bei Jenen erfreut, denen es mehr
um Klarheit und Deutlichkeit, als um Weite und Tiefe ihrer
Einsichten zu tun war4; und so kam sie Epikur s früher ge-
kennzeichneter intellektueller Eigenart geradenwegs entgegen.
Zweitens mußte sich eine Theorie, die vor Allem subjektive
Gefühlszustände ins Auge faßt, von vornherein einer Natur
empfehlen, die (wie wir sahen) zur selbstgefälligen Versenkung
ins eigene Bewußtsein neigte. Und endlich drittens zieht die
Lust immer besonders das Augenmerk Solcher auf sich, welche
*) Frg. 460 und 583. 2) «up. oöS. 17; Philodem, De rhetor. (voll. Herc. Va,
col. 24/5). 3) Frg. 18. 4) $o auch bei dem verehrungswürdigen Bentham,
dem Vater des modernen Utilitarianismus.
I
256
ELFTE VORLESUNG
durch ihr Temperament zum Leiden bestimmt sind. Pessi-
misten sind fast immer Hedonisten. Ein Beispiel hiervon haben
wir in Hegesias schon kennen gelernt. Ein weit größeres ver-
körpert sich in Buddha. Auch in unserer Zeit zeigen die
philosophischen Vertreter des Pessimismus in Deutschland
(Schopenhauer und Hartmann) dasselbe Bild. Dem Lei-
denden stellt eben schon sein Instinkt die Lust als das größte
Gut dar. Aber aus demselben Grunde zeigt der pessimistisch
fundierte Hedonismus fast immer auch ein besonderes theo-
retisches Kennzeichen. Denn nicht eigentlich nach Lust seh-
nen wir uns im Schmerz, sondern vor Allem nach Schmerz-
losigkeit. Und so gewinnt der erste Satz der Lustlehre die
Gestalt: die Lust fällt zusammen mit der Abwesenheit des
Leidens. So in all den angeführten Fällen. Und so auch bei
Epikur, dessen schwermütige Naturanlage schon hieraus un-
zweideutig erhellen würde. Denn auch er vertritt diese Ansicht,
ja er zieht aus ihr die äußersten Konsequenzen. Die Lust, lehrt
er nämlich, ist nichts anderes als Schmerzlosigkeit. Und da
demnach alle Freuden in gleicherweise nur den Nullpunkt der
hedonischen Skala bezeichnen, so haben sie alle untereinander
den gleichen Wert: auch ein unendliches Quantum von Lust
wäre nicht größer als ein endliches1.
Diese Schmerzlosigkeit also unter allen Umständen sich zu
bewahren, muß möglich sein, wenn die innere Freiheit selbst
denkbar erscheinen soll. Jene Möglichkeit nachzuweisen, und
sie nach ihren Bedingungen näher zu bestimmen, ist deshalb
die einzige Aufgabe der epikureischen Ethik. Lösbar aber er-
weist sie sich, indem dieser Bedingungen drei angegeben werden.
Erstens muß man zwischen den verschiedenen Bedürf-
nissen unterscheiden2. Denn einmal gibt es solche, die natür-
lich und notwendig sind, weil ihre Nichtbefriedigung positiv
schmerzt. Dahin gehören z. B. Hunger und Durst. Diese soll
man nach Tunlichkeit befriedigen. Dann gibt es welche, die
zwar natürlich sind, aber nicht notwendig, weil zwar ihre
i) Kup. ööH. 18 und 19; Frg. 417. 2) Ad Menoeceum S. 62. 8; xüp. ööE. 30.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
257
Befriedigung die Lust variiert, ihre Nichtbefriedigung aber
keinen Schmerz erzeugt. So zum Beispiel das Verlangen nach
schmackhaften Speisen. Diese darf man wohl befriedigen, soll
sich aber gewöhnen, diese Befriedigung auch zu entbehren.
Endlich gibt es Bedürfnisse, die weder natürlich noch not-
wendig sind, weil weder ihre Befriedigung Freude bereitet
noch ihre Nichtbefriedigung Leid. Zu diesen „bloß eingebildeten
I Freuden" gehört etwa der Ruhm. Diese soll man ganz und gar
j ausrotten. Denn1 „der Reichtum der Natur ist begrenzt und
leicht zu beschaffen; jener der leeren Einbildungen aber geht
ins Unendliche". Schon durch die Befolgung dieser ersten
Gruppe von Regeln also vermögen wir ein Großteil alles
j Schmerzes loszuwerden, und uns dem Ideal beträchtlich zu
i nähern. Was aber diese Gruppe von Regeln für Epikur per-
| sönlich bedeutet, das haben wir im wesentlichen schon früher
gesehen: sie bilden die theoretische Rechtfertigung jenes welt-
| abgeschiedenen Lebens, dessen Motive uns deutlich geworden
j sind. Doch wird man außerdem annehmen dürfen, daß auch
j das Bewußtsein, sich selbst zu beherrschen, und die eigenen
Bedürfnisse zu disziplinieren und einer festen Regel zu unter-
werfen, die Kraftgefühle des Philosophen gesteigert haben wird.
Allein neben der physischen Schmerzfreiheit ist vor allem
auch die geistige Ruhe, Unerschütterlichkeit oder „Erregungs-
losigkeit"2 zu Glück und Freiheit erforderlich. Denn3 „um
dessentwillen tun wir jegliches, um weder zu leiden noch uns
zu erregen. Wenn aber dies einmal uns begegnet, dann löst
sich gleichsam der Sturm der Seele". Auch sind4 nur diese
beiden eigentlich dauerhafte Lustzustände, nicht aber die mo-
mentane Lustigkeit und Fröhlichkeit. Um aber diese „Erregungs-
losigkeit" zu erreichen und zu bewahren , muß vor Allem eine
dreifache Furcht beseitigt werden: die vor den Göttern, die vor
dem Tode, und die vor Schmerzen. Dabei brauche ich Ihnen
kaum zu sagen, daß dieses Programm der Aufgabe zugleich ein
») Kup. Ö6L 15. 2) 'AxapaHia. 3) Ad Menoeceum S. 62. 15; vgl. Ad Herodotum
S. 30. 18 (Usener). 4) Frg. 2.
Gomperz, Lebensauffassung 17
258
ELFTE VORLESUNG
Eingeständnis des Tatbestandes enthält: wir tun hier einen Ein-
blick in jenen „Sturm der Seele", der Epikurs Gemütsruhe
bedrohte. Schwermut aber scheint mir durchweg seinen Ur-
sprung zu bezeichnen. Gleich in seinem Verhältnis zu den ;s
Göttern ist dies merkwürdig, daß er als selbstverständlich G
voraussetzt: wenn man überhaupt glaube, daß sie auf unser
Leben Einfluß nehmen, dann müsse Furcht die Hoffnung bei |e
weitem überwiegen. Denn sicherlich zeigt die Religion als i \i
empirische Tatsache den entgegengesetzten Charakter: sie be- iä
ruhigt und tröstet weit mehr und weit öfter, als sie schreckt und \
beunruhigt. Nun teilt zwarEpikur diese seltsame Verschiebung \ \
der Gesichtspunkte mit Demokrit und auch mit Aristippos. \
Dennoch kann sie nicht an dem Wesen der antiken Religion 3
hängen, wie einBlickauf Sokrates, Piaton oder die Stoa lehrt, |
oder eine Erinnerung an die Dichter, wie wenn Aischylos1 j,
singt:
„Aber wäg' ich alles ab,
Nichts vergleich' ich doch mit Zeus,
Wenn es die Last des ,Umsonst!' von der sorgenden Seele
Wahrhaft abzuschütteln gilt";
und ein andermal2:
„Jawohl! Doch noch mehr vermag Götterkraft:
Befreit oft auch den, der hilflos und schwer
Bedrängt schien von Noth, und der über sich
Nichts mehr als hangende Wolken sah";
oder Euripides3:
„Ja, der Gedank' an die Götter, dringt er ins Herz mir, befreit mich
Von allen Leiden".
Wir werden also schließen dürfen, nicht nur, daß zu dieser
Auffassung Epikurs unglückliches Temperament mitgewirkt
haben dürfte, sondern auch, daß für seine Stellung zum Götter-
glauben noch ein anderer Faktor mitbestimmend war: eben jenes,
hier im eigentlichsten Sinne zu nehmende „titanische" Selbst-
bewußtsein nämlich, das den Gedanken als unerträglich emp-
1) Agamemnon v. 152. 2) Sept. adv. Theb. v. 208. 3) Hippolyt v. 1 105.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
259
fand, es könnte abhängig sein von übermächtigen Wesen als
von natürlichen Herren, die ohne Vergleichung stärker wären
I als irgend ein Mensch. Hier, scheint mir, entspringt das Pathos
seines gewaltigen Streites gegen den Herrschaftsanspruch der
Götter; ja, fast möchte man sagen, er wollte mit ihnen einen
Vertrag schließen: sie sollen ungestört bleiben und selig dahin-
I leben in den „Zwischenwelten", wenn sie nur jedes Eingriffs
in sein Leben sich enthalten, und auch ihn glückselig leben
! lassen und herrenlos. Um aber das Seinige zu tun zu diesem
Ende, bietet er eine ganze Wissenschaft auf. Denn eben diesem
Zwecke dient einzig seine atomistische Physik: sie soll alle
Naturvorgänge „natürlich" erklären, und jede „übernatürliche"
Deutung ausschließen. Nur an dieser ihrer Abzweckung hat
die Naturwissenschaft die Berechtigung ihres Daseins1. Nächst
der Geisterfurcht aber ist vor Allem bedrohlich die Todes-
furcht2. Und auch hier kann man wohl verstehen: wie leicht
die epikureische Schwermut in Hypochondrie ausarten konnte,
und von welchen Angstanfällen eine so ganz auf das individuelle
Ich gestellte Lebensauffassung bedroht sein mußte, bei dem Ge-
danken an das unabwendbare Ende dieses individuellen Da-
seins. Aber Epikur hat mannhaft gegen diese Angst gestritten,
und mit unverächtlichen Gründen sich Mut und Zuversicht
bewahrt. Denn3 „nichts ist demjenigen im Leben schrecklich,
der sich aufrichtig überzeugt hat, daß nichts Schreckliches im
Nichtleben ist. So ist also nichtssagend die Behauptung, man
fürchte denTod, nicht weil er als gegenwärtiger schmerzen werde,
sondern weil er als zukünftiger schmerze. Denn was als Gegen-
wärtiges nicht weh tut, das betrübt euch als Erwartetes nur aus
bloßer Einbildung. Somit geht uns das schauerlichste der Übel,
der Tod, nichts an, da, so lange wir sind, der Tod ja doch nicht
da ist, wenn aber der Tod da ist, wir nicht sind. Also betrifft
er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da ihn ja doch diese
nicht erleiden, und jene nicht mehr existieren". Diese an sich
*) Ad Pythoclem S. 36. 1 ff. 2) Ad Herodotum S. 30. 8. *) Ad Menoeceum
S. 60. 20; vgl. Kup. 66H. 2.
17*
ELFTE VORLESUNG
richtige, aber bei all ihrer Zuversicht doch wie ein leises Zittern
der Stimme verratende Argumentation läßt sich nun aber auf
die schmerzhaften Krankheiten der Lebenden nicht anwenden.
Hier soll deshalb zunächst eine andere Betrachtung1 helfen:
„Nicht weilt der Schmerz beständig in dem Fleisch, sondern
der sehr heftige ist nur sehr kurze Zeit zugegen; der aber die
Lust im Fleische eben nur überwiegt, ereignet sich nicht viele
Tage; die langzeitigen unter den Krankheiten aber enthalten das
Erfreuende im Fleisch überwiegend gegenüber dem Schmerzen-
den." Man möchte wünschen, daß, was hier einigermaßen ge-
schraubt behauptet wird, durch die Erfahrung durchaus be-
stätigt würde.
Aber auch Epikur ist sich wohl bewußt, daß trotz allen die-
sen Kunstgriffen und Überlegungen noch physische Schmerzen
übrig bleiben. Auf deren Besiegung aber richtet sich sein drittes
und wichtigstes Prinzip: die gegenwärtigen Leiden sollen auf-
gewogen werden durch die Erinnerung an vergangene Lust.
Das Fleisch, hören wir2, werde bloß von der Gegenwart bewegt,
die Seele aber von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; und
so seien denn auch die seelischen Lustempfindungen stärker.
Daher ist3 „das eine Heilmittel des Weisen die Erinnerung an
vergangene Lust". Dies ist nun freilich eine seltsame Psycho- .
logie, und der Spott des Karneades4 liegt nicht fern, Epikur
tröste sich wohl in solchen Lagen mit der Erinnerung an seine
Liebesabenteuer, an guten Wein und reichliches Menu; und
ebenso der des Chrysipp5, das Zentrum seiner Philosophie
sei das Kochbuch des Archestratos. Und in der Tat: daß
die seelischen Genüsse stärker seien, weil sie auch Erinne-
rungen enthielten, ist ein sonderbarer Schluß. Vor allem
aber: was sollen wir uns denken, wenn wir hören, eine Lust
sei stärker als die andere, da doch alle nur die Abwesenheit
des Schmerzes bedeuten, und darum von gleicher Größe sein
sollen? Ja, wie kann überhaupt eine solche negative
i) Kup. ööE. 4. 2) Frg.452. 3) Frg. 122. *) piut. non posse suav. 4, p. 1089 c.
5) Frg. 709 (Arnim III).
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
261
Lust einem positiven Schmerz das Gleichgewicht
halten? Das ist kaum anders, als wollte Einer mit recht
vielen Seifenblasen einen Zentner aufwiegen! Allein, was Epi-
kur meint, verstehen wir doch sehr wohl. Die lustvollen Er-
innerungen nämlich sind nur eine Umschreibung für jenen
gegenwärtigen Selbstgenuß, der seiner Freude an der eigenen
Kraft entspringt, die schon in vergangenen Lagen sich bewährt
hat. Was ihn aber aufrecht hielt, da er auf dem Sterbebette lag,
und den gegenwärtigen Schmerzen die Erinnerung an die ver-
gangenen Untersuchungen „entgegenstellte", das sagt er uns in
diesen Worten selbst: es ist der Stolz auf seine eigene Bedeutung,
Größe und Kraft, und der feste Entschluß, kein Ungemach über
sich triumphieren zu lassen. Heroische Eitelkeit — so sagte ich
schon früher; und vielleicht sind Sie jetzt eher geneigt, diese
scheinbar ungereimte Formel sich anzueignen. Denn wir haben
jetzt gesehen: dasselbe Selbstbewußtsein, dessen Ansprüche im
Kontraste mit der Wirklichkeit in diesem Manne gar oft den
Schein der hohlen Aufgeblasenheit erzeugen, es hat ihm doch
wirklich die Kraft verliehen, diesen Ansprüchen im Leben und
im Tode gerecht zu werden. Und so hat hier die eitle, heroische
Pose, indem sie den echten Heroismus aus sich gebar, nach-
träglich sich selbst gerechtfertigt, und vermag es wohl, durch
diesen Wandel ihres Wesens den billig Denkenden mit sich zu
versöhnen.
Zusammenfassend aber werden wir sagen dürfen: die epiku-
reische Ethik ist psychologisch das Erzeugnis höchst fragwür-
diger persönlicher Bedürfnisse, und theoretisch die unhaltbarste
aller hedonischen Konstruktionen. Aber in ihren Forderungen
und Ergebnissen stimmt sie dennoch zusammen mit allen an-
deren Formen der sokratischen Selbsterlösungslehre. Und nach
genauester Zergliederung und Erwägung werden wir ihr den
Titel nicht absprechen dürfen, auf den allein sie Anspruch
machen kann, der aber auch allein genügt: auch sie, müssen wir
gestehen, ist eine Ethik der inneren Freiheit!
262
ELFTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer! Noch ein ethisches System, das diese
Grundlage teilt, bleibt uns in diesem Zusammenhange zu
betrachten übrig: das skeptische,wie es durch Pyrrhon von Elis
in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts aufgebracht, etwas
später durch Arkesilaos und im 2. Jahrhundert durch Kar-
neades fortgebildet und um die Wende unserer Zeitrechnung
durch Ainesidem und andere wieder aufgenommen wurde.
In Hinsicht der theoretischen Philosophie ist die Skepsis von
höchster Bedeutung, und nimmt da vielfach die vorgeschobenste
Position ein, die das Altertum überhaupt erreicht hat. Was aber
die praktische Seite betrifft, so ist uns ihre Philosophie in einem
so trümmerhaften Zustande überliefert, daß leider die wenigen
Minuten, die uns heute noch zur Verfügung stehen, hinreichen
dürften, um Ihnen das Wesentlichste davon mitzuteilen. Ich be-
mühe mich dabei, den ethischen Gedankengang der Skepsis
möglichst abgelöst von ihren theoretischen Lehren darzustellen.
Im ganzen kann man sagen, die skeptische Lebensauffassung
sei die Umkehrung der sokratischen, und teile doch mit ihr das
praktische Ziel und den theoretischen Ausgangspunkt. Sokrates
wollte zur inneren Freiheit gelangen durch das rechte Wissen.
Dieses aber blieb seinem Inhalte nach unbestimmt. Allein die
sorgfältigsten und scharfsinnigsten Bemühungen der größten
Denker vermochten nicht, diesen Inhalt in einer allgemein ein-
leuchtenden und gültigen Weise festzustellen. Hieraus würden
wir den Schluß ziehen, daß die intellektualistische Formulierung
des Erlösungsideals überhaupt aussichtslos sei. Pyrrhon aber
zog diese Folgerung nur halb. Denn nicht in einem anderen
Vermögen suchte er das Mittel zur Erlösung, sondern in einer
anderen Verwendung desselben Vermögens. Nicht etwa das
Gefühl oder der Wille schien ihm der entscheidende Faktor
zu sein, sondern die rechte Unwissenheit. Dort nämlich war
die Meinung: die innere Freiheit kann nur erlangt werden,
wenn wir etwas als das Gute erkennen; hier aber: sie kann auch
errungen werden, wenn wir nichts als Übel erkennen. Denn
sowie uns das Gute sicher wäre, wenn wir es als solches er-
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
263
kennten; so sind wir doch auch vor dem Übel sicher, wenn wir
nichts für ein solches halten. So angesehen, tritt uns sowohl
die Gemeinsamkeit des Freiheitsideals als auch die des intellek-
tualistischen Ausgangspunktes deutlich entgegen. Daß aber nur
dieser negative Weg übrig bleibe, folgt von selbst, wenn erst die
Ungangbarkeit des positiven Weges dargetan ist. Diese aber
schien den Skeptikern nicht zweifelhaft. Denn ein Wissen um
das Gute ist weder möglich, noch nötig, noch nützlich.
Es ist nicht möglich. Denn einmal ist nach der skeptischen
Lehre überhaupt kein Wissen möglich. Zweitens zeigt die ver-
gleichende Betrachtung der Moralsysteme verschiedener Völker,
daß die Menschen bald dieses, bald jenes für ein Gut halten1.
Drittens sieht jedermann, daß dem Einen nützt, was dem Andern
schadet. Viertens widersprechen einander alle philosophischen
Versuche, das Gute seinem Wesen nach zu bestimmen. Es ist
also „weder etwas gut noch etwas schlecht"2 und „das von
Natur Gute unerkennbar"3; und es muß deshalb über diese, wie
über alle anderen Fragen „Zurückhaltung" des Urteils4 geübt
werden.
Das Wissen vom Guten ist aber auch nicht nötig. Denn die
praktische Tätigkeit wird unmittelbar durch die Sinnesempfin-
dung ausgelöst, und es bedarf dazu keiner Vermittlung durch
die Erkenntnis5.
Das Wissen wäre aber auch gar nicht nützlich. Denn gerade
das Bewußtsein der Unwissenheit führt zum Glück. Um näm-
lich dieses zu erlangen, muß man bedenken: erstens die Dinge;
zweitens unsere Stellungnahme zu ihnen; drittens die Wirkun-
gen dieser Stellungnahme6. Nun zeigt sich aber, daß die be-
wußte Unwissenheit die vorteilhafteste Stellungnahme ist.
Denn das größtmögliche Glück besteht — und hier trifft die
Skepsis im Ausdruck mit Epikur zusammen — in der „Er-
!) Sext. Emp. Pyrrh. III. 198 ff.; Diog. Laert. IX. 83. 2) Diog. Laert. IX. 61;
vgl. Sext. Emp. adv. Math. XI. 140. 3) Diog. Laert. IX. 101. *) 'Gttoxti.
5) Plut. adv. Colot. 26, p. 1122b. 6) Euseb. Praep. Ev. XIV. 18. 2, p. 758c
(Timon).
264
ELFTE VORLESUNG
regungslosigkeit"1, das heißt aber: darin, gar keinen Affekt zu
empfinden wegen des bloß eingebildeten Leides2, und einen nur
mäßigen Affekt3 wegen des notwendigen Leidens4. Diese „Er-
regungslosigkeit" aber folgt der „Zurückhaltung" wie ihr Schat-
ten5. Denn die Meinung, daß ein Erlebnis ein Übel sei, bedingt
— und hier werden Sie sich an Epiktet erinnern — eine weit
ärgere Erregung als das Erlebnis selbst. Man sieht ja oft, daß
bei chirurgischen Operationen der Kranke ganz munter bleibt,
die Zuschauer aber in Ohnmacht fallen. Um so viel stärker ist
die Einbildung als das Erlebnis selbst6. Von ihr aber befreit
uns die „Zurückhaltung", und sie ist deshalb das „Ziel"7.
Der Skeptiker wird sich daher jedes Wissensdünkels ent-
halten, und in seinem täglichen Leben einfach der Gewohnheit,
dem Herkommen folgen, nichts, was ihm dabei begegnet, für
ein Übel haltend8. Darin besteht die Tugend, und sie reicht
zur Glückseligkeit vollkommen aus9. Die beiden letzten Be-
stimmungen sind für uns entscheidend; denn sie sind die Kenn-
worte und Merkzeichen der Erlösungslehre, und stellen außer
Zweifel, daß auch die Skepsis das Ideal der inneren Freiheit
anerkennt und an ihm festhält.
Diesem Ideal scheint nun auch das Leben des Pyrrhon recht
sehr entsprochen zu haben, soweit wir nach dem anekdotischen
Material urteilen können, das hier freilich einen weniger ver-
läßlichen Eindruck macht als in anderen Fällen. Die größte
Abweichung von seinen Prinzipien, die uns überliefert wird,
ist diese: er sei, heißt es10, über einen ihn anfahrenden Hund
erschrocken, und habe danach ausgerufen: „Schwer ist's, den
Menschen gänzlich auszuziehen!" Im übrigen aber habe er,
der ursprünglich ein Maler gewesen sei11, ruhig und still mit
seiner Schwester gelebt, das Haus für sie gereinigt, und sein
») 'AxapaHi'a. 2) Apathie. 3) Metriopathie. 4) Sext. Emp.Pyrrh. III. 235. 5) Diog.
Laert. IX. 107 (Timon und Ainesidem). 6) Sext. Emp. Pyrrh. III. 236.
7) Diog. Laert. IX. 107. 8) Cicero, De fin. IV. 16. 43; Tusc. V. 29. 83. 9) Euseb.
Praep. Ev. XIV. 18. 20, p. 762a; Sext. Emp. Pyrrh. III. 236. ">) Diog. Laert.
IX. 66; Euseb. Praep. Ev. XIV. 18. 26, p. 763a. n) Diog. Laert. IX. 61.
EPIKUR UND DIE SKEPSIS
265
Leben durch den Verkauf von Vögeln und Ferkeln gefristet1.
Man rühmte von ihm, er sei immer gleichmütig, im selben
Zustand gewesen2, und erzählte, als er einer Wunde wegen
geschnitten und gebrannt wurde, habe er nicht einmal die
Brauen zusammengezogen3. Und welchen Wert er auf den
Mangel an „Meinungen" über die jeweiligen Erlebnisse legt,
| dies illustriert gut die Geschichte4: als bei einer stürmischen
Meerfahrt alles in Schrecken war, habe er auf ein ruhig fressen-
! des Schwein gezeigt, und gesagt: ebenso erregungslos müsse
! der Weise sein. Daß er jedoch deswegen nicht etwa, wie man
| wohl behauptete, ohne Vorbedacht gelebt habe, wird uns
— wenn es denn für eine so selbstverständliche Sache eines Be-
weises bedarf — auch noch ausdrücklich bezeugt5. Im ganzen
! aber erhalten wir das Bild eines Mannes, dessen Gemütsruhe
einer vollkommenen Ergebung in den Weltlauf und einer souve-
ränen Geringschätzung aller menschlichen Dinge entspringt —
einer Stimmung also, die jener des greisen Piaton recht ähn-
lich ist. Und in der Tat finden wir auch eine wenigstens leise
Andeutung des Weltspielgedankens. Denn es wird uns berich-
tet6, er habe mit Vorliebe den homerischen Vers zitiert:
„So wie der Blätter Geschlecht, so ist auch jenes der Menschen" ;
und die andern:
„Freund, so stirb denn auch du! Wozu das vergebliche Klagen?
Starb ja doch auch Patroklos, der doch viel besser als du war!"
„Und was überhaupt die Unsicherheit und eitle Geschäftigkeit
und das Kindermäßige der Menschen ausdrückte, führte er an."
Sein Schüler Timon aber besang ihn in folgenden Versen7:
„Frei von ,Einbildung<8 war er, und unbezwungen von allem,
Was die Andern bezwingt, die bekannten und minder bekannten
Leichten Schwärme der Menschen, die immer wieder bedrückt
sind
Von Einbildung des Leidens, und von zufälliger Satzung."
1) Diog. Laert. IX. 66. 2) Diog. Laert. IX. 63. 3) Diog. Laert. IX. 67. 4) Diog.
Laert.IX.68. 5) Diog. Laert. IX. 62 (Ainesidem). 6) Diog. Laert. IX. 67. 7)Euseb.
Praep. Ev. XIV. 18. 19, p. 761 e. 8) xOcpoq, der kynische Kunstausdruck.
266
ELFTE VORLESUNG
„Greiser Pyrrhon1! Wie fandst du und wo den rettenden
Ausweg
Aus der Knechtschaft der ,Meinung' und des sophistischen
Hohlsinns?
Sprengtest die Fessel jedes Betrugs und jeglichen Anscheins!
Brauchst nicht darüber zu grübeln, woher in Hellas der Wind weht,
Noch auch, woraus und wozu ein jegliches Ding sich entwickelt."
„Dieses aber, o Pyrrhon, verlangt mich im Herzen zu hören,
Wie du es wohl vermagst, so leicht und ruhig zu leben,
Einzig unter den Menschen, ein Fürst nach der Weise der
Götter."
Einer ernstlichen Kritik, geehrte Zuhörer, werden wir bei
diesem fragmentarischen Zustande unserer Kenntnisse die skep-
tische Lebensauffassung kaum unterziehen können. Ich sagte
Ihnen schon: daß der hellenische Intellektualismus nach so viel
fehlgeschlagenen Versuchen sich endlich gegen sich selbst kehrt,
werden wir begreifen und nicht bedauern; und daß er in dieser
selbstmörderischen Stellung verharrte, statt zum Grundübel
vorzudringen und eine neue Bahn zu eröffnen, können wir ent-
schuldigen, zugleich aber auch verstehen, daß letztlich die Er-
öffnung einer solchen neuen Aussicht nicht lediglich zu beklagen
ist, wenn sie auch nur durch einen Bruch mit der ganzen an-
tiken Tradition, und durch ein langdauerndes Zurücktreten des
Selbsterlösungsgedankens erkauft werden konnte. Allein den
Rest des Weges, den die Geschichte dieses Gedankens bis zu
jener Katastrophe noch zurückzulegen hatte, können wir erst
nächstens verfolgen. Für heute muß uns die Feststellung ge-
nügen, daß Pyrrhon, der wahrscheinlich auch äußerlich (durch
den Megariker Bryson2) mit der sokratischen Tradition zu-
sammenhängt, jedenfalls innerlich, nach dem Geiste seiner
Lebensauffassung, trotz alles Gegensatzes der theoretischen
Ausgestaltung an der sokratischen Grundüberzeugung Teil
nimmt; und daß sich so die skeptische Ethik als letztes Glied
jenen Ausdrucksversuchen für das Ideal der inneren Freiheit
anreiht, die wir in den letzten Vorlesungen betrachtet haben.
i) Diog. Laert. IX. 65. 2) Diog. Laert. IX. 61.
VERFALL UND AUSGANG DER PHILO-
SOPHISCHEN ETHIK DER GRIECHEN
ZWÖLFTE VORLESUNG
Geehrte Zuhörer!
IR haben nunmehr die große Bewegung, die
durch den mächtigen Anstoß des Sokrates
eingeleitet wurde, durch ihre verschieden-
artigen Formen und Abschnitte begleitet, und
sie bis zu dem ersten Stillstande verfolgt,
der eintreten mußte, als die Kraft jenes Im-
pulses sich erschöpft hatte. Es ist ein Zeit-
raum von etwa 120 Jahren, den diese Entwicklung erfüllt; denn
so weit stehen die Jahre 420 und 300 voneinander ab, und in
jenem dürfen wir uns die sokratische Wirksamkeit auf ihrem
Höhepunkt denken, in diesem aber sind auch die letzten großen
Systeme der Sokratiker im wesentlichen abgeschlossen. Es ist
dies die größte philosophische Fernwirkung, die (wenigstens
im Abendlande) jemals stattgefunden hat. Denn um mehr als
das Doppelte übertrifft sie die beiden analogen Denkerreihen:
Descartes — Leibniz und Kant — Hegel. Und wir haben
gesehen: diese ganze Zeit hindurch steht das ethische Empfinden
und Denken der griechischen Philosophen durchaus im Banne
der sokratischen Persönlichkeit und Lehre: die innere Freiheit
bleibt das praktische Ziel, der Intellektualismus das theoretische
Mittel. Aber durch dieses Mittel war jener Zweck nie völlig zu
erreichen: allen Versuchen, den Erlösungsprozeß, welcher in
einer Änderung unseres Wunschverhaltens besteht, in Aus-
drücken zu formulieren, die vom Urteilsverhalten hergenommen
268
ZWÖLFTE VORLESUNG
sind, mußte notwendig etwas Unbefriedigendes anhängen; und
so hat schließlich die Skepsis das Prinzip selbst ad absurdum
geführt, und aus der Voraussetzung, das Wissen sei der Grund-
wert, die Folgerung abgeleitet, das ideale Ziel sei die Unwissen-
heit.
Hatte sich aber so die innere Dialektik der Freiheitslehre
vollendet, so führte dies doch nicht zum Aufleben neuer Ver-
suche, sondern vielmehr zur Erstarrung der alten Systeme. Im
Schatten des großen und ehrwürdigen Baumes sind keine neuen
Sträucher erwachsen; aber auch aus dem verholzten Stamme
selbst ist, ein halbes Jahrtausend lang, kein neues Reis erblüht.
Die sokratischen Schulen haben sich, vertrocknend und er-
sterbend, jahrhundertelang erhalten. Aber sie haben in stei-
gendem Maße ihre Widerstandskraft verloren. Sie erinnern
sich ja: von Anfang an stand die philosophische Ethik der in-
neren Freiheit mitten inne zwischen der patrizischen Ethik des
Maßes und der plebejischen Ethik der Heiligkeit. Aber, indem
sie nun morsch und bröcklig wurde, ging sie immer sicherer
ihrem Schicksal entgegen: zwischen den beiden volkstümlichen
Lebensauffassungen zerrieben und zerstäubt zu werden. Dabei
erscheint in dem ersten Vierteljahrtausend die aristokra-
tische Oberströmung als die bedrohlichere Gefahr; in der
zweiten Hälfte jenes Zeitraums aber hat die fortschreitende
Proletarisierung gerade die demokratische Unterströmung zum
Siege geführt.
Allein die Rückfälle von der grundsätzlichen Überwindung
zur bloßen Beschränkung und gegenseitigen Ausgleichung der
„niederen" Interessen haben nicht bis zum Jahre 300 auf sich
warten lassen: schon unmittelbar nach dem Tode des Meisters
sind derartige Bestrebungen hervorgetreten, und haben wäh-
rend des folgenden Jahrhunderts an Zahl wie an Bedeutung zu-
genommen.
Xenophon, ein adeliger, sportgewandter und bigotter Kaval-
lerieoffizier, der im übrigen einer gewissen nüchternen Ver-
ständigkeit für private und öffentliche Angelegenheiten nicht
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 269
entbehrte, hat eine ungewöhnliche Kunst der Trivialisierung
aufgeboten, um das sokratische Ideal zu einem Kodex prak-
tischer Klugheitsregeln für Durchschnittsmenschen seines
Schlages zurechtzuschneiden.
Aber auch Piatons nächster Schülerkreis, die sogenannte
ältere („erste") Akademie, hat es nicht vermocht, das Banner des
sokratisch-platonischen Idealismus hochzuhalten. Während auf
der einen Seite Eudoxos sich der Lustlehre zuneigte1, machte
auf der anderen das Gros der Schule die vollkommene „Glück-
seligkeit" neben dem Besitze der „Tugend" auch von jenem der
„äußeren Güter" abhängig. In dieser Beziehung scheinen die
aufeinander folgenden Schulhäupter Speusipp, Xenokrates,
Polemon und Krantor eine im wesentlichen übereinstim-
mende Lehre entwickelt zu haben. Ihr zufolge besteht das ethi-
sche „Ziel" in dem Besitze jener natürlichen Güter, auf die
unsere elementaren Triebe sich richten2. Und obwohl die
Tugend, als die richtige Seelenverfassung, das wichtigste dieser
Güter ist, so besteht doch nicht allein in ihr das Ziel3; denn
auch Gesundheit, Lust und Reichtum4 sind nicht indifferent.
Und so ergibt sich die folgende Rangordnung der Güter: 1. Tu-
gend, 2. Gesundheit, 3. Lust, 4. Reichtum5. Indem nun aber die
Akademiker diese ihre Ansicht mit der so entschieden entgegen-
gesetzten platonischen Überzeugung in Einklang zu setzen
suchten, verfielen sie auf die wunderlichsten Auskünfte. Sie
meinten bald: die Ursache des Glückes sei die Tugend, seine
unerläßliche Bedingung aber sei der Besitz der äußeren Güter6;
bald gar: die Tugend allein bewirke zwar schon eine gewisse,
aber erst das Hinzutreten der äußeren Güter mache aus dieser
eine vollkommene Glückseligkeit, und aus dem „glücklichen"
ein „glücklichstes" Leben7.
i) Aristoteles, Eth. Nie. X. 2, p. 1172 b 9. 2) ciem. Alex. Strom. II. 133,
p. 500; Cicero, Acad. prior. II. 42. 131 und de fin. II. 11. 34. 3) Cicero, de
fin. IV. 18. 49. 4) piut#j de comm. not. 13, p. 1065a. 5) Sext. Emp., adv.
Math. XI. 58. 6) Clem. Alex. a. a. O. ?) Cicero, Tusc. V. 13. 39f. und 18. 51;
Seneca, Ep. 85. 18 f.
270
ZWÖLFTE VORLESUNG
Ganz im Sinne dieser Bestimmungen bewegt sich nun auch
die Ethik des berühmtesten Akademikers: die des Aristoteles!
Kein Verständiger wird die außerordentlichen Verdienste dieses
großen Denkers verkennen; allein wir müssen uns darüber klar
werden, daß dieselben Eigenschaften, die in so vielen anderen
Hinsichten seine Bedeutung begründen, auch die höchst emp-
findlichen Schwächen seiner Ethik veranlaßt haben. Denn
unter jenen Eigenschaften stehen in erster Linie die Weite und
Feinheit seiner Beobachtung, und die synthetische Kraft zu der
zusammenfassenden Bearbeitung und Beschreibung der also
beobachteten Tatsachen. Allein dieser systematisierende Em-
pirismus, dem wir die Begründung einer wissenschaftlichen
Logik, Psychologie, Poetik, Politik, Zoologie und (indirekt) Bota-
nik verdanken, hat schon für die Metaphysik, und noch mehr für
die Ethik schwere Nachteile mit sich gebracht. Hinsichtlich der
Metaphysik muß ich hier nur einen Punkt berühren. Aus Pia-
tons, sowohl der Körper- wie der Bewußtseinswelt gegenüber
transzendenten „Ideen" hat Aristoteles den Dingen immanente
„Formen", d.h. Struktur- oder Organisationsprinzipien gemacht.
Dadurch ist er nun freilich jenem Motiv der Ideenlehre gerecht
geworden, das für die Ähnlichkeit der, gleichen Gattungen und
Arten untergeordneten Einzeldinge eine Erklärung geben wollte;
und, soweit dieses Motiv in Frage kommt, bedeutet seine Um-
bildung der Lehre ohne Zweifel einen Fortschritt auf dem Wege
zur Annäherung an die Gegebenheiten der Erfahrung. Allein
schon jene zweite Seite der platonischen Lehre, die in den Ideen
die gemeinsamen Gegenstände aller logisch gleichwertigen Ge-
danken aufzeigen wollte, ist hier nicht zu ihrem Rechte ge-
kommen, und hat den Stagiriten gezwungen, als Ersatzmittel
eine höchst künstliche und unbestimmte Theorie1 einzuführen.
Was aber gar die dritte Bedeutung der Ideen angeht, nämlich
ihre paradigmatische Funktion als ideale Musterbilder, so
fehlt dem Aristoteles für sie jedwedes Verständnis. Denn,
unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, heißt: die Ideen den
*) Vom sogenannten No0<; TrouyrtKo«;.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 271
Dingen immanent sein lassen, nichts anderes als: das Ideal in
der Erfahrung suchen; und was von einem solchen Unternehmen
die notwendige Folge sein muß, können Sie sich denken. Da-
mit will ich nicht sagen, daß unser Philosoph irgend einen Tadel
dafür verdiene, daß er in seiner „Nikomachischen Ethik« An-
läufe zur Begründung einer beschreibenden Moralwissenschaft
unternommen hat. Im Gegenteil: daß eine solche Wissenschaft
geschaffen werde, ist auch heute noch ein Gegenstand ebenso
dringender als bisher vergeblicher Wünsche. Allein wenn be-
schreibende Moralwissenschaft zugleich vorschreibende Ethik
sein will, dann werden durch solche Verwirrung ihrer Aufgaben
beide Disziplinen in gleich unheilvoller Weise in ihren tiefsten
Lebensinteressen geschädigt. Denn offenbar ist es unmöglich,
durch die Beschreibung dessen, was ist, zugleich festzustellen,
was sein soll. Von dieser Grenzverwischung aber kann Aristo-
teles unmöglich freigesprochen werden.
Seine deskriptive Ethik nun hat für uns nur ein mittelbares
Interesse. Und nur soweit dieses in Frage kommt, muß ich hier
ihre allgemeinsten Grundgedanken skizzieren. Sie bewegen
sich in folgendem Gedankengang. Der oberste Zweck eines
jeden Dinges besteht in der möglichst vollkommenen Ausübung
der ihm eigentümlichen Funktion1. Nun ist der Mensch ein mit
Vernunft begabtes Lebewesen. Seine eigentümliche Funktion
ist also die Betätigung seiner Vernunft2. Die Vernunft kann
sich theoretisch und praktisch betätigen; aber nur tfie letztere
Betätigungsweise kommt für die Ethik in Betracht3. Diese be-
steht aber in der Beherrschung der nichtvernünftigen, also tie-
rischen Natur4. Das Wesen dieser Beherrschung ist nun weiter
darin zu suchen, daß die Vernunft das rechte Maß einhalten
wird, das ist: die richtige Mitte zwischen den unvernünftigen
Extremen5. So z.B. ist das richtige Verhalten in bezug auf Ein-
nahmen und Ausgaben (die „Freigebigkeit") ebenso entfernt
1) Eth. Nie. I. 6, p. 1097 b 25. 2) Eth. Nie. I. 6, p. 1098a 3; X. 7, p. 1178a 6.
3) Eth. Nie. I. 13, p. 1103a 7. 4) Eth. Nie. I. 13, p. 1102b 23 ff. 5) Eth. Nie.
II. 5, p. 1106 b 8.
272
ZWÖLFTE VORLESUNG
vom Geiz wie von der Verschwendung1. Aber diese rechte
Mitte ist nicht ein bloßer Durchschnitt zwischen den denkbar
größten Abweichungen nach beiden Seiten; denn sie kann dem
einen Extrem näher stehen als dem andern, wie z.B. die Frei-
gebigkeit offenbar dem Geiz mehr entgegengesetzt ist als der
Verschwendung2. Fragt man also nach dem Kennzeichen der
rechten Mitte, so muß auf das Urteil eines verständigen, d. i.
sittlich gebildeten Mannes verwiesen werden, und man kann
deshalb die Tugend ihrem allgemeinsten Wesen nach dahin be-
stimmen, sie sei ein mittleres Handeln, in angemessener Ent-
fernung von beiden Extremen, nach dem Urteile eines verstän-
digen Mannes3.
Hätten wir nun diese Lehre an und für sich zu würdigen, so
würde es freilich nicht schwer halten, auch in ihr der schwachen
Punkte genug zu finden. Wir müßten dann nicht nur auf die
große Künstlichkeit der Theorie von der rechten Mitte hin-
weisen, der sich Tugenden wie Wahrhaftigkeit und Gerechtig-
keit so gar nicht fügen wollen; und die Erklärung des Philo-
sophen, jene sei das Mittlere zwischen Selbstverkleinerung und
Übertreibung4, diese aber zwischen Unrecht tun und Unrecht
leiden5, möchte uns dann schwerlich als mehr erscheinen, denn
als eine witzige Ausrede. Sondern wir müßten vor allem be-
tonen,, daß Maximen wie diese: der Mensch soll ganz Mensch
sein; er soll sich als vernünftiges Wesen vernünftig betragen;
das vernünftige Betragen besteht in jenem Maßhalten zwischen
den Extremen, das ein vernünftiger Mann billigen kann — doch
gar zu deutlich das Gepräge der Tautologie an sich tragen6;
und daß eben diese rein formale Natur der aristotelischen Moral-
begriffe es später der Scholastik ermöglicht hat, diese Form mit
einem gänzlich disparaten Inhalte zu erfüllen, ohne an den
Worten irgend etwas zu ändern.
i) Eth. Nie. IV. 1, p. 1119b 22. 2) Eth. Nie. IV. 3, p. 1121a 19. 3) Eth. Nie. II.
6, p. 1106b 36. 4) Eth. Nie. II. 7, p. 1108a 19. 5) Eth. Nic.V. 9, p. 1133b 29.
6) Vgl. Eth. Nie. VI. 8, p. 1144b 30: „Nach dem Gesagten ist es also klar,
daß es unmöglich ist, in der Hauptsache gut zu sein ohne Einsicht, und
ebenso, einsichtig zu sein ohne die ethische Tugend.*
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 273
Allein uns interessiert hier ein Anderes: die Frage nämlich,
woher diese Grundbegriffe der Moralphilosophie stammen, und
durch welche Methode sie gewonnen sind? Und da ist ohne
weiteres klar: diese Begriffe sind das Kredo der allgemein grie-
chischen Ethik des Maßes, und sie sind abgezogen von den Wert-
urteilen jener höfisch-patrizischen Gesellschaft, in der sich der
Philosoph bewegt hat. Ebenso klar aber ist dann auch, welche
Behandlung dem Ideal der inneren Freiheit bevorstehen muß,
( wenn es nach dieser Methode untersucht und an diesem Maß-
I stabe gemessen werden soll.
In der Tat rächt sich hier auf das schwerste jene totale empi-
ristische Verkennung des Idealbegriffes, von der ich früher ge-
sprochen habe. Wenn Piaton im „Staate" die Frage aufwirft,
ob der Gerechte auch in den denkbar schlimmsten äußeren
Umständen glücklich bleibe, und sie mit allem Nachdrucke be-
jaht, so meint er unter dem „Gerechten", von dem dies gilt,
i gewiß weder sich selbst, noch irgendwelche andere, in der Er-
fahrung anzutreffende Menschen, wie sie sind; und nicht von
I ihnen will er eine so zulängliche Seelenverfassung aussagen,
sondern vielmehr von dem Menschen, wie er sein soll: also
von dem „Gerechten" in seiner begrifflichen Reinheit und
Strenge, dem paradigmatischen Typus des gerechten Mannes,
dem ethischen Ideal! Für Aristoteles aber ist der Sinn des
Problems völlig verschoben. Er sieht sich unter den Menschen
seines Kreises um, die für „gut" oder „gerecht" gelten, beob-
achtet ihr Verhalten in schwierigen Lagen, achtet auf ihre Wert-
urteile, und kann auf diesem Wege unmöglich zu einem anderen
Ziel gelangen, als zu einer entschiedenen Verneinung der pla-
tonischen Frage. „Diejenigen," sagt er1, „welche den Menschen
für glücklich erklären, auch wenn er gefoltert würde und den
! größten Unglücksschlägen anheimfiele, sobald er nur gut sei
! — die sagen, bewußt oder unbewußt, gar nichts." Denn
; Glück ist ja vollendete Tätigkeit. Zu deren Ausübung aber
j sind viele äußere Hilfsmittel erforderlich. Und zum Glücke
») Eth. Nie. VII. 14, p. 1153 b 19.
Gomperz, Lebensauffassung 18
274
ZWÖLFTE VORLESUNG
bedarf man deshalb sowohl äußerer Güter als auch der Gunst
des Schicksals1. Ja, man kann geradezu definieren2: „Glück-
lich ist, wer der Summe seiner Fähigkeiten gemäß wirkt, und
mit äußeren Gütern hinreichend ausgestattet ist." Fehlt aber
diese Ausstattung, dann tritt der Fall ein, für den schon die an- I
deren Akademiker keine eindeutige Antwort zu geben wagten;
und auch unser Ethiker hat es nicht über eine lahme Halbheit
hinaus gebracht3: „Elend möchte also wohl der Glückliche (und
daher auch Tugendhafte, denn an diesem Bedingungsverhältnis
hält Aristoteles fest) nie werden können, aber doch auch wird
er nicht glückselig bleiben, wenn ihn die Schicksale des Priamos
träfen." So setzt also der „Empiriker" zunächst an die Stelle
des Idealmenschen den Durchschnittsmenschen; und da dieser
Durchschnittsmensch für den geschichtlichen und gesellschaft-
lichen Standpunkt des Stagiriten ein vornehmer Grieche ist, so
verdrängt infolgedessen dann auch die aristokratische Ethik des
Maßes das philosophische Ideal der inneren Freiheit4.
i) A. a. O. Z. 17. 2) Eth. Nie. I. 11, p. 1101a 14. 3) a. a. O. Z. 6. *) Ich
setze mich hier natürlich dem Vorwurf aus, die peripatetischen Ein-
schränkungen des Freiheitsideals anders zu beurteilen als bei früherer
Gelegenheit die kyrenaischen. Allein, wer den Geist beider Erscheinungen
erfaßt hat, wird mich deswegen gewiß nicht der Willkür beschuldigen.
Es ist doch sicherlich etwas ganz anderes, ob Ar is tipp, mit ungeheurer
Kraft das Leben zu bezwingen strebend, hie und da seine Kraft versagen
fühlt, und nun dies nicht als seine Unvollkommenheit, sondern als eine
Grenze des Erreichbaren überhaupt ausspricht; oder ob Aristoteles kühl
die Beobachtung registriert, daß der gebildete Durchschnittsgrieche sich
in schweren Lagen nicht glücklich zu fühlen pflegt, und auf Grund dieser
Feststellung das Freiheitsideal fast höhnisch für nichtssagend erklärt.
Dafür aber, daß Aristoteles in der Tat infolge seiner beschreibenden
Behandlung des Sittlichen über die gemeingriechischen Anschauungen
kaum hinausgekommen ist, besitzen wir ein merkwürdiges Zeugnis in
einem Chorgesange, denAischylos mehr als 100 Jahre vor der Zeit des
Stagiriten seinen Eumeniden in den Mund gelegt hat, und der doch ge-
rade die beiden entscheidenden Punkte der aristotelischen, und (wie schon
einmal erwähnt) auch das traditionelle Moment der platonischen Lehre
enthält. Die Stelle ist auch sonst von Interesse für uns, weil sie in
eigentümlicher Weise Elemente aus dem Gedankenkreise der Harmonie
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 275
Dieses Vorgehen ist aber um so strenger zu beurteilen, als
sich unschwer zeigen läßt, daß das Ideal des Maßes gar nicht
das des Aristoteles selbst ist; daß vielmehr seine Persönlich-
keitganz selbständig zu einer durchaus andern Lebensauffassung
hinstrebt, und zwar zu einer solchen, die gleichfalls den Ge-
mit solchen aus dem der Heiligkeit vereinigt. (Die Bestimmung, in der
sich beide begegnen, ist die Verpönung der tfßpi«;, das ist eigentlich: der
! Überhebung. Denn diese stellt sich auf der einen Seite als Maßlosigkeit
j — und so haben wir hier übersetzt — , als Störung der inneren Propor-
tioniertheit des Individuums dar, auf der anderen aber als Aufhebung
| gegen die ihm gesetzten Schranken, als ein Verrücken seiner Stellung zu
Göttern und Menschen. Wenn daher irgend ein Begriff für das sittliche
Bewußtsein des ganzen griechischen Volkes charakteristisch ist, so ist
es dieser.) Ich versuche deshalb, diese Strophen (Eum. v. 512) hier im
Zusammenhang wiederzugeben, und hebe jene Stellen, die platonische
und aristotelische Lehren antizipieren, durch den Druck hervor. Der Ge-
sang lautet so:
„Auch die Furcht hat ihren Ort,
Und im tiefsten Herzen soll
Thronen sie als Seelenwacht.
Glücklich, wer notgedrungen sich beherrscht.
Nur im Schein des Lichtes kann
Wachsen ein gerechtes Herz:
Ehrfurcht vor dem Rechte fehlt
Sonst dem Manne wie der Stadt.
Weder gänzlich unbeschränkt
Lebe, noch gebunden ganz:
Gott verleiht
Stets dem Mittleren Kraft, wie immer er sonst auch
Jegliches lenke.
Hör' ein angemessnes Wort:
Jegliches ,Maßlos' ist von einem ,Gottlos' erzeugt;
Aus der Gesundheit
Der Seele stammt — allerwünscht,
Vielfach erfleht — der Segen.
Und so sag' ich, kurz und gut:
Scheue den Altar des Rechts!
Tritt ihn nicht
Nieder mit gottlosem Fuß um Gewinn! Denn in Bälde
Folget die Strafe,
Und der Ausgang ist's, der bleibt.
Darum scheue der Eltern heiliges Haupt
Sorglichen Sinns; und
In deinem Haus ehre stets
Würdiger Fremder Einkehr.
18*
276
ZWÖLFTE VORLESUNG
danken der inneren Freiheit zugrunde legen, und ihn durch
eine besondere Stimmungsnuance und eine eigentümliche be-
griffliche Fassung ausgestalten würde. Steht es aber so, dann
dürfen wir nicht zweifeln, daß hier in der Tat ein übel ver-
standener und angewandter Empirismus dazu geführt hat, die
Schwungkraft persönlicher Forderungen unter dem Gewichte
äußerlicher Tatsachen zu brechen.
Wie es nämlich seiner Gelehrtennatur entsprach, schwebte
dem Aristoteles im Grunde ein Ideal der reinen Kontempla-
tion vor. Das stille Leben des Denkers, die „Betrachtung"1 ist
ihm von allen Tätigkeiten „die lustvollste und beste"2. Zugleich
aber bedarf dieses rein theoretische Denken nicht jener äußeren,
vermittelnden Werkzeuge, die das praktische Wirken allerdings
nicht entbehren kann, ja es wird durch solche Äußerlichkeiten
eher behindert3. Diese Art der „Vernünftigkeit" ist deshalb
„selbstgenügsam", und erscheint ihm auf den ersten Blick als
die vollkommene Glückseligkeit des Menschen4.
Diese Ansätze sind deutlich genug, und sie zum Entwürfe eines
ethischen Systems zu entwickeln, erfordert keine aristotelischen
Fähigkeiten. Ethischer Wert und vollkommenes Glück, müßte
man etwa sagen, wachsenin dem Maße, als im Menschen das prak
Dem, der von selbst ohne Zwang das Rechte tut,
Fehlt es nicht an Segen,
Und ganz und gar elend wird er niemals.
Dagegen, wer Frevel, übertretend, wagt,
Wirft Alles, was mit Unrecht er zusammgerafft,
Selbst über Bord noch notgedrungen,
Bricht erst das Unheil seinen Mast
Einst, und erfaßt sein Segel.
Und ruft er dann — niemand hört ihn mitten im
Fürchterlichen Wirbel.
Gott aber lacht über den Verwegnen,
Der unverhofft hilflos im Verderben schwimmt,
Und, bald erschöpft, die Welle nicht mehr überragt:
Der einst Glücksel'ge sinkt, nun da der
Sturm an den Fels des Rechts ihn warf,
Unbeweint und vergessen."
i) 0ewp{a. 2) Metaph. XII. 7, p. 1072b 24. 3) Eth. Nie. X. 8, p. 1178b
4) Eth. Nie. X. 7, p. 1177 b 16.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 277
tische Interesse vor dem theoretischen, und die Lust des Erfolges
j vor der Freude der Erkenntnis zurücktritt, und als er eben dadurch
stets mehr und mehr der völligen inneren Unabhängigkeit und
Freiheit von allem Äußeren sich annähert. — Eine auf dieses
i Prinzip gegründete Lebensauffassung — Sie erinnern sich viel-
S leicht, daß sie schon bei Anaxagoras vorgebildet gewesen zu
sein scheint — wäre ohne Zweifel nicht für alle Naturen gültig;
\ aber sie wäre der Persönlichkeit ihres Urhebers angemessen,
j sie würde die innere Freiheit wahren, und vor allem eine Seite
j dieses Ideals herausstellen, die in den anderen Systemen einiger-
| ! maßen zurückgetreten ist. Denn sowenig wir im allgemeinen
] behaupten können, daß Gelehrte in der Regel bessere, größere
; oder glücklichere Menschen seien als andere Sterbliche — doch
i bleibt es ewig wahr, daß die Denktätigkeit eine jener schöpfe-
I rischen Produktivitäten ist, die einen Kraftüberschuß entladen
können; daß deshalb die Lust dieser Betätigung, wenn sie rein
und unvermischt mit fremden Motiven ist, zur inneren Freudig-
keit und nicht zum äußeren Genuß gehört; daß, wenn schon
l jede Erweiterung des Interesses den Menschen über die Wen-
; düngen seines individuellen Schicksals erhebt und ihn von dem
äußeren Geschehen emanzipiert, dies um so mehr gelten muß,
wenn er sich durch sein Interesse mit den zeitlosen und unver-
gänglichen logischen Werten, den Begriffen, Wahrheiten und
Beweisen identifiziert; und daß deshalb die reine Kontempla-
tion eine jener allgemein menschlichen Formen ist, in der das
Ideal der inneren Freiheit sich darstellen und annähernd ver-
wirklichen kann. In der Tat ist ja ganz unverkennbar, daß dieses
Prinzip auch für die Lebensstimmung der griechischen Philo-
sophen eine außerordentlicheBedeutung besessen hat. Sokrates
hätte nie die praktische Stellungnahme zu den Dingen in solcher
Weise abstreifen und überwinden können, wenn ihm nicht der
\ Affekt und das Pathos der Theorie Ersatz geboten hätte. Für
Pia ton hat sich die schwungvolle Begeisterung in erster Linie
an die Vernunfttätigkeit geknüpft. Aber auch in dem persön-
lichen Geistesleben aller anderen Philosophen, die wir kennen
278
ZWÖLFTE VORLESUNG
gelernt, spielt ohne Zweifel, eben weil sie Denker sind, dieses
Moment eine erste Rolle. Ja, in gewissem Sinne kann man sagen,
jener ganze Intellektualismus, der, wie wir gesehen haben, die
Lehren dieser Männer beherrscht und durchdringt, sei nur
eine Spiegelung der Bedeutung, die der Intellekt für ihr Leben
besessen; das Ideal der inneren Freiheit als Inhalt philo-
sophischer Überzeugungen nur ein Zeugnis für die Gefühle
der Erhebung und Befreiung, die das vorwiegend theoretische
Verhalten bei seinem Neueintritte in die abendländische Kultur-
welt in seinen Trägern gewirkt hat. Und die Ethik des Aristo^
teles stünde zum mindesten gleichwertig neben ihren Schwe-
stern, wenn sie diese Richtung des griechischen Empfindens mit
Entschiedenheit ausgesprochen hätte.
Aber der Blick des Stagiriten ruhte (wunderbar genug bei
einem so langjährigen Mitgliede der Akademie!) unverwandt
auf den Werturteilen seiner nicht-philosophierenden Zeit-
genossen. Die Tapferkeit des wackeren Offiziers, die Besonnen-
heit des umsichtigen Bürgers, die Freigebigkeit und Großherzig-
keit des vornehmen Mannes — diese und verwandte „Tugen-
den" bildeten den Inhalt der für ihn maßgebenden moralischen
Erfahrung. Und diesen durchaus praktischen Vortrefflichkeiten
gegenüber den Herrschaftsanspruch der reinen Theorie vertreten
— dies hätte für ihn bedeutet: der Erfahrung eine Forde-
rung gegenüberstellen! Dazu aber fehlte ihm der Mut. Nach-
dem er deshalb bemerkt hat, das theoretische Leben erscheine
auf den ersten Blick als die eigentümliche Glückseligkeit des
Menschen, bläst er alsbald zum Rückzug in den folgenden, wahr-
haft kläglichen Sätzen1. „Aber ein solches Leben wäre wohl
schöner als einem Menschen zukommt. Denn so wird er nicht
leben, insofern er ein Mensch ist, sondern insofern etwas Gött-
liches in ihm ist", nämlich die Vernunft. Und so könne denn
diese Vollkommenheit und dieses Glück nur Gott zugeschrieben
werden. Die empiristische Zwangsvorstellung, ein Typus habe
in der Wissenschaft nur dann Daseinsrecht, wenn auch ein Ob-
i) Eth. Nie. X.7, p. 1177 b 26.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 279
jekt angegeben werden kann, von dem er sich beschreibend
aussagen läßt, führt also hier schließlich dazu, daß Aristoteles
| seinem hypothetischen Gott jenen Zustand der selbstgenüg-
samen, innerlich freien Beschaulichkeit als tatsächliche
Eigenschaft beilegt, den er sich für die realen Menschen
i zum Gegenstand einer idealen Forderung zu machen nicht
| getraut. Für diese aber bleibt die Ethik des tätigen Lebens in
I Kraft, mit ihrer Forderung harmonischer Ausgleichung und ver-
I nünftiger Vermittlung der praktischen Interessen, und mit ihrer
| Konsequenz eines subsidiären Eigenwertes der äußeren Güter.
Auch die von Aristoteles begründete peripatetische Schule
i hat, so viel wir wissen, im ganzen an diesen Lehren des Stifters
j festgehalten, und sein bedeutendster Schüler Theoph rast hat1
j die aristotelische Schätzung der äußeren Güter eher gesteigert
als vermindert. Und nachdem die Skepsis durch Arkesilaos
von der platonischen Akademie Besitz ergriffen hatte, stand der
Peripatos lange Zeit allein den sokratischen Schulen gegenüber,
! die, trotz aller Uneinigkeit im einzelnen, doch an dem Freiheits-
axiom übereinstimmend festhielten. Als aber die Skepsis nach
200 jähriger Herrschaft zunächst durch Philo n von Larissa,
j und dann endgültig durch Antiochos von Askalon aus der
Akademie vertrieben wurde, da schloß sich diese jüngere
j („fünfte") Akademie in der Ethik den altakademischen und peri-
patetischen Grundsätzen wieder an. Ganz im Sinne dieser Prin-
zipien forderte auch Antiochos2 ein Leben gemäß der voll-
kommen entwickelten menschlichen Natur, schrieb den äußeren
Gütern Eigenwert zu3, und ließ nur ein auch mit ihnen ausge-
stattetes Leben als das „glücklichste" gelten4. Überhaupt wird
dies die charakteristische ethische Doktrin der sogenannten
„Eklektiker"; und so wird sie denn auch dem angeblich ersten
„Eklektiker" aus Grundsatz, dem Potamon nämlich, ausdrück-
lich beigelegt5. Zwischen ihr und der stoischen Lehre schwankt
*) Cicero, Tusc. V. 9. 24 f. 2) Cicero, de fin. V. 9. 26. 3) Cicero, de fin. V.
17. 47 und 23. 68. 4) Cicero, Acad. post. I. 6. 22. Diog. Laert.
Prooem. 21.
280
ZWÖLFTE VORLESUNG
denn auch Cicero haltlos in seinen ethischen Schriften1; und
ebenso hat sie sich Varro mit Entschiedenheit angeeignet2. Ja,
bei der weiten Verbreitung dieser Ansicht in jener Zeit, ist
nicht einmal die neulich erwähnte Nachricht3 ganz unglaublich,
daß auch der Stoiker Poseidonios äußere Dinge für wahre
Güter erklärt habe.
Sind nun dies die für unseren Gesichtspunkt wichtigsten Züge
der Entwicklung, die sich etwa in der Zeit von 300 bis 50 v. Chr.
vollzogen hat, so bieten die folgenden Jahrhunderte, etwa der
Zeitraum von 50 v. Chr. bis 200 n. Chr., ein durchaus geändertes
Bild. Drei verschiedene Ansichten desselben kommen für uns
in Betracht.
Zunächst tritt im sogenannten Neupythagoreismus die alte or-
phische Lebensauffassung in ihrer wenigst anziehenden Gestalt
an die Oberfläche. Die Folgen der Demokratisierung machen
sich spät, aber entschieden geltend: alles, was von Aberglauben
und innerer Unfreiheit am Boden der griechischen Gesellschaft
gelegen hatte, treibt in die Höhe. In jedem Sinne ein moralischer
Sklavenaufstand. Auf der einen Seite preist man Pflanzenkost,
Leinenwäsche, Weinenthaltung, allerhand Waschungen und Rei-
nigungen an4, undaufderanderen legtman dem alten Pythagoreer
Archy tas die denkwürdige Sentenz5 in den Mund: auch der Tu-
gendhafte sei im Mißgeschick unglücklich, bei günstigem Schick-
sal dagegen glückselig, und in dem mittleren Zustand wenigstens
nicht glücklich. Man muß wohl bis zu gewissen „aufgeklärten"
Popularphilosophen der letzten zwei Jahrhunderte herabgehen,
um wieder einen so krassen Ausdruck der innerlich knechtischen
Gesinnung (derTycholatrie) zu finden. Aber freilich: die Super-
stition hat, unter dem Einflüsse der bis dahin herrschenden Phi-
losophie, auch andere, weniger abstoßende Formen angenommen.
Dies zeigt sich insbesondere in den ethischen Schriften des
Plutarch von Chäronea6, der die neupythagoreische Richtung
i) Z. B. Tusc. V. 1. 3. 2) Augustinus, de civ. Dei XIX. 2. 3) Diog. Laert.
VII. 103. 4) Diog. Laert. VIII. 34 und sonst. 5) stob. Floril. 1. 76 (Meineke).
®) Des Verfassers der berühmten „Parallelbiographien".
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 281
mit dem Piatonismus zu vermitteln sucht. Dieser gelehrte,
wohlwollende und liebenswürdige, aber in viel phantastischem
Aberglauben befangene Mann, dem die Begriffe einer bösen
Weltseele1, böser Dämonen und ihres Sündenfalles2, ekstati-
scher Gotteserkenntnis3,, und ganz eigentlicher sittlicher Askese4
nicht fremd sind, kann sich auch in keiner Weise entschließen,
den Selbstwert der äußeren Güter preiszugeben5. Aber anderer-
seits möchte er doch auch wieder alles Übel auf unsere Unfähig-
keit zurückführen, uns darüber zu erheben6. Und diesem seinem
Schwanken hat er schließlich durch eine gelungene scherzhafte
Wendung einen versöhnenden Abschluß gegeben. Müde näm-
lich der alten Streitfrage, ob „die Tugend ausreichend sei zum
Glück", warf er vielmehr die andere Frage auf, ob „die Schlech-
tigkeit ausreichend sei zum Unglück", und diese wenigstens hat
er sich vorbehaltlos zu bejahen getraut7.
Zweitens aberfindet nun ein starkesEinströmen orientalischer
Einflüsse statt. Ägyptische, syrische, kleinasiatischeKulte breiten
sich aus. Von indischen, äthiopischen, jüdischen Asketen ist die
Rede. Die Vorstellungen von Jenseits, Sündhaftigkeit, Reinigung,
Vergottung, Ekstase finden auch von hier aus neue Nahrung.
Schon bei dem Juden Philon von Alexandrien8, der seine
gründliche Kenntnis der hellenischen, besonders der stoischen
und platonischen Philosophie dazu verwandte, um das Alte
Testament mehr oder weniger gewaltsam im Sinne dieser Lehren
zu interpretieren, erscheinen diese Gedanken weit fortgeschrit-
ten. In doppelter Weise überschreitet er die Schranken der klas-
sischen hellenischen Spekulation. Er bricht den Bann des In-
tellektualismus; aber er bricht ihn zu gunsten nicht des „natür-
lichen" Fühlens und Wollens, sondern der „übernatürlichen"
Erkenntnis: die volle Erkenntnis Gottes kommt nach ihm9 zu-
l) De Isid. 45 f., p.369d ff. 2) De Isid. 25, p. 360d und sonst. 3) De pyth.
orac. 21, p.404e ff; defect. orac. 39, p.431 e ff. 4) De gen. Socr. 15, p. 584 c ff ;
de coh. ira 16, p. 464b ff. 5) De comm. not. 4, p. 1060ff. und passim; de
Sto. repp. 31, p. 1048c ff. 6) De exil. 4, p. 600 d. 7) utr. vit. suff. ad infel. 5,
p. 499 ff. 8) Um die Mitte des ersten Jahrhunderts n.Chr. 9) Quis rer. div. haer.
14.68(Wendland),p.482(Mangey); demigr.Abr.34. 190(Cohn), p.466(Mangey).
282
ZWÖLFTE VORLESUNG
stände, nicht durch das vernünftige Denken, sondern allein
durch jene, über alles natürliche Begreifen hinausliegende pro-
phetische Ekstase und göttliche Inspiration, die ihm den Höhe-
punkt aller Vollkommenheit bedeutet. Damit tritt die Mystik in
das griechische Denken ein. Allein Sie täten Unrecht, sowohl,
wenn Sie durch dieses Wort an und für sich sich erschrecken
ließen, als auch, wenn Sie dieser Wendung eine vorzügliche Be-
deutsamkeit für unseren ethischen Gesichtspunkt beilegten.
Denn das vorurteilslose Studium zeitgenössischer wie geschicht-
licher Erscheinungen zeigt uns immer deutlicher: mystische Er-
fahrungen sind Erfahrungen, nicht besser und nicht schlechter
als alle andern. Auch bei ihnen kommt es für den intellektuellen,
moralischen und ethischen Wert der Persönlichkeit vor allem
darauf an, was sie aus ihnen zu machen weiß: es gibt weise und
törichte, gütige und engherzige, freie und unfreie Menschen
unter Mystikern ebenso wie unter Nichtmystikern. Was ihnen
allengemeinsam ist, ist lediglich eineziemlich eng umschriebene,
in ihrer Eigenart scharf ausgeprägte Klasse von inneren Erleb-
nissen gefühlsmäßiger Art, die einander schlagend gleichen, ob
sie nun ein brahmanischer Asket, ein griechischer Philosoph,
ein mittelalterlicher Katholik oder ein amerikanischer Prote-
stant erfahren möge. Diese mystischen Gefühlserlebnisse be-
dingen aber ebensowenig wie bestimmte praktische Folgerungen
auch bestimmte theoretische Ausdeutungen: sie können mit athe-
istischen Überzeugungen fast ebensowohl zusammenbestehen
wie mit monotheistischen, und mit derTranszendentalphilosophie
stimmen sie kaum schlechter überein als mit dem Pantheismus1.
Ebenso aber steht es, wie ich schon sagte, auch in ethischer
Beziehung: nicht der Inhalt des mystischen Erlebnisses be-
stimmt den sittlichen Wert des Mystikers, sondern die Persön-
lichkeit des Mystikers bestimmt den sittlichen Wert des mysti-
schen Erlebnisses. Höchstens kann man ganz im allgemeinen
l) Über die Eigenart der mystischen Erfahrung, sowie über die Richtung,
in der sie immerhin das jeweilige Weltbild des einzelnen Mystikers zu
modifizieren tendiert, handelt der Anhang am Schlüsse dieses Buches.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 283
sagen, daß, ähnlich wie das Vorherrschen starker theoretischer
Interessen, auch dasjenige intensiver mystischer Erregungen
J eine Tendenz hat, einen Mehrwert der inneren Erlebnisse gegen-
über den äußeren Schicksalen zu begründen, und so der Er-
lösungslehre im günstigen Sinne vorzuarbeiten (obwohl die
eine Vormeinung im einzelnen Falle fast ebenso oft enttäuscht
werden mag wie die andere). Welche Gestalt die Erlösungs-
lehre aber annimmt, das wird in beiden Fällen abhängen: einmal
! von dem überlieferten Vorstellungsbesitz, sodann von der indi-
! viduellen Lebensstimmung, und endlich von dem Maße der per-
i sönlichen Kraft. So werden wir also auch bei Phi Ion das ent-
scheidende Gewicht nicht legen dürfen auf das Vorkommen
mystischer Zustände, sondern wir werden seine Lebensauf-
1 fassung beurteilen müssen nach ihrem Inhalt. Aber auch hier
zeigt sich nun, neben aller Anlehnung an die traditionelle
Denkweise der griechischen Philosophie, ein grundsätzlich
neuer und fremder Zug; und dieser ist für uns viel bedeutsamer
als der eben besprochene. Die Sorge um das jenseitige Ge-
! schick der Seele zum Beispiel hatte auch schon Pia ton recht
lebhaft beschäftigt. Und es möchte deshalb hingehen, wenn
auch bei Philon dieser Gedankenkreis eine große Rolle spielt,
und wenn er lehrt1, die schlechte Seele verfalle der Seelen-
wanderung, die gute aber, die den Leib „als Kerker und Grab"
erkannt hat, „erhebe sich auf leichten Schwingen zum Äther".
Aber nun wird hinzugefügt2: es sei unmöglich, aus eigener Kraft
dieses glückliche Los zu erlangen; „denn auch der Vollkom-
mene entflieht nicht der Sünde". Ebenso vertritt Philon mit
Eifer, und in einer eigenen Schrift3 den sokratischen Grund-
gedanken, „daß jeder Rechtschaffene frei sei", und führt den
Satz, „daß nur die Sittlichkeit ein Gut sei", sogar auf die biblische
Rebekka zurück4; setzt aber alsbald hinzu5, daß wir uns diese
!) De somn. 1. 22. 139 (Wendland), p. 642 (Mangey). 2) De anim. sacr. 14, p.249
(Mangey). 3) QUod omnis probus über 3—5, p. 448 ff (Mangey). *) De post.
Caini 39. 133 (Cohn), p. 251 (Mangey). 5) De legg. alleg. I. 15. 48 (Cohn),
p. 53 (Mangey); III. 77. 219 (Cohn), p. 131 (Mangey).
284
ZWÖLFTE VORLESUNG
Tugend nicht selbst auf natürlichem Wege erwerben können,
sondern daß nur Gott allein sie uns einzupflanzen vermag. Und
auch wo er, im engsten Anschluß an die griechische Freiheits-
doktrin,Moses dieLehre zuschreibt, „Spiel undLachen" sei „das
Ziel der Weisheit", und vom „göttlichen Spiele" redet, bemerkt
er doch6, diese Heiterkeit, welche die Vollendung der ethischen
Vollkommenheit bedeutet, könne uns nur, wie einst dem Patri-
archen Isaak, von Gott als Geschenk gegeben werden. Dies
aber bedeutet wirklich eine epochale Wendung des griechischen
Denkens: die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit nämlich,
welche die profane Philosophie nicht überbrücken konnte, wird
hier durch das Eingreifen einer höheren Macht geschlossen.
Damit aber wird die Selbsterlösung zur Fremderlösung.
Und diese Wendung ist um so bedeutsamer, als Philon in jener
Zeit mit dieser Richtung keineswegs allein steht. Bietet doch
zu vielen dieser Gedanken auch das eben damals aufkeimende
Christentum bemerkenswerte Analogien. Dieses aber hat auch
auf die heidnische Spekulation wieder zurückgewirkt: insbeson-
dere in jener Form, die es in den Sekten der Gnostiker annahm,
scheint es auf die späteren Platoniker Einfluß genommen zu
haben; namentlich auf Numenios, einen Denker, der auch
theoretisch der neuplatonischen Lehre bereits sehr nahe steht.
Drittens endlich geht nun aber in demselben Zeitraum eine
Renaissance des Sokratismus vor sich. Wir haben seinerzeit
gesehen, wie besonders Epiktet und Marc Aurel die stoische
Lebensauffassung wieder aufnehmen und wohl auch verinner-
lichen. Ja, man darf vielleicht sagen: es liegt hier der seltene
Fall vor, daß eine Lebensauffassung — statt, wie gewöhnlich,
aus dem Leben in die Bücher sich zurückzuziehen — vielmehr
erst spät aus der Theorie in die Praxis ganz hinausgetreten ist.
Uns wenigstens ist aus der Zeit der römischen Kaiser viel mehr
stoisches Leben (und besonders Sterben) bezeugt als aus der
Epoche der griechischen Diadochen; und ohne Zweifel macht
i) De praem. et poen. 5, p. 413 (Mangey); de plant. Noe 40. 168 (Cohn),
p. 354 (Mangey).
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 285
Epiktet den Eindruck einer weit lebendigeren philosophi-
schen Gestalt als Zenon selbst. Zugleich aber lebt auch der
Kynismus wieder auf. Die erfreulichste Gestalt, die wir aus
diesem Kreise kennen, ist jener Demo nax, von dem eine kleine
Schrift des Satirikers Lukian handelt: viele kleine Züge zeigen
uns den echten Sokratiker. So erkannte er denn auch die innere
Freiheit als den gemeinsamen Grundgedanken aller sokratischen
Systeme. Ich habe seine Worte wohl schon zweimal angeführt,
um meine eigene Auffassung ankündigend vorzubereiten; doch
teile ich sie Ihnen gern noch einmal mit, um unsere seitherigen
Betrachtungen bestätigend abzuschließen. Lukian erzählt1:
„Als ihn jemand fragte, was ihm die (richtige) Begriffsbestim-
mung der Glückseligkeit zu sein scheine, erwiderte er: allein
den Freien nenne ich glückselig . . . damit aber meine ich den,
der weder etwas hofft noch etwas fürchtet." Und2 „als er einst
gefragt wurde, welcher von den Philosophen ihm gefiele, gab
er zur Antwort: erstaunlich sind sie alle; ich aber verehre So-
krates, bewundere Diogenes und liebe Aristipp."
Indem nun diese drei Strömungen zusammentreffen, erzeugen
sie ein letztes neues und wichtiges Gebilde: die neuplatonische
Ethik. Diese übernimmt vom Neupythagoreismus die Neigung
zu Superstition und Askese, vom Orient die Richtung auf Mystik
und Fremderlösung, von der sokratischen Renaissance die Über-
lieferung der Freiheitslehre und des Intellektualismus. Aber das
Mischungsverhältnis dieser Ingredienzien war in ihr kein festes,
sondern hat sich im Laufe der Schulentwicklung in verhängnis-
voller Weise gewandelt. Beim Gründer Plotinos1 stehen die
sokratischen Elemente durchaus im Vordergrunde: das Ideal der
inneren Freiheit und die maximale Wertschätzung des theore-
tischen Lebens bilden den großen Mittelbau seines ethischen
Systems; Askese und Superstition schließen sich als unter-
geordnete, und den Rahmen der Gesamtansicht nirgends durch-
brechende Flügel an; die mystische Fremderlösung aber stellt
sich als ein nicht allzustark hervortretender Giebelaufsatz dar.
i) Demonax 20, p. 383. 2) Demonax 62, p. 394. 3) Um 250 n. Chr.
286
ZWÖLFTE VORLESUNG
Diese fein abgewogenen Verhältnisse werden schon bei seinem
Schüler Porphyrios durch das einseitige Hervortreten der
asketischen Richtung gestört. Und Iamblichos vernichtet sie
vollends und endgültig, indem ein wüster, die Erlösungslehre
von Grund aus durchsetzender Aberglaube alle anderen Mo-
mente überwuchert. In seiner Schule wird bereits behauptet1,
die Götter vermöchten das Verhängnis zu durchbrechen, und
uns so auch von den notwendigen Übeln zu befreien. Damit
aber rückt die äußerlichste Fremderlösung an die Stelle der
innerlichen Selbstbefreiung: die griechische Ethik ertrinkt in
der Magie. Die neuplatonische Schule hat zwar auch noch
weiter mehr als 200 Jahre bestanden2, und in theoretischer Hin-
sicht einige relativ selbständige Denker3 sowie manche für uns
wichtige Kommentatoren4 gezählt; was aber die Ethik angeht,
so ist in ihr nichts mehr hervorgetreten, was Eigenwert in An-
spruch nehmen könnte. Wir dürfen deshalb von unserem Ge-
sichtspunkte aus diese ganze hippokratische Phase der griechi-
schen Philosophie übergehen, und uns lediglich an Plotinos
halten. Für uns bedeutet seine Lebensauffassung den Ausgang
der philosophischen Ethik der Griechen. Und nur mit ihr haben
wir uns deshalb heute noch zu beschäftigen. Doch ehe ich weiter
von ihr spreche, muß ich erst noch zwei Bemerkungen voraus-
schicken.
Es ist unmöglich, von Plotin zu reden, ohne vorher seines
Verhältnisses zu Piaton zu gedenken. Er selbst wollte ja nichts
anderes geben, als eine folgerechte Fortbildung das Piatonismus.
In der Tat findet sich bei genauerer Prüfung, daß seine Abwei-
chungen von diesem nur in wenigen Stücken ernstliche Neue-
rungen darstellen, meist aber nur als leise Gedankenverschie-
bungen und Stimmungsabtönungen angesehen werden können.
Auch dem Geiste und der persönlichen Eigenart des Vorbildes
ist der Nachfolger wohl treuer geblieben, als es auf den ersten
i) De mysteriis VIII. 7 (S. 270. 3 Parthey). 2) Bis zur Schließung der plato-
nischen Akademie durch Kaiser Justin i an im Jahre 529 n. Chr. 3) Vor
allem Proklos. 4) z. B. Simplicius.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 287
Blick den Anschein haben möchte. Und wenn es erlaubt ist, für
einen Augenblick sich zu denken, der ganze P lotin der späten
Zeit hätte noch bei Piatons Lebzeiten neben Xenokrates und
Aristoteles unter die Schülerschaar der Akademie sich mengen
können, so möchte ich die Behauptung wohl auf mich nehmen,
, daß der große Lehrer an ihm mehr Freude erlebt hätte, als an den
beiden genannten oder irgend welchen anderen seiner Schüler.
Trotzdem muß freilich ein Zeitunterschied von 600 Jahren not-
wendig einen tiefgehenden Unterschied des ganzen Wesens be-
dingen. P lotin ist Piaton noch einmal, und doch ganz anders.
Wieder sind dieselben Elemente verbunden: Freiheitsbewußt-
sein, dialektische Kraft, Schönheitstrunkenheit, Sinnlichkeits-
verachtung und Schwung des Gefühls. Aber all das ist weniger
kräftig, ausgeglichener, feiner, anmutiger und zarter. Das Un-
praktische, Weltfremde, Naive in Pia ton s Wesen ist merklich
gesteigert. Statt des gewaltig-erhabenen Eindrucks eines mächtig
dahinrauschenden Stromes empfangen wir das reizend-rührende
Bild einer still aufsprudelnden Quelle. Wenn ich meinen ganzen
Eindruck in eine Formel fassen sollte, so möchte ich sagen: auf
den männlichen folgt ein kindlicher Idealismus.
Ebenso wie bei Piaton ist aber deshalb auch bei Plotin die
Ethik mit der Metaphysik aufs engste verwachsen. Und hier
wird es nötig sein, auf diese ein klein wenig näher einzugehen
als dort geschehen mußte. Auch hier aber läßt sich die An-
knüpfung an Piaton nicht umgehen. Schon für diesen nämlich
zerfiel die Welt in vier Sphären, von denen jede das Gebiet
eines letzten Prinzips war: in die körperliche Welt des räum-
lich ausgedehnten Stoffes; in die lebendige Welt der Seelen,
deren Hierarchie in der Weltseele gipfelt, als in dem Lebens-
prinzip des göttlichen Weltalls; in die „Ideenwelt" der logi-
I sehen Werte; und endlich in die Sphäre des höchsten gött-
i liehen Weltbaumeisters, des „Demiurgen". Und auch hier
schon war die Ordnung, in der ich eben diese Prinzipien auf-
gezählt habe, eine aufsteigende Reihe zunehmender Werte,
und, wenigstens was deren erste drei Glieder angeht, gewiß
288
ZWÖLFTE VORLESUNG
nicht entworfen ohne Rücksicht auf den ethischen Wert der
diesen Sphären und Prinzipien im Menschen entsprechenden
Seelenvermögen und Lebensarten. Denn die Materie, die eigent-
lich ein „Nicht Seiendes" ist, also die geringste Realität hat, ist
zugleich der Gegenstand der „Begierden", welche das tiefst-
stehende Genußleben beherrschen; dann folgt die Seelenwelt,
der das „Mutartige" entspricht, als das bewegende Prinzip des
wirkenden, „praktischen" Lebens; und dann die Welt der Ideen,
als das eigentlich wahre Sein, und zugleich als das Objekt der Ver-
nunft, also der höchsten Seelenkraft, und zugleich des theoreti-
schen Lebens, als der höchstwertigen Lebensform. Nur Gott steht
abseits, und bleibt ohne psychologische und ethische Analoga
(Glaube,Liebeoder dergleichen) — sosehr, daßman immer wieder
zweifelt, wieweit es Piaton mit diesem Begriffe überhaupt voller
Ernst gewesen sei? An den beiden unteren Gliedern dieser Te-
trade nun hat Plotin eigentlich keine entscheidende Änderung
vorgenommen. Auch wenn er die Ideen, aristotelischen Anregun-
gen folgend,zu sich selbstdenkenden Gedanken macht,und sie zur
Einheit einer göttlichen „Vernunft" zusammenschließt, wird hie-
durch das platonische System noch nicht in seinen Grundlinien
verrückt. Überaus bedeutsam dagegen ist es auch in ethischer
Hinsicht, daß ihm das höchste göttliche Prinzip aus einer weltbil-
denden Persönlichkeit zu einem unpersönlichen und unerkenn-
baren „Urgrund" wird1, der nur in der mystischen Anschauung
erfaßt werden kann. Denn hiermit ist sofort eine entsprechende
*) Ich behalte diesen, in den neueren Darstellungen der neuplatonischen
Lehre üblichen Ausdruck bei, obwohl er nicht auf Plotin zurückgeht.
Dieser nennt das höchste Prinzip entweder den „jenseitigen Gott" (6 eire-
Keiva Qeoq) oder das „Gute" (auch nicht selten das „Seiende"), und knüpft
damit an die platonische Idee des Guten an, welche Beziehung indes sach-
lich keine großen Vorteile bietet. Und da er nun nicht verfehlt, diese Be-
zeichnungen bloß als uneigentliche zu kennzeichnen (wie denn in der Tat
kein Prädikat diesem, seinem Begriffe nach unbegreiflichen Subjekt im
eigentlichen Sinne zukommen kann), so scheint es ganz angemessen, sich
dafür eines anderen, unmißverständlichen Kunstausdruckes zu bedienen.
Übrigens wird diese Konzeption im Anhang durch Zusammen tellung mit
analogen Gedanken noch einige Klärung erfahren.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 289
Erweiterung auch des ethischen Schemas gegeben. Um so viel
nämlich, als der „Urgrund" die „Vernunft" an ursprünglicher
Realität übertrifft, um so viel steht nun auch die mystische Er-
fahrung höher als die bloß theoretische; und wir erhalten so,
dem System der vier Prinzipien analog, auch eine Hierarchie
von vier Lebensformen oder Tugendarten, die zwar erst Por-
phyr1 ausdrücklich entwickelt hat, die aber doch schon zur
Würdigung Plotins notwendig vorausgesetzt werden muß. Das
unterste Prinzip ist die Materie, die sich zur wahren Realität
verhält wie die Finsternis zum Licht; auf sie sind unsere Be-
gierden gerichtet; die niedersten Tugenden sind daher die
„gesellschaftlichen", welche diese Begierden soweit im Zaume
halten, als das Gemeinschaftsleben dies erfordert: sie beziehen
sich auf unser Verhältnis zum Stoff. Die zweite Art von Tugen-
den bezieht sich auf die Seele, die von der Sinnlichkeit abgelenkt
und über sie erhoben wird: es sind die „reinigenden" Tugenden,
die im Werte schon über jenen stehen. Noch höher aber erheben
sich drittens die „geistigen" Tugenden, welche die Hinwendung
der Seele zum Denken, und damit unser Verhältnis zur „Vernunft"
zum Gegenstande haben. Und am höchsten endlich jene „urbild-
lichen" Tugenden, die den Menschen zum Erschauen des „Ur-
grunds" befähigen, und also sein Verhältnis zu der vierten und
höchsten Realität betreffen. Somit entspricht die Rangordnung
der metaphysischen Prinzipien genau derjenigen der Tugenden;
die Wertordnung abergeht (im psychologischen Sinne) ursprüng-
lich natürlich von der Schätzung der entsprechenden Lebens-
formen aus. Daß also die praktischen, die asketischen, die theo-
retischen und die mystischen Zustände in dieser Weise unter-
schieden und steigend bewertet werden, dies ist eigentlich die
Grundtatsache des Neuplatonismus, die der Erklärung sowohl
|seiner Metaphysik als auch seiner Ethik zugrunde gelegt werden
muß. Und nach diesen Vorbemerkungen wird es uns nicht mehr
schwer fallen, die letztere, zunächst in einem vorläufigen Schema
und dann in etwas eingehenderer Ausführung, darzustellen.
iTSentt. 34 (Plotin ed. Creuzer et Moser, p. XXXIX. 26). "
Gomperz, Lebensauffassung 19
290 ZWÖLFTE VORLESUNG
Die Lebensauffassung des Plotin ist deshalb nicht wohl aus
der Eigenart seiner Persönlichkeit zu entwickeln, weil sich hier
überall der Piatonismus vermittelnd dazwischen schiebt. Jene
„Kindlichkeit", von der ich früher gesprochen habe, d. h. jene ;
ungleich geringere Kraft und Ursprünglichkeit, die ihn von |
Piaton unterscheidet, macht sich eben zu allermeist in dem \
Anlehnungsbedürfnisse geltend, das den Philosophen verhin- j
dert, seine eigene Lebensstimmung in eine neue und völlig
angemessene Form zu gießen. Daher vor allem wird es wohl f
kommen, daß in seiner Ethik weder die asketischen noch die ,1,
mystischen Tendenzen eine so hervorragende Rolle spielen, wie llf
wir das bei einem Manne erwarten würden, der in seinem Leben
über seine eigenen asketischen Vorschriften weit hinausgegangen m
ist1, und in fünf Jahren viermal die ekstatische Einigung mit dem ji a
Urwesen erlebt hat2. Vielmehr steht hier durchaus im Vorder- |ji
gründe das theoretische Leben, an das sich nur einerseits die [fit
Askese als Bedingung, andererseits die Ekstase als Vollendung m
anschließt. Und so findet hier die merkwürdige Erscheinung !j i
statt, daß jene kontemplative Formulierung der Freiheitslehre, L i
die schon Piaton nahe lag, und die dann Aristoteles zu||li
schaffen versäumt hatte, gerade bei P 1 o t i n ihre volle Ausgestal- ! ;
tung erfährt, obwohl sie nach den Umständen der Zeit und des i
Menschen eigentlich überholt ist, die vielmehr nach einem1 :i
vorwiegend mystischen Ausdrucke dieses Ideals zu verlangen
scheinen. Und eben damit hängt es zusammen, daß auch das
Prinzip der Fremderlösung nur in geringen Spuren sich zeigt,
ohne den traditionellen Rahmen der Selbsterlösung entschieden
zu durchbrechen. Ebensowenig aber wie seine spezifischen
Gefühlserlebnisse hat auch die allgemeine Färbung seiner Be-
geisterung vermocht, in charakteristischen Lehrstücken sichj .
auszuprägen. Sondern sein Schwung, der durch Innigkeit und
Wärme ersetzt, was ihm von Piatons Größe und Feuer ab-
geht, verbreitet sich gleichmäßig über alle Teile seiner Erörte-
rungen, und ist kaum weniger merklich, wo er die Schönheit
i) Porphyr, Vita Plot. 7. 2) Porphyr, Vita Plot. 23.
I
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 291
des Sinnenscheines als das Symbol der geistigen Wirklichkeit
verherrlicht, als wo er die höchsten Momente seiner gottergrif-
fenen Verzückung schildert. Die persönliche Eigenart also ist
hier mehr in der durchgängigen Stimmungsfarbe der Darstel-
lung zu suchen als in besonderen Bestimmungen des Lehrgehal-
tes. Diesen Lehrgehalt selbst aber können wir jetzt, zum Behufe
vorläufiger Übersicht, in wenige Sätze zusammendrängen.
Die Glückseligkeit ist ein objektiver Zustand der Seele, näm-
lich ihre theoretische Betätigung. Diese wird möglich, indem
durch Abkehr von der Sinnlichkeit die Hemmung überwunden
wird, die derSeele aus ihrer Verbindung mit dem Leibe erwächst;
und sie vollendet sich, wenn sie in ekstatischer Bewußtlosigkeit
zur Einswerdung mit dem göttlichen „Urgrund" wird. Während
aber der Mensch in jeder praktischen Wirksamkeit auf äußere
Dinge angewiesen ist, kann diese reine Theorie von ihnen allen
absehen, und es ist deshalb unser Glück von allem Äußeren
unabhängig: wir sind innerlich frei. Dem Freien aber erscheint
alles äußere Geschehen nicht als Ernst, sondern als Spiel.
Und auch, was davon gemeinhin als schlecht und mißfällig gilt,
klingt für den Weisen mit allen anderen Elementen zur untadelig
schönen Harmonie des Weltspiels zusammen, so daß er nicht
nur subjektiv dem Übel sich entrückt weiß, sondern auch ob-
jektiv im Ganzen der Welt kein solches mehr erblickt.
Ich führe nun an der Hand der plotinischen „Enneaden" die-
sen Gedankengang noch etwas mehr ins Einzelne aus.
Daß die „Glückseligkeit" ein objektiv seelischer, nicht ein
subjektiv bewußter Zustand sei, diese Voraussetzung liegt allen
nichthedonischen Systemen der Griechen zugrunde. Bei Pia ton
insbesondere versteht es sich von selbst, daß das richtige Ver-
hältnis der drei Seelenkräfte, ganz ebenso wie die leibliche Ge-
sundheit, gedacht wird als konstitutionelle Wohlfahrt, die zwar
Glücksgefühle im Gefolge haben kann, an sich aber lediglich
„rechte Verfassung" ist. Und in der Tat wird sich nicht
leugnen lassen, daß als das wesentliche Moment in bezug auf
Freiheit und Unfreiheit das psychophysische Kräfteverhältnis
19*
ZWÖLFTE VORLESUNG
erscheint, das sich im Wunschverhalten symptomatisch äußert—
mögen wir auch für unsere Bedürfnisse die universelle Wunsch-
bejahung als „Ziel" auffassen, und ihr jenes Kräfteverhältnis
lediglich als Bedingung und Mittel zuordnen. Obwohl aber
dieser objektive Glücksbegriff stillschweigend fast die ganze
antike Ethik beherrscht, hat doch erst Plotin ihn mit unzwei-
deutiger Klarheit ausgesprochen und begründet. Er streift dabei
einen Gedanken, der sich gerade in neuester Zeit für die Be-
trachtung alles geistigen Lebens als sehr fruchtbar zu erweisen
scheint: den Gedanken nämlich, daß jeder Bewußtseinsverlauf
die Gegenwirkung auf einen Reiz ist, der ohne solche Gegen-
wirkung den bestehenden Ruhe- und Gleichgewichtszustand auf-
heben würde; daß es sich also bei allem Bewußtsein um eine
„Selbsterhaltung" handelt, die man entweder (mit Herbart) als
eine solche der Seele gegen psychische „Störungen", oder aber
(mit Avenarius) als eine solche des Zentralnervensystems
gegen biologische „Vitaldifferenzen" denken kann. Unser neu-
platonischer Philosoph nun zieht diesen selben Schluß, daß Be-
wußtsein überhaupt Symptom einer Störung sei, aus der Tat-
sache, daß auch im Körper jene Vorgänge, die im gesunden
Zustand unbewußt bleiben, im kranken schmerzhaft empfindlich
werden, daß also auch der leiblich normale Zustand weniger
bewußt ist als der abnorme1. Und er folgert weiter, ebenso
werde es auch mit der seelischen Gesundheit stehen: die
„Glückseligkeit" wird auch ohne ein Bewußtsein von ihr eben-
sowohl vorhanden sein, wie ein Objekt fortfährt zu existieren,
auch wenn sein Bild nicht mehr im Spiegel erscheint2.
Der objektive Zustand nun, welcher die Glückseligkeit des
Menschen ausmacht, war für Piaton die Herrschaft der Ver-
nunft über die anderen Seelenkräfte. Plotin bestimmt ihn
geradezu als Vernunfttätigkeit, theoretische Erkenntnis, oder
vollendetes intellektuelles Leben3. Er tut damit den Schritt, den
Aristoteles zu tun nicht gewagt hatte: der Wert der Vernunft
wird jetzt nicht mehr gesetzt in den Einfluß, den sie zu prak-
i)~Enn. V. 8. 11, p. 553. 2) £nn. I. 4. 10, p. 36. 3) Enn. I. 4. 3, p. 31.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 293
tischen Zwecken über andere Vermögen ausübt, sondern viel-
mehr in ihre rein theoretische Tätigkeit an sich selbst. Um aber
diese Tätigkeit ihrem Wesen nach näher zu bestimmen, brauchen
wir uns von Pia ton kaum zu entfernen. Auch ihm war ja das
eigentliche Geschäft der Vernunft die Anschauung einer über-
sinnlichen Welt, und letztlich der Idee des Guten. So sagt auch
Plotin: die reine Theorie ist das „Beste"; was könnte aber
j dieses anderes sein als „Schauen des Besten"?1 Das Ziel ist
! also Gotteserkenntnis, und das Gute ein Aufblicken nach oben2.
Um aber dieses leisten zu können, muß der Mensch von der
Sinnlichkeit sich abwenden — und damit bleibt Plotin ganz in
jenem Gedankenzuge, der von der Orphik herkommt und Pia-
ton besonders in seinem „Phaidon" beherrscht hatte. Denn der
Eintritt in den Leib ist für die Seele ein „Fall"3. Zwar geschieht
dieser Eintritt nicht aus freier Wahl der Seele, sondern die
Weltordnung, welche ihn verlangt, äußert sich in ihr als eine
! Art brünstigen Dranges „wie ein natürliches Springen ... zu
natürlichen Fristen der Begattung"4. Aber trotzdem wird sie
durch diese Verbindung entweiht5, und deshalb ist, wie schon
Piaton gesagt hatte, „jede Tugend eine Reinigung"6, welche die
ursprüngliche, vernünftige Natur der Seele wieder zu Ehren
bringt. Zu diesem Behufe aber muß diese einerseits durch eine
moderierte Askese — mehr der Gesinnung als der Werke —
lernen, die Sinnenwelt nicht als Selbstwert zu betrachten7;
andererseits in ihr vor allem die Sinnenschönheit sehen, der
ein nicht genug zu schätzender erziehlicher Wert für die Aus-
bildung der höheren geistigen Kräfte zukommt8. Denn diese
entzündet in uns den Eros, den Wegweiser zur übersinnlichen
Welt9. Über Pia ton aber gehen alle diese Bestimmungen
höchstens dem Grade nach hinaus, und auch das noch eher,
was den Schönheitskult, als was die eigentliche Askese angeht.
1) Enn. I. 4. 15, p. 38. 2) Enn. I. 4. 16, p. 39. 3) Enn. I. 8. 14, p. 81; vgl. V.
1. 1, p. 481 f. 4) Enn. IV. 3. 13, p. 382. 5) Enn. I. 2. 3, p. 13. 6) Enn. I. 6. 6,
p. 55. 7) Enn. I. 2. 5, p. 14. 8) Enn. I. 6, p. 50 ff.; I. 3. 2, p. 20; I. 6. 4, p. 53;
V. 9. 1, p. 555. 9) Enn. III. 5, p. 291 ff.
294
ZWÖLFTE VORLESUNG
Wenn aber beide Denker gerade den Eros preisen, als die
Kraft des Aufschwungs zur Welt der reinen logischen Werte, so
sprechen sie damit aufs deutlichste aus, daß sich ihnen selbst
hinter der „Vernunft" die eigene Begeisterung verbirgt. Doch
ist diese Verhüllung bei Plotin durchsichtiger als bei Piaton,
wie dies auch seiner exakter gewordenen Psychologie entspricht.
Denn er kann die Theorie sich vollenden lassen in der mysti-
schen Intuition, und in dieser tritt naturgemäß die begeisterte
Gefühlswallung ungleich deutlicher hervor als im rationalen
Denken, wo sie nur gleichsam zwischen den Zeilen hervorstrahlt.
Obwohl also die mystische Einigung mit dem „Urgrund" lehrhaft
von der vernünftigen Anschauung der Ideen weit abzuliegen
scheint, werden wir doch menschlich ihre Analogie mit dem
Enthusiasmus des älteren Denkers nicht aus dem Auge verlieren
dürfen, vielmehr sagen müssen: auch die plotinische Ekstase ist
nur die Steigerung und Vollendung des platonischen Schwunges.
Die Beschreibung dieser Ekstase aber ist die typische aller My-
stiker: nicht nur derjenigen, die unmittelbar oder mittelbar von
Plotin abhängig sein können, sondern auch jener alten Inder,
deren (freilich nicht ganz undenkbarer) Einfluß auf Plotin doch
zum mindesten recht problematisch bleibt1. Der Zustand näm-
lich, in dem der Erkenntnisprozeß sich vollendet, liegt weit über
alle Vernunfttätigkeit hinaus2, und gleicht mehr dem der „Be-
geisterten und Verzückten".3 Genauer: das Bewußtsein wird
hier überhaupt aufgehoben4 — zeigt es doch stets einen Mangel an
Vollkommenheit an — ; denn5 zu diesem „Schauen" gelangt die
Seele erst, wenn sie „nichts mehr kennt, und auch sich selbst
nicht", ja sogar6 „nicht einmal (das) erkennt, daß man nicht er-
kennt". Nur so nämlich wird die Zweiheit von Erkennendem und
Erkanntem aufgehoben, und tritt deren Einheit an ihre Stelle7.
Damit aber wird der Ekstatiker selbst zu Gott8. Nur darf man
i) Auch die Analogien zum folgenden findet man im Anhang näher aus-
geführt. 2) Enn. VI. 7. 35, p. 726 ff.; VI. 9. 4, p. 761 ff. 3) Enn. V. 3. 14, p. 512.
4) Enn. V. 5. 6, p. 525. 5) Enn. VI. 9. 7, p. 765. 6) Enn. VI. 7. 35, p. 727.
7) Enn. V. 8. 1 1, p. 552; VI. 7. 34, p. 725; VI. 9. 3, p. 760. 8) Enn. VI. 9. 9, p. 769.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 295
diesen Augenblick nicht erjagen wollen, sondern man muß ruhig
abwarten, bis er kommt; denn1 er „erscheint nicht, wie man ihn
erwartet, sondern kommt, als wäre er nicht gekommen, sondern
von Anfang an dagewesen"; und2 „von der Welle der Vernunft
wie entführt, und gleichsam schwellend zur Höhe gehoben,
sieht man's mit einem Mal, ohne zu wissen, wie?". Und auf
diese beiden letzten Sätze lenke ich besonders Ihre Aufmerksam-
keit. Denn in dieser Betonung der Passivität des Ekstatikers, der
die höchste Vollendung als Offenbarung und Gnadengeschenk
empfängt, wird jene leise Neigung zur Fremderlösungslehre er-
kennbar, die Plotins Lebensauffassung von der gemeinphilo-
sophischen der Griechen viel grundsätzlicher unterscheidet als
seineMystik. Daß nämlich diese Lebensauffassung ihrem wesent-
lichen Gehalte nach Freiheitslehre ist, dies wird uns nun vollends
deutlich werden, wenn wir zu dem theoretischen Leben selbst,
dessen Bedingung und Vollendung nun erörtert ist, uns zurück-
wenden, und uns fragen: warum besteht in ihm die Glückselig-
keit? und worin besteht der Vorzug der Theorie vor der Praxis?
Der Sinn der Antwort, die Plotin auf diese Frage gibt, deckt
sich durchaus mit dem, was schon Aristoteles angedeutet
hatte: jedes praktische Streben macht uns abhängig von den
Außendingen, auf die es sich richtet; und nur die Theorie allein
ist von ihnen allen unabhängig, und gewährleistet unsere innere
Freiheit. In seiner feinen Weise, die dem Aberglauben nur
solche Zugeständnisse macht, welche es gestatten, ihn symbo-
lisch zu verstehen und so zu vergeistigen, drückt Plotin diesen
Gedanken so aus3: „Jede Beziehung zu einem andern ist eine
Bezauberung durch dieses andere . . . und nur die Beziehung zu
sich selbst ist frei von Zauber. Darum ist jede praktische Be-
tätigung und jedes Leben eines Praktikers verzaubert; denn es
wird von dem bewegt, was den Zauber ausübt." Aber freilich:
im Grunde ist auch dieser Zauber nur ein Trug. Denn nicht
wegen äußerer Dinge an sich handelt doch auch der Praktiker,
1) Enn. V. 5. 8, p. 527. 2) Enn. VI. 7. 36, p. 728. 3) Enn. IV. 4. 43, p. 438.
296
ZWÖLFTE VORLESUNG
sondern um des Guten willen (das er von ihnen erwartet)1.
Dieses aber findet sich nicht da draußen. „Wo denn? In der
Seele. Also biegt auch die Praxis wieder in die Theorie um."
Und in diesem doppelten nun besteht unsere Freiheit. Erstens
ist die Seele überhaupt nicht leidensfähig, sondern auch in ihrem
Erkennen des körperlichen Leidens verhält sie sich tätig2 — so
daß also unser innerstes Wesen dem Übel von vorneherein ent-
rückt ist; und zweitens ist diese ihre Tätigkeit von allem Äuße-
ren schlechthin unabhängig. Denn wo und unter welchen Um-
ständen man nach oben blickt, macht keinen Unterschied3. Und
ob meine Verwandten in Kriegsgefangenschaft geraten oder
nicht, das ändert nichts an meiner Erkenntnis, daß auch sie in
diese Lage kommen können4. Diese Erkenntnis aber ist die ein-
zige, innerlich mir zugehörige Beziehung, in der ich zu solchen
Ereignissen stehen kann. Darum sagtPlotin5: „Die Tätigkeit
kann durch die Schicksale nicht behindert werden, sondern nur
andere Schicksale zum Gegenstand erhalten. Immer aber sind sie
schön, ja um so schöner, je schwieriger die Lage." „Denn dieses,
meint er6, zeigt die höchste Kraft, wenn man die Übel recht zu
gebrauchen weiß." Wenn man daher7 behauptet, „für den Guten
gebe es kein Übel, und für den Schlechten kein Gut, so behaup-
tet man dies mit Recht". Armut und Krankheit bedeuten also
für den Guten gar nichts8; aber ebensowenig auch das Unrecht-
leiden9. Und10 „wenn einer tüchtig ist, so ist er selbstgenügsam
zum Glück und zum Guten; denn es gibt kein Gut, das er nicht
hätte. . . . Und wenn seine Verwandten und Freunde sterben,
— so weiß er, was der Tod bedeutet". Hielte aber11 einer den
Sturz und die Zerstörung seiner Vaterstadt für etwas Großes,
so wäre er „lächerlich, da er Holz und Steine, und, beim Zeus!
das Sterben Sterblicher für was Großes hielte!" Und wenn er
in Schmerzen verfällt, so wird er ihnen die Kraft entgegen-
i) Enn. III. 8. 6, p. 347. 2) Enn. IV. 4. 19, p. 411 f. 3) Enn. I. 4. 16, p. 39.
4) Enn. I. 4. 7, p. 34. 5) Enn. I. 4. 13, p. 37. 6) Enn. III. 2. 5, p. 259.
7) Enn. III. 2. 6, p. 259. ») Enn. III. 2. 5, p. 258. 9) Enn. II. 9. 9, p. 207.
10) Enn. I. 4. 4, p. 32. H) Enn. I. 4. 7, p. 34.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 297
stellen, die ihm dazu gegeben ist, und wird sie ebensowenig für
eine Verminderung wie die Lust für eine Vermehrung seines
Glückes halten1. So wird er ruhigen Gemütes dahinleben,
unbewegt von den sogenannten Übeln2. Denn3 „wenn Zweie
weise wären, der Eine aber alle sogenannten natürlichen Güter
hätte, und der Andere das Gegenteil, so werden wir sagen, sie
I hätten ein gleiches Glück. . . . Oder aber, er wäre nicht mehr
weise, wenn er noch nicht alle Vorstellungen von diesen Dingen
i von sich abgetan hätte, noch nicht gleichsam ein ganz Anderer
geworden ist durch den Glauben, daß er niemals ein Übel er-
leben wird". Alles Derartige nämlich ist nicht schrecklich, son-
dern ein Gegenstand der Furcht nur für Kinder4. Erfaßt aber
den Weisen ohne sein Wollen Furcht, dann wird er das in ihm
zur Trauer erregte Kind beruhigen, durch Vernunft oder durch
den Hinweis auf das Heilige5.
Für dieses Bewußtsein der inneren Freiheit nun erscheint,
sowie alles Materielle fürs Geistige überhaupt nur Spielzeug
ist6, so auch insbesondere alles äußere menschliche Leben als
Spiel. Damit knüpft Plotin einerseits an eine Betrachtungs-
weise des greisen Piaton an, und andererseits nimmt er einen
; stoischen Gedankenzug auf. Aber er hat diese Konsequenz der
Freiheitslehre nachdrücklicher und ausführlicher entwickelt als
irgend einer seiner Vorgänger, wie die folgenden Auszüge Ihnen
beweisen mögen. Er sagt7: „Die Waffen der Menschen, die,
Sterbliche, in wohlgestalter Schlachtordnung einander bekämp-
fen, wie die Spieler beim Waffentanz — gerade sie klären uns
darüber auf, daß aller menschliche Ernst Spiel ist, und zeigen
an, daß der Tod nichts Schreckliches bedeutet. Sowie auf
den Schaubühnen, so muß man auch im Leben Mord und Tod
und Städteeroberung und Raub betrachten: alles als Verwand-
lungen und Umkleidungen und Darstellungen von Jammern und
Klagen. Denn auch hier in allen Lebenslagen ist es nicht die
i) Enn. I. 4. 14, p. 38. 2) Enn. I. 4. 12, p. 37. 3) Enn. I. 4. 15, p. 38. 4) Enn.
I. 4. 8, p. 35. 5) Enn. I. 4. 15, p. 38. 6) Enn. III. 6. 7, p. 310. ?) Enn. III. 2.
15, p. 265 ff.
ZWÖLFTE VORLESUNG
innere Seele, sondern der äußere Schatten des Menschen, der
jammert und klagt und das äußerste tut — da auf der großen
Erdbühne überall (kleine) Bühnen aufgeschlagen sind. Denn das
sind die Äußerungen eines Menschen, der nur das Leben nach
unten und außen kennt, und nicht einsieht, daß er trotz aller
Tränen und allen Ernstes nur spielt. — Auch die Spiel-
zeuge werden ja ernst genommen von denen, die nicht wissen,
was Ernst ist — sie selber Spielzeuge! Wenn aber ein Vernünf-
tiger mit diesen spielt, so wisse er, daß er, aus der Rolle fallend,
an einem Kinderspiel teilnimmt. Spielt aber auch Sokrates, so
doch nur mit dem äußern Sokrates. Aber auch dessen muß man
sich bewußt sein, daß man Weinen und Klagen nicht als Zeichen
von (wahren) Übeln auffassen darf, da doch auch die Kinder
über Dinge, die keine Übel sind, weinen und klagen." Zwischen
dem wirklichen und dem gespielten Tod ist kein grundsätzlicher
Unterschied. Denn, nimmt die Seele wieder andere Leiber an,
so gleicht sie dem Schauspieler, der, nachdem er in der einen
Rolle getötet wurde, in einer andern wieder auftritt; trennt sie
sich aber endgültig vom Körper, dann jenem, der abgeht, um
nicht wieder zurückzukehren. So also müssen wir es auffassen,
wenn wir die Natur erfüllt sehen von einander verzehrenden
Tieren, und von Menschen, die gegeneinander unaufhörlich im
Streite liegen. Denn „viel Leben ist im All, das alles wirkt und
bunt schillert, und nicht aufhört, schöne und wohlgestalte leben-
dige Spielwerke hervorzubringen".
Wenn aber alles schön ist, so entstehen zwei neue Fragen:
wie kann mit dieser Allschönheit das ethisch Schlechte zusam-
menbestehen? Und wie kann insbesondere darin Ekel und Auf-
lehnung gegen dieses All sich finden, zum Beispiel eine Gottes-
lästerung ausgesprochen werden? Plotin erwidert1 zunächst
auf das letztere: und warum sollte nicht ein Dichter in seinem
Stück auch einmal eine Figur auftreten lassen, die gegen ihn,
den Dichter selber, loszieht? Es gehört ja eben zur Vollkom-
menheit eines (physischen oder technischen) Ganzen, daß seine
i) Enn. III. 2. 16, p. 267.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 299
Teile nicht nur verschieden, sondern auch gegensätzlich seien.
Was aber insbesondere die Vereinbarkeit seines universalisti-
j sehen Optimismus mit dem Sittengesetze angeht, so zieht Plotin
nacheinander drei Auflösungsversuche in Erwägung1. Die ab-
solute Geltung des moralischen Urteils könnte gewahrt werden,
wenn man das Leben so auffassen dürfte, daß in dem Weltdrama
der Spielleiter die Rollen der Bösewichte eben den wirklichen
; Bösewichten zuteilt, so daß dann ihre Rolle nur ein Symptom
| ihres Charakters wäre. Durch eine solche Annahme aber würde
der Spielcharakter des Lebens gefährdet. Die zweite Betrach-
tungsweise geht von dem Gedanken aus, auch darin, wie der
Schauspieler spielt, äußere sich ja sein Wert. Sowie der Regis-
seur ihm Maske, Gewand und Rolle gibt, so — müßten wir uns
dann denken — gibt auch Gott der Seele ihr äußeres Schicksal.
In dem Gebrauche, den sie innerlich von diesen äußeren Mit-
teln macht, zeigt sie ihre Trefflichkeit oder Schlechtigkeit; und,
je nach dem Ausgange dieser Prüfung, wird sie dann am Ende
zur Mitwirkung in anderen, noch schöneren, oder aber gerin-
geren Stücken bestimmt. Diese Auffassung nun wahrt zwar
durchaus den Spielcharakter des Lebens, aber sie führt zur gänz-
lichen Verleugnung des Sittengesetzes; denn aus ihr würde die
Folgerung des Aristo n fließen: auch wer die Rolle des Böse-
wichtes gut spielt, müßte Objekt der ethischen Billigung werden.
Diese beiden einander entgegengesetzten Bedenken sind es wohl,
die den Plotin bei keiner dieser beiden Auffassungen sich
beruhigen ließen, vielmehr ihn über beide hinaus zu einer
dritten, vermittelnden, getrieben haben. Dieser zufolge2 sind
im Text des großen Dramas Stellen für Improvisationen aus-
gespart, so daß die Darsteller zugleich auch „Teile des Dichters"
sind, und, je nach seinem Wesen, wird dann der Gute Gutes,
der Schlechte Schlechtes einlegen. So wird das ethische Übel
zwar wirklich von der schlechten Natur des Übeltäters Zeugnis
ablegen, aber, als bloßer Spielfehler, wird es doch kein wahres
Übel sein. Das scheinbare Übel aber darf nicht fehlen, denn,
i) Enn. III. 2. 17, p. 268 ff. 2) Enn. III. 2. 18, p. 270 f.
300
ZWÖLFTE VORLESUNG
als der Gegensatz des Guten, gehört es wesentlich zur Voll-
kommenheit des Ganzen. Ein Übel aber scheint es nur zu sein,
so lange es für sich betrachtet wird; in jenem umfassenderen
Zusammenhange angesehen aber ändert es seine Natur. So ist
denn1 auch „das Unrecht zwar für den, der es begeht, Unrecht.
Aber als ein Bestandteil des All ist es kein Unrecht für ihn,
noch auch für den, der es erleidet, sondern es mußte so kommen.
Und, wenn der, dem es widerfährt, gut ist, so wird sichs für ihn
zum Guten wenden. Denn man darf dieses (All)gebilde weder
für gottlos noch für ungerecht halten, sondern für ganz genau
in der Austeilung des Geziemenden. Aber ihre Gründe sind
undeutlich, und dem Unwissenden scheint es Anlaß zum Tadel
zu geben".
Geehrte Zuhörer! Sie werden nicht von mir verlangen, daß
ich zum Schlüsse noch die plotinische Form der Freiheitslehre
einer näheren Kritik unterziehe. Der neuen, und für unseren
Gesichtspunkt wichtigen Gedanken sind ja in ihr nicht allzu
viele. Das zuletzt erörterte Problem haben wir anläßlich der
stoischen Lehre viel genauer erörtert; und von der Begründung
des Freiheitsideals auf die Ausschließlichkeit des theoretischen
Interesses brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß es im besten
Falle für dasselbe nur eine einseitige und teilweise Stütze ab-
geben kann. Viel lieber als bei diesen Schwächen im einzelnen
werden wir vielmehr nun, da wir am Ende unseres Weges
stehen, bei der Gesinnung verweilen, die auch noch die plo-
tinische Lebensauffassung im ganzen durchwaltet; und bei
der Tatsache, daß so die Grundgedanken der philosophischen
Ethik der Griechen sich bis ans Ende in ihrer alten Kraft be-
haupten. Denn in der Lehre des Plotin tritt uns das Ideal der
inneren Freiheit mit der gleichen Entschiedenheit und Uner-
schütterlichkeit entgegen, mit der es zuerst in der Person des
Sokrates uns begegnet ist. Und so klingt hier die Ethik der
Alten aus, wie sie vielleicht schon mit Herakli t begonnen hatte:
in eine erneuerte scharfe Betonung des Satzes, daß es für einen
i) Enn. IV. 3. 16, p. 384.
VERFALL UND AUSGANG DER ETHIK 301
guten Mann kein Übel gibt; in eine ausführliche Darlegung vom
Spielcharakter des Lebens; und in eine begeisterte Verherr-
lichung des Universums. Es ist, als wollte das erlöschende
Altertum noch einen letzten Warnungsruf ausstoßen für all jene
kommenden Zeiten, auf die sich förmlich prophetisch ein Satz
zu beziehen scheint, der uns von einem Zeitgenossen des Plo-
tinos, dem namenlosen Verfasser einer „hermetischen" Schrift
überliefert ist. Denn dieser weissagt in seinem „Asclepius" *:
' „Dann wird dem menschlichen Überdrusse die Welt nicht mehr
bewunderungs- und verehrungswürdig erscheinen: dieses All-
gute, besser als welches, was immer man denken möge, nichts
war, nichts ist, und nichts sein wird .*
*) Asclepius 25 (Apulei opuscula quae sunt de philosophia ed. Goldbacher,
S. 47. 23).
ANHANG! EINIGE BEITRÄGE ZUM VER-
STÄNDNIS DER MYSTIKER
IR wissen, daß eine große Menge von Per-
sonen zu allen Zeiten visionäre und ek-
statische Erlebnisse hat. Ein engerer
Kreis rühmt sich eines persönlichen Ver-
kehrs mit der Gottheit, mag nun dieser Ver-
kehr, speziell im christlichen Kulturkreis,
mehr einen erotischen Charakter zeigen,
oder als sympathetische Teilnahme an der Passion sich dar-
stellen, oder endlich auf den ruhigen Austausch Kraft und
Vertrauen einflößender und ausdrückender Gefühle sich be-
schränken. Aus diesen beiden weiteren Sphären scheint es
zweckmäßig, als eine engste Gruppe die derjenigen Menschen
herauszugreifen und, im prägnanten Sinne dieses Wortes, als
die der Mystiker zu bezeichnen, welche aussagen, daß sie die
Vereinigung ihrer Seele mit Gott, oder, besser und allge-
meiner, die Einheit des letzten Prinzips ihres eigenen
Seins mit dem der Welt unmittelbar erfahren haben.
Denn diese Aussagen finden sich in so erstaunlicher Gleichartig-
keit in allen Ländern, Zeiten und Kulturen, daß ein besonderer
Ausdruck zu ihrer Kennzeichnung unbedingt erforderlich ist.
Diese Gleichartigkeit beruht freilich zum Teil auf einem äuße-
ren, geschichtlichen Zusammenhang: zwischen Indien und dem
Neuplatonismus haben Berührungen stattgefunden; dieser hat
einerseits auf die sufische Mystik der Araber undPerser,anderer-
seits (besonders durch die Vermittlung der angeblichen Schrif-
ten des Dionysios Areopagita) auf die christliche Mystik
des Mittelalters gewirkt; und von hier aus fließt eine stetige
Überlieferung bis zu den Dichtern des 17. und den Philosophen
des 19. Jahrhunderts. Allein kein Verständiger wird in diesem
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 303
Strome der Tradition mehr sehen als ein anregendes und unter-
stützendes Moment: eine so ganz auf das individuelle Erlebnis
gestellte Richtung setzt bei allen ihren hervorragenden Ver-
tretern1 eigene und innerliche Erfahrungen voraus. Dann aber
müssen jene gleichförmigen Aussagen auch auf gemeinsamen
und typischen Erfahrungen beruhen.
Wer nun nicht selbst über Ekstasen verfügt, wird nicht umhin
I können, sich auch diese mystischen Erfahrungen als Steige-
rungen normaler Erlebnisse zu denken (so sehr er geneigt sein
mag, zuzugeben, daß diese Steigerung in vielen Fällen durch
eine pathologische Disposition gefördert sein kann), und wird
also trachten, sie seinem Verständnis dadurch näher zu bringen,
daß er sie auf allgemein menschliche typische Grunderfahrun-
gen zurückführt. Von solchen aber scheinen mir in der Tat
drei in den mystischen Aussagen unverkennbar hervorzutreten:
das erkenntnistheoretische, das ethische und das reli-
I giöse Urphänomen.
Unter dem erkenntnistheoretischen Urphänomen ver-
stehe ich hier die Tatsache, daß der Mensch die Dinge der
Außenwelt in doppelter Weise auffassen kann. Sie können sich
ihm darstellen als von ihm unabhängige, ein selbständiges Sein
besitzende, fremde Wesenheiten, somit als Gegenstände oder
Dinge an sich. Sie können sich ihm aber auch darstellen als
von ihm abhängige, nur unselbständig existierende Bestandteile
seines Bewußtseins, somit als Vorstellungen oder Erscheinungen
für das Ich. Die real istischen Systeme der Philosophen legen
allein die erstere, die idealistischen allein die letztere Auf-
fassungsweise zugrunde. Eine umfassendere Betrachtung wird
jedoch eben davon ausgehen müssen, daß beide Auffassungs-
!) Zu diesen rechne ich alle im folgenden zitierten Mystiker, ausgenommen
allein Angelus Silesius. Dieser hat, wie mir scheinen will, lediglich,
wie anderen Richtungen religiöser Stimmung, so auch der mystischen
sein entwickeltes Formtalent geliehen. Eben dieses Formtalentes wegen
aber läßt es sich schwer vermeiden, zur Illustration der mystischen Ge-
danken auch seine (oft besonders glückliche) Fassung derselben heran-
zuziehen.
304
ANHANG
weisen möglich sind, und daß unter gewissen Verhältnissen von
einer zur andern übergegangen werden kann. Da jedoch die
realistische Auffassung diejenige des gewöhnlichen Lebens ist,
so wird der Übergang von ihr zur idealistischen Auffassung in
der Regel die Aufmerksamkeit besonders auf sich ziehen, und
die Erfahrung dieses Überganges scheint das erste, für die
Mystik charakteristische Moment zu sein.
Unter dem ethischen Urphänomen verstehe ich hier die
Tatsache, daß der Mensch um so intensivere Kraftgefühle erlebt,
je weiter der Kreis von Objekten ist, die er als zu seinem Ich
gehörig empfindet. Die Ichsphäre ist nämlich an sich höchst
variabel. Sie kann sich auf einen engsten Kreis von „Interessen"
einschränken, die der Selbsterhaltung dienen, und von Objekten,
welche dieselnteressen zu befriedigen oderzu hemmen vermögen.
Sie kann sich aber auch, durch viele Zwischenstufen hindurch,
fast schrankenlos erweitern: zunächst durch „Teilnahme"
an einzelnen Menschen, und durch „Aufgehen" in den Ange-
legenheiten bestimmter Lebensgebiete; sodann durch steigendes
„Interesse" an „allgemeinen" Fragen und Schicksalen; endlich
durch „Identifizierung" mit selbstgeschaffenen Werken in der
Produktivität, und vor allem mit einem unbeschränkten Kreise
von Wesen in der Liebe. Je näher nun ein Leben dem Anfang
dieserReihe steht, desto „ärmer" nennen wir es; um so „reicher"
aber, je mehr es sich ihrem Ende zuneigt. In diesen Aussagen
drücken sich aber nur die geringeren oder größeren Grade der
Gefühle von Kraft und Fülle aus, welche mit diesen Zuständen
verbunden sind. Diese wachsen also mit der „Erweiterung" des
Ich zum „überindividuellen", und sie nehmen ab mit seiner
„Verengung" zum „persönlichen". Mit der „Überwindung" dieses
„persönlichen" Ich ist daher eine „Schwellung" des allgemeinen
Lebensgefühls verbunden, die sich mit Vorliebe als „Begeiste-
rung" dem Bewußtsein kundgibt.
Als das religiöse Urphänomen endlich bezeichne ich die
Tatsache, daß der Mensch sich um so „unruhiger, unsicherer,
bedrohter" fühlt, je mehr er sich abhängig denkt von Wesen,
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 305
Dingen und Ereignissen außer ihm, auf die er sich nicht „ver-
| lassen" kann; um so „ruhiger, sicherer, zuversichtlicher" aber,
je unabhängiger er sich von solchen denkt, und je mehr er also
entweder von allem Äußeren unabhängig zu sein meint, oder
doch nur abhängig von solchem, dem er volles „Vertrauen"
entgegenbringt. Je mehr also eine dieser beiden Alternativen
verwirklicht ist, um so mehr fühlt er sich „befreit" und „erlöst".
Als eine Synthese dieser drei Urphänomene nun erscheinen
mir die typischen Erfahrungen und Aussagen der Mystiker im
wesentlichen verständlich. Näher aber handelt es sich dabei
um eine Interpretation der ersten dieser drei Grunderfahrungen
unter dem Einflüsse der beiden letzten.
Das erkenntnistheoretische Urphänomen ist nämlich an und
für sich einer mehrfachen Deutung fähig, wie schon angedeutet
wurde. Es kann zunächst interpretiert werden: einerseits als
eine wirkliche Verwandlung der realen Objekte in subjektive
Phänomene, andererseits als eine bloße Erkenntnis eines
schon früher vorhandenen, aber erst jetzt verstandenen Tat-
bestandes. Das letztere wird im allgemeinen dann der Fall sein,
wenn derjenige, der die Erfahrung macht, ein starkes Interesse
; daran hat, die „idealistische" Auffassung der Außenwelt als eine
dauernde zu denken. Das erkenntnistheoretische Urphänomen
kann aber weiterhin auch gedeutet werden: einmal als ein Ab-
hängig-Werden oder Sein der Dinge von einem engen, beson-
deren, persönlichen Individual-Ich, sodann aber auch als ein
solches von einem weiten, allgemeinen, überpersönlichen Welt-
Ich. Es kann entweder so verstanden werden, daß die Welt
„herabsinkt" und sich „einschränkt" zu einer Welt des Ich;
oder so, daß das Ich „erhoben" und „erweitert" wird zu einem
Ich der Welt. Ist erst einmal die normale Auffassung des
Äußeren, als eines dem Ich gegenüberstehenden Du, aufgehoben,
so kann das nun allein übrigbleibende Ichgefühl sich ebenso-
wohl in einem einzigen Mittelpunkte sammeln, als auch sich
durch die Gesamtheit der Erscheinungen ergießen. Ob aber
das eine oder das andere geschieht, das wird im allgemeinen
Goraperz, Lebensauffassung 20
306
ANHANG
davon abhängen, ob das Ich desjenigen, der das Phänomen er-
fährt, zu einer restriktiven oder aber zu einer extensiven
Auffassung der Ich-Sphäre neigt.
Trifft nun das erkenntnistheoretische Urphänomen auf einen
Menschen, der von dem ethischen Urphänomen heftig ergriffen
ist, und der also jede Gelegenheit benutzt, seine Ichsphäre zu
erweitern, so wird es erlebt werden als ein Übergehen des per-
sönlichen Ich in ein Welt-Ich, und es wird mit ihm eine außer-
ordentliche Steigerung aller Kraftgefühle verbunden sein. Der
Betreffende wird erleben: eine „Überwindung" des individuellen
Ich, ein „Sichverlieren" an die Welt; und, indem er sich in
dieser Weise zu dem letzten Träger alles Daseins erweitert, wird
er von der hinreißendsten Begeisterung erfüllt sein. Zugleich
aber wird er das religiöse Urphänomen in seiner größten Heftig-
keit erfahren. Denn außer der Welt ist nichts. Die Welt aber ist
von ihm abhängig. Es kann also nichts geben, was außer ihm
ist, was ihn bedrohen könnte, wovor er sich fürchten müßte,
was ihn unruhig oder unsicher zu machen vermöchte; sondern
in absoluter Ruhe, Sicherheit und Zuversicht wird er sich völlig
befreit und erlöst fühlen. Damit aber ist auch das Interesse
gegeben, diesen Zustand nicht für vorübergehend, sondern für
dauernd zu halten, also das erkenntnistheoretische Urphänomen
auszulegen: nicht als eine zeitweilige Änderung der nor-
malen Beziehung von Ich und Welt, sondern als eine Er-
kenntnis ihres wahren und ewigen Verhältnisses. In
dieser wechselseitigen Beeinflussung und Durchdringung aber
stellen, wie mir scheint, die besprochenen drei Urphänomene
die mystische Grunderfahrung dar.
Soll nun aber diese theoretisch formuliert werden, so ergeben
sich mit logischer Notwendigkeit gewisse dogmatische Be-
stimmungen. Diese wollen wir jetzt kurz entwickeln, und durch
die übereinstimmenden Aussagen von Mystikern sehr verschie-
dener Zeiten, Länder und Kulturen belegen. Zu diesem Zwecke
aber greife ich aus der Überfülle des Materials so ziemlich aufs
Geratewohl einige charakteristische Äußerungen heraus, ohne
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 307
j zu verschweigen, daß für meine Auswahl auch sehr zufällige
| und äußerliche Gründe mitbestimmend waren.
Zunächst also: was kann man von dem Welt-Ich aussagen in
seinem Verhältnis zur Welt, noch ohne Rücksicht darauf, daß
| es als identisch mit unserem Individual-Ich erkannt werden
kann? Denn offenbar muß, ehe die mystische Grunderfahrung
als diese Identifizierung formuliert werden kann, erst das zweite
Glied derselben, eben das Welt-Ich, begrifflich gefaßt sein. Auf
den Namen nun kommt es nicht an: Brahman, Gott, das Abso-
lute sind als Bezeichnungen in gleicher Weise, wenn auch nicht
; ohne Vorbehalte, brauchbar. Die sachliche Antwort aber wird
lauten müssen: es ist kein wahrnehmbarer Bestandteil der Dinge,
I aber es durchdringt sie ganz, und ist dasjenige, an dem und
durch das sie einzig ihr Sein haben. Es ist also die Substanz,
das Prinzip der Welt. Demnach hören wir in den Upanishad's
des Veda, Brahman verhalte sich zur Welt wie der Ton zu dem
tönernen Ding 1 : „an Worte sich klammernd ist die Umwandlung,
ein bloßer Name, Ton nur ist es in Wahrheit"; wie die Lebens-
kraft zu dem Baum2, als sein „lebendiges Selbst"; wie das Salz
zu der Salzlösung, die es, unwahrgenommen, doch ganz durch-
dringt3. Es ist „das innere Selbst in allen Wesen"4.
Aber eben weil es unwahrnehmbar ist, ist das Absolute auch
unvorstellbar, und es kann deshalb keine Eigenschaft von ihm
ausgesagt werden. Man kann ihm solche höchstens analogisch
und metaphorisch beilegen; im besten Fall ihm „Übereigenschaf-
ten" zusprechen, was zum Teil besagt, es besitze die betreffenden
!) Chandogya-Up. 6. T. 3 (Deussen, 60 Upainshad's des Veda, S. 160). 2) ibid.
6. 11. 1 (Deussen S. 167). 3) ibid. 6. 13. 2 (Deussen S. 168). 4) Mundaka-Up.
2. 1. 4 (Deussen S. 551). — Sehr ähnlich ist das Verhältnis des Absoluten
zur Welt bei Parmenides, Plotin, Spinoza, Fichte, Sendling,
Hegel, Schopenhauer. Doch haben bei der Mehrzahl dieser Denker
mystische Erfahrungen wohl höchstens in verkümmerter Gestalt statt-
gefunden, weshalb denn auch die Möglichkeit eines unmittelbaren Er-
fahrens der Identität von Ich und Absolutem bei ihnen keine entschei-
dende Rolle spielt. Nur mit Plotin und Fichte verhält es sich anders,
wie wir unten sehen werden.
20*
308
ANHANG
Eigenschaften, als seiner unwürdig, nicht, zum Teil, es besitze
sie in einem uneigentlichen, übertragenen Sinn, zum Teil, es
besitze sie in höchst vollkommener Weise; im strengen Sinne
aber kann sein Wesen nur durch negative Prädikate bestimmt
werden, also dadurch, daß man ihm alle erdenklichen positiven
Eigenschaften abspricht. Diesen Grundsätzen sind die Mystiker
aller Zeiten mit einer erstaunlichen Konsequenz gefolgt. In
Indien hören wir: das Brahman ist „nicht so und nicht so"1,
weder seiend noch nichtseiend2. Plotin nennt zwar das Abso-
lute häufig das Gute, das Seiende, den jenseitigen Gott, sagt
auch gelegentlich von ihm, es sei „jenseits der Schönheit"3 und
„jenseits des Seins"4, spricht ihm aber doch, wo er sich exakt
ausdrücken will, mit allen Qualitäten5 nicht nurEmpfindung 6 und
Willen7, sondern auch Güte8 und Bewußtsein9, ja Sein über-
haupt10 ab, indem er ausdrücklich bemerkt11, es lasse nur nega-
tive Bestimmungen zu. Bekanntlich haben diese Grundsätze
auch auf die offizielle Theologie des Islam wie des Christentums
starken Einfluß geübt; und wenn dort Alfarabi Gott für un-
definierbar erklärt12, weil nur metaphorisch -analogische Aus-
sagen über ihn zulässig seien, so sagt hier Th o masvonAquino,
was Gott ist, könnten wir nicht aussagen13, und er heiße auch
nur uneigentlicher Weise ein Geist14. Mit ganz anderer Kühn-
heit aber redet von diesen Dingen Meister Eckhardt: „Ein
Meister spricht, und daz ist sanctus Dionisius: Got ist weder
ditz noch daz." 15 „Und ist er noch gut noch wesen noch wor-
heit noch ein, waz ist er dan? Er ist auch nicht, er ist weder
diez noch daz." 16 „Got ist ob dem wesen alz höh, alz der oberst
engel ob einer mukken."17 „Gut ist cleid, da Got under ver-
i) Brihadaranyaka-Up. 4. 2. 4 (Deussen S. 462); vgl. ibid. 4. 4. 22 (Deussen
S. 480) und Mandukya-Karika 3. 26 (Deussen S. 590). 2) Bhagavad-Ghita
13. 12. 3) Enn. I. 6. 9. *) Enn. V. 5. 6. 5) Enn. VI. 9. 3. 6) Enn. VI. 7. 41.
1) Enn. VI. 9. 6. ») Enn. VI. 9. 6. 9) Enn. V. 6. 5—6. ">) Enn. V. 4. 1. ») Enn.
VI. 8. 11. 12) De Boer, Philosophie im Islam S. 105. 13) Summ. Theol. I.
qu. 1, art. 7 ad 1. W) Ibid. I. qu. 3, art. 2 ad 1. i*) Jostes, Meister
Eckhardt und seine Jünger S. 26. 2. 16) ibid. S. 23. 26. ^) Ibid.
S. 25. 27.
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 309
borgen ist.al „In dem ewigen Wort ist weder boz noch gut."2
„Die sei sol alz gentzlichen gesencht sein in den grundlozen
grünt des gotlichs nichtz."3 „Got enhat niht wille noch minne
noch verstandnuz."4 „So spricht Dionisius: Got ensei niht ein
geist."5 „Allez, daz man gesprechen mak, die enist Got niht."6
„Got enist noch gut noch wor."7 Ebenso sprechen sich die
Dichter des 17. Jahrhunderts aus. So sagt Daniel v. Czepko8:
„Wie sehr irrt der, der schwartz die helle Sonne heist;
Noch mehr der, so da spricht: Gott ist gut und ein Geist."
Ferner Angelus Silesius:
„Mensch, so du etwas liebst, so liebstu nichts fürwahr:
Gott ist nicht diß und daß, drumb laß das Etwas gar."9
„Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirstu bekennen,
Daß du je weniger Ihn, was er ist, kannst nennen." 10
„Was Gott ist, weiß man nicht: er ist nicht Licht, nicht Geist,
Nicht Wahrheit, Einheit, Eins, nicht was man Gottheit heist:
Nicht Weißheit, nicht Verstand, nicht Liebe, Wille, Gütte,
Kein Ding, kein Unding auch, kein Wesen, kein Gemütte:
Er ist, was ich, und du, und keine Creatur,
Eh wir geworden sind was er ist, je erfuhr." 11
„Was ist das Wesen Gotts? Fragstu mein Ängigkeit?
Doch wisse, daß es ist ein Überwesenheit." 12
„Was man von Gott gesagt, das gnüget mir noch nicht:
Die Übergottheit ist mein Leben und mein Licht." 13
„Gott ist ein lauter Nichts, Ihn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach Ihm greifst, je mehr entwird er dir." 14
„Die zarte Gottheit ist ein Nichts und Übernichts:
Wer nichts in Allem sieht, Mensch glaube, dieser sieht's." 15
Die nächste Frage ist die nach den Bedingungen, unter wel-
chen das also gefaßte Welt-Ich als identisch erkannt werden kann
1) Ibid. S. 27. 14. 2) ibid. S. 29. 33. 3) ibid. S. 34. 9. *) ibid. S. 47. 26.
5) Ibid. S. 60. 19. 6) ibid. S. 74. 13. 7) ibid. S. 90. 22. 8) Sexcenta mono-
disticha sapientum V. 75 (Ellinger, Einleitung zu Angelus Silesius; Neu-
drucke deutscher Literaturwerke Nr. 135—138, p. LI). 9) Cherubinischer
Wandersmann 1. 44. 10) Ibid. V. 41. ") Ibid. IV. 21. 12) ibid. II. 145. 13) ibid.
I. 15. 14) ibid. I. 25. 15) ibid. I. 111.
310
ANHANG
mit dem eigenen Ich des Individuums. Die Antwort kann nicht
zweifelhaft sein. Einmal liegt in dem „ethischen Urphänomen"
ohne weiteres die Erfahrung, daß das Ich nur erweitert werden
kann zum Welt-Ich, wenn das enge Individual-Ich überwunden
wird. Ferner ist aber auch das Erlöschen des individuellen Ich-
bewußtseins notwendige Voraussetzung für die extensive Inter-
pretation des erkenntnistheoretischen Urphänomens. Denn das
Ichgefühl kann sich zu den Erscheinungen nur verhalten: ent-
weder als ein ihnen zentral gegenüberstehendes, oder als ein
ihnen diffus einwohnendes Subjekt: beides zugleich ist unmög-
lich. Aber nur im ersteren Falle würde ein individuelles Ich-
bewußtsein ausgesagt werden. Es wird also für die mystische
Erfahrung ein „Sichverlieren" in die Welt, ein „Aufgehen" in
ihr erfordert; dann erst kann das Ichgefühl „hineinfallen" in die
Dinge. Wir alle kennen diesen Zustand als das „Versunken-
sein" in einen Anblick; es muß aber wohl die ethische Erfah-
rung der Icherweiterung und Selbstüberwindung, und die reli-
giöse der Befreiung und Erlösung hinzutreten, um diesen Zu-
stand zu jener Energie zu steigern, die uns die Sprache der
Mystiker verrät. So sagt Plotin1: „Wie aber in anderen Be-
ziehungen es unmöglich ist, an Eines zu denken, wenn man
an etwas Anderes denkt und im Geiste bei diesem ist — ,
so muß man auch hier verstehen, daß es unmöglich ist, das
Seiende zu denken, wenn man die Vorstellung von etwas an-
derem in der Seele hat, vielmehr muß sie leer
werden, wenn sie will, daß kein Hindernis entgegenstehe
ihrer Erfüllung und Erleuchtung durch das erste Prinzip. So-
mit muß sie von allem Äußeren sich abkehren und sich ganz
nach innen wenden, nicht an ein Äußeres sich lehnen, son-
dern erst, wenn sie ihr Wissen um alle Dinge abgelegt hat —
, und auch das Wissen um sich selbst, kann sie dazu
gelangen, jenes erste Prinzip zu schauen ". Ferner2:
„Hier ist der wahrhaftige Geliebte, an dem man teilnehmen,
mit dem man verkehren, und den man wahrhaft besitzen kann,
i) Enn. VI. 9. 7. 2) Enn. VI. 9. 9.
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 311
ohne daß er verhüllt wäre durch Fleisch und Knochen. Wer
es aber erlebt hat, der weiß, was ich rede: die Seele gewinnt
ein anderes Leben, wenn sie sich ihm nähert, und ihn erreicht,
und an ihm teilnimmt, und wird so gestimmt zu der Einsicht,
daß dieses die Ausstattung des wahrhaftigen Lebens ist, und ver-
langt nichts anderes mehr. Im Gegenteil: abtun muß man alles
andere, allein auf diesen Punkt sich stellen , abschnei-
den von sich das übrige, an dem wir haften; und so eilen wir
denn, von alle dem uns zu entfernen, und zürnen, wenn wir
an anderes gefesselt sind; denn mit unserm ganzen Selbst wollen
wir Gott umfangen, und es soll kein Teil von uns sein, der ihn
nicht berührte." Wiederum sagt Eckhardt: „Gotes iht, daz
enwirt niht funden von der sele, ez sei denn, daz si sey zu niht
worden"1; und weiterhin: „So stirbet sie iren hohsten tot. In
disem tot verleuset di sele alle begerung und alle bild und alle
verstantnuzz und alle form und wirt beraubt aller wesen .
Alz lang als daz in dir ist, daz du dich niht allzumol endest und
dich selber ertrenkest in disem grundlosen mere der gotheit, so
enmaht du niht bekennen disen gotlichen tot . Alz
nu di sele sich verleuset in aller weis so vindet di sele
daz, daz si daz selb ist, daz si gesucht hat sunder zugank."2
Ferner Angelus Silesius:
„Je mehr du dich auß dir kannst austhun und entgießen;
Je mehr muß Gott in dich mit seiner Gottheit fließen."3
„Entwächsest du dir selbst und aller Creatur,
So wird dir eingeimpfft die göttliche Natur."4
„Nichts bringt dich über dich als die Vernichtigkeit:
Wer mehr vernichtigt ist, der hat mehr Göttlichkeit."5
„Wer ist, als war' er nicht, und war' er nie geworden,
Der ist (O Seeligkeit!) zu lauter Gotte worden."6
!) Jostes S. 94. 38. 2) ibid. S. 95. 29. 3) Cherub. Wandersm. I. 138. *) ibid.
II. 57. 5) ibid. II. 140. 6) ibid. 1. 92. — Eine etwas abgeschwächte Form dieses
Erlebnisses, die aber wenigstens durch die Bildlichkeit der Ausdrücke
die charakteristischen Momente deutlich genug bewahrt, findet man in
Rousseaus 3. Brief an Malesherbes (Petits Chefs- d'ceuvre S. 508f.).
312
ANHANG
Die letzte Vorfrage endlich betrifft die Art der Erkenntnis,
durch die jene innere Identität erkannt werden kann. Nun ist ja
von vornherein klar, daß die mystische Grunderfahrung, das
Erleben der Dinge als Erscheinungen für ein in die Welt ver-
legtes Ich weder sinnlich wahrgenommen oder vorgestellt noch
auch begrifflich erdacht werden kann, sondern eben schlechthin
erlebt wird. Es kommt aber dazu, daß diese Erfahrung, wie
wir schon gesehen haben, das Aufhören des individuellen Ich-
bewußtseins voraussetzt; wo aber kein Selbstbewußtsein ist,
da scheint schon gar kein Denken oder Erkennen sein zu können
(obwohl natürlich in Wahrheit dem Bewußtsein, und so auch
dem Denken, nur die Charakteristik des Individual-Bewußt-
seins und Individual-Denkens fehlt; denn wo gar kein
Bewußtsein wäre, da könnte auch gar nichts erfahren, und
also auch gar nichts ausgesagt werden). Alle Mystiker sind
deshalb einstimmig in derBehauptung, daß die mystische Identi-
tätserfassung weit über Denken und Erkennen erhaben sei, und
sie begründen dies auch übereinstimmend durch die Erwägung,
daß ja die Erkenntnis eine Trennung von erkennendem Subjekt
und erkanntem Objekt voraussetze, daß aber in diesem Falle
diese Trennung eben aufgehoben, und daher für Denken, Er-
kennen, ja Bewußtsein überhaupt gar kein Raum mehr vorhan-
den sei: es fehlt eben jetzt nicht nur das Einandergegenüber-
stehen von Ich und Du, sondern auch das von Subjekt und
Erscheinung. So hören wir denn in den UpanishadV: „Denn
wo eine Zweiheit gleichsam ist, da erkennt Einer
den Anderen; wo aber Einem Alles zum eigenen Selbste gewor-
den ist, wie sollte er da irgendwen erkennen?
Wie sollte es doch den Erkenner erkennen?" In diesem Sinne
also sei „nach dem Tode kein Bewußtsein" für den Erlösten.
Und wiederum2: „Wenn er dann nicht erkennt, so ist er
doch erkennend, obschon er nicht erkennt; denn für den Er-
kennenden ist keine Unterbrechung des Erkennens, weil er un-
i) Brihadaranyaka-Up. 2. 4. 12—14 (Deussen S. 418 f.). 2) ibid. 4. 3. 30
(Deussen S. 472).
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 313
vergänglich ist; aber es ist kein Zweites außer ihm, kein andres,
von ihm verschiedenes, das er erkennen könnte." Und endlich1:
„Nur wer es nicht erkennt, kennt es,
Wer es erkennt, der weiß es nicht,
Nicht erkannt vom Erkennenden,
Erkannt vom Nichterkennenden."
Ebenso führt PI otin wiederholt und nachdrücklich aus, in
| der mystischen Ekstase verschwinde die Zweiheit von Erken-
nendem und Erkanntem, und werde zur Einheit2, unter Auf-
hebung alles Empfindens, Denkens, ja alles Selbstbewußtseins
überhaupt3. VonEckhardt aber haben wir schon gehört, daßdie
I Seele, um sich selbst als Gott zu finden, „alle bild und alle ver-
stantnuzz" verlieren müsse; und mit großartiger Paradoxie
drückt er diesen Gedanken auch aus in dem Satze4: „Man soll
Got suchen mit irrethume und mit vergezzenheit und mit un-
sinnen."
Wir kommen nun zum Hauptpunkt, zu der mystischen Identi-
tätserfahrung selbst, und hier ist es, nach allem Vorhergehen-
den, nicht nötig, noch weitere Bemerkungen vorauszuschicken,
! sondern es genügt, die Zeugnisse selbst vorzuführen. In den
Upanishad's sprichtUddalaka Aruni zu seinem SohneQveta-
ketu: In der Frucht des Nyagrodhabaumes sind viele Kerne.
Und wennmansiespaltet,sosiehet man darinnen gar nichts. Aber
„die Feinheit, die du nicht wahrnimmst, o Teurer, aus dieser
Feinheit fürwahr ist dieser große Nyagrodhabaum entstanden.
Glaube, o Teurer, was jene Feinheit ist, ein Bestehen aus dem ist
dieses Weltall, das ist das Reale, das ist die Seele, das bist du, o
Qvetaketu!"5 Und dieses: Tattvam asi, ist der Grundgedanke, der
das ganze Vedantasystem beherrscht. Da heißt es: „Es ist deine
Seele, welche allem innerlich ist." 6 „Wahrlich, wer jenes höchste
Brahman kennt, der wird zu Brahman."7 Brahman wird zu
i) Kena-Up. 2. 11 (Deussen S. 206). 2) Enn. V. 8. 11; VI. 7. 34—35; VI. 9. 3.
3) Enn. VI. 9. 7. 4) jostes S. 1. 8. 5) Chandogya-Up. 6. 12 (Deussen S. 168 ff.).
6) Brihadaranyaka-Up. 3. 4. 1 f. (Deussen S. 435 f.). ?) ibid. 3. 2. 9 (Deussen
S. 558).
314
ANHANG
diesem Weltall. Und wer immer von den Göttern und Men-
schen erkennt: „Ich bin Brahman", der wird zu demselbigen1.
Plotin aber sagt von der Stunde der Einigung mit Gott2: „Da
kann man dann schauen, sowohl jenen wie sich selbst, wie es
recht ist, sie zu schauen: sich selbst nämlich strahlend, voll von
dem Lichte der Erkenntnis, oder besser: selbst ein reines Licht,
schwerlos und leicht, zu Gott werdend oder vielmehr Gott
seiend." Und wiederum3: „Emporgeführt also werden wir
— zum Seienden, und steigenhinauf zu ihm ,und erkennen
es. Nicht indem wirBilder davon haben oder Vorstellungen. Viel-
mehr, indem wir es selbst sind. Wenn wir also teilhaben an
der wahrhaftigen Erkenntnis, so sind wir das Seiende: nicht in-
dem wir es in uns aufnehmen, sondern indem wir in ihm
sind. Aber da auch die Andern das Seiende sind, nicht nur wir,
so sind wir es Alle, somit Alle Eins. Aber nach
außen blickend, oder nach dem, woran wir hängen, verkennen
wir, daß wir Eins sind, wie viele nach außen gewandte Ge-
sichter, die innen einen gemeinsamen Scheitel haben. Aber
wenn Einer sich umwenden könnte, sei es aus eigener Kraft
oder beglückt durch die Hilfe der Athene, dann sieht er Gott
und sich selbst und das All. Er erkennt es aber nicht gleich als
das All. Später aber, da er keinen Punkt findet, wo er selbst
steht, und keine Grenze, bis wohin er reicht, hört er auf, sich
selbst abzusondern von dem gesamten Sein, sondern geht über
in das All, ganz ohne sich von der Stelle zu rühren, sondern
eben da bleibend, wo das All gegründet ist." Ebenso bezeugt
Eckhardt4: „Die sele ist elleu dink." „Allhie ist die sele Got
hie ist die sele und gotheit ein."5 „Got der ist dorum
worden ein ander ich, uf daz ich wuerd ein ander er."6 Das-
selbe hören wir bei Angelus Silesius:
„Gott ist dir worden Mensch, wirstu nicht wieder Gott,
So schmähstu die Geburt, und hönnest seinen Tod."7
i) Brihadaranyaka-Up. 1. 4. 10 (Deussen S. 395). 2) Enn. VI. 9. 11. 3) Enn.
VI. 5. 7; vgl. VI. 9. 8. *) jostes S. 89. 8. *) ibid. S. 96. 27 ff. 6) ibid. S. 97. 4.
7) Cherub. Wandersm. 1.124.
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 315
„Soll ich mein letztes End und ersten Anfang finden,
So muß ich mich in Gott, und Gott in mir ergründen
Und werden das, was er: ich muß ein Schein im Schein,
Ich muß ein Wort im Wort, ein Gott im Gotte sein."1
„Mensch allererst wenn du bist alle Dinge worden,
So stehstu in dem Wort, und in der Götter Orden."2
„Wie magstu was begehrn? Du selber kannst allein
Die Himmel und die Erd', und tausend Engel sein."3
Ich erwähne weiter einen Mann, den man in diesem Zusam-
menhange genannt zu sehen nicht erwarten würde, nämlich
Lessing. Denn Jacob i berichtet4 von ihm die (keineswegs
rein scherzhaft gemeinte) Äußerung: er selbst sei vielleicht
das höchste Wesen im Zustande der äußersten Konzentration,
und dasjenige, welches regnen lasse. Und endlich mögen einige
Sätze Fichtes diese Reihe von Anführungen beschließen. Auch
ihm ist das Leben „eins mit dem Sein"5; das „wahre Leben"
glaubt „gar nicht an die Realität dieses Mannigfaltigen und
Wandelbaren, sondern ganz allein an ihre unwandel-
bare und ewige Grundlage im göttlichen Wesen", es ist „unver-
änderlich verschmolzen und aufgegangen in dieser Grundlage"6.
Vermöchte der Mensch „nur sich zu begreifen, so vermöchte
er ebensowohl das Absolute zu begreifen; denn in seinem
Sein jenseits des Begriffes ist er das Absolute selber"; „nur für
den Begriff und im Begriff ist eine Welt ; jenseits des
Begriffes aber, d. h. wahrhaftig und an sich, ist nichts —
denn der lebendige Gott in seiner Lebendigkeit."7 „Das Be-
wußtsein, oder auch wir selber — ist das göttliche Dasein selber,
und schlechthin eins mit ihm."8 „Durch den höchsten Akt der
Freiheit" fällt der „Glaube an unsere ■ Selbständigkeit"
dahin, und damit auch „das gewesene Ich hinein in das reine
göttliche Dasein"; und nun sind hier „überhaupt gar nicht mehr
zweie, sondern nur eins"9.
i) Cherub. Wandersm. I. 6. 2) ibid. I. 192. 3) ibid. II. 149. 4) Briefe über
die Lehre des Spinoza (W. IV. 1, S. 74 u. 79). 5) Anweisung zum seligen
Leben, 1. Vorlesung (WW.V, S.405). 6) ibid. 3. Vorlesg. (S. 446). ?) Ibid.
4. Vorlesg. (S.453f.). 8) ibid. (S. 457). 9) Ibid. 8. Vorlesg. (S. 518).
316
ANHANG
Von diesem Höhepunkte der mystischen Erfahrung aus ergibt
sich aber auch für die rückschauende Betrachtung des vor-
mystischen Lebens dem Mystiker ein eigentümlicher Gesichts-
punkt; und dieser ist besonders merkwürdig, weil er mit der
orthodoxen Theologie (des Brahmanismus resp. Christentums)
noch weit entschiedener streitet als alles bisherige. Denn dieses
läßt zu jener noch manche Rückwege offen. Es gibt so viele
Arten, mit Gott Eins zu sein oder zu werden: im Gehorsam, im
Glauben, in der Liebe, in Christus. Und die Sprache ist ge-
fügig und elastisch. Jetzt dagegen taucht ein für die Dogmatik
sehr bedenklicher Doppelgedanke auf. Erstens nämlich: Iden-
tität ist eine wechselseitige Beziehung; ich kann deshalb
die mystische Erfahrung ebensogut formulieren als die Erkennt-
nis, daß Gott ich ist, wie als die Erkenntnis, daß ich Gott bin;
in Wahrheit aber ist eben deshalb keine von beiden Formulie-
rungen die letzte und endgültige; sondern die Wahrheit ist, daß
das Absolute weder Gott ist noch ich; und da vorausgesetzt
wird, die Erkenntnis der Wahrheit sei zugleich die erlösende
Erkenntnis, so folgt: in der mystfschen Einigung wird Gott
ebenso von seinem Gottsein erlöst, wie ich von meinem
Ichsein. Denn, und dies ist nun das Zweite: Gott und ich sind
offenbar Wechselbegriffe; ihrer beider absolute Setzung beruht
auf der gleichen Verkennung ihrer Identität; aber es ist ja auch
wirklich dasselbe Ichgefühl, das bald in einem Menschenleib
als Individual-Ich, bald in der Welt der anderen Dinge als Welt-
Ich ausgesagt wird: Gott und das Ich haben also nur eine re-
lative, wechselseitig durcheinander bedingte Existenz:
sie sind nicht an sich, sondern nur für einander, und auch
dies nur solange, als sie ihre wahrhafte Identität nicht gefunden
haben. Auch diese letzten Konsequenzen lassen sich mit erstaun-
licher Stetigkeit, wenn auch natürlich in verschiedener Nuan-
cierung, durch die ganze Geschichte der Mystik verfolgen. In
dem großen dogmatischen Werke des Qankara lesen wir1:
„Nachdem durch das Aufzeigen der NichtVerschiedenheit mit-
J) Deussen, die Sutra's des Vedanta S. 300.
ZUM VERSTÄNDNIS DER MYSTIKER 317
telst solcher Worte wie: Das bist du, die NichtVerschiedenheit
zum Bewußtsein gekommen ist, so ist das ganze Wanderer-Sein
der individuellen Seele und das Schöpfer-Sein des Brahman
verschwunden." Ebenso sagt Meister Eckhardt1: „Daz Got
Got heizt, daz hat er von den creaturen" ; und er schließt daraus 2 :
»Vindet noch Got stat in der sele, so enist di sele
noch niht tot . Als lang als di sele Got hat und Got
bekent und Got weiz, so ist si verre von Got. Daz ist Gots be-
gerung, daz Got sich selber zu nicht mach in der sele." Ähn-
lich Angelus Silesius:
„Gott ist wahrhaftig nichts; und so er etwas ist,
So ist er's nur in mir, wie er mich Ihm erkist."3
„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,
Werd' ich zu nicht, er muß von Noth den Geist aufgeben."4
„Nichts ist als Ich und Du: und wenn wir zwey nicht sein,
So ist Gott nicht mehr Gott, und fällt der Himmel ein."5
Besonders charakteristisch aber sind einige Äußerungen des
DanielvonCzepko, eines Zeitgenossen des zuletzt angeführten
Dichters. Er sagt:
„Die Seel und Gott die stehn in ungetrennter Pflicht;
Gieng Eines hin, ich weiß, das Andere stünde nicht;"6
ferner (besonders lehrreich für den idealistischen, ja solipsisti-
schen Charakter der mystischen Erfahrung):
„Vor mir war keine Zeit, nach mir wird keine sein,
Mit mir gebiert sie sich, mit mir geht sie auch ein;"7
endlich8:
„Gott ist ihm selbst nicht Gott; er ist das, was er ist.
Bloß das Geschöpfe hat ihm einen Gott erkiest.
Er ist sein Gegenschein ; der Mensch, eh er gelebt,
Hat keinen Gott, hat bloß in freier Ruh geschwebt.
Daß er besteht, ist sein; und tritt er je ins Licht,
Geschiehet es, daß Gott und Mensch zugleich entbricht."
*) Jostes S. 93. 23. 2) ibid. S. 93. 9. 3) Cherub. Wandersm. 1. 200. 4) ibid. 1.8.
5) Ibid. II. 178. 6) Sexcenta monodisticha IV. 59 (Ellinger p. LI). ?) Ibid. III. 11
(Ellinger p. L). 8) Das inwendige Himmelreich No. 12 (Ellinger p. XXXIX).
318
ANHANG
Die letzten Verse gehören wohl zu dem Freiesten und Kühn-
sten, was wir an philosophischer Poesie überhaupt besitzen,
und so mögen sie passend eine Erörterung abschließen, die
neben dem Zweck, zum Verständnis der Mystik Einiges
beizutragen, sich doch vor allem auch die Aufgabe ge-
stellt hat, eine gerechte Würdigung dieser Denk-
richtung zu fördern — ebensoweit entfernt von
der rückhaltlosen Unterwerfung unter
mystische „Offenbarungen" wie von
der bedingungslosen Gering-
schätzung mystischer
„Schwärmerei".
INHALTSVERZEICHNIS
Erste Vorlesung: Das Ideal der inneren Freiheit
Vorläufige Bestimmung der Aufgabe. — Innere Freiheit und
Glück. — Lust und Leid, Zufriedenheit und Unzufriedenheit, Wunsch-
bejahung und Wunschverneinung. — Der Partikularismus, der pessi-
; mistische und der optimistische Universalismus. — Verzweiflung
und Erlösung. — Erlösung und Religion. — Die drei Stufen der
dogmatischen Religion. — Fremderlösung und Selbsterlösung. —
Die Biologie der Selbsterlösung. — Kraftminimum und Kraft-
i Überschuß, Genuß und Freudigkeit, Hingebung und Schaffen. —
Das Leben als Spiel. — Selbstsucht, Andersucht und Selbst-
überwindung. — Die innere Befreiung, ihr gemeinsames Ziel und
ihre individuellen Ausgangspunkte. — Ethik und Moralität: ihre
Differenzierung. — Die Geschichte der Selbsterlösung: Spinoza,
Fichte, Buddha, die griechischen Philosophen.
Zweite Vorlesung: Die Lebensauffassung der Griechen im
allgemeinen
Römer und Griechen. — Die idealisierenden Verfälschungen des
i hellenischen Typus. — Die Leidenschaftlichkeit als Grundzug des
griechischen Volkscharakters. — Ihre Gefahren und Reaktionen. —
Die patrizische Reaktion: das Ideal des Maßes. — Die plebejische
Reaktion: das Ideal der Heiligkeit. — Die philosophische Reaktion:
das Ideal der inneren Freiheit. — Standesbewußtsein und Menschen-
würde, äußere und innere Freiheit. — Soziale Bedingtheit und Gel-
tungsanspruch dieses Ideals. — Vorläufige schematische Orientie-
rung über die Geschichte der griechischen Ethik. — Ihre 4 Epochen:
! Vorläufer, Blüte, Epigonen, Ausgang.
Dritte Vorlesung: Einleitung in die sokratische Lebens-
auffassung
Die vorsokratische Ethik: Pythagoras, Empedokles, Heraklit,
Anaxagoras, Demokrit. — Die Sophisten: ihr Moralunterricht, Fehlen
einer besonderen sophistischen Ethik, Natur und Konvention, un-
gerechte Angriffe, der gesunde Menschenverstand und der wissen-
I schaftliche Geist, Autorität und Kritik, die Banausenverachtung und
! ihr berechtigter Kern, der ethische Wert des Wohlstands. — Sokra-
j tes: sein Bild in der Geschichte und die Quellenfrage. — Keine
tendenzfreien Zeugnisse von Zeitgenossen: Aristoteles, Aristophanes,
i Piaton, Xenophon. — Die relativ besten Quellen: Aristoteles für
die Lehre, Piaton für die Persönlichkeit, die Übereinstimmung der
Ideale und Lehren der Jünger für beides.
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Vierte Vorlesung: Sokrates I
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Vorläufige Charakteristik. — Auszüge aus der platonischen „Apo-
logie".
Der Tod des Sokrates nach dem platonischen „Phaidon". — Die
3 Hauptmomente der sokratischen Persönlichkeit: Furchtlosigkeit,
Scherzfähigkeit und Verstandesmäßigkeit. — Ihre Einheit in der
inneren Freiheit, mit der besonderen Färbung der Sachlichkeit. —
Die sokratische Lehre. — Das Zeugnis des Aristoteles. — Die
Tugend ein postuliertes Wissen. — Zwei Mängel dieser intellektua-
listischen Theorie: die Übung und der gute Wille sind übersehen. —
Zusammenhang der Lehre mit der Persönlichkeit: Intellektualis-
mus, Sachlichkeit und innere Freiheit. — Die Persönlichkeit und
Lehre des Sokrates als der gemeinsame Ausgangspunkt der Ideale
und Theorien der sokratischen Schulen.
Sechste Vorlesung: Die Kyniker 112
Äußere Geschichte: Kyniker, Bhikshu's und Franziskaner. —
Wert des anekdotischen Quellenmaterials. — Vorläufige Übersicht
und psychologische Bedingtheit der kynischen Lehre. — Das Frei-
heitsbewußtsein. — Die Freudigkeit im Gegensatz zur Lust. —
Die Umwertung der Werte. — Askese. — Vernunftkult. — Die
„Einbildung": der Kampf gegen Pietät, Sentiment, Liebe, Ehe,
Patriotismus. — Protreptik. — Würdigung: Natur und Kultur, Ein-
seitigkeit und relative Berechtigung.
Siebente Vorlesung: Die Kyrenaiker 129
Ältere und jüngere Kyrenaiker. — Vorläufige Charakteristik des
Aristipp: seine Genußfreudigkeit. — Die hedonische Grundlage der
Lehre. — Aristipp und Piaton. — Die Lust des Augenblicks: die
4 kyrenaischen Argumente gegen die Theorie der hedonischen
Bilanz. — Aristipp und die Bergpredigt, der Kyrenaismus als Er-
lösungslehre, antike und moderne Hedonik. — Die Persönlichkeit
des Aristipp: Freiheitsbewußtsein und Anpassungsfähigkeit. — Sein
Verhältnis zu dem Tyrannen Dionysios. — Kritik der aristippischen
Lehre: 3 grundsätzliche Einwendungen. — Ihre teilweise Entkräftung
durch den jüngeren Kyrenaismus. — Theodoros: Anknüpfung an
den Kynismus, die „Freudigkeit" gegen die „Lust". — Hegesias:
Hedonismus und Pessimismus, optimistische und pessimistische
Selbsterlösung. — Annikeris: die „Sympathie"; Unzulänglichkeit
dieser Theorie. — Bion: Berührung mit der Stoa, das Leben als
Spiel.
Fünfte Vorlesung: Sokrates II
86
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Achte Vorlesung: Piaton 155
Die apostolische und die patristische Epoche der Freiheits-
lehre. — Piaton: der Mensch kleiner als der Denker und Schrift-
steller. — Die 4 Grundzüge der Persönlichkeit: Vornehmheit, Denk-
schärfe, Anmut, Schwung. — Die 4 Hauptmomente der Lehre:
innere Freiheit, Rationalität, die „schöne Seele", der Enthusias-
mus. — Gegensatz zu Sokrates: die Begeisterung als unter- und
übervernünftig. — Anlehnung an die Orphik: der Romantiker und
die Volksreligion. — Der Dualismus der platonischen Persönlich-
keit: Leidenschaft und Begierde. — Die Entwicklung der platoni-
schen Lebensauffassung: Jugendschriften, „Gorgias", „Phaidon",
„Staat". — Das System: Sittlichkeit gleich seelische Gesundheit;
die innere Freiheit. — Die Vieldeutigkeit der „Gerechtigkeit": Indi-
viduum und Gesellschaft, Ethik und Moral. — Die „Ideenlehre" und
das Ideal. — Würdigung des Systems: der Mut zum Dualismus,
die Travestie der Begeisterung, die Realität des Ideals und der
Formalismus der Postulate. — Die Unsterblichkeitslehre als syste-
matische Zugabe und historische Hauptsache. — Das zweite System:
der „Philebos". — Die Lebensauffassung des Greises: das Leben
als Spiel.
Neunte Vorlesung: Die Stoa I 183
Die dogmatische Erstarrung des Sokratismus. — Äußere Ge-
schichte. — Vorläufige Übersicht des Systems. — Der „Weise":
das imaginäre Ideal und der wertlose Fortschritt. — Das Freiheits-
bewußtsein. — Die Ergebung in das Schicksal. — Die Auffassung
der Erlebnisse „sub specie aeterni". — Die Affektenlehre.
Zehnte Vorlesung: Die Stoa II 211
Die Antinomie der Moralität: innere Freiheit und Sittengesetz.
— Der Immoralismus des Ariston von Chios. — Der doppelte Wert-
begriff: Ethik und Biologie. — Kritik dieser Lehre. — Die Welt
als Stoff der Lebenskunst. — Das Leben als Spiel. — Spezielle
Moral. — Der Selbstmord. — Abschließende Würdigung: zuläng-
liche Beschreibung der passiven Seite des Erlösungsprozesses;
unzulängliche Darstellung seiner aktiven Seite: Verfälschung des
Idealbegriffes; persönliche, überpersönliche und unpersönliche
Werte.
Elfte Vorlesung: Epikur und die Skepsis 236
Das Erlöschen der sokratischen Kraft. — Epikureismus und
Kyrenaismus: äußere und innere Abhängigkeit des ersteren. —
Die Gründe für eine selbständige Darstellung: Schule und System. —
Gomperz, Lebensauffassung 21
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Epikurs Persönlichkeit: der proletarische Schullehrer, der blasierte
Grandseigneur, der Prophet. — Empfindsamkeit, Schwulst und
Selbstironie. — Der Grundzug seines Wesens: heroische Eitelkeit. —
Ableitung jener Eigentümlichkeiten aus dieser Wurzel. — Die Lehre:
das Ideal der inneren Freiheit und das Selbstbewußtsein des Epi-
kur. — Seine Schwermut und Hedonik. — Der Vertrag mit den
Göttern und das Pathos der Aufklärung. — Todesfurcht und Todes-
verachtung. — Der Sieg der Selbstgefälligkeit über den Schmerz. —
Die Rechtfertigung durch die Pose. — Die Skepsis. — Die Peri-
petie des Intellektualismus. — Unwissenheit und innere Freiheit. —
Leben und Charakter des Pyrrhon.
Zwölfte Vorlesung: Verfall und Ausgang der philosophi-
schen Ethik der Griechen 267
Der Sokratismus und seine Gegner. — Rückfälle in die Ethik
des Maßes. — Xenophon. — Die alte Akademie. — Aristoteles: das
Ideal und die Erfahrung, beschreibende und vorschreibende Ethik,
die Theorie des vernünftigen Mittelmaßes und ihr Formalismus,
die Verleugnung des Sokratismus, der Anlauf zu einer kontem-
plativen Freiheitslehre und die Entgleisung des Stagiriten, die Be-
schreibung Gottes und die Vorschriften für den Menschen. —
Peripatos und Eklektizismus. — Demokratisierung, Superstition
und Tycholatrie: der Neupythagoreismus und Plutarch. — Philon:
Mystik und Fremderlösung. — Die Renaissance des Sokratismus:
Stoa und Kynismus. — Der Neuplatonismus: äußere Geschichte;
der endgültige Sieg der Heiligkeitsethik; Askese und Superstition,
Fremderlösung und Theurgie. — Plotin. — Allgemeine Charakte-
ristik. — Weltanschauung und Lebensauffassung. — Vorläufige
Übersicht des Systems. — Das Glück ein objektiver Zustand:
Plotin, Herbart und Avenarius. — Die reine Theorie. — Ihre Be-
dingungen: Askese und Schönheitskult. — Ihre Vollendung: die
mystische Intuition. — Das Freiheitsbewußtsein. — Das Leben als
Spiel. — Der universalistische Optimismus. — Ausklang.
Anhang: Einige Beiträge zum Verständnis der Mystiker .. .. 302
Die mystische Tradition: Vedanta, Plotin, Eckhardt, Angelus Sile-
sius, Fichte. — Die drei Grunderfahrungen der Mystiker: das er-
kenntnistheoretische, das ethische und das religiöse Urphänomen. —
Die Interpretation des ersteren unter dem Einflüsse der beiden
letzten. — Dogmatische Folgerungen: das Welt-Ich als eigenschafts-
loses Absolutes; Selbstentäußerung die Bedingung seiner Erkennt-
nis; diese Erkenntnis übervernünftig; die mystische Identitäts-
erfahrung; die Erlösung Gottes durch den Mystiker.
DRUCK
VON
BREITKOPF & HÄRTEL
IN
LEIPZIG