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Full text of "Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit; zwölf gemeinverständliche Vorlesungen, mit Anhang zum Verständnis der Mystiker"

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https://archive.org/details/dielebensauffasOOgomp 


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eiibai|Liov{a^  elvai  boK€i,  Mövov  eubcuiaova, 
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dpecTKOi  tCuv  <piXo<x6(piuv,  2<pr),  TTävres 
|u£v  0au^a(TTOi,  I^Oj  b£  IiuKpomiv  ixkv 
o£$w,  öaujuäEuj  bk  Aio^evriv,  Kai  cpiXu) 
'ApiatiTTTTOV.  Lukian. 


Philos.H 
Gfe338ky 

HEINRICH  GOMPERZ 

DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER 
GRIECHISCHEN  PHILOSOPHEN 
UND  DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


ZWÖLF  GEMEINVERSTÄNDLICHE 
VORLESUNGEN  /  MIT  ANHANG 
ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER 


VERLEGT  BEI  EUGEN  DIEDERICHS 
JENA  UND  LEIPZIG  1904 


DEM  ANDENKEN 
MEINES  FREUNDES 
ROMUALD  DINGLER 
ZUGEEIGNET 


Ouk  Icttiv  dvbpi  äYaGLuKOtKÖv  oub£v  ouie  Eujvti  oute  reXeuTrjcravTi 
Oube  djueXeixai  vjttö  6ewv  t&  toutou  TrpdtXM-otTct. 
TTaibias  \äp\v. 


VORREDE 


Die  folgenden  Vorlesungen  sind  vor  drei  Jahren  zum  aka- 
demischen Gebrauche  an  der  Universität  Bern  entstanden. 
In  den  letzten  Monaten  hat  sich  mir  die  Gelegenheit  geboten,  in 
wenigen  und  zerstreuten,  anderen  und  größeren  Arbeiten  abge- 
sparten Stunden  ihnen  eine  Gestalt  zu  geben,  welche  die  Ver- 
öffentlichung vielleicht  ertragen  kann.  Daß  diese  Arbeitsweise 
an  dem  Produkt  notwendig  nachteilige  Spuren  zurücklassen 
muß,  konnte  ich  nicht  verkennen.  Dennoch  habe  ich  diese 
Gelegenheit  ergriffen.  Denn  ich  kann  nicht  hoffen,  diesem 
Parergon  in  naher  Zeit  eine  einläßlichere  Beschäftigung  wid- 
men zu  können;  und  würde  doch  ungern  darauf  verzichten,  eine 
Arbeit  der  Öffentlichkeit  vorzulegen,  die  immerhin,  vielleicht 
mehr  noch  als  den  Fachgenossen,  einem  weiteren  Kreise  einige 
Anregung  zu  gewähren  imstande  sein  mag.  Gern  möchte  ich 
glauben  dürfen,  diese  Anregung  werde  stark  genug  sein,  den 
Leser  über  die  Mängel  der  Ausführung  hinwegsehen  zu  lassen, 
und  ihn  zu  vermögen,  in  der  Aufnahme  dieser  Arbeit  mehr  an 
die  Größe  des  Dargestellten  als  an  die  Unzulänglichkeit  der 
Darstellung  sich  zu  halten. 

Ober  die  Absicht  des  Buches  orientiert  der  Anfang  der  ersten 
Vorlesung.  Für  die  prosaischen  und  metrischen  Übersetzungen 
muß  ich  durchweg  selbst  die  Verantwortung  auf  mich  nehmen. 
Wenn  insbesondere  die  letzteren  manchmal  über  das  streng 
Notwendige  hinausgehen,  besonders  wo  Aischylos  in  Frage 
kommt,  so  wird  sich  der  Leser  hoffentlich  nicht  beklagen;  und 
auch  mir  schien  wünschenswert,  ihn  am  Geiste  der  Antike  so 
weit  teilnehmen  zu  lassen,  als  möglich  war  ohne  die  Einheit  des 
Ganzen  zu  durchbrechen.  Ganz  selbständig  war  ursprünglich 


VI 


VORREDE 


der  Anhang  gedacht.  Ich  habe  ihn  diesem  Buche  beigegeben,  [ 
nicht  nur  wegen  der  sachlichen  Anknüpfungspunkte,  die  sich 
in  der  letzten  Vorlesung  darboten,  sondern  mehr  noch,  weil  ich 
annahm,  so  ziemlich  derselbe  Kreis  von  Lesern  dürfte  ihm 
Aufnahms-Fähigkeit  und  Freudigkeit  entgegenbringen. 

Und  so  mag  denn  das  Büchlein  hinausgehen.  Auf  manchen 
Einspruch  des  Verstandes,  und  auch  auf  allerhand  Widerstreben 
des  Gemütes  ist  es  gefaßt.  Die  Anerkennung  aber  möchte  es 
gern  auch  dem  Gegner  abgewinnen:  daß  es  aus  der  Liebe  zu 
seinem  Gegenstande  erzeugt  worden  ist.  j 

Wien,  im  April  1904  H.  Gomperz 

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DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


ERSTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 

IE  Lebensauffassung  der  griechischen  Philo- 
sophen und  das  Ideal  der  inneren  Freiheit" 
—  indem  ich  für  unsre  Vorlesungen  diesen 
langen  Titel  gewählt  habe,  habe  ich  Sie  wohl 
wenigstens  darauf  schon  vorbereitet,  was  Sie 
von  ihnen  nicht  erwarten  dürfen:  nämlich 
keine  dogmatische  Darlegung  eines  ethischen 
Systems,  aber  auch  keine  Geschichte  der  griechischen  Philo- 
sophie, oder  auch  nur  Moralphilosophie.  Was  ich  Ihnen  ver- 
mitteln möchte,  ist  vielmehr  ein  Doppeltes. 

Denjenigen  unter  Ihnen  zunächst,  die  mit  der  Geschichte  der 
griechischen  Philosophie  schon  einigermaßen  vertraut  sind,einen 
sachlichen  Gesichtspunkt  zum  Verständnis  dieser  historischen 
Erscheinung.  Nun  weiß  ich  wohl:  nicht  nur  sind  Gesichts- 
punkte an  sich  nicht  unbedenklich,  weil  sich  für  einen  jeden 
das  Gesehene  verkürzt  und  verschiebt;  sondern  die  ausdauernde 
Betrachtung  von  einem  Gesichtspunkt  aus  scheint  am  bedenk- 
lichsten, weil  hier  die  gegenseitige  Berichtigung  fehlt,  die  sonst 
wohl  aus  dem  Wechsel  der  Gesichtspunkte  sich  ergibt.  Allein 
wenn  jenem  gegenüber  an  das  Selbstverständliche  zu  erinnern 
ist,  daß  Gesichtspunkte  doch  auch  notwendig  sind,  weil  ohne  sie 
überhaupt  nichts  gesehen  werden  kann;  so  nun  gegen  das  zweite, 
daß  ja  auch  alle  jene  Berichtigungen  nur  Wert  haben,  sofern  sie 
schließlich  zu  einem  einheitlichen  Überblick  von  einem  Zentral- 
gesichtspunkt aus  hinführen,  die  vielen  Teilansichten  zu  einer 
Gesamtansicht  vereinigen.  Auch  in  einer  solchen  werden  frei- 

Gomperz,  Lebensauffassung  | 


2 


ERSTE  VORLESUNG 


lieh  nicht  alle  Züge  hervortreten:  manches  wird  sich  dem  Blicke 
aufdrängen,  andres  fast  verschwinden.  Davon  aber,  ob  dieses 
das  Nebensächliche,  jenes  das  Hauptsächliche  ist  oder  umge- 
kehrt, wird  der  Wert  des  gewählten  Ansichtspunktes  abhängen. 
Darauf  allein  also  wird  es  schließlich  ankommen,  ob  jener  eine 
Gesichtspunkt  dem  betrachteten  Gegenstande  angemessen  ist. 
Dies  alles  nun  findet  auf  unsern  Fall  seine  Anwendung.  Der 
Gegenstand,  um  dessen  Betrachtung  es  sich  uns  handelt,  ist  die 
Lebensauffassung  der  griechischen  Philosophen;  der  Gesichts- 
punkt, den  wir  für  diese  Betrachtung  wählen,  ist  dasjenige,  was 
ich  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  nenne,  und  bald  näher  be- 
stimmen werde.  Auch  von  ihm  aus  werden  sich  die  einzelnen 
Teile  jenes  Gegenstandes  keineswegs  mit  gleicher  Deutlichkeit 
darstellen:  vieles,  das  sonst  als  minder  wichtig  gilt,  wird  unsere 
Aufmerksamkeit  besonders  auf  sich  ziehen;  manches,  worauf 
sonst  vor  allem  hingewiesen  zu  werden  pflegt,  wird  uns  nur  in 
äußerster  Verkürzung  erscheinen.  Die  Lebensauffassung  des 
Aristoteles  z.  B.,  die  Viele  als  den  krönenden  Abschluß  der 
griechischen  Ethik  ansehen,  wird  uns  als  ein  Verfallssymptom 
nur  kurz  und  anhangsweise  beschäftigen;  jene  der  Stoiker  da- 
gegen, die  meist  als  eine  Phase  der  Entartung  betrachtet  wird, 
wird  sich  uns  als  der  breite  Gipfel  dieser  ganzen  Entwicklungs- 
linie darstellen.  Mit  alledem  ist  es  aber  nicht  etwa  darauf  ab- 
gesehen, auf  Grund  persönlicher  Zu-  und  Abneigungen  des 
Redners  dieherkömmlicheBeurteilung  der  Alten  zu  verschieben. 
Im  Gegenteil,  gerade  das  soll  unsere  Aufgabe  sein:  anzukämpfen 
gegen  die  Heranbringung  moderner  Maßstäbe  an  die  Antike,  und 
dafür  einzutreten,  daß  sie  aus  sich  selbst  erklärt  und  verstanden 
werde.  Rundet  und  schließt  sich  aber  so  das  Bild  dieser  sonst 
weit  weniger  zusammenhängenden  Entwicklung;  erscheint  im 
Neben-  undNacheinander  scheinbar  auseinanderlaufender  Rich- 
tungen ein  einheitlicher  Grundgedanke;  zeigt  sich  als  strenge 
Folgerichtigkeit,  was  sonst  wohl  als  inkonsequente  Halbheit 
gelten  mußte,  und  wiederum  als  ernstliche  Haupttendenz,  was 
sonst  nur  als  paradoxe  Übertreibung  beurteilt  werden  konnte  — 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  3 


dann  wird  eben  hierin  ein  genügender  Beweis  liegen  für  die 
Angemessenheit  des  gewählten  Gesichtspunktes  und  eine  hin- 
reichende innere  Rechtfertigung  unseres  ganzen  Unternehmens. 

Eben  deshalb  aber,  weil  ich  daran  glaube,  daß  unser  Unter- 
nehmen in  dieser  Weise  gerechtfertigt  ist,  glaube  ich  auch,  noch 
ein  Anderes  Ihnen  vermitteln  zu  können,  das  jenes  erste  vor- 
aussetzt; und  zwar  vor  allem  jenen  unter  Ihnen,  die  dem  Gegen- 
stande noch  fremd,  alsNeulinge  gegenüberstehen.  Dieses  Andere 
ist  das  persönlich-menschliche  Verständnis  jener  alten  Denker, 
wie  es  sich  Ihnen  nur  ergeben  kann,  wenn  sie  selbst  soviel  als 
möglich,  und  ich  selbst  sowenig  als  möglich  zu  Ihnen  spreche. 
Indem  ich  mich  nämlich  bemühen  will,  auszugehen,  nicht  von 
jenen  Punkten  ihres  Denkens  und  Fühlens,  die  uns  heutigen  die 
bedeutendsten  scheinen,  sondern  vielmehr  von  jenen,  die  diesen 
Rang  für  sie  selbst  eingenommen  haben,  werden  wir  es  nicht 
so  sehr  mit  einer  logischen  Ableitung  von  Lehren  als  vielmehr 
mit  einer  psychologischen  Entwicklung  von  Gedanken  zu  tun 
haben.  Nur  demjenigen,  der  stets  unsere  Werturteile  im  Ohr 
hat,  klingt  ihre  Sprache  fremd.  Ich  aber  will  gerade  danach 
trachten,  Sie  von  Anfang  an  in  die  antike  Betrachtungsweise 
einzuführen.  Denn,  ist  Ihnen  erst  einmal  deren  gemeinsamer 
Grundgedanke  vertraut,  dann  brauche  ich  nur  mehr  kurz  und 
scharf  die  geistige  Anlage  zu  skizzieren,  die  jeder  einzelne  jener 
Männer  ihm  entgegenbrachte,  und  alsbald  werden  Sie  verstehen, 
wie  er  in  ihm  gerade  diese  und  keine  andere  Gestalt  annehmen, 
gerade  diese  und  keine  andere  Ausprägung  erfahren  mußte. 
Und  alles  weitere  kann  ich  dann,  teils  mit  den  Worten,  teils  im 
engsten  Anschluß  an  die  Worte  jener  Denker  selbst  entwickeln. 
So  hoffe  ich,  gerade  von  dem  gewählten  Standpunkt  aus  werde 
Ihnen  die  betrachtete  Erscheinung  nicht  nur  in  ihrer  charakte- 
ristischen Gestalt  sich  darstellen,  sondern  auch  in  hinreichender 
Nähe:  mit  der  Nähe  aber  ist  auch  in  diesem  Falle  die  Größe 
untrennbar  verbunden.  Denn,  mögen  wir  nun  über  jenen  Grund- 
gedanken und  seine  weiteren  Folgen  wie  immer  denken,  eines 
darf  ich  wohl  mit  unbedingter  Zuversicht  aussprechen:  nie  und 

l* 


4 


ERSTE  VORLESUNG 


nirgends  hat  es  wieder  eine  solche  Schar  von  Menschen  ge- 
geben, die  zugleich  alle  so  großartige  Charaktere,  so  eigenartig- 
verschiedene Persönlichkeiten,  und  in  ihrem  Denken  und  Leben 
so  einheitlich  ausgebildete  Naturen  gewesen  wären,  als  im  Hellas 
des  vierten  vorchristlichen  Jahrhunderts.  Denn  mögen  wir 
dieseEinheitlichkeitder  Natur  bei  seltenenEinzelnen  aller  Zeiten, 
etwa  bei  Spinoza  oder  Fichte,  wiederfinden;  mögen  wir  einer 
ähnlichenMannigfaltigkeit  etwa  beiden  Vertretern  unsererklassi- 
schen  deutschen  Philosophie  gewahr  werden;  mögen  wir  eine 
gleiche  Großartigkeit  bei  den  Heroen  der  indischen  und  christ- 
lichen Religionen  bewundern:  einzig  und  unerreicht  stehen  doch 
jene  griechischen  Weisen  da,  was  das  Zusammentreffen  dieser 
drei  Stücke  angeht.  Und  wenn  es  mir  deshalb  gelingen  sollte, 
Sie  zum  wirklichen,  innerlichen  Verständnis  dieser  Männer  hin- 
zuführen, dann  müßte  dies  notwendig  für  Sie  nicht  nur  eine 
höchst  lehrreiche  Anregung  Ihres  Verstandes,  sondern  auch  eine 
innerliche  Bereicherung  Ihres  Gemütes  bedeuten! 

Doch  statt  mich  weiter  in  allgemeinen  Versprechungen  zu 
ergehen,  will  ich  lieber  ihre  Erfüllung  vorbereiten.  Und  dazu 
scheint  mir  am  dienlichsten,  daß  wir  jenen,  nun  schon  so  oft 
erwähnten  Grundgedanken  der  Alten  zunächst  einmal  ganz  los- 
gelöst von  dieser  seiner  geschichtlichen  Beziehung  ins  Auge 
fassen.  Denn  erst,  wenn  er  Ihnen  einmal  als  ein  solcher  ent- 
gegengetreten ist,  den  auch  wir  neueren  fassen  und  verfolgen 
können,  werden  Sie  sich  in  den  Geist  jener  seiner  großen  Ver- 
treterverständnisvoll hineinversetzen  können.  Diese  also  lassen 
wir  einstweilen  ganz  aus  dem  Spiele  und  beschäftigen  uns  statt 
dessen  mit  dem,  was  ich  (obwohl  der  Ausdruck  von  Herbart 
schon  in  etwas  anderem  Sinne  verwandt  worden  ist)  das  Ideal 
der  inneren  Freiheit  nennen  möchte.  Den  Sinn  dieses  Aus- 
druckes aber  gilt  es  jetzt  klar  zu  machen. 

Frei  nennen  wir  im  allgemeinen  denjenigen,  der  unabhängig 
ist  von  einem  anderen;  frei  schlechthin  also  müßte  heißen, 
wer  unabhängig  wäre  von  allem  anderen,  oder  von  allem  außer 
ihm;  und  innerlich  frei,  wer  diese  uneingeschränkte  Unab- 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  5 


hängigkeit  besäße,  nicht  durch  eine  äußere  Macht  über  alles  (dann 
wäre  er  Gott),  sondern  durch  innere  Erhabenheit  darüber.  Also 
die  innere  Freiheit  bedeutet  eine  Macht,  nicht  das  äußere  Schick- 
sal zu  bestimmen  in  beliebiger  Weise,  sondern  das  innere  Schick- 
sal zu  bestimmen,  unabhängig  von  jedem  beliebigen  äußeren. 

Ehe  ich  dies  auch  nur  mit  einem  Worte  weiter  erkläre,  schalte 
ich  die  folgende  Bemerkung  ein.  Schon  aus  dem  Bisherigen 
sehen  Sie,  daß  es  eine  vollkommene  innere  Freiheit  nicht  gibt. 
Kein  Mensch  ist  so  durchaus  erhaben  über  alles  äußere,  daß  sein 
Inneres  nicht  irgendwie  davon  abhängig  wäre:  soviel  können  wir 
sagen,  auch  ohne  noch  die  Begriffe  des  Äußeren  und  Inneren 
näher  bestimmt  und  erklärt  zu  haben.  Allein  damit  haben  wir 
nichts  anderes  gesagt,  als  daß  die  innere  Freiheit  ein  Ideal  ist. 
Denn  nicht  wirklich  erreichbar  zu  sein,  sondern  nur  in  stetiger 
Annäherung,  das  gehört  zu  dem  Begriffe  des  Ideals1.  Soviel 
gleich  hier  und  ein  für  allemal,  um  von  dem  Begriffe  der  inne- 
ren Freiheit  den  Verdacht  des  Übertriebenen,  Schwärmerischen 
und  Maßlosen  abzuwehren.  Wie  schwer  es  sich  aber  rächt,  wenn 
dies  vergessen  wird,  wie  es  auch  im  Altertum  oft  genug  ver- 
gessen wurde,  dies  wird  sich  uns  späterhin  noch  vielfach  ergeben. 
Doch  wir  kehren  zurück  zu  der  Entwicklung  unseres  Begriffes. 

Das  innere  Schicksal  des  innerlich  freien  Menschen,  sagten 
wir,  müsse  unabhängig  sein  von  seinem  äußeren  Schicksal.  Da 
fragt  sich  zunächst,  was  wir  unter  diesem  inneren  Schicksal 
meinen  und  verstehen  sollen?  Freilich,  ein  kurzes  Wort  scheint 
sich  uns  wie  von  selbst  darzubieten,  dasselbe,  das  auch  die  Alten 
in  diesem  Zusammenhange  gebraucht  haben:  das  Glück  näm- 
lich, sagten  sie,  des  Mannes,  sein  Wohl,  sei  unabhängig  von 
seinem  Schicksal;  kein  Erlebnis  dürfe  für  ihn  ein  Unglück, 
ein  Übel  bedeuten.  Gegen  diese  Ausdrücke  werden  wir  nicht 
das  mindeste  einwenden,  und  nur  darauf  dringen  müssen,  daß 
ihr  Sinn  genau  bestimmt  und  ihre  Bedeutung  nicht  einseitig  ver- 
rückt werde. 

!)  Vgl.  des  Verfassers  Vortrag  „Über  den  Begriff  des  sittlichen  Ideals." 
Bern  1902. 


6 


ERSTE  VORLESUNG 


Eine  in  älterer  und  neuerer  Zeit  weit  verbreitete  Meinung 
geht  nämlich  dahin,  daß  das,  was  wir  Glück  nennen,  in  einer  be- 
sonders engen  Beziehung  stehe  zu  dem,  was  wir  als  angenehm 
und  unangenehm,  als  Freude  und  Leid,  als  Lust  und  Un- 
lust bezeichnen.  Insbesondere  stellt  man  sich  vor,  Glück  sei 
gleichbedeutend  mit  dem  Oberwiegen  der  Lust. über  das 
Leid,  Unglück  mit  dem  Oberwiegen  des  Leides  über  die  Lust: 
diese  beiden  Zustände  verhielten  sich  wie  positive  und  negative 
Größen,  und  ihre  Differenzen  seien  es,  die  wir,  je  nachdem 
sie  positiver  oder  negativer  Natur  seien,  als  Glück  oder  Unglück 
auszusprechen  pflegten. 

Daraus  folgt  dann  für  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  entweder 
die  Forderung,  der  Lustüberschuß  müsse  ohne  Rücksicht  auf 
das  äußere  Schicksal  aufrecht  erhalten  werden,  oder  aber  die 
Behauptung,  da  diese  Forderung  offenbar  unerfüllbar  sei,  so  sei 
auch  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  ein  utopisches.  Jene  Forde- 
rung charakterisiert  im  allgemeinen  den  antiken,  diese  Behaup- 
tung den  modernen  Hedonismus,  wenn  wir  mit  diesem  Namen 
dieLehre  von  derLustnatur  des  Glückes  bezeichnen  wollen.  Und 
in  der  Tat  wäre  eine  dieser  Folgerungen  unausweichlich,  wenn 
die  hedonistische  Grundvoraussetzung  als  richtig  zugegeben 
werden  könnte.  Aber  eben  dieses  ist  mit  nichten  der  Fall. 

Zunächst  erscheint  schon  die  Auffassung  der  Lust-  und  Leid- 
zustände alsGrößen,  und  insbesondere  alsGrößenvon  entgegen- 
gesetztem Vorzeichen,  überaus  problematisch.  Denn  nicht  nur 
sind  diese  Zustände  von  so  verschiedener  Art,  daß  sie  sich  als 
unvergleichbar  darstellen,  sondern  es  führen  auch  die  verschie- 
denen Maßstäbe,  an  denen  man  ihre  Stärke  zu  messen  versuchen 
kann,  in  ein  und  demselben  Fall  zu  ganz  verschiedenen  Ergeb- 
nissen. Dies  erfährt  insbesondere  derjenige,  der  körperlich  und 
geistig  bedingte  Lust-  und  Leidzustände  miteinander  vergleicht: 
was  hier  vor  allem  in  die  Augen  springt,  ist  die  qualitative 
Verschiedenheit,  als  „größer",  d.h.  „stärker*  aber  stellt  sich  oft 
der  unmittelbaren  Empfindung  gerade  jener  Zustand  dar, 
der  auf  den  W  i  1 1  e  n  die  geringere  Einwirkung  äußert.  Doch  auch 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


7 


hiervon  abgesehen,  will  sich  der  Glücksbegriff  dem  hedonischen 
Schema  nicht  fügen.  Schon  daß  wir  keineswegs,  wie  dieses 
Schema  es  verlangen  würde,  einen  Menschen  stets  entweder 
glücklich  oder  unglücklich  nennen,  wenn  nicht  gerade  der  über- 
aus seltene  Fall  des  vollkommenen  hedonischen  Gleichgewich- 
tes vorliegt,  vielmehr  in  den  allermeisten  Fällen  beide  Bezeich- 
nungen als  gleich  unangebracht  empfinden,  fällt  hier  schwer  ins 
Gewicht.  Aber  auch  intensive  momentane  Schmerzen  sind  mit 
dem  Begriffe  des  Glücks  ebensowenig  unverträglich,  wie  recht 
erhebliche  Lustzustände  mit  dem  des  Unglücks.  Dies  alles  legt 
den  Gedanken  nahe,  daß  die  Begriffe  Glück  und  Unglück  nicht 
in  dem  hedonischen  Gedankenkreis,  sondern  nur  auf  einem  an- 
deren Wege  ihre  Klärung  finden  können.  Auf  einen  solchen 
scheint  aber  die  Erfahrung  selbst  uns  hinzuweisen. 

Denn  noch  eine  Reihe  von  Eigenschaften,  die  dem  Lustüber- 
schuß zukommen,  fehlen  dem  Glück.  Dieses  kann  mehr  oder 
weniger  rein,  mehr  oder  weniger  dauerhaft,  aber  nicht  eigentlich 
mehr  oder  weniger  groß  sein:  ein  Mensch  kann  ein  wenig  mehr 
Lust  als  Leid  empfinden,  aber  er  kann  nicht  ein  wenig  glücklich 
sein.  DieseselbeSteigerungsunfähigkeitzeichnet  aberauch  einen 
anderen  Begriff  aus,  den  schon  die  Volksweisheit  dem  Glücke 
nahestellt:  „Das  wahre  Glück  ist  die  Zufriedenheit".  Eine 
kurze  Betrachtung  wird  diese  Gleichsetzung  bestätigen  und  zu- 
gleich genauer  bestimmen. 

Unzufrieden  bin  ich  mit  dem,  wovon  ich  wünsche,  daß  es 
anders  wäre,  als  es  ist.  Zufrieden  also  mit  dem,  wovon  ich 
dies  nicht  wünsche,  wobei  ich  mich  beruhige.  Dieses  Anders- 
wünschen und  Nichtanderswünschen  gehört  zu  den  Äußerungen 
des  Begehrungs-,  nicht  zu  denen  des  Gefühlsvermögens. 
Es  ist  zwar  durch  die  Annehmlichkeit  oder  Unannehmlichkeit 
seines  Gegenstandes  mitbedingt,  aber  doch  eben  nur  mit- 
bedingt. Auch  das  Leid  kann  ich  gelassen  tragen,  mich  bei  ihm 
beruhigen,  es  nicht-anders-wünschen.  Wo  dies  nicht  der  Fall 
ist,  ist  doch  das  innerliche  Widerstreben  gegen  den  Schmerz 
verschieden  von  der  Schmerzhaftigkeit  der  Empfindung  als  sol- 


8 


ERSTE  VORLESUNG 


eher,  wie  es  auch  umgekehrt  ohne  Schmerz  ein  lebhaftes  Wider- 
streben gibt.  Dieses  Anderswünschen  nun  wollen  wir  als 
Wunschverneinung,  dasNichtanderswünschen  als  Wunsch- 
bejahung bezeichnen.  Und  den  Gegenstand  einer  solchen 
Wunschverneinung  werden  wir  ein  Übel,  den  einer  Wunsch- 
bejahung ein  Gut  nennen  dürfen. 

Damit  sind  nun  wohl  die  Begriffe  Zufriedenheit  und  Unzu- 
friedenheit geklärt,  noch  nicht  aber  die  des  Glücks  und  Un- 
glücks. Denn  ich  kann  gleichzeitig  zufrieden  sein  mit  einer 
Sache,  und  unzufrieden  mit  einer  anderen,  nimmermehr  aber 
glücklich  und  unglücklich  zugleich.  Diese  Ausdrücke  beziehen 
sich  also  nicht  auf  meine  Stellung  zu  Einzelerlebnissen  und 
Einzeldingen,  d.  i.  auf  Teilzustände  meines  Bewußtseins, 
sondern  auf  meinen  Gesamtzustand,  d.  i.  auf  meine  Stellung 
zu  Leben  und  Welt  als  Ganzen.  Wird  nämlich  von  einem 
Menschen  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  die  Welt  als  Ganzes 
gefaßt  und  überdies  als  Gut,  d.h.  als  Gegenstand  einer  Wunsch- 
bejahung, so  ist  dieser  Mensch  in  diesem  Zeitpunkte  glücklich; 
unglücklich,  wenn  er  sie  gleichfalls  als  Ganzes  faßt,  jedoch  als 
Übel,  d.  h.  als  Gegenstand  einer  Wunschverneinung;  weder 
glücklich  noch  unglücklich  endlich,  wenn  er  sie  überhaupt  nicht 
als  Ganzes  faßt,  sondern  als  ein  Aggregat  von  Stücken,  von  denen 
er  einige  als  Güter,  andere  als  Übel  ansieht. 

Kehren  wir  nun  zu  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit  zurück! 
Es  sollte  das  Glück  des  Menschen  unabhängig  machen  von  seiner 
äußeren  Lage.  Dies  heißt,  wie  wir  jetzt  wissen:  es  enthält  die 
Forderung,  wir  sollten  in  allen  Lagen  die  Welt  als  Ganzes  zum 
Gegenstande  unserer  Wunschbejahung  machen,  mit  ihr  als  Gan- 
zem zufrieden  sein,  keinen  ihrer  Teile  als  ein  Übel  anerkennen. 
Das  Ideal  der  inneren  Freiheit  erweist  sich  daher  als  Äußerung 
eines  optimistischen  Universalismus.  Zugleich  treten  die- 
sem Standpunkte  zwei  andere  gegenüber:  der  eines  pessimi- 
stischen Universalismus,  welcher  die  Forderung  in  sich 
schließt,  die  Welt  als  Ganzes  zum  Gegenstande  einer  Wunsch- 
verneinung zu  machen,  keinen  ihrer  Teile  als  ein  Gut  anzuer- 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


9 


kennen;  undderdes  Partikularismus,  der  dieTotalauffassung 
der  Welt  grundsätzlich  verwirft,  und  dabei  verharrt,  sie  als  ein 
Konglomerat  von  Einzelgütern  und  Einzelübeln  zu  betrachten. 

Dieser  letztere  Standpunkt  ist  ohne  Zweifel  zu  allen  Zeiten 
der  herrschende  gewesen.  Doch  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß 
er  zugleich  als  der  primitive,  kindliche  sich  darstellt,  der  mit 
jeder  Entwicklung,  jedem  Fortschritt  wenigstens  teilweise  über- 
wunden wird.  Denn  die  Befangenheit  im  Hier  und  Jetzt,  der 
ausschließliche  Sinn  für  das  Einzelne  ist  offenbar  allen  tieferen 
Stufen  des  tierischen  und  menschlichen  Lebens  vorzugsweise 
eigen.  Mit  jedem  Wachstum,  jedem  Reifen,  jeder  Ausbildung 
erweitert  sich  der  Umkreis,  nicht  nur  der  Betrachtung,  sondern 
auch  der  Bewertung.  Das  Einzelne  verliert  seine  absolute  Be- 
deutung, es  wird  zum  bloßen  Gliede  eines  Ganzen;  Länder, 
Zeiten,  Prinzipien  werden  zu  den  hauptsächlichsten  Gegenstän- 
den der  Wertbeurteilung,  und  man  sieht  nicht,  worin  anders 
diese  Entwicklung  gipfeln  könnte  als  in  einer  universalistischen 
Stellungnahme  zur  Totalität  des  Lebens  und  der  Welt.  Der 
Übergang  zum  pessimistischen  Universalismus  einerseits,  zum 
optimistischen  andererseits  zieht  daher  vorzugsweise  unser 
Augenmerk  auf  sich. 

Dieser  Übergang  nun,  wenn  er  sich  zum  pessimistischen  Uni- 
versalismus hin  vollzieht,  kann  wohl  füglich  Verzweiflung 
heißen,  geschieht  er  dagegen  in  der  Richtung  des  optimistischen 
Universalismus,  so  werden  wir  ihn  Erlösung  nennen  dürfen. 
Ein  drittes  gibt  es  nicht.  Der  Partikularismus  ist  seiner  Natur 
nach  unfähig,  eine  Lebens-  oder  Weltanschauung  im  eigent- 
lichen Sinne  hervorzubringen;  denn  für  ihn  existieren  weder 
Leben  noch  Welt  als  Totalitäten.  Jede  Weltanschauung  also, 
im  strengen  Wortsinne,  ist  entweder  eine  solche  der  Verzweif- 
lung oder  eine  solche  der  Erlösung. 

Es  ist  jedoch  hierbei  zu  bemerken,  daß  der  Standpunkt  der 
Verzweiflung,  in  seiner  Reinheit,  zwar  logisch  möglich,  aber 
nicht  historisch  wirklich  ist.  Was  wir  vielmehr  in  der  Ge- 
schichte der  Religion  und  Philosophie  als  Pessimismus  kennen 


10 


ERSTE  VORLESUNG 


lernen, hateinen  ganz  anderen  Charakter.  Wir  finden  hier  überall 
die  Anschauung,  daß  die  Wunschverneinung  des  Lebens  der 
notwendige  und  folgerechte  Standpunkt  sei  —  für  jeden,  der  fort- 
fährt, zu  den  einzelnen  Lebensgütern  eine  bestimmte,  im  ge- 
wöhnlichenLeben  herkömmliche  Stellungeinzunehmen,  und  daß 
nur  durch  eine  radikale  Änderung  dieser  Stellung  die  Wunsch- 
bejahung des  Lebens  möglich  werde.  So  zeigt  Buddha,  daß  das 
„Haften"  am  irdischen,  die  durch  Begierden  geleitete,  auf  Ge- 
nuß gerichtete  Lebensführung  notwendig  zum  allgemeinen  und 
beständigen  „Leiden",  und  so  zur  Wunschverneinung  des  Lebens 
führe;  so  Schopenhauer,  daß  der  blinde  „Wille  zum  Leben" 
dieselbe  Folge  nach  sich  ziehe.  Aber  durch  die  „Aufhebung  des 
Haftens",  durch  die  „Verneinung  des  Willens  zum  Leben"  soll 
es  möglich  sein,  zur  „Aufhebung  des  Leidens"  und  so  zur 
Wunschbejahung  des  Lebens  zu  gelangen:  zum  Zustande  des 
„Erkennenden",  des  „Heiligen",  der  fürder  in  seiner  Allzufrie- 
denheit und  Allberuhigung  durch  keinen  äußeren  Schicksals- 
schlag mehr  gestört  werden  könne.  Hier  verwischen  sich  also 
gerade  die  Gegensätze,  die  am  schroffsten  erschienen;  denn 
natürlich  behauptet  auch  kein  Vertreter  des  Optimismus,  daß 
die  Erlösung  möglich  sei  ohne  eine  innere  Umgestaltung  und 
Umwandlung  des  Erlösten.  Und  so  ist,  was  wir  als  Pessimis- 
mus kennen,  im  Grunde  nicht  eine  Weltanschauung  der  Ver- 
zweiflung, sondern  selbst  eine  solche  der  Erlösung,  nur  daß 
in  dem  einen  Falle  mehr  auf  Gefahren,  Wege  und  Mittel,  in  dem 
anderen  mehr  auf  den  Zweck,  das  Ziel  und  den  Lohn  der  Ton 
gelegt  wird.  Eine  Verschiedenheit  der  Phase  und  des  Tempe- 
raments, kann  man  sagen,  ist  hier  alles.  Niemand  fühlt  das  Ver- 
langen nach  derErlösungzu  einem  neuenLeben,dernichtan  dem 
alten  verzweifelt  hätte,  und  niemand  wendet  von  diesem  alten 
Leben  sich  verzweifelnd  ab,  der  nicht  hoffte,  durch  diese  Ab- 
wendung zu  einem  neuen  Leben  erlöst  zu  werden.  Jede  Welt- 
anschauung also,  die  diesen  Namen  verdient,  ist  im  Grunde 
eine  solche  der  Erlösung,  und  jede  Erlösung  ist  eine  innere  Be- 
freiung, ein  Hinstreben  zu  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit. 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


11 


Doch  schon  zu  lange,  geehrte  Zuhörer,  habe  ich  Sie  dadurch 
in  Verwunderung,  und  vielleicht  die  meisten  von  Ihnen  auch  in 
Mißmut  versetzt,  daß  ich  in  unsere  philosophische  Erörterung 
den  eigentümlich  religiösen  Begriff  der  Erlösung  eingeführt 
habe,  ohne  dieses  Vorgehen  auch  nur  zu  rechtfertigen  oder  zu 
erklären.  Aber  nicht  von  ungefähr  habe  ich  dies  getan;  sondern 
ich  wollte  Sie  vorbereiten  auf  die  wichtige  Einsicht,  der  wir  jetzt 
nähertreten  müssen,  daß  das  Streben  nach  innerer  Freiheit,  daß 
mit  anderen  Worten  innere  Befreiung  der  innerste  Kern  und  die 
Summe  aller  Religion  ist,  in  so  verschiedenen  Formen  uns  diese 
auch  in  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  entgegentreten  mag. 
Diesem  Satz  will  ich  nunmehr  in  aller  Kürze  seinen  paradoxen 
Anschein  zu  entziehen  suchen. 

Dieser  Anschein  ist  am  stärksten  auf  der  niedersten  Stufe  der 
Religion.  Hier  beschränkt  sich  der  Kultus  darauf,  durch  Bitten 
und  Opfergaben,  wo  nicht  gar  durch  Beschwörungen  und  Droh- 
ungen von  den  Göttern  die  Zuwendung  von  Gütern  und  die  Ab- 
wendung von  Übeln  zu  erlangen.  Und  es  scheint  zunächst,  es 
könnte  nicht  deutlicher  die  partikularistische  „Weltanschauung", 
und  mit  ihr  die  innere  Unfreiheit  zutage  treten,  als  durch  dieses 
Bekenntnis  zu  dem  absoluten  Werte  und  Unwerte  äußerer  Schick- 
salswendungen. Dennoch  zeigt  schärferes  Zusehen  auch  eine 
andere  Seite  der  Sache.  Denn  was  ist  nun  die  objektive  Wirkung 
von  Opfern  und  Gebeten?  Daß  sie  Hagel  und  Krankheit  ab- 
wenden, Sieg  und  Langlebigkeit  verleihen,  glauben  wir  nicht 
mehr.  Aber  daß  sie  die  Zuversicht  und  den  Lebensmut  des 
Gläubigen  stärken,  daß  sie  ihn  schwierige  und  gefahrvolle  Lagen 
in  geringerer  Bangigkeit  und  erhobeneren  Hauptes  durchleben 
lassen,  und  also  „pro  tanto"  sein  inneres  Schicksal  von  seinem 
äußeren  Schicksale  emanzipieren,  müssen  wir  zugeben.  Ein 
schwacher  Ansatz  zu  innerer  Befreiung  also,  aber  doch  ein  Ansatz ! 

Auf  einer  zweiten  Stufe  der  Religion  wird  dieser  Keim  fort- 
gebildet. Der  Gläubige  hofft,  teils  durch  seine  den  Göttern  dar- 
gebrachten Leistungen,  teils  durch  seinen,  ihnen  wohlgefälligen 
Lebenswandel  sich  in  einem  künftigen  Leben  ein  Los  zu  sichern, 


12  ERSTE  VORLESUNG 

das  ihn  für  all  das  Ungemach  und  Leiden  in  diesem  Leben  ent- 
schädigen werde.  Daß  nun  diese  Hoffnung  in  Erfüllung  gehen 
werde,  glauben  die  meisten  von  uns  nicht  mehr.  Aber  daß  er 
durch  diese  Hoffnung  gewappnet  wird  gegen  die  Widerwärtig- 
keiten dieses  Lebens,  daß  sie  für  ihn  an  Bedeutung  einbüßen, 
ja  aufhören,  wahre  Übel  zu  sein,  daß  also  auf  diese  Weise  ihm 
die  Wunschbejahung  des  Universums  erleichtert,  und  er  selbst 
wiederum  in  höherem  Grade  innerlich  befreit  werde,  dies  kann 
keiner  von  uns  bestreiten. 

Auf  der  dritten  Stufe  der  Religion  endlich  verlieren  diese 
Hoffnungen  ihre  inhaltliche  Bestimmtheit.  Was  zurückbleibt, 
ist  lediglich  das  gläubige  Vertrauen  zu  einem  liebenden  und 
väterlichen  Wesen,  das  alles,  was  uns  betrifft,  irgendwie  zum 
Guten  lenke  —  sei's  auch  nur,  daß,  was  uns  hier  als  schlecht 
erscheint,  in  Wahrheit  einen  befriedigenden  Sinn  und  Wert  be- 
deutet; ein  Vertrauen,  das  sich  mitunter  steigert  bis  zu  dem  be- 
seeligenden  und  beruhigenden  Bewußtsein  der  („mystischen") 
^Einheit  mit  dem  letzten  Grunde  des  Seins.  Auch  derjenige  nun, 
der  dieses  gläubige  Vertrauen,  beziehungsweise  dieses  beruhi- 
gende Einheitsbewußtsein,  keineswegs  für  sachlich  gerechtfer- 
tigt hält,  kann  doch  nicht  leugnen,  daß  es  den  Gläubigen  mit 
ruhiger  Fassung,  stiller  Ergebenheit  und  freudiger  Zuversicht  j 
auch  das  Schwerste  ertragen  läßt,  daß  also  für  ihn  —  wenn  nur 
sein  Glaube  echt  und  fest  ist  —  die  Übel  gänzlich  aus  der  Welt 
verschwinden,  daß  also  sein  inneres  Schicksal  völlig  unabhängig 
von  dem  äußeren  sich  gestaltet,  daß  er  also  auf  diese  Weise  der 
inneren  Freiheit  zugeführt  wird. 

Und  nun  fragt  sich:  sollte  diese  innere  Befreiung  mit  pro- 
blematischen Annahmen  theoretischer  Natur  unauflöslich  ver- 
knüpft sein?  Sollte  der  Mensch  jene  Freiheit  vom  Schicksal, 
jene  Herrschaft  über  sein  eigenes  Leben,  die  er  gewinnen  kann 
unter  der  unerwiesenen  Voraussetzung,  daß  ihm  andere  Mächte 
zur  Seite  stehen,  nicht  auch  bewahren  können  ohne  unbewiesene 
Annahmen?  Sollte  er  jene  Gefühle  der  Sicherheit  und  Ruhe, 
der  Freudigkeit  und  Ergebenheit  nur  sich  aneignen  können  durch 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  13 


Vermittelung  anderer  Wesen,  aber  unfähig  sein,  sie  aus  sich 
selbst  zu  schöpfen?  Sollte  mit  anderen  Worten  die  Erlösung 
nur  möglich  sein  als  Fremderlösung,  und  nicht  auch  als 
Selbsterlösung?  Ist  eine  vierte  Stufe  der  obigen  Entwick- 
lungsreihe undenkbar  —  eine  Stufe,  die  man  nun  nach  Belieben 
religiös  oder  philosophisch  nennen  könnte,  denn  wir  streiten 
nicht  um  Worte  — ,  auf  der  die  innere  Freiheit  unmittelbar  und 
unvermittelt  als  selbständiges  Ideal  das  Leben  beherrschte? 

Offenbar  ist  gerade  heute  keine  Frage  wichtiger  als  diese. 
Sie  läßt  aber  eine  doppelte  Antwort  zu:  eine  deduktive  und 
eine  induktive.  Es  kann  gefragt  werden,  ob  und  wie  etwas 
derartiges  theoretisch  möglich,  und  es  kann  gefragt  werden, 
ob  es  empirisch  wirklich  sei?  Jene  Frage  ist  eine  biologi- 
sche, diese  eine  historische.  Wir  sprechen  von  dem  biologi- 
schen Problem  zuerst;  denn  das  historische  wird  diese  ein- 
leitende Vorlesung  passend  abschließen. 

Ob  und  wie  innere  Freiheit  ohne  dogmatische  Voraussetzungen 
möglich  sei  —  dies,  sagten  wir,  sei  das  biologische  Problem,, 
Die  Frage  nach  dem  Ob?  scheint  von  vornherein  die  bedenk- 
lichere. Denn  wenn  die  Biologie  den  Menschen  als  ein  Natur- 
wesen auffaßt,  dessen  Leben  und  Gedeihen  von  gewissen  äußeren 
Bedingungen  abhängt,  so  scheint  die  Behauptung  unhaltbar,  er 
sei  von  diesen  selben  Bedingungen  in  irgend  einem  Sinne  un- 
abhängig. Dennoch  kann  niemand  diese  Frage  verneinen,  der 
zugibt,  daß  innere  Freiheit  mit  dogmatischen  Voraussetzungen 
möglich  ist,  und  der  zugleich  diese  Voraussetzungen  für  falsch 
hält.  Denn  wenn  sie  falsch  sind,  dann  ist  die  Möglichkeit  ausge- 
schlossen, daß  die  Kraft  des  Gläubigen,  sich  gegen  jedes  Schick- 
ais im  Zustande  der  Wunschbejahung  zu  behaupten,  auch  nur 
teilweise  herrühre  von  der  Hilfe  übermenschlicher  Gewalten. 
Dann  aber  ist  diese  Kraft  lediglich  seine  eigene  Kraft.  Durch 
unrichtige  theoretische  Annahmen  kann  diese  aber  nicht  erhöht 
werden.  Kein  Irrtum  (und  keine  Wahrheit)  kann  in  einen  Orga- 
nismus eine  Kraft  hineinleiten,  die  nicht  ohnehin  schon  in  ihm 
läge;  er  kann  nur  eine  schon  vorhandene  auslösen  und  wirksam 


14 


ERSTE  VORLESUNG 


machen.  Die  Kraft  also,  die  der  Gläubige  der  feindlichen  Welt 
entgegensetzt,  durch  die  er  sich  innerlich  befreit  und  erlöst,  ist 
seine  eigene  Kraft:  biologisch  betrachtet,  ist  jede  Befreiung 
Selbstbefreiung,  jede  Erlösung  Selbsterlösung.  Selbsterlösung 
ist  also  möglich,  denn  es  gibt  im  Grunde  keine  andere.  Die 
Frage  kann  nur  sein,  wie  diese  Kraft  ohne  Auslösung  durch  dog- 
matische Annahmen  zur  wirksamen  Äußerung  gelangen  könne. 
Damit  stehen  wir  aber  schon  bei  der  Frage  nach  dem  Wie? 

Auch  der  Beantwortung  dieser  zweiten  Frage  aber  sind  wir 
schon  näher  gerückt,  indem  wir  den  Begriff  der  Kraft  eingeführt 
haben.  Freilich  ist  dieses  Wort  vieldeutig,  und  kann  insbeson- 
dere in  unserem  Zusammenhange  zu  mannigfachen  Mißver- 
ständnissen den  Anlaß  geben.  Dennoch  bin  ich  weder  in  der 
Lage,  es  zu  vermeiden,  noch  auch,  es  in  einer  wissenschaftlich 
befriedigenden  Weise  zu  definieren.  Denn  jene  „Kraft",  auf  die 
es  uns  hier  ankommt,  die  sich  in  der  Wunschbejahung  äußert, 
und  die  wir  vorläufig  die  geistige  nennen  können,  obwohl  auch 
sie  gewiß  nicht  der  körperlichen  Grundlage  entbehrt,  —  diese 
„Kraft",  sage  ich,  bezeichnet  eine  Tatsachengruppe,  die  (wie 
das  ganze  Gebiet,  zu  dem  sie  gehört)  von  der  Biologie  überhaupt 
noch  nicht  ernstlich  ins  Auge  gefaßt  werden  konnte,  und  zu  deren 
wissenschaftlicher  Beschreibung  die  Begriffe  dieser  Disziplin 
infolgedessen  auch  noch  lange  nicht  tauglich  sind.  Es  bleibt 
deshalb  nur  übrig,  diesen  Ausdruck  in  seiner  populären  Bedeu- 
tung zu  verwenden,  mit  dem  Bewußtsein,  daß  er  einer  künfti- 
gen biologischen  Präzisierung  ebenso  bedürftig  als  würdig  ist. 

Die  einfachste  Zelle  bedarf  eines  gewissen  Kraftminimums, 
um  sich  zu  ernähren  und  zu  verteidigen,  kurz  um  sich  zu  er- 
halten. Steigert  sich  jedoch  ihre  Kraft  über  dieses  Minimum 
hinaus,  tritt  also  über  jenes  Kraftminimum  hinaus  noch  ein 
Kraftüberschuß  auf,  dann  kommt  dies  nicht  mehr  ihrer  Er- 
haltung zugute,  sondern  sie  spaltet  sich:  es  entstehen  zwei  neue 
Individuen,  und  das  alte  Individuum  geht  zugrunde.  Dieser 
Tatbestand  bleibt,  mit  den  entsprechenden  Änderungen,  auf  allen 
Stufen  der  Entwicklung  derselbe.   Überall  entspricht  einem 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT 


15 


gewissen  Kraftminimum  ein  engster  Kreis  von  Bedürfnissen  und 
Interessen,  welche  auf  die  Selbsterhaltung  des  Individuums  ab- 
zielen; einem  darüber  hinausgehenden  Kraftüberschusse  ein 
weiterer  Kreis  von  Bedürfnissen  und  Interessen,  deren  Befrie- 
digung aber  vielfach  den  wirklichen  oder  doch  möglichen  Unter- 
gang des  Individuums  involviert.  So  auch  beim  Menschen.  Der 
engere  Interessenkreis  ist  jener,  den  wir  als  den  egoistischen 
oder  selbstischen  zu  bezeichnen  pflegen,  indem  wir  die  Aus- 
drücke Ich  und  Selbst  auf  ihn  vorzugsweise  anwenden,  weil  ein 
bestimmter  Zustand  der  eigenen  Person  dasjenige  ist,  was 
uns  als  Ergebnis  der  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  vor- 
schwebt: dieser  befriedigte  Zustand  kommt  uns  zum  Bewußt- 
sein als  die  Lust  des  Genusses;  die  auf  sie  gerichteten  Be- 
dürfnisse empfinden  wir  als  den  Drang  der  Begierde.  Den 
weiteren  Interessenkreis  bezeichnen  wir  als  den  der  Selbst- 
losigkeit oder  Selbstvergessenheit,  weil  dasjenige,  was 
uns  hier  als  Ergebnis  der  Befriedigung  vorschwebt,  nicht  mehr 
ein  Zustand  der  eigenen  Person  ist,  sondern  ein  objektives  Re- 
sultat: entweder  ein  Zustand  anderer  Lebewesen,  oder  das 
Entstehen  eines  unpersönlichen  Werkes.  In  jenem  Falle 
sprechen  wir  von  liebender  Hingebung,  in  diesem  von 
schöpferischer  Produktivität.  In  beiden  liegt  ein  Kraft- 
überschuß vor,  der  sich  auszuströmen  und  auszuwirken  strebt. 
In  beiden  aber  geschieht  diese  Ausströmung  und  Auswirkung 
vielfach  auf  Kosten  der  Selbsterhaltung:  die  Selbstlosigkeit  wird 
zur  Selbstüberwindung,  und  führt  häufig  genug  zur  Selbst- 
aufopferung. Auch  die  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  ist 
von  Lustzuständen  begleitet;  wir  werden  ihrer  Eigenart  am  ehe- 
sten gerecht  werden,  wenn  wir  sie  als  die  Freudigkeit  der 
Liebe  und  des  Schaffens  bezeichnen. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  leicht  das  Verhältnis  dieser  beiden 
Typen  zum  äußeren  Schicksal,  und  damit  zu  der  Forderung  der 
inneren  Freiheit.  Die  Interessen  des  engeren  Kreises  bedürfen 
zu  ihrerBefriedigung  bestimmter  äußerer  Ereignisse :  der  Hunger 
der  Nahrung,  die  Sinnlichkeit  der  Wollust,  die  Habsucht  des  Be- 


16 


ERSTE  VORLESUNG 


Sitzes,  der  Ehrgeiz  der  Anerkennung  usw.  Diese  Ereignisse 
hängen  vom  äußeren  Schicksal  ab.  Bleiben  sie  aus,  so  ist  die 
Wunschverneinung  von  selbst  gegeben.  Auf  diese  Weise  also 
wird  der  Mensch  vom  Schicksal  abhängig;  er  ist  innerlich  un- 
frei: der  geringeren  Kraftsumme  entspricht  das  Angewiesensein 
auf  günstige  äußere  Umstände.  Das  größere  Kraftquantum  des 
weiteren  Interessenkreises  ist  auf  solche  nicht  angewiesen.  Hier 
geschieht  ja  die  Tätigkeit  nicht  um  der  Erzielung  eines  bestimm- 
ten Effektes  willen,  sondern  sie  ist  Selbstzweck,  und  zieht  nur 
den  Effekt  gelegentlich  nach  sich.  Wird  die  eine  Tätigkeit,  der 
eine  Effekt  vom  Schicksal  vereitelt,  so  tut  eine  andere  und  ein 
anderer  denselben  Dienst  (denn  natürlich  verstehe  ich  hier  unter 
„Liebe"  nicht  die  noch  höchst  eingeschränkte  Teilnahme  an 
dem  Wohle  nahestehender  Individuen,  sondern  die  allgemeine 
Caritas).  Unbeschadet  des  Wechsels  der  Entladungsbahn  bleibt 
die  Kraftentladung  selbst  die  gleiche,  und  mit  ihr  die  Freudig- 
keit. Die  Möglichkeit  der  Wunschbejahung  also  ist  in  allen 
Fällen  gegeben.  So  wird  der  Mensch  vom  Schicksal  unab- 
hängig und  innerlich  frei. 

Er  befindet  sich  in  einer  ähnlichen  Lage  wie  das  spielende 
Kind.  Auch  ihm  kommt  es  lediglich  darauf  an,  in  spielender 
Tätigkeit  seinen  Kraftüberschuß  zu  verausgaben.  Kann  es  nicht 
Reif  spielen,  so  spielt  es  Ball.  Kann  es  den  Ball  nicht  nach  links 
werfen,  so  wirft  es  ihn  nach  rechts.  In  jedem  Fall  kann  es  zu- 
frieden sein,  freudig  und  glücklich.  Und  obendrein  heiter,  im 
Bewußtsein  dieser  seiner  Unabhängigkeit;  denn  jedes  Bewußt- 
sein eigener  Überlegenheit  wird  von  Heiterkeit  begleitet.  Käme 
es  aber  diesem  Kinde  darauf  an,  einen  bestimmten  Effekt  zu  er- 
zielen; wäre  für  ihn  nur  an  eine  bestimmte  Stellung  des  Reifes 
oder  Balles  eine  Lust  des  Genusses  geknüpft;  machte  es  diese 
Lust  zum  Ziel  seiner  Begierde;  wäre  m.  a.  W.  seine  Tätigkeit 
nicht  Spiel,  sondern  Ernst;  alsbald  würde  es  seine  Unabhän- 
gigkeit und  Freiheit,  und  mit  ihr  seine  Freudigkeit  und  Heiter- 
keit verlieren,  und  dem  Menschen  gleichen,  der  in  Sorge  und 
Angst  den  Gegenständen  seiner  Begierde  nachjagt.  Und  ebenso 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  17 


steht  es  mit  jedem,  der  im  richtigen  Geiste  einem  Spiele  folgt, 
und  auch  seine  „ungünstigen"  Wendungen  lächelnd  hinnimmt, 
weil  es  ihm  ja  nicht  darauf  ankommt,  zu  siegen,  sondern  zu 
spielen,  während  er  alsbald  in  Sorge  und  Unruhe  verfallen 
müßte,  sobald  er  Gewinn  und  Verlust  als  wahre  Güter  und 
Übel,  das  Spiel  selbst  als  Ernst  betrachten  wollte. 

Diese  Stellung  nun,  die  der  Spielende  zu  seinem  Spiel  ein- 
nimmt, brauchen  wir  nur  zu  übertragen  auf  die  Stellung  des 
Lebenden  zu  seinem  Leben,  um  die  Möglichkeit  einer  inneren 
Freiheit  ohne  dogmatische  Voraussetzungen  einzusehen.  Innere 
Freiheit,  werden  wir  dann  sagen,  ist  möglich,  wo  soviel  Kraft 
vorhanden  ist,  daß  sie  zu  ihrer  Betätigung  günstiger  äußerer 
Umstände  nicht  bedarf;  wo  das  Ziel  des  Lebens  nicht  gesetzt 
wird  in  das  passive  Erleben  jener  genußreichen  Zustände,  auf 
die  unsere  Begierden  sich  richten,  und  über  alles  in  die  Erhal- 
tung des  eigenen  Ich,  sondern  in  das  aktive  Ausströmen  der 
eigenen  Kraft  in  Hingebung  und  Produktivität,  auch  wenn  dar- 
über das  eigene  Ich  zugrunde  geht.  Denn  jenes  Ziel  ist  vom 
Schicksal  abhängig,  seine  Lust  unsicher,  mit  Unruhe,  Trauer 
und  Verzweiflung  durchsetzt;  dieses  ist  vom  Schicksal  unab- 
hängig, seine  Freudigkeit  samt  Ruhe,  Fassung  und  Heiterkeit 
unwandelbar.  Dort  ist  die  Wunschverneinung  unausweichlich, 
hier  die  Wunschbejahung  allezeit  möglich.  Darum  ist  jenes  das 
innerlich  unfreie,  dieses  das  innerlich  freie  Leben. 

Noch  eine  Bemerkung  scheint  am  Platze,  ehe  wir  weiter  gehen. 
Auch  das  Leben  seiner  Nebenmenschen  müßte  der  innerlich 
freie  Mensch  ebenso  anzusehen  lernen,  wie  das  eigene.  Die 
Liebe,  die  wir  als  ein  Hauptmittel  zur  inneren  Befreiung  kennen 
gelernt  haben,  darf  nicht  verstanden  werden  als  ein  Sichab- 
hängigmachen von  dem  äußeren  Schicksale  des  anderen.  Denn 
das  hieße  unfrei  werden,  nicht  frei.  Die  adäquate  Äußerung  des 
Kraftüberschusses  kann  nicht  darin  bestehen,  sich  in  den  Dienst 
aller  fremden  Kraftminima  zu  stellen.  Der  fremde  Genuß  und 
die  fremde  Entbehrung  können  nicht  anders  aufzufassen  sein 
als  die  entsprechenden  eigenen  Zustände.  Sonst  schleicht  durch 

Gomperz,  Lebensauffassung  2 


18 


ERSTE  VORLESUNG 


alle  Tore  des  Mitgefühls  die  Wunschverneinung,  und  mit  ihr 
das  Unglück  und  die  Unfreiheit  wieder  herein.  Jener  „Altruis- 
mus", der  auf  den  Dienst  des  fremden  Egoismus  hinausläuft, 
und  der  Selbstsucht  nichts  entgegenzustellen  hat  als  die  Ander- 
sucht, ist  in  sich  widerspruchsvoll:  er  postuliert  einen  absoluten 
Wert  von  Nahrung  und  Wollust,  Reichtum  und  Ehre,  Gesund- 
heit und  Leben,  nachdem  diese  Dinge  eben  erst  in  ihrem  inne- 
ren Unwerte  erkannt  worden  sind.  Sondern  die  Liebe,  die  aus 
der  inneren  Freiheit  kommt,  ist  ein  Helfen  um  des  Helfens 
willen,  ein  Sichhingeben  aus  innerer  Kraftfülle,  das  sich  an  sich 
selbst  genug  ist,  und  es  nicht  als  ein  Obel  empfindet,  wenn  es 
sein  einzelnes,  konkretes  Ziel  nicht  erreicht;  ein  Abstreifen  aller 
Abwehr-  und  Angriffsinstinkte  in  dem  Gefühle,  dass  derjenige 
ihrer  nicht  bedarf,  der  sich  bewußt  ist,  geborgen  zu  sein  vor 
allem  wahren  Übel,  weil  er  in  seinen  Lebenszielen  unabhängig 
ist  von  jedem  äußeren  Schicksal.  Dieses  Bewußtsein  aber,  wäre 
es  vollendet,  wäre  das  vollkommene  Bewußtsein  der  inneren 
Freiheit. 

Ich  sage,  es  wäre  das  vollkommene  Bewußtsein  der  inneren 
Freiheit  —  denn  wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  und  ich  habe 
das  schon  früher  betont:  die  innere  Freiheit  ist  ein  Ideal,  und 
als  solches  nie  vollkommen  erreichbar.  Möglich  ist  nur  die  An- 
näherung an  diesen  Grenzwert.  Sie  werden  mir  erlassen,  das 
im  einzelnen  nachzuweisen.  Um  so  notwendiger  ist  es,  bei 
dieser  Einsicht  selbst  einen  Augenblick  zu  verweilen,  und  aus 
ihr  einige  Folgerungen  abzuleiten,  die  für  die  praktische  Lebens- 
auffassung, und  damit  auch  für  die  Beurteilung  der  antiken  Ge- 
dankensysteme von  der  größten  Bedeutung  sind. 

Für  denjenigen,  der  ein  Ideal  erreicht  hätte,  würde  es  keine 
Forderungen  mehr  in  sich  schließen.  Solche  hält  es  nur  dem- 
jenigen entgegen,  der  ihm  erst  nachstrebt.  So  auch  das  Ideal 
der  inneren  Freiheit.  Der  innerlich  freie  Mensch  könnte  denken 
und  fühlen,  tun  und  lassen  was  er  will;  aus  dem  Gesichtspunkte 
der  inneren  Freiheit  wäre  es  logisch  unmöglich,  ihm  darüber 
Vorschriften  zugeben.  Nicht  so  der  unvollkommene,  der  wirk- 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  19 


liehe  Mensch.  Für  ihn  bedeutet  das  Ideal  die  Forderung,  sich 
ihm  stetig  anzunähern,  sich  fortschreitend  zu  befreien.  Diese 
Forderung  wird  aber,  unbeschadet  des  gleichen  Zieles,  einen 
verschiedenen  Inhalt  haben,  je  nach  der  Verschiedenheit  des 
Ausgangspunktes;  denn  die  Wege,  die  von  verschiedenen  Aus- 
gangspunkten zu  einem  und  demselben  Ziele  führen,  können,  un- 
geachtet ihrer  Konvergenz,  doch  unmöglich  zusammenfallen. 
Verschieden  aber  sind  in  unserem  Falle  die  Ausgangspunkte  in 
der  Tat;  denn  sie  sind  nichts  anderes,  als  die  unvollkommenen 
Individualitäten  eines  jeden.  Aber  die  unvollkommenen  Indivi- 
dualitäten sind  zugleich  individuelle  Unvollkommenheiten.  Der 
eine  wird  in  dieser,  der  anderein  jener  Hinsicht  von  der  inneren 
Freiheit  besonders  weit  abstehen:  jenem  wird  es  besonders 
schwer  fallen,  mit  innerer  Freiheit  zu  genießen,  diesem,  mit 
innerer  Freiheit  zu  entbehren.  Bestimmte  Genüsse,  bestimmte 
Entbehrungen  werden  dem  einzelnen  besonders  leicht  oder  be- 
sonders schwer  in  der  rechten  Weise  gelingen;  in  bezug  auf  eine 
bestimmte  Liebe,  auf  ein  bestimmtes  Schaffen  wird  er  sich  als 
besonders  unfrei  erfinden.  Daraus  wird  sich  jedem  seine  be- 
sondere Aufgabe  ergeben:  in  mancher  Richtung  wird  seine 
Vervollkommnung  besonders  dringlich,  manche  Seiten  des 
Ideals  werden  ihm  in  hervorragenderem  Maße  zugänglich  sein. 
So  werden  individuelle  Lebensregeln  entstehen,  die  sich  wieder 
allgemeineren  Ratschlägen  werden  unterordnen  lassen.  Doch 
alles  dieses  wird  nur  den  Suchenden  angehen,  nicht  den  Fin- 
denden, der  ihnen  als  gemeinsames  Vorbild  vor  Augen  steht. 
Beides  auseinanderzuhalten,  ist  im  Interesse  der  begrifflichen 
Klarheit  von  der  äußersten  Wichtigkeit. 

Indem  nun  die  Suchenden  auf  verschiedenen  Stufen  der  An- 
näherung an  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  sich  selbst  und  ein- 
ander antreffen,  werden  sie  auch  im  Namen  dieses  Ideals  Wert- 
urteile fällen.  Diese  Werturteile  werden  die  Grade  der  inneren 
Freiheit,  welche  die  einzelnen  einnehmen,  zu  Gegenständen 
haben,  d.  h.die  Charaktere,  gemessen  an  dem  Maße  desIdeals. 
Ich  sage  mit  Bedacht:  die  Charaktere,  nicht  einzelne  Handlungen 

2* 


20 


ERSTE  VORLESUNG 


oder  Gesinnungsweisen.  Denn  wir  sahen  schon:  dieselbeHand- 
lung  kann  aus  innerer  Freiheit  oder  aus  innerer  Unfreiheit  her- 
vorgehen. Aber  ebenso  auch  dieselbe  Gesinnungsweise:  wie 
z.  B.  das  Mitleid  bald  ein  den  Menschen  knechtender  Drang, 
bald  der  Ausfluß  innerlich  freier  Liebe  sein  kann.  Und  diese 
Werturteile  werden  gefällt  werden  auf  Grund  jener  beiden  Ge- 
fühle, mit  denen  wir  überhaupt  auf  die  Wahrnehmung  von  Kraft 
oder  Schwäche  reagieren:  nämlich  auf  Grund  von  Achtung 
oder  Verachtung.  Also  je  nach  dem  Grade  seiner  inneren 
Freiheit  oder  Unfreiheit  wird  ein  Charakter  Gegenstand  der 
Achtung  oder  Verachtung  sein. 

Durch  diese  beiden  Punkte  nun  ist  aber  dieses  ganze  System 
von  Werturteilen,  welche  im  Namen  des  Ideals  der  inneren  Frei- 
heitgefälltwerden, und  welches  wir  das  ethische  nennen  wollen, 
unterschieden  von  einem  anderen  System  von  Werturteilen, 
die  wir  in  der  Gesellschaft  vorfinden,  und  welches  das  mora- 
lische heißt.  Denn  die  Moral  beurteilt  nicht  den  Menschen 
als  Ganzes,  sondern  seine  einzelnen  Gesinnungsweisen,  und 
zwar  nicht  auf  Grund  von  Achtung  und  Verachtung,  sondern 
auf  Grund  von  Anerkennung  und  En  trüstung.  Hier  kommt 
es  darauf  an,  welche  Gesinnung  einMensch  bekundet;  und  wenn 
diese  Gesinnung  eine  solche  ist,  die  ihn  dazu  führen  kann,  seinen 
Mitmenschen  zu  schaden,  so  reagieren  wir  darauf  mit  Entrüstung, 
welche  nichts  anderes  ist,  als  unser  Mitgefühl  mit  dem  Vergel- 
tungsbedürfnis  des  (wirklicher  oder  möglicher  Weise)  Geschä- 
digten. Dort  dagegen  kommt  es  lediglich  an  auf  das  Maß  von 
Kraft,  das  einen  Charakter  auszeichnet;  und  wenn  dieses  geringer 
ist  als  das  Durchschnittsmaß,  so  reagieren  wir  darauf  mit  Ver- 
achtung, d.  i.  dem  Gefühl  unserer  überlegenen  Kraft.  Offenbar 
sind  diese  beiden  Dinge  sachlich  voneinander  deutlich  unter- 
schieden, und  wenn  sie  herkömmlicher  Weise  unter  den  ein- 
heitlichen Begriff  der  Sittlichkeit  zusammengefaßt  werden, 
so  ist  dies  nicht  anders  zu  beurteilen,  als  jener  vielfache  Mangel 
an  „Differenzierung",  der  uns  in  allen  Beziehungen  auf  primi- 
tiven Stufen  der  Entwicklung  entgegentritt:  ganz  ähnlich  z.  B., 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  21 


wie  auch  die  Begriffe  des  Rechts  einerseits,  der  Moral  anderer- 
seits sich  erstsehrallmählichvoneinandergesonderthaben, — der 
Moral,  die,  wie  gesagt,  die  Gesinnung,  des  Rechts,  das  die  Tat 
zum  Gegenstande  seines  Urteils  macht.  In  Wahrheit  ist  dieser 
Fall  mehr  als  ein  Beispiel,  er  ist  eine  vollkommene  Parallele. 
Ein  Mensch  kann  sich  sein  Leben  lang  in  den  Schranken  des 
Rechtes  halten,  und  doch  eine  unmoralische  Gesinnung  haben. 
Ebenso  kann  ein  Mensch  eine  durchaus  moralische  Gesinnung 
besitzen,  und  doch  ein  ethisch  minderwertiger  Charakter  sein. 
Aber  noch  mehr!  Verstöße  gegen  das  Recht  werden  in  aller 
Regel  auch  moralische  Defekte  involvieren  (der  Mörder  z.  B. 
wird  in  fast  allen  Fällen  des  Mitgefühls  entbehren);  aber  in 
gewissen  Ausnahmsfällen  mag  das  juristische  Recht  zugleich 
moralisches  Unrecht  sein  (z.  B.  im  Falle  der  hartherzigen  Exe- 
kution eines  Schuldners).  Ebenso  nun  wird  auch  die  unmora- 
lische Gesinnung  in  aller  Regel  einen  ethisch  minderwertigen 
Charakter  bekunden  (die  Lüge  z.  B.  der  Feigheit,  die  Unredlich- 
keit der  Genußsucht  entspringen);  aber  in  gewissen  Ausnahms- 
fällen mag  die  moralische  Mehrwertigkeit  zugleich  ethische 
Minderwertigkeit  sein  (z.  B.  im  Falle  der  Verzweiflung  über 
fremdes  Unglück).  Es  ist  also  selbstverständlich,  daß  die  Diffe- 
renzierung des  ethischen  und  des  moralischen  Systems,  die  sich 
aus  der  Begründung  des  ersteren  auf  das  Ideal  der  inneren  Frei- 
heit ergibt,  die  Existenzberechtigung  der  Moralität  ebensowenig 
aufhebt,  als  jene  des  Rechtes  durch  seine  Unterscheidung  von 
der  Moral  aufgehoben  wird.  Übrigens  wäre  es  ein  Irrtum  zu 
glauben,  daß  dies  eine  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit  eigentüm- 
liche Konsequenz  wäre.  Dieselbe  müßte  sich  vielmehr  aus  jedem 
Ideal  ergeben,  das  den  Anspruch  macht,  das  ganze  Leben  zu 
beherrschen  und  der  Entwicklung  des  menschlichen  Gesamt- 
charakters voranzuleuchten.  Denn  zu  dieser  positiven  Funk- 
tion ist  die  Moralität  ebenso  unfähig  wie  das  Recht,  weil  beide 
im  wesentlichen  den  negativen  Charakter  einer  Schrankehaben, 
wie  sich  das  darin  ausspricht,  daß  ihre  Forderungen  vorwiegend 
die  Gestalt  von  Verboten  zeigen.  Du  sollst  nicht!,  das  ist 


22 


ERSTE  VORLESUNG 


das  Wesen  eines  Zaums,  aber  nicht  eines  Sporns.  Jedes  positiv 
lebensbeherrschende  Ideal  hat  deshalb  auch  mehr  oder  weniger 
deutlich  diese  Unterscheidung  gemacht1.  Der  Gegensatz,  den 
Paulus  wie  Luth  er  zwischen  den  Verboten  des  Alten  und  den 
Geboten  des  Neuen  Testamentes  gemacht  haben,  fällt  mit  diesem 
Unterschiede  zusammen.  Das  „Gesetz  des  Zornes"  entspricht 
dem  moralischen,  das  „Gesetz  derGnade"  dem  ethischen  System. 
Dort  werden  einzelne  Handlungs-  und  Gesinnungsweisen  ver- 
boten, hier  wird  die  Glaubensstärke  geboten,  die,  wie  wir 
gesehen  haben,  im  Grunde  mit  der  inneren  Freiheit  zusammen- 
fällt. Ja,  auch  die  Möglichkeit  des  Konflikts  ist  nicht  verborgen 
geblieben:  wird  ja  nach  dem  „Gesetz  der  Gnade"  gerechtfertigt, 
auch  wer  gegen  das  „Gesetz  des  Zornes"  verstößt,  wenn  nur 
sein  Glaube  stark  bleibt.  Hat  doch  sogar  Luth  er,  naheliegende 
Mißverständnisse  befürchtend  und  vielleicht  überschätzend,  zu 
der  Äußerung  sich  hinreißen  lassen,  das  Gesetz  der  Gnade  solle 
man  den  Bauern  nicht  predigen;  denn  sie  möchten  es  mißver- 
stehen, und  darin  die  Erlaubnis  zu  Mord  und  Brandstiftung 
erblicken.  Auch  Spinoza  hat,  freilich  nicht  mit  ausdrück- 
lichen Worten,  zwischen  dem  „nützlichen"  und  dem  „freien" 
Leben  denselben  Unterschied  gemacht;  und  ebenso  hat  Fichte 
dem  Standpunkte  der  „gewöhnlichen  Sittenlehre"  den  der 
„wahren  und  höheren  Sittlichkeit"  mit  ebensoviel  Nachdruck 
als  Klarheit  entgegengesetzt.  Was  dieser  in  seiner  „Anweisung 
zum  seligen  Leben"  (namentlich  von  der  fünften  Vorlesung  an) 
hierüber  gesagt  hat,  ist  unvergänglich,  und  würde  einer  reiferen 

J)  Ich  könnte  sie  sehr  deutlich  schon  in  den  Upanishad's  aufzeigen,  wo 
durchaus  die  Seligkeit  der  Erlösung  dem  Lohn  der  guten  Werke  entgegen- 
gesetzt, und  gelehrt  wird,  daß  jene  auch  durch  böse  Werke  nicht  beein- 
trächtigt werde.  Man  vgl.  zum  Beispiel  die  an  Entschiedenheit  nicht  zu 
überbietende  Stelle:  Kaushitaki-Upanishad  3. 1  (Deussen,  60  Upanishad's 
des  Veda,  S.  43 f.),  oder  die  andere:  Brihadaranyaka-Upanishad  4.  4.  22 f. 
(Deussen  a.  a.  O.  S.  480);  ferner  die  Erläuterungen  des  Qankara  zu  der 
„£ariraka-Mimansa"  des  Badarayana,  Sutram  IV.  1.  13  (Deussen,  Die 
Sutra's  des  Vedanta,  S.  704  ff.).  Doch  würde  ein  näheres  Eingehen  auf 
diese  Gedankenwelt  Vorerörterungen  erfordern,  die  für  diese  Stelle  zu 
umständlich  wären. 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  23 

und  edleren  Zukunft  mehr  Stoff  zur  Würdigung  und  Bewunde- 
rung geben,  als  alles,  was  seither  über  Fragen  der  Ethik  gesagt 
oder  geschrieben  worden  ist. 

Doch,  geehrte  Zuhörer,  wir  sind  hiermit  unvermerkt  bis  zu 
der  letzten  Frage  vorgedrungen,  die  wir  in  dieser  einleitenden 
Vorlesung  behandeln  wollten.  Wir  haben  gesehen,  daß  und  wie 
innere  Freiheit  ohne  dogmatische  Voraussetzungen  theoretisch 
möglich  ist.  Wir  haben  noch  zu  fragen,  ob  sie  sich  (annäherungs- 
weise natürlich)  auch  als  geschichtlich  wirklich  darstellt.  Und 
eben  haben  wir  zwei  Männer  genannt,  deren  Lehre  allein  diese 
Frage  im  bejahenden  Sinne  entscheiden  würde.  Denn  wer  sie 
kennt,  dem  bürgen  die  Namen  Spinoza  und  Fichte  dafür, 
daß  sie  nichts  gelehrt,  was  sie  nicht  aus  der  inneren  Erfahrung 
ihres  Lebens  geschöpft  hatten.  Ihre  Lehre  aber  statuiert  nicht 
nur,  wie  eben  ausgeführt,  den  Unterschied  von  Moralität  und 
Ethik,  sondern  sie  legt  auch  dieser  letzteren  das  Ideal  der  inne- 
ren Freiheit  zugrunde. 

Denn  dies  ist  die  Lehre  des  Spinoza:  die  Welt  als  ein 
notwendiges  Ganzes  begreifen,  dessenTeile  anders  zu  wünschen, 
als  sie  sind,  töricht  ist;  und  diesem  Ganzen  freudige  und  er- 
gebene Liebe  zuwenden,  und  so  von  jeder  Abhängigkeit  dem 
Schicksal  gegenüber  sich  befreien. 

Und  dies  ist  die  Lehre  Fichtes:  die  wahre  Sittlichkeit  und 
Glückseligkeit  erblicken  in  der  stetigen  Annäherung  an  das 
Ideal;  dieses  Ideal  aber  denken  als  die  völlige  Überwindung 
des  auf  Genuß  gerichteten  natürlichen  Triebes  durch  den 
sittlichen  Trieb,  der  nur  mehr  die  reine,  lautere  Tätigkeit  um 
ihrer  selbst  willen  bezweckt;  und  so  fähig  werden,  den  eige- 
nen Willen  in  Einklang  zu  setzen  mit  dem  Lauf  der  Welt,  um 
in  diesem  Einklang,  wo  nicht  „glücklich",  so  doch  „selig"  zu 
sein. 

Dies  aber,  nur  mit  etwas  anderer  Betonung,  wie  ich  früher 
sagte,  war  auch  schon  die  Lehre  des  Buddha:  aufheben  den 
„Durst"  der  Begierde  und  das  „Haften"  am  Genuß,  und  eben 
damit  die  Abhängigkeit  vom  feindlichen  Schicksal  und  das 


24 


ERSTE  VORLESUNG 


Leiden;  und  fürder  dahinleben  im  seligen  Bewußtsein  der  Er- 
lösung1. 

Eben  dieses  aber,  und  damit  kehren  wir  endlich  zu  unserem 
Ausgangspunkte  zurück,  ist  auch  die  einstimmige  Lehre  der  Al- 
ten, nur  mit  leichter  Verschiedenheit  der  Stimmungsfarbe  und 
der  theoretischen  Begründung,  wie  dies  eben  dem  Charakter  und 
dem  Intellekt  der  einzelnen  unter  ihnen  entspricht.  Ihr  Grund- 
gedanke aber  ist  Einer,  und  es  ist  derselbe,  den  ich  eben  vor 
Ihnen  entwickelt  habe.  Freilich  nur  entwickelt,  und  weder  be- 
gründet noch  gewürdigt.  Allein  diese  weiteren  Aufgaben  würden 
ebenso  den  Rahmen  dieserVorlesungen  überschreiten,  wie  inner- 
halb desselben  ihre  Erfüllung  entbehrt  werden  kann.  Jenes,  weil 
eine  Würdigung  dieser  Lebensansicht  unmöglich  wäre,  ohne  ihr 
andere  Ansichten  vergleichend  gegenüberzustellen,und  ohne  ein- 
gehend die  Maßstäbe  zu  untersuchen,  die  einer  Abschätzung 
ethischer  Prinzipien  und  Ideale  überhaupt  zugrunde  gelegt  wer- 
den können;  dieses,  weil  zum  Verständnis  der  antiken  Lehren 

*)  Auch  hier  wäre  wieder  die  Erlösungslehre  der  Upanishad's  heranzu- 
ziehen. Doch  beschränke  ich  mich  aus  dem  eben  angeführten  Grunde 
auf  die  Namhaftmachung  zweier  Stellen  (Chandogya-Upanishad  7.  25.  2 
und  8.  1.  6;  Deussen  a.  a.  O.  S.  186  und  190),  an  der  als  die  Frucht  der 
Erlösung  ausdrücklich  „ein  Leben  in  Freiheit"  bezeichnet  wird. 

Ebenso  ließe  sich  leicht  zeigen,  daß  dies  der  wahre  Sinn  der  „ewigen 
Wiederkunft"  bei  Nietzsche  ist,  wie  er  ihn  namentlich  in  dem  nachge- 
lassenen „Willen  zur  Macht"  klar  und  unmißverständlich  ausgesprochen 
hat.  Vgl.  Werke,  Band  XV.  Aph.  385,  461,  476  (S.  411  f.,  472,  483);  aber  auch 
Aph.  10,  141,  163,  213,  457  (S.  22,  137,  157,  208,  466);  ferner  Aph.  188,  394; 
191,  217,  331  (S.  185,  424;  187 f.,  211,  353 f.).  Die  zuletzt  angeführten  Stellen 
bieten  Parallelen  zu  dem,  was  oben  über  die  Differenzierung  von  mora- 
lischer und  ethischer  Beurteilung  ausgeführt  wurde.  An  den  ersteren 
aber  tritt  unzweideutig  der  Gedanke  hervor:  die  größte  innere  Kraft  müßte 
die  Wunschbejahung  von  Allem  setzen,  was  in  der  Welt  enthalten  ist,  und 
deshalb  imstande  sein,  die  Welt  auch  dann  freudig  zu  bejahen,  wenn  sie 
stets  so  wiederkehrte,  wie  sie  ist,  ohne  durch  „höhere"  Entwicklungsstufen 
gerechtfertigt  zu  werden.  Darum  beginnt  der  Abschnitt  „Dionysos"  mit 
den  Worten  (Aph.  459,  S.  469):  „Eine  Höhe  und  Vogelschau  der  Betrach- 
tung gewinnen,  wo  man  begreift,  wie  alles  so,  wie  es  gehen  sollte,  auch 
wirklich  geht:  wie  jede  Art  ,Unvollkommenheit'  und  das  Leiden  an  ihr 
mit  hinein  in  die  höchste  Wünschbarkeit  gehört." 


DAS  IDEAL  DER  INNEREN  FREIHEIT  25 


nur  ein  Wissen  von  ihrem  gemeinsamen  Grundgedanken,  nicht 
aber  ein  Urteil  über  denselben  erfordert  wird.  Dieses  Urteil 
also  behalten  wir  durchaus  jenen  Untersuchungen  vor,  die  zu- 
sammen ein  System  der  normativen  Ethik  bilden  müßten;  dort 
mag  über  den  Wert  und  die  Bedeutung  des  Ideals  der  inneren 
Freiheit  das  letzte  Wort  gesprochen  werden,  wenn  anders  die 
Wissenschaft  ein  solches  über  diese  Dinge  zu  sprechen  über- 
haupt vermag.  Hier  bedeutet  uns  dieses  Ideal  eine  gegebene 
Größe:  einen  Standpunkt,  den  wir  für  einige  Stunden  einnehmen 
wollen,  um  von  ihm  aus  die  verschiedenen  Versuche  zu  betrach- 
ten,die  das  Altertum  zurFormulierungdiesesIdeals  unternommen 
hat,  und  um  an  diesen  Versuchen  eine  durchaus  immanente  Kri- 
tik zu  üben.  Nicht  darauf  also  kam  es  in  dieser  einleitenden  Vor- 
lesung an,  Ihnen  diesen  Standpunkt  als  den  einzig  möglichen 
oder  berechtigten  nachzuweisen,  sondern  nur  darauf,  Sie  vorerst 
einmal  auf  ihn  zu  stellen.  Ist  mir  aber  dies  gelungen,  so  stehen  wir 
da,  wo  wir  stehen  müssen:  wir  kennen  das  Thema,  und  sind  so 
vorbereitet,  die  Variationen  zu  verstehen.  Wir  kennen  das  Ideal 
der  inneren  Freiheit,  und  sind  so  vorbereitet,  die  Lebensauffas- 
sung der  griechischen  Philosophen  zu  verstehen  —  die  gemein- 
same Lebensauffassung  in  ihren  verschiedenartigen  Erschei- 
nungsformen: vorbereitet  durch  Heraklit;  begründet  von 
Sokrates;  fortgebildet  durch  Antisthenes,  Aristipp  und 
Piaton;  vollendet  von  Zenon;  verfallend  in  Epikur  und 
Pyrrhon;  ausklingend  in  Plotin.  Durch  diese  Namen  ist  der 
Stoff  dieser  Vorlesungen  bezeichnet  und  gegliedert. 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIE- 
CHEN IM  ALLGEMEINEN 


ZWEITE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 

IR  haben  das  letztemal  das  Ideal  der  inneren 
Freiheit  sachlich  betrachtet  und  einiger- 
maßen gewürdigt,  und  uns  damit  den  Schlüs- 
sel zum  Verständnis  der  antiken  Ethik  ver- 
schafft, wenn  anders  dieses  Ideal  in  der  Tat 
all  den  verschiedenartigen  Richtungen  als 
gemeinsamer  Grundgedanke  (oder  vielleicht 
noch  besser:  als  gemeinsame  Grundtendenz)  zugrunde  liegt, 
welche  die  Lebensauffassung  der  alten  Philosophen  uns  zeigt. 
Und  so  können  wir  ohne  weitere  Vorbereitung  unserem  eigent- 
lichen Gegenstande  uns  zuwenden. 

Dieser  Gegenstand  ist  die  antike  Ethik.  Aber  antike  Ethik 
heißt  griechische  Ethik.  Denn  der  merkwürdige  Mangel,  noch 
mehr  an  philosophischer  Begabung  als  an  philosophischem  Inter- 
esse, den  das  römische  Volk  nie  überwunden,  ja  den  es  sogar 
einigermaßen  auch  noch  auf  die  modernen  romanischen  Völker 
übertragen  hat,  zeigt  sich  in  der  Ethik  nicht  minder  als  in  den 
anderen  philosophischen  Disziplinen.  Alles  römische  Philoso- 
phieren, von  dem  wir  unmittelbar  oder  mittelbar  Kunde  haben, 
ist  ohne  Ausnahme  ein  Ableger  der  griechischen  Spekulation. 
Ja,  in  den  meisten  Fällen  ist  es  noch  weniger  als  das:  lateinische 
Übersetzungen,  Bearbeitungen  und  Kompilationen  griechischer 
Vorlagen  sind  noch  häufiger  als  lateinisch  geschriebene  Beiträge 
zum  griechischen  Gedankenkreise.  Wenn  wir  auch  die  verlore- 
nen Schriften  der  pythagoreisierenden  Sextier  und  die  erhal- 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  27 


tenen  des  Stoikers  Seneca  zu  der  zweiten  Gruppe  rechnen 
wollen,  so  wird  man  doch  nicht  umhin  können,  die  meisten  der 
eklektischen  WerkeCiceros  und  wohl  auch  Varros,  sowie  das 
Lehrgedicht  des  Epikureers  Lucrez  der  ersten  zuzuzählen.  Wir 
haben  es  also  im  folgenden  fast  ausschließlich  mit  hellenischen 
Gedanken  zu  tun. 

Ich  sage  „hellenisch"  —  und  sofort  steht  vor  unserem  geistigen 
Auge  jenes  typische  Bild,  das  man  übereingekommen  ist,  für  das 
des  Hellenen  auszugeben:  das  Bild  eines  Mannes,  der,  schönen 
Körpers,  offenen  Auges,  raschen  Geistes,  künstlerisch  veranlagt, 
seine  Triebe  „auslebt",  aber  durch  weises  Maßhalten  sie  mit- 
einander in  Einklang  setzt,  sein  Leben  zu  einem  harmonischen 
Kunstwerke  gestaltet,  und  dabei,  ein  freier  Mensch  unter  freien 
Staatseinrichtungen,  seine  Person  dem  Dienste  seiner  Vaterstadt 
widmet.  Dieses  typische  Bild  ist  im  wesentlichen  eine  Fälschung, 
und  zwar  eine,  wenn  auch  gutgläubige,  tendenziöse  Fälschung. 
Genauer  gesprochen:  es  ist  das,  von  Widersprüchen  durchtränkte 
Residuum  einer  Reihe  sukzessiver  Fälschungen.  Welche  typi- 
sche Erscheinung  immer  nämlich  Europa  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten bekämpfte,  es  mußte  der  Hellene  ihr  Gegenbild  ab- 
geben. Er  war,  wenn  Sie  mir  einen  Ausdruck  von  zweifelhaftem 
Geschmacke  verzeihen  wollen,  der  Fahnenstock,  an  dem  jede 
Generation  das  Banner  ihres  Ideals  gehißt  hat.  Für  die  Männer 
der  Renaissance  war  die  Antike  die  einzige  außerhalb  des  christ- 
lichen Kulturkreises  geschichtlich  gegebene  Realität,  und  damit 
der  natürliche  Stützpunkt  für  die  beginnende  Reaktion  gegen  die 
Alleinherrschaft  christlicher  Ideen.  So  ist  sie  in  die  Rolle  des 
„Ideals  um  jeden  Preis"  hineingewachsen,  und  seither  ist  der 
Grieche,  je  nach  der  Mode  des  Jahrhunderts,  bald  ein  mystischer 
Seher,  bald  ein  aufgeklärter  Rationalist;  bald  ein  Vertreter  kos- 
mopolitischer „Humanität",  bald  ein  solcher  des  selbstgewissen 
Nationalbewußtseins;  bald  ein  Bewunderer  klassischer  Ruhe, 
bald  ein  Adept  romantischen  Schwunges;  bald  ein  selbstherr- 
liches Individuum,  bald  ein  entsagungskräftiger  Patriot;  bald  ein 
stürmischer  Freiheitskämpfer,  bald  eine  aristokratische  Herren- 


28 


ZWEITE  VORLESUNG 


natur  gewesen.  Denken  Sie  sich  nun,  man  hätte  von  ihm  in  allen 
diesen  Stellungen  photographische  Aufnahmen  auf  einer  und 
derselben  Platte  gemacht,  so  können  Sie  sich  leicht  vorstellen, 
wie  einheitlich,  wie  deutlich  und  wie  richtig  das  Bild  geworden 
sein  müßte,  das  als  Ergebnis  all  dieser  Metamorphosen  übrig 
geblieben  wäre.  Wie  war  es  aber  möglich,  daß  die  Griechen  so 
verschieden  überhaupt  gedeutet  werden  konnten?  Bei  einem 
Volke,  das,  wie  andere  auch,  eine  unermeßliche  Mannigfaltigkeit 
von  Charakteren  einschloß,  und  im  Laufe  einer  über  tausend- 
jährigen Geschichte  Herrschaftsphasen  verschiedenster  Geistes- 
richtungen einander  ablösen  sah,  scheint  dies  nicht  einmal  beson- 
ders verwunderlich.  Auch  andere  Völker  würden  für  eine  derart 
vorschnell  verallgemeinernde  Betrachtungsweise  sehr  disparate 
Eindrücke  ergeben :  auch  der  Typus  des  „Galliertums"  würde  sich 
nicht  gerade  durch  besondere  Einheitlichkeit  auszeichnen,  wenn 
er  von  Rabelais  und  Corneille,  von  Voltaire  und  Rousseau, 
von  Richelieu  und  Mirabeau,  Danton  und  Napoleon,  von 
Pascal  und  Diderot  in  gleicherweise  abgezogen  werden  sollte. 
Was  in  einem  Volke  von  Nationalcharakter  vorhanden  ist,  pflegt 
so  tief  zu  liegen,  daß  es  zur  Darstellung  von  Typen  und  Idealen 
sehr  ungeeignet  ist.  Es  kann,  je  nach  den  Umständen  der  Zeit 
und  der  Individualität,  eine  sehr  verschiedene  Ausprägung  finden, 
und  liegt  sicherlich  —  „jenseits  von  gut  und  böse"  —  in  den 
psychophysischen  Elementarvorgängen  und  in  der  Art  ihrer  Ver- 
bindung. Ohne  den  Anspruch  erheben  zu  wollen,  von  diesen 
völkerpsychologischen  „Urphänomenen*  eine  erschöpfende 
Analyse  zu  geben,  scheint  es  mir  doch  zweckmäßig,  mit  ein 
paar  Worten  einige  Gesichtspunkte  zur  Beurteilung  der  griechi- 
schen Volksart  auf  unserem  Wege  wenigstens  flüchtig  zu  be- 
rühren. 

Mit  all  den  Vorbehalten,  die  bei  der  Behandlung  einer  so  be- 
denklichen Materie  unerläßlich  sind,  darf  man  vielleicht  sagen, 
daß  der  Grieche  mit  einer  ungewöhnlichen  Lebhaftigkeit  der  An- 
schauung und  Phantasie,  mit  einer  ebenso  ungewöhnlichen  Be- 
weglichkeit des  Geistes,  und  mit  einer  nicht  minder  seltenen 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  29 


Heftigkeit  der  Gefühls-  und  Begehrungsreaktion  auf  äußere  Ein- 
drücke, zwei  Eigenschaften  verband,  die  den  Grund  zu  seiner 
exzeptionellen  Bedeutung  gelegt  haben:  eine  außerordentlich 
feine  Empfindung  für  Unterschiede  und  Ähnlichkeiten,  und  eine 
ganz  besondere  Stärke  der  Leidenschaft.  Auf  der  ersten  beruht 
der  Sinn  für  das  Typische,  das  Wesentliche  der  Erscheinungen, 
und  so  wächst  aus  ihr  die  spezifische  Befähigung  der  Hellenen 
für  die  Auffindung  wissenschaftlicher  Begriffe  sowohl  als  auch 
künstlerischer  Musterbilder  hervor.  Die  zweite,  die  so  stark  war, 
daß  der  Affekt  durch  alle  momentane  Reaktion  nicht  aufgezehrt 
werden  konnte,  hat  in  politischer  Hinsicht  sowohl  die  Stabilisie- 
rung irgend  einer  Verfassungsform  als  auch  die  Bildung  eines 
nationalen  Gesamtstaates  verhindert  (als  welches  beides  nur 
durch  die  Bescheidung  bei  einem  dauernden  Kompromiß  hätte 
zustande  kommen  können),  und  so  den  äußeren  Untergang  der 
Nation  herbeigeführt;  allein  indem  sie  das  Individuum  von  einer 
schmerzlichen  Enttäuschung  zur  anderen,  und  den  Staat  von  Krise 
zu  Krise  führte,  erzwang  sie  jene  Reaktion  gegen  das  ungehemmte 
Walten  der  Naturtriebe,  welche  der  Anfang  ethischer  Besinnung 
ist;  und  indem  sie  dieser  Reaktion  jene  Kraft  zur  Verfügung  stellte, 
die  zu  ihrer  ernstlichen  Durchführung  und  Umsetzung  ins  Leben 
erforderlich  war,  vermochte  sie  aus  jenem  Anfang  eine  folgen- 
reiche und  fruchtbare  Entwicklung  hervorzutreiben. 

Diese  Reaktion  gegen  den  bloßen  Naturtrieb  hat  (von  der 
eigentlich  philosophischen  Ethik  zunächst  abgesehen)  im  wesent- 
lichen zwei  Formen  angenommen,  die,  wenn  auch  mit  wechseln- 
der Bedeutung,  während  der  ganzen  Dauer  griechischer  Ge- 
schichte nebeneinander  bestanden  haben.  Ihre  Verschiedenheit 
aber  scheint  mir  mit  einer  gewißen  Wahrscheinlichkeit  auf  sozi- 
ale und  wirtschaftliche  Unterschiede  sich  zurückführen  zu  lassen. 

Alle  Hellenen  waren  Herren,  in  dem  Sinne,  daß  neben  und 
unter  ihnen  ein  Volk  von  Knechten  der  eigentlichen  Handarbeit 
oblag.  Aber  in  dieser  Herrenklasse  selbst  konnte  man  seit  jeher 
zwei  Schichten  unterscheiden:  eine  wohlhabende  Schicht  von 
großgrundbesitzenden  Patriziern,  und  eine  in  gedrückten  Ver- 


30 


ZWEITE  VORLESUNG 


hältnissen  lebende  Schicht  von  Kleinbürgern  und  Kleinbauern. 
Zwischen  diesen  beiden  Klassen  hat  der  säkuläre  Kampf  zwischen 
Aristokratie  und  Demokratie  gewütet;  und  dieser  Gegensatz  tritt 
uns  schon  in  den  ältesten  Erzeugnissen  der  griechischen  Poesie 
entgegen:  Homer  ist  der  Dichter  der  Großen,  Hesiod  der  der 
kleinen  Leute. 

Im  Anschlüsse  nun  an  diese  beiden  Gruppen  der  Bevölkerung 
dürfte  sich  auch  jener  ethische  Gegensatz  entwickelt  haben,  von 
dem  ich  sprechen  will,  ohne  daß  er  deshalb  mit  ihrer  Scheidung 
durchaus  hätte  zusammenfallen  müssen. 

Der  wohlsituierte  Aristokrat,  der  all  seine  Leidenschaften  be- 
friedigen konnte,  und  der  nur  die  Erfahrung  machte,  daß  dieses 
unbeschränkte  Gewährenlassen  ihn  von  einer  bedenklichen  Un- 
ternehmung in  die  andere  riß  —  ihm  mußte  der  Gedanke  nahe- 
liegen, seine  Triebe  zu  mäßigen,  sie  untereinander  ins  Gleich- 
gewicht zu  setzen,  mit  anderen  Worten:  seine  Zwecke  zu  einem 
abgestuften  System  zu  ordnen,  sein  Leben  harmonisch  zu  ge- 
stalten! Und  so  wie  er  selbst  auf  diese  Weise  zu  innerlicher 
Befriedigung  gelangte,  so  mußte  er  auch  dasselbe  Verhalten  bei 
seinem  Standesgenossen  gutheißen,  den  es  aus  einer  steten  Ge- 
fahr für  Stadt  und  Partei  zu  deren  tauglichem  Gliede  machte. 
So  entsteht  im  Kreise  der  von  keiner  äußeren  Macht  beherrsch- 
ten Großen  der  Gedanke  der  Selbstbeherrschung,  oder,  wie 
der  Grieche  dies  ausdrückt,  der  Heil-Sinnigkeit  *,  als  des  wesent- 
lichen Momentes  in  einem,  dem  eigenen  Ich  zuträglichen,  den 
anderen  gefälligen,  also,  wie  der  Grieche  sagt,  einem  guten 
und  schönen  Leben2. 

Ganz  anders  stellten  sich  die  Verhältnisse  den  kleinen  Leuten 
dar,  die  zwar  auch  nicht  allein  von  ihrer  Hände  Arbeit  lebten,  aber 
doch  um  ihre  Existenz  zu  kämpfen  hatten.  Diesen  erschien  die 
Schranke,  die  jene  erst  selbst  sich  setzen  mußten,  als  von  außen 
gegeben.  Sie  war  festgelegt  in  den  Verhältnissen,  in  dem  Gesetz, 
in  der  Tradition,  in  der  Tatsache  des  Voneinanderabhängig-,  des 
Aufeinanderangewiesenseins.  Ihre  Überschreitung  stellte  sich 

oujcppotfijvr].  2)  der  Ka\oK<rfa6i'a. 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  31 


hier  nicht,  wie  dort,  als  eine  Verletzung  des  Maßes  dar,  sondern 
als  eine  Verletzung  der  Ordnung,  als  Schuld.  Oder  richtiger: 
die  uralten,  superstitiösen  Vorstellungen  von  Schuldbefleckung 
und  Entsühnung  feierten  hier  eine  Auferstehung.  Und  die  ganze 
Energie  der  Leidenschaft,  die  vor  dieser  Schranke,  vor  dem  hei- 
ligen Gesetz,  zurückweichen  mußte,  stellte  sich  in  den  Dienst 
des  doppelten  Verlangens,  vor  ungeschehener  Verschuldung  be- 
wahrt zu  bleiben,  und  von  der  schon  geschehenen  entsühnt  zu 
werden.  Weihen,  Mysterien,  Sühnkulte  hatte  es  seit  unvordenk- 
licher Zeit  gegeben.  Aber  während  diese  Dinge  in  den  oberen 
Schichten  des  Volkes  von  einer  freieren  Lebensordnung  absor- 
biert wurden,  die  ihrer  nur  an  altgeheiligten  Terminen  gedachte, 
wurden  sie  in  den  unteren  zu  lebensbeherrschenden  Potenzen. 
Und  während  dort  oben  ein  Ideal  des  selbstgewissen  Eben- 
maßes sich  entwickelt  hatte,  erwuchs  hier  unten  ein  Ideal  der 
Heiligkeit.  Damit  sind  die  beiden  großen  Hauptströmungen 
gegeben,  welche  das  sittliche  Bewußtsein  desgriechischenVolkes 
beherrscht  haben. 

Beherrscht  —  aber  nichts  ist  natürlicher,  als  daß  diese  Herr- 
schaft zu  verschiedenen  Zeiten  eine  sehr  ungleich  verteilte  sein 
mußte.  In  der  alten  Zeit,  solange  der  Adel  die  Kultur  mono- 
polisierte, und  noch  lange  nachher,  solange  die  Nachwirkungen 
dieses  Zustandes  dauerten  —  und  eine  soziale  Schicht  bleibt 
tonangebend,  Jahrhunderte  nachdem  ihr  die  politische  Macht 
entglitten  ist  — ,  mußte  sich  das  Patrizierideal  als  die  Oberströ- 
mung, das  Plebejerideal  als  die  Unterströmung  geltend  machen. 
Nur  ganz  langsam  und  allmählich,  als  die  letzte  und  entfernteste 
Konsequenz  der  politischen  Demokratisierung,  ist  das  letztere 
emporgekommen,  um  schließlich  die  Herrschaft  zu  erlangen 
und  der  Zeit  sein  Gepräge  aufzudrücken.  Wir  nennen  gemein- 
hin diese  Wendung  den  Verfall  der  Antike. 

Und  wo  bleibt,  werden  Sie  fragen,  bei  dieser  Darstellung  und 
Einteilung  die  systematische  Ethik  der  Griechen?  Wo  bleibt  das 
Ideal  der  Philosophen  ?  Jenes  Ideal  der  inneren  Freiheit,  das  unse- 
rerBetrachtungdergriechischenEthikalsFixpunkt dienen  sollte? 


32 


ZWEITE  VORLESUNG 


Ich  erwidere:  das  Gesagte  scheint  mir  unerläßlich  zum  ge- 
schichtlichen Verständnis  eben  dieserPhilosophenethik.  Es  zeigt 
uns  den  Boden,  aus  dem  sie  hervorwächst,  die  Folie,  von  der 
sie  sich  abhebt,  den  Rahmen,  der  sie  einschließt.  So  sehr  wir 
sie  bewundern  mögen,  ist  es  doch  unsere  Pflicht,  sie  auch  in 
ihrer  geschichtlichen  Bedingtheit  zu  betrachten.  Und  dazu  ist 
vor  allem  erforderlich,  daß  Sie  sich  darüber  klar  seien,  daß  die 
philosophische  Ethik  der  Alten  keineswegs  zusammenfällt  mit 
dem  sittlichen  Bewußtsein  des  griechischen  Volkes,  vielmehr 
zu  allen  Zeiten  diesem  gegenüber  eine  schroff  und  bewußt  gegen- 
sätzliche Stellung  eingenommen  hat.  Auch  abgesehen  von  der 
großen  Masse  derer,  die  gewiß  in  Hellas  nicht  minder  als  anders- 
wo ihren  Impulsen  nachlebten,  und  bei  denen  von  einer  eigent- 
lichen Sittlichkeit  überhaupt  nicht  gesprochen  werden  kann,  da 
ihnen  die  traditionelle  Moralität  einfach  als  eine  Summe  von 
Antrieben  und  Hemmungen  anerzogen  war  —  auch  abgesehen 
von  diesen,  sage  ich,  haben  wir  uns  auch  den  zu  sittlicher  Selbst- 
besinnung erwachten  Teil  des  griechischen  Volkes  beherrscht 
zu  denken  von  den  beiden  Idealen  des  harmonischen  Lebens 
und  der  Heiligkeit.  Ihnen  gegenüber  erscheint  das  philosophi- 
sche Ideal  der  inneren  Freiheit  als  ein  Neues  und  Fremdes,  als 
eine  dritte  und  selbständige  Weise  der  Reaktion  gegenüber  der 
angeborenen  Triebhaftigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  des  grie- 
chischen Stammes. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  nicht  auch  sie,  wie  die  bei- 
den anderen  sittlichen  Strömungen,  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
sozial  bedingt  gewesen  wäre.  Im  Gegenteil:  eine  solche  Be- 
dingtheit scheint  mir  wahrscheinlich,  und  diese  einleitende  Vor- 
lesung ist  wohl  der  geeignete  Ort,  Ihnen  diese  für  alle  folgenden 
Systeme  giltige  Betrachtungsweise  darzulegen. 

Was  ich  sagen  will,  wird  Ihnen  vielleicht  leichter  verständlich 
sein,  wenn  ich  die  Besprechung  einer  analogen,  modernen  Er- 
scheinung vorausschicke.  Die  Gesamtheit  unserer  moralischen 
Anschauungen  besteht  aus  verschiedenen  Schichten,  die  von 
dem  Strome  der  geschichtlichen  Entwicklung  auf  dem  Boden 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  33 


unseres  sittlichen  Bewußtseins  zu  verschiedenen  Zeiten  abge- 
lagert worden  sind.  Neben  den  bürgerlichen  liegen  reli- 
giöse, neben  diesen  wieder  allgemein  menschliche  Werte: 
den  Kriegertugenden  stehen  Christentugenden,  und  die- 
sen wiederum  Persönlichkeitstugenden  gegenüber.  Nicht 
nur  Mut  und  Treue,  nicht  nur  Reinheit,  Demut  und  Liebe, 
sondern  auch  Würde  fordern  wir  voneinander.  Unter  dieser 
Würde  verstehen  wir  vor  allem  die  Treue  gegen  sich  selbst: 
gegen  die  eigene  Einsicht  und  gegen  das  eigene  Gefühl.  Als 
verächtlich  gilt  uns,  wer  sich  verkauft:  Mund  und  Hand  ohne 
Überzeugung,  den  eigenen  Leib  ohne  Liebe.  Dies  ist  nicht  immer 
so  gewesen:  das  militärische  und  auch  das  literarische  Söldner- 
tum  hat  nicht  immer  als  ein  entehrendes  Gewerbe  gegolten; 
und  die  „sündige"  Leidenschaft  ward  lange  Zeit  nicht  als  ein  mil- 
dernder, eher  als  ein  erschwerender  Umstand  bei  sittlichen  Ver- 
fehlungen betrachtet.  Erst  Fichte  hat  in  die  wissenschaft- 
liche Sittenlehre  die  beiden  Forderungen  aufgenommen:  unter 
keinen  Umständen  der  eigenen  Überzeugung  zuwiderzuhandeln, 
und  keine  Ehe  zu  schließen,  es  sei  denn  aus  Liebe.  Fragen  wir  nun, 
woher  uns  diese  „sittliche  Forderung"  kommt,  so  muss,  glaube 
ich,  die  Antwort  lauten:  es  handelt  sich  hier  im  wesentlichen 
um  den  ritterlichen  Typus  des  Edelmannes,  wie  er  sich  in  den 
Augen  des  Bürgers  gespiegelt,  gesteigert  und  verallgemeinert 
hat.  Die  „Würde  der  Persönlichkeit"  ist  das,  von  der  Bour- 
geoisie idealisierte  und  demokratisierte  Standesbewußtsein  des 
Adels.  Der  Edelmann  war  in  der  Lage,  seiner  eigenen  Ge- 
sinnung und  seiner  eigenen  Neigung  nachzuleben.  Er  tat  es, 
ohne  darin  etwas  anderes  als  das  Vorrecht  seines  Standes,  ohne 
darin  insbesondere  etwas  moralisch  Relevantes  zu  sehen.  Der 
Bürger,  sowie  er  überhaupt  den  sozialen  Begriff  des  Adeligen 
zum  ethischen  Begriff  des  Edlen  verklärte,  idealisierte  auch 
den  Begriff  des  Standesgemäßen  und  gestaltete  daraus  den 
des  Menschenwürdigen.  Denn  indem  er  sich  in  die  Denk- 
und  Gefühlweise  der  Aristokratie  hineinlebte,  akzeptierte  er 
innerlich  ihren  Habitus;  aber  da  dieser  für  ihn  nicht  mehr  der 

Gomperz,  Lebensauffassung  3 


34 


ZWEITE  VORLESUNG 


seines  Standes  war,  mußte  er  ihm  als  der  einzig  richtige  für 
den  Menschen  überhaupt  erscheinen.  Und  da  auf  diese  Weise 
aus  einer  tatsächlichen  Prärogative  ein  sittliches  Postu- 
lat geworden  war,  so  fielen  von  diesem  alle  jene  Einschrän- 
kungen ab,  die  dort  die  praktischen  Verhältnisse  mit  sich  ge- 
bracht hatten:  es  wurde  der  Begriff  der  Würde  inhaltlich 
gesteigert,  und  erhielt  als  ideale  Forderung  einen  weit  um- 
fassenderen und  unbedingteren  Inhalt,  den  er  als  Standes- 
bewußtsein jemals  gehabt  hatte. 

Etwas  ähnliches  nun  scheint  auch  in  Griechenland  sich  zu- 
getragen zu  haben.  Der  Hellene  fühlte  sich  als  Freien  im  Gegen- 
satze zum  Sklaven.  Er  war  als  solcher  unabhängigervom  Schick- 
sal, er  brauchte  weniger  zu  fürchten  und  zu  hoffen;  denn  er  ge- 
noß die  Sicherheit  eigenen  Besitzes,  und  er  erkannte  neben  den 
Göttern  keinen  Herrn  über  sich.  Gilt  dies  aber  auch  einiger- 
maßen vom  Freien  im  allgemeinen,  so  natürlich  vom  Patrizier 
in  erhöhtem  Maße.  Sich  abhängig  vom  Schicksal,  sich  besorgt 
um  materiellen  Gewinn  zu  zeigen,  galt  deshalb  als  sklavenmäßig; 
Erhabenheit  über  diese  Sorgen  und  Interessen  als  das  dem  freien 
Manne,  und  insbesondere  dem  Freien  kat'  exochen,  dem  Ade- 
ligen, anständige  Verhalten.  Nicht  anders,  wie  auch  bei  uns 
Kleinlichkeit  in  Geldsachen  deshalb  dem  „guten  Ton"  wider- 
spricht, weil  sie  einst  die  Zugehörigkeit  zu  einem  niederen  Stand 
verriet.  (In  der  Demokratie  will  jeder  Mensch  als  „nobel"  gel- 
ten.) Aber  was  wir  nur  als  „krämerhaft"  empfinden,  empfand 
der  Hellene  als  „Sklavenart".  Zeigt  doch  noch  das  lateinische 
Wort  Liberalität  in  seiner  Ableitung  von  liber  (frei),  und 
nicht  anders  das  entsprechende  griechische  Wort1,  wie  vom 
freien  Manne  vorausgesetzt  wird,  er  müsse  zu  reichlichen  Aus- 
gaben fähig  und  geneigt  sein. 

Indem  nun  dieser  Typus  des  freien  Mannes  von  den  plebeji- 
schen Philosophen  als  allgemein  menschliches  Ideal  übernom- 
men und  dementsprechend  ausgestaltet  wurde,  entstand  das 
ethische  Ideal  der  inneren  Freiheit. 


*)  eXeuGepiöxr]«;. 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  35 


Jetzt  wird  von  jedem  Menschen  verlangt,  daß  er  vom  Schick- 
sal absolut  unabhängig,  und  über  jedes  materielle  Interesse 
erhaben  sei.  Es  wird  gefordert,  daß  der  Mensch  ebenso  über 
allen  Erlebnissen  stehe,  in  seiner  Emanzipation  von  allem 
Äußeren  in  derselben  Weise  allen  Wendungen  des  Schicksales 
als  den  Wendungen  eines  Spieles  gegenüberstehe,  wie  dies  der 
„Freie",  der  Reiche  den  alltäglichen  Wechselfällen  des  Lebens 
gegenüber  stets  getan  hatte,  weil  er  es  hatte  tun  können.  Denn 
mit  den  faktischen  sind  auch  die  idealen  Grenzen  der  Forde- 
rung fortgefallen.  Und  nun  heißt,  wer  dieser  idealen  Forderung 
entspricht,  ein  Freier,  wer  gegen  sie  verstößt,  ein  Knecht,  auch 
wenn  dieser  auf  dem  Königsthrone  sitzt,  jener  auf  dem  Sklaven- 
markte zum  Verkaufe  ausgeboten  wird.  Ungezählte  Male  hören 
wir  in  diesem  Sinne  denjenigen,  der  den  ethischen  Ansprüchen 
nicht  genügt,  einen  Sklaven  schelten;  aber  nicht  jene  bildliche 
Analogie  zwischen  der  Abhängigkeit  von  den  eigenen  Begierden 
und  der  Abhängigkeit  von  einem  Herrn  ist  der  letzte  Grund 
dieser  Gleichsetzung,  sondern  vielmehr  die  Tatsache,  daß  jede 
Abhängigkeit  und  Beschränktheit  als  sklavenmäßig,  jede  Un- 
abhängigkeit und  Unbeschränktheit  als  Freienart  empfunden 
wurde. 

Sie  haben,  geehrte  Zuhörer,  vielleicht  die  Empfindung,  daß 
der  Gedanke  der  inneren  Freiheit  durch  die  Aufzeigung  dieser 
seiner  historisch-sozialen  Bedingtheit  einigermaßen  entwertet 
wird.  Es  mag  am  Platze  sein,  mit  ein  paar  Worten  dieser  Mei- 
nung entgegenzutreten. 

Jede  menschliche  Denk-  und  Gefühlsweise  muß  irgendwie 
nach  psychologischen  Gesetzen  entstanden  sein.  Der  Hinweis 
auf  diese  Entstehung  wird  keinem  Verständigen  bei  Fragen  der 
Überzeugung  als  ein  Gegenargument  erscheinen.  Sowie  eine 
theoretische  Weltanschauung,  wenn  sie  sich  nur  als  äußerlich 
erfahrungsgemäß  und  innerlich  widerspruchslos  erweist,  da- 
durch nichts  von  ihrem  Geltungsanspruch  verliert,  daß  Art  und 
Weise  ihres  geschichtlichen  Werdens  nachzuweisen  sind,  so 
kann  auch  einer  praktischen  Lebensauffassung  aus  der  Darlegung 

3* 


36 


ZWEITE  VORLESUNG 


ihrer  historischen  Entwicklung  kein  ungünstiges  Vorurteil  er- 
wachsen. Wenn  wir  trotzdem  so  empfinden,  als  müßte  eine  end- 
gültige Anschauungs-  oder  Wertungsweise  auch  fertig  und  un- 
bedingt, losgelöst  aus  jedem  empirischen  Zusammenhange  unter 
uns  erscheinen,  so  kann  diese  Neigung  wohl  nur  als  eine  ver- 
spätete Nachwirkung  von  Offenbarungsvorstellungen  verstanden 
werden.  Denn  nur  im  Rahmen  eines  positiv-dogmatischen  Welt- 
bildes könnte  ein  derart  unbedingtes  Auftreten  einer  absoluten 
Wahrheit  erwartet  werden.  Dazu  kommt  in  unserem  Falle,  daß 
die  Ausbreitung  einer  Denk-  oder  Gefühlsweise  von  einem  klei- 
neren auf  einen  größeren  Kreis,  und  ebenso  ihre  allmähliche 
Verallgemeinerung  und  Verfeinerung  als  die  gewöhnlichste  und 
natürlichste  Form  geistiger  Entwicklung  gelten  muß.  Jeder 
neue  Gedanke  und  ebenso  jeder  neue  Wert  erscheint  zunächst 
in  subjektiver  Bedingtheit  und  sozialer  Beschränktheit,  um  beide 
erst  allmählich  abzustreifen.  Wenn  niemand  die  Analyse  der 
psychophysischen  Systeme  „Martin  Luther"  oder  „Karl  Marx" 
als  Argument  gegen  Protestantismus  oder  Sozialdemokratie  be- 
nutzen wird,  und  wenn  ebensowenig  irgendwer  gegen  die  Idee 
des  konstitutionellen  Königtums  anführen  wird,  daß  sie  aus  dem 
Standesinteresse  englischer  und  sizilischer  Barone  geboren 
wurde,  so  muß  dieselbe  Vergünstigung  offenbar  auch  dem  ethi- 
schen Ideal  der  griechischen  Philosophen  zugebilligt  werden. 

Doch  es  ist  Zeit,  von  diesen  allgemeinen  Erwägungen  zu  kon- 
kreteren Darlegungen  überzugehen.  Und  zwar  denke  ich, 
es  wird  zweckmäßig  sein,  Sie  zunächst  über  den  Entwicklungs- 
gang der  philosophischen  Ethik  der  Alten  vorgreifend  in  den 
allgemeinsten  Umrissen  zu  orientieren.  Indem  ich  mich  auf 
diese  Aufgabe  einschränke  und  jene  philosophischen  Erschei- 
nungen, die  mit  der  Ethik  nicht  unmittelbar  zusammenhängen, 
beiseite  lasse,  lenke  ich  sofort  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  eine 
knappe  schematische  Tabelle,  und  erläutere  dieselbe  durch  die 
allernotwendigsten  Bemerkungen. 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  37 
Griechische  Ethik 


Pythagoras 


Heraklit 


Empedokles        Anaxagoras  Demokrit 
Sophisten 
Sokrates 


Kyniker  Kyrenaiker  TMegariker"]  Akademiker  Xenophon-> 
(Anti-    (Aristipp)  [_  (Euklid)  J  (Piaton) 
sthenes) 

I  I 
Stoiker  Epikureer    Skeptiker  /  Peripatetiker 
(Zenon)    (Epikur)     (Pyrrhon)  /  (Aristoteles) 


Neuplatoniker 
(Plotin) 


Sie  ersehen  aus  dieser  Tabelle  zunächst,  daß  ich  die  beiden 
Strömungen,  welche  die  eigentlich  philosophische  Ethik  ein- 
rahmen, verschieden  behandeln  mußte.  Die  Ethik  des  Maßes, 
der  Harmonie,  der  Selbstbeherrschung  hat  keinen  besonderen 
Namen:  sie  tritt  uns  bei  zahlreichen  nicht-philosophischen  Auto- 
ren entgegen;  wir  kennen  sie  aus  den  Schriften  der  älteren  Phi- 
losophen als  die  herrschende  gemeine  Meinung;  wir  sehen, 
daß  die  philosophische  Ethik  bei  Demokrit,  bei  Xenophon, 


38 


ZWEITE  VORLESUNG 


bei  Aristoteles  sich  beinahe  in  sie  auflöst;  aber  einen  beson- 
deren, schulmäßigen  Bestand  hat  sie  niemals  gehabt.  Dagegen 
waren  es  die  orphisch-pythagoreischen  Mysterien,  d.  h. 
Kulte,  die  ihren  Ursprung  auf  den  mythischen  Sänger  Orpheus 
zurückführten,  und  mit  der  Lehre  des  Pythagoras  in  Verbin- 
dung traten,  die  viele  Jahrhunderte  lang  das  Ideal  der  Heiligkeit 
bewahrt  und  gepflegt  haben. 

Sie  sehen  ferner,  daß  sich  die  ganze  Entwicklung  der  griechi- 
schen Ethik  in  vier  Perioden  teilen  läßt. 

Die  erste  reicht  vom  sechsten  bis  gegen  den  Ausgang  des 
fünften  vorchristlichen  Jahrhunderts.  Sie  kann  als  die  Periode 
der  Vorläufer  bezeichnet  werden.  Wir  finden  in  ihr  einer- 
seits mehr  oder  weniger  aphoristische  Bemerkungen  ethischen 
Inhalts,  andererseits  Ansätze  zu  einer  allgemeineren,  ethisch- 
politischen Spekulation:  jenes  bei  Pythagoras,  Empedokles, 
Heraklit,Anaxagoras,Demokrit,  dieses  bei  den  sogenann- 
ten Sophisten. 

Die  zweite  Periode  ist  die  Blütezeit  ethischen  Denkens. 
Sie  umfaßt  das  Wirken  des  Sokrates  und  die  sieben  großen 
Systeme  der  Sokratiker.  Diese  lassen  sich  im  wesentlichen  in 
zwei  Gruppen  einordnen,  die  einem  Unterschiede  der  Genera- 
tionen entsprechen.  Die  zweite  Gruppe  zählt  vier  Systeme, 
deren  jedes  sich  an  ein  System  der  ersten  Gruppe  besonders 
enge  anschließt.  Auf  Piaton  und  seine  Schule,  die  Akademie, 
folgt  Aristoteles  und  sein  Anhang,  der  Peripatos.  Auf  Anti- 
sthenes  und  die  Kyniker  folgt  Zenon  und  die  Stoa.  Auf  Ari- 
stipp  und  die  kyrenaische  Schule  folgt  Epikur.  Und  in  dem- 
selben Sinne  könnte  man  vielleicht  sagen,  daß  auf  Euklid  und 
die  Megariker  Pyrrhon  und  die  Skeptiker  gefolgt  seien,  wenn 
uns  nicht  über  die  Ethik  des  Euklid  sowenig  bekannt  wäre, 
daß  deren  Darstellung  unmöglich  wird.  Diese  sieben  Systeme 
sind  bald  nach  dem  Jahre  300  v.  Chr.  im  großen  und  ganzen 
fertig. 

Es  folgt  die  dritte  Periode,  die  wir  etwa  bis  ins  erste  Jahr- 
hundert v.  Chr.  rechnen  können.  Nennen  wir  sie  kurz:  die 


DIE  LEBENSAUFFASSUNG  DER  GRIECHEN  39 


Periode  der  Epigonen.  Die  kynische  und  die  kyrenaische 
Richtung  erlöschen.  Die  peripatetische  tritt  an  Bedeutung  zurück. 
Die  Skeptiker  setzen  sich  in  den  Besitz  der  platonischen  Lehr- 
anstalt, um  unter  Arkesilaos  und  Karneades  (als  „zweite  und 
dritte  Akademie")  zu  blühen,  bis  unter  dem  Einflüsse  stoischer 
Lehren  erst  durch  Philon  v.  Larissa,  dann  durch  Antiochos 
v.  Askalon  („vierte  und  fünfte  Akademie")  ein  reformierter 
Piatonismus  zur  Herrschaft  gelangt,  den  man  mit  mehr  oder 
weniger  Recht  als  Eklektizismus  bezeichnet,  was  eine  vermittelnde 
Anlehnung  an  die  übrigen  Schulen  bedeuten  soll.  Die  Lehre  der 
Stoa  wird  zunächst  durch  Chrysipp  scholastisch  ausgebaut  und 
abgeschlossen,  und  später  bringt  die  „mittlere  Stoa"  in  Panai- 
t  i  o  s  und  Poseidonios  zwei  bekannte  Gelehrte  hervor.  Endlich 
entstehen,  in  wahrhaft  eklektischer  Anlehnung  an  Antiochos 
und  die  Stoa,  die  Kompilationen  des  Cicero. 

Die  vierte  Periode  bedeutet  den  endgültigen  Sieg  der  or- 
phisch-pythagoreischen  Unterströmung.  Während  der 
Epikureismus  in  seiner  starren  Unwandelbarkeit  verharrt,  die 
Skepsis  eine  nicht  unwichtige  Neubelebung  erfährt,  und  nament- 
lich die  sogenannte  „jüngere  Stoa"  in  Seneca,  Epiktet  und 
Kaiser  MarcAurel  eine  bedeutsame  Nachblüte  hervorbringt,  er- 
hebt sich,  als  neues  Element,  zunächst  in  noch  nicht  völlig  auf- 
geklärterWeise  derNeupythagoreismus.  Er  erhält  einenBundes- 
genossen  in  der  jüdisch-griechischen  Spekulation  des  Philon 
von  Alexandrien,  und  einen  zweiten  in  dem  wiederauflebenden 
Studium  des  Piaton  (Plutarch),  und  so  bereitet  sich  der  Ab- 
schluß der  antiken  Philosophie  vor:  das  System  des  Neuplato- 
n  i s m u s ,  das,  von  P 1  o  t i  n  zu  Anfang  des  dritten  nachchristlichen 
Jahrhunderts  begründet,  von  Porphyrios  und  Jamblichos, 
später  von  Proklos  weiter  ausgestaltet,  das  ganze  nichtchrist- 
liche Denken  in  sich  aufnimmt,  und  sich  erhält,  bis  im  Jahre 
529  n.  Chr.  Kaiser  Justinian  die  letzte  Philosophenschule,  die 
Akademie  zu  Athen,  schließt  und  auflöst. 

Es  würde  dem  Zwecke  dieser  Vorlesungen  nicht  entsprechen, 
wollte  ich  Ihnen  im  folgenden  eine  gleichmäßige  Darstellung 


40 


ZWEITE  VORLESUNG 


dieser  ganzen  Entwicklung  geben.  Auf  die  vorsokratische  Zeit 
werden  wir  nur  zu  Anfang  einen  flüchtigen  Blick  werfen;  ebenso 
zum  Schlüsse  auf  die  Periode  der  Epigonen.  Die  vierte  Periode 
wird  unsere  Aufmerksamkeit  nur  insofern  fesseln,  als  einerseits 
die  Schriften  der  jüngeren  Stoa  die  Gedanken  dieser  Schule 
in  mancher  Beziehung  voller  und  klarer  zum  Ausdrucke  bringen 
(wenigstens  für  uns,  denen  die  Werke  der  Schulgründer  nur 
bruchstückweise  erhalten  sind),  und  als  andererseits  auch  noch 
der  Neuplatonismus  den  gemeinsamen  Grundgedanken  der  an- 
tiken Ethiker  von  einer  besonderen  und  wertvollen  Seite  dar- 
stellt. Unser  Hauptinteresse  aber  wird  sich  auf  die  zweite 
Periode  konzentrieren.  An  der  Persönlichkeit  des  Sokrates, 
und  zum  Teil  auch  an  der  seiner  unmittelbaren  und  mittelbaren 
Schüler,  vor  allem  an  Aristipp  und  Diogenes  werden  wir  das 
Ideal  der  inneren  Freiheit  studieren,  und  gleichzeitig  sehen,  wie 
ihrer  aller  Lehren  nur  verschiedene  Brechungen  des  einen 
Lichtes,  verschiedene  Wege  zu  dem  einen  Ziele  sind.  Und  wenn 
ich  Ihnen  diese  Lehren  so  darlegen  und  jene  Männer  so  dar- 
stellen kann,  wie  ich  möchte,  dann,  hoffe  ich,  werden  Sie  zum 
Schlüsse  geneigt  sein,  zwei  Aussprüche  sich  anzueignen,  die 
Lukian1  von  dem  späten  Kyniker  Demonax  berichtet,  und  die 
man  diesen  Vorlesungen  als  Motto  vorsetzen  könnte  —  von 
jenem  Demonax,  der  wohl  als  „Eklektiker"  gilt,  dessen  Eklek- 
tizismus aber  in  der  ebenso  seltenen  als  wertvollen  Gabe  be- 
stand, hinter  aller  Verschiedenheit  der  Worte  die  Einheit  der 
Gesinnung  hervorzuspüren.  Von  ihm  nämlich  wird  uns  erzählt: 
„Als  ihn  einer  fragte,  welches  ihm  die  richtige  Begriffsbestim- 
mung des  Glückes  zu  sein  scheine,  sagte  er:  Glücklich  ist  allein 
der  Freie  ....  Damit  meine  ich  aber  den,  der  nichts  hofft  und 
nichts  fürchtet."  Und  „als  er  einst  gefragt  wurde,  welcher  von 
den  Philosophen  ihm  gefiele,  sagte  er:  Alle  sind  sie  erstaunlich; 
ich  aber  verehre  Sokrates,  bewundere  Diogenes  und  liebe 
Aristipp." 


i)  Demonax  20  (p.  383)  und  62  (p.  394). 


EINLEITUNG  IN  DIE  SOKRATISCHE 
LEBENSAUFFASSUNG 


DRITTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 


filllll 


IR  haben  das  letztemal  die  geschichtlichen 
und  gesellschaftlichen  Bedingungen  kennen 
gelernt,  unter  denen  die  philosophische 
Ethik  der  Griechen  erwachsen  ist,  und  wir 
haben  uns  über  deren  Entwicklung  eine  all- 
gemeinste Übersicht  zu  verschaffen  gesucht. 
Es  ist  nunmehr  an  der  Zeit,  ins  einzelne  zu 
gehen.  Und  da  genügt  denn  für  unseren  Zweck  weniges  zur 
Charakterisierung  der  vorsokratischen  Denker. 

Von  Pythagoras  wissen  wir,  wie  überhaupt,  so  auch  hin- 
sichtlich seiner  ethischen  Ansichten  so  gut  wie  nichts.  Fast  der 
einzige  Satz,  der  uns  in  dieser  Beziehung  überliefert  ist1,  besagt, 
die  Tugend  sei  eine  Harmonie.  Dies  könnte  uns  zu  der  Ver- 
mutung führen,  es  liege  hier  eine  erste  wissenschaftliche  For- 
mulierung der  patrizischen  Lebensauffassung,  der  Ethik  des 
Maßes,  vor.  Und  eine  solche  Vermutung  könnte  eine  weitere 
Stütze  zu  empfangen  scheinen  durch  den  Umstand,  daß  der 
Pythagoreerbund  in  Unteritalien  ein  entschieden  aristokrati- 
sches Gepräge  aufwies.  Allein  dieser  Auffassung  stehen  unüber- 
windliche Hindernisse  entgegen:  einmal  die  Tatsache,  daß  in 
diesem  Bunde  zweifellos  gewisse  asketische  Enthaltungen  vor- 
geschrieben waren;  sodann  die  Erwägung,  daß  mit  der  pythago- 
reischen Lehre  von  der  Seelenwanderung,  ebenso  wie  mit  allen 

1)  Diog.  Laert.  VIII.  33. 


42 


DRITTE  VORLESUNG 


anderen  Formen  dieser  Lehre,  fast  sicherlich  eine  Unterschei- 
dung des  jenseitigen  Loses  der  Guten  und  Schlechten  verbunden 
war,  was  wiederum  eine  Betonung  der  Begriffe  Schuld  und  Ver- 
dienst voraussetzt;  endlich  das  unbestrittene  Faktum,  daß  die 
pythagoreischen  Mysterien  mit  den  orphischen  nahe  Berüh- 
rungspunkte hatten,  und  daß  überhaupt  der  geschichtliche  Ein- 
fluß des  Pythagoreismus,  sowohl  bei  Pia  ton  als  später  im  Neu- 
pythagoreismus,  sich  ausschließlich  auf  Seiten  der  Heiligkeits- 
ethik geltend  macht. 

In  ungemein  charakteristischer  Gestalt  wird  diese  orphisch- 
pythagoreische  Richtung  des  Empfindens  und  Denkens  uns  dar- 
gestellt durch  jene  spärlichen  Verse,  die  uns  von  dem  „Sühne- 
lied" des  Empedokles  erhalten  sind:  sie  hat  hier  einen  er- 
staunlich folgerechten  Intellekt  und  ein  wunderbar  mächtiges 
Temperament  in  ihren  Dienst  gezwungen,  und  so  ein  Produkt 
hervorgebracht,  das  durch  den  Glanz  seiner  Form  und  die 
Leidenschaft  seines  Gehaltes  auch  denjenigen  hinreißt  und 
erschüttert,  den  weder  ihre  dogmatischen  Voraussetzungen, 
noch  das  Ethos  ihrer  Lebensauffassung  anzuziehen  vermögen. 
Gleich  seine  Auffassung  der  göttlichen  Dinge  zeigt  uns  den 
Dichter  als  rechten  Theologen.  Damit  meine  ich  nicht  den 
Inhalt  seiner  Götterlehre;  denn  wenn  er  gegen  die  anthropo- 
morphen  Auffassungen  des  Göttlichen  eifert,  und  von  Gott 
sagt 1  : 

„Aber  nicht  schmückt  ein  Haupt  denBau  der  menschlichen  Glieder, 
Noch  auch  eilen  vom  Rücken  herab  die  paarigen  Schwingen; 
Hat  weder  Fuß  noch  bewegliche  Kniee,  kein  zottiges  Schamglied: 
—  Heiliger,  unaussprechlicher  Geist,  das  ist  er  in  Wahrheit, 
Der  das  Ganze  der  Welt  durchstürmt  mit  raschen  Gedanken", 

—  so  ist  dies  weder  in  unserem  Sinne  charakteristisch  noch  ori- 
ginell, sondern  kaum  mehr  als  eine  Wiederholung  der  ähnlichen 
Gedanken  des  alten  Xenophanes3.  Umso  beachtenswerter 
aber  ist  die  Art,  wie  er  von  diesen  Dingen  redet2: 

*)  Frg.  134  (Diels).  2)  Frg.  132.  3)  Denn  dieser  hatte  lange  vorher  schon 
dem  Gedanken,  wie  thöricht  es  sei,  wenn  der  Mensch  die  Gottheit  gerade 


VORSOKRATIKER 


43 


„Selig,  wer  einen  Schatz  sich  von  göttlichem  Wissen  gesammelt; 
Elend,  wem  über  die  Götter  nur  dunkle  Vermutung  zuteil  ward"  — 

in  diesen  Versen  spricht  sich  in  größter  Konzentration  die  große 
Fälschung  aus,  die  zu  allen  Zeiten  die  Theologie  an  der  Religion 
verübt  hat:  die  grundverkehrte  Annahme  nämlich,  als  wäre  es 
ernstlich  möglich,  daß  der  Wert  und  das  Schicksal  eines  Men- 
schen abhängen  könnte  von  der  zufälligen  Beschaffenheit  seiner 
Meinungen  über  irgendwelche  theoretische  Fragen.  Ganz 
dieser  Geistesart  entspricht  denn  auch  der  Eifer,  mit  dem  er 

in  seiner  eigenen  Gestalt  vorstelle,  die  außerordentlich  scharfe  Wendung 
(Frg.  15  Diels)  gegeben: 

„Aber  wenn  Hände  die  Rinder  und  Pferde  und  Löwen  besäßen, 
Und  wie  die  Menschen  zu  malen  und  Werke  zu  bilden  verstünden, 
Alsdann  würden  die  Pferde  den  Pferden,  die  Rinder  den  Rindern 
Ahnliche  Götter-Gestalten  und  -Leiber  malen  und  bilden, 
Ganz  nach  der  eigenen  Form,  wie  ein  jegliches  selber  beschaffen." 

Vielmehr  (Frg.  23)  ist: 

„Ein  Gott,  unter  den  Göttern  und  unter  den  Menschen  der  höchste, 
Nicht  an  Gestalt  den  Sterblichen  ähnlich,  und  nicht  an  Gesinnung." 

Und  von  diesem  heißt  es  (Frg.  26)  ganz  wie  bei  Empedokles: 

„Immer  bleibt  er  am  selbigen  Ort,  niemals  sich  bewegend, 

Denn  es  geziemt  ihm  nicht,  sich  von  hier  nach  dort  zu  begeben," 

sondern  (Frg.  25): 

„Mühlos,  nur  durch  die  Kraft  seines  Geists,  vollendet  er  Alles." 

Auch  den  folgenden  Chorgesang  aus  den  „Schutzflehenden"  des  Aischy- 
los  (Suppl.  v.  78)  mag  man  hiezu  vergleichen: 


„Alles  wende  zum  Guten  ein  Gott! 
Aber  die  Plane  des  Zeus 
Sind  nicht  leicht  zu  erspähen: 
Dicht  verwachsen  dem  Blick, 
Tiefbeschattet  sind  die 
Unaussprechlichen  Herzenspfade. 


Aber  fest,  ohne  Schwanken  und  Fall'n, 
Steht,  was  zur  Tat  durch  des  Zeus 
Werdewort  sich  vollendet: 
Allwärts  flammt  es  empor 
Vor  der  Menschen  Blicken, 
Selbst  im  Dunkel  des  blinden  Schick- 
sals. 


Er  stößt  den  Frevler  von  der  Hoffnung  hoch 

Ragendem        Turm  hinab; 

Doch  nie        wappnet  er  mit  Kraft  sich: 

Mühelos  ist      m  göttliches  Tun. 

Gleichsam  im  Äther  thront  sein  Geist: 

Was  er  vollbringt,  das  wirket  er 

Nieder  aus  Himmelshöhen." 


44 


DRITTE  VORLESUNG 


die  religiöse  Erkenntnis  allem  Erfahrungswissen  entgegensetzt, 
indem  er  von  der  Gottheit  sagt,  sie  sei1 

„Unnahbar:  wir  können  sie  nicht  mit  den  Augen  erreichen, 
Oder  mit  Händen  fassen;  und  dies  nur  wäre  der  breite 
Fahrweg,  den  die  Gewißheit  ins  Herz  der  Menschen  zu  ziehn  pflegt. " 

Und  der  rechte  theologische  Dogmatiker  redet  zu  uns  aus  den 
prächtigen  Versen2: 

„Freunde,  ich  zweifle  nicht:  den  Worten,  die  ich  verkünde, 
Wohnet  die  Wahrheit  ein ;  doch  beschwerlich  dünkt  es  die  Menschen, 
Dringet  je  an  ihr  Herz  des  Glaubens  stürmischer  Anprall." 

Wohlbekannte  Stimmungsbrücken  führen  von  hier  aus  hin- 
über zu  dem  Gedanken  an  ein  göttliches  Sittengesetz3: 

„Aber  das  Weltengesetz  erstreckt  durch  die  Weite  des  Äthers 
Sich  als  ein  lückenloses  Gerüst  im  unendlichen  Lichtglanz"; 

und  von  hier  ist  nur  noch  ein  Schritt  zu  dem  Begriffspaar  Ver- 
sündigung und  Entsühnung;  dieses  aber  bezeichnet  die  Stelle,  an 
der  das  Pathos  der  empedokleischen  Lebensauffassung  zuerst 
mit  voller  Wucht  hervorbricht.  Denn  von  schwerer  Schuld 
fühlt  sich  der  Dichter  belastet,  und  als  eine  ebenso  schwere, 
dieser  Schuld  angemessene  Strafe  erscheint  ihm  sein  irdisches 
Leben.  Denn4: 

„Dies  ist  der  Spruch  des  Schicksals,  ein  unvergänglicher,  alter 
Götterbeschluß,  drauf  breit  das  Siegel  des  Eides  gedrückt  ist  : 
Wer  (von  den  Geistern,  die  langdauerndes  Leben  erlosten) 
Sich  versündigt,  mit  Mord  die  eigenen  Glieder  befleckend, 
Oder  im  Zwist  sich  vergeht,  meineidige  Rede  beschwörend; 
Irrt  dreimal  zehntausend  Jahre,  den  Seligen  ferne, 
Wird  geboren  in  allen  Gestalten  sterblicher  Wesen, 
Wechselnd  im  Laufe  der  Zeit  die  unleidlichen  Stätten  des  Lebens. 
Denn  ihn  jagt  der  Äther  ins  Meer,  das  Meer  aber  speit  ihn 
Aus  ans  Land,  doch  die  Erde  empor  in  den  Lichtglanz  der  Sonne, 
Die  aber  schleudert  ihn  wieder  zurück  in  die  Wirbel  des  Äthers: 
So  ist  bei  jedem  zu  Gast  er,  und  ist  doch  allen  zum  Abscheu. 
Solch  ein  Geist  bin  auch  ich  nun,  ein  gottfern  irrender  Flüchtling, 
Da  ich  dem  rasenden  Zwiste  vertraut." 


1)  Frg.  133.  2)  Frg.  114.  3)  Frg.  135.  4)  Frg.  115. 


VORSOKRATIKER 


45 


Als  Sündenfall  aber  empfindet  er,  mit  der  ganzen  Heiligkeits- 
ethik, die  irdische  Geburt,  und  schmerzvoll  ruft  er  aus1: 

„Oh,  aus  welcher  Höhe,  aus  welcher  Seligkeitsfülle 

Stürzt'  ich  zur  Erde  herab,  hier  unter  den  Menschen  zu  wandeln!* 

—  weshalb  er  denn  auch  gleich  als  neugeborenes  Kind  den2: 

„Unvertrauten  Ort  mit  Weinen  und  Jammern  begrüßte", 

die  Erde  nämlich3: 

„die  unerfreuliche  Stätte, 
Wo  der  Mord  und  der  Groll  und  die  Scharen  der  anderen  Keren, 
Dörrendes  Siechtum,  Verwesung  und  andere  Werke  des  Todes 
Auf  der  Verblendungsheide  in  Dunkelheit  sich  bewegen." 

„Weh4  über  dich,  elendes  Geschlecht  unseliger  Menschen, 
Die  ihr  aus  solchem  Hader  und  solchem  Jammer  entstandet." 

„Darum5  wahrlich:  solang  ihr  in  schweren  Sünden  euch  wälzet, 
Werdet  ihr  nie  von  dem  schrecklichen  Weh  das  Gemüt  euch  er- 
leichtern." 

Worin  aber  bestehen  denn  nun  im  Grunde  diese  „schweren 
Sünden?"  Hierüber  hat  Empedokles  seine  eigene,  uns  zu- 
nächst höchst  barock  anmutende  Meinung,  die  uns  zugleich  die 
eigentliche  Dogmatik  des  Theologen  erschließt.  Die  Fleisch- 
nahrung nämlich  ist  es,  die  uns  immerfort  ohne  unser  Ver- 
muten mit  schwerster  Blutschuld  belädt,  da  den  getöteten  Tieren 
menschliche  Seelen  einwohnen,  die  auf  ihrer  Wanderung  nach 
dem  Tode  dahin  gelangten.  Denn  diese  Seelen  führt  eine  Gott- 
heit6: 

„Sie  umkleidend  mit  dem  Gewand  fremdartiger  Leiber." 
Dabei  nehmen  sie  alle  möglichen  Lebensformen  an,  so  z.  B. 
werden  gewisse  unter  ihnen7: 

„Unter  den  Tieren  zum  bodenschläfigen  Löwen  der  Berge, 
Oder  zum  Lorbeer  unter  den  wohlbefiederten  Bäumen." 

So  ist  es  ja  auch  unserem  Dichter  ergangen,  der  von  sich 
selbst  erzählt8: 

*)  Frg.  119.  2)  Frg.  118.  3)  Frg.  121.  *)  Frg.  124.  5)  Frg.  145.  6)  Frg.  126. 
7)  Frg.  127.  8)  Frg.  117. 


46 


DRITTE  VORLESUNG 


„Einst  war  Knabe  ich  schon  und  Mädchen,  war  Strauch  und  war 

Vogel, 

War  auch  der  stumme  Fisch,  der  aus  den  Fluten  emportaucht." 

Dadurch  aber  geschieht  es,  daß  uns  fortwährend  unerkannt, 
in  Tiergestalt,  unsere  Nächsten  umgeben,  und  Bilder  des  Ent- 
setzens enthüllen  sich  der  Phantasie  des  Dichters,  die  hier  förm- 
lich in  Grauen  schwelgt1: 

„Aber  in  fremder  Gestalt  —  und  er  betet  noch  in  seiner  Torheit  — 
Schlachtet  der  Vater  den  eigenen  Sohn;  doch  es  stürzen  die  Opfer 
Winselnd  zum  Opferer  hin;  doch  er,  taub  gegen  ihr  Schreien, 
Schlachtet  sie  doch,  und  bereitet  im  Haus  sich  die  gräßliche  Mahlzeit. 
Ebenso  greifen:  der  Sohn  den  Vater,  die  Kinder  die  Mutter, 
Reißen  das  Herz  ihr  heraus,  und  verzehren  die  teueren  Glieder." 

Hier  ist  ein  Punkt,  wo  die  Exaltation  des  Moralreformers 
kaum  noch  zu  unterscheiden  ist  von  der  Monomanie  des  Geistes- 
kranken. Und  der  Dichter  fährt  fort2: 

„O,  daß  nicht  vorher  schon  ein  grausamer  Tag  mich  vernichtet, 
Eh'  ich  den  Frevel  des  Fraßes  mit  meinen  Lippen  vollführte!" 

Aber  wie  ihm,  so  geht  es  allen.  Und  er  ruft  ihnen  zu3: 

„Laßt  ihr  nicht  ab  vom  kreischenden  Morden?  Seht  ihr  denn  noch 

nicht, 

Wie  ihr  einander  zerfleischt  im  Leichtsinn  eures  Gemütes?" 

Allein  —  und  hier  wird  das  superstitiöse  Element  des  ganzen 
Gedankenganges  so  kraß,  daß  wir  uns  mitten  in  der  Erschütte- 
rung eines  Lächelns  kaum  enthalten  können  —  nicht  nur  Tiere, 
auch  manche  Pflanzen  bergen  ja  solche  Gefahren.  Darum  er- 
geht die  Warnung4: 

„Elende,  ganz  elende,  berühret  nimmer  die  Bohnen!" 

„Und5  enthaltet  euch  gänzlich  der  heiligen  Blätter  des  Lorbeers!" 

Diese  Lage  der  Menschheit  aber  verkündet  der  Dichter  nicht 
aus  eigener  Einsicht,  sondern  ein  anderer  hat  sie  erkannt,  der 
große  Pythagoras.  Ihn  preist  er  deshalb  aus  vollstem  Herzen 6 : 

„Damals  lebte  ein  Mann  von  überschwenglichem  Wissen, 
Der  sich  erworben  hatte  den  größten  Reichtum  des  Geistes, 


i)  Frg.  137.  2)  Frg.  139.  3)  Frg.  136.  4)  Frg.  141.  5)  Frg.  140.  6)  Frg.  129. 


VORSOKRATIKER 


47 


Und  vor  Allen  ein  Meister  in  jeder  Weisheit  und  Kunst  war. 
Denn,  sobald  er  nur  mit  all  seinen  Sinnen  sich  regte, 
Da  erkannt*  er  von  allen  Dingen  ein  jegliches  leichtlich, 
Selbst  in  die  Ferne,  auf  zehn  oder  zwanzig  Geschlechter  der 

Menschen." 

Dieser  also  hat  die  ungeheure  Verschuldung  erkannt  und 
auch  den  Weg  der  Entsühnung  gewiesen.  Denn  nichts  anderes 
tut  not,  als  abzulassen  vom  Morden.  Dann  wird  auch  den  Seelen 
in  ihren  späteren  irdischen  Verkörperungen  ein  besseres  Los 
fallen.  Stufenweise  werden  sie  sich  reinigen  und  erheben1: 

„Endlich  aber  werden  den  erdbewohnenden  Menschen 

Sie  zu  Sehern  und  Hymnensängern  und  Ärzten  und  Fürsten, 

Sprießen  dann  zu  Göttern  empor,  und  schwelgen  in  Ehren." 

„Haus-  und  Tischgenossen2  der  andern  Unsterblichen  sind  sie 
Ledig  des  menschlichen  Wehs,  dem  sie  für  immer  entronnen." 

—  bezeichnend  genug,  wie  der  Zauberpriester  auf  der  einen 
Seite  die  höchste  Stufe  der  Menschheit  darstellt,  und  auf  der 
anderen  selbst  schon  den  Keim  der  Gottheit  in  sich  trägt!  An 
diesem  Grenzpunkte  meint  nun  der  Dichter  für  seine  Person 
schon  zu  stehen.  Denn  weit  emporzuragen  über  das  gemeine 
Menschenmaß  ist  für  einen  solchen  Wundermann  etwas  Selbst- 
verständliches, ja  Geringes 3 : 

„Doch,  was  rühm'  ich  mich  deß,  als  wär's  was  besonderes,  daß  ich 
Mehr  bin  als  die,  demVerderben  geweihten,  sterblichen  Menschen?  " 

Und  also  redet  er  deshalb  seine  Freunde  an,  die  in  Agrigent, 
seiner  Heimat,  wohnen4: 

„An  des  lichten  Akragas  Ufer,  am  Fuße  des  Burgbergs, 
In  der  gewaltigen  Stadt,  um  treffliche  Werke  sich  mühend, 
Aller  Schlechtigkeit  bar,  der  Fremden  gastliche  Zuflucht: 
Freunde,  ich  grüß'  euch,  doch  nicht  mehr  als  Mensch;  als  unsterb- 
liche Gottheit 

Ehrt  mich  auf  meinem  Weg  nach  Verdienst  die  Schar  der  Begleiter: 
Heilige  Binden  umwinden  mein  Haupt,  und  schwellende  Kränze. 
Zieh'  ich  mit  diesem  Gefolge  nun  ein  in  die  blühenden  Städte, 
Da  verehren  mich  Männer  und  Weiber ;  aber  es  folgen 


*)  Frg.  146.  2)  Frg.  147.  3)  prg.  n3.  4)  Frg.  112. 


48 


DRITTE  VORLESUNG 


Auch  Unzählige  mir,  den  Weg  des  Heils  zu  erforschen : 
Um  Orakel  befragen  die  einen  mich,  andere  wieder 
Um  den  heilenden  Spruch  für  alle  Arten  von  Krankheit; 
Denn  es  zerwühlt  sie  allzulang  schon  schreckliches  Siechtum." 

Doch  nicht  nur  für  sich  selbst,  für  die  ganze  Menschheit  er- 
hofft und  verheißt  er  (wie  sich's  für  den  Theurgen  gebührt)  auf 
diesem  Wege  die  Erlösung:  die  Wiederkehr  jener  besseren 
Zeiten,  die  einst  schon  die  Menschen  gesehen1: 

„Jene  kannten  den  Kriegsgott  nicht,  nicht  den  Gott  des  Getümmels, 
Kannten  nicht  Zeus,  den  König,  nicht  Kronos  und  nicht  Poseidon, 
Sondern  es  herrschte  Kypris  allein  (die  Göttin  der  Liebe). 
Diese  stimmten  sie  gnädig  mit  wohlgefälligen  Gaben, 
Künstlich  gefertigten  Bildern  und  köstlich  duftenden  Salben; 
Brachten  lautere  Myrrhe  dar,  und  es  qualmte  der  Weihrauch; 
Schütteten  auch  zur  Erde  die  Güsse  goldigen  Honigs. 
Aber  nie  troff  der  Altar  von  der  Stiere  lauterem  Mordblut, 
Sondern  dieses  galt  als  der  größte  der  Frevel  den  Menschen : 
Auszutilgen  ein  Leben,  und  zuckende  Glieder  zu  essen." 

„Zahm2  war  alles:  Vögel  und  Tiere  hingen  den  Menschen 
Freundlich  und  traulich  an,  und  es  brannte  die  Flamme  der  Liebe." 

Geehrte  Zuhörer!  Ich  habe  Sie  lange  genug  bei  dieser  wunder- 
lichen Erscheinung  festgehalten,  aber  hoffentlich  nicht  zu  lange. 
Denn  sie  bringt  uns  alle  Züge  dessen  lebendig  nahe,  was  wir  als 
die  orphische  Lebensauffassung  kennen  gelernt  haben  und  was 
uns  in  seinen  Wirkungen  noch  oft  begegnen  wird:  bei  Piaton, 
bei  den  Neupythagoreern,  bei  Plotin.  Alle  charakteristischen 
Momente  dieser  Richtung  des  griechischen  (und  nicht  nur 
griechischen)  Empfindens  sind  hier  beisammen:  „Altruis- 
mus" und  „Gesetzesfurcht",  Schuldbewußtsein  und  Entsüh- 
nungsverlangen,  asketische  Enthaltung  und  krasse  Superstition, 
und  zuletzt  die  Erlösung  durch  den  priesterlichen  „Seher  und 
Hymnensänger",  den  selbst  schon  halb  göttlichen  Theurgen. 
All  diese  Elemente  haben  (in  Hellas  jedenfalls)  ihre  Verbin- 
dung stets  bewahrt;  und  es  mag  nützlich  gewesen  sein,  diesen 


1)  Frg.  128.  2)  Frg.  130. 


VORSOKRATIKER 


49 


Gefühls-  und  Gedankenkreis  gleich  hier  in  einer  seiner  ältesten 
und  verhältnismäßig  glücklichsten  Verkörperungen  uns  einzu- 
prägen. 

Dagegen  läßt  sich  zwar  aus  den  ethischen  Fragmenten  des 
Heraklit  eine  deutliche  und  zureichende  Vorstellung  von  seiner 
Lebensauffassung  kaum  gewinnen,  immerhin  aber  tritt  uns  in 
ihnen  ein  durchaus  anderer  Geist  entgegen,  und  es  scheint  mir, 
daß  sich  hier  das  erste  Aufleuchten  des  Ideals  der  inneren  Frei- 
heit wenigstens  ahnen  läßt.  Nicht  darauf  freilich  ist  Gewicht 
zu  legen,  daß  hier  der  Spielbegriff  nicht  ohne  ethische  Bedeut- 
samkeit auftritt;  denn  die  eine  Äußerung1:  „Die  Welt  ist  ein 
spielender,  brettspielender  Knabe"  verliert  viel  von  ihrer  Be- 
deutung durch  die  andere,  erläuternde2:  „Die  schönste  Welt- 
ordnung ist  wie  ein  aufs  Geratewohl  hingeschütteter  Kehricht- 
haufen."3 Auch  wenn  es  heißt4:  „Gut  und  schlecht  ist  das- 
selbe", braucht  darin  noch  nicht  mehr  zu  liegen  als  ein  Hin- 
weis auf  die  Relativität  aller  Werte,  und  wir  dürften  hieraus 

!)  Frg.  52  (Di eis).  2)  Frg.  124.  3)  Immerhin  mag  es  vielleicht  auf  diese 
Anschauung  einiges  Licht  werfen,  wenn  wir  uns  des  in  der  ersten  Vor- 
lesung über  das  Spiel  Gesagten  erinnern,  und  sodann  eine  Parallelstelle 
aus  der  indischen  Gedankenwelt  betrachten.  In  der  „£ariraka-Mimansa" 
des  Badarayana  nämlich  stehen  (Deussen,  Die  Sutra's  des  Vedanta, 
S.  309 ff.)  nacheinander  die  beiden  folgenden  Sätze:  „Nicht,  weil  ein  Be- 
weggrund sein  muß"  und  „Vielmehr,  wie  in  der  Erfahrung,  ein  bloßes 
Spiel";  und  diese  erläutert  der  Kommentar  des  £ankara  in  folgender 
Weise:  Gegen  die  Lehre  von  der  Schöpfung  kann  man  einwenden,  nehme 
man  an,  daß  Gott  „zu  diesem  Unternehmen  durch  einen  in  ihm  liegenden 
Beweggrund  getrieben  worden  sei,  so  widerspricht  das  der  Allgenugsam- 
keit  .  . .;  soll  hingegen  kein  Beweggrund  vorhanden  sein,  so  wird  auch  die 
Tätigkeit  unmöglich."  Dagegen  aber  ist  zu  sagen:  „Wie  es  ...  in  der  Er- 
fahrung vorkommt,  daß  einer,  der  alles  hat,  was  er  wünscht,  ein  König 
oder  . . .  Minister,  auch  ohne  einen  besonderen  Beweggrund  sich  zum 
bloßen  Spiele  mit  Scherz  oder  Lustwandeln  beschäftigt,  ...  so  mag  auch 
die  Tätigkeit  Gottes  ohne  irgend  ein  anderes  Motiv  von  selbst  und  nur 
zum  Spiele  statthaben.  . . .  Wenn  übrigens  für  uns  auch  diese  Anordnung 
des  Weltkreises  als  ein  sehr  schweres  Unternehmen  erscheint,  so  ist 
dieselbe  doch  für  den  höchsten  Gott  nur  ein  bloßes  Spiel,  weil  sein 
Kraftvermögen  unermesslich  ist.  . .  ."  4)  Frg.  58. 

Gomperz,  Lebensauffassung  4. 


50 


DRITTE  VORLESUNG 


allein  nicht  schließen,  daß  dem  Ephesier  eine  Auffassung,  die 
in  der  Welt  kein  Übel  sieht,  als  höher  gegolten  habe,  denn  eine 
solche,  für  die  alle  Güter  verschwinden.  Dennoch  ist  dieses  die 
ausdrücklich  bezeugte  Lehre  des  Heraklit.  Denn  er  sagt1: 
„Für  den  Gott  ist  alles  schön  und  gut  und  gerecht;  die  Men- 
schen aber  halten  das  eine  für  recht,  das  andere  für  unrecht." 
Damit  stimmt  der  Ton  überein,  den  er  auf  die  Einheit  des 
Universums  und  auf  die  strenge  Gesetzmäßigkeit  alles  Ge- 
schehens legt;  denn  wir  erinnern  uns  ja,  daß  die  Auffassung  der 
Welt  als  eines  einheitlichen  Ganzen  die  erste  Bedingung  für 
ihre  Wunschbejahung  ist  —  wie  sie  denn  auch  später  mit  der- 
selben Abzweckung  von  den  Stoikern  wie  von  Spinoza  her- 
vorgehoben wurde.  Aber  auch  diese  Wunschbejahung  selbst 
hat  er  nicht  nur  gelehrt,  sondern  geradezu  unter  dem  Namen 
des  Wohlgefallens2  für  das  höchste  Gut  erklärt3.  Wenn  es  aber 
nur  von  dem  Menschen  abhängt,  auf  solche  Art  sich  selbst  zu 
erlösen,  so  ist  er  innerlich  frei  von  jedem  äußeren  Schicksal; 
und  demgemäß  hören  wir4:  „Der  Charakter  des  Menschen  ist 
sein  Schicksal."  Diese  Auffassung  wird  endlich  dadurch  er- 
heblich befestigt,  daß  die  Stoiker  von  Heraklit  in  ihrer  theore- 
tischen Weltanschauung  so  vielfach  abhängig  sind;  denn  dies 
ist  verständlicher,  wenn  sie  auch  in  bezug  auf  deren  praktische 
Folgen  bei  ihm  Anknüpfungspunkte  fanden. 

In  eine  viel  spätere  Zeit  führt  uns  zunächst  eine  Nachricht, 
die  sich  auf  Anaxagoras  bezieht.  Und  wenn  wir  ihr  glauben 
dürfen,  so  hat  er  zuerst  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  geradezu 
ausgesprochen,  und  zwar  in  einer  Form,  die,  wie  wir  weiter- 
hin sehen  werden,  erst  sehr  spät  ihre  folgerechte  Ausbildung 
erfahren  hat.  Er  soll  nämlich5  als  das  Ziel  des  Lebens  bezeichnet 
haben  „die  Kontemplation  und  die  aus  dieser  entstehende  Frei- 
heit." Leider  aber  ist  uns  diese  eine  Äußerung  ganz  unzu- 
sammenhängend überliefert. 

Ganz  anders  steht  es  um  die  ethischen  Fragmente  des  Demo- 
krit.  Trotz  ihrer  großen  Zahl  und  ihrer  Fülle  von  praktischer 

i)  Frg.  102.  2)  eüapeCTr](Jic;.  3)  a.  21  (Diels).  4)  Frg.  119.      A.  29  (Diels). 


VORSOKRATIKER 


51 


Lebensweisheit  geben  auch  sie  kein  durchaus  zusammenhängen- 
des Bild  seiner  Lebensauffassung  und  gehen  vielfach  nicht  über 
den  Charakter  des  Gnomischen  hinaus.  Trotzdem  lassen  sich 
drei  wichtige  Züge  unterscheiden,  die  ich  im  folgenden  unter 
äußerster  Beschränkung  in  der  Auswahl  des  Mitzuteilenden 
darstelle  und  belege.  Erstens  steht  Demokrit  der  Ethik  des 
Maßes  sehr  nahe:  die  Beschränkung  der  Begierde  wird  ge- 
priesen, jedes  Übermaß  verpönt.  Die  verständige  Selbstbeherr- 
schung macht  uns  vom  Schicksal  in  hohem  Grade  unabhängig: 
„Die  Menschen",  sagt  er1,  „haben  die  Gestalt  des  Schicksals  ge- 
bildet als  Ausrede  für  ihre  eigene  Unentschlossenheit.  Denn  nur 
schwach  kämpft  das  Schicksal  gegen  die  Einsicht  an;  das  Meiste 
im  Leben  aber  vermag  eine  verständige  Scharfsichtigkeit  einzu- 
richten." Und  ebendahin  gehört  die  herkömmliche  Schätzung  des 
Staatswesens2:  „Eine  wohlgeleitete  Stadt  ist  das,  was  am  aller- 
meisten recht  ist;  in  ihr  ist  alles  enthalten;  ist  sie  heil,  ist 
alles  heil;  geht  sie  zugrunde,  geht  alles  zugrunde."  An  solchen 
Stellen  scheint  es,  als  werde,  im  Sinne  der  gemeinen  Meinung, 
dem  Schicksal  immer  noch  ein  gewisser  Einfluß  auf  das  Glück 
der  Menschen  eingeräumt;  aber  andere  Äußerungen  kommen 
wieder  der  Lehre  von  der  Selbstgenügsamkeit  der  „Tugend" 
nahe.  „Die  Götter",  heißt  es3,  „geben  den  Menschen  alles  gute, 
wie  einst  so  jetzt  —  nur  das  nicht,  was  schlecht  und  schäd- 
lich und  unnütz  ist.  Denn  dieses  schenken  die  Götter  den  Men- 
schen weder  einst  noch  jetzt,  sondern  sie  selbst  gelangen  dazu 
durch  Geistesblindheit  und  Unverstand."4  Liegt  nun  hierin  eine 
weitgehende  Obereinstimmung  mit  dem,  was  wir  als  die  Grund- 
stimmung des  Sokrates  kennen  lernen  werden,  so  geht  die 
Annäherung  an  einer  anderen  Stelle  fort  bis  zur  auffälligsten 
Berührung  mit  jenem  wichtigsten  Stück  der  sokratischen  Lehre, 
das,  wie  sich  uns  zeigen  wird,  eben  die  intellektualistische  Um- 

i)  Frg.  119  (Diels).  Vgl.  Frg.  176.  2)  Frg.  252.  3)  Frg.  175.  4)  Vgl.  Koran,  Sure 

4,  Vers  81:  „Was  immer  gutes  dir  widerfährt,  ist  von  Allah,  und  was 
immer  Böses  dir  widerfährt,  ist  von  dir  selber."  (Übersetzung  von  Henning, 

5.  111.) 

4* 


52  DRITTE  VORLESUNG 

Schreibung  jener  Grundstimmung  ist,  und  wir  hören 1 :  „Die  Ur- 
sache der  Verfehlung  ist  die  Unkenntnis  des  Besseren."  Endlich 
kann  nicht  bezweifelt  werden,  daß  Demokrit  in  theoretischer 
Hinsicht  Hedoniker  war:  „Das  Maß  des  Zuträglichen  und  Unzu- 
träglichen ist  Freude  und  Freudlosigkeit",2  und3:  „Das  beste 
für  den  Menschen  ist,  sein  Leben  hinzubringen  in  möglichst  viel 
Wohlgemutheit  und  möglichst  wenig  Schmerz."  Aber  diese 
„Wohlgemutheit"4  ist  nun  nicht  einfach  Lust,5  „wie  einige,  sich 
verhörend,  ausgeführt  haben,  sondern  ein  Zustand,  in  dem  die 
Seele  windstill  und  ruhig  dahinlebt,  von  keiner  Angst  oder 
Geisterfurcht  oder  sonstigen  Leidenschaft  beunruhigt."  Also 
nicht  die  von  außen  kommende,  sondern  die  von  innen  ent- 
springende Lust  macht  das  Glück  der  inneren  Freiheit  aus,  und 
darum  fügt  er  an  jener  Stelle6  hinzu:  „Dies  aber  (nämlich  in 
möglichst  viel  Wohlgemutheit  zu  leben  und  in  möglichst  wenig 
Schmerz)  kann  geschehen,  wenn  man  nicht  ans  Vergängliche 
seine  Freuden  heftet",  und  wir  hören7,  man  solle  „selbst  aus 
sich  selbst  die  Freuden  nehmen."  Schon  hier  also  hat  die  an- 
tike Hedonik  nicht,  wie  ein  so  großer  Teil  der  modernen,  die 
Tendenz,  den  Menschen  von  der  Außenwelt  abhängig  zu  machen, 
indem  sie  ihn  seine  Handlungen  mit  Rücksicht  auf  ihre  lust- 
oder  leidvollen  Folgen  wählen  heißt,  sondern  gerade  umgekehrt 
ist  sie  auf  die  Herstellung  einer  solchen  Gemütslage  abgezweckt, 
welche  ihm  auch  unter  den  schlimmsten  äußeren  Verhältnissen 
einen  Glücksüberschuß  gewährleisten  kann.  Dieser  selben 
Orientierung  der  hedonischen  Theorie  werden  wir  später  immer 
wieder  begegnen:  nicht  nur  bei  Ar i stipp,  sondern  auch  noch 
bei  Epikur,  dessen  Lehre  an  die  des  Demokrit  vielfach  er- 
innert, und  dessen  Anlehnung  an  diesen  hinsichtlich  der  theo- 
retischen Philosophie  wohl  ebenso  durch  ethische  Gesichts- 
punkte mit  bestimmt  worden  sein  wird,  wie  die  der  Stoiker  an 
Heraklit. 

Die  Stimmung,  die  uns  in  den  Bruchstücken  des  Abderiten 

1)  Frg.  83.  2)  Frg.  188.  Vgl.  Frg.  4.  3)  Frg.  189.  *)  eSeüJIfirJ!  5)  Diog.  Laert.  IX. 
45  (A.  1.  Diels).  6)  Frg.  189.  7)  Frg.  146.  Vgl.  Frg.  37, 170,  171,40, 172,235. 


VORSOKRATIKER 


53 


entgegentritt,  darf  uns,  wenn  wir  uns  ihre  verschiedenen  Spitzen 
abgeschliffen  denken,  zugleich  als  die  in  jener  Zeit,  in  der 
zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts,  herrschende  Stimmung 
in  sittlichen  Dingen  gelten.  Daß  man  sich  klug,  anständig  und 
würdig  betragen,  und  in  Krieg  und  Frieden  als  guten  Bürger  der 
Stadt  erweisen  solle  —  dies  wird  so  ziemlich  das  Um-und-auf 
der  damaligen  Lebensweisheit  gewesen  sein.  Es  wird  deshalb 
auch  insbesondere  den  Gegenstand  jenes  Moralunterrichtes 
gebildet  haben,  der  damals  zuerst  erteilt  wurde.  Die  Männer, 
von  denen  er  ausging,  hießen  Sophisten.  Die  Bedeutung  des 
spitzfindigen  Trugschlußdrechslers,  die  diesem  Namen  heute 
anhaftet  und  schon  bald  nach  jener  Zeit  sich  an  ihn  heftete,  war 
ihm  damals  fremd.  Das  Wort  bezeichnet  nur  einen  „Weis- 
heitler"— wir  würden  sagen  :einen„Denker",einen„Studiertenft. 
Und  in  jenem  Zeitalter  verstand  man  unter  einem  Sophisten 
einen  enzyklopädischen  Wanderlehrer:  einen  Mann,  der  von 
Stadt  zu  Stadt  zog,  und  gegen  Bezahlung  alle  jene  Künste  und 
Wissenschaften  lehrte,  die  dem  begüterten  jungen  Manne  in 
seiner  Privatwirtschaft  wie  besonders  im  öffentlichen  Leben  von 
Nutzen  sein  konnten.  Es  war,  was  der  Engländer  „a  liberal 
education"  nennt,  aber  natürlich  in  sehr  bescheidenem  Umfange: 
Elemente  der  Kriegskunst,  der  Rechtswissenschaft  und  vor  allem 
der  Redekunst  werden  ihren  Grundstock  ausgemacht  haben. 
In  der  einen  oder  anderen  Form  hat  sie  aber  auch  Ansätze  zu 
moralischer  Unterweisung  enthalten.  Stücke  aus  einer  der- 
artigen Lehrrede,  die  dem  Sophisten  Antiphon  zugeschrieben 
worden  sind,  sind  uns  erhalten:  sie  zeigen  keine  bemerkenswerte 
Besonderheit.  Eher  könnte  man  eine  solche  bei  Prodikos  ver- 
muten, doch  gestattet  hier  die  Dürftigkeit  der  Nachrichten  kein 
endgültiges  Urteil.  Ähnlich  steht  es  mit  dem  ältesten  und  be- 
rühmtesten aller  Sophisten,  mit  Protagoras.  Von  ethischen 
Unterweisungen  des  G  o  r g  i  a  s  und  H  i  p p  i  a s  ist  uns  kaum  etwas 
bekannt. 

Von  einer  sophistischen  Moral  zu  sprechen,  geht  unter  diesen 
Umständen  nicht  an.  Die  Sophisten  vertraten  das  sittliche  Be- 


54 


DRITTE  VORLESUNG 


wußtsein  ihrer  Zeit.  Nun  war  diese  Zeit  freilich  eine  solche  der 
sogenannten  „Aufklärung",  eineZeit  kritischer  Prüfung,  gähren- 
der  Reformbestrebungen,  weitverbreiteten  Rationalisierungs- 
dranges. Und  e  i  n  Problem  wenigstens  ist  damals  viel,  und  auch 
von  sophistischer  Seite  verhandelt  worden,  von  dem  man  eine 
bedeutende  Wirkung  auf  die  Moralphilosophie  erwarten  könnte: 
die  Frage,  ob  die  Kulturgüter  (Sprache,  Recht  usw.)  „von  Natur" 
oder  „durch  Satzung"  entstanden  seien,  mit  anderen  Worten,  ob 
sie  auf  notwendigen  Bedingungen  der  menschlichen  Natur,  oder 
auf  konventioneller  Willkür  beruhten.  Allein,  soweit  uns  die 
Quellen  unterrichten,  ist  dieses  Problem  gerade  in  bezug  auf 
die  Moralität  in  jener  Zeit  gar  nicht,  und  auch  eine  Generation 
später  nur  gelegentlich  erörtert  worden,  und  zwar,  wie  es 
scheint,  keineswegs  von  sophistischer  Seite.  Denn  von  den 
beiden  Männern,  denen  Piaton  die  Ansicht  zuschreibt,  die 
moralischen  Regeln  seien  Vorurteile,  welche  der  Jugend  im 
Interesse  der  bestehenden  Machtverhältnisse  eingepflanz 
würden,  und  deren  sich  die  maßgebenden  Kreise  zu  diesem 
Zwecke  bedienten,  ist  Kallikles  nichts  weniger  als  ein  Sophist, 
vielmehr  ein  grimmiger  Sophistenhasser;  von  Thrasymachos 
aber  ist  uns  anderweitig1  eine  Äußerung  überliefert,  die  eine 
ganz  andersartige  Wertschätzung  der  Moralbegriffe  voraussetzt. 
Demnach  wird  es  auch  kaum  angehen,  wenn  Aristoteles 
den  „Alten"  jene  Ansicht  ganz  allgemein  zuschreibt2,  dies 
gerade  auf  die  hier  in  Frage  kommende  Sophistengruppe  zu 
beziehen. 

Wenn  trotz  dieser  Sachlage  die  Sophisten  schon  zu  ihrer  Zeit 
als  eine  die  traditionelle  Sittlichkeit  auflockernde  Potenz  em- 
pfunden wurden,  wie  dies  die  Angriffe  des  Aristophanes  be- 
weisen, und  wenn  wenige  Jahrzehnte  später  Pia  ton  nicht  genug 
Eifer  daran  wenden  kann,  die  sokratische  Ethik  der  sophistischen 

*)  Frg.  8  (Diels).  Man  vgl.  doch  auch  Frg.  1  u.  6,  die  zwar  sachlich  nichts 
beweisen,  aber  doch  zu  dem  Bilde,  das  Piaton  im  „Staat"  entwirft,  be- 
sonders schlecht  stimmen,  und  die  Vermutung  bestärken,  hinter  dem 
Sophisten  verberge  sich  hier  irgend  eine  zeitgenössische  Figur.  2)  Soph. 
el.  12,  p.  173a  7. 


VORSOKRATIKER 


55 


entgegenzusetzen,  so  hat  das  verschiedene  Gründe.  Zunächst 
ist  es  eine  altbewährte  Methode,  eine  beliebigen  Motiven  ent- 
quellende Antipathie  gegen  irgend  eine  Richtung  durch  Angriffe 
auf  deren  angeblich  unmoralische  Tendenzen  zu  stützen.  Die 
Sophisten  aber,  als  die  ersten  berufsmäßigen  Vertreter  der 
„Wissenschaft"  waren  die  natürlichen  Gegenstände  jener  wenig 
freundlichen  Empfindungen,  mit  denen  der  „gesunde  Menschen- 
verstand" zu  allen  Zeiten  auf  dasjenige  reagiert  hat,  was  ihm 
alsunfruchtbareZeitverschwendungundanspruchsvolleNichtig- 
keit  erscheint.  Die  „Wolken"  des  Aristophanes  sind,  einem 
großen  Teile  ihres  Inhaltes  nach,  in  diesem  Sinne  die  erste  Satire 
auf  den  spezifisch  wissenschaftlichen  Geist,  und  ihrer  Tendenz 
nach  von  den  entsprechenden  Partien  in  Swifts  „Gulliver" 
(Laputa)  wenig  verschieden.  Piaton  andererseits  hatte  reich- 
lich Beweggründe  außersittlicher  Art,  die  Sophisten  mißgünstig 
darzustellen:  teils  hatte  er  nochdieRivalität  miterlebt,  die  (wenig- 
stens im  Bewußtsein  vieler  Zeitgenossen)  zwischen  ihnen  und 
seinem  großen  Lehrer  geherrscht  hatte;  teils  hat  er  sie  in  seinen 
Gesprächen  als  Masken  für  mehrere  seiner  Mitschüler  ver- 
wandt, die  er  aus  ganzer  Seele  haßte  —  ein  Haß,  zu  dem  neben 
demZeloteneiferfür  die  (angeblich)  „rechte  Lehre  des  Meisters" 
gewiß  auch  der  Gelehrteningrimm  gegen  den  „verderblichen 
Irrtum"  und  die  persönliche  Abneigung  gegen  die  Rivalen  ihre 
Beiträge  geliefert  haben. 

Sodann  aber  heißt  auch:  eineSache lehren,  immer:  die  Selbst- 
verständlichkeit ihrer  Autorität  anzweifeln.  Vom  Daß  zum 
Darum  ist  dann  ebenso  nur  ein  Schritt,  wie  vom  Darum  zum 
Warum,  von  diesem  zum  Ob,  und  endlich  zum  Nein!  Der  mit 
der  Begründung  eingeleitete  Rationalisierungsprozeß  pflegt 
selten  anders  als  mit  der  Bestreitung  zu  enden.  In  diesem  Sinne 
mochte,  wo  nicht  ein  Vorwurf  gegen  die  Lehre  der  Sophisten 
berechtigt,  so  doch  eine  Abneigung  gegen  ihr  Treiben  begreif- 
lich sein. 

Von  der  Redekunst  ferner  konnte,  wie  ein  gerechter,  so  auch 
ein  unrechter  Gebrauch  gemacht  werden.  Auch  für  den  letzte- 


56 


DRITTE  VORLESUNG 


ren  Fall  mag  wohl  der  Unterricht  besondere  Vorsorge  gelegent- 
lich getroffen  haben.  Und  auch  sonst  war  in  jenem  zungen- 
fertigen und  streitsüchtigen  Volke  der  dialektisch  Geschulte 
der  natürliche  Gegenstand  einer  mit  Neid  gemischten  Ent- 
rüstung. 

DerletzteGrundindeßwarein  anderer.  Die  Sophisten  lehrten 
gegen  Bezahlung,  und  lebten  von  diesem  Einkommen.  Das  er- 
schien den  Alten  als  ein  unwürdiges  Beginnen.  Piaton  hat 
die  nie  versiegende  Schale  seines  Spottes  darüber  ausgegossen, 
und  die  Jahrhunderte  haben  ihm  kritiklos  nachgespottet,  mit 
stetig  zunehmendem  Vorwiegen  der  Entrüstung.  Erst  in  unserer 
Zeit  hat  man  gefragt,  ob  denn  die  Ausübung  eines  geistigen 
Berufes,  der  zugleich  seinen  Mann  nährt,  etwas  Tadelnswertes 
sei?  Und  sicherlich  sollten  mit  diesem  Verdikte  besonders 
unsere  heutigen  Universitätslehrer  vorsichtig  sein,  die  von  ihren 
Schülern  „Kollegiengelder"  beziehen,  und  denen  es  also  gewiß 
am  wenigsten  zukommt,  in  ihren  entgeltlichen  Vorlesungen  die 
Sophisten  wegen  ihres  nicht  unentgeltlichen  Unterrichtes  schlecht 
zu  machen.  Lebt  man  sich  in  diese  Betrachtungsweise  ein,  so 
kann  die  Banausenverachtung  der  Alten  schließlich  als  Ausfluß 
sklavenhälterischen  Vorurteils  erscheinen. 

Dennoch  glaube  ich  nicht,  daß  damit  die  Sache  erledigt  ist. 
Wir  treiben  heute  einen  Kultus  mit  der  Arbeit,  und  blicken  auf 
den,  der  keine  „Beschäftigung"  hat,  herab.  Aber  dies  ist  keines- 
wegs der  einzig  mögliche  Standpunkt,  und  vielleicht  ist  der 
unsrige  recht  einseitig  und  ungerecht.  Denn  eines  wird  man 
sich  eingestehen  müssen:  wenn  die  Erhebung  über  die  mate- 
riellen Interessen  die  Würde  der  Persönlichkeit  ausmacht, 
dann  wird  derjenige,  für  den  diese  Interessen  von  vornherein 
keine  Rolle  spielen,  der  ethisch  wertvollen  Gesinnung  näher 
stehen  als  ein  anderer,  den  seine  Notdurft  zwingt,  eben  diese 
Interressen  zum  fortwährenden  Mittel-  und  Angelpunkte  seines 
Denkens,  Höffens  und  Fürchtens  zu  machen.  „Es  scheint  aber, 
sagt1  deshalb  Aristoteles  mit  Recht,  auch  der  Reichtum  bei- 


1)  Eth.  Nie.  IV.  8,  p.  1124  a  20. 


VORSOKRATIKER 


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zutragen  zur  Großherzigkeit".  Natürlich  ist  auf  diese  Wirkung 
nicht  mit  Sicherheit  zu  rechnen,  denn  es  gibt  Reiche  genug,  die 
gerade  umgekehrt  zu  Dienern  ihrer  Güter  werden.  Und  auch, 
wo  sie  eintritt,  ist  sie  in  keinem  Sinne  ein  Verdienst.  Aber,  ob 
Verdienst  oder  nicht,  die  bloßeGewohnheit,  sich  nicht  mit  seinen 
persönlichen  Angelegenheiten  zu  befassen,  und  sein  Interesse 
auf  andere,  außerpersönliche  Werte  zu  wenden,  wird  dem  In- 
haber eines  gesicherten  Wohlstandes  in  vielen  Fällen  eine  ganz 
andere  innere  Haltung  verleihen,  als  die  dem  Erwerbenden  die 
alltägliche  Richtung  seiner  Aufmerksamkeit  aufdrückt:  eben  jene 
Haltung,  die  dem  Griechen  als  die  des  „freien  Mannes"  erschien. 
So  blasphemisch  dies  Ihnen  daher  auch  klingen  mag,  man  wird 
unbefangener  Weise  kaum  umhin  können,  von  einem,  wenn 
auch  nur  propädeutischen,  sittlichen  Werte  des  Besitzes  zu 
sprechen. 

Auf  die  Sophisten  angewandt,  zeigt  nun  diese  Überlegung,  daß 
es  keine  ganz  unrichtige  Empfindung  war,  die  dem  entgeltlichen 
Moralunterrichte  mißtrauisch  gegenüberstand.  Ja,  man  kann 
sagen,  daß  die  ganze  Stellung  des  Sophisten  an  einem  inneren 
Widerspruche  litt.  Er  sollte  —  auch  im  Sinne  der  aristokrati- 
schen Ethik  des  Maßes  —  seine  Hörer  zu  freien,  unabhängigen 
Männern  erziehen,  und  er  selbst  war  kein  freier,  unabhängiger 
Mann.  Er  sollte  Grundsätze  einimpfen,  die  unmöglich  seine 
Grundsätze  sein  konnten.  Zwischen  dem  Inhalte  und  den  Be- 
dingungen seiner  Unterweisung,  zwischen  seiner  Lehre  und 
seinem  Leben  klaffte  ein  Gegensatz.  Zu  keiner  Zeit  aber  war 
man  gegen  einen  solchen  empfindlicher  als  damals;  macht  ja 
doch  der  Einklang  von  Leben  und  Lehre  zu  einem  guten  Teile 
die  Größe  der  griechischen  Ethik  aus.  Mußte  aber  dieser,  dem 
Wesen  des  Sophisten  immanente  Widerspruch  schon  von  der 
großen  Zahl  derjenigen  empfunden  werden,  denen  er  nur  als 
der  Kontrast  zwischen  dem  Habitus  des  patrizischen  Zöglings 
und  dem  des  plebejischen  Erziehers  zum  Bewußtsein  kam,  so 
noch  unvergleichlich  stärker  von  jenen  philosophischen  Geistern, 
denen  er  zugleich  den  tiefen  Gegensatz  von  innerer  Freiheit  und 


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DRITTE  VORLESUNG 


Unfreiheit  bedeutete.  Ihnen  wäre  eine  Lebensstellung  ebenso 
unerträglich  als  undenkbar  gewesen,  in  der  von  der  Zahl  und 
dem  Zustimmungsgrade  der  Zuhörer  die  Höhe  der  Entlohnung 
und  das  Maß  der  eigenen  Lebenshaltung  abgehangen  hätte.  In 
diesem  Sinne  behält  Piaton  letztlich  Recht,  wenn  er  kein  gegen- 
sätzlicheres Verhältnis  sich  denken  konnte,  als  das  der  Sophisten 
zu  Sokrates! 


Geehrte  Zuhörer!  Sokrates  ist  ohne  Zweifel  in  der  ganzen 
Geschichte  der  philosophischen  Ethik  diejenige  Gestalt, 
deren  Verständnis  zugleich  am  wichtigsten  und  am  schwierigsten 
ist.  Ihnen  jene  Wichtigkeit  klar  zu  machen,  wird  in  den  nächsten 
Vorlesungen  meine  Aufgabe  sein;  in  der  Zeit,  die  uns  heute 
noch  zur  Verfügung  steht,  soll  von  diesen  Schwierigkeiten  die 
Rede  sein.  Auch  kann  ich  Ihnen  diese  vorbereitenden  Bemer- 
kungen nicht  ersparen.  Denn  schon  bei  der  geringsten  eigenen 
Beschäftigung  mit  diesem  Gegenstande  werden  Ihnen  nicht  nur 
in  der  älteren,  sondern  auch  in  der  neueren  Literatur  die  ver- 
schiedensten Darstellungen  begegnen.  Sokrates  der  Revolu- 
tionär —  Sokrates  der  Aristokrat;  Sokrates  der  Sozialre- 
former —  Sokrates  der  Ethiker;  Sokrates  der  Prediger  — 
Sokrates  der  Mann  der  Wissenschaft;  Sokrates  der  Mystiker, 
Sokrates  der  Dogmatiker,  Sokrates  der  Skeptiker  —  all  diese 
Auffassungen  sind  vertreten  worden.  Sie  haben  ein  Recht,  zu 
fragen:  kann  unter  diesen  Umständen  überhaupt  etwas,  und, 
wenn  etwas,  was  kann  über  Sokrates  mit  Bestimmtheit  ausge- 
sagt werden?  Und  ich  habe  die  Pflicht,  diese  Frage  zu  beantwor- 
ten, und  gleichzeitig  meine  eigene  Auffassung  zu  rechtfertigen. 

Die  erste  großeSchwierigkeit  für  unsere  Kenntnis  des  Sokrates 
Hegt  darin,  daß  er  nichts  geschrieben  hat.  Kein  Fragment,  kein 
Satz,  kein  Wort  ist  uns  unmittelbar  überliefert1.  Der  Mund  des 

*)  Von  den  bekannten  Versen,  die  er  im  Kerker  gedichtet  haben  soll, 
durfte  ich  hier  wohl  absehen,  da  die  uns  erhaltenen  zwei  Zeilen  besten- 
falls die  Übertragung  eines  Äsopzitats  in  gebundene  Rede  darstellen. 


VORSOKRATIKER 


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großen  Meisters  ist  stumm  für  alle  Zeiten.  Aber  er  hat  nicht 
nur  nichts  geschrieben,  er  hat  auch  keine  abgeschlossenen  Lehr- 
vorträge gehalten.  Im  zwanglosen  Gespräch,  und  nur  im  Ge- 
spräch hat  sich  seine  philosophische  Wirksamkeit  geäußert. 
Und  in  diesen  Gesprächen  hat  er  sich  nicht  als  der  belehrende, 
sondern  als  der  fragende  Teil  verhalten.  Auch  wenn  wir  diesen 
Unterredungen  selbst  beiwohnen  dürften,  würden  wir  also  nicht 
eine  eigentliche  Lehre  des  Sokrates  kennen  lernen.  Nur  aus 
der  Art  und  aus  den  Voraussetzungen  seiner  Fragestellung 
könnten  wir  die  Richtung  seines  Denkens  erschließen.  Nun 
uns  dies  aber  nicht  vergönnt  ist,  kennen  wir  wenigstens  die 
Aussage  von  Zeugen,  die  jenen  Gesprächen  selbst  beigewohnt 
haben,  und  über  dieselben  getreulich  berichten  wollen?  Eine 
kritische  Durchmusterung  der  erhaltenen  Zeugnisse  lehrt,  daß 
kein  einziges  diesen  beiden  Bedingungen  genügt. 

Bei  den  späten  Anekdoten,  die  uns  überliefert  werden,  kann 
von  unmittelbarer  Zeugenschaft  ohnehin  nicht  die  Rede  sein. 

Aristoteles  gibtuns  einige  knappeNotizen  über  seine  Grund- 
ansichten, und  nach  den  Zusammenhängen  liegt  kein  Grund 
vor,  des  Berichterstatters  Absicht,  wahrheitsgetreu  und  bloß 
im  historischen  Interesse  zu  referieren,  anzuzweifeln.  Allein 
Aristoteles  ist  lange  nach  dem  Tode  des  Sokrates  geboren. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Zeitgenossen,  so  begegnen  wir 
reichlichen  Anspielungen  in  den  Komödien  des  Ar  istophanes. 
Aber  diese  Anspielungen  sind  Verhöhnungen  von  so  offenbar 
tendenziöser  Natur,  daß  sie  kaum  ernstlich  ins  Gewicht  fallen. 

Es  bleiben  die  Schriften  jener  jüngeren  Freunde,  die  man  un- 
genau seine  Schüler  zu  nennen  pflegt.  Allein  die  Mehrzahl  der- 
selben ist  verloren:  nicht  nur  die  des  Antisthenes,  des  Ari- 
stipp,  des  Phaidon,  sondern  auch  jene  des  Aischines,  von 
denen  wir  hören,  sie  seien  die  treueste  Wiedergabe  des  Originals 
gewesen.  Nur  von  zwei  Jüngern  sind  Werke  auf  uns  gekommen, 
welche  Gespräche  und  Reden  des  Sokrates  enthalten:  von 
Piaton  und  von  Xenophon.  Wie  steht  es  nun  mit  der  Zu- 
verlässigkeit dieser  Berichte? 


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DRITTE  VORLESUNG 


Die  Schriften  des  Piaton  zerfallen  für  unseren  Gesichtspunkt 
in  drei  ungleiche  Gruppen.  Eine  Schrift,  die  „Gesetze",  hat 
die  Form  eines  Gespräches,  an  dem  Sokrates  nicht  beteiligt 
ist.  Eine  andere  Schrift,  die  „Apologie",  läßt  Sokrates  allein 
sprechen:  sie  gibt  sich  für  jene  Verteidigungsrede  aus,  die  er 
gehalten  habe,  als  er  von  Meietos,  Anytos  und  Lykon  der 
Gottlosigkeit  und  des  Jugendverderbs  angeklagt  wurde  —  eine 
Klage,  die  zu  seiner  Verurteilung  und  Hinrichtung  geführt  hat. 
Alle  übrigen  Werke  haben  die  Form  von  Gesprächen,  an  denen 
Sokrates  teilnimmt,  undzwar  in  einigen  als  Nebenfigur  (es  sind: 
„Parmenides",  „Sophist",  „Staatsmann",  „Timaios",  „Kritias", 
die  als  PI  atons  Spätwerke  gelten  können),  in  der  großen  Mehr- 
zahl als  gesprächsführende  Hauptperson.  Sprechen  wir  von 
dieser  zahlreichsten  Gruppe  zuerst!  Daß  nicht  alle;  die  ihr  zu- 
gehörigenDialoge  einfach  wahrheitsgetreueBerichte  sein  können 
oder  auch  nur  sein  wollen,  folgt  hauptsächlich  aus  zwei  Argu- 
menten, einem  äußeren  und  einem  inneren.  Das  äußere  Argu- 
ment: Piaton  nennt  sich  in  keinem  einzigen  dieser  Gespräche 
als  anwesend,  er  nennt  sich  in  einem  derselben,  dem  „Phaidon" l, 
ausdrücklich  als  abwesend;  und  er  verlegt  eine  Reihe  von  Ge- 
sprächen in  eine  Zeit,  der  er  weder  selbst  angehört  noch  sie 
auch  bald  darauf  aus  authentischen  Berichten  kennen  gelernt 
haben  kann  (so  den  „Parmenides",  das  „Gastmahl"  u.  a.).  Das 
innere  Argument:  in  zahlreichen  und  zwar  gerade  in  den  wichtig- 
sten Gesprächen  (so  im  „Gastmahl",  im  „Phaidon",  im  „Phai- 
dros",  im  „Staat")  trägt  Sokrates  eine  Lehre  (die  sogenannte 
„Ideenlehre")vor,vonderAristotelesausdrücklich2bezeugt,sie 
sei  dem  Sokrates  fremd  gewesen.  Nun  besteht  aberzwischen  je- 
nen Schriften,  auf  die  eines  dieser  Argumente  Anwendung  findet, 
und  allen  übrigen  keinerlei  äußerer  Unterschied:  jene  geben  sich 
um  nichts  weniger  für  geschichtlich  aus  als  diese;  und  es  ist  des- 
halb die  Schlußfolgerung  unausweichlich,  daß  die  Einführung 
des  Sokrates  in  die  platonischen  Gespräche  eine  literarische 
Fiktion  ist,  und  daß  diese  Gespräche  nicht  als  geschichtliche 

1)  p.  59  b.  2)  Metaph.  XIII.  4,  p.  1078  b  30  und  ibid.  9,  p.  1086  b  3. 


VORSOKRATIKER 


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Zeugnisse  angesehen  werden  können.  Wie  steht  es  nun  mit  der 
Apologie?  Hier  fallen  jene  beiden  Argumente  allerdings  fort. 
Pia  ton  nennt  sich  ausdrücklich1  als  bei  dem  Vortrage  dieser 
Rede  anwesend,  und  sie  enthält  keine  Ansichten,  die  wir 
von  vornherein  dem  Sokrates  nicht  zutrauen  könnten.  Da- 
für müssen  uns  einige  andere  Umstände  bedenklich  machen. 
Zunächst  wissen  wir,  daß  auch  die  Abfassung  fiktiver  Reden 
solcher  Art  im  Altertum  gebräuchlich  war,  und  es  sind  uns,  ab- 
gesehen von  der  platonischen,  nicht  weniger  als  vier  andere 
Verteidigungsreden  des  Sokrates  teils  erhalten,  teils  mittelbar 
bekannt:  erhalten  eine  Rede,  die  unter  dem  Namen  des  Xeno- 
phon  überliefert  ist,  und  eine  andere,  die  von  dem  spätgriechi- 
schen Rhetor  Libanios  herrührt;  bekannt  eine  Apologie  von 
Piatons  Schüler  Theodektes,  und  eine  andere  von  seinem 
Zeitgenossen,  dem  Redner  Lysias.   Diese  letztere  war  wie- 
derum die  Entgegnung  auf  eine  ebenso  fiktive  Anklagerede, 
die  der  Redner  Po  ly  kr  ates  etwa  fünf  Jahre  nach  dem  Ende  des 
Sokrates  veröffentlicht  hatte.  Dazukommt,  daß  fast  alle  antiken 
Historiker  ohne  weiteres  in  ihre  Geschichtswerke  fingierte  Reden 
einzulegen  pflegen,  die  gar  nicht  den  Anspruch  erheben,  wieder- 
zugeben, was  wirklich  gesprochen  wurde,  sondern  vielmehr  den, 
auszuführen,  was  hätte  gesprochen  werden  können,  das  heißt: 
was  sich  etwa  passender  und  geistvoller  Weise  in  der  betreffen- 
den Lage  hätte  sagen  lassen.  Dagegen  ist  uns  wohl  —  abgesehen 
natürlich  von  den  Publikationen  aus  dem  Konzept  —  aus  dem 
ganzen  Altertum  kaum  ein  einziges  Beispiel  bekannt,  daß  irgend 
eine  längere  Rede  wortgetreu  nacherzählt  worden  wäre.  Und  in 
der  Tat  ist  dieses  Verhalten  improvisierten  Reden  gegenüber 
ganz  natürlich,  ja  fast  allein  denkbar,  in  einer  Zeit,  in  der  die 
Erfindung  der  Schrift  bereits  die  Gewohnheit  des  raschen  Aus- 
wendiglernens untergraben,  und  doch  noch  nicht  die  Stenogra- 
phie die  des  Nachschreibens  eingebürgert  hatte.  So  wird  also 
von  vornherein  eine  starke  Vermutung  dafür  erzeugt,  daßPlaton 
in  der  Apologie  nicht  erzählen  will,  wie  Sokrates  sich  wirklich 

»)  p.34a  und  38  b. 


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DRITTE  VORLESUNG 


verteidigt  habe,  sondern  vielmehr  zeigen,  wie  er  sich  hätte  ver- 
teidigen können,  —  also  dafür,  daß  in  dieser  Schrift  Piaton 
selbst  den  Sokrates  in  dessen  eigener  Maske  verteidigt.  Sieht 
man  nun  das  Werkchen  daraufhin  näher  an,  so  findet  man  in 
der  Tat  manches,  das  sich  nach  dieser  Auffassung  besser  erklärt: 
so  eine  weitausgreifende  Ausführung  über  die  Entstehung 
des  gegen  Sokrates  aufgespeicherten  Obelwollens,  die  der 
rückblickenden  Betrachtung  näher  liegt  als  der  Improvisation 
des  Augenblicks;  und  vor  allem  eine  Menge  auffälligen  Selbst- 
lobs, die  als  Äußerung  des  Jüngers  sich  ebenso  leicht  begreift 
wie  sie  im  Munde  des  Meisters  wunderlich  wäre.  Daneben  frei- 
lich finden  sich  auch  Einzelheiten,  die  wir  nur  verstehen  können, 
wenn  sie  authentisch  sind:  so  die  Angaben  über  eine  Zeugen- 
aussage, über  das  Stimmenverhältnis,  und  besonders  über  eine 
plötzliche  und  inkonsequente  Sinnesänderung  hinsichtlich  der 
zu  beantragenden  Strafe.  Und  so  ist  es  weitaus  das  Wahrschein- 
lichste, daß  die  Rede  im  wesentlichen  Piaton  angehört,  jedoch 
eine  Reihe  von  Zügen  der  Originalrede  verarbeitet  hat.  Wie 
weit  aber  diese  Entlehnung  geht  —  das  wird  voraussichtlich  für 
alle  Zeiten  im  Dunkeln  bleiben  müssen. 

Wir  wenden  uns  zu  Xenophon.  In  vier  seiner  Schriften  sind 
Reden  des  Sokrates  enthalten:  in  der  „Hauswirtschaftslehre" 
(Oeconomicus),  in  der  „Verteidigung  des  Sokrates"  (Apologie), 
im  „Gastmahl"(Convivium),und  vorallem  inden  „Erinnerungen" 
(Memorabilien).  Allein  in  der  zuerst  genannten  Schrift  fungiert 
er  im  wesentlichen  als  Wiedererzähler  von  Auseinandersetzun- 
gen, die  unter  der  Maske  eines  sonst  unbekannten  Ischomachos 
offenbar  kein  anderer  als  Xenophon  selbst  von  sich  gibt,  und 
wo  er  selbst  redet,  zeigt  er  sich  in  Dingen  bewandert,  deren 
Kenntnis  bei  Sokrates  ebenso  überraschend  wie  bei  Xeno- 
phon selbstverständlich  ist.  Dieser  nämlich  hat  im  Dienste  des 
persischen  Gegenkönigs  Kyros  d.  J.  einen  asiatischen  Feldzug 
mitgemacht;  und  siehe  da,  auch  Sokrates,  der  fast  nie  aus  Athen 
herausgekommen  ist,  zeigt  sich  über  Kyros  und  die  Verhält- 
nisse seines  Hofes  aufs  beste  unterrichtet,  und  redet  überdies 


VORSOKRATIKER 


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von  Ereignissen,  über  die  ihn  Xenophon  schon  deshalb  nie 
hat  reden  hören  können,  weil  sie  später  fallen  als  des  letzteren 
Abschied  von  Athen1.  Es  ist  also  über  jeden  Zweifel  erhaben, 
und  auch  allgemein  anerkannt,  daß  die  Reden  des  Sokrates 
in  dieser  Schrift  ganz  ebenso  fiktiv  sind  wie  in  den  Dialo- 
gen Piatons.  Nun  gibt  aber  eben  diese  Schrift  sich  selbst  als 
bloße  Fortsetzung  der  wichtigeren  Memorabilien.  Denn  nachdem 
in  diesen  zahllose  Reden  des  Sokrates  nacherzählt  wurden,  bei 
denen  Xenophon  zugegen  gewesen  sein  will,  beginnt  der  Oeco- 
nomicus  mit  den  Worten2:  „Ich  hörte  aber  auch  einmal,  wie 
er(!)  sich  über  die  Hauswirtschaft  folgendermaßen  unterredete". 
Es  erhebt,  mit  anderen  Worten,  der  Oeconomicus  um  keines 
Haares  Breite  weniger  den  Anspruch,  authentisch  zu  sein,  als  die 
Memorabilien;  und  daraus  folgt,  daß,  wenn  wir  jenen  als  durch- 
aus ungeschichtlich  ansehen,  wir  es  mit  diesen  nicht  gut  anders 
halten  können.  Auch  finden  sich  in  ihnen  ebenfalls  Angaben  über 
Völkerschaften  des  Perserreiches3,  die  wir  viel  eher  dem  Xeno- 
phon als  dem  Sokrates  zutrauen  dürfen.  Endlich  ist  kürzlich  auch 
darauf  überzeugend  hingewiesen  worden,  daß  die  Memorabilien 
mehrfach  Ansichten,  und  zwar  vornehmlich  solche  superstitiöser 
Natur,  enthalten,  die  in  anderen  Schriften  des  Xenophon  sich 
ganz  ebenso  finden,  mit  den  aristotelischen  Berichten  über  die 
sokratische  Lehre  aber  sich  kaum  vereinigen  lassen.  Und  zum 
Überfluß  wird  uns  die  Schlußfolgerung,  die  sich  so  aufdrängt 
(daß  nämlich  die  xenophontischen  Sokratesreden  in  ganz  dem- 
selben Sinne  fiktiv  sind  wie  die  platonischen),  auch  als  die  Auf- 
fassung des  Altertums  bestätigt.  Denn  Diogenes  Laertios 
sag*  (gewiß  nach  einer  besseren  Quelle)  im  Leben  des  A  r  i  s  t  i  p  p 4, 
Xenophon  sei  diesem  Sokratikerübel  gesinntgewesen,  und  habe 
deshalb  dem  Sokrates  eine  Rede  gegen  ihn  in  den  Mund  ge- 
legt; und  ebenso  habe  auch  Piaton  im  „Phaidon"  ihn  schlecht 
gemacht.  Verlieren  aber  so  die  Memorabilien  ihren  geschicht- 
lichen Charakter,  dann  kann  ihn  weder  das  „Gastmahl"  behaup- 

i)  Oec.  4.  18ff.  2)  Oec.  T.  T.  3)  Bes.  Comm.  III.  5.  26;  III.  9.  2  und  IL  T.  10. 
4)  II.  65. 


64 


DRITTE  VORLESUNG 


ten,  bei  dem  Xenophon  gar  nicht  anwesend  gewesen  sein  will, 
noch  die  „Apologie",  bei  der  er  (wegen  seines  asiatischen  Aufent- 
haltes) nicht  einmal  zugegen  gewesen  sein  kann,  und  deren 
Echtheit  überdies  bestritten  ist.  Und  so  kommen  wir  zu  dem 
Schluß,  daß  uns  über  keine  einzige  Äußerung  des  Sokrates 
eine  vollkommen  zuverlässige  Nachricht  eines  unmittelbaren 
Zeugen  überliefert  ist. 

Dies  sind  die  äußeren  Schwierigkeiten,  die  unserem  Verständ- 
nisse des  Sokrates  im  Wege  stehen.  Ihrer  ungeachtet  wage  ich 
zu  sagen,  daß  mir  das  Bild  dieses  Mannes  so  deutlich  wie  nur 
das  eines  Lebenden  vor  Augen  steht.  Die  Quellen  aber,  die  uns 
dasselbe  vermitteln  können,  sind  drei  anZahl.  IhrerBesprechung 
müssen  wir  den  kurzen  Rest  der  heutigen  Vorlesung  widmen. 

Zunächst  verliert  das  Zeugnis  des  Aristoteles  dadurch,  daß 
es  nicht  unmittelbar  ist,  wenig  an  Wert.  Denn  der  Stagirit  war 
ein  langjähriger,  persönlicher  Schüler  Piatons,  ebenso  wie 
dieser  ein  mehrjähriger,  persönlicher  Jünger  des  Sokrates  ge- 
wesen war.  Ihm  standen  also  jene  direkten  Nachrichten,  die  wir 
so  schmerzlich  vermissen,  reichlich  zu  Gebote;  und  dazu,  ihm 
eine  tendenziöse  oder  nachlässige  Wiedergabe  dessen,  was  er 
so  erfahren,  zuzutrauen,  haben  wir  kaum  an  irgend  einem  Punkte 
Anlaß.  Das  Wenige  also,  was  er  uns  über  Inhalt  und  Methode 
des  sokratischen  Denkens  mitteilt,  können  wir  im  wesentlichen 
für  authentisch  halten. 

Sodann  aber  legen  zwar  die  Sokratiker  dem  Sokrates  ihre 
eigenen  Gedanken  in  den  Mund,  aber  sie  legen  sie  doch  eben 
dem  Sokrates  in  den  Mund.  Sie  setzen  nicht  einfach  vor  ihre 
eigenen  Äußerungen  den  Namen  des  Meisters  und  einen  Doppel- 
punkt, sondern  sie  entwickeln,  was  sie  sagen  wollen,  in  einer  sol- 
chen Form,  wie  sie  meinen,  daß  der  Meister  es  hätte  aussprechen 
können.  Sie  schildern  uns,  mit  anderen  Worten,  die  Persönlich- 
keit des  Sokrates,  und  lassen  erst  diese  jene  Gedanken  aus- 
sprechen. Und  zwar  kann  dies  mit  voller  Zuversicht  behauptet 
werden.  Denn  sowohl  der  platonische  wie  auch  der  xenophon- 
tische  Sokrates  wird  uns  als  eine  charakteristische  Figur  vor- 


VORSOKRATIKER 


65 


geführt,  die  mit  dem,  was  wir  von  Piaton  und  Xenophon 
selbst  wissen,  durchaus  nicht  zusammenfällt.  Und  diese  beiden 
Figuren  stimmen  auch  untereinander  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  überein.  Ja,  mehr  als  das:  so  verschieden  auch  der 
Lehrgehalt  bei  beiden  Autoren  ist,  hinsichtlich  der  Persön- 
lichkeit findet  sich  kaum  ein  eigentlicher  Widerspruch,  son- 
dern nur  ein  Unterschied  im  engsten  Sinne.  Xenophon 
nämlich  zeichnet  gewisse  allgemeine  Umrisse,  Piaton  über 
diese  hinaus  ein  ins  einzelne  gehendes,  höchst  individuelles  und 
lebendiges  Charakterbild.  Es  kann  sich  also  nicht  fragen,  ob 
wir  uns  die  Persönlichkeit  des  Sokrates  nach  der  Schilderung 
des  Xenophon  oder  nach  der  des  Piaton  denken  sollen, 
sondern  nur,  ob  wir  das  Plus,  daß  wir  bei  Pia  ton  antreffen, 
uns  aneignen  dürfen  oder  nicht?  Daß  nun  Piaton  im  höchsten 
Grade  das  mimetische  Talent,  die  Gabe  der  Menschen-  und 
Charakterdarstellung  besaß,  wird  kein  Leser  seiner  Schriften 
bezweifeln.  Niemand  kann  also  bestreiten,  daß  er  in  seinen 
Dialogen  die  Persönlichkeit  des  Sokrates  nachbilden  konnte. 
Es  fragt  sich  nur,  ob  er  dies  auch  wollte?  Das  heißt:  wir  sind 
berechtigt,  die  Persönlichkeit  des  platonischen  Sokrates  für 
die  des  geschichtlichen  zu  nehmen,  sobald  wir  kein  Motiv  an- 
geben können,  das  P 1  a  t o  n  bewogen  haben  könnte,  die  historische 
Gestalt  durch  eine  fiktive  zu  ersetzen.  Nun  ist,  bei  der  durchweg 
bewundernden  Behandlung  des  Sokrates,  das  sonst  bei  Pia  ton 
so  häufige  parodistische  Motiv  von  vornherein  auszuschlie- 
ßen. Folglich  bliebe  nur  die  Möglichkeit  einer  idealisieren- 
den Umarbeitung  übrig.  .Daß  aber  der  platonische  Sokrates 
eine  Idealgestalt  wäre,  diese  Eventualität  können  wir  aus  meh- 
reren Gründen  für  unmöglich  erklären.  Denn  einmal  haben  die 
charakteristischen  Züge  dieses  Bildes  (die  Art  der  Gespräch- 
führung, die  Ironie,  das  Daimonion)  mit  Piatons  ethischem 
Ideal  auch  nicht  den  mindesten  Zusammenhang,  und  hätten  also 
niemals  zu  dessen  Verkörperung  ersonnen  werden  können.  So- 
dann aber  ist  dieses  Bild  der  Eigenart  P 1  a  to  n s  nicht  einmal  kon- 
genial: Piaton  ist  der  personifizierte  Schwung,  der  platonische 

Gomperz,  Lebensauffassung  5 


66 


DRITTE  VORLESUNG 


Sokrates  ist  die  personifizierte  Sachlichkeit.  Die  Folge  davon 
ist,  daß  Pia  ton  trotz  aller  Kunst  den  Sokrates  gar  häufig  aus  der 
Rolle  fallen  und  platonisieren  läßt.  Aber  sobald  dies  geschieht, 
sobald  Sokrates  pathetisch  wird  und  in  Bildern  schwelgt,  ver- 
säumt Piaton  kaum  je,  anzudeuten,  daß  dies  nun  eben  nicht 
mehr  die  sokratische  Art  sei,  indem  er  ihn  sich  entweder  auf 
alte  Mythen  berufen  läßt,  die  er  nur  nacherzähle  („Gorgias„, 
„Phaidon",  „Staat"),  oder  auf  fremde  Reden,  die  er  nur  wieder- 
gebe („Gastmahl"),  oder  auf  einen  plötzlichen  Anfall  von  En- 
thusiasmus, über  den  er  sich  selbst  verwundere  („Phaidros"). 
Kurz,  wir  erhalten  aus  alledem  den  Eindruck,  daß  die  sokra- 
tische Persönlichkeit,  die  Piaton  uns  darstellt,  ihm  als  ein 
Fremdes,  Gegebenes  gegenübersteht,  dem  er  die  Darlegung  sei- 
ner eigenen  Gedanken  mit  außerordentlicher  Kunst,  aber  nicht 
mit  durchgängigem  Erfolge  anzupassen  bemüht  ist.  Dann  kann 
aber  dieses  Fremde,  Gegebene  eben  nur  die  geschichtliche  Per- 
sönlichkeit des  Sokrates  sein,  oder,  wie  ich  es  an  anderem 
Orte  ausgedrückt  habe:  „Die  platonischen  Dialoge  sind  Kunst- 
werke, zu  denen  das  platonische  Denken  den  Stoff,  aber  die 
sokratische  Persönlichkeit  die  Form  abgegeben  haben."  Fragen 
Sie  aber,  wie  man  denn  die  Persönlichkeit  eines  Mannes  getreu 
darstellen  könne,  indem  man  ihn  zugleich  sagen  lasse,  was  er  nie 
gesagt  hat  —  so  fragen  Sie  nur  nach  der  Möglichkeit  stilisierter 
Darstellung  überhaupt.  Und  die  Antwort  wird  lauten  müssen: 
wenn  Piaton  den  Sokrates  in  der  Apologie  sprechen  läßt,  was 
er  damals  etwa  hätte  sagen  können,  so  läßt  er  ihn  sowohl  in  der 
Apologie  als  auch  sonst  so  reden,  wie  er  hätte  sprechen  können. 
Und  dieses  Wie?,  von  einem  großen  Meister  dargestellt,  ist  ge- 
wiß nicht  weniger  charakteristisch,  als  es  dieses  oder  jenes  au- 
thentische Diktum  wäre.  Wie  wir  daher  über  die  sokratische 
Lehre  zwar  keinen  wortgetreuen  Bericht,  wohl  aber  ein  höchst 
sachkundiges  und  zuverlässiges  Exzerpt  besitzen,  so  auch  von 
der  sokratischen  Persönlichkeit  zwar  keine  Photographie,  statt 
dessen  aber  ein  künstlerisch  vollendetes  (und  daneben  ein  mittel- 
mäßiges) Porträt. 


VORSOKRATIKER 


Zu  diesen  beiden  Quellen  kommt  nun  als  dritte,  und  nicht 
weniger  wichtige,  der  Rückschluß  von  den  Jüngern  auf  den 
Meister.  Drei  höchst  originelle  und  höchst  verschiedene  Män- 
ner: Piaton,  Antisthenes  und  Aristipp  sind  uns  sowohl 
ihrer  ethischen  Grundstimmung  wie  auch  ihrer  theoretischen 
Grundansichten  nach  bekannt.  Sie  alle  meinen,  seinem  Geiste 
treu  zu  bleiben  und  seine  Gedanken  zu  Ende  zu  denken.  Die 
Entwicklung  ihrer  Ideale  und  Lehren  verläuft  in  auseinander- 
gehenden Strahlen,  die  man  nur  bis  zu  ihrem  gemeinsamen 
Schnittpunkte  rückwärts  zu  verfolgen  braucht,  um  auf  die  Per- 
sönlichkeit und  die  Lehre  des  Sokrates  zu  treffen.  Dieses  Ver- 
fahren stellt  die  Probe  auf  das  andere  dar,  und  eine  Auffassung, 
welche  diesem  wie  jenem  entspricht,  darf  so  ziemlich  sicher 
sein,  die  wesentlichen  Momente  des  geschichtlichen  Tatbe- 
standes nicht  zu  verfehlen.  Eine  solche  Auffassung  aber  hoffe 
ich,  Ihnen  in  den  nächsten  Vorlesungen  darlegen  zu  können. 
Ihre  Obereinstimmung  mit  den  beiden  ersten  Quellen  wird  sich 
uns  dabei  fortlaufend  Schritt  für  Schritt  ergeben;  die  mit  der 
dritten  wird  bestätigend  hinzutreten,  sobald  wir  dazu  gelangen 
werden,  uns  mit  der  platonischen,  antisthenischen  und  aristippi- 
schen  Ethik  selbst  zu  beschäftigen. 


5* 


SOKRATES  I 


VIERTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 

IE  äußeren  Hindernisse,  die  sich  unserer 
Kenntnis  des  Sokrates  in  den  Weg  stellen, 
haben  wir  nun  überwunden:  wir  haben  ge- 
sehen, welchen  Berichten  wir  vertrauen 
können;  daß  wir  dem  Aristoteles  glauben 
müssen  hinsichtlich  der  Lehre,  dem  Pia  ton 
hinsichtlich  der  Persönlichkeit,  und  beider 
Angaben  kontrollieren  an  den  Idealen  und  Theorien  der  Jünger. 
Von  der  Persönlichkeit  sollten  wir  nun  den  Ausgang  nehmen; 
denn  sie  ist,  in  diesem  Falle  mindestens,  das  Grundlegende  und 
Entscheidende.  Doch  da  treten  meiner  Darstellung  alsbald 
die  inneren  Schwierigkeiten  entgegen. 

Es  sind  deren  im  Grunde  zwei.  Die  Persönlichkeit  eines 
Menschen  können  wir  nur  erkennen  in  seinem  Leben.  Ein  Leben 
aber  können  wir  nur  erfassen  entweder  in  seiner  Breite,  oder 
in  seinen  Höhepunkten.  Wir  können  das  Wesen  und  die  Art 
eines  Mannes  auf  uns  wirken  lassen:  einmal,  indem  wir  die 
gewohnte  Stimmung  seines  Alltagsdaseins  in  uns  aufnehmen, 
und  so  einen  Gesamteindruck  in  uns  erzeugen;  sodann,  indem 
wir  ihn  in  jenen  seltenen  Einzelaugenblicken  betrachten,  wo  er 
all  seine  Kräfte  und  Anlagen  zusammennimmt  und  den  Grund- 
zug seines  Seins  offenbart. 

Allein  von  solchen  außerordentlichen  Ereignissen  im  Leben 
des  Sokrates  wissen  wir  wenig.  Was  ist  damit  gewonnen, 
wenn  ich  Ihnen  sage,  daß  er  einige  Schlachten  mitgemacht  und 
sich  dabei  durch  ungewöhnliche  Tapferkeit  ausgezeichnet  hat? 


SOKRATES  I 


69 


Daß  er,  einmal  durchs  Los  zur  Teilnahme  an  der  Leitung  der 
Volksversammlung  berufen,  um  den  Buchstaben  des  Gesetzes 
zu  wahren,  den  Drohungen  einer  wütenden  Menge  getrotzt  hat? 
Daß  er,  als  die  demokratische  Staatsverfassung  auf  kurze  Zeit 
von  der  oligarchischen  Herrschaft  der  sogenannten  30  Tyrannen 
abgelöst  wurde,  sich  furchtlos  geweigert  hat,  zu  der  ungesetz- 
lichen Verhaftung  des  Leon  von  Salamis  die  Hand  zu  bieten? 

Über  den  platonischen  Schilderungen  des  sokratischen  All- 
tagslebens aber  liegt  ein  Zauberduft,  den  jeder  Versuch  ver- 
scheucht, einzelne  Stellen  aus  dem  Zusammenhange  zu  reißen 
oder  durch  allgemeine  Worte  die  gemeinsamen  Züge  jener 
anschaulichen  Einzelheiten  herauszuheben.  Ich  kann  Ihnen 
sagen,  daß  S  o  k  r  a  t  e  s  den  angestammten  Bildhauerberuf  vernach- 
lässigte, und  daß  seine  häuslichen  Verhältnisse  von  großerDürf- 
tigkeit  waren.  Ich  kann  Ihnen  von  der  sprichwörtlichen  Einfach- 
heit und  Mäßigkeit  seines  Lebens  reden;  Ihnen  erzählen,  wie 
er  die  Tage  damit  verbrachte,  auf  dem  Markt,  in  den  Ringschulen, 
kurz  an  allen  öffentlichen  Orten  mit  älteren  und  jüngeren  Mit- 
bürgern sich  zu  unterreden;  wie  er  in  diesen  Unterredungen, 
halb  angeregt  durch  eine  zufällige  Wendung  des  Gespräches, 
halb  die  Gelegenheit  suchend,  über  ein  ihn  beschäftigendes 
Problem  zur  Klarheit  zu  gelangen,  bald  die  Führung  des  Ge- 
spräches übernimmt;  wie  er  durch  die  wunderlichsten  Fragen 
und  an  der  Hand  der  alltäglichsten  Beispiele  (von  Eseln  und 
Pferden,  Schneidern  und  Schustern),  unter  steter  Betonung 
seiner  Unwissenheit  und  seines  Wissensdurstes  den  Anderen 
auffordert,  über  seine  scheinbar  einfachsten  und  klarsten  Be- 
griffe Rechenschaft  abzulegen;  wie  sein  Kreuzverhör  diesen  bald 
in  Verwirrung  bringt,  bald  wieder  zu  neuen  Klärungs-  und 
Lösungsversuchen  anregt;  wie  sich  diese  Erörterungen  mit  Vor- 
liebe um  die  Grundbegriffe  des  praktischen  Lebens  bewegen, 
so  daß  der  Mitunterredner  sich  bestürzt  als  zu  jedem  Handeln 
und  Wirken  unfähig  erscheint,  und  ihm,  bald  unter  mißmutigem 
Groll,  bald  auch  unter  Tränen,  die  eigene  Unzulänglichkeit  zum 
Bewußtsein  gebracht  wird;  —  aber  ich  muß  zweifeln,  ob  solche 


70 


VIERTE  VORLESUNG 


Mitteilungen  imstande  sind,  das  leibhaftige  Bild  des  Sokrates 
in  Ihnen  zu  erwecken. 

Andererseits  können  wir  im  Rahmen  dieser  Vorlesungen 
diesem  Bilde  nicht  auf  den  Wegen  Piatons  uns  nähern,  und 
den  Mann,  sein  Wesen  und  Wirken  im  Rahmen  der  mannig- 
faltigen, ihm  zugehörigen  Umgebungen  kennen  lernen.  Ich  kann 
Sie  nicht  an  der  Hand  des  platonischen  „Lysis"  in  die  Ring- 
schule führen,  an  der  des  „Laches"  auf  den  Markt,  an  der  des 
„Protagoras"  in  die  Sophistenversammlung,  an  der  des  „Gast- 
mahls" zum  nächtlichen  Schmause,  wo  Sokrates,  nachdem 
unsterbliche  Reden  gewechselt  wurden,  alle  anderen,  und  selbst 
den  Gastgeber,  unter  den  Tisch  trinkt,  um  alsbald,  klaren  Kopfes 
und  ruhigen  Geistes,  wieder  seiner  gewohnten  Lebensweise 
nachzugehen.  Diejenigen,  welche  den  Meister,  vom  Jünger  ge- 
führt, auf  diesen  Gängen  im  Geiste  begleitet  haben,  bilden  eine, 
über  alle  Länder  und  Zeiten  zerstreute,  über  alle  Grenzen  der 
Sprache  und  des  Glaubens  hinausgreifendeGemeinschaft.  Allein 
zu  ihr  führt  kein  anderer  Eingang  als  das  Studium  Piatons. 
Wir  müssen  uns  hier  mit  einem  sehr  unvollständigen  Ersatz- 
mittel begnügen:  einem  Surrogat,  dessen  glücklichen  Besitz  wir 
der  großen  Katastrophe  verdanken,  die  über  Sokrates  am 
Ende  seines  Lebens  hereingebrochen  ist. 

Im  Jahre  399  v.  Chr.  nämlich,  als  der  Meister  über  70  Jahre 
alt  geworden  war,  ward  gegen  ihn  eine  Klage  eingebracht,  deren 
Wortlaut  viele  Jahrhunderte  später  der  Gelehrte  Favorinus1 
nach  Einsicht  in  den  im  athenischen  Archiv  aufbewahrten  Ori- 
ginalakt so  angegeben  hat:  „Meietos,  Sohn  des  Meietos,  von 
Pitthos,  hat  gegen  Sokrates,  Sohn  des  Sophroniskos,  von 
Alopeke,  folgendeKlage  eingebracht  und  beschworen:  Sokrates 
ist  schuldig,  die  Götter  nicht  anzuerkennen,  welche  die  Stadt 
anerkennt,  sondern  ein  anderes,  neues  Geisterwesen  einzu- 
führen; er  ist  ferner  schuldig,  die  Jugend  zu  verderben.  Bean- 
tragt wird  die  Todesstrafe."  Um  gegen  diese  Anklage  sich  zu 
verteidigen,  erschien  Sokrates  vor  der  großen,  aus  500  oder 

!)  Bei  Diog.  Laert.  II.  40. 


SOKRATES  I  71 

600  Bürgern  bestehenden  Jury.  Meietos  und  seine  beiden 
Mitankläger  Anytos  und  Lykon  hielten  ihre  Anklagereden. 
Von  Belastungszeugen  ist  nichts  überliefert.  Und  dann  hielt 
Sokrates  seine  Verteidigungsrede.  In  welchem  Sinne  nun 
Piatons  Bericht  über  diese  Rede  aufzufassen  ist,  habe  ich  Ihnen 
neulich  auseinandergesetzt.  Es  hat  sich  ergeben,  daß  er  zwar 
nicht  als  eine  geschichtlich  treue  Widergabe  derselben  ange- 
sehen werden  kann,  daß  er  aber  allerdings  Piatons  Meinung 
über  den  Fall  ausdrückt  und  zugleich  Sokrates  sprechen  läßt, 
wie  er  nach  Piatons  Überzeugung  hätte  sprechen  können.  Ich 
glaube  deshalb,  Ihnen  ein  wenigstens  teilweises  Verständnis  der 
sokratischenPersönlichkeit  noch  am  besten  vermitteln  zu  können, 
indem  ich  Sie  mit  dem  hauptsächlichsten  Inhalte  und  den  be- 
zeichnendsten Stellen  der  platonischen  Apologie  bekannt  mache. 

Nachdem  sich  Sokrates  wegen  seiner  schlichten  Redeweise 
entschuldigt  hat,  unterscheidet  er  von  der  eben  zur  Verhandlung 
stehenden  Anklage  eine  frühere  und  gefährlichere,  mit  der  Ver- 
leumder seit  vielen  Jahren  die  Ohren  des  Volkes  angefüllt 
haben,  indem  sie  von  ihm  behaupteten,  was  man  eben  von  allen 
Philosophen  zu  behaupten  pflegt:  daß  sie  nämlich  (wie  die  alten 
Naturphilosophen)  die  unterirdischen  und  himmlischen  Erschei- 
nungen studieren  (und  so  die  angestammte  Religion  unter- 
graben), und  daß  sie  (wie  die  Sophisten)  die  schwächere  Sache 
zur  stärkeren  machen.  Was  nun  das  erste  anbelangt,  so  ver- 
stehe er  von  diesen  Dingen  auch  nicht  das  mindeste,  was  er  aber 
nicht  sage,  um  eine  solche  Wissenschaft  herabzusetzen,  wenn 
wirklich  jemand  in  ihr  gesicherte  Kenntnisse  habe,  sondern  nur, 
weil  er  eben  an  ihr  durchaus  keinen  Teil  habe.  Und  es  könnten 
die  Anwesenden  bezeugen,  daß  er  nie  von  solchen  Gegenständen 
spreche.  „Aber  auch,1  wenn  ihr  vielleicht  von  irgend  wem  ge- 
hört habt,  daß  ich  Leute  zu  erziehen  suche  und  (dafür)  Geld 
nehme,  auch  an  alledem  ist  nichts  Wahres.  Denn  auch  dies 
(zwar)  scheint  mir  eine  schöne  Sache,  wenn  einer  imstande  ist, 
Menschen  zu  erziehen,  wie  Gorgias  von  Leontinoi,  Prodikos 

i)  Apolog.  p.  19dff. 


72 


VIERTE  VORLESUNG 


vonKeos  und  Hippias  von  Elis.  Denn  diese  alle,  ihr  Männer, 
gehen  in  alle  Städte  und  vermögen  die  jungen  Leute,  denen  es 
doch  frei  stünde,  von  ihren  Mitbürgern  mit  wem  sie  wollten 
häufigen  Umgang  zu  pflegen,  —  diese  also  sind  sie  im  stände 
dahin  zu  bringen,  daß  sie  von  dem  Umgang  mit  jenen  ablassen 
und  mit  ihnen  verkehren,  und  ihnen  (noch  obendrein)  Geld 
geben  und  Dank  wissen.  Denn  —  da  ist  (ja  z.  B.)  noch  ein  an- 
derer gelehrter  Mann  hier,  ein  Parier,  den  ich  selbst  hier  am 
Orte  gesehen  habe.  Ich  begegnete  nämlich  zufällig  einem  Manne, 
der  den  Sophisten  mehr  Geld  gezahlt  hat  als  alle  anderen  zu- 
sammen, —  Kallias  (mein'  ich),  den  Sohn  des  Hipponikos. 
Diesen  also  frag'  ich  —  er  hat  nämlich  zwei  Söhne  —  Kallias, 
sag'  ich,  wenn  deine  beiden  Jungen  Füllen  oder  Kälber  wären, 
so  könnten  wir  für  sie  wohl  einen  Aufseher  nehmen  und  an- 
stellen, der  im  stände  wäre,  sie  in  der  ihnen  zukommenden 
Tüchtigkeit  gefällig  und  tauglich  zu  machen;  es  wäre  das  aber 
ein  Bereiter  oder  ein  Ackersmann;  nun  sie  aber  Menschen  sind, 
wen  hast  du  vor,  ihnen  zum  Aufseher  zu  nehmen?  Wer  wäre 
(wohl)  kundig  in  bezug  auf  eine  solche  Tüchtigkeit,  die  mensch- 
liche und  bürgerliche?  Denn  ich  denke,  du  wirst  darüber  nach- 
gedacht haben,  da  du  ja  die  Söhne  hast.  Gibts  einen  solchen, 
sag'  ich,  oder  nicht?  O,  freilich,  sagt  er.  Wer  denn,  sag'  ich, 
und  wo  ist  er  her,  und  was  kostet  sein  Unterricht?  Euenos, 
sagt  er,  Sokrates,  aus  Paros,  fünf  Minen.  Und  da  pries  ich  den 
Euenos  selig,  wenn  er  wirklich  diese  Kunst  versteht  und  so 
herrlich  unterrichtet.  Auch  ich  selbst  würde  mir  also  schön  vor- 
kommen und  damit  Staat  machen,  wenn  ich  das  verstünde.  Aber 
ich  verstehe  es  (eben)  nicht,  ihr  Athener!  —  Jetzt  möchte  mich 
aber  vielleicht  einer  von  euch  unterbrechen  (und  sagen):  Aber, 
Sokrates,  was  treibst  du  denn  (eigentlich)?  Woher  sind  denn 
diese  Verleumdungen  gegen  dich  entstanden  ?  Denn  gewiß,  wenn 
du  nicht,  mit  allen  Anderen  verglichen,  etwas  ganz  außerordent- 
liches getrieben  hättest,  so  wäre  nicht  über  dich  eine  solche  Nach- 
rede und  ein  solcher  Ruf  entstanden, — wenn  du  nicht  etwas  ganz 
anderes  getanhättestals  die  Mehrzahl.  Sag' uns  also,  was  es  ist, da- 


SOKRATES  I 


73 


mit  wir  nicht  ohne  Sachkenntnis  über  dich  (entscheiden)."  Diese 
Frage  wolle  er  beantworten.  „Ich  habe  nämlich,  ihr  Männer, 
diesen  Ruf  erlangt  durch  nichts  anderes,  als  durch  eine  gewisse 
Weisheit.  Was  für  eine  Weisheit  aber  ist  das?  Wie  eben  etwa 
die  menschliche  Weisheit  ist.  Denn  in  dieser  ist  es  wirklich 
möglich,  daß  ich  weise  bin;  jene  aber,  von  denen  ich  eben 
sprach,  mögen  vielleicht  in  einer  höheren,  als  der  Menschheit 
zukommt,  weise  sein  —  oder  ich  weiß  nicht,  wie  ich  mich  aus- 
drücken soll,  denn  ich  verstehe  ja  gar  nichts  von  ihr,  und  wer 
das  behauptet,  der  sagt  die  Unwahrheit  und  will  mich  damit 
verleumden.  Und,  ihr  Athener,  macht  mir  keinen  Lärm;  auch 
nicht,  wenn  ich  mich  zu  überheben  scheine.  Denn,  was  ich  sagen 
will,  sind  nicht  meine  Worte,  sondern  ich  werde  sie  euch  auf  eine 
glaubwürdige  Aussage  zurückführen.  Denn  über  meine  Weis- 
heit, ob  sie  wirklich  existiert  und  welcher  Art  sie  ist,  darüber 
werde  ich  euch  als  Zeugen  führen  —  den  delphischen  Apollo n. 
Nämlich  —  ihr  erinnert  euch  doch  wohl  des  Chairephon. 
Der  war  mein  Kamerad  von  Kindheit  an  und  war  auch  ein 
Parteigenosse  von  euch  Demokraten,  und  ist  da  mit  euch  emi- 
griert und  mit  euch  wieder  zurückgekommen.  Und  ihr  wißt  ja, 
wie  Chairephon  war,  wie  eifrig  in  allem,  was  er  angriff.  Und 
so  kam  er  auch  einmal  nach  Delphi  und  war  so  verwegen,  an 
das  Orakel  folgende  Frage  zu  richten  —  und,  wie  gesagt,  lärmt 
nicht,  ihr  Männer  — ;  er  fragte  also,  ob  jemand  weiser  sei  als 
ich.  Und  die  Pythia  gab  zur  Antwort,  es  sei  niemand  weiser. 
Und  dies  wird  euch  dieser  sein  Bruder  hier  bezeugen,  nachdem 
jener  gestorben  ist.  —  Bedenkt  aber,  weswegen  ich  das  erzähle. 
Ich  will  euch  nämlich  klar  machen,  wie  die  Verleumdung  gegen 
mich  entstanden  ist.  Nämlich,  als  ich  das  hörte,  dachte  ich  bei 
mir  folgendes:  was  mag  wohl  der  Gott  sagen  wollen,  und  was 
gibt  er  da  für  ein  Rätsel  auf?  Denn  ich  bin  mir  doch  wahrlich 
bewußt,  nicht  sehr  weise  und  auch  nicht  (einmal)  etwas  weise 
zu  sein.  Was  meint  er  also,  wenn  er  sagt,  ich  sei  der  Weiseste? 
Denn  lügen  tut  er  doch  gewiß  nicht;  das  wäre  ja  gegen  seine 
Natur.  Und  lange  Zeit  war  ich  ratlos,  was  er  wohl  meine?  Dann 


74 


VIERTE  VORLESUNG 


aber  wandte  ich  mich,  ungern  genug,  dazu,  es  etwa  auf  folgende 
Art  zu  finden.  Ich  ging  zu  einem,  der  als  weise  galt,  um  hier, 
wenn  irgendwo,  das  Orakel  zu  widerlegen  und  dem  Spruch  klar 
zu  machen:  ,Dieser  ist  doch  weiser  als  ich,  obwohl  du  gesagt 
hast,  ich  sei  es.4  Als  ich  nun  diesen  untersuchte  —  den  Namen 
brauche  ich  ja  nicht  zu  nennen,  es  war  aber  ein  Politiker,  mit 
dem  ich  eine  solcheErfahrung  machte,  ihr  Athener  —  und  wie  ich 
mit  ihm  sprach,  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  dieser  Mann  zwar 
vielen  anderen  Menschen  und  besonders  sich  selbst  weise  vor- 
komme, es  aber  nicht  sei;  und  da  suchte  ich  ihm  zu  zeigen,  daß 
er  glaube,  weise  zu  sein,  ohne  es  zu  sein.  Und  infolgedessen 
wurde  ich  ihm  verhaßt  und  vielen  Anwesenden.  Ich  aber  dachte 
im  Weggehen  so  bei  mir:  weiser  als  dieser  Mensch  bin  ich 
schon;  denn  es  mag  zwar  wohl  sein,  daß  keiner  von  uns  beiden 
etwas  rechtes  und  ordentliches  weiß;  aber  er  glaubt  etwas  zu 
wissen,  obwohl  er  nichts  weiß;  ich  aber  glaube  ebensowenig 
etwas  zu  wissen,  wie  ich  eben  nichts  weiß.  Es  sieht  also  aus, 
als  ob  ich  eben  um  dieses  wenige  weiser  wäre  denn  er,  daß  ich, 
was  ich  nicht  weiß,  mir  auch  nicht  einbilde  zu  wissen.  Und  da 
ging  ich  zu  einem  anderen,  der  weiser  zu  sein  schien  als  jener 
(erste),  und  hatte  (aber)  eben  diesen  selben  Eindruck;  und  da 
wurde  ich  auch  ihm  und  vielen  anderen  verhaßt."  Nach  den 
Politikern  sei  er  nun  zu  den  Dichtern  gegangen  und  habe  sie 
über  ihre  Werke  ausgefragt.  Aber  unglaublicherweise  hätten 
sie  über  ihre  eigenen  Schöpfungen  fast  noch  ungenügender 
Auskunft  gegeben  als  die  Laien;  und  so  habe  er  eingesehen, 
daß  die  Dichter  nicht  infolge  eines  besonderen  Wissens  produ- 
zieren, sondern  kraft  einer  gewissen  Naturanlage  und  im  Enthu- 
siasmus, dabei  aber  sich  einbilden,  alle  Dinge  zu  verstehen. 
Sokrates  kam  also  zu  der  Meinung,  er  sei  ihnen  in  demselben 
Sinne  überlegen  wie  den  Politikern.  Endlich  habe  sich  seine 
Untersuchung  den  Handwerkern  zugewandt,  und  hier  habe  er 
in  der  Tat  ein  gediegenes  fachliches  Wissen  angetroffen.  Aber 
auch  hier  denselben  Dünkel  wie  bei  den  Dichtern,  indem  näm- 
lich jeder  Meister,  weil  er  sein  Handwerk  verstand,  auch  alles 


SOKRATES  I 


75 


andere  zu  verstehen  meinte.  Und  dieser  ihr  Weisheitsdünkel 
habe  ihr  wirkliches  Wissen  reichlich  aufgewogen.  Aus  dieser 
Ausforschung  nun  seien  ihm  all  der  Haß  und  die  Verleumdung 
entstanden.  Denn,  sagt  er,  bei  einer  solchen  Unterredung 
„meinen  die  Zuhörer  immer,  ich  müsse  darin  ein  Wissen  be- 
sitzen, worin  ich  den  anderen  widerlege.  In  Wahrheit  aber,  ihr 
Männer,  dürfte  es  so  stehen,  daß  der  Gott  weise  ist  und  in 
seinem  Orakel  eben  das  sagen  will,  daß  die  menschliche  Weis- 
heit wenig  oder  (gar)  nichts  wert  ist.  Und  es  scheint,  daß  er 
nicht  von  Sokrates  dieses  aussagen  wollte,  sondern  sich  meines 
Namens  nur  bedient  hat,  um  mich  als  Beispiel  zu  verwenden  — 
so,  als  wollte  er  sagen :  derjenige,  ihr  Menschen,  ist  (noch)  der 
weiseste,  der  wie  Sokrates  eingesehen  hat,  daß  er  in  Wahrheit 
nicht  zur  Weisheit  taugt."  Nun  fänden  sich  zahlreiche  junge 
Leute,  denen  es  Vergnügen  macht,  ihm  bei  diesen  Gesprächen 
zuzuhören,  und  die  dann  auch  ihrerseits  ihn  nachahmen.  Und 
diejenigen,  welche  sie  ausforschen,  zürnten  dann  ihm  und  be- 
schuldigten ihn,  daß  er  die  Jugend  verderbe.  Und  so  sei  die 
jetzt  zur  Verhandlung  stehende  Anklage  entstanden,  in  der 
M  e  1  e  t  o  s  behaupte,  er  sei  schuldig,  die  Jugend  zu  verderben.  „Ich 
aber,  ihr  Athener,  behaupte,  daß  Meietos  schuldig  ist,  (euch) 
geflissentlich  zum  besten  zu  haben,  da  er  leichtfertig  Leute  vor 
Gericht  zieht  und  so  tut,  als  wäre  er  ernsthaft  besorgt  um 
Dinge,  an  denen  ihm  niemals  etwas  gelegen  ist.  Ich  will  euch 
aber  auch  zu  beweisen  trachten,  daß  sich  das  so  verhält.  —  Und 
nun  komm  (einmal)  her,  Meie  tos,  und  sag'  mir:  „Ist  es  nicht  so, 
daß  dir  viel  daran  liegt,  daß  die  jungen  Leute  so  trefflich  als 
möglich  werden?"  „Jawohl."  (Sie  werden  bemerken,  daß  die 
folgenden  Antworten  des  Meietos  von  der  äußersten  Dummheit 
sind.  Es  ist  Piaton  nicht  zuzutrauen  und  ist  gar  nicht  seine 
Art,  daß  er  dem  Gegner  solchen  Unsinn  in  den  Mund  gelegt, 
sich  die  Aufgabe  in  diesem  Maße  erleichtert  hätte.  Ich  halte 
deshalb  den  folgenden  Dialog  im  wesentlichen  für  geschichtlich.) 
„Also  komm'  und  sage  diesen  (hier),  wer  sie  bessert.  Denn 
offenbar  weißt  du's,  da  dir  ja  daran  liegt.  Denn  den,  der  sie 


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VIERTE  VORLESUNG 


schlechter  macht,  hast  du  ja  herausgefunden,  wie  du  behauptest, 
da  du  mich  hier  hereinbringst  und  anklagst;  also  jetzt,  bitte, 
sag'  ihnen  auch  deutlich:  wer  ist  es  denn,  der  sie  besser  macht? 
—  Siehst  du,  Meietos,  wie  du  schweigst  und  keine  Antwort 
weißt?  Aber  scheint  dir  das  nicht  eine  Schande  zu  sein  und 
ein  genügender  Beweis  für  das,  was  ich  sage,  daß  dir  das  gar 
nicht  am  Herzen  liegt?  Aber  sag'  uns  (doch),  Bester,  wer  macht 
sie  besser?"  „Die  Gesetze."  „Aber  das  frag'  ich  doch  nicht, 
Bester,  sondern:  welcherMensch?  Der  freilich  auch  vor  allem  die 
Gesetze  kennen  muß."  „Diese,  Sokrates,  die  Richter."  „Wie 
sagst  du,  Meietos?  Diese  Männer  hier  wären  imstande,  die 
jungen  Leute  zu  bilden  und  besser  zu  machen?"  „Ganz  gewiß." 
„Alle,  oder  nur  einige  von  ihnen,  andere  aber  nicht?"  „Alle." 
„Ein  schönes  Wort,  bei  der  Hera,  und  eine  Fülle  von  nützlichen 
Menschen.  Aber  wie?  Die  Zuhörer  hier  —  bessern  (auch)  sie 
oder  nicht?"  „Auch  sie."  „Und  die  Ratsherrn?"  „Auch  die 
Ratsherrn."  „Aber  nun,  Meietos,  die  Teilnehmer  an  der 
Volksversammlung,  verderben  die  etwa  die  Jugend,  oder  machen 
auch  sie  alle  sie  besser?"  „Auch  sie."  „Alle  Athener  also, 
scheint  es,  machen  (die  jungen  Leute)  gut  —  mich  ausgenommen; 
und  ich  allein  mache  sie  schlecht!  Meinst  du's  so?"  „Ja,  so 
mein'  ich's,  ganz  entschieden."  „Da  hast  du  mich  freilich  zu 
einem  großen  Unglück  verdammt.  Und  nun  sag'  mir:  meinst 
du,  daß  es  sich  auch  bei  den  Pferden  so  verhält?  Daß  (nämlich) 
alle  Menschen  sie  besser  machen  und  einer  sie  verdirbt?  Oder 
ist,  ganz  im  Gegenteil,  einer  imstande,  sie  besser  zu  machen, 
oder  ganz  wenige:  die  Reiter;  wenn  aber  der  große  Haufe  sich 
mit  den  Pferden  einläßt  und  sie  gebraucht,  so  verdirbt  er  sie? 
Verhält  es  sich  nicht  so,  Meietos,  mit  den  Pferden  und  auch 
mit  den  übrigen  Tieren?  Ganz  gewiß,  ob  du  und  Anytos  nun 
ja!  sagt  oder  nein!  Denn  es  wäre  wahrlich  ein  großes  Glück, 
wenn  nur  einer  die  Jugend  schlechter  machte,  alle  anderen  aber 
ihr  nützten.  Aber,  Meietos,  du  zeigst  ja  schon  zur  Genüge, 
daß  du  nie  (auch  nur)  an  die  Jugend  gedacht  hast,  und  beweisest 
uns  deutlich,  daß  dir  an  dem  gar  nichts  gelegen  ist,  weswegen  du 


SOKRATES  I 


77 


mich  (hier)  hereingebracht  hast.  —  Noch  aber  sag'  uns,  beim 
Zeus!  Meietos,  lebt  sich's  besser  unter  guten  Mitbürgern  oder 
unter  schlechten?  Antworte,  Freund!  Ich  frage  dich  ja  nichts 
schwieriges.  Fügen  nicht  die  Schlechten  ihren  Nächsten  schlech- 
tes zu,  die  Guten  aber  gutes?"  „Ja  freilich."  „Gibt  es  nun 
einen,  der  vorzöge,  von  seinen  Mitmenschen  geschädigt  statt 
gefördert  zu  werden?  Antworte,  Bester!  Denn  auch  das  Gesetz 
heißt  dich  antworten.  Gibt  es  einen,  der  es  vorzieht,  geschädigt 
zu  werden?"  „Das  nicht."  „Und  nun,  klagst  du  mich  an,  daß 
ich  die  jungen  Leute  verderbe  und  schlechter  mache  —  ab- 
sichtlich oder  unabsichtlich?"  „Absichtlich,  mein' ich."  „Wie? 
Meietos!  So  viel  weiser  bist  du  in  deinen  Jahren  als  ich  in 
meinen  Jahren,  daß  du  zwar  (schon)  eingesehen  hast,  daß  stets 
die  Schlechten  ihren  Nächsten  schlechtes  tun,  die  Guten  aber 
gutes;  ich  aber  habe  es  in  der  Unwissenheit  so  weit  gebracht, 
daß  ich  nicht  einmal  das  weiß,  daß,  wenn  ich  einen  Bekannten 
schlecht  mache,  ich  Gefahr  laufe,  von  ihm  Übles  zu  erfahren, 
und  also  ein  so  großes  Übel  absichtlich  mir  zuziehe,  wie  du 
behauptest?  Das  glaube  ich  dir  nicht,  Meietos,  und,  glaub' 
ich,  auch  kein  anderer  Mensch;  sondern,  entweder  verderbe  ich 
sie  (überhaupt)  nicht,  oder,  wenn  ich  sie  verderbe,  (geschieht  es) 
unabsichtlich:  du  also  hast  in  beiden  Fällen  Unrecht.  Verderbe 
ich  sie  aber  unabsichtlich,  dann  entspricht  es  nicht  dem  Ge- 
setz, einen  wegen  derartiger  unfreiwilliger  Verfehlungen  hierher 
zu  zitieren,  sondern  vielmehr,  ihn  bei  Seite  zu  nehmen,  aufzu- 
klären und  zurecht  zu  weisen.  Denn  offenbar  werde  ich,  was 
ich  unabsichtlich  tue,  aufgeben,  wenn  ich's  einsehe.  Du  aber, 
mit  mir  zu  reden  und  mich  aufzuklären,  —  das  hast  du  ver- 
mieden und  hast  es  nicht  gewollt.  Hieher  aber  hast  du  mich  vor- 
laden lassen,  wo  nach  dem  Gesetz  diejenigen  erscheinen  sollen, 
die  der  Strafe  bedürfen,  nicht  aber  der  Belehrung.  —  Aber,  ihr 
Athener,  das  ist  doch  wohl  schon  klar,  was  ich  sagte,  daß  sich 
Meietos  um  diese  Dinge  niemals,  weder  viel  noch  wenig,  ge- 
kümmert hat.  Trotzdem  aber,  Meie  tos,  sag'  uns  doch  noch, 
wodurch  du  meinst,  daß  ich  die  jungen  Leute  verderbe.  Der 


78 


VIERTE  VORLESUNG 


von  dir  eingereichten  Klage  nach  offenbar  dadurch,  daß  ich  sie 
anweise,  jene  Götter  nicht  anzuerkennen,  die  die  Stadt  aner- 
kennt, sondern  ein  anderes  neues  Geisterwesen.  Behauptest  du 
nicht  dies:  daß  ich  sie  durch  (solche)  Anweisung  verderbe?" 
„Und  zwar  behaupte  ich  das  mit  aller  Entschiedenheit."  „Bei 
diesen  Göttern  selbst  nun,  Meietos,  von  denen  jetzt  die  Rede 
ist,  sag'  es  noch  deutlicher  —  mir  und  diesen  Männern.  Ich 
nämlich  kann  nicht  verstehen,  ob  du  meinst,  ich  lehrte,  man 
solle  zwar  an  das  Dasein  von  irgendwelchen  Göttern  glauben, 
und  ich  glaubte  also  auch  selbst  an  Götter  und  sei  nicht  ganz 
und  gar  gottlos,  und  nicht  darin  bestünde  meine  Schuld,  (sondern 
darin,  daß  ich)  nicht  an  jene  glaube,  an  welche  die  Stadt  glaubt, 
vielmehr  an  andere,  und  dies  sei  eben,  was  du  mir  vorwirfst,  daß 
es  andere  (sind)?  —  oder  ob  du  behauptest,  daß  ich  selbst  über- 
haupt an  keine  Götter  glaube  und  auch  Andere  (eben)  dieses 
lehre."  „Das  meine  ich,  daß  du  überhaupt  nicht  an  Götter 
glaubst."  „O  du  unbezahlbarer  Meietos,  was  redest  du  da? 
Nicht  einmal  die  Sonne  und  den  Mond  halte  ich  für  Götter,  wie 
die  anderen  Menschen?"  „Nein,  beim  Zeus,  ihr  Richter,  denn 
er  behauptet,  die  Sonne  sei  ein  Stein  und  der  Mond  eine  Erde." 
„Gegen  Anaxagoras  glaubst  du  wohl,  lieber  Meietos,  deine 
Anklage  zu  vertreten,  und  so  sehr  verachtest  du  diese  Männer 
und  hältst  sie  für  so  ungebildet,  daß  sie  nicht  wissen,  daß  es  die 
Bücher  des  Klazomeniers  Anaxagoras  sind,  die  von  diesen 
Reden  voll  sind!  Und  das  also  erfahren  die  jungen  Leute  von 
mir,  was  sie  (doch)  alle  Augenblicke  um  eine  Drachme,  wenns 
hoch  kommt,  beim  Buchhändler  kaufen  können,  um  dann  den 
Sokrates  auszulachen,  wenn  er  es  sich  zuschreibt  —  besonders 
wo  es  doch  so  ungereimtes  Zeug  ist!  Aber  beim  Zeus!,  in  diesem 
Sinne  (also)  meinst  du,  daß  ich  an  keinen  Gott  glaube?"  „Ja, 
beim  Zeus,  an  keinen  und  in  keinem  Sinne."  „Du  bist  ungläubig, 
Meietos,  und  zwar,  wie  mir  scheint,  auch  dir  selbst  gegenüber. 
Denn  mir  kommt  vor,  ihr  Athener,  daß  dieser  Mensch  über- 
mütig und  zügellos  ist,  und  daß  er  einfach  aus  Obermut  und 
Zügellosigkeit  undKinderei  dieseKlage  eingebracht  hat.  Denn  es 


SOKRATES  I 


79 


ist,  als  ob  er  ein  Rätsel  machen  und  probieren  möchte :  wird  wohl 
derweiseSokrates  bemerken,  daß  ichSpaß  mache  und  mir  selbst 
widerspreche,  oder  werde  ich  ihn  und  die  anderen  Zuhörer 
drankriegen?  Denn  er  scheint  sich  mir  in  seiner  Klage  selbst 
zu  widersprechen,  grade  als  ob  er  sagte:  Sokrates  ist  schuldig, 
nicht  an  Götter  zu  glauben,  sondern  an  Götter  zu  glauben.  Und 
das  ist  doch  die  Art  eines  Spaßmachers.  —  Untersuchet  aber 
mit  mir,  ihr  Männer,  wieso  mir  das  so  vorkommt;  du  aber, 
Meietos,  antworte  uns;  und  ihr  —  worum  ich  euch  schon  an- 
fangs gebeten  habe,  daran  erinnert  euch  —  und  macht  keinen 
Lärm,  wenn  ich  in  der  gewohnten  Weise  rede.  Gibt  es  jemanden, 
Meietos,  der  an  ein  Menschenwesen  glaubt,  aber  nicht  an 
Menschen?  Er  soll  antworten,  ihr  Männer,  und  nicht  immerfort 
Lärm  machen!  Gibt's  einen,  der  zwar  nicht  an  Pferde  glaubt, 
wohl  aber  an  ein  Pferdewesen?  Oder  einen,  der  zwar  nicht  an 
Flötenspieler  glaubt,  wohl  aber  an  ein  Flötenspielerwesen?  Es 
gibt  keinen,  bester  Mann!  Wenn  du  nicht  antworten  willst,  so 
sage  ich's  dir  und  diesen  anderen.  Auf  das  aber  antworte  jetzt: 
gibt's  einen,  der  glaubt,  es  gebe  ein  Geisterwesen,  Geister  aber 
nicht?"  „Es  gibt  keinen."  „Was  du  für  Fortschritte  gemacht 
hast,  daß  du  endlich  antwortest,  —  da  dich  diese  Männer  dazu 
zwingen!  Also,  du  behauptest,  ich  glaube  an  ein  Geisterwesen 
und  lehre  (daran  zu  glauben),  es  sei  nun  neues  oder  altes:  aber 
an  ein  Geisterwesen  glaube  ich  doch  nach  deiner  Rede,  und  das 
hast  du  ja  auch  in  deiner  Anklageschrift  eidlich  erhärtet.  Wenn 
ich  aber  an  ein  Geisterwesen  glaube,  so  ist  es  offenbar  absolut 
notwendig,  daß  ich  auch  an  Geister  glaube.  Ist  es  nicht  so?  Es 
ist  so;  denn  da  du  nicht  antwortest,  so  nehme  ich  an,  daß  du's 
zugibst.  Halten  wir  aber  nicht  die  Geister  entweder  für  Götter 
oder  für  Götterkinder?  —  Ja  oder  nein?"  „Gewiß."  „Also, 
wenn  ich  an  Geister  glaube,  wie  du  behauptest,  und  wenn  — 
erster  Fall  —  die  Geister  zu  den  Göttern  gehören,  dann  wäre 
das,  was  ich  sage,  daß  du  Rätsel  aufgibst  und  Spaß  machst, 
indem  du  sagst,  ich  glaube  nicht  an  Götter,  und  doch  wieder  an 
Götter,  da  ich  doch  an  Geisterglaube;  wenn  aber  hinwiederum 


80 


VIERTE  VORLESUNG 


—  zweiter  Fall  —  die  Geister  irgendwie  unebenbürtige  Kinder 
von  Göttern  sind,  sei  es  von  Nymphen  oder  von  irgendwelchen 
anderen  (Weibern),  wie  man  ja  auch  sagt  —  welcher  Mensch 
könnte  glauben,  daß  es  zwar  Götterkinder  gibt,  Götter  aber 
nicht?  Das  wäre  ebenso  unsinnig,  wie  wenn  einer  meinte,  es 
gebe  wohl  Kinder  von  Pferden  und  Eseln,  nämlich  Maultiere, 
Pferde  und  Esel  aber  nicht?  Aber  es  ist  ja  gar  nicht  möglich, 
Meietos,  daß  du  das  (aus  einem  anderen  Grund)  in  deine  Klage 
hineingeschrieben  hast,  als  weil  du  (entweder)  uns  auf  die  Probe 
stellen  wolltest,  oder  weil  du  in  Verlegenheit  warst,  was  für  eine 
wirkliche  Schuld  du  mir  vorwerfen  könntest.  Daß  du  aber 
irgend  einem  Menschen,  der  auch  nur  ein  bißchen  Verstand  hat, 
einreden  könntest,  daß  es  nicht  derselbe  sei,  der  an  ein  Geister- 
wesen und  an  Götter  glaubt,  und  wiederum  derselbe,  der  weder 
an  Geister,  noch  an  Götter,  noch  an  Heroen  glaubt,  —  dazu  ist 
gar  keine  Möglichkeit  vorhanden."  Es  sei  also  klar,  daß  er  nicht 
dessen  schuldig  sei,  was  Meietos  ihm  Schuld  gebe.  Wenn  aber 
jemand  sage:  es  sei  doch  eine  Schande,  so  eine  Beschäftigung 
zu  treiben,  bei  der  man  Gefahr  laufe,  ums  Leben  zu  kommen, 
so  erwidere  er,  ein  Mann  von  auch  nur  einigem  Wert  werde 
nicht  die  Chancen  des  Lebens  und  Sterbens  in  Rechnung  ziehen, 
sondern  allein  darauf  sehen,  ob  er  Recht  oder  Unrecht  tue.  Und 
wenn  man  von  einem  Oberen  an  einen  Posten  gestellt  werde, 
so  müsse  man  dort  aushalten,  ohne  sich  um  die  Gefahr  des 
Todes  zu  kümmern.  Nun  habe  nach  seiner  Oberzeugung  der 
Gott  ihm  aufgetragen,  in  der  philosophischen  Prüfung  seiner 
selbst  und  anderer  sein  Leben  zu  verbringen.  Wenn  er  also 
jetzt  aus  Furcht  vor  dem  Tode  seinen  Posten  verließe,  dann 
könnte  man  ihn  mit  Recht  vor  Gericht  stellen  als  einen,  der 
nicht  an  Gott  glaubt,  da  er  ihm  ungehorsam  wäre  und  weise  zu 
sein  meint,  ohne  es  zu  sein.  Denn  dieses  tue,  wer  den  Tod 
fürchte.  Ob  nämlich  der  Tod  ein  Gut  oder  ein  Übel  sei,  das 
wisse  er  nicht;  das  aber  wisse  er,  daß  es  unrecht  und  schimpf- 
lich sei,  dem  Besseren  nicht  zu  gehorchen.  Wenn  man  ihm 
also  ein  Übereinkommen  vorschlüge:  er  solle  freigesprochen 


SOKRATES  I 


81 


werden,  dafür  aber  sich  verpflichten,  die  Menschenprüfung  zu 
lassen,  so  müßte  er  das  ablehnen.  Denn  er  würde  nie  aufhören, 
jedem,  dem  er  begegnete,  Fremden  und  Einheimischen  —  den 
letzteren  aber  als  den  Näherstehenden  noch  mehr  —  zu  sagen, 
was  er  immer  und  allein  sage:  „Schämst  du  dich  nicht,  mein 
Bester,  als  ein  Bürger  von  Athen,  einer  so  großen  und  wegen 
ihrer  Macht  und  Weisheit  so  berühmten  Stadt,  dich  zwar  darum 
zu  bekümmern,  daß  du  möglichst  viel  Geld  und  Ruhm  und  Ehre 
habest,  um  Einsicht  und  Wahrheit  und  darum  aber,  daß  du  eine 
möglichst  tüchtige  Seele  habest,  kümmerst  du  dich  nicht  und 
denkst  nicht  daran?  Und  wenn  einer  von  euch  ausweicht  und 
sagt,  er  kümmere  sich  schon  darum,  werde  ich  ihn  nicht  gleich 
loslassen  und  weggehen,  sondern  ich  werde  ihn  ausfragen 
und  ausforschen  und  mit  Gründen  überwinden,  und  wenn  mir 
scheint,  daß  er  keine  Tüchtigkeit  hat,  (sie)  aber  (zu  haben)  be- 
hauptet, werd'  ich  ihm  vorwerfen,  daß  er,  was  am  meisten  wert 
ist,  am  wenigsten  schätzt,  das  geringere  aber  höher."  So  sei  er 
nun  einmal.  Und  wenn  ihn  die  Athener  töteten,  so  würden  sie 
sich  selbst  mehr  schaden  als  ihm.  „Denn  mir  kann  weder 
Meietos  noch  Anytos  schaden.  Sie  könnten  es  ja  auch  gar 
nicht.  Denn  ich  glaube,  es  ist  nicht  nach  der  Ordnung  der 
Welt,  daß  der  bessere  Mann  vom  schlechteren  geschädigt  wird. 
Sondern  er  kann  mich  vielleicht  töten  oder  verbrennen  oder 
entehren;  aber  dies  hält  vielleicht  dieser  oder  jener  für  große 
Übel,  ich  aber  nicht,  sondern  vielmehr,  wenn  einer  handelt,  wie 
jetzt  dieser,  nämlich  wenn  er  einen  Menschen  ungerechterweise 
zu  töten  sucht.  Jetzt  also,  ihr  Athener,  ist  gar  keine  Rede  davon, 
daß  ich  für  mich  spreche  —  wie  wohl  einer  glauben  möchte  — ; 
sondern  für  euch  (rede  ich),  daß  ihr  euch  nicht  versündigt  an 
dem  Geschenk  des  Gottes,  indem  ihr  mich  verurteilt.  Denn 
wenn  ihr  mich  tötet,  werdet  ihr  nicht  leicht  einen  anderen 
solchen  finden,  der  geradezu  —  wenn  es  auch  recht  lächerlich 
klingt  —  vomGotte  der  Stadt  beigegeben  ist,  —  sowie  ein  großes 
und  edles  Roß,  das  aber  infolge  seiner  Größe  etwas  schläfrig 
ist,  es  nötig  hat,  von  einer  Stechfliege  wach  erhalten  zu  werden. 

Gomperz,  Lebensauffassung  Q 


82 


VIERTE  VORLESUNG 


Als  eine  solche  nun  hat  mich,  scheint  mir,  der  Gott  der  Stadt 

zugeführt  "  Dafür  aber,  daß  er  wirklich  im  Dienste 

einer  derartigen  Mission  wirke,  und  durch  sein  Tun  nicht  seinen 
eigenen  Vorteil  suche,  könne  er  einen  Zeugen  führen:  seine 
Armut.  Er  verteidigt  sich  nun  ausführlich  gegen  den  echt  an- 
tiken Vorwurf,  daß  er  sich  an  den  Staatsgeschäften  nicht  aktiv 
beteilige  und  beruft  sich  für  die  Wahrheit  seiner  Darstellung 
auf  das  Zeugnis  seiner  anwesenden  Jünger  und  deren  älterer 
Verwandter.  Von  diesen  Freunden  mögen  denn  auch,  wie 
Xenophon1  berichtet,  einige  zu  seinen  Gunsten  gesprochen 
haben,  und  auch  die  Tradition2,  daß  Pia  ton  unter  diesen  ge- 
wesen, jedoch  durch  die  Menge  von  der  Tribüne  herabgelärmt 
worden  sei,  tritt  in  einer  Form  auf,  der  nicht  von  vornherein 
der  Glaube  abgesprochen  werden  kann.  Und  endlich  rechtfertigt 
er  sich,  daß  er  von  den  herkömmlichen  Mitteln,  die  Richter  zu 
rühren,  keinen  Gebrauch  mache. 

Bei  der  nunmehr  folgenden  Abstimmung  wurde  Sokrates 
mit  einem  Mehr  von  etwa  60  Stimmen  schuldig  gesprochen. 
Es  folgt  daher  die  Verhandlung  über  das  Strafausmaß.  Die  Klä- 
ger beantragen  die  Verhängung  der  Todesstrafe.  Sokrates  er- 
hält das  Wort,  um  einen  Gegenantrag  zu  stellen.  Er  sagt,  von 
Rechtswegen  müßte  er,  der  sich  nur  einer  wohltätigen  Wirksam- 
keit bewußt  sei,  auch  auf  eine  Belohnung  antragen,  und  zwar, 
da  er  zur  Wohlfahrt  der  Stadt  doch  wirklich  etwas  beigetragen 
habe,  zum  mindesten  auf  dieselbe  Belohnung,  die  den  olympi- 
schen Siegern  zuteil  werde,  die  doch  nur  zum  Schein  der  Wohl 
fahrt  beitragen:  nämlich  auf  die  lebenslängliche  Verköstigun* 
aus  Staatsmitteln,  die  sogenannte  Speisung  im  Prytaneum.  S^ 
aber  sei  es  ihm  sehr  schwer,  einen  Antrag  zu  stellen.  Denn  aucl 
in  der  Verbannung  würde  ihm  seine  Lebensweise  wieder  dif 
selben  Fährlichkeiten  zuziehen.  Und  von  ihr  könne  er  einm- 
nicht  lassen.  „Und  euch  davon  zu  überzeugen,  das  ist  nun  d«o 
allerschwierigste.  Denn  sage  ich,  das  hieße:  dem  Gotte  unge- 
horsam sein,  und  deshalb  könne  ich  nicht  Ruhe  geben,  so  meint 

1)  Apolog.  22.  2)  Diog.  Laert.  II.  41. 


SOKRATES  I 


83 


ihr,  ich  scherze,  und  glaubt  mir  nicht;  sage  ich  aber  wieder- 
um, es  sei  eben  das  für  den  Menschen  das  größte  Gut,  jeden 
Tag  über  die  Tugend  Gespräche  zu  führen,  und  über  das  andere, 
worüber  ihr  mich  reden  hört,  wenn  ich  mich  selbst  und  die  an- 
deren erforsche,  und  ein  Leben  ohne  Erforschung  sei  für  einen 
Menschen  gar  nicht  lebenswert,  —  wenn  ich  das  sage,  glaubt  ihr 
mir  noch  weniger."  Er  könne  also  höchstens  auf  eine  geringe 
Geldstrafe  antragen,  z.  B.  auf  eine  Mine  Silbers,  oder,  da  sich 
ihm  etliche  Freunde,,  worunter  Pia  ton,  zu  Bürgen  erböten,  etwa 
sogar  auf  30  Minen.  Das  also  beantrage  er. 

Dieser  Antrag  hat  sein  Leben  nicht  gerettet.  Die  Geschwore- 
nen verurteilten  ihn  mit  erhöhter  Majorität  zum  Tode.  Damit 
war  die  eigentliche  Verhandlung  zu  Ende.  Allein  „so  lange  die 
Behörde  beschäftigt  ist,  und  mich  noch  nicht  dorthin  führen 
läßt,  wo  ich  sterben  muß,  hindert  ja  nichts,  daß  wir  uns  unter- 
reden, solange  es  erlaubt  ist".  Sokrates  spricht  deshalb  noch 
einmal,  mit  den  Worten  beginnend:  „Nur  um  eines  kurzen  Zeit- 
raumes willen  habt  ihr,  Athener,  euch  von  sehen  derer,  die 
Athen  schmähen  wollen,  dem  Ruf  und  der  Beschuldigung  aus- 
gesetzt, daß  ihr  Sokrates,  den  Weisen,  getötet  hättet;  denn, 
wenn  ich  auch  nicht  weise  bin,  so  werden  es  doch  gewiß  die- 
jenigen behaupten,  welche  euch  herabsetzen  wollen.  Hättet  ihr  nun 
noch  eine  kleine  Zeit  gewartet,  so  wäre  dasselbe  von  selbst  ein- 
getreten; denn  ihr  seht  ja  mein  Alter,  wie  weit  es  schon  im 
Leben  vorgerückt,  und  wie  nahe  es  dem  Tode  ist."  Er  apostro- 
'  phiert  nun  zunächst  jene,  die  gegen  ihn  gestimmt,  und  weissagt 
ihnen,  seine  Jünger  würden  sein  Werk  fortsetzen,  und  jene  also 
1  nichts  durch  seinen  Tod  gewinnen.  Dann  wendet  er  sich  an  die 
1-  „wahren  Richter",  die  für  ihn  gestimmt,  und  meint,  er  habe 
Grund  zu  der  Annahme,  daß  der  Tod  für  ihn  nicht  ein  Übel, 
sondern  ein  Gut  bedeute:  „Betrachten  wir  es  aber  auch  von 
dieser  Seite,  wie  stark  die  Hoffnung  ist,  daß  er  ein  Gut  sei. 
Nämlich  offenbar  ist  das  Totsein  eins  von  zwei  Dingen:  ent- 
weder ist  es  so,  als  ob  der  Tote  nichts  wäre  und  von  gar  nichts 
ein  Bewußtsein  hätte;  oder  es  ist,  wie  man  sagt,  eine  Verwand- 

6* 


84 


VIERTE  VORLESUNG 


lung  und  ein  Umziehen  aus  dieser  Behausung  hier  in  eine  an- 
dere. Ist  es  nun  eine  Bewußtlosigkeit,  und  gleicht  einem  Schlafe, 
in  dem  der  Schlafende  nicht  einmal  irgend  einen  Traum  hat, 
dann  wäre  ja  der  Tod  ein  unbezahlbarer  Gewinn.  Denn  ich 
denke,  wenn  einer  neben  eine  solche  Nacht,  in  der  er  also  ge- 
schlafen hat,  daß  er  nicht  einmal  träumte,  alle  anderen  Tage  und 
Nächte  seines  Lebens  stellen,  und  nun  nach  (reiflicher)  Über- 
legung sagen  sollte,  wie  viele  Tage  und  Nächte  er  in  seinem 
Leben  besser  und  angenehmer  verlebt  habe  als  diese  Nacht, 
dann,  denk'  ich,  würde  nicht  nur  irgend  ein  Privatmann,  sondern 
der  Großkönig  (selbst)  diese  Tage  und  Nächte  sehr  viel  rascher 
überzählen  können  als  die  übrigen.  Ist  also  der  Tod  etwas  der- 
gleichen, so  nenn'  ich  ihn  einen  Gewinn;  denn  auf  diese  Weise 
erschiene  ja  die  Ewigkeit  nicht  länger  als  eine  Nacht.  Ist  aber 
dagegen  der  Tod  gleichsam  eine  Auswanderung  von  hier  an  ei- 
nen anderen  Ort,  und  ist  das  wahr,  was  überliefert  ist,  daß  also 
dort  alle  Toten  beisammen  sind,  was  gäbe  es  dann  für  ein  grö- 
ßeres Gut,  ihr  Richter,  als  dieses?  Denn  wenn  man  bei  dieser 
Auswanderung  im  Hades  statt  dieser  angeblichen  Richter  hier, 
die  man  ja  dann  los  wäre,  die  wahren  Richter  fände,  von  denen 
es  ja  heißt,  daß  sie  dort  richten:  Minos  und  Radamanthys 
und  Aiakos  und  Triptolemos,  und  die  anderen  Halbgötter, 
die  in  ihremLebengerecht  waren,  wäre  das  ein  schlechter  Tausch? 
Oder  aber,  mitOrpheus  zusammenzutreffen,  und  mitMusaios 
und  mit  Hesiod  und  mit  Homer,  wieviel  würdet  ihr  wohl  da- 
für geben?  Ich  wenigstens  will  viele  Mal  sterben,  wenn  das 
wahr  ist.  Denn  für  mich  wäre  ja  das  Leben  dort  auch  deshalb 
herrlich,  weil  ich  da  dem  Palamedes  begegnen  würde,  und 
dem  Aias,  dem  Sohn  des  Telamon,  und  wer  sonst  von  den 
Alten  durch  einen  ungerechten  Richterspruch  geendet  hat:  ich 
würde  dann  meine  Leiden  mit  den  ihrigen  vergleichen,  und  ich 
denke,  das  wäre  nicht  übel.  Und  nun  die  Hauptsache:  zu  leben, 
indem  man  die  dorten  prüft  und  erforscht  wie  die  hier:  wer  von 
ihnen  (wirklich)  weise  ist,  und  wer  sich's  nur  einbildet,  ohne  es 
zu  sein.  Was  würdet  ihr  nicht  darum  geben,  ihr  Richter,  den 


SOKRATES  I 


85 


(Ag  a  m  e  m  n  o  n)  zu  prüfen,  der  das  große  Heer  nach  Troja  geführt 
hat,  oder  den  Odysseus  oder  den  Sisyphos  —  und  unzählige 
andere  könnte  man  ja  nennen,  Männer  und  Weiber.  Mit  all 
denen  dort  zu  reden  und  zu  verkehren,  und  sie  auszuforschen, 
das  wäre  ja  eine  unfaßbare  Seligkeit!  Und  die  dorten  töten  einen 
deswegen  ganz  gewiß  nicht;  denn  man  ist  dort  nicht  nur  über- 
haupt glücklicher  als  hier,  sondern  nun  auch  für  alle  kommende 
Zeit  unsterblich  —  wenn  es  nämlich  mit  der  Überlieferung  seine 
Richtigkeit  hat.  —  Aber  auch  ihr,  ihr  Richter,  müsset  in  bezug 
auf  den  Tod  guter  Hoffnung  sein,  und  dieses  eine  als  die 
Wahrheit  erkennen,  daß  es  für  einen  guten  Mann  kein 
Übel  gibt,  wederimLebennochnachdemTode,  und  daß 
sein  Schicksal  von  den  Göttern  nicht  vernachläßigt  wird.  So 
ist  auch  das  meine  jetzt  nicht  zufällig  so  geworden,  sondern  so- 
viel ist  mir  klar,  daß  es  für  mich  schon  besser  war,  zu  sterben 
und  mich  von  den  Geschäften  zurückzuziehen.  Und  deshalb 
 zürne  ich  denen,  die  mich  angeklagt  und  verurteilt  ha- 
ben, nicht  besonders.  Freilich:  nicht  in  dieser  Gesinnung  haben 
sie  mich  angeklagt  und  verurteilt,  sondern  sie  dachten  mir  zu 
schaden,  und  insofern  verdienen  sie  Tadel.  Um  das  eine  aber 
bitte  ich  sie:  wenn  meine  Söhne  heranwachsen,  und  es  scheint 
euch,  daß  sie  sich  um  Geld  oder  um  sonst  etwas  mehr  kümmern 
als  um  die  Tüchtigkeit,  und  daß  sie  sich  einbilden,  etwas  zu  sein, 
was  sie  nicht  sind;  dann  straft  sie,  ihr  Männer,  indem  ihr  sie 
ganz  ebenso  ärgert,  wie  ich  euch  geärgert  habe,  und  scheltet  sie, 
wie  ich  euch  gescholten  habe,  daß  sie  sich  nicht  um  das  küm- 
mern, um  was  sie  sich  kümmern  sollten,  und  sich  einbilden, 
etwas  vorzustellen,  obwohl  sie  nichts  wert  sind.  Und  wenn  ihr 
das  tut,  dann  wird  mir  Gerechtigkeit  von  euch  widerfahren  sein, 
mir  und  meinen  Söhnen.  —  Aber  es  ist  ja  (wohl)  schon  Zeit, 
fortzugehen:  mir  zum  Tode,  euch  zum  Leben.  Wer  aber  von 
uns  dem  besseren  Schicksal  entgegengeht,  das  weiß  niemand, 
als  nur  der  Gott."  Und  nach  diesen  Worten  wurde  Sokrates 
in  das  Gefängnis  abgeführt. 


SOKRATES  II 


FÜNFTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 


mm 


IR  haben  neulich  angefangen,  uns  mit  der  so- 
matischen Persönlichkeit  zu  beschäftigen, 
und  glaubten,  dieselbe  noch  am  bestenkennen 
lernen  zu  können  aus  der  Haltung,  die  sie  auf 
dem  Höhepunkte  und  zugleich  am  Ende  ihres 
Lebens  der  drohenden  und  eintretenden  Ka- 
tastrophe gegenüber  eingenommen  und  be- 
wahrt hat.  Ich  will  nun  heute  diesen  Teil  meiner  Aufgabe  zu 
Ende  führen,  indem  ich  zunächst  noch  den  Tod  des  Sokrates 
darstelle.  Über  ihn  berichtet  Pia  ton  in  dem  Gespräche  „Phai- 
don«. Die  Reden  über  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  welche  den 
größten  Teil  dieses  Dialogs  einnehmen,  sind  für  durchaus  un- 
historisch zu  halten.  Die  Schlußkapitel  jedoch,  in  denen  das 
Ende  selbst  geschildert  wird,  müssen  zwar,  da  Piaton  aus- 
drücklich angibt,  daß  er  nicht  zugegen  war,  gleichfalls  als 
stilisierte  Wahrheit  angesehen  werden,  allein  hier  ist  es  von 
vornherein  wahrscheinlich,  daß  sich  Piaton  an  die  gewiß 
reichlich  vorhandene  mündliche  Tradition  angelehnt  haben 
wird,  und  ihr  Inhalt  bietet  uns  keinen  Anlaß,  diese  Vormeinung 
aufzugeben. 

Nach  dem  Berichte  Piatons1  also,  den  dieser  dem  Phaidon 
in  den  Mund  legt,  versammelten  sich  am  Morgen  des  Tages,  an 
dem  Sokrates  den  Schierlingsbecher  leeren  sollte,  in  seinem 
Kerker  eine  stattliche  Anzahl  von  Jüngern:  Phaidon  aus  Elis, 
Euklid  und  Terpsion  aus  Megara;  Simmias,  Kebes  und 


i)  Phaedo  p.  59b. 


SOKRATES  II 


87 


Phaidonides  aus  Theben;  Apollodor,  Kritobul,  Kriton, 
Hermogenes,  Epigenes,  Aischines,  Antisthenes,  Kte- 
sipp  und  Menexenos  von  Athen.  Es  wurden  nun  tagsüber 
philosophische  Unterhaltungen  gepflogen.  Gegen  Abend  aber 
beschloß  Sokrates  eine  Ausführung  mit  den  Worten1:  „Ihr 
nun,  Simmias,  Kebes  und  ihr  anderen,  werdet  späterhin  ein- 
mal diese  Reise  (ins  Jenseits)  antreten;  mich  aber,  würde  ein 
Tragiker  sagen,  ruft  schon  jetzt  das  Geschick.  Und  es  ist  wohl 
schon  ungefähr  Zeit  zu  baden,  denn  ich  denke,  es  ist  besser, 
wenn  ich  mich  wasche,  eh'  ich  das  Gift  trinke,  und  nicht  den 
Weibern  die  Mühe  mache,  daß  sie  den  Leichnam  waschen  müs- 
sen." —  Nach  diesen  Worten  sagte  Kriton:  „Gut,  Sokrates, 
aber  was  hast  du  mir  oder  diesen  aufzutragen  wegen  deiner 
Kinder,  oder  wegen  sonst  einer  Sache:  wie  könnten  wir  am 
meisten  in  deinem  Sinne  handeln?  —  Wenn  ihr  tut,  was  ich 
immer  sage,  Kriton,  erwiderte  er,  und  nichts  neues:  mir  und 
den  meinigen  und  euch  selbst  werdet  ihr  zu  Dank  handeln,  wenn 
ihr,  was  immer  ihr  tut,  euch  um  euch  selbst  bekümmert  —  auch 
wenn  ihr's  nicht  jetzt  versprecht.  Wenn  ihr  aber  jetzt  noch  so- 
viel und  entschieden  versprecht,  und  kümmert  euch  dann  nicht 
um  euch  selbst,  und  wandelt  nicht,  sozusagen,  in  den  Spuren 
der  Reden,  die  jetzt  und  früher  von  uns  gesprochen  wurden,  so 
werdet  ihr  gar  nichts  leisten.  Dies  also,  entgegnete  (Kriton), 
wollen  wir  uns  vornehmen;  aber  wie  sollen  wir  dich  begraben? 
Wie  ihr  nur  wollt,  sagte  er,  wenn  ihr  mich  nämlich  fassen  könnt, 
und  ich  euch  nicht  entwische!  Und  dabei  lachte  er  leise,  blickte 
auf  uns  und  sprach:  Ich  kann  den  Kriton  nicht  überzeugen,  ihr 
Männer,  daß  dies  hier  der  Sokrates  ist,  der  jetzt  (mit  euch) 
redet,  und  jedes  Wort  an  seine  Stelle  setzt,  sondern  er  denkt, 
ich  sei  jener,  den  er  in  kurzer  Zeit  als  Leichnam  sehen  wird, 
und  so  fragt  er,  wie  er  mich  begraben  soll?  Daß  ich  aber  eben 
in  einer  so  langen  Rede  auseinandergesetzt  habe,  daß,  wenn  ich 
das  Gift  werde  genommen  haben,  ich  nicht  mehr  bei  euch  blei- 
ben, sondern  ganz  fortgehen  werde  zu  irgend  welchem  Glück 


i)  Phaedo  p.  115a. 


88 


FÜNFTE  VORLESUNG 


der  Seligen,  das,  kommt  ihm  vor,  rede  ich  nur  so,  um  euch  zu 
trösten,  und  auch  mich  selbst.  Ihr  müßt  also  jetzt,  fuhr  er  fort,  für 
mich  dem  Kriton  die  entgegengesetzte  Bürgschaft  leisten,  als 
die  war,  die  er  für  mich  den  Richtern  geleistet  hat.  Er  nämlich 
hat  sich  dafür  verbürgt,  daß  ich  ganz  gewiß  dableiben  würde; 
ihr  aber  müßt  euch  dafür  verbürgen,  daß  ich  ganz  gewiß  nicht 
dableiben  werde,  wenn  ich  tot  bin,  sondern  ganz  weggehen,  — 
damit  der  Kriton  es  besser  erträgt.  Denn  sonst  würde  er,  wenn 
er  meinen  Leib  verbrennen  oder  begraben  sieht,  sich  meinet- 
wegen aufregen,  als  ob  mir  etwas  Schreckliches  widerführe,  und 
würde  beim  Begräbnis  sagen:  da  bahren  sie  den  Sokrates  auf! 
oder:  da  tragen  sie  ihn  hinaus!  oder:  da  begraben  sie  ihn! 
Denn  du  weißt  ganz  gut,  lieber  Kriton,  sagte  er,  daß  eine  un- 
richtige Ausdrucksweisenichtnur  an  undfürsichetwasUngebühr- 
liches  ist,  sondern  auch  den  Seelen  einen  Schaden  zufügt.  Aber  es 
heißt:  sich  wacker  halten,  und  sagen,  daß  mein  Leib  begraben 
wird,  und  zwar  so  begraben,  wie  es  dir  paßt,  und  wie  du  meinst, 
daß  es  den  Gesetzen  am  besten  entspricht.  —  Nach  diesen 
Worten  nun  stand  er  auf  und  ging  in  ein  (anderes)  Zimmer,  um 
zu  baden.  Kriton  aber  folgte  ihm,  und  hieß  uns  warten.  Wir 
warteten  also,  und  dachten  nach  und  sprachen  über  das  Gesagte, 
bald  aber  auch  über  die  Größe  des  Schicksalschlages,  der  uns 
getroffen  hatte.  Denn  es  war  uns  geradezu,  als  müßten  wir,  des 
Vaters  beraubt,  als  Waisen  den  Rest  unseres  Lebens  verbringen. 
Nachdem  er  aber  gebadet  hatte,  führten  sie  seine  Kinder  zu 
ihm  —  er  hatte  nämlich  zwei  kleine  Buben  und  einen  großen. 
Und  auch  die  Weiber  aus  seinem  Hause  kamen.  Mit  denen 
redete  er  in  Kritons  Gegenwart,  und  gab  ihnen  die  Aufträge, 
die  er  eben  wollte.  Dann  hieß  er  die  Weiber  und  Kinder  weg- 
gehen, und  kam  selbst  zu  uns  heraus.  Und  es  war  schon  nahe 
an  Sonnenuntergang;  denn  er  war  lange  drinnen  geblieben.  Er 
kam  also  nach  dem  Waschen  herein  und  setzte  sich,  redete  aber 
danach  nicht  mehr  viel.  Und  da  kam  (auch  schon)  der  Diener 
derEilfmänner,  trat  zu  ihm  und  sprach:  Sokrates,  an  dirwerde 
ich  nicht  bemerken,  was  ich  an  anderen  bemerkt  habe,  daß  sie 


SOKRATES  II 


89 


mir  zürnen  und  fluchen,  wenn  ich  auf  Befehl  der  Obrigkeit  ih- 
nen ansage,  daß  sie  das  Gift  nehmen  sollen.  Denn  ich  habe 
dich  schon  sonst  in  dieser  Zeit  als  den  Wackersten,  Sanftesten 
und  Besten  kennen  gelernt  von  allen,  die  je  hier  hereingekom- 
men sind,  und  auch  jetzt  bin  ich  sicher,  daß  du  nicht  mir  zürnst, 
sondern  denen,  von  denen  du  weißt,  daß  sie  daran  schuld  sind. 
Nun  aber  —  du  weißt  ja,  wozu  ich  komme  —  und  trachte  das, 
was  sein  muß,  so  gut  es  geht,  zu  ertragen.  Und  dabei  weinte  er, 
kehrte  sich  um  und  ging  hinaus.  Sokrates  aber  blickte  ihm 
nach  und  sagte:  Und  auch  du  lebe  wohl!  Wir  aber  werden  also 
tun.  Und,  zu  uns  gewendet:  Wie  liebenswürdig  der  Mensch  ist! 
Und  schon  die  ganze  Zeit  kam  er  zu  mir  herein,  und  redete  mit 
mir,  und  war  der  reizendste  Mensch.  Und  jetzt  (seht),  wie  hübsch 
er  um  mich  weint!  Und  nun,  Kriton,  wollen  wir  ihm  folgen, 
und  man  soll  mir  das  Gift  bringen,  wenn  es  schon  gerieben  ist; 
wenn  aber  noch  nicht,  so  soll  es  der  Mensch  reiben!  Aber  ich 
denke,  sagte  Kriton,  die  Sonne  ist  noch  über  den  Bergen,  und 
noch  nicht  untergegangen.  Und  ich  weiß  doch,  daß  andere  das 
Gift  ganz  spät  nehmen,  (lange)  nachdem  sie  gemahnt  worden 
sind,  und  vorher  noch  recht  gut  essen  und  trinken,  einige  auch 
noch  eine  Schäferstunde  halten  mit  denen,  nach  denen  sie  Ver- 
langen tragen.  Also  dränge  doch  nicht;  denn  es  hat  noch  Zeit. 
Und  mit  Recht,  Kriton,  entgegnete  (Sokrates),  machen's  diese 
so,  von  denen  du  sprichst;  denn  sie  meinen  davon  einen  Vorteil 
zu  haben;  und  mit  (demselben)  Recht  werde  ich's  nicht  so  ma- 
chen, denn  ich  meine,  wenn  ich's  etwas  später  trinke,  so  würde 
ich  keinen  Vorteil  davon  haben,  und  nur  mir  selber  zum  Ge- 
spött werden,  wenn  ich  am  Leben  klebte  und  sparte,  wo  nichts 
mehr  ist.  Aber  (jetzt)  geh',  folg'  mir,  und  tu'  nichts  anderes!  — 
Und  als  Kriton  das  hörte,  winkte  er  einem  Sklaven  in  seiner 
Nähe.  Und  der  Sklave  ging  hinaus,  und  nach  einiger  Zeit  kam 
er  zurück,  in  Begleitung  des  Mannes,  der  ihm  das  Gift  geben 
sollte.  Der  trug  es  zubereitet  in  einem  Kelch.  Als  nun  Sokra- 
tes den  Mann  sah,  sagte  er:  Schon  recht,  Bester,  aber  (sag' 
mir)  —  denn  du  kennst  dich  ja  damit  aus  —  was  soll  ich  machen? 


90 


FÜNFTE  VORLESUNG 


Ganz  einfach,  erwiderte  dieser,  trinken;  dann  auf-  und  abgehen, 
bis  dir  die  Beine  schwer  werden;  dann  dich  hinlegen,  und  dann 
wird  es  schon  selbst  wirken.  Und  dabei  reichte  er  dem  Sokra- 
tes  den  Kelch.  Und  dieser  nahm  ihn,  und  ganz  heiter, . . .  ohne 
zu  zittern,  ohne  sich  zu  verfärben,  ohne  eine  Miene  zu  verziehen, 
ganz  wie  sonst  blickte  er  den  Mann  mit  seinen  Stieraugen  an, 
und:  Was  meinst  du,  sagte  er,  könnte  man  von  diesem  Trunk 
eine  Trankspende  darbringen?  Ist's  erlaubt  oder  nicht?  Jener 
aber  sagte:  Sokrates,  wir  bereiten  (gerade)  soviel,  wie  wir 
meinen,  daß  es  richtig  sei  zu  trinken.  Ich  verstehe,  sagte  er; 
aber  beten  darf  man  doch  wohl  zu  den  Göttern,  und  muß  es  auch, 
daß  die  Umsiedlung  von  hier  nach  dort  glücklich  von  statten 
gehe.  Darum  also  bitte  ich,  und  so  möge  es  geschehen.  Und 
mit  diesen  Worten  setzte  er  an,  und  heiter  und  ruhig  trank  er's 
aus.  Und  die  meisten  von  uns  waren  bis  dahin  noch  so  ziem- 
lich imstande  gewesen,  das  Weinen  zurückzuhalten.  Als  wir 
aber  sahen,  wie  er  trank  —  und  (schon)  getrunken  hatte,  da 
nicht  mehr;  sondern  mir  selbst  zum  Trotz  brach  der  Tränen- 
strom hervor,  und  ich  verhüllte  mich,  und  beweinte  mich  selbst. 
Denn  nicht  seinetwegen  (weinte)  ich  da,  sondern  über  mein 
eigenes  Schicksal,  daß  ich  eines  solchen  Freundes  beraubt  sei. 
Kr  i  ton  aber  war  noch  vor  mir  aufgestanden,da  er  dieTränen  nicht 
mehr  zurückhalten  konnte.  Apollodor  aber  hatte  schon  die 
ganze  Zeit  ununterbrochen  geweint;  in  diesem  Augenblicke  aber 
brüllte  er  laut,  vor  Heulen  und  Schreien,  und  es  war  niemand 
unter  den  Anwesenden,  den  er  nicht  erschüttert  hätte  —  außer 
Sokrates  selber.  Der  aber  sagte:  Was  macht  ihr,  ihr  komischen 
Leute?  Ich  habe  doch  nicht  zum  wenigsten  deshalb  die  Weiber 
weggeschickt,  damit  sie  nicht  solche  Unordnung  machten;  denn 
man  sagt,  man  solle  in  andächtiger  Stille  scheiden.  Seid  doch 
ruhig  und  bezwingt  euch!  Und  da  wir  das  hörten,  schämten  wir 
uns,  und  hörten  auf  zu  weinen.  Er  aber  ging  auf  und  ab.  Dann 
sagte  er,  es  würden  ihm  die  Beine  schwer,  und  er  legte  sich  auf 
den  Rücken.  So  nämlich  ordnete  es  jener  Mann  an.  Und  zu- 
gleich griff  ihn  dieser,  der  ihm  das  Gift  gegeben  hatte,  an,  und 


SOKRATES  II 


91 


nachdem  einige  Zeit  verstrichen  war,  besah  er  die  Füße  und 
Beine.  Dann  drückte  er  kräftig  seinen  Fuß  und  fragte  ihn,  ob 
er  es  spüre,  was  (Sokrates)  verneinte.  Und  etwas  später  eben- 
so die  Waden.  Und  indem  er  so  von  unten  nach  oben  ging,  zeigte 
er  uns,  wie  jener  erkaltete  und  erstarrte.  Und  indem  er  ihn  an- 
rührte, sagte  er:  Wenn  es  bis  zu  seinem  Herzen  kommt,  dann 
ist  es  aus.  Als  ihm  nun  schon  beinahe  die  Bauchgegend  erkaltet 
war,  da  enthüllte  er  sich  —  denn  er  hatte  sich  verhüllt  —  und  sagte 
—  und  das  waren  seine  letzten  Worte  — :  Kriton,  sagte  er,  wir 
sind  dem  Asklepios  einen  Hahn  schuldig.  Bringt  ihn  aber 
dar,  und  versäumt  es  nicht!  Ja,  erwiderte  Kriton,  das  wird  ge- 
schehen. Denke  aber  nach,  ob  du  sonst  nichts  mehr  zu  sagen 
hast?  Auf  diese  Worte  gab  er  keine  Antwort  mehr,  sondern 
nach  einiger  Zeit  machte  er  eine  Bewegung,  und  der  Mann  deckte 
ihn  auf.  Da  waren  seine  Augen  gebrochen.  Und  da  drückte  ihm 
Kriton  Mund  und  Augen  zu.  —  Dies  .  .  .  war  das  Ende  unseres 
Freundes,  von  dem  wir  behaupten,  er  sei  von  allen  seinen  Zeit- 
genossen, die  wir  gekannt  haben,  der  beste,  und  überdies  der 
verständigste  und  rechtschaffenste  gewesen." 

f>  eehrte  Zuhörer!  Ich  habe  Ihnen  diese  ausführlichen  Ex- 


VJ  zerpte  aus  den  Quellen  gegeben,  weil  sich,  wie  ich  glaube, 
die  Eigenart  des  großen  Mannes,  von  dem  wir  reden,  nicht  durch 
Vermittlung  irgend  welcher  referierender  oder  resümierender 
Schlagworte  dem  Verständnis  erschließt,  sondern  weil  nur  die, 
wenn  auch  noch  so  flüchtige,  unmittelbare  Berührung  von  ihr 
einen  einigermaßen  zuverlässigen  Eindruck  zu  geben  imstande 
ist.  Ist  aber  diese  meine  Absicht  einigermaßen  erreicht  worden, 
dann  werden  Ihnen  vor  allem  drei  Eigenschaften  als  im  höchsten 
Grade  charakteristisch  aufgefallen  sein:  eine  außerordentliche 
Furchtlosigkeit,  eine  außerordentliche  Scherzfähigkeit 
und  eine  außerordentliche  Verstandesmäßigkeit.  Alle  drei 
aber  weisen  zurück  auf  eine  ebenso  außerordentliche  innere 
Freiheit,  und  leiten  sich  aus  ihr  ab. 


92 


FÜNFTE  VORLESUNG 


Der  erste  dieser  drei  Punkte  ist  zu  augenfällig,  um  einer  ein- 
gehenderen Erläuterung  zu  bedürfen.  So  ist  wohl  kein  anderer 
Mensch  gestorben  —  wir  mögen  nun  wen  immer  zum  Ver- 
gleiche heranziehen.  Nicht,  als  ob  nicht  auch  in  vielen  anderen 
Fällen,  von  denen  wir  wissen,  das  Ende  rein  gewesen  wäre  von 
jener  Jämmerlichkeit,  wo  eine  erlöschende  Existenz  sich  an  die 
kleinen  Güter  des  Lebens  klammert,  und  es  nicht  über  sich  bringt, 
sie  fahren  zu  lassen ;  und  auch  frei  von  jenem  ergreifenderen  Jam- 
mer, da  eine  mächtige  Kraft  sich  in  vergeblichem  Widerstande 
erschöpft,  und  endlich  gebrochen  wird.  Aber  eins  von  zwei 
Dingen  finden  wir  dann  fast  immer:  entweder  der  Wille  zum 
Leben  ist  schon  geschwunden  vor  der  Entscheidung;  oder  die 
stürmische  Erregung  dieses  größten  Augenblicks  äußert  sich, 
wo  nicht  als  verzweiflungsvolle  Angst,  so  doch  in  anderen  For- 
men: als  Starrsinn  des  Trotzes,  als  Zuversicht  der  Seligkeits- 
hoffnung, als  Rausch  des  Heroismus.  Von  alledem  ist  in  diesem 
Falle  keine  Spur  zu  finden.  Kein  Zug  von  müder  Resignation, 
aber  auch  keiner  von  überquellender  Steigerung  des  Gefühls 
zeigt  sich  in  der  gelassenen  Haltung  und  ruhigen  Heiterkeit  des 
sterbenden  Sokrates.  Wir  sehen:  hier  endet  ein  Mensch  in 
seiner  vollen  und  unvergleichlichen  Kraft;  aber  selbst  da  es  um 
ihr  Sein  und  Nichtsein  geht,  vermag  diese  Kraft  nicht  aufs  lei- 
seste die  vollkommene  Gewalt  zu  erschüttern,  mit  der  dieser 
Mensch  sie  selbst  beherrscht.  Die  Glut  des  Lebens  sprengt 
nicht  die  Form,  in  die  sie  gegossen  ist;  diese  zerfällt  erst  in  dem 
Augenblick,  da  jene  erkaltet.  Wer  diese  Probe  bestand,  dem 
konnte  Piaton  mit  Recht  das  Wort  in  den  Mund  legen:  „Für 
einen  guten  Mann  gibt  es  kein  Übel,  weder  im  Leben  noch  im 
Tode."  Er  hat  ihn  damit  auf  dem  Höhepunkte  seines  Lebens  im 
knappsten  Ausdruck  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  aussprechen 
lassen. 

Der  zweite  Punkt,  den  ich  nannte,  die  Scherzfähigkeit,  ist 
als  die  sokratische  Ironie  berühmt.  Ob  jedoch  diese  Auffassung 
dem  Tatbestande  durchaus  gerecht  wird,  ist  mir  einigermaßen 
zweifelhaft.  Daß  freilich  eine  so  weitgehende  Gleichgiltigkeit 


SOKRATES  II 


93 


gegen  die  äußere  Lage  und  eine  so  vollkommene  Freiheit  von 
jeder  innerlichen  Angst,  wie  wir  sie  eben  angedeutet  haben,  gar 
nicht  bestehen  kann,  ohne  eine  unvergleichliche  Ruhe,  Leichtig- 
keit und  Heiterkeit  des  Geistes  und  Gemütes  zu  erzeugen, 
versteht  sich  von  selbst.  Und  wenn  wir  in  unserer  einleitenden 
Betrachtung  die  Gleichung:  Leben  =  Spiel,  als  einen  besonders 
adäquaten  Ausdruck  des  Bewußtseins  innerer  Freiheit  erkannten, 
so  ist  eben  dies  der  Eindruck,  den  die  Persönlichkeit  des  So- 
krates  auch  schon  im  Altertume  gemacht  hat.  Schon  Piaton 
sagt1,  Schönheit,  Reichtum  und  alles  andere,  wegen  dessen  die 
Menschen  glücklich  gepriesen  werden,  habe  er  verachtet:  »Allen 
diesen  Gütern  schreibt  er  keinen  Wert  zu,  und  uns  (die  wir  sie 
besitzen)  achtet  er  für  nichts,  sondern  ironisch  und  scherzend2 
verhält  er  sich  sein  Leben  lang  gegen  die  Menschen."  Ebenso 
Epiktet3,  nachdem  er  das  ethisch  wertvolle  Leben  einem  Spiel, 
und  näher  einem  Ballspiel  verglichen  hat:  „Also  konnte  auch 
Sokrates  Ball  spielen.  Wieso?  Im  Gerichtssaal  spielen."  Er 
zitiert  nun  das  Gespräch  mit  Meietos4,  dessen  dialektische 
Kunstgerechtheit  er  offenbar  mit  der  Eleganz  des  geübten  Ball- 
spielers in  Parallele  setzt,  und  fährt  dann  fort:  „(So  redete  er), 
als  ob  er  Ball  spielte.  Was  für  ein  Ball  war  aber  damals  zur 
Hand?  Das  Leben,  die  Freiheit,  die  Verbannung,  das  Gift, 
der  Verlust  seines  Weibes,  das  Hinterlassen  von  Waisenkin- 
dern. Das  war  zur  Hand,  womit  er  spielte.  Aber  er  spielte 
nichtsdestoweniger,  und  warf  den  Ball  der  Ordnung  gemäß." 
Und  wieder  ganz  ähnlich  Plotin,  wo  er  das  ganze  äußere  Leben 
einem  Kinderspiel  vergleicht5:  „Wenn  also  Sokratesauchspielt, 
so  spielt  er  doch  nur  mit  dem  äußeren  Sokrates."  Insofern  also 
mag  die  herkömmliche  Auffassung  der  sokratischen  Ironie  in 
ihrem  Rechte  bleiben.  Eine  tiefer  dringende  Betrachtung  jedoch 
kann  sich  hierbei  schwerlich  beruhigen,  führt  uns  aber  zugleich 
zu  dem  dritten  der  oben  vorläufig  angedeuteten  Punkte  hinüber, 
den  ich  als  die  Verstandesmäßigkeit  charakterisierte. 

i)  Conviv.  p.  216e.  2)  Ttafcwv,  wörtlich:  spielend.  3)  Diss.  II.  5.  18.  4)  Statt 
dessen  er  aus  Flüchtigkeit  Anytos  nennt.  5)  Enn.  III.  2.  15,  p.  267. 


FÜNFTE  VORLESUNG 


Die  Ironie  des  Sokrates  besteht  nämlich,  genau  besehen, 
eigentlich  darin,  daß  er  die  eigenen,  persönlichen  Lebenslagen 
so  auffaßt,  erörtert  und  beurteilt,  wie  wir  anderen  dies  mit  ge- 
gebenen, fremden  Situationen  zu  tun  pflegen.  Unsere  Stellung- 
nahme zu  jenen  Fragen,  die  uns  am  nächsten  „angehen",  ist  uns 
zumeist  vorgezeichnet  durch  eine  instinktive  Reaktion  auf  den 
äußeren  Eindruck,  und  deshalb  gegeben  im  Gefühl.  Wir  fra- 
gen nicht,  und  wägen  nicht  die  Gründe  dafür  und  dawider 
ab,  ob  nicht  vielleicht  der  Tod  für  uns  ein  Gut,  unser  Henker 
ein  Freund,  oder  auch  nur  der  Mann,  mit  dem  wir  gerade  strei- 
ten, viel  klüger  sei  als  wir?  Diese  subjektive  Stellung  zu  sol- 
chen Dingen  wird  uns  durch  unsere  Interessen  diktiert.  Sie 
nennen  wir  unseren  Ernst.  Und  wir  sind  nicht  gewohnt  zu  be- 
zweifeln, daß  jedermanns  Ernst  unserem  Ernste  gleichen  müsse. 
Äußert  sich  daher  jemand  so,  als  würden  für  ihn  alle  diese  Vor- 
aussetzungen nicht  gelten,  als  „gehe  ihn  nichts  an",  wovon  wir 
denken,  es  müsse  ihn  doch  offenbar  mehr  angehen,  als  alles 
andere;  als  sei  seine  Stellung  zu  solchen  Fragen  ihm  nicht  im  - 
Gefühl  gegeben,  sondern  nur  aufgegeben  als  ein  durch  < 
Gründe  zu  suchendes;  als  sei  sie,  mit  einem  Worte,  eine  ob-  t 
jektive,  und,  können  wir  hinzufügen,  als  fürchte  er  nicht,  i  t 
was  wir  fürchten,  und  hoffe  nicht,  was  wir  hoffen;  —  dann  sind  !  j< 
wir  geneigt,  anzunehmen,  diese  Äußerungen  seien  nicht  der  Aus- 
druck  seiner  wirklichen  Meinung,  sondern  er  verstelle  sich  ? 
nur;  sie  seien  also  nicht  im  Er  nst  zu  nehmen,sondern  im  Scherz. 
In  der  Tat  schließen  wir  nie  anders  auf  die  Scherzhaftigkeit  eines 
Wortes,  als  weil  wir  dem,  der  es  ausspricht,  eine  andere  Ernst- 
haftigkeit zumuten.  Allein  wenn  dieser  Schluß  sonst  oft  berech- 
tigt ist,  muß  er  es  auch  hier  sein?  Warum  sollte  einer  scher- 
zen, vor  seinen  Richtern  über  Leben  und  Tod?  Aber  die  Frage 
sagt  viel  zu  wenig:  wie  könnte  das  ein  Mensch  —  ohne  so  frei 
zu  sein  von  unserem  Ernst,  daß  wir  jenen  „Scherz"  für  einen  ( 
Scherz  zu  halten  gar  nicht  mehr  vermögen?  Wer  sein  Leben 
zum  Scherz  aufs  Spiel  setzt,  dem  ist  dieser  Scherz  Ernst  —  und  K 
die  ganze  Unterscheidung  hat  ein  Ende.  Und  gerade  dies  ist  es,  e: 


SOKRATES  II 


95 


was  wir  bei  Sokrates  mit  Recht  erwarten  werden.  Denn  wer 
so  entfernt  ist  von  der  ursprünglichsten  Furcht,  wie  wir  dies 
eben  bei  ihm  gesehen  haben,  bei  dem  hat  jene  instinktive  Re- 
aktion auf  den  äußeren  Eindruck,  jene  gefühlsmäßige  Stellung- 
nahme aufgehört,  die  wir  sonst  als  seinen  Ernst  hätten  voraus- 
setzen können.  Wo  bleibt  also  dann  die  „Ironie"?  Sie  sehen, 
in  diesem  Sinne  ist  sie  nichts  als  das  Zerrbild,  als  das  sich 
die  innere  Freiheit  in  den  Köpfen  der  innerlich  Unfreien  spie- 
gelt. Denn  das  ist  ja  innere  Unfreiheit,  wenn  Einem  die  äußeren 
Dinge  durch  Vermittlung  unerschütterlicher  „Interessen"  seine 
Stellung  zu  ihnen  diktieren;  eben  dadurch  wird  er  von  ihnen 
abhängig,  ist  seineWunschbejahung  eingeschränkt  und  gebunden. 
Und  eben  dadurch,  daß  er  diese  Diktatur  bricht,  diese  subjek- 
tive Befangenheit  abstreift,  wird  er  von  ihnen  unabhängig  — 
und  eben  das  ist  die  innere  Erlösung  und  Befreiung! 

Aber  ich  gehe  nun  noch  ausdrücklich  auf  unseren  dritten 
Punkt  ein,  auf  die  sokratische  Verstandesmäßigkeit.  Denn  nicht 
zufällig  mußte  ich  eben  sagen:  das  Gefühl  sei  hier  ersetzt  durch 
Gründe,  die  emotionelle  Stellungnahme  also  durch  die  in- 
tellektuelle. Denn  dies  ist  die  spezifische  Form,  in  der  sich 
bei  Sokrates  der  Erlösungsprozeß  vollzogen  hat.  Dies  haben 
jene wohlgefühlt,die (wie Hegel  und  Nietzsche)ihm vorgewor- 
fen haben,  er  habe  die  Instinkte  des  Griechentums  in  Verwirrung 
gebracht.  Und  gewiß:  das  Irrewerden  des  Instinkts  ist  ein  großes 
Unglück,  wenn  und  solange  der  Versuch  mißlingt,  ihn  durch  die 
Vernunft  zu  ersetzen.  Ist  er  es  aber  auch  dann,  wenn  er  gelingt? 
Uud  können  wir  dies  behaupten,  die  wir  eben  dadurch  nicht 
mehr  Tiere  sind,  sondern  Menschen?  Doch,  wir  wollen  nicht 
urteilen,  wir  wollen  verstehen:  verstehen,  zunächst  den  all- 
gemeinen Zusammenhang  von  Verstandesmäßigkeit  und  innerer 
Freiheit;  und  weiter  die  untrennbare  Verknüpfung  beider  in 
der  sokratischen  Persönlichkeit. 

Wir  haben  eben  gesehen,  daß  die  innere  Befreiung  voraus- 
setzt die  Abstreifung  des  Subjektiven  in  unseren  Eindrücken: 
eben  jener  Gefühle,  Begierden,  Interessen,  deren  sich  die  äuße- 


96 


FÜNFTE  VORLESUNG 


ren  Güter  als  Fesseln  bedienen,  um  uns  in  Abhängigkeit  und 
Unfreiheit  zu  erhalten.  Was  nach  dieser  Abstreifung  übrig  bleibt, 
ist  das  Objektive  des  Vorgangs  oder  der  Lage:  der  Tatbestand 
selbst.  Aber  jene  subjektiven  Momente,  die  gewöhnlich  zu  dem 
objektiven  Tatbestande  hinzutreten,  bilden  zugleich  einen  großen 
Teil  jener  besonderen  Umstände,  welche  dem  einzelnen  Er- 
lebnis zugehören,  über  jene  allgemeinen  Züge  hinaus,  die  ihm 
mit  anderen,  ähnlichen  Erlebnissen  gemeinsam  sind.  Sie  müssen 
daher,  wenigstens  zeitweilig,  zurückgedrängt  werden,  immer 
dann,  wenn  ein  persönliches  Erlebnis  zum  Behufe  des  Denkens 
unterBegriffegebrachtoderzumBehufe  der  Mitteilung  inWorte 
gefaßt  werden  soll.  Denn  an  sich  kann  ein  solches  subjektiv- 
persönliches Erlebnis  weder  logisch  formuliert  noch  sprachlich 
ausgesagt  werden.  Es  ist,  als  höchst  persönlicher  Eindruck,  ein 
einzigartiges  und  einzigmaliges  Vorkommnis.  Wort  und  Begriff 
aber  bezeichnen  ein  Vorkommnis  nur,  insofern  es  mit  anderen 
ähnlich  ist,  mit  ihnen  zu  einer  Art  gehört.  In  einer  so  alltäg- 
lichen Aussage,  wie  etwa  in  dem  Satze:  „Ich  ging  im  Wald  spa- 
zieren", ist  eine  außerordentlich  weitgehende  Abstraktion  von 
den  individuellen,  und  namentlich  auch  von  den  subjektiven 
Zügen  des  Eindrucks  vollzogen:  nicht  nur  alles,  was  diesen  Wald 
von  anderen  Wäldern,  diesen  Spaziergang  von  anderen  Spazier- 
gängen unterscheidet,  ist  damit  abgestreift,  sondern  namentlich 
auch  alles,  was  Eindruck  und  Stimmung  dieser  Lage  vor  denen 
anderer,  mit  den  gleichen  Worten  wiederzugebender  Lagen  aus- 
gezeichnet haben  mag:  die  Pracht  des  Sommermorgens,  die 
Frische  des  Schrittes,  die  Sammlung  von  Geist  und  Gemüt. 
Denken  Sie  nun,  statt  an  ein  solches,  an  ein  in  noch  höherem 
Grade  die  subjektive  Stellungnahme  einschließendesErlebnis :  an 
Freude  oder  Trauer,  Sieg  oder  Niederlage,  Verlust  oder  Gewinn, 
so  sehen  Sie:  um  es  auch  nur  auszusprechen  als  einen  Tatbe- 
stand von  dieser  oder  jener  Art,  wird  schon  erfordert  die  Über- 
windung zahlloser  subjektiver  Momente,  die  innere  Erhebung 
über  so  und  so  viele  „Interessen",  und  damit  die  innere  Befrei- 
ung von  ihnen.  Daß  es  auf  einer  oberen  Stufe  und  in  einem 


SOKRATES  II 


97 


größeren  Maße  ebenso  ist,  mit  der  Lyrik  im  engsten  Sinne  wie 
mit  der  subjektiven  Poesie  überhaupt,  das  ist  uns  ja  seit  Goe- 
the ein  Gemeinplatz.  Der  Dichter  aber,  dem  es  gegeben  ist  „zu 
sagen,  was  er  leidet",  wiederholt  damit  nur  in  einer  höheren 
Sphäre,  was  schon  das  Kind  tut,  wenn  es  sagen  lernt:  „Ich  hab' 
mich  angestoßen".  Denn  auch  dies  muß  es  lernen:  der  ursprüng- 
liche Ausdruck  solcher  Erlebnisse  ist  begriff  loser  Schmerz  und 
wortloses  Weinen.  Hat  es  aber  jenes  einmal  gelernt,  dann  weint 
es  nicht  mehr:  mit  der  verstandesmäßigen  Überwältigung  des 
Erlebnisses  hat  es  sich  zugleich  von  seiner  ausschließlich-per- 
sönlichen Stellung  zu  ihm  befreit.  Eine  Stufenleiter  also,  auf 
der  objektive  Auffassung  des  Tatbestandes  und  innere  Befrei- 
ung Hand  in  Hand  gehen,  haben  wir  zweifellos  vor  uns;  was 
Wunder,  wenn  sie  auch  zugleich  den  Höhepunkt  erreichen? 
Daß  aber  diesem  Prozeß  auch  größte  sittliche  Bedeutung  zu- 
kommt, wird  uns  schon  auf  einer  verhältnismäßig  niederen 
Stufe  offenbar:  ich  denke  an  jenes  Gebiet  der  Moralität  im  en- 
geren Sinne,  das  wir  die  Gerechtigkeit  nennen.  Denn  Rechts- 
gefühl heißt  nichts  anderes,  als:  eine  Lage,  an  der  ich  zunächst 
beteiligt  bin  als  Partei,  so  ansehen,  wie  sie  sich  mir  darstellen 
würde,  wenn  sie  stattfände  zwischen  Fremden,  oder  auch  mit 
vertauschten  Rollen.  Auch  hier  wieder  ist  es  dem  primitiven 
Menschen  eigen,  das  Unliebe,  das  ihm  ein  anderer  zufügt,  und 
das  ihm  Liebe,  das  er  anderen  zufügt,  nur  anzusehen  als  solches; 
Anzeichen  aber  und  Bedingung  höherer  Ausbildung,  abzusehen 
davon,  daß  ich  gewinne  oder  verliere,  und,  entblößt  von  dieser 
subjektiven  Färbung  der  Interessen,  den  Tatbestand  ins  Auge 
zu  fassen,  wie  er  an  sich  ist.  Und  wer  würde  zweifeln,  daß  auch 
dieses  Fähigwerden  zur  Gerechtigkeit  ein  Schritt  ist  (wenn  auch 
nur  einer  der  ersten)  auf  dem  Wege  zur  inneren  Freiheit? 

Daß  also  ein  innerer  Zusammenhang  besteht  zwischen  dem 
Ideal  der  inneren  Freiheit  und  zwischen  einem  Maximum  jener 
Verstandesmäßigkeit,  die  objektiv  den  Tatbestand  in  den  Vor- 
dergrund stellt,  wie  er  an  sich  ist  und  seinen  allgemeinen  Merk- 
malen nach  unter  Begriffe  gebracht  und  ausgesprochen  werden 

Gomperz,  Lebensauffassung  7 


98 


FÜNFTE  VORLESUNG 


kann,  —  das  sehen  Sie.  Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  in  jedem 
Falle,  wo  ein  Mensch  diesem  Ideale  nahekommt,  gerade  dieser 
Zusammenhang  vor  allem  deutlich  werden,  gerade  diese  Seite 
des  Ideals  uns  in  die  Augen  fallen,  gerade  dieser  Zug  seines 
Wesens  der  hervorstechendste  sein  muß.  Wir  sagten  ja  schon 
bei  früherer  Gelegenheit:  das  Ideal  hat  viele  Tore,  und  ein  jeder 
wird  durch  ein  anderes  eingehen,  je  nach  dem  Wege,  den  ihm 
sein  Ausgangspunkt  vorzeichnet.  Dieser  Ausgangspunkt  der 
ethischen  Entwicklung  aber  ist  der  ursprüngliche,  unvollkom- 
mene Charakter.  Gäbe  es  nun  absolute  Vollkommenheit,  so 
müßten  sich  an  diesem  Zielpunkte  alle  Einseitigkeiten  der  Her- 
kunft und  der  Straße  ausgleichen.  So  aber  wird  zwar  jeder,  in- 
dem er  dem  Ziele  näher  kommt,  auch  die  anderen  Grundeigen- 
schaften des  innerlich  freien  Menschen  in  sich  entwickeln,  eine 
aber  wird  dennoch  dominieren,  und  ihr  eigentümliches  Gepräge 
ihm  aufdrücken.  Bei  dem  einen  mag  dies  die  Liebe  sein  oder 
die  schöpferische  Produktivität,  bei  dem  anderen  die  Freudig- 
keit und  Heiterkeit,  bei  dem  dritten  aber  die  Sachlichkeit. 
Und  damit  sind  wir  zu  Sokrates  zurückgekehrt.  Bewun- 
dern wir  auch  an  ihm  die  seltenste,  freudigste  Ruhe  und 
Heiterkeit,  und  eine  selbstvergessene  Schöpferkraft,  der  direkt 
oder  indirekt  die  ganze  begriffliche  Geisteswissenschaft  des 
Abendlandes  entsprungen  ist,  so  werden  wir  doch  der  geschich- 
lichen  Wahrheit  am  nächsten  kommen,  wenn  wir  sagen:  die 
Persönlichkeit  des  Sokrates  ist  ihrem  innersten  Wesen 
nach  charakterisiert  durch  eine  nahezu  vollkommene  innere 
Freiheit,  die  sich  uns  in  erster  Linie  als  fast  absolute  Sach- 
lichkeit offenbart. 

Und  wenn  Sie  nun,  geehrte  Zuhörer,  nach  allem  Vorangehen- 
den, was  ich  hiermit  sagen  will,  richtig  verstehen  und  nachem- 
pfinden, dann  werden  Sie  jetzt  auch  unschwer  dasjenige,  was 
gemeinhin  die  „Lehre"  des  Sokrates  heißt,  in  ihrer  Eigenart 
und  in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  Persönlichkeit  ihres  Ur- 
hebers begreifen.  Aber  ihrer  näheren  Darlegung  schicke  ich 
nochmals  die  Bemerkung  voraus,  daß  mitRücksicht  auf  die  Form 


SOKRATES  II 


99 


des  somatischen  Denkens  (als  welches  sich  nur  fragend  und 
anregend  äußerte  —  Hebammendienste  leistend,  ist  ein  platoni- 
sches Lieblingsgleichnis)  diese  sogenannte  Lehre  nicht  als  eine 
eigentliche  Lehre  betrachtet  werden  darf,  sondern  daß  sie  eine 
von  uns  beliebte  Zusammenfassung  jener,  zum  Teil  vielleicht 
nicht  einmal  direkt  ausgesprochenen  Voraussetzungen  ist,  die 
dem  sokratischen  Frage-  und  Antwortspiel  zugrunde  gelegen 
haben.  Was  wir  aber  über  diese  Voraussetzungen  wissen,  ist 
der  Hauptsache  nach  das  Folgende. 

Aristoteles  sagt1:  „Sokrates  beschäftigte  sich  mit  den 
ethischen  Problemen  und  durchaus  nicht  mit  der  gesamten 
Naturforschung".  Bei  dieser  Beschäftigung  „suchte  er  zuerst 
allgemeine  Begriffsbestimmungen  aufzustellen  . . .  Denn  diese 
beiden  Dinge  kann  man  mit  Recht  dem  Sokrates  zuschreiben: 
die  allgemeinen  Begriffsbestimmungen  und  die  induktiven 
Reden"2.  Er  bestimmte  aber  „alle  Tugenden"  als  „Einsichten", 
„Vernunft",  Sachkunde"  oder  Wissen3,  so  daß  es  also  dasselbe 
sei  „die  Gerechtigkeit  zu  kennen  und  gerecht  zu  sein"4.  Daher 
erklärte  er  auch  insbesondere  „die Tapferkeit  für  ein  Wissen"5, 
und  da  das  Wissen  für  alle  Menschen  nur  eines  ist,  so  seien 
auch  „Selbstbeherrschung,  Tapferkeit  und  Gerechtigkeit  für 
Männer  und  Weiber  dieselben"6.  Dieses  Wissen  gewährleistet 
aber  die  Tugend,  und  „es  ist  nicht  möglich,  daß  der  Wissende 
sich  nicht  in  der  Gewalt  habe;  denn  es  wäre  ja  schrecklich, 
wenn,  wo  die  Einsicht  ist,  etwas  anderes  stärker  wäre"7.  Viel- 
mehr ist  „nichts  stärker  als  die  Einsicht"8.  Sokrates  behauptete 
aber  durchaus  nicht,  diese  Einsicht  selbst  zu  besitzen;  denn 
„deswegen  fragte  Sokrates,  antwortete  aber  nicht;  er  gestand 
nämlich,  daß  er  kein  Wissen  habe"9. 

Sie  sehen,  sehr  imponierend  ist  die  Masse  der  Zeugnisse,  die 
uns  übrig  bleiben,  gerade  nicht.  Dafür  scheinen  sie  im  wesent- 

i)  Metaph.  1.6,  p.  987  b  1;  vgl.  de  partt.  anim.  1.4,  p.  642  a  28.  2)  Metaph. 
XIII.4,  p.l078b  17ff.  3)  Eth.  Nie.  VI.  13,  p.H44b  19  und  28.  *)  Eth.Eud.  1.5, 
p.  1216b  7.  5)  Eth.  Nie.  III.  11,  p.  1116b  4.  6)  p0lit.  1. 13,  p.  1260a  21.  7)  Eth. 
Nic.VII.3,p.ll45b23.  8)  Eth.Eud.VII.  13, p.  1246b 34.  9)  Soph.E1.33,p.l83b7. 

7* 


100 


FÜNFTE  VORLESUNG 


liehen  zuverlässig.  Unsere  erste  Aufgabe  aber  muß  die  sein, 
ihren  Gehalt  uns  dadurch  näher  zu  bringen,  daß  wir  ihn  kurz 
in  eine  uns  geläufigere  Sprache  übertragen. 

Sokrates  ging  also,  das  ist  die  Meinung,  darauf  aus,  die  ethi- 
schen Grundbegriffe  in  der  Weise  zu  bestimmen,  daß  er  Ant- 
worten auf  die  Fragen  provozierte,  was  jede  Tugend  eigentlich 
sei?  Er  fragte  also  etwa:  Was  ist  die  Tapferkeit?  Was  ist  die 
Rechtschaffenheit?  usw.  Als  die  Methode  zur  Auflösung  dieser 
Probleme  aber  schwebte  ihm  dasjenige  vor,  was  Aristoteles 
die  „induktiven  Reden"  nennt.  Das  heißt,  wie  wir  nach  den  über- 
einstimmenden Darstellungen  des  Piaton  und  des  Xenophon 
schließen  können,  er  wollte  die  ethischen  Fragen  nach  Analogie 
der  technischen  behandelt  wissen.  Er  verwendete  somit  die  spe- 
zifischen Tüchtigkeiten  der  einzelnen  Gewerbe  (des  Reiters, 
Schusters,  Flötenspielers),  also  die  Kunstfertigkeiten,  zur  Illu- 
stration der  allgemeinen  menschlichen  Tüchtigkeit,  also  der 
„Tugend".  Er  meinte,  wer  wisse,  wie  ein  guter  Schuh  beschaffen 
sei,  werde  auch  einen  solchen  machen;  und  ebenso  wäre  auch 
derjenige  tapfer,  der  wüßte,  was  Tapferkeit  sei.  Wie  also  den 
tüchtigen  Schuster,  so  müßte  das  rechte  Wissen  auch  den  tüch- 
tigen Menschen  ausmachen.  Den  Inhalt  dieses  Wissens  aber 
mochte  er  wohl  wieder  und  wieder  zu  bestimmen  versuchen; 
allein  er  war  sich  nicht  bewußt,  ihn  auch  endgültig  bestimmt  zu 
haben.  Und  eben  deshalb,  weil  er  dieses  Wissen  nicht  hatte, 
sondern  nur  postulierte,  — eben  deswegen  konnte  er  seine 
Voraussetzung  (daß  nämlich  der  Besitz  desselben  hinreichen 
würde,  ein  ethisches  Leben  zu  gewährleisten)  nicht  an  der  Er- 
fahrung erproben. 

Diesen  Sätzen  gegenüber  drängen  sich  sofort  zwei  Einwände 
auf.  Erstens  nämlich  ist  es  doch  nicht  einmal  richtig,  daß  die 
theoretische  Kenntnis  vom  Wesen  eines  guten  Schuhes  schon 
den  guten  Schuster  macht.  Um  ein  solcher  zu  werden,  bedarf 
es  vielmehr  noch  außerdem  der  praktischen  Übung.  Zweitens 
aber  trägt  doch  jene  theoretische  Kenntnis  nur  insofern  etwas 
dazu  bei,  das  Wesen  eines  tüchtigen  Schusters  auszumachen, 


SOKRATES  II 


101 


als  wir  voraussetzen  können,  er  sei,  um  in  seinem  Gewerbe 
nach  Kräften  zu  prosperieren,  entschlossen,  möglichst  gute 
Schuhe  zu  machen.  Nur  weil  er  von  vornherein  diesen  Zweck 
verwirklichen  will,  hängt  diese  Verwirklichung  lediglich  von 
seiner  Kenntnis  der  zugehörigen  Mittel  ab.  Könnten  wir  vor- 
aussetzen, er  wolle  gar  keine  guten  Schuhe  machen,  —  und  diese 
Voraussetzung  wäre  zum  Beispiel  in  allen  jenen  Fällen  berechtigt, 
in  denen  wir  von  „Schleuderware"  zu  sprechen  pflegen  —  so 
dürften  wir  gewiß  nicht  annehmen,  er  werde  sie  machen,  so- 
bald er  nur  wisse,  wie  sie  zu  machen  seien.  Welches  Recht 
haben  wir  nun  zu  der  Annahme,  jeder  Mensch  wolle  tapfer, 
gerecht  usw.  sein?  Es  scheint  demnach,  daß  außer  der  Ein- 
sicht in  das  Wesen  des  Guten  und  der  Übung  in  seiner  Be- 
tätigung auch  noch  der  Wille,  es  zu  verwirklichen,  erfordert 
wird. 

Wie  sollen  wir  uns  nun  denken,  daß  sich  Sokrates  zu  diesen 
scheinbar  so  naheliegenden  Schwierigkeiten  verhalten  hat? 
Ihre  gesonderte  Besprechung  wird  uns  zeigen,  daß  sie  ihm 
kaum  zum  Bewußtsein  gekommen  sind,  zugleich  aber  auch,  wie 
dies  möglich,  ja,  warum  es  fast  notwendig  gewesen  ist. 

Weder  in  der  aristotelischen  noch  in  der  platonischen  noch 
in  der  xenophontischen  Darstellung  findet  sich  auch  nur  die 
Spur  einer  Auseinandersetzung  mit  der  Behauptung,  daß  ein 
Mensch  ein  Geschäft  zwar  verstehen,  aber  nicht  ausüben  könnte, 
weil  ihm  die  nötige  Übung  fehle.  So  energisch  später  Kyniker 
und  Peripatetiker  auf  diesen  Sachverhalt  hingewiesen  haben, 
indem  sie  neben  der  Einsicht  zur  Tugend  noch,  jene  die  ent- 
sprechende Kraft,  diese  den  entsprechenden  Habitus  forderten 
—  nirgends  findet  sich  auch  nur  angedeutet,  daß  schon  Sokrates 
diesen  Gesichtspunkt  gekannt,  geschweige  denn  widerlegt  hätte. 
Auch  ist  dies  nicht  so  verwunderlich,  wie  man  auf  den  ersten  Blick 
denken  möchte.  Zunächst  liegt  der  Tatbestand,  für  den,  der  die 
Verhältnisse  im  großen  und  rohen  betrachtet,  gar  nicht  zutage. 
Er  sieht  vielmehr,  daß  es  Meister  gibt,  die  eine  Kunst  ausüben, 
und  von  ihr  auch  eine  zureichende  Kenntnis  haben;  und  ferner, 


102 


FÜNFTE  VORLESUNG 


daß  diese  Kunstübung  von  einem  Meister  auf  den  anderen  über- 
tragen wird  durch  einen  Prozeß,  der  damals  nicht  anders  wie 
heute  als  „Lehren"  resp.  „Lernen"  bezeichnet  wird.  Was  liegt 
da  näher,  als  der  Schluß,  daß  das  Wesen  dieses  Vorganges  eben 
in  der  Mitteilung  jener  Kenntnis  bestehe?  Auch  heute  noch 
würde  ja  wohl  der  gemeine  Mann  auf  die  Frage:  Wie  lehrt  der 
Meister  den  Lehrling  sein  Handwerk?  erwidern:  Indem  er  ihm 
zeigt,  wie  man's  macht.  Hätte  sich  aber  auch  Sokrates  auf  die 
Psychologie  des  Lernens  näher  eingelassen,  so  hätte  ihm  das 
Ungenügende  seiner  Voraussetzung  noch  keineswegs  einleuchten 
müssen.  Er  hätte,  solange  der  Lernende  die  Kunst  noch  nicht 
voll  ausüben  konnte,  immer  noch  gemeint,  jener  habe  eben  die 
Unterweisung  noch  nicht  völlig  „verstanden".  Wir  freilich 
meinen  es  besser  zu  wissen.  Wir  stellen  uns  vor,  daß  das  „Ver- 
ständnis" einer  Kunst,  das  einzige  an  ihr,  was  „gelehrt",  nämlich 
mitgeteilt  werden  kann,  auf  einer  assoziativen  Verbindung  zwi- 
schen Sinnesempfindungen,  resp.  deren  Gedächtnisbildern  be- 
ruht; daß  also  z.  B.  beim  Lesenlernen  dieses  „Wissen"  darin 
besteht,  daß  mit  dem  Gesichtsbilde  des  Zeichens  A  die  Gehörs- 
vorstellung des  Lautes  A  verbunden  wird.  Dagegen  meinen  wir, 
das  praktische  „Erlernen"  der  Kunst  beruhe  auf  der  Herstellung 
einer  Assoziation  zwischen  dem  Sinneseindruck  und  —  nicht 
mehr  einem  andern  Sinneseindruck,  sondern  —  einem  be- 
stimmten Bewegungsimpuls;  beim  Lesenlernen  z.  B.  bestehe 
das  „Können"  darin,  daß  mit  dem  Gesichtsbild  A  jene  Innerva- 
tion der  Sprachorgane  assoziiert  wird,  welche  den  Laut  A  her- 
vorbringt. Und  wir  glauben  endlich,  aus  Erfahrung  zu  wissen, 
daß,  wenn  jeneAssoziation,die  wir  gemeinhin  „Merken"  nennen, 
schon  nach  ein-  oder  doch  wenigmaliger  Paarung  fixiert  werden 
kann,  diese,  die  wir  als  „Einüben"  bezeichnen,  zu  ihrer  Stabili- 
sierung eine  oftmalige  Kombination  erfordert;  daß  also,  kurz  ge- 
sagt, dieBedingungen  für  die  Herstellung  einer  festen  Verknüpf- 
ung zwischen  einer  Vorstellung  und  einer  anderen  Vorstellung 
viel  leichter  zu  realisieren  sind  als  die  für  die  Verbindung  einer 
Vorstellung  mit  einem  Bewegungsimpuls.  Daß  aber  in  dem 


SOKRATES  II 


103 


Kindheitsstadium  der  Geisteswissenschaft  diese  Unterscheidung 
verkannt  werden  konnte,  wird  uns  gewiß  nicht  wundernehmen. 
Dazu  kommt  aber  weiter,  daß  die  persönliche  Eigenart  des 
Sokrates  ihm  die  Einsicht  in  diese  Verhältnisse  noch  ganz  be- 
sonders erschweren  mußte.  Denn  wir  haben  als  den  hervor- 
stechendsten Zug  derselben  eine  ganz  ungewöhnliche  Sachlich- 
keit kennen  gelernt.  Das  heißt  aber:  es  ward  bei  ihm  das  Be- 
wußtsein fast  ausschließlich  von  objektiven  Vorstellungen  be- 
herrscht, neben  denen  die  subjektiven  Impulse  nahezu  völlig 
in  den  Schatten  des  Unbewußten  oder  doch  Unbemerkten  zu- 
rücktraten. Wenn  er  also  auf  sein  eigenes  Bewußtsein  reflek- 
tierte —  und  niemand  kann  auf  ein  fremdes  reflektieren  — ,  so 
fand  er  überhaupt  nur  solche  objektiv-wertige  Vorstellungen, 
sagen  wir:  Wahrnehmungen  und  Erkenntnisse,  vor;  und  ganz 
fern  mußte  ihm  der  Gedanke  liegen,  daß  Widerstände,  die  er 
gar  nicht  empfand,  bei  anderen  das  Fortschreiten  von  sittlicher 
Erkenntnis  zu  sittlichem  Tun  behindern  könnten.  Insofern  sehen 
wir  schon  hier,  daß  der  Intellektualismus  seiner  Natur  den 
Intellektualismus  seiner  Lehre  mit  Notwendigkeit  hervorge- 
trieben hat. 

Ähnlich  steht  es  nun  aber  auch  mit  dem  zweiten  Punkte.  Die 
sokratische  Lehre  setzt  voraus,  daß,  wie  im  Handwerk,  so  auch 
im  Leben,  überall,  wo  das  Wissen  vorhanden  ist,  wie  es  „gut" 
gemacht  wird,  auch  der  Wunsch  gegeben  sein  müsse,  es  „gut" 
zu  machen.  Dabei  fällt  uns  sofort  der  Doppelsinn  des  Wortes 
„gut"  auf.  Beim  Handwerker  ist  das  „Gute"  das  Zweckmäßige, 
dasjenige,  was  imstande  ist,  den  gewünschten  Zweck  zu  ver- 
wirklichen. Beim  Menschen  im  allgemeinen  ist  es  das  sittlich 
Gebilligte.  Das  Gute,  im  Sinne  des  Zweckmäßigen,  hat  aber 
allerdings  auch  beim  Menschen  ein  Analogon.  Was  einer 
wünscht,  das  nennt  er  ein  Gut,  was  er  nicht  wünscht,  ein  Obel. 
Gut  und  Übel  sind  in  diesem  Sinne  einfach  andere  Namen  für 
die  Eigenschaft  des  Gewünscht-  und  Nichtgewünschtwerdens. 
Und  da  wir,  was  wir  wünschen,  auch  wollen,  vorausgesetzt,  daß 
wir  es  überhaupt  verwirklichen  können,  und  daß  kein  anderer, 


104 


FÜNFTE  VORLESUNG 


stärkerer  Wunsch  dem  entgegensteht,  so  kann  man  nun  freilich 
sagen:  ein  jeder  wolle,  was  (für  ihn)  gut  ist,  und  wenn  er  nur 
erst  wisse,  wie  er's  anstellen  müsse,  um  es  zu  erreichen,  so  werde 
er's  auch  sicherlich  wollen,  und  dem  entsprechend  handeln.  Die 
sokratische  Lehre  wäre  also  ganz  richtig,  wenn  das  sittlich  Gute 
mit  diesem  wunschlich  Guten  schlechthin  zusammenfiele.  Hat 
nunSokrates  diese  Identität  wirklich  behauptet?  Sicher  scheint 
mir,  daß  er  die  beiden  „Gut"  nicht  auseinandergehalten  hat. 
Von  allen  anderen  Gründen  abgesehen,  ergibt  sich  dies  schon 
daraus,  daß  noch  Pia  ton  an  ungezählten  Stellen  diese  Unter- 
scheidung unbekannt  ist1.  Dieser  aber  war  nicht  der  Mann, 
einmal  entdeckte  logische  Distinktionen  zu  vergessen.  Deshalb 
wird  man  nicht  sagen  dürfen,  Sokrates  habe  zwei  disparate 
Begriffe  zusammengeworfen.  Beide  hatten  sich  vielmehr  noch 
gar  nicht  differenziert.  „Gut"  bedeutet  ursprünglich  alles,  dessen 
Vorstellungvon  einer  „ZustimmungdesGemütes"  begleitet,  alles, 
was  irgend  welche  „freundliche"  Gefühle  erregt,  was  also  in 
irgend  einem  Sinne  bejaht  wird  —  es  sei  nun  diese  Bejahung 
näher  eine  Wunschbejahung,  eine  Billigungsbejahung,  oder  eine 
Gefallensbejahung.  In  diesem  Sinne  also  ist  ebensowohl  die  Er- 
füllung eines  Wunsches  „gut",  mit  der  man  zufrieden  ist,  wie 
ein  Gegenstand,  der  einem  gefällt,  oder  ein  Verhalten,  das  man 
billigt.  Ganz  so  daher,  wie  in  dieser  Zeit  das  Wort  „schön" 
die  moralische  und  die  ästhetische  Bejahung  zusammenfaßt,  so 
drückt  auch  das  Wort  „gut"  sowohl  die  Wunschbejahung  wie 
die  Billigungsbejahung  aus.  Und  dabei  handelt  es  sich  nicht 
um  die  zufällige  Einheit  eines  Wortes,  sondern  um  die  noch  un- 
geschiedene Einheit  des  Begriffs.  Diese  Begriffssonderung  ist 
ja  eben  die  Aufgabe,  mit  der  die  Philosophie  zu  allen  Zeiten 
gerungen  hat,  und  in  deren  Überwindung  sie  stets  die  Philo- 
sophie der  Zukunft  hervortreibt.  Darüber  aber,  daß  dieser 
Differenzierungsprozeß  damals  noch  in  seinen  ersten  Anfängen 
stand,  wird  sich  niemand  wundern,  der  bedenkt,  daß  ja  eben 

*)  Man  sehe  beispielshalber  Gorg.  p.  460b,  oder  vgl.  ebenda  p.  499e  mit 
506d!    Oder  man  lese  daraufhin  den  ganzen  Dialog  „Hippias  Minor" ! 


SOKRATES  II 


105 


erst  mit  Sokrates  dieses  philosophische  Ringen  auf  ethischem 
Gebiete  beginnt.  Aber  auch  hier  treten  die  persönlichen  Gründe 
zu  den  sachlichen  ergänzend  und  entscheidend  hinzu.  Die  ab- 
solut sachliche,  ihrer  Naturinstinkte  unbewußte  Persönlichkeit 
des  Sokrates  konnte  auf  Wünschen  und  Wollen  als  auf  einen 
besonderen,  unabhängigen  Faktor  überhaupt  nicht  reflektieren. 
Nur  ein  Wollen,  das  mit  dem  Erkennen  selbstverständlicher 
Weise  mitgegeben  ist,  und  deshalb  eine  besondere  Beachtung 
weder  herausfordert  noch  erträgt,  konnte  in  das  psychologische 
Schema  eines  Bewußtseins  passen,  das  seinen  Begehrungsim- 
pulsen so  fremd  gegenüberstand,  daß  es  sie  unter  dem  Namen 
des  Daimonion  für  eine  göttliche  Stimme  nahm.  Derjenige, 
dem  sein  Ich  allein  im  Denken  aufging,  konnte  unmöglich  die  sitt- 
liche Bedeutsamkeit  des  Wollens  bemerken.  Und  wenn  schon 
das  ganze  Altertum  diesen  Intellektualismus  nie  völlig  überwun- 
den hat,  wenn  im  platonischen  „Gorgias"  Sokrates  dem  Polos 
beweist,  was  er  wolle 1 ;  wenn  die  gesamte  antike  Ethik  unter  dem 
Begriffe  der  ,,Eudaimoniea(Wohl)  ein  als  gegeben  angenommenes 
Willensziel  verstanden,  und,  statt  zu  fragen:  was  der  Mensch 
wollen  solle?,  vielmehr  gefragt  hat:  worin  die  Eudaimonie  be- 
stehe, die  er  will?,  —  so  ist  dieserlntellektualismusbei  Sokrates 
doppelt  notwendig:  nicht  nur  durch  die  theoretischen  Voraus- 
setzungen seiner  Zeit  gefordert,  sondern  auch  durch  seine  per- 
sönliche Eigenart  bedingt. 

Wir  haben  schon  im  bisherigen  vorgreifend  einige  Beiträge 
gegeben  zu  der  letzten  Frage,  mit  der  wir  uns  heute  zu  beschäf- 
tigen haben:  zu  der  Frage  nämlich  nach  dem  Zusammenhange 
der  sokratischen  Lehre  mit  der  sokratischen  Persönlichkeit. 
Wir  haben,  kurz  gesagt,' gefunden,  daß  von  einer  so  eminent 
sachlichen  und  verstandesmäßigen  Natur  eine  andere  als  eine  so 
eminent  intellektualistische  Lehre  nicht  erwartet  werden  könnte: 
wem  das  eigene  Leben  fast  ganz  aufgeht  im  Denken,  dem 
muß,  wenn  er  bei  der  Bildung  seiner  Begriffe  seine  eigensten 
und  innersten  Bedürfnisse  zu  Rate  zieht,  das  Ideal  des  Lebens 

!)  p.  475  e. 


106 


FÜNFTE  VORLESUNG 


auch  zusammenfallen  mit  dem  Ziel  des  Denkens,  dem  Wissen. 
Insofern  wir  aber  gesehen  haben,  daß  jene  Sachlichkeit  zugleich 
die  spezifische  Form  ist,  in  der  sich  die  innere  Befreiung  des 
Sokrates  vollzieht,  haben  wir  auch  schon  eine  erste  Brücke 
von  seiner  ethischen  Lehre  zu  diesem  Ideale  selbst  geschlagen. 
Blieb  ihm  allein  das  Denken  übrig  nach  Aufhebung  aller  Ab- 
hängigkeit von  der  äußeren  Welt,  so  mußte  es  ihm  eben  als  der 
adäquate  Ausdruck  seiner  persönlichen  Lebensstimmung  er- 
scheinen. 

Eben  deshalb  aber,  weil,  was  sich  hier  in  einem  einzelnen 
Individuum  abgespielt  hat,  nur  eine  typische  Seite  allgemein 
menschlicher  Verhältnisse  hervortreten  läßt,  muß  dem  soma- 
tischen Intellektualismus  auch  eine  gewisse  objektive  Eignung, 
das  Ideal  der  inneren  Freiheit  auszudrücken,  zugestanden  wer- 
den. Denn  in  der  Tat  ist  das  Denken  diejenige  unserer  Fähig- 
keiten, die  von  unserm  äußeren  Schicksal  verhältnismäßig  am 
wenigsten  stark  und  am  wenigsten  unmittelbar  abhängig  ist.  Die 
Gefühle  werden  durch  die  äußeren  Gegenstände  und  Verhält- 
nisse unmittelbar  erregt,  die  Begierden  sind  unmittelbar  auf  sie 
gerichtet.  Durch  diese  also  hängen  wir  mit  jenen  aufs  direkteste 
zusammen,  sind  wir  von  ihnen  am  stärksten  abhängig.  Dies 
zeigt  sich  darin  vor  allem,  daß  sie  am  augenfälligsten  im  Gefolge 
jener  wechseln.  Je  nach  dem  Wandel  des  äußeren  Schicksals 
sind  wir  „himmelhoch  jauchzend,  zum  Tode  betrübt",  wird 
Freude  von  Trauer,  Furcht  von  Hoffnung  abgelöst.  So  steht  es 
mit  dem  Wissen  nicht.  Gewiß  werden  wir  die  Bedeutsamkeit 
jener  Gesichtspunkte  nicht  verkennen,  die  von  Augustinus  bis 
Schopenhauer  immer  wieder  zu  der  Lehre  vom  sogenannten 
Primat  des  Willens  geführt  haben.  Gewiß  ist  der  Intellekt  ur- 
sprünglich ein  Diener  der  Interessen.  Und  noch  verschiebt  sich 
mit  jeder  wechselnden  Welle  des  Gefühls  kaleidoskopisch  die 
Gruppierung  unserer  Gedanken.  Ganze  Systeme  der  Wissen- 
schaft entspringen  den  Bedürfnissen  des  Gefühls;  und  allgemein 
wird  man  sagen  dürfen,  daß  jedes  Denken  stillsteht,  sobald  es 
an  der  Triebkraft  der  Affekte  fehlt.  Dennoch  befreit  sich  das 


SOKRATES  II 


107 


Werkzeug  des  Intellekts  allmählich  in  weitem  Maße  von  der 
richtunggebenden  Einwirkung  der  Instinkte,  ja  es  wirkt  hem- 
mend, verändernd  und  fördernd  auf  sie  zurück  —  vor  allem  da- 
durch, daß  sich  neben  den  allgemein  biologischen  spezifisch 
intellektuelle  Bedürfnisse  ausbilden,  die  wohl  noch  die 
Energie,  aber  nicht  mehr  die  Richtung  und  die  Ergebnisse  des 
Denkens  bestimmen:  das  Verlangen  nach  Widerspruchslosig- 
keit,  nach  Kenntnis,  nach  Zusammenfassung  und  Erklärung, 
kurz  nach  Wahrheit.  Und  unleugbar  ist  es,  daß  z.  B.  unser 
Wissen  um  das  Einmaleins  von  unserer  äußeren  Lage  und  ihrem 
Wechsel  kaum  noch  in  nennenswerter  Weise  beeinflußt  wird. 
Indem  aber  dieses  in  die  Augen  springt,  wird  auch  klar,  wie  eine 
intellektualistische  Theorie  als  adäquater  Ausdruck  des  Ideals 
der  inneren  Freiheit  erscheinen,  und  es  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  auch  wirklich  sein  kann.  Denn  für  eine  Stimmung,  die 
ganz  erfüllt  ist  von  dem  Bewußtsein,  daß  alles  wertvolle  an  uns 
von  allem  äußeren  unabhängig,  daß  unsere  Tüchtigkeit  oder 
Tugend  schlechthin  unverlierbar  ist,  ist  es  wohl  eine  ungemein 
naheliegende  Folge,  diesen  unseren  Wert,  diese  unsere  Tüchtig- 
keit und  Tugend  eben  in  das  unverlierbarste  unserer  Besitz- 
tümer, in  das  Wissen  zu  setzen.  Und  so  entbehrt,  von  dieser 
Seite  her,  die  sokratische  Lehre  auch  nicht  ihrer  objektiven 
Berechtigung:  wie  wir  schon  früher  die  Erkenntnis  überhaupt 
als  einen  der  charakteristischen  Wege  zur  inneren  Befreiung 
und  Erlösung  erkannt  haben,  so  wird  die  vorherrschende 
Schätzung  des  Wissens  in  vielen  Fällen  zwar  nicht  eine  Gewähr, 
wohl  aber  eine  natürliche  Folge  hochgesteigerter  innerer  Frei- 
heit sein1. 

In  subjektiver  Beziehung  aber  ist  dieser  Zusammenhang 
Ihnen  nunmehr  hoffentlich  über  jeden  Zweifel  einleuchtend  ge- 
worden. Trotz  allem  gesagten  hätte  nie  ein  Mensch  die  Mei- 

!)  In  der  Tat  ist  die  intellektualistische  Formulierung  des  Freiheitsideals 
keineswegs  auf  Griechenland  beschränkt,  vielmehr  bildet  der  Spruch:  „Aus 
der  Erkenntnis  die  Erlösung"  (£ankara  bei  Deussen,  Die  Sutra's  des 
Vedanta,  S.  283)  die  gemeinsame  Voraussetzung  aller  indischen  Systeme 
(Vedanta,  Samkhya,  Buddhismus  usw.). 


108 


FÜNFTE  VORLESUNG 


nung,  daß  alle  nach  dem  Guten  streben,  daß  niemand  wissent- 
lich fehle,  und  daß  die  Kenntnis  des  Guten  ausreiche  zum  sitt- 
lichen Tun,  zur  axiomatischen  Grundlage  seiner  Lehre  gemacht, 
der  täglich  an  sich  selbst  das  Gegenteil  erfahren  hätte.  Das 
konnte  nur,  wer  so  frei  war  von  blinden  Impulsen  des  Begeh- 
rens wie  Sokrates.  Hinter  dieser  Zweideutigkeit  im  Begriffe 
des  Guten  steht,  als  ihre  einzig  mögliche  Voraussetzung  und 
Erklärung,  die  wünsch-  und  begierdelose,  in  sich  beruhigte  und 
befriedigte  Natur  eines  innerlich  freien  Menschen.  Damit 
Sokrates  sagen  konnte:  „Nichts  ist  stärker  als  die  Einsicht", 
mußten  in  ihm  selbst  jene  sonst  übermächtigen  Fesseln  gelöst 
sein,  mit  denen  wir  anderen  an  bestimmte  äußere  Lagen,  ge- 
nießend und  zurückbebend,  gekettet  sind.  Sondern,  der  diesen 
Satz  zuerst  gesprochen  hat,  mußte  imstande  sein,  jeder  äußeren 
Lage  unerschüttert  gegenüberzutreten;  er  mußte  die  Kraft  be- 
sitzen, das  Ganze  der  Welt  und  des  Lebens  jederzeit  wunsch- 
los und  freudig  zu  bejahen.  Das  aber  heißt:  er  mußte,  soweit 
das  menschenmöglich  ist,  innerlich  frei  sein.  Und  so  sehen 
Sie,  daß  sich  die  recht  geschaute  Persönlichkeit  des  Sokrates 
und  seine  recht  verstandene  Lehre  wechselseitig  bedingen  und 
erklären. 

Nun  dürfen  Sie,  geehrte  Zuhörer,  freilich  nicht  glauben,  daß 
damit,  was  über  Sokrates  zu  sagen  wäre,  auch  nur  im  Umriß 
erschöpft  ist. 

Die  tieferen  Gründe  seiner  Verurteilung  bilden  ein  Problem 
für  sich.  Doch  ist  es  mir  zweifelhaft,  ob  wir  bei  dem  Stande 
unserer  gesicherten  Kenntnisse  uns  darüber  ein  abschließendes 
Urteil  zu  bilden  vermögen. 

Ähnlich  steht  es  mit  der  Frage  nach  seinen  politischen  An- 
sichten. Nur  ist  es  hier  von  vorneherein  wahrscheinlich,  daß  er 
seine  Forderung  des  sachverständigen  Wissens  auch  auf  dieses 
Gebiet  ausgedehnt,  und  im  Gegensatze  zur  demokratischen 
Beamtenbestellung  durch  Wahl  und  Los  die  Herrschaft  der 
Sachkundigen  gefordert  haben  wird.  In  der  Tat  beruht  nicht 
nur  die  ganze  platonische  Staatslehre  auf  diesem  Prinzip,  son- 


SOKRATES  II 


109 


dem  auch  von  Antisthenes  wird  uns  erzählt1,  er  habe  (anläß- 
lich eines  Pferdemangels)  den  Athenern  geraten,  durch  Volks- 
beschluß die  Esel  zu  Pferden  zu  ernennen;  und  denen,  die  dies 
unsinnig  fanden,  geantwortet:  „Aber  auch  zum  Feldherrn  wird 
man  ja  bei  euch,  ohne  etwas  gelernt  zu  haben,  durch  bloße  Volks- 
abstimmung." In  welcher  Richtung  sich  aber  des  Sokrates 
politische  Desiderata  im  einzelnen  bewegt  haben  mögen,  wissen 
wir  nicht. 

Auch  ist  die  Beschaffenheit  seiner  Definitions-  und  Induktions- 
versuche von  größter  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Logik; 
allein  wir  können  uns  auf  gelegentliche  und  darum  notwendig 
unzulängliche  Seitenblicke  in  dieses  Gebiet  nicht  einlassen,  und 
müssen  uns  auf  das  ethisch  Bedeutsamste  beschränken. 

Auf  Einen  Punkt  aber  muß  ich  Sie,  eben  in  diesem  Interesse, 
noch  mit  Nachdruck  hinweisen.  Er  bildet  zugleich  den  Über- 
gang zum  folgenden.  Es  fragt  sich  nämlich:  hat  die  sokratische 
Forderung  des  sittlichen  Wissens  wirklich  keine,  über  diesen 
rein  formalen  Begriff  hinausgehende  Bedeutung?  Hat  So- 
krates wirklich  nur  das  Wissen  um  die  Begriffe  des  Guten,  der 
Tugend  usw.  postuliert,  und  nicht  vielmehr  das  richtige  Wissen 
um  das  Angenehme,  das  Nützliche  oder  dergl.?  Diese  Frage 
ist  meines  Erachtens  mit  der  größten  Entschiedenheit  zu  be- 
jahen. Davon  abgesehen,  daß  er  ja,  hätte  er  das  „Wissen"  in- 
haltlich bestimmt,  sich  selbst  ein  solches  Wissen  hätte  zuschrei- 
ben  müssen,  und  nicht  der  Unwissende  hätte  sein  wollen,  der 
er  sein  wollte  —  die  Frage  wird  gerade  durch  jene  Umstände 
in  diesem  Sinn  entschieden,  die  manchen  für  die  andere  Alter- 
native zu  sprechen  scheinen:  durch  die  ethischen  Lehren  seiner 
Jünger.  Wir  finden  bei  Piaton  eine  Fortbildung  der  somati- 
schen Lehre  vom  Wissen  zu  der  Lehre  vom  Schauen  der  un- 
körperlichen Ideen.  Wir  finden,  daß  bei  Aristipp  an  die  Stelle 
des  bloßen  (inhaltlich  unbestimmten)  Wissens  das  Wissen  um 
das  rechte  Genießen  tritt.  Dieselbe  Rolle  spielt  bei  Antisthe- 
nes das  Wissen  um  die  natürlichen  Bedürfnisse,  bei  Xenophon 

1)  Diog.  Laert.  VI.  8. 


110 


FÜNFTE  VORLESUNG 


das  Wissen  um  den  Nutzen  der  Dinge.  Hat  also  nicht  vielleicht 
Sokrates  selbst  eine  dieser  Lehren  vorgetragen?  Nein!,  müs- 
sen wir  antworten;  denn  sonst  hätten  sich  die  anderen  nicht 
aus  der  seinen  entwickeln,  ihre  Vertreter  ihn  nicht  in  gleicher 
Weise  für  sich  reklamieren  können!  Natürlich  kann  Sokrates 
bald  in  der  einen  und  bald  in  der  anderen  Richtung  Definitionen 
versucht,  bald  dieser,  bald  jener  Lehre  zugeneigt  haben.  Aber 
an  eine  entschiedene  Vertretung  einer  dieser  Doktrinen  ist  gar 
nicht  zu  denken.  Ich  führe  diesen  Gedankengang  noch  ein 
wenig  näher  ins  einzelne  aus. 

Das  xenophontische  Wissen  ist  sehr  simpler  Natur.  Es 
besteht  in  Erkenntnissen  wie  dem,  daß  man  sich  Freunde  er- 
werben müsse,  wenn  man  von  ihnen  gefördert  werden  wolle1, 
oder  daß  die  Unenthaltsamkeit  das  Vermögen  aufzehrt  und  die 
Gesundheit  untergräbt2.  Ein  so  naheliegendes  Wissen  aber 
kann  man  nicht  postulieren,  man  kann  es  nur  besitzen.  Ein 
solcher  Sokrates  hätte  nicht  bloß  fragend  anregen  können,  er 
hätte  lehrend  predigen  müssen.  Dies  tut  denn  auch  der  xeno- 
phontische Sokrates  zur  Genüge,  ja  zum  Überdruß.  Aber  vom 
geschichtlichen  Sokrates  wissen  wir  durch  Piaton  und  Ari- 
stotelesgerade das  eine,  daß  er  dies  nicht  getan  hat.  Das  xeno- 
phontische Wissen  ist  also  nicht  das  sokratische. 

Das  platonische  Wissen  setzt  die  Ideenlehre  voraus.  Aber 
gerade  von  ihr  sagt  uns  Aristoteles,  daß  sie  dem  Sokrates 
fremd  war. 

Das  aristippische  und  das  antisthenische  Wissen  end- 
lich schließen  einander  gegenseitig  aus.  Hätte  Sokrates  die 
kynische  Bedürfnislosigkeit  gelehrt:  der  Luxus-  und  Genuß- 
mensch Ar i stipp  hätte  sich  weder  selbst  als  Sokratiker  be- 
trachten3, noch  hätten  ihn  seine  Genossen  als  solchen  aner- 
kennen können4.  Und  hätte  er  die  kyrenaische  Lustlehre  be- 
kannt: nie  hätte  derselbe  Antisthenes,als  dessen  Lieblingssatz 

i)  Comm.  II. 4.1  ff.  2)  Co  mm.  1.5.3.  3)  Diog.  Laert.  II.  71 ;  76;  80.  *)  Xeno- 
phon,  Comm.  II.  1  u.  III.  8;  Piaton,  Phaed.  p.59c;  Aristoteles,  Rhet. 
II.  23,  p.  1398  b  29. 


SOKRATES  II 


111 


überliefert  wird1:  „Ich  wäre  lieber  verrückt,  als  daß  ich  Lust 
empfände",  Sokrates  in  dem  Maße  als  ethisches  Vorbild  an- 
erkennen und  verehren  können,  wie  er  das  getan  hat2. 

Es  bleibt  also  notwendig  dabei:  das  „Wissen"  des  Sokrates 
war  ein  formales  Wissen,  dem  jeder  bestimmte  Inhalt  fehlte.  Und 
dies  allein  konnte  es  auch  sein,  weil  es  eben  kein  besessenes, 
sondern  ein  bloß  postuliertes  Wissen  war.  Eben  deshalb  aber 
hatte  es  auch  die  Fähigkeit,  sich  mit  dem  verschiedensten  In- 
halte zu  erfüllen.  Und  diese  Erfüllung  ist  die  Fortbildung  der 
sokratischen  Lehre  in  den  ethischen  Lehren  der  Sokratiker. 

In  dem  Anstoß  hierzu  erschöpft  sich  indes  die  Wirksamkeit 
des  Sokrates  keineswegs.  Mit  dem  Keim  einer  ethischen  Lehre 
hat  er  auf  seine  Jünger  das  unausgesprochene  Ideal  seiner  Per- 
sönlichkeit, die  Idee  der  inneren  Freiheit  verpflanzt.  Von  dem 
unbedeutenden,  in  die  triviale  Ethik  des  Maßes  zurückfallenden 
Xenophon  abgesehen,  tritt  es  bei  allen  Sokratikern  unverkenn- 
bar hervor.  Piaton,  Aristipp  und  Antisthenes  errichten 
ethische  Lehrgebäude,  die  alle  drei  in  dem  Ideal  der  inneren 
Freiheit,  in  der  Forderung  unbedingter  Erhabenheit  über  alles 
Äußere,  in  der  Lehre  von  der  Selbsterlösung  gipfeln.  Und  eben 
diese  Übereinstimmung  der  Jüngerideale  ist  der  entscheidende 
Beweis  dafür,  daß  der  Meister  dasselbe,  wo  nicht  ausgesprochen, 
so  um  so  mehr  verkörpert  haben  muß:  sie  drückt  das  Siegel  auf 
unsere  Auffassung  des  geschichtlichen  Sokrates.  Wie  die  so- 
matische Lehre,  so  entfaltet  sich  auch  das  der  sokratischen  Per- 
sönlichkeit immanente  Ideal  in  der  Ethik  der  sokratischen 
Schulen. 


1)  Diog.  Laert.  VI.  3.  2)  Vgl.  Diog.  Laert.  VI.  11. 


DIE  KYNIKER 


SECHSTE  VORLESUNG 

Geehrte  Zuhörerl 

N  den  letzten  Vorlesungen  haben  wir  uns  mit 
dem  Ausgangspunkte  der  philosophischen 
Ethik  der  Griechen  bekannt  gemacht:  mit 
der  Persönlichkeit  und  Lehre  des  Sokrates. 
Wir  gehen  nun  daran,  ihre  Fortbildungen 
kennen  zu  lernen,  wie  sie  bedingt  sind 
einerseits  durch  das  in  jener  Persönlichkeit 
verkörperte  Ideal  der  inneren  Freiheit  und  das  dieser  Lehre  zu- 
grunde liegende  Postulat  des  Tugendwissens,  andererseits  durch 
das  individuelle  Temperament  und  die  theoretischen  Voraus- 
setzungen ihrer  Hauptvertreter.  Von  den  philosophischen  Rich- 
tungen, die  auf  diese  Weise  entstehen,  und  die  man,  je  nach  dem 
Vorwiegen  des  religiösen  oder  des  philosophischen  Interesses, 
als  Sekten  oder  als  Schulen  bezeichnen  kann  (das  Griechische 
kennt  für  beides  nur  ein  Wort1),  fassen  wir  zunächst  die  ky- 
nische  ins  Auge. 

Ihr  Begründer  ist  Antisthenes,  des  Sokrates  unmittelbarer 
Jünger;  ihr  bekanntester  Vertreter  dessen  Schüler  Diogenes 
vonSinope;  in  mancher  Beziehung  wichtig  wiederum  des  Dio- 
genes bedeutendster  Nachfolger  Krates.  Die  Folge  dieser 
Namen  ist  zugleich  charakteristisch  für  die  äußere  Entwicklung 
des  Kynismus.  Die  kynische  Lehre  von  der  Mühe,  Bedürfnis- 
losigkeit und  Entbehrung  als  dem  einzigen  Wege  zu  Tugend  und 
Glück  scheint  Antisthenes  nur  theoretisch  vorgetragen  zu 
haben2,  wenn  er  auch,  seiner  Armut  entsprechend,  in  den  dürf- 

!)  aipeaiq.  2)  Diog.  Laert.  VI.  2. 


DIE  KYNIKER 


113 


tigsten  Verhältnissen  gelebt  hat.  Ob  schon  er,  oder  erst  Dio- 
genes, die  typische  Kynikertracht  (Mantel,  Ranzen  und  Stab1) 
angenommen  hat,  ist  zweifelhaft2,  sicher  dagegen  scheint  es,  daß 
dieser  letztere  zuerst  sein  Leben  durch  Betteln  gefristet  hat.  Bei 
Krates  endlich  erscheint  das  Bettlerleben,  das  bei  jenem  sich 
noch  von  selbst  aus  seiner  Mittellosigkeit  ergeben  hatte,  als 
Gegenstand  freier  Wahl;  denn  es  ist  überliefert3,  er  sei  ur- 
sprünglich ein  reicher  Mann  gewesen  und  habe  seines  Ver- 
mögens freiwillig  sich  entäußert.  Damit  stellt  sich  der  kynische 

|  Philosoph,  als  eigentlicher  Bettelmönch,  gleichberechtigt  neben 

I  die  beiden  anderen  weltgeschichtlichen  Hauptformen  dieser  Er- 
scheinung: neben  den  buddhistischen  Bhikschu  und  den  Frate 

:  minore  des  Hlg.  Franciscus  von  Assisi.  Auch  die  buddhisti- 
schen Nonnen  und  der  von  der  Hlg.  Clara  gestiftete  zweite 

:  Orden  des  Hlg.  Franz  finden  in  Hipparchia,  der  Gattin  und 
Bettelgenossin  des  Krates,  ihr  Gegenbild.  Auf  diese  Ver- 

!  wandtschaft  gleich  anfangs  hinzuweisen,  schien  mir  in  mancher 

;  Beziehung  vorteilhaft;  die  Besonderheiten,  nicht  nur  der  Lehre, 

I  sondern  auch  der  Grundstimmung  werden  sich  im  folgenden 

I  von  selbst  herausstellen. 

Wie  sich  schon  aus  dem  Gesagten  ergibt,  nehmen  auch  hier, 
wie  bei  Sokrates,  neben  den  Lehren  die  Persönlichkeiten  ein 
besonderes  Interesse  in  Anspruch;  daß  man  jene  nur  aus  diesen 
recht  verstehen  kann  —  dieses  Zusammenstimmen  von  Denken 
und  Leben  ist  ja  ein  Hauptreiz  so  vieler  griechischer  Philo- 
sophen. Aber  auch  hier  haben  wir  mit  einigen  äußeren  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen.  In  bezug  auf  Antisthenes  empfinden  wir 
schmerzlich  die  Dürftigkeit  persönlicher  Nachrichten.  Immerhin 
läßt  sich  vermuten,  wenn  diekynischeLehre  überhaupteinen  fort- 

:  währenden  siegreichen  Kampf  gegen  die  eigenen  Naturinstinkte 
fordert,  so  habe  bei  ihrem  Urheber  das  Moment  des  Kampfes 

!  mehr  im  Vordergrund  gestanden  als  das  des  Sieges:  seine  inner- 
lich zwiespältigeNatur  habe  nach  jenerSelbstüberwindung  mehr 
sich  gesehnt  und  gerungen,  als  sie  stetig  erkämpft  und  voll- 

*)  xpi'ßwv,  inipa  und  ßdicrpov.  2)  Diog.  Laert.  VI.  13  u.  22.  3)  Diog.  Laert.  VI.87. 

Gomperz,  Lebensauffassung  g 


114 


SECHSTE  VORLESUNG 


zogen;  und  es  hätten  darum  Bitterkeit  und  Pathos  wesentliche 
Elemente  seiner  Lebensstimmung  ausgemacht.  Ganz  anders  bei 
Krates  und  vor  allem  bei  Diogenes.  Bei  ihm  erscheint  die- 
selbe Lehre  als  der  Ausfluß  einer  geschlossenen  Individualität, 
die,  des  Sieges  gewohnt  und  bewußt,  in  jenem  Selbstkampf  ihr 
eigentümliches  Leben  auswirkt,  und  darum,  von  unerschütter- 
licher Ruhe  und  Zuversicht  getragen,  eine  hinreißende  Fröhlich- 
keit und  einen  sprudelnden  Übermut  entwickelt.  Er  ist  deshalb 
f  die  rechte  Inkarnation  des  kynischen  Ideals.  Und  unsere  Kennt- 
nis seiner  Person  leidet  weniger  unter  dem  Mangel  als  unter 
dem  Überfluß  an  Berichten.  Denn  diese  bestehen,  von  verein- 
zelten Zitaten  abgesehen,  hauptsächlich  in  einer  Fülle  jener 
Anekdoten,  in  deren  Hervorbringung  das  Altertum  ebenso  un- 
erschöpflich wie  unbedenklich  war,  und  die  uns  zumeist  in 
späten  Sammlungen,  speziell  für  die  älteren  Philosophen  in  der 
Kompilation  des  Diogenes  Laertios  erhalten  sind.  Von 
diesen  Geschichtchen  nun  kann  kaum  eine  einzige  als  absolut 
authentisch  gelten.  Dennoch  darf,  wie  ich  glaube,  an  dergeschicht- 
lichen  Treue  des  Bildes,  das  sie  in  ihrer  Totalität  uns  zeigen, 
nicht  gezweifelt  werden:  so  lebensvoll  und  charakteristisch  ist 
es.  Denn  in  sich  vollendete  Gestalten  bringt  nur  entweder  die 
Natur  oder  aber  die  Phantasie  eines  großen  Dichters  hervor. 
Der  zweite  Fall  aber  ist  hier  ausgeschlossen.  Sollten  also  sogar 
(was  durchaus  unglaublich  ist)  alle  einzelnen  Züge,  aus  denen  1 
sich  für  uns  das  Bild  des  Diogenes  zusammensetzt,  erfunden 
oder  von  anderen  auf  ihn  übertragen  sein,  so  müßten  wir  den- 
noch dieses  Gesamtbild  selbst  für  historisch  zutreffend  halten, 
und  annehmen,  daß  die  einzelnen  ungeschichtlichen  an  die 
Stelle  analoger,  originaler  Details  getreten  sind  —  ähnlich  wie 
ein  Schiff  seiner  Form  nach  dasselbe  bleiben  kann,  wenn  auch 
im  Laufe  der  Zeit  all  seine  einzelnen,  stofflichen  Bestandteile 
durch  andere  ersetzt  worden  wären.  Diese  Betrachtungsweise 
(die  wir  auch  auf  den  Charakter  des  Ar i stipp  werden  an-  I 
wenden  müssen)  ermöglicht  uns,  von  den  Kynikern  eine  einiger- 
maßen lebensvolle  Anschauung  zu  gewinnen  und  ihre  Lebens- 


DIE  KYNIKER 


115 


auffassung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  innen  heraus  zu 
verstehen. 

Um  nun  zu  diesem  Verständnis  zu  gelangen,  wird  es,  glaube 
ich,  am  besten  sein,  wenn  Sie  sich  einen  Menschen  denken,  der 
zwar  das  sokratische  Ideal  der  inneren  Freiheit  als  das  seine 
anerkennt,  in  sich  aber  nicht  jene  Loslösung  von  aller  subjek- 
tiven Stellungnahme  vorfindet,  die  das  Eigentümliche  der  soma- 
tischen Persönlichkeit  ausmacht,  sich  vielmehr  durch  sein 
„Haften"  an  den  Dingen  an  der  Erreichung  jenes  Ideals,  an  der 
Erhabenheit  über  alles  Äußere,  an  der  Wunschbejahung  jeder 
Lebenslage  verhindert  fühlt.  Ein  solcher  Mensch  wird  zwar 
ebenfalls  davon  überzeugt  sein,  daß  der  ideale,  also  der  „gute" 
Mann  des  Glückes  völlig  gewiß  sei,  daß  es  für  ihn  kein  Obel 
geben  könne,  ja  er  wird  sogar  diesen  Satz,  der  für  ihn  nicht  die 
Beschreibung  seines  ihm  geläufigen  und  darum  uninteressanten 
Zustandes,  sondern  die  eines  ersehnten  Zieles  darstellt,  allererst 
mit  Entschiedenheit  aussprechen;  aber  er  wird  hinzufügen 
müssen,  daß  diese  richtige  Seelenverfassung,  diese  „Tugend", 
nicht  schon  durch  eine  bloß  theoretische  Einsicht  verbürgt  wird, 
daß  sie  vielmehr  innerlich  erkämpft  werden  muß  und  den  Sieges- 
preis dieses  Kampfes  ausmacht.  In  dieser  Lage  befindet  sich  der 
Kyniker.  Hinsichtlich  der  näheren  Bestimmung  dieses  Kampfes 
ergaben  sich  aber  für  ihn  zwei  sehr  verschiedene  Denkmotive. 
Einerseits  mußte  er,  der  Natur  der  Sache  entsprechend,  fest- 
stellen, daß  zur  Überwindung  jener  triebhaften  subjektiven  In- 
stinkte, welche  sein  „Haften"  an  den  Dingen  bedingten,  deren 
Ausrottung  erfordert  wird;  und  diese  Umbildung  des  Willens, 
diese  Aneignung  der  „sokratischen  Kraft"1  faßten  die  Kyniker 
auf  als  „Bildung"  oder  „Erziehung"2,  als  „Übung"3,  als  „Mühe" 
oder  „Arbeit"4.  Andererseits  aber  standen  sie  viel  zu  sehr  im 
Banne  des  allgemein  griechischen  und  des  speziell  sokratischen 
Intellektualismus,  um  nicht  diesen  selben  Erlösungsprozeß  auch 
wieder  als  das  Gewinnen  einer  befreienden  „Einsicht"5  ver- 

l)  Antisthenes  (Diog.  Laert.  VI.  11).  2)  TTcuöefa.  3)  "AöKriai<;.  4)  TTövo^. 
5)  Q>p6vr]Gi<;. 

8* 


116 


SECHSTE  VORLESUNG 


stehen  zu  wollen.  Diese  Einsicht  aber  konnte  nicht  mehr  ein- 
fach das  formale  Wissen  des  Sokrates  sein,  das  ganz  außer 
aller  Beziehung  zu  den  Aufgaben  des  ethischen  Kampfes  stand, 
sondern  es  mußte  nun  einen  ganz  bestimmten  Inhalt  bekommen. 
Die  zu  lösende  Aufgabe  war  ein  Umwollen:  es  sollte  nicht  mehr 
das  Eine  (die  genußreiche  Befriedigung  der  Begierden),  sondern 
nur  mehr  das  Andere  (die  Tugend)  erstrebt  werden.  Dieser 
Vorgang,  ins  Theoretische  übertragen,  ergibt  die  Forderung,  es 
solle  der  Unwert  des  Einen  und  der  Wert  des  Anderen  einge- 
sehen werden.  Für  diese  Begriffe  nun  fanden  die  Kyniker  auf 
der  einen  Seite  den  Ausdruck,  der  Mensch  müsse  das,  was  seinen 
inneren  Wert  begründe,  als  ihm  zugehörig  und  notwendig,  kurz 
als  wesentlich  *,  das  was  jenen  Wert  nicht  berühre,  als  ihm  fremd 
und  zufällig,  kurz  als  unwesentlich2  erkennen3.  Auf  der  anderen 
Seite  aber  knüpften  sie  an  den  aus  der  sophistischen  Zeit  stam- 
menden, neulich  besprochenen  Gegensatz  von  Natürlich  und 
Konventionell  an:  sie  postulierten  den  ausschließlichen  Wert 
des  Natürlichen,  und  erklärten  alles  andere  für  bloße  Kon- 
vention und  Illusion,  oder,  wie  der  Kyniker  sagt,  für  „Ein- 
bildung" (wenn  wir  seinen  schwer  übersetzbaren  Kunstaus- 
druck4, der  einerseits  einen  ungreifbaren,  nichtigen  Dunst,  an- 
dererseits ein  aufgeblasenes,  hohles  Wesen  bedeutet,  durch 
dieses  Wort  unzulänglich  genug  wiedergeben  dürfen).  Insoweit 
nun  der  Kyniker  imstande  war,  diese  „Einbildung"  zu  über- 
winden, ergab  sich  für  ihn  eine  höchst  eigentümliche  Lebens- 
ansicht. In  dem  Bestreben,  alle  gefühlsmäßigen  Beziehungen 
zu  den  Dingen  abzustreifen,  mußte  er  sich  allein  an  den  nackten 
Tatbestand  halten,  und  alle  Werte,  die  wir  auf  Grund  unserer 
Empfindungen  in  sie  hineinverlegen,  alles,  was  wir  Pietät  und 
Sentiment  nennen,  negieren.  Daher  kommt,  wie  Sie  sehen 
werden,  eine  ganz  besondere  Art  von  Witz;  daher  eine  hoch- 
gemute, auf  das  Gefühl  der  inneren  Freiheit  von  all  diesen  Ein- 
bildungen und  der  in  sich  beruhigten  Sicherheit  gegründete 

!)  OiKeiov.  2)  'AWoxpiov.  3)  Beide  Termini  auch  bei  Piaton,  Conviv.  p.  205e, 
also  wohl  echt  sokratisch.  4)  TOqpo«;. 


DIE  KYNIKER 


117 


Freudigkeit;  eben  daher  aber  auch  jener  Gegensatz  gegen  unsere 
angestammten  Gefühlsweisen,  dem  der  Name  „Cynismus«  mit 
einem  gewissen  Rechte  geblieben  ist.  So  klar  aber  dieser  Be- 
griff des  Eingebildeten  ist,  der  des  Natürlichen  ist  nicht  ganz 
frei  von  Mehrdeutigkeit.  Denn  wenn  die  Kyniker  auf  der  einen 
Seite  nur  die  Tugend  als  wertvoll  gelten  lassen  wollen,  nur  das 
Sittliche  gut  und  das  Schimpfliche  schlecht  nennen,  alles  andere 
aber  als  „indifferent"1  bezeichnen,  so  hat  es  auf  der  anderen 
doch  wiederum  den  Anschein,  als  würden  sie  auch  jenes  Mini- 
mum von  Bedürfnissen  für  natürlich  erklären,  das  jedermann 
allezeit  befriedigen  kann,  und  das  deshalb  dem  äußeren  Schicksal 
entrückt  ist  und  der  inneren  Freiheit  nicht  im  Wege  steht.  Und 
damit  hängt  zusammen,  daß  sie  auch  das  jenem  Minimum  ent- 
sprechende Verhalten  als  ein  „natürliches"  für  ethisch  wertvoll 
erklärt  und  so  einen  Grundstock  positiver  moralischer  Normen 
anerkannt  zu  haben  scheinen,  wenn  auch  freilich  dieser  Ge- 
sichtspunkt in  ihrer  Praxis  wie  in  ihrer  Theorie  recht  wenig 
hervortritt.  Wir  werden  später  sehen,  daß  an  diese  beiden 
Punkte  die  Stoa  angeknüpft  und  sich  dadurch  in  die  größten 
Schwierigkeiten  verstrickt  hat.  Auf  diese  Gelegenheit  versparen 
wir  daher  auch  die  sachliche  Würdigung  dieses  Problems.  Der 
Grundgedanke  des  Kynismus  aber  bleibt  die  Herstellung  der 
inneren  Freiheit,  das  heißt  der  Unabhängigkeit  vom  Schicksal, 
durch  die  theoretische  Einsicht  in  den  Unterschied  der  natür- 
lichen, unverlierbaren  und  der  bloß  eingebildeten,  haltlosen 
Werte,  und  durch  die  praktische  Übung  in  der  Entbehrung.  Ich 
stelle  im  folgenden  einige  Nachrichten  zusammen,  die  sowohl 
dieses  systematische  Gerippe  mit  Fleisch  und  Blut  umkleiden, 
als  auch  Ihnen  das  Wesen  des  Kynikers  anschaulich  machen 
sollen. 

Da  es  sich  hierbei  vornehmlich  um  Äußerungen  des  Dio- 
genes handeln  wird,  so  möchte  ich  Ihnen  gleich  vorweg  drei 
Anekdoten  mitteilen,  aus  denen  Sie  den  Witz  und  Geist  des 
Mannes  kennen  lernen  können,  ohne  daß  sie  mit  seiner  ethischen 

*)  'Aöictcpopov. 


118 


SECHSTE  VORLESUNG 


Lehre  in  näherem  Zusammenhange  stünden.  „Als  sich  jemand," 
erzählt  Diogenes  Laertios1,  „darüber  wunderte,  daß  in 
Samothrake  so  viele  Weihgeschenke  (von  solchen)  aufgestellt 
seien  (die  infolge  ihres  Gelübdes  gerettet  wurden),  meinte  er:  es 
wären  noch  viel  mehr,  wenn  auch  die  nicht  Geretteten  welche 
aufgestellt  hätten."  „Auf  die  Frage,"  wird  weiter  berichtet2, 
„warum  die  Leute  den  (gewöhnlichen)  Bettlern  etwas  schenkten, 
den  Philosophen  aber  nicht,  antwortete  er:  weil  sie  zwar  darauf 
gefaßt  sind,  lahm  und  blind,  nicht  aber  darauf,  Philosophen  zu 
werden."  „Einst  führte  ihn,"  hören  wir  endlich3,  „einer  in  ein 
luxuriös  eingerichtetes  Haus  und  ersuchte  ihn,  nichtzu  spucken. 
Als  er  sich  nun  räusperte,  spuckte  er  dem  anderen  ins  Ge- 
sicht, und  meinte,  einen  schlichteren  Fleck  habe  er  nicht  ge- 
funden." 

Dieser  sprühende  Witz  ist  aber  durch  die  ganze  Art  des  Ky- 
nikers  bedingt.  Er  ist  der  Ausfluß,  sowohl  des  Gefühles  der 
Überlegenheit,  das  ihm  das  Durchschauen  der  „Einbildung"  ge- 
währt, wie  auch  der  Empfindung  der  Freudigkeit,  die  er  dem  Be- 
wußtsein der  inneren  Freiheit  verdankt. 

Für  dieses  letztere  haben  wirZeugnisse  dieMenge.  Abgesehen 
davon,  daß  es  wohl  zunächst  die  Kyniker  sind,  die  Aristoteles 
im  Auge  hat,  wo  er4  gegen  jene  polemisiert,  die  den  guten  Men- 
schen für  glücklich  erklären,  auch  wenn  er  gefoltert  würde  oder 
anderen  großen  Schicksalsschlägen  anheimfiele,  wirdunsz.B.  von 
Antisthenes  der  Satz  überliefert5:  die  Tugend  sei  hinreichend 
zur  Glückseligkeit,  und  der  andere6:  vollkommen  werde  man, 
wenn  man  einsehe,  daß  man  den  Übeln  entfliehen  könne.  Aber 
auch  Diogenes  sagt  uns7:  wenn  nichts  anderes,  so  habe  er  doch 
dieses  der  Philosophie  zu  danken,  daß  er  gegen  jedes  Schicksal 
gewappnet  sei.  Es  blicke  ihn  an8  und  spreche  den  homerischen 
Vers:  „Diesen  wütenden  Hund  vermag  ich  nimmer  zu  treffen." 
Reichtum9,  Ruhm,  Lust,  Leben  müsse  man  verachten,  über  ihr 

i)  VI.  59.  2)  Diog.  Laert.  VI.  56.  3)  Diog.  Laert.  VI.  32.  4)  Eth.  Nie.  VII.  14, 
p.  1153b  19.  5)  Diog.  Laert.  VI.  11.  6)  Diog.  Laert.  VI.8.  7)  Diog.  Laert.  VI.63. 
8)  Stob.  Ekl.  II.  p.  348  (Meineke).  9)  Stob.  Floril.  86.  19  (Meineke). 


DIE  KYNIKER 


119 


Gegenteil  aber,  über  Armut,  Schande,  Schmerz  und  Tod  erhaben 
sein.  Dieser  letztere  ist1  kein  Übel,  denn  er  ist  nichts  Schimpf- 
liches. „Der  Besitz2  gehört  nicht  zu  mir;  Verwandte,  Hausge- 
nossen, Freunde,  Ruhm,  vertraute  Orte,  Lebensweise  —  all  das 
ist  unwesentlich."  „So  wird  man  frei."  Darum  sagt  er3:  „Seit 
mich  Antisthenes  befreit,  habe  ich  nicht  wieder  gedient." 
Dieser  „Freiheit  zieht  er  nichts  vor".4  Ja,  er  fühlt  sich  nicht 
nur  als  frei,  sondern  auch  als  Befreier.  Den  Herakles,  läßt 
ihn  Lukian5  sagen,  ahme  er  nach;  statt  des  Löwenfelles  trage 
er  den  Mantel,  statt  der  Keule  den  Stab;  aber  wie  jener  (nach 
kynischer  Deutung)  ziehe  er  zu  Felde  gegen  die  Lüste,  ent- 
schlossen, das  Leben  zu  reinigen:  „Ein  Befreier  bin  ich  der 
Menschen,  und  ein  Arzt  der  Leidenschaften."  Und  bei  Krates 
lesen  wir6:  Als  Kyniker  „wirst  du  leicht  das  Beutelchen  öffnen 
und  mit  deiner  Hand  etwas  herausnehmen  und  geben  können, 
und  nicht,  so  wie  jetzt,  dich  winden  und  zaudern  und  zittern, 
als  ob  deine  Hand  schlagrührig  wäre.  Aber  (ferner):  wenn's 
voll  ist,  so  wirst  du's  gleichmütig  sehen,  und  wenn's  leer  ist, 
dich  nicht  betrüben,  und  wenn  du's  gebrauchen  willst,  wirst  du's 
leicht  können,  und  wenn  du's  nicht  hast,  dich  nicht  danach 
sehnen,  sondern  leben,  zufrieden  mit  dem,  was  da  ist,  kein  Ver- 
langen tragen  nach  dem,  was  nicht  da  ist,  und  an  dem,  was  dir 
begegnet,  dich  nicht  ärgern." 

Aus  diesem  Bewußtsein  der  Erlösung  vom  Obel  aber  ent- 
springt, wie  Sie  schon  bemerken,  eine  herzerwärmende  Freudig- 
keit. Derselbe  Krates,  von  dem  ich  eben  sprach,  hat7  in  lusti- 
gen, Homer  parodierenden  Versen  die  Stadt  „Ranzen"  ge- 
priesen, als  Insel  im  Meere  der  „Einbildung",  auf  die  sich  kein 
Schmarotzer  und  kein  Weichling  verirren  könne,  die  Brot, 
Feigen,  Zwiebel  und  Knoblauch  in  Fülle  hervorbringe  und  wo 
es  keinen  Kampf  gibt  um  Geld  oder  um  Ruhm.  Und  von  eben 
demselben  sagt  uns  Plutarch8,  er  habe  „mit  seinem  Bettelsack 

i)  Epiktet,  Diss.  I.  24.  6.  2)  Epiktet,  Diss.  III.  24.  68.  3)  Epiktet,  Diss.  III. 
24.  67.  4)  Diog.  Laert.  VI.  71.  5)  Vit.  auct.  8,  p.  548.  6)  Teles  S.  28  (Hense). 
7)  Diog.  Laert.  VI.  85.  8)  De  tranquill,  anim.  4,  p.  466 e. 


120 


SECHSTE  VORLESUNG 


und  seinem  Mantel  unter  Scherzen  und  Lachen  sein  Leben  wie 
ein  Fest  verbracht".  Der  Kyniker  Metrokies  soll  sich1,  der 
im  Winter  in  den  Schafhürden,  im  Sommer  in  den  Tempel- 
hallen schlafe,  für  glücklicher  erklärt  haben  als  den  persischen 
Großkönig  mit  seiner  babylonischen  Winter-  und  seiner  medi- 
schen  Sommerresidenz.  Und  die  anekdotische  Illustration  hierzu 
liefern  die  bekannten  Geschichten  von  Diogenes  und  Alexan- 
der: als  dieser  auf  jenen  zutrat  und  ihm  sagte:  ich  bin  Alexan- 
der, der  große  König,  soll  er2  erwidert  haben:  und  ich  bin 
I  Diogenes,  der  Kyniker.  Und  der  Aufforderung,  sich  etwas 
auszubitten,  habe  er3  mit  den  Worten  entsprochen:  geh'  mir  aus 
dem  Licht!  Von  Diogenes  sind  uns  aber  auch  ausdrücklich  die 
beiden  Definitionen  bezeugt4:  „Glück  ist  allein  die  wahre  Fröh- 
lichkeit und  (der  Zustand,  in  dem)  man  sich  niemals  betrübt,  in 
welchem  Orte  und  in  welchen  Umständen  man  sich  auch  be- 
finde", und:  „Nur  das  erkläre  ich  für  das  wahre  Glück,  wenn 
Einer  seiner  Vernunft  und  Seele  stets  Ruhe  und  Heiterkeit  be- 
wahrt." Dabei  betone  ich:  einen  Widerspruch  mit  der  kynischen 
Verachtung  der  Lust  darf  man  in  solchen  Äußerungen  nicht  er- 
blicken wollen.  Die  „Lust",  welche  der  Kyniker  bekämpft,  ist 
die  durch  die  Vorstellung  äußerer  Dinge  bewirkte  Gemüts- 
erregung, die  uns  von  eben  diesen  Dingen  abhängig  macht.  Die 
„Fröhlichkeit",  die  er  zuläßt,  ist  das  Lustgefühl,  das  aus  dem 
Bewußtsein  der  Unabhängigkeit  von  diesen  selben  Dingen,  also 
aus  dem  Gefühle  der  eigenen  Kraft  entspringt.  Wir  werden 
später  sehen,  daß  auf  dieser  Unterscheidung  eine  ganze  Rich- 
tung des  antiken  Hedonismus  beruht,  und  daß  sie  der  stoischen 
Affektenlehre  zugrunde  liegt.  In  diesem  Sinne  ist  es  zu  verstehen, 
wenn  Antisthenes  zwar  einerseits  die  Lust  für  ein  Übel  erklärt5, 
andererseits  aber  doch  die  „Lust  nach  der  Mühe"  für  erstrebens- 
wert6 und  die  „nicht  hinterher  bereute  Lust"  für  ein  Gut7  hält. 

i)  Plutarch,  an  vit.  ad  inf.  3,  p.  499af.  2)  Diog.Laert.VI.60.  3)  Diog.Laert. 
VI.  38.  4)  Stob.  Floril.  103.  20—21  (Meineke).  5)  Diog.  Laert.  VI.  I;  IX.  101 ; 
Gellius,  N.  A.  IX.  5.  3;  Euseb.  praep.  Ev.  XV.  13.  7.  6)  Stob.  Floril.  29.  65 
Meineke).  7)  Athenaeus  XII.  p.  513a. 


DIE  KYNIKER 


121 


Um  nun  aber  zu  diesem  Zustande  der  Freiheit  und  Freudig- 
keit zu  gelangen,  ist,  wie  eben  ausgeführt,  jene  radikale  Ände- 
rung der  Gefühls-  und  Begehrungsweise  erforderlich,  die  wir 
mit  einem  neueren  Ausdrucke  die  „Umwertung  aller  Werte"  zu 
nennen  pflegen.  Aber  auch  dieser  Ausdruck  selbst  ist  —  kynisch ! 
Denn  in  seinem  „Panther"  hat  Diogenes  von  sich  gesagt1,  er 
habe  „die  Werte  umgeprägt",  woraus  dann  wohl  die  Legende  ent- 
standen ist,  er  habe,  ein  also  lautendes  Orakel  mißverstehend, 
Falschmünzerei  getrieben.  In  anderer,  mehr  populärer  Form 
wird  ihm  derselbe  Gedanke  beigelegt,  wenn  man  ihm  die 
Äußerung  zuschreibt2,  das  Wertlose  halte  man  für  wertvoll,  das 
Wertvolle  für  wertlos;  denn  für  eine  Statue  bezahle  man  3000, 
für  eine  Portion  Mehl  aber  nur  2  (Münzeinheiten).  Und  förm- 
lich programmatisch  zugespitzt  klingt  der  Ausspruch3:  „Dem 
Schicksal  setze  ich  den  Mut  entgegen,  der  Konvention  die  Natur, 
der  Leidenschaft  die  Vernunft." 

Diese  radikale  Umwertung  nun  kann  praktisch  nur  durch  die 
„Übung"  vollzogen  werden.  Denn  sowie4  das  Leben  im  Genuß 
die  Entbehrung  schmerzlich  empfinden  läßt,  so  macht  die 
Übung  in  der  Entbehrung  die  Verachtung  des  Genusses  leicht. 
„Schlechterdings  nichts  im  Leben  kann  ohne  Übung  recht  ge- 
macht werden,  sie  aber  ist  imstande,  alles  zu  besiegen."  So  ist 
denn  das  ganze  Leben  des  Kynikers  „Übung".  Indem  er  es 
freiwillig  mit  Entbehrung  und  Mühe  erfüllt,  reißt  er  sich  seine 
Neigung  zu  Bequemlichkeit,  Wohlleben  und  Genuß,  die  ihn 
zum  „Sklaven"  der  Verhältnisse  machen  würde,  gewaltsam  aus 
dem  Herzen,  und  Herakles,  der  vielgeplagte  Heros,  wird  sein 
Schutzheiliger,  —  der  Patron  der  „Mühe".  Darum  ist  der 
Mantel  sein  einziges  Kleid,  das  Betteln  sein  einziges  Gewerbe, 
die  öffentlichen  Plätze  und  Hallen  seine  einzige  Lagerstätte, 
Bohnen,  Zwiebeln  und  Knoblauch  seine  einzige  Nahrung,  Was- 
ser sein  einziges  Getränk.  Und  diese  äußerste  Bedürfnislosig- 
keit gelw  stellenweise  geradezu  in  dasjenige  über,  was  wir  mit 

*)  Diog.  Laert.  VI.  20.  2)  Diog.  Laert.  VI.  35.  3)  Diog.  Laert.  VI.38.  *)  Diog. 
Laert.  VI.  71. 


122 


SECHSTE  VORLESUNG 


seinem  Worte  Askese  nennen.  Diogenes  soll1  im  Sommer 
sich  in  durchglühtem  Sande  gewälzt,  und  im  Winter  verschneite 
Statuen  umarmt  haben.  Und  von  Krates  wird  erzählt2,  er  habe 
absichtlich  mit  öffentlichen  Dirnen  Streit  gesucht,  um  sich  im 
Ertragen  der  gemeinsten  Schimpfreden  zu  üben. 

Mit  dieser  Pflege  der  „Übung"  aber  geht  der  Kultus  der  „Ver- 
nunft" Hand  in  Hand.  Sie  soll  dieselbe  Umwertung  theoretisch 
begründen,  die  jene  praktisch  verwirklicht.  „Die  Einsicht,  sagt 
Antisthenes3,  ist  die  sicherste  Schutzmauer:  sie  kann  nicht 
einstürzen,  und  nicht  durch  Verrat  verloren  gehen."  Ebenso 
Diogenes4:  „Nur  durch  Unvernunft  ist  man  unglücklich."  Und 
mit  einem  Wortspiel,  das  nur  annäherungsweise  wiederzugeben 
ist,  sagt  er5,  man  müsse  sich  entweder  auskennen  oder  auf- 
hängen. 

Die  Leistung  der  Vernunft  aber  besteht  darin,  das  wahre 
Wesen  der  Dinge  von  dem  trügerischen  Scheine  der  Illusion, 
der  „Einbildung"  zu  scheiden.  Darum  erklärte  Antisthenes6 
die  Illusionslosigkeit7  für  den  letzten  Zweck,  und  rühmte  Me- 
nander  von  Monimos8,  dieser  habe  ein  Wort  gesprochen, 
das  dem  Delphischen  „Erkenne  dich  selbst!"  nichts  nachgebe: 

„Einbildung",  sprach  er,  „sei  jedwede  Wertung  nur." 

Die  Menschen  sind  sovollerEinbildung,daß  sie  auchzwischen 
geistiger  Krankheit  und  Gesundheit  nur  eine  konventionelle 
Grenze  ziehen.  Denn,  meintDiogenes9,  wenn  Einer  denZeige- 
finger  ausstreckt,  so  findet  man's  ganz  in  der  Ordnung;  streckte 
er  aber  statt  dessen  den  Mittelfinger  aus,  so  würde  man  ihn  für 
f  verrückt  halten.  Nur  „um  eines  Fingers  Breite"  seien  also  die 
Menschen  vom  Wahnsinn  entfernt.  „Einbildung"  ist  es  insbe- 
sondere, wenn  man  meint,  zwei  gleiche  Dinge  oder  Vorgänge 
würden  verschieden,  weil  sie  durch  einen  besonderen  Ort  oder 
eine  besondere  Zeit  oder  sonst  einen  nebensächlichen  Umstand 

i)  Diog.  Laert.  VI.  23.  2)  Diog.  Laert.  VI.  90.  3)  Diog.  Laert.  VI.  13.  4)  Diog. 
Laert.  VI.  71.  5)  Diog.  Laert/VI.  24.  6)  Clem.  Alex.  Strom.  II.  130,  p.  498. 
7)  'A-rucpfa.  8)  Diog.  Laert.  VI.  83.  9)  Diog.  Laert.  VI.  35. 


DIE  KYNIKER 


123 


näher  bestimmt  sind.  Wer  kümmert  sich  darum,  wenn  Verrückte 
Lärm  machen?  Was  aber  ist  die  gute  Nachrede  anders1?  Ist 
es  nicht  gleich,  zu  welcher  Stunde  man  ißt?  Auf  die  Frage,  zu 
welcher  Zeit  man  frühstücken  solle,  erwidert  deshalb  Diogenes2: 
„Wenn  du  reich  bist,  wann  du  willst;  wenn  du  arm  bist,  wann 
du  kannst."  Was  soll  es  ausmachen,  ob  man  seine  Bedürfnisse 
an  diesem  oder  jenem  Orte  befriedigt?  „Er  pflegte  deshalb3 
alles  öffentlich  zu  tun,  auch  dasjenige,  was  der  Göttin  des 
Düngers  und  jener  der  Liebe  heilig  ist."  Und  wenn  er  auf  dem 
Markte  aß,  so  sagte  er  wohl:  wenn  das  Frühstücken  (an  sich) 
nicht  ungehörig  ist,  so  ist  es  auch  auf  dem  Markte  nicht  unge- 
hörig. Die  Menschen  sind  auch  so  toll4,  daß  sie  sich  zwar  gar 
nicht  scheuen,  das  wirklich  Schimpfliche,  wie  Mord,  Diebstahl 
und  andere  Verbrechen  beim  Namen  zu  nennen;  aber  das  Natür- 
liche und  Unvermeidliche,  was  die  Notdurft  des  Leibes  und  der 
Liebe  betrifft  —  gerade  davon  soll  man  nicht  öffentlich  reden. 
Zur  „Einbildung"  gehört  es  weiter,  wenn  man  sich  einredet,  es 
liege  etwas  daran,  wie  und  von  wem  der  eigene  Leib  bestattet 
werde.  So  wurde  Diogenes  einmal  gefragt5,  ob  er  einen  Diener 
oder  eine  Dienerin  habe?  Auf  seine  verneinende  Auskunft  nun 
fragte  der  Andere  voll  Mitgefühl:  „Wer  wird  dich  also  hinaus- 
tragen, wenn  du  tot  bist?"  Er  aber  gab  zur  Antwort:  „Der,  der 
in  meine  Wohnung  wird  einziehen  wollen."  Er  meinte  ferner6, 
es  wäre  gar  nichts  dabei,  Menschenfleisch  zu  essen:  es  seien  ja 
doch  nur  dieselben  Stoffe,  die  der  Betreffende  vorher  in  seiner 
Nahrung  zu  sich  genommen  habe.  Ist  es  also  nicht  „Einbildung", 
den  Stoff,  den  ich  als  Brot  ohne  weiteres  esse,  als  Menschen- 
fleisch nichtzu  essen?  Und  ebensowenig  wird  ein  Ding  dadurch 
heiliger,  daß  es  in  einem  Tempel  aufgestellt  wird. 

Diese  ganze  Betrachtungsweise  gilt  nun  auch  insbesondere 
für  die  geschlechtlichen  Beziehungen.  Diese  sind  zwar  an  und 
für  sich  etwas  Natürliches,  und  wir  haben  schon  gesehen,  daß 
Diogenes  deshalb  für  sie  die  Öffentlichkeit  nicht  scheute.  Eben- 

i)  Epiktet,  Diss.  1.24.6.  2)  Diog.Laert.  VI. 40.  3)  Diog.Laert.  VI.69.  *)  Cicero, 
de  off.  I.  35.  128.  5)  Diog.  Laert.  VI.  52.  6)  Diog.  Laert.  VI.  73. 


124 


SECHSTE  VORLESUNG 


so  wird  vonKrates  und  Hipparchia  berichtet1,  sie  hätten  ihre 
eheliche  Intimität  den  Blicken  der  Welt  nicht  entzogen;  und  in 
der  Tat  sieht  man  nicht,  wie  das  Paar,  wenn  es  ohne  Haus  im 
Freien  lebte,  dies  leicht  hätte  vermeiden  können.  Aber  sich  nun 
vorzustellen,  es  sei  etwas  Besonderes  um  den  Verkehr  mit  einer 
schönen  Frau,  oder  immer  mit  derselben,  oder  gar  mit  einer 
bestimmten  —  das  ist  „Einbildung"!  Die  Liebe  wird  deshalb 
hier  ausschließlich  unter  dem  Gesichtspunkte  derpathologischen 
Störung  betrachtet.  Eine  derartig  prononcierte  gefühlsmäßige 
Stellungnahme  kann  der  Kyniker  nicht  dulden,  und  die  Vernunft 
zeigt  ihm  ja  auch,  daß  in  bezug  auf  den  Geschlechtsverkehr  die 
Eine  nicht  tauglicher  ist  als  die  Andere.  Es  handelt  sich  also 
hier  um  eine  fixe  Idee,  die  unnachsichtlich  ausgerottet  werden 
muß.  Wenn  ich,  sagt  Antisthenes2,  der  Aphrodite  habhaft  wer- 
den könnte,  so  würde  ich  sie  erschießen.  Diogenes  nennt3  die 
Liebe  die  Beschäftigung  der  Müßigen.  Und  Krates  „dichtet"4: 

„Die  Liebe  heilt  der  Hunger,  und,  wenn  nicht,  die  Zeit. 
Kannst  diese  du  nicht  brauchen,  nun,  so  häng  dich  auf!" 

Aber  auch  die  Ehe  ist  Sache  der  bloßen  Konvention.  Diogenes 
proklamiert  deshalb  die  „freie  Liebe"  in  des  Wortes  weitester 
Bedeutung:  „Die  Weiber  müßten  gemeinsam  sein5;  die  Ehe  sei 
gar  nichts;  es  solle  der  Mann,  der  die  Frau  dazu  bringen  könne, 
mit  der  verkehren,  die  sich  dazu  bringen  lasse."  Einstweilen 
aber  rühmt  sich  Antisthenes6,  er  gehe  nur  mit  solchen  Wei- 
bern um,  die  allen  anderen  zu  schlecht  seien,  und  die  infolge- 
dessen mit  ihm  eine  Riesenfreude  hätten.  Diogenes  aber  fand, 
daß  der  Weise,  auch  wenn  ihm  kein  Weib  zur  Hand  sei,  sei- 
nen Trieb  befriedigen  könne7;  er  befolgte  dieses  Rezept  auf 
offenem  Markte  und  bedauerte  nur,  daß  er  sich  den  Hunger  nicht 
ebenso  leicht  vertreiben  könne8.  Dabei  ist  es  nicht  weniger 

i)  Diog.  Laert.  VI.  97;  Sext.  Emp.  Pyrrh.  I.  153;  Clem.  Alex.  Strom.  IV.  121, 
p.  619  usw.  usw.  2)  Clem.  Alex.  Strom.  II.  107,  p.  485.  3)  Diog.  Laert.  VI.  51. 
4)  Diog.  Laert.  VI.  86.  5)  Diog.  Laert.  VI.  72.  6)  Xenophon,  Conviv.  IV.  38; 
Diog.  Laert.  VI.  3.  ?)  Galen,  de  loc.  äff.  VI.  5.  8)  Diog.  Laert.  VI.  46;  Athe- 
naeus  IV,  p.  158  f. 


DIE  KYNIKER 


125 


charakteristisch  für  den  „Aufklärungs"-Eifer  unseres  Kynikers 
alsfürdieallezeitmythenbildendeKraftdeshellenischenDenkens, 
daß  er  diese  seine  Methode  für  eine  Erfindung  des  Hermes  aus- 
gab *,  und  bemerkte,  wenn  die  Menschen  sie  befolgt,  und  sich  nicht 
verblendeter  Weise  in  unnütze  Weibergeschichten  eingelassen 
hätten,  wäre  weder  Troja  gefallen  noch  P  r  i  a  m  o  s  getötet  worden. 

Ebenso  aber,  wie  die  einseitige  Wertschätzung  Eines  Menschen 
in  der  Liebe,  gehört  auch  die  einseitige  Wertschätzung  Eines 
Volkes  oder  Landes  im  Patriotismus  zur  „Einbildung".  Daß  ich 
an  einem  Orte  geboren  bin,  verleiht  diesem  doch  gar  keinen 
Vorzug  vor  allen  anderen  Orten!  Darum  antwortet  Diogenes2 
auf  die  Frage,  wo  er  her  sei  (zum  erstenmal  in  der  Welt- 
geschichte), er  sei  ein  „Weltbürger"3.  Und  Krates  jubelt  in 
schönen  und  feierlichen  Versen4: 

„Nicht  Eine  Vaterstadt,  Ein  Vaterhaus 
Nur  kenn'  ich:  wo  in  irgend  einem  Land 
Ein  Stadtort  und  ein  Haus  errichtet  ist, 
Stehen  sie  für  uns  bereit,  uns  aufzunehmen." 

Der  Kyniker  ist  aber  nicht  damit  zufrieden,  selbst  den  täu- 
schenden Schein  der  Illusion  zu  durchschauen,  und  sich  so  zur 
inneren  Freiheit  durchzuringen.  Er  will  auch  seine  Mitmenschen 
aufklären  und  befreien.  Sie  erinnern  sich  an  das  dem  Diogenes 
beigelegte  Wort,  er  sei  ein  Befreier  der  Menschen  und  ein  Arzt 
der  Leidenschaften.  Als  man  ihm  vorwarf,  daß  er  an  unreine 
Orte  gehe,  erwiderte  er5:  „Das  tut  auch  die  Sonne,  aber  sie  wird 
nicht  verunreinigt."  Und  scherzhaft  wird  ihm  die  Äußerung 
zugeschrieben6:  „Die  anderen  Hunde  tun  den  Feinden  weh;  ich 
aber  den  Freunden  —  um  sie  zu  retten."  Krates  aber  soll  es7 
soweit  getrieben  haben,  daß  er  in  fremde  Häuser  hineinging,  um 
die  ihm  unbekannten  Einwohner  „zurechtzuweisen"  und  in  sei- 
nem Sinne  zu  bessern  —  wovon  ihm  denn  der  Beiname  des 
„Türaufreißers"8  zuteil  geworden  ist. 

i)  Dio  Chrys.  or.  VI.  16ff.  2)  Diog.  Laert.  VI.  63.  3)  KoanoiroXm^.  4)  Diog. 
Laert.  VI.  98.  5)  Diog.  Laert.  VI.  63.  6)  Stob.  Floril.  13.  27  (Meineke).  7)  Diog. 
Laert.  VI.  86.  8)  OupeiravoiKTric;. 


126 


SECHSTE  VORLESUNG 


Fragen  Sie  mich  nun  zum  Schlüsse  nach  dem  ethischen  Werte 
des  Kynismus  und  nach  der  wissenschaftlichen  Haltbarkeit  sei- 
ner Lehre,  so  muß  meine  Antwort  einigermaßen  eingehend 
ausfallen.  Zunächst  liegt  eine  unzulängliche  theoretische  Vor- 
aussetzung des  Systems  auf  der  Hand.  Ich  meine  den  sophi- 
stisch-demokritischen Gegensatz  von  Natur  und  Kultur.  Denn 
der  kynische  Kampf  gegen  die  „Einbildung"  ist  ja  im  wesent- 
lichen eine  Negation  der  Kulturwerte.  Allein  es  widersteht  un- 
serer heutigen  Denkweise  durchaus,  den  Kulturfortschritt  anders 
aufzufassen,  denn  als  eine  Etappe,  und  zwar  als  eine  Fortsetzung 
der  Naturentwicklung.  Es  ist  nicht  wahr,  meinen  wir,  daß  der 
Geschlechtstrieb  ein  natürliches,  die  Liebe  ein  eingebildetes  Be- 
dürfnissei; sondern  dieseerscheintunsnurals  einebesondere,  und 
zwar  als  eine  fortgebildete,  differenzierte  Form  jenes  Grund- 
triebes. Es  ist  auch  nicht  wahr,  daß  das  Weltbürgertum  natür- 
lich, das  Staatsbürgertum  illusionär  sei;  sondern  hier  ist  (ge- 
rade umgekehrt)  die  erstere  Gefühlsweise  eine  Fortbildung  und 
Erweiterung  der  letzteren.  Die  Zubereitung  gekochter  Speisen 
fassen  wir  nicht  als  den  Gegensatz,  sondern  als  eine  besondere 
Form  der  allgemein  animalischen  Ernährung  auf.  Und  das  Woh- 
nen in  Häusern  steht  dem  tierischen  Unterschlupf  nicht  entgegen, 
sondern  setzt  ihn  fort.  Dieser  Anschauungsweise,  die  freilich  auch 
noch  in  neuerer  und  neuester  Zeit  ihre  eifrigen  Gegner  gefunden 
hat  (z.B.  Rousseau  und  Tolstoi),  werden  wir  uns  schwerlich 
entziehen  können  und  wollen.  In  ihrem  Sinne  ist  aber  auch  die 
innere  Freiheit  selbst  nicht  ein  reiner  Gegensatz  gegen  die  Tota- 
lität der  natürlichen  Instinkte,  sondern  entwickelt  sich  selbst  aus 
ihnen,  wie  auch  der  ihr  zugrundeliegende  Kraftüberschuß  aus 
dem  jenen  zugrundeliegenden  Kraftminimum  hervorwächst.  Die 
„Umwertung  der  Werte"  muß  sich  deshalb  durchaus  nicht  durch 
bloße  Ausrottungder  auf  die  Außendinge  gerichtetenlmpulse  voll- 
ziehen; sie  kann  vielmehr  auch  in  der  Weise  vor  sich  gehen,  daß 
diese  letzteren,  die  uns  allerdings  von  Außenwelt  und  Schicksal 
abhängig  machen,  mehr  und  mehr  neben  jenen  Affekten  zurück- 
treten, die  dem  bloßen,  unverlierbaren  und  gesicherten  Besitze  an 


DIE  KYNIKER 


127 


Kraft  entspringen,  und  die  wir  seinerzeit  unter  der  allgemeinen 
Bezeichnung  der  Freudigkeit  zusammengefaßt  haben.  Die  Ky- 
niker  selbst  waren  hier  auf  dem  besten  Wege.  So  wie  sie  die 
Lust  der  gestillten  Begierde  mit  Recht  als  knechtend  verwarfen, 
und  ihr  die  Heiterkeit  der  selbstsicheren  Freiheit  entgegensetz- 
ten, ebenso  hätten  sie  folgerecht  die  ganze,  unser  Wünschen  und 
Begehren  nach  der  Außenwelt  orientierende  Subjektivität  von 
der  nur  dem  eigenen  Innern  entquellenden  Subjektivität,  also  von 
der  Freudigkeit  allgemeinster  Wunschbejahung  ablösen  lassen, 
und  der  knechtenden  und  ins  Übel  verstrickenden  Kraft  der 
egoistischen  Interessen  die  erlösende  Macht  der  inneren  Freiheit 
entgegenstellen  müssen.  Diese  Konsequenz  haben  zum  großen 
Teil  die  Stoiker  gezogen.  Daran  aber,  daß  die  Kyniker  dies 
nicht  getan  haben,  ist  zum  einen  Teile  eben  jene  unhaltbare 
theoretische  Voraussetzung  schuld. 

Zum  andern  allerdings  die  unleugbare  praktische  Einseitigkeit 
der  ganzen  Richtung.  Daß  der  ideale  Mensch  mit  innerer  Frei- 
heit müßte  entbehren  können,  ist  ohne  Zweifel  richtig.  Aber 
ebenso  richtig  ist,  daß  er  auch  mit  innerer  Freiheit  muß  genießen 
können.  Das  rechte  Entbehren  ist  nur  die  eine  Seite  des  rechten 
Erlebens;  das  rechte  Genießen  ist  die  andere.  Jenes  muß  geübt 
werden,  aber  auch  dieses.  Die  Kyniker  haben  nur  die  eine  Seite 
gesehen,  die  andere  nicht.  Sie  konnten  sich  der  inneren  Frei- 
heit annähern,  aber  nur  auf  dem  Wege  der  Entbehrung.  Der- 
jenige, der  auf  den  beiden  möglichen  Wegen  —  je  nachdem  ihn 
das  Schicksal  auf  den  einen  oder  den  anderen  stellt  —  eben  da- 
hin gelangen  könnte,  müßte  (vom  Standpunkte  des  Ideales  selbst 
aus)  ethisch  höher  gewertet  werden.  Wir  werden  nächstens 
sehen,  inwiefern  dies  für  die  rivalisierende  Schule  der  Kyre- 
naiker  zutrifft. 

Deswegen  sollten  wir  gegen  die  Kyniker  nicht  ungerecht  sein. 
Es  hat  zu  allen  Zeiten  Naturen  gegeben,  und  es  wird  zu  allen  Zeiten 
solche  geben,  deren  egoistische  Instinkte  so  stark  sind,  daß  sie  die 
Oberhand  erlangen,  sobald  sie  nicht  systematisch  bekämpft  wer- 
den. Solche  können  nur  im  steten  Streite  gegen  die  Begierde,  und 


128 


SECHSTE  VORLESUNG 


das  heißt:  in  freiwilliger  Entbehrung,  dem  Ideale  zustreben.  Zu 
allen  Zeiten  hat  deshalb,  wo  immer  das  Erlösungsbedürfnis  stark 
und  tief  war,  auch  eine  gewisse  Gruppe  von  Charakteren  nur  in  der 
freiwilligen  Armut  dasselbe  befriedigen  können.  Und  was  in 
der  Vergangenheit  für  Buddha,  Krates  und  Franziskus  ge- 
golten hat,  wird  auch  in  der  Zukunft  gelten.  Wo  immer  wieder- 
um das  Ideal  der  inneren  Freiheit  Anhänger  finden  wird,  wird 
es  unter  diesen  auch  wieder  Bettelmönche  geben.  Und  für  sie 
wird  Diogenes  für  alle  Zeiten  ein  Vorbild  bleiben:  das  Vorbild 
eines  Mannes,  der  zwar  das  gemeinsame  Ideal  nicht  in  eine  ta- 
dellose Theorie  gekleidet  hat;  der  ihm  auch  nur  in  immerwäh- 
rendem Kampfe  mit  sich  selbst,  und  nur  auf  dem  ihm  allein 
gegebenen  Wege  der  Entbehrung  sich  annähern  konnte;  der  ihm 
aber  bei  alledem  so  nahe  gekommen  ist,  wie  kaum  ein  anderer, 
von  dem  wir  wissen. 


DIE  KYRENAIKER 


SIEBENTE  VORLESUNG 

Geehrte  Zuhörer! 

IE  Kyniker,  so  mußten  wir  neulich  schließen, 
haben  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit  mit 
Festigkeit  zugestrebt,  aber  nur  auf  dem  einen 
Wege  des  Entbehrens:  wie  sie  überhaupt 
durch  die  gewaltsame  Unterdrückung  und 
Ausrottung  der  natürlichen  Instinkte  den  Er- 
lösungsprozeß vollzogen,  so  glaubten  sie  auch 
durch  möglichste  Einschränkung  alles  Genießens  sich  von  der 
knechtenden  Herrschaft  der  Genußobjekte  befreien  zu  kön- 
nen. Der  Begriff  des  innerlich  freien  Genießens  wird  also  hier 
grundsätzlich  negiert.  Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen,  daß 
diese  Konsequenz  zwar  vielleicht  für  gewisse  Naturen,  aber 
keineswegs  mit  allgemeiner  Geltung  oder  gar  notwendig  aus 
dem  Ideale  der  inneren  Freiheit  abgeleitet  werden  kann.  Den 
schlagendsten  Beweis  hierfür  haben,  in  ihrer  Lehre  wie  in  ihrem 
|  Leben,  jene  anderen  Fortbildner  des  Sokratismus  erbracht,  mit 
denen  wir  uns  heute  beschäftigen  wollen :  die  Kyrenaiker. 

Die  Geschichte  der  kyrenaischen  Schule  zerfällt  in  zwei  Epo- 
chen. In  der  zweiten  finden  durch  Theodoros,  Hegesias, 
Annikeris  und  Bion  interessante  und  lehrreiche  Umbildungen 
der  Schuldoktrin  statt.  Um  diese  selbst  kennen  zu  lernen,  müssen 
wir  also  jene  ganze  Nachblüte  zunächst  beiseite  lassen,  und  nur  an 
die  ältere  kyrenaische  Schule  uns  halten.  In  dieser  ragen  neben 
dorn  Stifter,  dem  älteren  Ar  istippos  vonKyrene,  noch  hervor: 
seine  Tochter  Arete,  und  sein  Enkel,  der  jüngere  Aristipp. 
Nun  sprechen  wohl  manche  Gründe  für  die  Annahme,  es  habe 

Gomperz,  Lebensauffassung  9 


130  SIEBENTE  VORLESUNG 

erst  dieser  Letztgenannte  die  ethische  Lehre  der  Schule  im  ein- 
zelnen ausgeführt  und  begründet.  Allein  wir  wissen  von  ihm 
wie  von  seiner  Mutter  so  gut  wie  nichts,  und  es  bleibt  uns  des- 
halb nur  übrig,  an  dieser  Stelle  zunächst  allein  von  dem  älteren 
Aristippos  zu  handeln,  über  dessen  Persönlichkeit  wir  nicht 
allzu  spärlich  unterrichtet  sind,  und  auf  den  ja  auch  ohne  Zwei- 
fel wenigstens  die  Grundzüge  der  kyrenaischen  Ethik  zurück- 
gehen. 

Antisthenes  hatte  sich  durch  die  Stärke  seiner  Instinkte  in 
der  Verfolgung  des  sokratischen  Ideals  behindert  gefühlt  und 
hatte  deshalb  ihre  Ausrottung  als  die  wesentliche  Aufgabe  des 
ethischen  Lebens  betrachtet.  Als  der  Typus  dieser  Instinkte 
aber  war  ihm  der  Drang  nach  Lust  erschienen.  Gegen  sie  pre- 
digte er  deshalb  einen  schonunglosen  Vernichtungskrieg.  Die- 
sem unglücklichen  Temperamente  des  ersten  Kynikers  steht 
das  glückliche  Temperament  des  ersten  Kyrenaikers  im  aus- 
gesprochensten Gegensatze  gegenüber.  Seine  sinnlich-geistige 
Subjektivität  hindert  ihn  gar  nicht  an  der  Wunschbejahung 
des  All,  ist  vielmehr  selbst  auf  diese  hingeordnet.  Die  Erlösung 
erscheint  hier  als  bloße  Steigerung  und  Vollendung  animalischen 
Wohlgefühls  und  natürlicher  guter  Laune.  Um  zu  ihr  zu  ge- 
langen, braucht  er  also  weder  mit  Antisthenes  die  Subjektivität 
zu  unterdrücken,  noch  sie  mit  Sokrates  abzustreifen.  Die  in- 
nere Freiheit  ist  vielmehr  bei  ihm  schon  ursprünglich  als  ele- 
mentare Genußfähigkeit  und  ruhige  Freudigkeit  angelegt.  So- 
krates ist  über  die  Wendungen  des  Schicksals  erhaben,  indem  er 
sie  alle  mit  gleichmäßig  objektiver  Sachlichkeit  betrachtet; 
Diogenes,  indem  er  sie  alle  gleichmäßig  kämpfend  über- 
windet; Aristipp,  indem  er  sie  alle  gleichmäßig  freudig  ge- 
nießt. 

Ein  solcher  Mann  mußte  notwendig  auch  die  sokratische  Lehre 
auf  seine  Weise  modifizieren.  Nach  dieser  ist  die  Tugend  ein 
Wissen.  Aber  ein  Wissen  wovon?  Für  Aristipp  kann  sie 
nichts  anderes  sein  als  ein  Wissen  vom  rechten  Genießen.  Um 
nun  diesen  Standpunkt  wissenschaftlich  zu  begründen,  knüpft 


DIE  KYRENAIKER 


131 


er  an  eine  Ansicht  an,  die  wir  von  Demokrit  her  kennen:  „Das 
Maß  des  Zuträglichen  und  Unzuträglichen  ist  Freude  und  Freud- 
losigkeit." Gut  nämlich  ist,  was  sich  der  Mensch  wünscht;  er 
wünscht  sich  aber,  so  wird  hier  behauptet,  nichts  anderes  als  Lust 
und  Leidlosigkeit.  Von  Kindheit  an,  so  sollen  die  Kyrenaiker 
gelehrt  haben  *,  sind  wir  der  Lust  vertraut,  und  wenn  wir  sie  be- 
sitzen, suchen  wir  nichts  anderes,  und  nichts  fliehen  wir  so  sehr, 
als  ihren  Gegensatz,  den  Schmerz.  Wenn  aber  Lust  und  Gut 
gleichwertige  Begriffe  sind,  dann  wird  das  sokratische  Wissen 
vom  Guten  zu  einem  Wissen  von  Lust  und  Leid.  „Die  Einsicht 
ist  zwar  ein  Gut,  aber  nicht  an  sich  selbst  zu  erstreben,  sondern 
um  dessentwillen,  was  durch  sie  erlangt  wird2." 

Wie  nahe  in  der  Tat  auch  sachlich  gerade  diese  Fortbildung 
der  sokratischen  Lehre  lag,  sehen  wir  daraus,  daß  wir  sie  auch 
in  Piatons  „Protagoras"  finden,  ohne  daß  wir  zureichende 
Gründe  hätten,  an  diesen  Stellen  eine  Anspielung  auf  die  kyre- 
naische  Lehre  vorauszusetzen.  Was  Piaton  damit  sagen  wollte, 
und  ob  es  ihm  mit  dieser  Darlegung  voller  Ernst  war  —  dies 
sind  schwierige  Fragen,  über  die  zu  handeln  hier  nicht  der  Ort 
ist.  Tatsache  aber  bleibt,  daß  er  in  einem  langen  Abschnitte3 
den  Gedankengang  entwickelt:  Lust  und  Gut,  Leid  und  Übel 
bedeuten  dasselbe;  das  Wissen,  in  dem  die  Tugend  bestehe, 
sei  eine  Maß-  oder  Rechenkunst,  welche  die  Aufgabe  habe,  die 
lustvollen  und  die  leidvollen  Folgen  jeder  Handlung  zu  sum- 
mieren und  gegeneinander  abzuwägen;  und  eben  deshalb  ent- 
springe jede  Verfehlung  aus  Unwissenheit;  denn  es  wäre  doch 
absurd,  anzunehmen,  ein  Mensch  tue  das  Üble,  das  heißt  aber 
das  Leidvolle,  weil  er  von  dem  Streben  nach  Lust  dazu  hin- 

|  gerissen  werde;  jede  solche  Verfehlung  müsse  vielmehr  einem 
Mangel  an  Einsicht  entstammen,  indem  die  als  Folge  der  be- 
treffenden Handlung  zu  gewärtigende  Lustbilanz  unrichtig  ver- 
anschlagt werde  —  wie  Sie  sehen,  die  wunderlichste  Verteidi- 

;  gung  des  sokratischen  Intellektualismus  durch  eine  grob  sensua- 
listische  Theorie,  die  sich  denken  läßt,  und  die  nur  möglich  ist, 

i)  Diog.  Laert.  II.  88.  2)  Diog.  Laert.  II.  91.  3)  Protag.  p.  351b— 358e. 

9* 


132 


SIEBENTE  VORLESUNG 


weil  Piaton  die  Verwechslung  der  beiden  Begriffe  des  „Guten" 
(Erwünscht  und  Gebilligt)  hier  gleichsam  zum  Prinzip  er- 
hoben hat. 

Derselbe  Grundgedanke  nun  liegt  auch  der  ethischen  Doktrin 
des  Aristipp  zugrunde.  Die  Ausführung  freilich  ist  verschie- 
den. Denn  gerade  n  i ch t  die  Summe  gegenwärtiger  und  künftiger 
Lustzustände  soll  das  „Ziel"  sein,  sondern  allein  die  Lust  des 
Augenblicks.  Diese  Lehre  gehört  zu  den  am  meisten  mißver- 
standenen Punkten  in  der  gesamten  Geschichte  der  Ethik.  Sie 
gilt  als  die  Theorie  eines,  nur  dem  Augenblicksgenuß  hingege- 
benen Lebemannes,  und  wird  daher  als  eine  Verirrung  der  he- 
donischen  Denkrichtung  angesehen,  geeignet,  zu  den  unsittlich- 
sten Konsequenzen  zu  führen,und  dieNützlichkeitsmoralzukom- 
promittieren,  die  doch  in  allen  ihren  modernen  Formen  gerade 
auf  die  besonnene  Abwägung  der  Folgen  das  Hauptgewicht  legt. 
Dem  gegenüber  hoffe  ich,  Ihnen  zeigen  zu  können,  daß  gerade 
diese  Bestimmung  —  in  ihrem  wahren  Sinne  verstanden  —  die 
kyrenaische  Hedonik  theoretisch  wie  ethisch  hoch  über  die  mo- 
derne erhebt,  und  ihr  den  gebührenden  Platz  an  der  Seite  an- 
derer Erlösungsreligionen  anweist.  Doch  wird  es  zweckmäßig 
sein,  ehe  wir  uns  in  die  Frage  der  Deutung  und  Wertung  ver- 
tiefen, erst  die  vier  Gründe  kennen  zu  lernen,  auf  die  —  soviel 
wir  wissen  —  Aristipp  selbst  diese  Lehre  gestützt  hat. 

Es  müsse  sehr  schwierig  sein,  argumentierten  die  Kyrenaiker 
erstens1,  jene  Zusammenrechnung  der  Lustzustände  durchzu- 
führen (wörtlich:  sie  auf  einen  Haufen  zusammenzutragen),  da 
oft  dasjenige,  was  Lust  bewirke,  selbst  leidvoll  sei,  und  also  als 
negativer  Posten  zähle.  In  der  Tat  verstrickt  sich  die  hedonische 
„Rechenkunst"  meist  in  die  unlösbare  Schwierigkeit,  daß  sie 
den  moralischen  Wert  einer  Handlung  als  abhängig  denken  muß 
von  der  Wertsumme  einer  unendlichen  Reihe,  deren  Glieder 
eben  deshalb  zum  größten  Teile  unbekannt  bleiben  müssen.  In- 
des scheint  Aristipp  diese  entscheidende  Einwendung  nicht 
in  dieser  ihren  vollen  Schärfe  formuliert  zu  haben,  und  das  eben 


i)  Diog.  Laert.  II.  90. 


DIE  KYRENAIKER 


133 


mitgeteilte  Argument  stellt  sich  deshalb  nur  als  der  einleitende 
Hinweis  auf  eine  äußere  Schwierigkeit  dar. 

Dazu  tritt  aber  nun  zweitens  die  Erkenntnis  einer  inneren 
Unmöglichkeit,  mit  der  die  „protagoreische"  Hedonik  allerdings 
behaftet  ist.  Sie  setzt  nämlich  voraus,  daß  Lust  und  Leid  gedacht 
werden  können  wie  positive  und  negative  Größen,  die  einander 
aufheben,  so  daß  die  Verhinderung  eines  Schmerzes  gleichwertig 
wäre  einer  Lust,  der  Verzicht  auf  eine  Lust  gleichwertig  einem 
Schmerz.  Hieran  knüpft  sich  dann  leicht  die  Konsequenz,  daß 
die  Lust  überhaupt  ihrem  Wesen  nach  nur  als  Abwesenheit  der 
Unlust  aufgefaßt,  und  also  die  volle  Schmerzlosigkeit  als  das 
„Ziel"  betrachtet  wird.  Indem  nun  die  Kyrenaiker  nach  dem 
Zeugnisse  des  P  a  n  a  i  t  i  o  s 1  diese  auch  heute  (z.  B.  bei  S  c  h  o  p  e  n  - 
hauer)  wieder  beliebte,  aber  auch  schon  im  Altertum  durch 
Hegesias  und  Epikur  vertretene  Lehre  entschieden  bekämpf- 
ten, wiesen  sie  mit  Nachdruck  auf  ein  Grundgebrechen  jener 
ganzen  hedonischen  „Rechenkunst"  hin.  Sie  unterschieden 
nämlich2  nicht  zwei,  sondern  drei  hedonische  Zustände,  indem 
sie  neben  Lust  und  Leid  die  hedonische  Indifferenz  als  selbst- 
wertiges  Drittes  anerkannten,  das  weder  (als  Schmerzlosigkeit) 
mit  der  Lust  noch  (als  Lustlosigkeit)  mit  dem  Leid  gleichgesetzt 
werden  dürfe3.  Dann  aber  fehlt,  nach  dem  eben  Gesagten,  den 
hedonischen  Zuständen  der  (in  diesem  Falle  notwendig  ein- 
dimensionale) Größencharakter,  und  damit  wird  die  ganze  Vor- 
aussetzung jener  „Rechenkunst"  hinfällig. 

In  noch  höherem  Grade  aber  rechtfertigen  die  Kyrenaiker 
das  ihnen  von  Piaton4  zuerkannte  Epitheton  der  „Feinheit" 
durch  das  folgende,  dritte  Argument5:  Die  Summe  der  Lustzu- 
stände, also  das  (hedonisch  aufgefaßte)  „Glück",  ist  nur  eine 
„Zusammenstellung6."  Der  Mensch  aber  strebt  gar  nicht  nach 
einem  solchen  „System",  sondern  nach  der  einzelnen  Lust.  Und 
das  „Glück"  ist  deshalb  gar  nicht  um  seiner  selbst  willen  be- 

i)  Diog.  Laert.  II.  87.  2)  Diog.  Laert.  II.  90;  Sext.  Emp.  adv.  Math.  VII.  199; 
Euseb.Praep.  Ev.  XIV.  18.32.  3)  Diog.Laert.  11.89.  *)  Phileb.  p.53c.  5)  Diog. 
Laert.  II.  87  f.  6)  auöTruim. 


134 


SIEBENTE  VORLESUNG 


gehrenswert,  sondern  nur  wegen  der  einzelnen  Lustzustände, 
aus  denen  es  besteht.  Verdeutlichen  wir  uns  diesen  Gedanken- 
gang, indem  wir  ihn  in  eine  etwas  modernere  Terminologie  über- 
tragen, so  erhalten  wir  etwa  die  folgenden  Sätze:  unser  Lust- 
verlangen ist  auf  einen  qualitativ  bestimmten  Gefühlszustand 
gerichtet;  Gefühlsqualitäten  lassen  aber  keine  reale  Summierung 
zu;  eine  Lustsumme  ist  deshalb  etwas,  was  nur  gedacht,  aber 
nicht  empfunden  werden  kann,  und  hat  infolgedessen  für  das 
Begehrungsvermögen  keinen  selbständigen  Wert.  Diese  Ein- 
sicht, daß  man  eine  Begierde  nicht  mit  Gedankendingen  ab- 
speisen kann,  und  daß  eine  sensualistische  Theorie  nicht  mit 
metaphysischen  Begriffen  operieren  darf,  scheint  mir  allerdings 
unanfechtbar,  und  für  die  modernen  hedonischen  Theorien 
verhängnisvoll. 

Endlich  aber  ist  uns  noch  ein  viertes  Argument  überliefert, 
das  unser  Interesse  ganz  besonders  in  Anspruch  nimmt,  weil  es 
uns  von  der  moralischen  Theorie  zur  ethischen  Gesinnung  hin- 
überleitet. Der  folgende  Gedankengang  des  Aristipp  nämlich 
wird  uns  von  Aelian1  bezeugt:  er  kümmere  sich  nicht  um  das 
Vergangene  und  nicht  um  das  Zukünftige.  Denn  dies  sei  das 
Zeichen  der  Wohlgemutheit2,  und  der  Beweis  einer  gesunden 
Vernunft.  Er  richte  aber  seinen  Sinn  auf  den  Tag,  und  wieder- 
um auf  jenen  Teil  des  Tages,  in  dem  der  Betreffende  handle  oder 
überlege.  Denn  allein  die  Gegenwart  sei  in  unserer  Ge- 
walt, und  weder  das  Vergangene  noch  das  Zukünftige;  denn 
jenes  bestehe  nicht  mehr,  von  diesem  aber  sei  noch  unsicher, 
ob  es  sein  werde.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  Aristipp 
hiermit  nicht  sagen  will,  wenn  er  einen  Zweck  erreichen  wolle, 
wende  er  nicht  die  dazu  tauglich  scheinenden  Mittel  an.  Einen 
solchen  Unsinn  hätte  man  einem  geistig  gesunden  Menschen 
nie  zutrauen  sollen.  Was  aber  will  er  denn  sagen?  Und  schließt 
nicht  ein  solcher  Grundsatz  in  der  Tat  jede  praktische  Besonnen- 
heit und  sittliche  Verantwortlichkeit  aus?  Auf  diese  Frage 
antworte  ich  zunächst  durch  den  Hinweis  auf  ein  anderes  Zitat. 


1)  V.  H.  XIV.  6.   2)  Der  Kunstausdruck  des  Demokrit. 


DIE  KYRENAIKER 


135 


In  der  Bergpredigt1  lesen  wir:  „Sorget  euch  also  nicht  um  das 
Morgen;  denn  das  Morgen  wird  für  sich  selbst  sorgen:  jedem 
Tage  genügt  seine  Plage".  Dem  Urheber  dieser  Sätze  pflegt  man 
gemeinhin  nicht  eben  unmoralische  Gesinnung  vorzuwerfen. 
Dennoch  besagen  sie  genau  dasselbe,  wie  die  Lehre  des  Ari- 
stipp,  und  sind  auch  ganz  denselben  Mißdeutungen  von  seiten 
unverständiger  Interpreten  ausgesetzt.  Aber  Sie  können  mir 
einwenden:  die  Sätze  der  Bergpredigt,  die  den  angeführten  vor- 
ausgehen, zeigen  deutlich  genug,  daß  diese  ihren  Sinn  nur  erhal- 
ten können  unter  der  Voraussetzung  eines  absoluten  Gottver- 
trauens; daß  sie  also  uns  sagen  wollen:  sei  frei  von  jeder  Furcht, 
denn  Gottes  Kraft  wird  sich  jedem  etwaigen  Übel  entgegenstellen, 
und  sie  ist  stark  genug,  um  es  zu  überwinden.  Aber  wenn  Sie 
sich  nun  dessen  erinnern,  was  wir  in  der  einleitenden  Vorlesung 
eingehend  besprochen  haben,  so  werden  Sie  sehen:  an  dieser 
dogmatischen  Voraussetzung  kann  der  Sinn  jener  Sätze  nicht 
|  hängen.  Dem  Vertrauen  auf  die  göttliche  Kraft  in  dem  Gedan- 
kenkreise der  Fremderlösung  entspricht  in  dem  der  Selbst- 
erlösungdas  Vertrauen  aufdieeigeneKraft.  Es  ist  das  Zeichen 
innerer  Unfreiheit,  vor  irgend  einer  äußeren  Lebenslage  sich 
zu  fürchten.  Denn  jeder  möglichen  Lage  mit  freudiger 
Wunschbejahung  zu  begegnen  —  das  eben  ist  das  Wesen  der 
inneren  Freiheit;  und  eben  das  Bewußtsein,  die  hierzu  erfor- 
derte Kraft  zu  besitzen  —  ist  das  der  inneren  Befreiung  und  Er- 
lösung. In  beiden  Fällen  also  ist  der  Sinn  des  Verbotes  dieser: 
sorge  dich  nicht  um  die  Zukunft;  denn,  was  immer  geschehe, 
—  die  (göttliche,  resp.  eigene)  Kraft  steht  dir  dafür  gut,  daß  es 
für  dich  kein  Übel  sein  wird.  Zugleich  aber  sehen  Sie  auch:  in 
beiden  Fällen  kann  sich  das  Verbot  nur  beziehen  auf  eine  solche 
Sorge  um  die  Zukunft,  welche  der  selbstischen  Begierde,  dem 
Haften  am  Genuß  und  dem  Zurückbeben  vor  der  Entbehrung  ent- 
springt; nicht  aber  kann  es  betreffen  das  Anpassen  der  Mittel  an 
solche  Zwecke,  welche  wir  uns  liebend  oder  schaffend  setzen, 
die  also  eine  Äußerung  unseres  Kraftüberschusses  sind.  Damit 

i)  Matth.  VI.  34. 


136 


SIEBENTE  VORLESUNG 


ist  wohl  zur  Genüge  dieanscheinendeParadoxie  aufgehoben,  die 
beiden  Lehren  anhaftet,  aber  freilich  an  der  einen  ebenso  ein- 
seitig beachtet,  wie  an  der  anderen  übersehen  wird.  Noch  nicht 
aber  ist  erklärt  der  Zusammenhang  zwischen  dieser  allgemeinen 
Äußerung  des  inneren  Freiheitsbewußtseins  und  der  spezifisch 
hedonischen  Form  der  aristippischen  Lehre;  indes  kann  uns 
diese  Erklärung  jetzt  nicht  mehr  schwer  fallen,  und  sie  wird  sich 
uns  am  leichtesten  ergeben,  wenn  wir,  an  neulich  Gesagtes  an- 
knüpfend, die  antike  Hedonik  mit  der  modernen  vergleichen. 

Es  gibt  zwei  Wege,  um  ein  Maximum  von  Lust  zu  erzielen. 
Es  kann  geschehen  dadurch,  daß  im  weitesten  Ausmaße  jene 
äußeren  Bedingungen  hergestellt  werden,  mit  denen  durch 
Befriedigung  der  natürlichen  Instinkte  in  allen  Menschen 
sich  Lust  verknüpft;  und  es  kann  geschehen  dadurch,  daß  im 
weitesten  Ausmaße  eine  solche  Umbildung  der  Instinkte 
bewerkstelligt  wird,  daß  nun  mitallenäußerenBedingungen 
Lust  verknüpft  wird.  Ich  brauche  nicht  mehr  besonders  zu  be- 
tonen, welcher  dieser  beiden  Wege  der  inneren  Unfreiheit, 
welcher  der  inneren  Freiheit  entspricht:  der  erstere  Weg 
macht  uns  von  dem  äußeren  Schicksal  ebenso  gewiß  abhängig, 
als  uns  der  letztere  von  ihm  unabhängig  macht.  Jener  Weg 
aber  deckt  sich  mit  dem  Prinzip  der  modernen  Hedonik  eben- 
so wie  dieser  mit  dem  der  antiken.  Auf  jenem  finden  wir 
uns  in  unserem  Tun  beschränkt  und  empfinden  das  Leben  als 
Ernst  —  denn  wer  weiß,  ob  wir  nicht  etwas  tun,  was  uns  oder 
anderen  wehe  tun  könnte!  Auf  diesem  finden  wir  uns  frei 
und  empfinden  das  Leben  als  Spiel  —  denn  wir  wissen,  daß, 
geschehe  was  immer,  wir  und  alle  andern  tüchtigen  Männer 
dem  geschehenen  immer  noch  eine  lustvolle  Seite  werden  ab- 
gewinnen können.  Daher  ist  dieses  das  Prinzip  der  antiken 
Hedonik  überhaupt,  und  der  kyrenaischen  insbesondere:  der 
Mensch  soll  instand  gesetzt  werden,  aus  jeder  beliebigen 
Lebenslage  ein  Maximum  von  Lust  herauszupressen, 
und  sie  so  freudig  zu  genießen.  Also,  nicht  um  die  äußere  Lust- 
bilanz der  Ereignisse  handelt  es  sich  hier,  sondern  um  die 


DIE  KYRENAIKER 


innere  Lustbilanz  der  Empfindungen.  Nicht  ein  bestimmtes 
Handeln  wird  dem  Menschen  vorgeschrieben,  und  gar  nicht 
das  wird  ihm  empfohlen,  sein  Tun  so  einzurichten,  daß  daraus 
möglichst  viel  Lust  sich  ihm  ergebe;  sondern,  wie  immer  er 
handle  und  was  immer  er  tue  —  er  soll  so  beschaffen  sein, 
daß  ihm  auf  j  e  d  e  n  F  a  1 1  freudiger  Genuß  daraus  erwächst.  Nur 
so  aufgefaßt  kann  eine  hedonische  Theorie  das  Ideal  der 
inneren  Freiheit  ausdrücken  wollen. 

Ist  nun  aber  dieses  in  der  Tat  die  Lehre  des  Aristipp?  Mit 
dürren  Worten  ist  uns  dies  freilich  nicht  überliefert1.  Allein,  was 
wir  von  ihr  wissen,  scheint  mir  jede  andere  Auffassung  auszu- 
schließen. Denn  wir  hören  ausdrücklich2,  er  habe  nicht  wie 
E  p  i  k  u  r  den  gegenwärtigen  Schmerz  durch  freudigeErinnerungen 
und  Hoffnungen  überwiegen  lassen,  vielmehr  genüge  es3,  wenn 

*)  Eine  Nachricht  scheint  sogar  dieser  Interpretation  direkt  im  Wege  zu 
stehen.  Diog.  Laert.  II.  91  wird  nämlich  als  kyrenaische  Lehre  angeführt 
„daß  nicht  jeder  Weise  in  Lust  lebe,  und  nicht  jeder  Tor  in  Unlust, 
sondern  in  der  Regel".  Dies  ist  nun,  so  wie  es  dasteht,  natürlich 
ebenso  barer  Unsinn,  wie  die  bald  folgende  „Lehre"  des  Aristipp,  daß 
„die  Sinne  nicht  immer  die  Wahrheit  bezeugen"  (II.  93).  Indes  will 
ich  nicht  auf  dieser  Entstellung  bestehen,  und  annehmen,  ein  kyrenaisches 
„Dogma"  habe  gelautet:  Der  Weise  empfinde  nicht  immer  Lust,  sondern 
nur  meistens.  Dann  aber  ist  dies  aufs  engste  zusammenzuhalten  mit 
dem  anderen  Lehrstück  (ibid.  11.93)  von  der  empirischen  Realität 
des  Weisen  (elvat  töv  oocpöv).  Dies  ist  nämlich  eine  ähnliche  Korrelation, 
wie  die  beim  perspektivischen  Sehen:  so  wie  hier  dasselbe  Objekt  in  der 
Nähe  größer,  in  der  Ferne  kleiner  erscheint,  so  wird  umgekehrt  dasselbe 
Ideal  stets  inhaltlich  gesteigert,  wenn  es  als  unerreichbarer  Grenzwert, 
und  stets  inhaltlich  verkürzt,  wenn  es  als  empirische  Größe  gedacht  wird. 
Denn,  ob  man  nun  sagt:  Der  empirisch-vollkommene  Mensch  findet  an 
den  meisten  Lagen  seine  Lust,  oder:  Der  empirische  Mensch  kommt  dem 
Ideal  der  Vollkommenheit  um  so  näher,  an  je  mehr  Lagen  er  seine  Lust 
findet  —  diese  beiden  Aussagen  involvieren  nicht  einen  anderen  Voll- 
kommenheits-,  sondern  nur  einen  anderen  Idealbegriff;  die  Verschieden- 
heit bezieht  sich  nicht  auf  den  Inhalt,  sondern  auf  die  Form  des  Ideals. 
Da  ich  nun  erst  anläßlich  der  stoischen  Ethik  auf  die  letzteren  Fragen  ein- 
gehen möchte,  so  stelle  ich  einstweilen  die  kyrenaische  Lehre  so  dar,  wie  sie 
unter  Zugrundelegung  eines  formal  korrekten  Idealbegriffes  formuliert  wer- 
den müßte.  2)  Diog.  Laert.  II.  89;  Athen.  XII.  p.544af.  3)  Diog.  Laert.  II.  91. 


138 


SIEBENTE  VORLESUNG 


man  die  eine,  eben  vorhandene  Lust  genieße.  Dies  kann  schon 
an  sich  kaum  etwas  anderes  heißen,  als  daß  vom  Weisen  die 
Fähigkeit  gefordert  wird,  in  jeder  Lage  einen  Lustgehalt  zu  ent- 
decken; und  diese  Deutung  wird  vollends  zur  Gewißheit,  wenn 
wir  bedenken,  daß  (wie  sich  zeigen  wird)  Epikur  ohne  jeden 
Zweifel  vom  Weisen  verlangt,  er  müsse  jeden  Schmerz  von 
innen  heraus  zu  kompensieren  imstande  sein,  Aristipp  aber 
nach  dem  gesagten  nur  hinsichtlich  der  Mittel,  nicht  hinsicht- 
lich des  Inhalts  dieser  Forderung  von  ihm  abweicht.  Und 
ebenso  stimmt  zu  dieser  Auffassung  aufs  beste,  was  wir  weiter 
erfahren.  Denn  wenn  das  Ziel  in  dieser  Weise  bestimmt  ist, 
so  erhebt  sich  weiter  die  Frage  nach  dem  Wege,  der  zu  ihm  hin- 
führt, die  Frage  nämlich:  wie  lernen  wir,  den  Dingen  und  Lagen 
ihren  Lustgehalt  auszusaugen?  Auf  die  entsprechende  Frage 
hatte  der  radikale  kynische  Pessimismus  die  Antwort  bereit  ge- 
halten: indem  uns  die  Vernunft  zur  Ausrottung  der  Instinkte 
verhilft.  Der  gemäßigte  kyrenaische  Optimismus  kann  nur  er- 
widern: indem  wir  durch  Einsicht  zur  Umbildung  derselben 
gelangen,  nämlich  zur  Steigerung  aller  freudigen  und  zur  Unter- 
drückung aller  schmerzlichen  Gefühle.  Denn  diese  letzteren 
beruhen  auf  einer  unrichtigen  Wertung;  und  diese  verschwindet 
vor  der  Erkenntnis.  Und  wenigstens  der  zweite  Teil  dieser  Ant- 
wort ist  uns  auch  bezeugt.  Leidvolle  Begierden,  wie  Liebe  und 
Neid,  hören  wir1,  empfinde  der  Weise  überhaupt  nicht;  denn 
sie  entspringen  aus  „leerem  Schein"  oder  „bloßer  Meinung"2. 
Und  ebenso  befreie  ihn  die  Einsicht  von  Geister-  und  Todes- 
furcht3. 

Jedoch,  mag  alles  bisherige  noch  einigermaßen  problematisch 
scheinen,  alle  Zweifel  schwinden,  sobald  wir  die  Persönlich- 
keit des  Aristipp  ins  Auge  fassen:  sowohl  unmittelbar  nach 
den  Quellen,  die  uns  zur  Verfügung  stehen  (und  über  deren 
Beschaffenheit  ich  schon  neulich  ein  Wort  gesagt  habe),  als 
auch  mittelbar  nach  dem  Eindruck,  den  er  auf  seine  Zeitgenossen 

*)  Diog.  Laert.  H.  92.  2)  Kevrj  öoEct;  man  vgl.  den  xücpoc;  der  Kyniker!  3)  Vgl. 
Demokrit  und  Epikur! 


DIE  KYRENAIKER 


139 


gemacht  hat,  und  den  das  Altertum  in  einem  höchst  charakte- 
ristischen Bilde  von  ihm  aufbewahrt  hat.  Und  gleich  die  Haupt- 
sache, die  nicht  genug  betont  werden  kann,  daß  ihn  nämlich 
seine  Lustlehre  nicht  abhängig  gemacht  habe  von  den  Genuß- 
objekten, sondern  ihn  vielmehr  über  sie  erhoben  habe,  bezeugt 
uns  Horaz  in  den  Versen1: 

„Leise  gleit'  ich  zurück  zur  Regel  des  Aristippus: 
Trachte  die  Dinge  mir,  nicht  mich  den  Dingen  zu  fügen." 

Bestrebt  und  befähigt  also  müssen  wir  ihn  denken,  nicht  etwa, 
das  an  sich  Angenehme  dem  Unangenehmen  vorzuziehen,  son- 
dern jedem  Erlebnis  seinegute  Seite  abzugewinnen.  Und  wieder- 
um sagt  uns  derselbe  Zeuge2: 

„Jedes  Ding,  jeder  Stand,  jede  Lage  passt  Aristippus: 
Stets  auf  Größeres  aus,  der  Gegenwart  immer  gewachsen." 

Und  bei  Diogenes  Laertios3  lesen  wir:  „Er  war  aber  im- 
stande, sich  jedem  Orte  und  jeder  Zeit  und  jeder  Rolle  anzu- 
passen, und  jede  Situation  konsequent  durchzuspielen  ....  Er 
genoß  die  Lust  am  Vorhandenen,  jagte  aber  nicht  mühselig  nach 
dem  Genüsse  des  Nichtvorhandenen.  Deshalb  nannte  ihn  auch 
Diogenes  (von  Sinope)  eine  königliche  Kynikernatur."  Und 
in  demselben  Sinne  wird  Piaton  die  Äußerung  zugeschrieben4: 
„Dir  allein  ist  es  gegeben,  sowohl  ein  Prachtgewand  zu  tragen 
wie  einen  Fetzen." 

Aber  auch  er  selbst  war  sich  dieser  seiner  Lebensrichtung 
bewußt,  und  bezeichnete  sie  als  „Freiheit".  Denn  auf  die  Frage 
des  Sokrates,ober  herrschen  oder  dienen  wolle,  läßt  ihn  Xeno- 
phon5  erwidern:  „Ich  rechne  mich  aber  (nicht  zu  den  Herr- 
schenden, und)  auch  nicht  zu  den  Dienenden,  sondern  es  dünkt 
mich,  daß  es  einen  mittleren  Weg  gebe  zwischen  diesen,  weder 
den  der  Herrschaft,  noch  den  der  Knechtschaft,  sondern  den 
der  Freiheit,  der  am  sichersten  zur  Glückseligkeit  führt."  Und 
in  welchem  Sinne  er  nun  den  Genuß  eben  als  Ausfluß  dieser 

i)  Ep.  I.  1.  18.  2)  Ep.  I.  17.  23.  3)  Ii.  66.  4)  Diog.  Laert.  II.  67.  5)  Comm.  II. 
1.  11. 


140 


SIEBENTE  VORLESUNG 


Freiheitversteht,darübergibtein  (unverkennbar gegen  den  Kynis- 
mus  polemisierender)  Ausspruch  Aufschluß,  der  uns  in  zwei  Ver- 
sionen überliefert  ist.  Das  eine  Mal  lautet  er1:  „Die  Lust  über- 
windet, nicht  wer  sich  ihrer  enthält,  sondern  wer  sie  genießt, 
ohne  von  ihr  hingerissen  zu  werden."  Und  das  andere  Mal2: 
„Die  Lust  zu  beherrschen,  und  nicht  von  ihr  überwältigt  zu 
werden,  ist  das  beste;  nicht  aber,  sie  nicht  zu  genießen."  Und  an 
eben  dieser  letzterwähnten  Stelle  findet  sich  auch  das  Wort,  das 
als  Motto  über  seine  ganze  Philosophie  gesetzt  werden  könnte. 
Als  ihm  nämlich  wegen  seines  Verhältnisses  zu  der  bekannten 
Hetäre  Lais  Vorwürfe  gemacht  wurden,  erwiderte  er:  „Ich  be- 
sitze (sie),  aber  ich  werde  nicht  (von  ihr)  besessen."  Und  in 
demselben  Sinne  wird  folgende  Geschichte  erzählt3:  „Als  er 
einst  indasHaus  einer  Hetäre  ging,  und  einer  der  ihn  begleiten- 
den jungen  Leute  errötete,  sprach  er:  „Nicht  das  Hineingehen 
ist  schlimm,  sondern  das  Nichtmehrherausgehenkönnen." 

Gegen  jede  solche  Lebensauffassung  erhebt  sich  die  Behaup- 
tung, es  sei  unmöglich,  sich  an  einer  Sache  zu  erfreuen,  über 
ihren  Verlust  aber  sich  nicht  zu  betrüben.  Wie  wenig  Berech- 
tigung diesem  Vorurteil  zukommt,  vermögen  wir  theoretisch 
leicht  einzusehen:  es  ist  begründet,  wo  der  Genuß  wesentlich 
auf  der  passiven  Befriedigung  einer  Begierde  beruht;  ganz  haltlos 
dagegen,  wo  dieFreudigkeit  jenes  Auswirken  der  eigenen  inneren 
Aktivität  begleitet,  welches  durch  das  äußere  Objekt  nur  ausgelöst 
wird.  Aristipp  aber  hat  praktisch  gezeigt,  wie  falsch  jene 
Voraussetzung  ist.  Er  sei  gleich  groß  im  Nehmen  wie  im  Ver- 
schmähen, wird  von  ihm  gesagt4,  und  zum  Belege  wird  berichtet, 
der  Tyrann  Dionys ios  von  Syrakus  habe  ihm  einmal  drei 
schöne  Sklavinnen  zur  Auswahl  geschickt;  er  aber  habe  gemeint, 
auch  dem  Paris  habe  es  nicht  gefrommt,  eine  Wahl  zu  treffen, 
und  habe  sie  alle  drei  mit  sich  genommen;  an  der  Tür  seines 
Hauses  aber  habe  er  sie  alle  drei  entlassen.  Noch  charakteristi- 
scher ist  ein  anderer  Zug5:  „Auf  einer  Reise  trug  sein  Diener 

i)  Stob.  Floril.  17.  18  (Meineke).  2)  Diog.  Laert.  II.  75.  3)  Diog.  Laert.  II.  69. 
4)  Diog.  Laert.  II.  67.  5)  Diog.  Laert.  II.  77. 


DIE  KYRENAIKER 


141 


das  Geld,  klagte  aber  über  die  Last.  Da  sagte  er:  schütte  weg, 
was  zuviel  ist,  und  trage,  was  du  kannst!"  Einen  interessanten 
Wink  in  der  Richtung,  daß  wirklich  diese  Erhabenheit  über  das 
materielle  Interesse  mit  seiner  Genußfreudigkeit  eng  zusammen- 
hängt, gibt  die  folgende  geistvolle  Anekdote1:  „Es  wird  erzählt, 
er  habe  einmal  ein  Rebhuhn  um  50  Drachmen  kaufen  lassen. 
Als  ihm  nun  jemand  hierüber  Vorwürfe  machte,  fragte  er: 
Hättest  du's  nicht  um  einen  Obolus  gekauft?  Und,  als  jener  be- 
jahte :  So  wenig  gelten  mir  (eben)  die  50  Drachmen."  Und  in  einer 
,  anderen  Fassung  derselben  Geschichte2  fügt  er  hinzu:  „Also, 
nicht  ich  hänge  am  Vergnügen,  sondern  du  hängst  am  Geld." 

In  dieser  souveränen  Stellung  des  Ari stipp  zu  allen  äußeren 
Werten  wurzelt  nun  jene  früher  erwähnte  Fähigkeit,  sich  in  jede 
Lage  zu  schicken.  Ihm  selbst  wird  auf  die  Frage,  was  ihm  die 
Philosophie  eingebracht  habe,  die  Antwort  zugeschrieben3:  „Mit 
allem  guten  Mutes  umgehen  zu  können,"  und  dies  erinnert  nicht 
nur  uns  an  die  sokratische  Furchtlosigkeit,  sondern  auch  er  selbst 
soll  auf  die  Erkundigung,  wie  Sokrates  gestorben  sei,  versetzt 
haben4:  „Wie  ich  zu  sterben  wünschte."  Nur  ein  anderer  Aus- 
druck hierfür  ist  der  Satz5,  der  Weise  sei  nie  in  Verlegenheit. 
Zu  seiner  Erläuterung  wird6  eine  lustige  Geschichte  erzählt. 
Dionysios  nämlich,  an  dessen  Hofe  Aristipp  lange  gelebt  hat, 
habe  sich  auf  diesen  Satz  berufen,  als  der  Philosoph  ihn  um 
Geld  ersuchte;  dieser  aber  habe  erwidert:  Gib  mir  nur  erst  das 
Geld,  und  dann  werden  wir  untersuchen  (ob  das  ein  Wider- 
spruch ist?).  Als  er  nun  das  Geld  hatte,  sagte  er:  Siehst  du, 
daß  ich  nicht  in  Verlegenheit  war? 

Der  Philosoph,  der  den  Tyrannen  um  Geld  bittet,  macht  uns 
leicht  den  Eindruck  des  gemeinen  Schmarotzers.  In  den  Augen 
Aristipps  erschien  dieses  Verhältnis  in  anderem  Lichte.  Daß 
die  innere  Freiheit  und  Würde  des  Menschen  durch  irgend-  . 
welche  äußere  Reden  oder  Handlungen  eine  Einbuße  erleiden 
könnte,  galt  ihm  als  völlig  undenkbar.  Solange  er  in  seinem 

i)  Diog.  Laert.  II.  66.  2)  Diog.  Laert.  II.  75.  3)  Diog.  Laert.  II.  68.  4)  Diog. 
Laert,  11.76.  5)  Diog.  Laert.  II.  82.  6)  Ebenda. 


142 


SIEBENTE  VORLESUNG 


Inneren  die  rechte  Stellung  zu  den  Dingen  einnimmt,  ist  sein 
äußeres  Verhalten  gänzlich  irrelevant.  Wenn  er  Geld  brauchen 
kann,  und  jener  bereit  ist,  es  herzugeben,  dann  stellt  sich  ihm  die 
Ablehnung  als  eitle  Ziererei  dar,  als  ein  Ausfluß  jenes  „leeren 
Scheines",  welcher  der  kynischen  „Einbildung"  aufs  nächste 
verwandt  ist,  und  deren  Verachtung  beide  Teile  zu  ähnlichen 
Verstößen  gegen  das  geführt  hat,  was  ihnen  als  bloß  konven- 
tioneller Wert  erschien.  „Leerer  Schein"  ist  es  z.  B.1,  wenn 
man  am  Umgang  mit  einer  Hetäre  Anstoß  nimmt,  weil  schon 
viele  mit  ihr  verkehrt  haben:  es  stößt  sich  doch  auch  niemand 
daran,  daß  man  auf  einem  Schiffe  fährt,  auf  dem  schon  viele  ge- 
fahren sind,  oder  in  einem  Hause  wohnt,  in  dem  schon  viele 
gewohnt  haben.  So  findet  er  auch,  daß  sich  sein  Verhältnis  zu 
Dionysios  in  nichts  von  anderen  Tauschgeschäften  unter- 
scheide: er  komme  eben2,  um  zu  geben,  was  er  habe  (nämlich 
Weisheit),  und  zu  nehmen,  was  er  nicht  habe  (nämlich  Geld). 
Und  auf  die  Frage,  warum  die  Philosophen  die  Reichen  auf- 
suchen und  nicht  umgekehrt,  erwidert  er3:  Weil  diePhilosophen 
wissen,  daß  es  ihnen  an  Geld  fehlt,  die  Reichen  aber  nicht  wissen, 
daß  sie  der  Weisheit  bedürfen.  Als  ihn  Dionysios  anspuckte, 
heißt  es4,  ließ  er  sich  das  ruhig  gefallen;  und  als  er  deswegen  ge- 
tadelt wurde,  meinte  er:  wenn  sich  die  Fischer  mit  Meerwasser 
bespritzen  lassen,  um  einen  ganz  kleinen  Fisch  zu  erbeuten,  soll 
ich  mich  nicht  mit  gewässertem  Wein  bespritzen  lassen,  um  einen 
so  großen  Fisch  zu  fangen?  So  wie  es  leerer  Schein  wäre,  sich 
hier  zu  zieren,  so  auch,  wollte  man,  um  einem  Freunde  zu 
nützen,  sich  bedenken,  vor  dem  Tyrannen  einen  Fußfall  zu  tun: 
es  ist  nicht  meine  Schuld,  sagt  er5,  sondern  die  des  Dionys, 
wenn  er  seine  Ohren  an  den  Füßen  trägt.  Und  in  ihrem  Gegen- 
satze zu  Piatons  etwas  pedantischer  Würde  wird  (unter  Be- 
nutzung zweier  euripideischer  Verse)  seine  Lebensauffassung 
trefflich  durch  folgende  Anekdote6  charakterisiert:  Dionysios 
habe  einmal  bei  einem  Gelage  beide  Philosophen  Purpurkleider 

i)  Diog.  Laert.  II.  74.  2)  Diog.  Laert.  II.  77.  3)  Diog.  Laert.  II.  69.  *)  Diog. 
Laert.  II.  67.  5)  Diog.  Laert.  II.  79.  6)  Diog.  Laert.  II.  78. 


DIE  KYRENAIKER 


143 


anlegen  und  ihm  vortanzen  geheißen;  Pia  ton  aber  habe  sich 
!  dessen  geweigert,  indem  er  sprach: 

„Nie  könnt'  ich  mich  in  Weiberkleider  hüllen!" 

Ar i  stipp  aber  habe  ruhig  das  Gewand  umgenommen,  und,  im 
Begriffe  zu  tanzen,  schlagfertig  erwidert: 

„Aber  auch  im  Tanz 
Nimmt,  wessen  Sinn  gesund  ist,  keinen  Schaden. " 

So  sehen  wir,  wie  Aristipp,  als  rechter  Jünger  des  So- 
I  krates,  allen  Wert  ins  Innere  des  Menschen  verlegt,  wo  er,  von 
I  allen  äußeren  Zufällen  unabhängig,  geborgen  ist.  Und  sehr 
j  glaublich  klingt,  was  uns  eine  späte  Quelle1  berichtet:  er  habe 
den  jungen  Leuten  empfohlen,  sich  auf  die  (Lebens-)  Reise  eine 
solche  Wegzehrung  mitzunehmen,  welche  auch  bei  einem  Schiff- 
I  bruche  mit  ihnen  gerettet  werden  könne.  Und  wie  ihm  endlich 
das  Bewußtsein  dieser  unvergänglichen  Besitztümer  als  das 
einzig  wahre  Freiheitsbewußtsein  erschien,  dafür  mag  zum 
Schluß  noch  folgende  Geschichte2  zeugen:  „Auf  die  Frage  eines 
!  Vaters,  wieviel  er  für  die  Erziehung  seines  Sohnes  verlangen 
j  würde,  erwiderte  er:  1000  Drachmen.  Da  aber  jener  ausrief: 
!  beim  Herakles!  wie  übermäßig  ist  deine  Forderung!  Für 
1000  kann  ich  mir  ja  einen  Hofmeister  kaufen!  —  versetzte  er: 
und  wirst  dann  sogar  zwei  Sklaven  haben:  erstens  den,  welchen 
I  du  kaufst,  und  zweitens  deinen  Sohn!" 

In  der  Tat,  die  hedonische  Theorie  der  Kyrenaiker  ist  sehr 
anfechtbar.  Darüber  werden  wir  alsbald  näher  zu  sprechen 
haben.  Aber  daß  Aristipp  zu  den  innerlich  freiesten  Menschen 
|  zählt,  die  wir  kennen,  scheint  mir  nicht  zweifelhaft.  Ja,  mag  es 
auch  in  den  Lehrbüchern  üblich  sein,  Kyniker  und  Kyrenaiker 
als  „unvollkommene  Sokratiker"  zu  bezeichnen  —  wir  werden 
j  doch  sagen  dürfen:  soweit  wir  nach  unseren  Quellen  urteilen 
I  können,  werden  diese  drei: Sokrates, Diogenes  und  Aristipp 
an  innerer  Freiheit  von  keinem  anderen  übertroffen.  Und  um 

*)  Exc.  ex  floril.  Joh.Damasc.  11.13.  138  (Meineke).  2)  Plutarch,  de  lib.  educ. 
7,  p.4ff. 


144 


SIEBENTE  VORLESUNG 


Ihnen  zu  zeigen,  daß  dieses  Urteil  nicht  meiner  Subjektivität 
entspringt,  erinnere  ich  Sie  aufs  neue  an  jene  Äußerung  des 
späten  Kynikers  Demonax1,  die  uns  schon  einmal  vorge- 
kommen ist.  Denn  dieser  selbe  Philosoph,  der  das  gemeinsame 
Ideal  der  griechischen  Ethik  so  klar  ausgesprochen  hat,  indem 
er2  das  „Glück"  als  „Freiheit"  bestimmte  und  diese  wieder  als 
Abwesenheit  von  Hoffnung  und  Furcht  erklärte,  erwiderte,  wie 
wir  hörten,  auf  die  Frage,  welche  Philosophen  er  anerkenne: 
„Erstaunlich  sind  sie  alle;  ich  aber  verehre  Sokrates,  bewun- 
dere Diogenes,  und  liebe  Aristipp." 

Allein,  geehrte  Zuhörer,  mögen  wir  von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  die  Person  des  ersten  Kyrenaikers  noch  so  hoch 
stellen,  gegen  die  Lehre  seiner  Schule  lassen  sich,  gerade  von 
ihm  aus,  ganz  erhebliche  Bedenken  nicht  unterdrücken.  Auf 
diese  aber  müssen  wir  hier  mit  einigen  Worten  eingehen,  nicht 
nur,  weil  dies  zur  Würdigung  dieser  geschichtlichen  Erschei- 
nung, sondern  auch,  weil  es  zum  Verständnis  jener  Fortbildung 
unerläßlich  ist,  welche  dieseLehrebeiden  jüngerenKyrenaikern 
erfahren  hat.  Es  sind  drei  Punkte,  auf  die  ich  in  diesem  Zu- 
sammenhange Ihre  Aufmerksamkeit  lenken  möchte. 

Zunächst  ruht  dieHedonik  (in  allen  ihren  Formen)  auf  einer 
völlig  unhaltbaren  theoretischen  Voraussetzung.  Sie  verkennt 
nämlich  das  prinzipielle  Wesen  des  menschlichen  Begehrens, 
und  speziell  des  Wollens  als  seiner  ausgesprochensten  Grund- 
form, in  seiner  psychophysischen  Bedeutung.  Aber  wie 
alle  anderen  verhängnisvollen  Irrtümer  schließt  auch  dieser, 
freilich  einseitig  entstellt,  einen  bedeutenden  Wahrheitsgehalt 
ein.  Sonst  wäre  er  ungefährlich.  Um  zunächst  bei  dem  mehr 
äußerlichen  anzufangen,  so  ist  unleugbar,  daß  jede  Vorstel- 
lung eines  künftigen,  als  lustvoll  gedachten  Erlebnisses  eine 
Tendenz  hat,  den  Willen  im  Sinne  seiner  Realisierung  zu  be- 
stimmen; und  ferner,  daß  die  Realisierung  jedes  Wollens  schon 
als  solche  die  Tendenz  hat,  Lust  zu  erzeugen.  Durch  den 
zweiten  dieser  Umstände  wird  aber  die  Neigung  verstärkt,  den 

i)  Lucian,  Demonax  62,  p.  394.  2)  ibid.  20,  p.  383. 


DIE  KYRENAIKER 


145 


ersten  in  dem  Sinne  zu  interpretieren,  als  ob  nur  die  Erwartung 
künftiger  Lust  Gegenstand  des  Wollens  zu  sein  vermöchte, 
während  schon  die  alltäglichen  Erscheinungen  der  Gewohnheit 
und  Suggestion  uns  zeigen,  daß  die  wesentliche  Bedingung  einer 
Zweckvorstellung  nicht  ihr  Lustcharakter  ist,  sondern  vielmehr 
der  Umstand,  daß  sie  als  „herrschende"  im  „Blickpunkte"  des 
Bewußtseins  steht,  mag  ihr  nun  diese  „herrschende"  Stellung 
durch  ihren  Lustcharakter  oder  auf  irgend  eine  andere  Weise 
!  erteilt  worden  sein.  Aber  freilich,  auch  damit  ist  noch  nicht 
!  das  letzte  Wort  gesprochen.  Denn  die  „herrschende"  Vor« 
!  Stellung  kann  lediglich  die  Richtung  des  Wollens  bestimmen; 
j  außerdem  aber  bedarf  dieses,  um  überhaupt  von  statten  zu  gehen, 
einer  Triebkraft,  und  als  solche  kann  nie  etwas  anderes  fun- 
gieren als  eine  affektive  Erregung.  Und  hier  liegt  nun  die 
Wurzel  des  Mißverständnisses  bloß.  Bei  den  hedonisch  gefärb- 
ten Zwecken  nämlich  fallen  die  herrschende,  richtunggebende 
Vorstellung  und  der  erregende,  treibende  Affekt  zusammen. 
Daher  erscheint  dieser  Fall  der  theoretischen  Betrachtung 
leicht  als  der  einfache,  typische  Grundfall,  welcher  der  Deutung 
aller  anderen  Fälle  zugrunde  gelegt  werden  muß.  Allein  eben- 
sogut kann  der  Affekt  seinen  Ursprung  ganz  wo  anders  haben: 
sei  es,  daß  er  an  einer  anderen  Vorstellung  haftet  (wie  wenn 
das  Mittel  gewollt  wird  um  des  Zweckes  willen),  sei  es,  daß  er 
in  einem  organischen  Zustande  wurzelt  (wie  wenn  momentane 
Aufregung  in  mehr  oder  weniger  sinnlosen  Handlungen  sich 
entlädt),  sei  es  endlich,  daß  er  nur  das  Vorhandensein  eines 
aufgespeicherten  Kraftvorrates  ausdrückt  (wie  in  den  Fällen,  von 
denen  wir  seinerzeit  gehandelt  haben:  in  der  liebenden  Hin- 
gebung, in  der  schöpferischen  Produktivität  und  im  Spiel  über- 
haupt). Diese  Sachlage  verkennt  jede  hedonische  Willens-  und 
Begehrungstheorie. 

Hieraus  aber  folgt  zweitens  ein  anderes.  Die  realen  Faktoren 
des  Begehrens  und  Wollens  überhaupt,  und  insbesondere  auch 
jener  Begehrungsumbildung,  die  wir  als  den  Erlösungsprozeß 
zur  Genüge  kennen,  liegen  in  den  Kraftverhältnissen.  Daß  ein 

Gomperz,  Lebensauffassung  10 


146  SIEBENTE  VORLESUNG 

Kraftüberschuß  aus  einem  Kraftminimum  hervorwächst  und  es 
überwindet  —  in  dieser  dynamischen  Gleichgewichtsänderung, 
wissen  wir,  besteht  die  innere  Befreiung;  d.  h.  also  darin,  daß 
die  eben  an  letzter  Stelle  genannte  Art  der  Willensbestimmung 
stetig  diejenige  verdrängt,  die  wir  an  erster  Stelle  angeführt 
haben.  Aber  da  jede  Willensbefriedigung  von  Lust  begleitet  zu 
sein  pflegt,  so  kann  auch  diese  Entwicklung  nicht  eine  völlige 
Elimination  der  hedonischen  Zustände  bedeuten.  Wohl  aber 
bedingt  sie  eine  qualitative  Änderung  dieser  Zustände.  Denn, 
Sie  erinnern  sich,  dem  Kraftminimum  entspricht  die  Lust  des 
Genusses,  dem  Kraftüberschuß  die  Freudigkeit  des  Tuns.  Allein 
diese  Änderung  hat  eine  lediglich  sekundäre  Bedeutung;  sie 
ist  für  jene  primäre  Entwicklung  lediglich  das  Anzeichen, 
sowie  die  Rauchsäule,  welche  der  Lokomotive  entströmt,  das 
Anzeichen  ist  für  den  realen  dynamischen  Vorgang,  daß  die 
Maschine  den  Eisenbahnzug  hinter  sich  her  zieht.  Jeder  Ver- 
such daher,  das  Wesen  des  Erlösungsprozesses  hedonisch  zu 
beschreiben,  setzt  einen  Strang  von  Symptomen  an  die  Steile 
der  Reihe  wirkender  Ursachen:  es  ist,  als  wollte  jemand 
das  Dahinbrausen  des  Zuges  aus  der  Form  und  Richtung  der 
entwickelten  Rauchsäule  verstehen.  Dieser  entscheidende  Ein- 
wandsteht jedem  Versuche  entgegen,  das  Ideal  der  inneren  Frei- 
heit in  einer  hedonischen  Theorie  zu  formulieren. 

Drittens  aber  ist  nun  eben  dieses  zu  sagen:  wenn  schon  der 
Erlösungsprozeß  unter  hedonischen  Gesichtspunkten  beschrie- 
ben werden  soll,  dann  muß  notwendig  der  erwähnte  Unter- 
schied der  Lustzustände  in  den  Vordergrund  gerückt,  und  die 
innere  Befreiung  dargestellt  werden  als  das  stetige  Zurück- 
treten der  passiven  Lust  am  Äußeren  hinter  die  aktive  Freudig- 
keit des  eigenen  Inneren.  Gänzlich  unzulänglich  also  muß  eine 
Theorie  dieser  Aufgabe  gegenüberstehen,  die  diesen  Unterschied 
grundsätzlich  ignoriert  und  die  prinzipielle  Gleichwertigkeit 
aller  Lustzustände  voraussetzt.  Soviel  freilich  muß  zugestanden 
werden:  da  die  passive  Lust  des  Genusses  abhängig  ist  von 
jenen  Wendungen  des  äußeren  Schicksals,  die  sich  unserer  Ge- 


DIE  KYRENAIKER 


147 


walt  entziehen  und  nur  zu  häufig  Leid  statt  Lust  uns  aufnötigen; 
und  da  auf  der  anderen  Seite  die  aktive  Lust  der  Selbstauswir- 
kung von  diesen  Wendungen  unabhängig  und  also  jedem  für  so- 
lange sicher  ist,  als  er  ihre  Vorbedingungen  in  sich  verwirk- 
lichen kann;  so  mag  in  der  Regel  auch  im  hedonischen  Sinne 
der  innerlich  freie  Mensch  „glücklicher"  sein  als  der  unfreie, 
obwohl  natürlich  auch  Fälle  denkbar  sind,  wo  ein  dauernd 
günstiges  äußerliches  Schicksal  diesen  Unterschied  ganz  oder 
nahezu  ausgleicht.  In  diesem  Sinne  kann  deshalb  die  innere 
Freiheit  freilich  auch  als  ein  Lustmaximum  angesehen  werden. 
Allein  es  ist  klar,  daß  eine  so  vermittelte  und  keineswegs  not- 
wendige Folge  unfähig  bleiben  muß,  uns  das  wesentliche  des 
Vorganges,  um  den  es  sich  handelt,  begreifen  zu  lassen.  Gerade 
dies  aber  ist  der  Standpunkt  des  Ari stipp:  jede  Lust  stellt  er 
grundsätzlich  jeder  anderen  gleich;  und  das  aus  seiner  Persön- 
lichkeit unverkennbar  hervorleuchtende  Prinzip,  die  vom  äuße- 
ren Schicksal  unabhängigen  Lustarten  auf  Kosten  der  von  ihm 
abhängigen  aufzusuchen  und  auszubilden,  verbirgt  er  hinter  der 
in  ihrer  Allgemeinheit  und  Unbestimmtheit  durchaus  mehrdeu- 
tigen Forderung,  in  jeder  Lebenslage  einen  Lustanlaß  aufzu- 
spüren. Dann  aber  werden  wir  urteilen  dürfen:  seine  Lehre 
war  von  vornherein  nicht  dazu  geeignet,  ein  angemessener 
Ausdruck  für  sein  Leben  zu  werden. 

Hier  aber  müssen  Sie  sich  daran  erinnern,  daß  eben  diesen 
Unterschied,  dessen  Beachtung  wir  bei  den  älteren  Kyrenaikern 
vermissen,  die  Kyniker  gesehen  haben.  Wir  hörten  ja,  daß 
Antisthenes  einen  doppelten  Lustbegriff  kannte,  und  auch,  daß 
j  derselbe  Diogenes,  der  gegen  die  „Lüste"  zu  Felde  ziehen 
,  wollte,  Heiterkeit  und  Fröhlichkeit  für  das  Wesen  des  „Glückes" 
;  erklärt  hat.  Nur  meinten  sie  zu  Unrecht,  diese  letzteren  könnten 
j  nur  gewonnen  werden,  wenn  auf  jene  erstem  Verzicht  geleistet 
I  würde,  während  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  die  Forderung 
!  in  sich  schließt,  der  Mensch  müsse  auch  während  der  Befrie- 
;  digung  seiner  „niederen"  Bedürfnisse  seine  innere  Freudigkeit 
über  seine  äußere  Lust  dominieren  lassen.  Erst  dies  hieße 

10* 


148 


SIEBENTE  VORLESUNG 


wahrhaft  „die  Lust  überwinden",  und  nur  ein  in  diesem  Sinne 
modifizierter  Kynismus  hätte  dem  Postulate  genügt,  das  Ideal 
der  inneren  Freiheit  hedonisch  zu  konstruieren  —  soweit  dies 
überhaupt  möglich  ist. 

In  diesem  Sinne  einer  Synthese  der  beiden  Doktrinen  ist  nun 
die  kyrenaische  Lehre  in  der  Tat  wenige  Generationen  nach 
Aristipp  umgebildet  worden,  und  diese  Umbildung  knüpft  sich 
an  den  Namen  des  „Atheisten"  Theodoros.  Dieser  nämlich 
schloß  sich,  obwohl  ein  Schüler  des  jüngeren  Aristipp,  in  den 
wesentlichsten  Bestimmungen  den  Kynikern  an.  Gleich  ihnen 
scheint  er  die  Volksgötter  geleugnet  zu  haben  und  deshalb  (un- 
genauerweise) ein  „Atheist"  genannt  worden  zu  sein.  Gleich 
ihnen  erklärte  er  nur  die  Welt  für  sein  Vaterland l.  Gleich  ihnen 
verteidigte  er  den  öffentlichen  Geschlechtsverkehr2.  Gleich 
ihnen  betonte  er  die  Selbstgenügsamkeit  des  Weisen3.  Gleich 
ihnen  wollte  er  nur  das  Schöne  als  Gut,  nur  das  Schimpfliche  als 
Übel  gelten  lassen4.  Hatte  ferner  schon  Diogenes  einen  großen 
Teil  der  moralischen  Normen  auf  bloße  „Einbildung"  zurückge- 
führt,undinsbesondereKannibalismus,BlutschandeundTempel- 
schändung  für  „natürlich"  erklärt,  so  sagte5  ganz  in  demselben 
Sinne  Theodor,  Tempelraub,  Diebstahl  und  Ehebruch  seien 
nicht  „von  Natur"  schimpflich,  sondern  nur  infolge  einer  ihnen 
anhaftenden  „Meinung",  und  der  Weise  werde  sich  vor  ihnen  „zur 
rechten  Zeit"  nicht  scheuen ;  jene  „Meinung"  aber  diene  dazu,  die 
Unverständigen  im  Zaume  zu  halten.  Dieser  letzte  Zusatz  darf 
nicht  übersehen  werden,  wenn  die  Tragweite  dieser  berüchtigten 
Lehre  abgeschätzt  werden  soll.  Denn  offenbar  setzt  sie  voraus,  daß 
die  Verständigen  sich  schon  selber  beherrschen  werden  —  wie 
ja  auch  Aristipp  geäußert  hatte6,  wenn  alle  Gesetze  aufgehoben 
würden,  so  würde  das  an  seinem  Leben  nichts  ändern,  und  eben 
dies  sei  die  Frucht  der  Philosophie.  Die  „rechte  Zeit",  zu  der 
jene  Normen  ihre  Kraft  verlieren  würden,  kann  also  schwerlich 
etwas  anderes  sein,  als  eine  Aufhebung  der  normalen  sozialen 


i)  Diog.  Laert.  11.99.  2)  Ebenda.  3)  Diog.  Laert.  11.98.  *)  Stob.  Floril.  119. 
16  (Meineke).  5)  Diog.  Laert.  11.99.  6)  Diog.  Laert.  11.68. 


DIE  KYRENAIKER 


149 


Bedingungen  und  ein  partieller  Wiedereintritt  des  „Naturzu- 
standes", in  dem  dann  der  Weise  seinen  Anteil  an  dem  „Kampf 
aller  gegen  alle"  auf  sich  nehmen  müßte.  Ferner  ist  zu  beachten, 
daß  —  wie  dies  der  kynischen  Lehre  entspricht  —  jene  „kon- 
ventionelle" Natur  nicht  allen,  sondern  nur  diesen  besonderen 
Moralvorschriften  beigelegt  wird,  und  es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  die  von  ihnen  geschützten  Kulturgüter  (Kultus,  Ehe  und 
Privateigentum)  diese  Auffassung  in  viel  höherem  Grade  als 
andere  (z.  B.  Leben  und  Gesundheit)  zulassen,  ja  wirklich  (und 
keineswegs  nur  im  Altertum)  herausgefordert  haben.  Endlich 
aber  ist  als  selbstverständlich  vorauszusetzen,  daß  auch  jene 
eventuellen  Verstöße  gegen  die  „Konvention"  nur  für  solche 
Fälle  zugelassen  werden  sollen,  in  welchen  sie  nicht  aus  einer, 
die  innere  Freiheit  aufhebenden  Begierde  hervorgehen.  Denn 
als  Anhänger  dieses  Ideals  erklärt  sich  Theodor  nicht  nur  aus- 
drücklich in  den  mitgeteilten  Aussprüchen,  sondern  hat  für  das- 
selbe auch  durch  sein  Verhalten  Zeugnis  abgelegt.  Denn  als  er 
mit  dem  Kreuzestode  bedroht  wurde,  gab  er  die  berühmt  ge- 
wordene Antwort1,  es  mache  keinen  Unterschied,  ob  er  „am 
Boden"  oder  „hoch  oben"  verfaule. 

Hier  aber  ist  uns  vor  allem  ein  anderes  wichtig.  Ganz  im  Sinne 
des  diogeneischen  Ausspruches  nämlich,  das  „Glück"  bestehe 
darin,  wohlgemut  zu  sein  und  niemals  zu  trauern,  modifizierte 
nun  Theodor  die  kyrenaische  Lehre,  indem  er  an  die  Stelle  der 
äußeren  „Lust"  die  innere  „Freude"  setzte.  „Als  letzte  Werte", 
heißt  es2,  „nahm  er  Freude  und  Trauer  an:  jene  die  Folge  der 
Einsicht,  diese  des  Unverstandes.  Güter  aber  nannte  er  Einsicht 
und  Gerechtigkeit,  Übel  deren  Gegensätze,  indifferent  aber  Lust 
und  Schmerz."  Diese  „Freude"  nun  darf  nicht  etwa  als  eine 
Lustsumme  (im  „protagoreischen"  Sinne)  aufgefaßt  werden; 
denn  dann  wäre  ja  die  einzelne  Lust  ein  konstituierendes  Ele- 
ment dieses  letzten  Wertes,  müßte  also  notwendig  für  ein  Gut 
und  könnte  unmöglich  für  gleichgültig  erklärt  werden.  Vielmehr 
ist  unzweifelhaft,  und  erhellt  auch  aus  der  Wahl  des  Wortes  zur 

i)  Cicero,  Tusc.  I.  43.  102.  2)  Diog.  Laert.  II.  98. 


150  SIEBENTE  VORLESUNG 

Genüge,  daß  hier  als  wertvoll  nur  eine  qualitativ  bestimmte 
Art  der  Lust  anerkannt  werden  soll,  und  zwar  kann  nach  der 
ganzen  Lage  damit  nichts  anderes  gemeint  sein,  als  eben  die 
habituelle,  innere  Freudigkeit.  Zu  ihr  aber,  sagt  Theodor, 
führen  zwei  Wege:  Einsicht  und  Gerechtigkeit.  Was  nun  die 
„Einsicht"  betrifft,  so  versteht  sich  ein  solches  intellektuelles 
Moment  in  einer  griechischen  Theorie  von  selbst,  und  wir 
wissen  ja,  daß  Kyniker  und  Kyrenaiker  einstimmig  das  Erkennen 
des  wahrhaft  und  das  Durchschauen  des  nur  scheinbar  Wert- 
vollen für  die  unerläßliche  Vorbedingung  der  inneren  Befreiung 
erklären.  Es  scheint  aber,  daß  Theodor  auch  in  dieser  Rich- 
tung einen  Schritt  über  seine  Vorgänger  hinausgetan  habe. 
Denn  man  hat  längst  vermutet,  ihm  gehöre  der  von  Cicero1 
angeführte  Gedanke  an:  nur  unvorhergesehenes  Übel  erzeuge 
Betrübnis,  gegen  dieses  aber  könne  man  sich  schützen,  indem 
man  sich  im  voraus  darauf  gefaßt  mache.  Ist  dies  nun  richtig, 
so  spielen  bei  unserem  Denker  die  intellektuellen  Vorgänge 
doch  eine  wesentlich  andere  Rolle  als  etwa  bei  Diogenes  oder 
Aristipp.  Sie  dienen  nämlich  dann  nicht  mehr  bloß  zur  theo- 
retischen Umschreibung,  sondern  auch  zur  praktischen 
Vermittlung  der  Willensumbildung.  Daß  aber  eine  solche 
Vermittlung  zu  ihr  wesentlich  gehört,  und  bei  einer  zulänglichen 
Theorie  der  Erlösung  nicht  übersehen  werden  darf,  dies  wird 
sich  uns  bei  Besprechung  der  stoischen  Lehre  zur  Genüge 
herausstellen.  Unter  der  „Gerechtigkeit"  aber  hat  man  entweder 
dasBefolgen  jener  Rudimente  eines  „natürlichen"  Sittengesetzes 
zu  verstehen,  die  Theodor  noch  anerkannt  haben  dürfte;  oder 
aber  das  Wort  bezeichnet  allgemein  die  richtige  Willensbe- 
schaffenheit, und  ergänzt  dann  die  Einsicht  in  ganz  ähnlicher 
Weise,  wie  dies  bei  den  Kynikern  die  „Übung"  getan  hatte. 
Einen  solchen  Sprachgebrauch  aber  könnte  man  in  einer  Zeit 
nicht  auffallend  finden,  in  der,  wie  Sie  sehen  werden,  auch 
Piaton  die  Gerechtigkeit  als  einen  inneren  Zustand  der  Seele 
definiert.   Von  den  kynischen  Einseitigkeiten  aber  hat  sich 


I)  Tusc.  III.  13.  28  ff. 


DIE  KYRENAIKER 


151 


Theodor  jedenfalls  freigehalten.  Davon  gibt  auch  eine  hübsche 
Anekdote1  Zeugnis,  die  wohl  mit  Recht  auf  ihn  bezogen  wird. 
Da  er  nämlich  einst,  von  zahlreichen  Schülern  umgeben,  an 
dem  Kyniker  Metrokies  vorbeiging,  sei  dieser  eben  damit  be- 
schäftigt gewesen,  das  Gemüse  auszuwaschen,  das  ihm  als  ein- 
zige Nahrung  diente,  und  habe  ihm  höhnisch  zugerufen:  „Wenn 
du  Gemüse  wüschest,  brauchtest  du  nicht  so  viel  Schüler  zu 
unterrichten!",  er  aber  habe  geantwortet:  „Und  wenn  du  mit 
den  Menschen  umzugehen  verstündest,  brauchtest  du  nicht  Ge- 
müse zu  waschen."  So  sehen  wir,  daß  Theodor  zwar  aus  dem 
Kynismus  alle  jene  Elemente  übernommen  hat,  die  ihm  zur  Aus- 
prägung und  Begründung  des  gemeinsamen  Ideals  brauchbar 
schienen,  dabei  aber  doch  die  antisthenische  Freiheit  im  Ent- 
behren durch  die  aristippische  Freiheit  im  Genießen  ergänzt 
hat,  und  werden  deshalb  behaupten  dürfen,  daß  wir  in  seiner 
Lehre  die  vollkommenste  hedonische  Konstruktion  des  Ideals 
der  inneren  Freiheit  kennen,  die  dasselbe  im  Altertum  (und  auch 
später)  gefunden  hat,  ja  wohl  auch  die  beste,  deren  es  seiner 
Natur  nach  überhaupt  fähig  ist. 

Eine  andere  Weiterbildung  des  Kyrenaismus  dagegen,  die 
sich  an  den  Namen  des  Hegesias  knüpft,  zeigt  nur  um  so  deut- 
licher, daß  ein  wirklicher  Fortschritt  allein  auf  dem  Wege  des 
Theodoros  möglich  war.  Schon  Krates2  hatte  den  Hedonis- 
mus  dadurch  ad  absurdum  führen  wollen,  daß  er  meinte, 
es  gebe  doch  mehr  Leid  als  Lust,  und,  mit  diesem  Maßstabe  ge- 
messen, werde  daher  das  Leben  stets  eine  Leidbilanz  ergeben: 
Glück  im  hedonischen  Sinne  sei  unmöglich.  Derselben  Argu- 
mentation bedient  sich  nun  Hegesias3.  Aber  da  ihm  die  he- 
donische Voraussetzung  als  unumstößlich  gilt,  und  er  sich  nicht 
entschließen  kann,  ein  Mehr  von  äußerem  Leid  durch  die  innere 
Freudigkeit  aufwiegen  zu  lassen,  so  zieht  er  aus  ihr  eine  andere 
Konsequenz.  Er  findet  nämlich,  sowohl  Lust  wie  Schmerz  ent- 
sprängen unserem  „Haften"  an  äußeren  Gütern.  Würde  dieses 
unterdrückt,  so  würde  mit  aller  Lust  auch  aller  Schmerz  ver- 

»)  Diog.  Laert.  II.  102.  2)  Teles  S.  38  (Hense).  3)  Diog,  Laert.  II.  94. 


152 


SIEBENTE  VORLESUNG 


schwinden,  und  es  würde  sich  dann  der  günstigste  aller  uns 
überhaupt  erreichbaren  Zustände  ergeben:  nämlich  ein  solcher 
völliger  Indifferenz.  Dies  aber  ist  in  der  Tat  möglich.  Denn 
nichts  ist  „von  Natur"  angenehm  oder  unangenehm1,  sondern 
erst  unsere  subjektive  Stellung  zu  den  Dingen  schafft  diese 
Werte.  Nur  dann  also,  wenn  wir  diese  Subjektivität  gänzlich 
unterdrücken  und  uns  „in  bezug  auf  das,  was  Lust  gewährt,  in- 
different verhalten"2,  wenn  wir  also  weder  Reichtum  noch  Ar- 
mut, weder  (äußere)  Freiheit  noch  Knechtschaft,  weder  edle 
noch  unedle  Abkunft,  weder  Ehre  noch  Schande,  ja  auch  weder 
Leben  noch  Tod  uns  wünschen  und  daran  Vergnügen  finden3, 
fällt  uns  das  „Ziel"  zu:  das  schmerzlose  Leben.  Dieser  Ge- 
dankengang nun  ist  nicht  dem  Hegesias  allein  eigentümlich. 
Wir  kennen  ihn  als  charakteristisch  für  eine  weit  bedeutsamere 
weltgeschichtliche  Erscheinung.  Es  ist  der  Gedankengang  des 
Buddha.  Das  Ideal  der  inneren  Freiheit  bleibt  bei  Hegesias 
bestehen.  Aber  es  wird  Mittel  zum  Zweck.  Es  ist  „der  Weg 
zur  Aufhebung  des  Leidens".  An  diesem  Punkte  schlägt  die  op- 
timistische in  die  pessimistische  Selbsterlösungslehre  um. 

Der  Pessimismus  aber  hat  sich  zu  allen  Zeiten  (auch  in  den 
unsern)  dem  Hedonismus  an  die  Fersen  geheftet.  Auch  er- 
scheint mir  diese  Konsequenz  als  eine  ziemlich  unvermeidliche. 
Doch  kann  ich  die  Gründe  dieser  Ansicht  hier  nicht  näher  ent- 
wickeln. Ganz  unzulänglich  ist  jedenfalls  der  Versuch,  den  ein 
anderer  Kyrenaiker,  Annikeris,  unternommen  hat,  um  sich 
dieser  Folgerung  zu  entziehen.  Er  gibt  zu,  daß  das  Leid  die 
Lust  überwiege4.  Aber  die  bloße  Schmerzlosigkeit,  die  ja  auch 
dem  Toten  zukommt,  ist  nicht  das  Glück5.  Dennoch  wird  der 
Weise  glücklich  sein6.  Denn  er  freut  sich  nicht  nur  an  Lüsten, 
sondern  auch  —  an  anderen  Menschen.  Das  Nähere  ist  wider- 
sprechend überliefert7.  Die  Liebe  und  das  Wohlwollen  für 
Freunde,  Eltern  und  Vaterland,  die  Freude  am  Verkehr  und  an 

i)  Diog.  Laert.  II.  94.  2)  Diog.  Laert.  II.  96.  3)  Diog.  Laert.  II.  94  f.  4)  Diog. 
Laert.  II.  96.  5)  Clem.  Alex.  Strom.  II.  130,  p.  498.  6)  Diog.  Laert.  II.  96. 
7)  Diog.  Laert.  und  Clem.  Alex.  a.  a.  O. 


DIE  KYRENAIKER 


153 


ehrenvollen  Bestrebungen  werden  angeführt.  Diese  Lehre  ist 
geschichtlich  höchst  merkwürdig,  denn  unvermittelt  taucht  hier 
der  Begriff  der  „Sympathie"  auf,  und  Annikeris  erscheint  als 
ein  Vorläufer  Shaftesburys,  der  diesen  Begriff  später  zu  so 
hoher  Bedeutung  gebracht  hat.  Aber  in  systematischer  Bezie- 
hung wird  damit  nichts  gebessert.  Meinte  Annikeris,  wir 
i  hätten  Freude  am  Umgange  mit  anderen,  so  sind  dies  Lust- 
I  zustände,  die  von  vornherein  mitzuzählen  waren,  und  dann 
!  wäre  seine  Behauptung  gegenstandslos,  das  Glück  könne  auch 
I  mit  dem  Überwiegen  des  Leides  zusammenbestehen.  Wollte  er 
;  aber  sagen,  wir  hätten  Freude  durch  Teilnahme  an  der  Lust  der 
anderen,  so  bewegt  sich  seine  Argumentation  im  Kreise.  Denn 
;  wenn  auch  bei  diesen  das  Leid  überwiegt,  wie  kann  uns  dann 
i  die  Teilnahme  an  ihrem  Schicksal  glücklich  machen?  Dieser 
I  Versuch  also,  dem  Hegesias  seine  Voraussetzung  zuzugeben, 
seine  Folgerung  aber  zu  bestreiten,  muß  als  gescheitert  ange- 
sehen werden.  Und  um  so  mehr  erscheint  Theodoros  als  der 
Gipfelpunkt  dieser  Entwicklung. 
Freilich  fast  auch  als  ihr  Endpunkt.  Denn  einen  weitreichen- 
i  den  Einfluß  hat  er  nicht  ausgeübt.  Nur  einer  seiner  Schüler  ist 
I  uns  einigermaßen  näher  bekannt.  Es  ist  der  Borysthenite  B  i  o  n. 
|  Dieser  bezeichnet  einen  Übergangspunkt  zwischen  den  Lehren 
i  der  älteren  und  der  jüngeren  sokratischen  Schulen.  Interessante 
Beziehungen  ließen  sich  von  hier  aus  nach  rückwärts  wie  nach 
vorwärts  verfolgen.  Eine  solche  zur  Stoa  wird  uns  später  be- 
schäftigen.   Hier  mag,  als  Anknüpfungspunkt,  ein  Anklang 
an  Hegesias  erwähnt  werden.  Dieser  hatte,  wie  Sie  sich  er- 
innern, betont,  es  stehe  bei  uns,  uns  zu  den  Dingen  zu  stellen, 
wie  wir  wollen.  In  ganz  ähnlichem  Sinne  nun  sagt  Bion1:  Der 
j  Schiffer  ändert  nicht  den  Wind,  sondern  die  Stellung  der  Segel, 
j  Packt  man  die  Schlange  in  der  Mitte,  so  beißt  sie,  nicht  aber, 
wenn  man  sie  am  Kopfe  faßt.  So  richtet  sich  auch  bei  den 
I  Dingen  das  „Beißen"  nach  dem  „Greifen".  In  dieser  Kunst  be- 
steht die  Lebensweisheit.  Wer  sie  versteht,  wird,  wie  ein  guter 

*)  Teles  S.3ff.  (Hense). 


154 


SIEBENTE  VORLESUNG 


Schauspieler,  die  Rolle  des  Unglücklichen  ebensogut  spielen 
wie  die  des  Glücklichen.  Damit  ertönt  als  Ausklang  der  kyre- 
naischen  Hedonik  das  Gleichnis,  das  sich  auch  uns  seinerzeit 
zum  Ausdrucke  des  Ideals  der  inneren  Freiheit  aufgedrängt 
hatte,  und  sich  allen  seinen  Anhängern  immer  wieder  ergibt: 
das  rechte  Leben  ist  ein  Spiel.  Es  findet  sich  im  Neuplatonis- 
mus,  in  der  Stoa,  aber  auch  schon  bei  Piaton.  Mit  diesem 
werden  wir  uns  zunächst  eingehend  beschäftigen  müssen. 


PLATON 


ACHTE  VORLESUNG 

Geehrte  Zuhörer! 

REI  von  den  Jüngern  des  Sokrates  haben 
dem  Ideale  der  inneren  Freiheit  eine  eigen- 
tümliche Gestalt  gegeben:  Antisthenes, 
Aristippos  und  Piaton.  Von  den  beiden 
ersten  haben  wir  gesprochen;  zu  dem  dritten 
müssen  wir  uns  heute  wenden.  Wir  treten 
damit  in  eine  andere  Welt.  In  eine  andere, 
sage  ich  —  deshalb  noch  nicht:  in  eine  bessere,  oder:  in  eine 
schlechtere.  In  der  Tat,  ein  solches  Werturteil  abzugeben, 
möchte  ich  mich  nicht  getrauen;  denn  allzu  schwer  lassen  sich 
hier  Vorzüge  und  Nachteile  gegeneinander  abwägen.  Wenn 
ich  es  zunächst  mit  einiger  Übertreibung  sagen  darf:  neben 
einer  unermeßlichen  theoretischen  Vertiefung  stoßen  wir  bei 
diesem  Übergange  auf  eine  entschiedene  praktische  Verflachung. 
Sokrates,  Diogenes,  Aristipp  sind  vor  allem  große  Men- 
;  sehen;  sie  sind  sehr  mittelmäßige  Gelehrte,  und  sind  Schrift- 
i  steller  teils  gar  nicht,  teils  nur  nebenher:  ihr  Leben  ist  ihre 
Lehre,  ihre  Persönlichkeit  ihr  Werk.  Pia  ton  ist  ein  Gelehrter 
von  fast  beispielloser  Vielseitigkeit,  Fruchtbarkeit,  Anregungs- 
kraft und  Geistesmacht,  und  vielleicht  der  größte,  hinreißendste 
I  und  vollendetste  Schriftsteller  aller  Zeiten;  aber,  neben  jene 
|  gehalten,  erscheint  sein  Leben  arm,  und  er  selbst  als  ein  kleiner 
Mensch.  Gewiß,  es  kann  nicht  anders  sein:  ein  Ideal  kann  nicht 
bloß  das  Herz  erfüllen  und  in  Taten  sich  offenbaren,  es  muß 
auch  den  Kopf  ergreifen,  in  Reden  und  Schriften  sich  darstellen; 
aber  es  büßt  dafür  schwer  an  seiner  lebendigen  Realität,  und 


156 


ACHTE  VORLESUNG 


seine  heroische  Epoche  geht  damit  zu  Ende.  Es  ist  dieselbe  Er- 
scheinung, der  wir  auch  auf  religiösem  Gebiete  stets  begegnen; 
ja  man  kann  geradezu  sagen:  mit  Piaton  tritt  die  Lebensauf- 
fassung der  griechischen  Philosophen  aus  der  evangelisch-apo- 
stolischen in  die  patristisch-theologische  Periode  ein. 

Gewiß,  der  Eindruck,  den  ich  eben  auszusprechen  versucht 
habe,  ist  mitbedingt  durch  äußere  Umstände.  Von  Kynikern  und 
Kyrenaikern  kennen  wir  neben  kurzen  Umrissen  ihrer  Lehren 
vor  allem  eine  Fülle  von  biographischen  Anekdoten;  ihre  Werke 
sind  verloren.  Von  Piaton  besitzen  wir  neben  spärlichen  bio- 
graphischen Notizen  die  Gesamtheit  seiner  Werke.  Allein,  es 
wäre  kurzsichtig,  diesen  Zustand  der  Überlieferung  für  eine  pri- 
märe Tatsache  zu  halten.  Denn  warum  hat  Leben  und  Charakter 
des  Diogenes  oder  Aristipp  in  so  frischem  Andenken  sich  i 
erhalten,  indes  ihre  Schriften  vergessen  wurden?  Und  warum 
sind  die  Schriften  Piatons  mit  solcher  Treue  bewahrt  worden, 
während  die  persönlichen  Züge  so  blaß  und  spärlich  sind?  Im  I 
großen  und  ganzen  sicherlich  darum,  weil  schon  das  Altertum 
so  beiden  Teilen  am  meisten  gerecht  zu  werden  glaubte.  Und 
soweit  wir  dies  Urteil  nachprüfen  können,  werden  wir,  jeden- 
falls soweit  Pia  ton  in  Frage  kommt,  es  nur  zu  dem  unsern  ma- 
chen können. 

Denn,  wie  gesagt,  auch  von  Piaton  haben  die  Alten  Geschich- 
ten erzählt.  Aber  nicht  nur  geben  diese  kein  deutliches  Bild 
seiner  Persönlichkeit,  sondern  sie  lassen  uns  dies  nicht  einmal 
allzu  sehr  bedauern.  Zum  großen  Teil  sind  sie  frostig  und 
eines  etwas  steifen  und  pedantischen  Herrn  würdig.  Wenn  er 
zum  Beispiel  seinen  Schüler  Xenokrates  gebeten  haben  soll1, 
seinen  eigenen  Sklaven  zu  schlagen,  weil  er  selbst  zornig  sei, 
und  in  diesem  Zustande  es  sich  nicht  zutraue;  oder  wenn  er  1 
den  Trunkenen  rät2,  in  den  Spiegel  zu  schauen,  damit  sie  von 
ihrem  ausgelassenen  Gebaren  ablassen,  so  erscheint  das  gar 
sehr  wie  studierte  Kathederweisheit,  und  liegt  von  der  Freiheit 
eines  Diogenes  oder  Aristippos  himmelweit  ab.  Auch  seine 

i)  Diog.  Laert.  III.  38.    2)  Diog.  Laert.  HL  39. 


PLATON 


157 


unglücklichen  sizilischen  Erlebnisse  lassen  uns  vermuten,  daß 
er  im  praktischen  Leben  eine  wenig  imponierende,  ja  vielleicht 
sogar  eine  etwas  komische  Figur  gemacht  habe1.  Der  Mensch 
also,  wie  ersieh  unter  anderen  Menschen,  in  der  Wechselwir- 
kung seines  Innern  mit  der  äußeren  Welt  dargestellt  hat,  ist  uns 
wenig  bekannt,  und  wir  können  wahrscheinlich  dem  Schicksal 
!  dafür  danken,  daß  es  uns  diese  weniger  erfreuliche  Seite  seines 
Wesens  verdeckt,  und  uns  nur  mit  seiner  Innerlichkeit  allein 
!  bekannt  gemacht  hat,  wie  sie  sich  dem  einsam  Denkenden  und 
|  Schreibenden  zu  offenbaren  pflegte. 

Denn  Piaton,  der  Denker  und  der  Schriftsteller,  ist  so  ziem- 
lich die  merkwürdigste  Person  der  antiken,  und  wohl  auch  der 
gesamten  Philosophiegeschichte.  Und  zwar  deshalb,  weil  es 
kaum  jemals  wieder  eine  so  innige  Verschmelzung  und  Durch- 
dringung so  disparater  Eigenschaften,  Denkmotive,  Gefühlswei- 
sen und  Darstellungsformen  gegeben  hat.  Bei  keinem  Mystiker 
finden  wir  einen  höheren  Schwung  als  in  der  Liebesrede  des 
„Phaidros",  bei  keinem  Logiker  eine  schärfere  Dialektik  als  in 
!  den  Erörterungen  des  „Parmenides",  bei  keinem  Humoristen 
j  eine  sonnigere  Heiterkeit  als  in  den  Sophistenschilderungen  des 
i  „Protagoras",  und  dem  schließt  sich  als  viertes  Element  der 
adelige  Sinn  des  vornehmen  Griechen  an,  wie  er  etwa  in  vielen 
Darlegungen  des  „Staates"  zutage  tritt.  Die  Synthesis  all  dieser 
Gaben  aber  finden  wir  im  „Gastmahl",  jener  gewaltigsten  Sym- 
phonie von  Gestalten,  Reden  und  Gedanken,  die  ebenso  fein  ab- 
gewogen ist  im  Aufbau  ihrer  Sätze,  wie  hinreißend  auf  ihrem 
Höhepunkte,  und  rauschend  in  ihrem  Ausklang  —  einer  Gedan- 
kendichtung, die  überhaupt  nur  mit  der  „Divina  Commedia"  und 
dem  „Faust"  verglichen  werden  kann,  aber  auch  aus  dieser  Ver- 
gleichung  unbesiegt  hervorgeht;  denn,  wenn  sie  hinter  ihnen 
zurücksteht  an  Umfang  und  Reichtum,  so  übertrifft  sie  doch  beide 

i)  Nach  Plutarch  (Vita  Dionis  13)  scheint  es,  daß  er,  an  den  Hof  des 
jüngeren  Dionysios  gekommen,  um  Syrakus  im  Sinne  seines  Idealstaates 
zu  regenerieren,  seine  Wirksamkeit  damit  eröffnete,  daß  er,  seiner  päda- 
gogischen Theorie  getreu,  dem  Tyrannen  Unterricht  in  der  Geometrie 
erteilte:  gewiß  ein  Meisterstück  der  Pedanterie! 


158 


ACHTE  VORLESUNG 


an  Tiefe  des  Gehaltes  ebenso  wie  an  Einheitlichkeit  der  Form. 
Doch  von  diesem  Wunderwerke  mehr  zu  reden,  ist  überflüssig 
für  jene,  die  es  kennen  und  verstehen,  und  vergeblich  für 
alle  anderen.  Von  dieser  höchsten  Verbindung  kehre  ich  zu- 
rück zu  den  Elementen.  Denn  die  vier  Richtungen,  von  denen 
ich  sprach,  scheinen  mir  auch  auf  ihre  Hauptquellen  zurückzu- 
weisen. 

Der  vornehme  Sinn  entstammt  Piatons  sozialem  Milieu.  Aus 
einer  uralten  Familie  hervorgegangen,  hat  er  seine  Jugendein- 
drücke nie  vergessen.  Er  war  und  blieb  zu  allen  Zeiten  ein 
Kavalier:  das  Ideal  einer  ebenmäßig-harmonischen  Lebensge- 
staltung, fern  von  Übermaß  und  Einseitigkeit,  aber  zugleich 
auch  dasjenige  eines  im  Innern  geordneten  und  nach  außen 
mächtigen  Athen  hat  er  nie  verleugnet. 

Aus  der  Schule  des  Sokrates  wiederum  empfing  er  die  An- 
regung zu  jener  scharfpointierten  Art  der  Fragestellung  und 
Beweisführung,  die  uns  in  allen  seinen  Werken  in  Erstaunen 
setzt:  nur  daß  die  außerordentliche  Feinheit  seiner  Selbstbeob- 
achtung und  die  außerordentliche  Beweglichkeit  seines  Geistes 
jene  Methode  in  den  Dienst  eines  Weit-  und  Tief blicks  stellten, 
und  sie  mit  einer  Fülle  blendenden  Geistes  verzierten,  von  de- 
nen wir  beim  Meister  freilich  keine  Spuren  finden. 

Zugleich  aber  fiel  der  Abglanz  von  dessen  Persönlichkeit  auf 
ihn,  und  macht  sich  in  der  spielenden  Anmut  seiner  Rede,  in 
der  überlegenen  Heiterkeit  seiner  Darstellung  in  so  hohem 
Grade  geltend,  daß  dadurch  besonders  seine  früheren  Schriften 
als  Kunstwerke  vielleicht  noch  höher  stehen  denn  als  philoso- 
phische Abhandlungen. 

Was  er  aber  zu  alledem  als  sein  Eigenstes  mitbrachte,  das 
war  der  Schwung  seines  Gemütes,  seine  „befiederte  Seele",  mit 
ihrer  ehrfürchtigen  Bewunderung  alles  Großen,  der  Kraft  ihrer 
Begeisterungsfähigkeit,  der  Neigung  im  Spiel  der  dichterischen 
Phantasie  zu  schwelgen,  der  Sehnsucht  nach  dem  Auf  blick  zu 
einer  höhern  Welt. 

Dieser  Vielseitigkeit  seines  Wesens  entsprechend  suchte  und 


PLATON  159 

fand  auch  seine  praktische  und  theoretische  Lebensauffassung 
Anlehnung  und  Anknüpfung  an  die  verschiedensten  fremden 
|  Empfindungsweisen  und  Gedankengänge.  Doch  kann  ich  auch 
hiervon  nur  dasjenige  erwähnen,  was  für  seine  Ethik  von  un- 
mittelbarer Bedeutung  ist.  Denn  ohne  solche,  entsagungsvolle 
aber  notwendige  Beschränkung  müßte  uns  hier  der  Stoff  ins 
Ungemessene  wachsen,  damit  aber  zugleich  seine  Übersichtlich- 
keit verlieren  und  die  Verhältnisse  des  Ganzen  durchbrechen. 
Nur  das  allerwesentlichste  kann  deshalb  hier  und  im  folgenden 
zur  Sprache  kommen. 

Von  Sokrates  also  hat  Piaton  das  Ideal  der  inneren  Freiheit 
übernommen.  Daß  es  für  den  sittlich  wertvollen  Menschen  kein 
Übel  geben  könne,  hat  für  ihn  allezeit  festgestanden.  Schon  in 
!  jungen  Jahren  hat  er  diesen  Satz  von  der  Persönlichkeit  seines 
großen  Meisters  abstrahiert,  und  darum,  wie  Sie  sich  erinnern, 
I  den  sterbenden  Weisen  den  Satz  sprechen  lassen1:  „Dieses  eine 
muß  man  als  die  Wahrheit  erkennen,  daß  es  für  einen  guten 
Mann  kein  Übel  gibt,  weder  im  Leben  noch  nach  dem  Tode;  und 
daß  seine  Angelegenheiten  von  den  Göttern  nicht  vernachlässigt 
werden."  Fast  mit  denselben  Worten  aber,  die  er  hier  jenem 
i  in  den  Mund  legt,  faßt  er  selbst,  viele  Jahre  später,  den  Inhalt 
;  seines  Hauptwerkes  zusammen2:  „Diese  Meinung  also  muß  man 
hegen  in  betreff  des  gerechten  Mannes:  ob  er  nun  in  Armut 
:  verfalle  oder  in  Krankheiten  oder  in  sonst  etwas  von  den  Din- 
;  gen,  die  als  Übel  gelten;  (alles)  dieses  wird  für  ihn  enden  als 
irgend  ein  Gut,  im  Leben  oder  nach  dem  Tode.  Denn  gewißlich 
wird  von  den  Göttern  nicht  vernachlässigt  werden,  wer  sich 

entschließen  will,  gerecht  zu  werden  

Von  der  sokratischen  Lehre  wiederum  bleibt  ihm  stets  das 
Postulat  der  Rationalität  des  Ethischen.  Besteht  es  auch  nicht 
j  allein  in  einer  Vernunfteinsicht,  so  muß  doch  die  Vernunft  eine 
I  entscheidende  Rolle  bei  seinem  Zustandekommen  spielen.  Nicht 
i  nur  den  Satz  hätte  Pia  ton  in  allen  Phasen  seiner  Entwicklung 
als  unantastbares  Axiom  betrachtet:  „Ohne  Vernunft  keine  Sitt- 

i)  Apolog,  p.  41  d.   2)  Resp#  x,  p.  613a. 


160 


ACHTE  VORLESUNG 


lichkeit",  sondern  auch  den  weitergehenden:  „Nur  durch  Ver- 
nunft ist  Sittlichkeit  möglich." 

Von  der  ihm  angestammten  Ethik  des  Maßes  ferner  übernimmt 
er  die  Forderung,  es  müsse  das  Wesen  des  Ethischen  in  einer 
ebenmäßigen  Ausgleichung  widerstreitender  Kräfte,  in  einem 
harmonischen  Verhältnis  unserer  Fähigkeiten,  in  einem  seeli- 
schen Gleichgewicht  bestehen:  es  müsse,  mit  anderen  Worten, 
der  ethische  Wert  in  einen  Schönheitswert  sich  auflösen  lassen. 
Es  ist,  als  hätte  seiner  Lebensauffassung  der  Satz  des  Pytha- 
goras  zum  Leitstern  gedient:  „Die  Tugend  ist  eine  Harmonie." 

Befand  er  sich  aber  so  in  Übereinstimmung  mit  der  aristokra- 
tischen Seite  des  Pythagoreismus,  so  stand  seinem  eigensten 
Wesen  dessen  orphische  Seite  noch  weit  näher.  Piaton  war 
vor  allem  andern  eine  enthusiastische  Natur.  Für  den  Enthu- 
siasmus aber  war  kein  Raum  in  der  sokratischen  Wissenslehre. 
Die  Dichter  werden  —  wir  haben  es  ja  gehört  —  in  der  „Apo- 
logie" getadelt:  nicht  aus  Einsicht  schüfen  sie  ihre  Werke,  son- 
dern nur  aus  einem  gewissen  Enthusiasmus.  Begeisterung  — 
dieser  Begriff  hat  keine  Stelle  in  dem  Gedankenkreise  des  So- 
krates.  Was  soll  man  auch  mit  ihr  anfangen?  Sie  lehrt  einen 
nichts,  ja  sie  behauptet  nicht  einmal  etwas.  Also  kann  man  ihr 
nicht  zustimmen.  Aber  ebensowenig  kann  man  sie  widerlegen. 
Der  Begeisterte  kann  nicht  antworten.  Also  kann  man  ihn  nicht 
fragen;  um  so  weniger  überführen.  Begeisterung  ist  Wahnsinn. 
Aber  Wahnsinn  ist  völliger  Mangel  an  Einsicht  und  Vernunft, 
er  ist  der  Grenzbegriff  aller  erdenklichen  Unwissenheit  und 
deshalb  auch  aller  erdenklichen  Fehlerhaftigkeit  und  Schlechtig- 
keit. Er  ist,  mit  anderen  Worten,  die  absolute  Dummheit.  Für 
den  sokratischen  Gesichtspunkt  enthüllen  Wahnsinn,  Begeiste- 
rung, Schwung  nur  ihre  negative  Seite:  sie  heben  den  Vernunft- 
gebrauch auf  oder  setzen  ihn  doch  herab.  Es  sind  Defekte  des 
Verstandes:  der  Wahnsinn  erscheint  als  Blödsinn.  Ganz  anders 
bei  Piaton.  Es  ist  nicht  ohne  weiteres  richtig,  sagt  er1,  daß 
der  Wahnsinn  ein  Übel  sei.  Denn  „die  größten  Güter  erlangen 


i)  Phaedrus  p.  244 äff. 


PLATON 


161 


wir  durch  den  Wahnsinn,  sofern  er  uns  nämlich  als  eine  Gabe 
der  Götter  geschenkt  wird.  Denn  die  Prophetin  in  Delphi  und 
die  Priesterinnen  in  Dodona  haben  doch  sicherlich,  trotz  ihres 
Wahnsinns,  vieles  Schöne  für  Hellas  getan,  in  privaten  und 
öffentlichen  Angelegenheiten;  bei  Verstand  aber  sind  sie  nur 
kurze  Zeit  oder  gar  nicht.  Und  wenn  wir  die  Sibylle  nennten 
und  die  anderen,  so  mit  göttlicher  Sehergabe  vielen  vieles 
Künftige  geweissagt  und  so  geholfen  haben,  so  würde  unsere 
Rede  unnötig  ausspinnen,  was  jedermann  offenbar  ist.  Dieses 
Zeugnis  aber  ist  wert  angeführt  zu  werden,  daß,  da  unsere  Alt- 
vordern die  Namen  festsetzten,  sie  den  Wahn  für  nichts  Schänd- 
liches oder  Schimpfliches  hielten.  Unmöglich  hätten  sie  sonst 
die  schönste  der  Künste,  welche  die  Zukunft  erkennt,  mit  An- 
wendung eben  dieses  Namens  Wahnsagung1  genannt.  Sondern, 
weil  er  etwas  Schönes  ist,  wenn  er  durch  göttliche  Schickung 
entsteht  —  in  dieser  Ansicht  setzten  sie  es  so  fest.  Die  Jetzigen 
aber,  des  Schönen  unkundig,  haben  aus  dem  N  ein  R  gemacht, 
und  sie  Wahrsagung2  genannt.  Denn  auch  die  Erforschung  des 
Künftigen,  welche  von  den  geistig  Gesunden  geschieht,  durch 
Vögel  und  andere  Zeichen,  die  durch  Vernunft  der  menschlichen 
Meinung  Wissen  und  Kunde  verschaffen,  nannten  sie  Wißsa- 
gung3,  was  man  jetzt,  stolz  auf  ein  langes  Ei,  Weissagung4  nennt. 
Um  wie  viel  nun  die  Wahrsagung  vollkommener  und  ehrenvoller 
ist  als  die  Weissagung,  der  Name  schöner  als  der  Name,  und 
die  Sache  als  die  Sache,  um  so  viel  ist  auch,  nach  dem  Zeugnis 
der  Alten,  der  Wahn  schöner  als  das  Wissen,  nämlich  der  gött- 
liche Wahn  als  das  menschliche  Wissen."  Piaton  sieht  eben 
im  Wahnsinn  die  positive  Seite:  die  Steigerung  des  Gefühls, 
den  Wegfall  der  verstandeskühlen  Hemmung,  das  elementare 
Entzücken  und  Verzweifeln.  Für  diese  Stimmung  nun  fand  er 
im  ganzen  Umkreis  seiner  Erfahrung  nur  einen  Anknüpfungs- 
punkt. Für  die  Großen  seines  Volkes  war  der  Enthusiasmus 

i)  Mavuoi ;  die  Übertragung  des  Wortspiels  rührt  von  Schleiermacher  her. 
Die  ganze  Erörterung  ist  nicht  als  bitterer  Ernst  zu  verstehen.  2)  M(xvtikti. 
3)  OiovoiOTiKn;  ebenfalls  Übertragung  Schleiermachers.  4)  OlaivitfTuai. 

Gomperz,  Lebensauffassung  JJ 


162 


ACHTE  VORLESUNG 


etwas,  das  man  zwar,  getreu  altehrwürdiger  Überlieferung,  zu 
festgesetzten  Zeiten  in  Mysterien  und  Festspielen  über  sich  er- 
gehen ließ,  damit  aber  auch  erledigte  und  abtat:  Aristoteles 
spricht,  wie  immer,  in  ihrem  Sinne,  wenn  er,  in  einer  berühmten 
Definition  die  tragische  Erregung  als  eine  Reinigung  der  Seele, 
als  ein  purgierendes  Entfernen  der  Affekte  darstellt.  Nur  in 
jener  Region,  wo  die  Orphik  zu  Hause  war,  wo  abergläubische 
Vorstellungen  und  überschwengliche  Empfindungen  wundersam 
zusammenflössen,  nur  bei  den  „Stillen  im  Lande",  die  sich  in 
Schuldgefühl  verzehrten  und  an  Erlösunghoffnung  berauschten, 
—  nur  da  fand  Piaton  gleichgestimmte  Seelen.  Aber  wenn  der 
Romantiker  bei  der  Volksreligion  Zuflucht  sucht,  so  wandelt 
sich,  mehr  noch  als  sein  Gedanke,  ihr  Gefühl.  Piaton  über- 
nahm den  orphischen  Dualismus  und  führte  ihn  in  die  Welt- 
geschichte des  Geistes  ein.  Aber  er  ward  eben  dadurch  ein 
anderer  Dualismus.  Der  Gegensatz,  der  die  Orphik  beherrschte, 
war  der  von  Heiligkeit  und  Schuld.  Der  Zwiespalt,  der  Pia  tons 
Inneres  zerriß,  war  der  von  idealem  Streben  und  sinnlicher  Be- 
gierde. 

Piatons  Wesen,  und  damit  versuchen  wir  die  letzte  psycho- 
logische Wurzel  der  platonischen  Lebensauffassung  aufzudecken, 
glich  weder  dem  des  Antisthenes  noch  dem  des  Aristipp. 
Er  war  nicht  einfach  wie  jener  ein  unglücklich,  oder  wie  dieser 
ein  glücklich  veranlagter  Normalmensch,  der  in  seinem  Innern, 
der  sokratischen  Sachlichkeit  entgegenstehend,  eine  einheitliche 
Masse  subjektiven  Gefühles  vorfand,  das  es  nun  entweder  zu 
unterdrücken  oder  umzubilden  gegolten  hätte.  Dort  rangen 
vielmehr  zwei  alte  und  unversöhnliche  Feinde  miteinander:  auf 
der  einen  Seite  die  sinnliche  Begierde,  die  „egoistischen"  Inter- 
essen, die  Instinkte  der  verständigen  Selbsterhaltung;  auf  der 
anderen  die  „edlen"  Leidenschaften,  die  außerpersönlichen 
Interessen,  die  Instinkte  begeisterter  Selbstüberwindung.  Das 
Ergebnis  der  Auseinandersetzung  dieser  individuellen  Voraus- 
setzung mit  der  idealen  Voraussetzung  der  sokratischen  Per- 

»)  Poet.  6,  p.  1449  b  28. 


PLATON 


163 


sönlichkeit,  mit  der  theoretischen  Voraussetzung  der  somati- 
schen Lehre,  und  mit  der  sozialen  Voraussetzung  der  aristokra- 
tischen Lebensansicht  —  ist  die  platonische  Ethik. 

Diese  Auseinandersetzung  und  Ausgleichung  hat  sich  nicht 
mit  einem  Schlage  vollzogen.  Piatons  Denken  hat  nicht  nur 
nach  dem  ersten  Abschlüsse  seines  Lehrsystems  noch  mehr- 
fache Wandlungen  durchgemacht,  sondern  vor  allem  auch  vor- 
herschon sich  nur  schrittweise  entwickelt.  Wir  könnten  dieseEnt- 
wicklung  in  seinen  Schriften  genau  verfolgen,  stünde  die  Zeit- 
folge derselben  fest.  Auch  ohne  auf  die  Streitigkeiten  über  diese 
Frage  näher  einzugehen,  glaube  ich  soviel  als  gesichert  an- 
nehmen zu  können,  als  nötig  ist,  um  diesen  Werdegang  in  den 
größten  Zügen  zu  skizzieren. 

Piaton  soll,  als  er  mit  Sokrates  bekannt  geworden  war,  die 
Dichtungen  verbrannt  haben,  die  er  bis  dahin  hervorgebracht 
hatte.  Diese  Nachricht  ist  nicht  hinreichend  beglaubigt,  aber 
ohne  Zweifel  dem  richtigen  Gefühle  für  einen  Vorgang  ent- 
sprungen, für  den  sie  uns  als  ein  brauchbares  Symbol  gelten 
mag:  dafür  nämlich,  daß  er  den  platonischen  Schwung  in  die 
verborgenen  Tiefen  seines  Innern  zurückgedrängt  hat,  als  die 
sokratische  Sachlichkeit  über  ihn  Macht  gewann.  Dieser  Zu- 
stand dauerte  auch  nach  dem  Tode  des  Meisters  noch  geraume 
Zeit.  Der  Jüngling  schien  nicht  zu  erfüllen,  was  der  Knabe  ver- 
heißen hatte  und  der  Mann  zu  halten  bestimmt  war.  Seine 
Jugendwerke  fußen  inhaltlich  durchaus  auf  sokratischer  Grund- 
lage und  zeugen  formell  nur  von  größtem  mimetischen  Talent, 
höchster  plastischer  Kraft  und  scheinbar  ungetrübtester,  anmutig- 
ster Heiterkeit.  Soweit  sie  im  engeren  Sinne  ethischen  Inhalts 
sind,  wie  der  „Protagoras",  der  „Laches",  der  „Charmides", 
der  kleinere  „Hippias",  drehen  sie  sich  um  die  bestrittenen  Kon- 
sequenzen der  sokratischen  Wissenslehre.  Ist  das  Tugendwissen 
ein  Wissen  von  Lust  und  Unlust?  Ist  die  Tugend,  wenn  sie  doch 
ein  Wissen  sein  soll,  lehrbar,  wie  jedes  andere  Wissen  auch? 
Sind  alle  Tugenden,  wenn  doch  ihnen  allen  das  Wissen  vom 
Guten  zugrunde  liegt,  letztlich  nur  eine?  Lassen  sich  und  wie 

ll* 


164 


ACHTE  VORLESUNG 


lassen  sich  auch  Tapferkeit  und  Selbstbeherrschung  auf  ein 
Wissen  zurückführen?  Ergibt  sich  aus  der  Wissenslehre  nicht 
die  parodoxe  Folgerung,  daß,  wie  auf  anderen  Gebieten  der  ab- 
sichtliche Fehler  von  geringerer  Unwissenheit  zeugt  als  der  un- 
absichtliche, so  auch  die  wissentliche  sittliche  Verfehlung  als 
Zeichen  kleinerer  Schlechtigkeit  aufgefaßt  werden  müßte,  denn 
die  unwissentliche?  Dies  etwa  sind  die  Fragen,  die  hier  erörtert 
werden:  erörtert  im  Redekampf  mit  scharfenWorten  und  spitzen 
Begriffen,  denen  versöhnend  Geist  und  Humor  zur  Seite  stehen, 
anscheinend  die  Zeugen  inneren  Friedens.  Doch  dieser  Schein 
ist  oberflächlich.  Was  unter  ihm  verborgen  ruhte,  im  „Gorgias" 
tritt  es  das  erste  Mal  zutage. 

Schon  die  Art  der  Darstellung  verrät  den  beginnenden  Wan- 
del. Neben  das  Wechselspiel  der  Gedanken  tritt  die  Entgegen- 
setzung mächtiger  Affekte.  Die  Menschen  werden  aus  Denk- 
maschinen zu  leidenschaftlich  bewegten  Lebewesen.  Es  ist,  als 
wäre  der  Schleier  des  sokratischen  Intellektualismus  von 
Piatons  Augen  gefallen.  Hören  Sie  z.  B.  die  Sätze1,  in  denen 
Kallikles  das  Recht  des  Stärkeren  verficht:  „Die  Natur  aber, 
meine  ich,  zeigt  selbst  dieses  an,  daß  es  recht  ist,  daß  der  Bes- 
sere mehr  besitze  als  der  Schlechtere  und  der  Stärkere  mehr 
als  der  Schwächere.  Sie  erweist  es  aber  vielfach  so  gut  wie  bei 
den  anderen  Tieren  auch  bei  den  ganzen  Staaten  und  Stämmen 
der  Menschen,  daß  das  Rechte  eben  darin  besteht,  daß  der  Hö- 
here über  den  Geringeren  herrsche  und  mehr  besitze  als  er. 
Denn  auf  Grund  eines  solchen  Rechtes  ist  Xerxes  gegen  Hellas 
zu  Felde  gezogen  und  sein  Vater  gegen  die  Skythen,  und  — 
aber  unzählige  derartige  Fälle  könnte  man  anführen.  Ich  denke 
aber,  im  Einklang  mit  der  Natur  des  Rechts  geschieht  solches, 
und,  beim  Zeus!  im  Einklang  mit  dem  Gesetze  der  Natur,  wenn 
auch  vielleicht  nicht  mit  dem  Gesetze,  das  wir  künsteln,  indem 
wir  die  Edelsten  und  Gewaltigsten  unter  uns,  wie  die  Löwen, 
durch  Beschwörungsformeln  und  Zaubersprüche  knechten  wol- 
len —  dadurch  nämlich,  daß  wir  ihnen  vorreden,  es  müßten  alle 


i)  Gorg.  p.  483  d. 


PLATON 


165 


gleich  viel  haben,  und  das  sei  das  Schöne  und  das  Rechte.  Ich 
denke  aber,  wenn  einmal  ein  Mann  von  wahrhaft  zulänglicher 
Beschaffenheit  kommt,  dann  schüttelt  er  all  das  Zeug  ab,  zer- 
bricht es  und  läßt  es  hinter  sich,  tritt  mit  Füßen  all  unser  Ge- 
schreibsel und  unseren  Spuk  und  unsere  Beschwörungsformeln 
und  alle  widernatürlichen  Satzungen,  und  unser  Knecht  steht 
offenbar  vor  uns  als  Herr;  —  und  da  blitzt  denn  das  Recht  der 
Natur  hervor1."  Und,  als  Gegenstück  dazu,  eine  Stelle2  aus  der 
Rede,  in  der  Sokrates  das  Totengericht  schildert:  „Wenn  sie 
nun  vor  den  Richter  kommen,  und  zwar  die  aus  Asien  vor  Rha- 
damanthys,  dann  tritt  Rhadamanthys  zu  einem  jeden  hin, 
und  beschaut  seine  Seele,  ohne  zu  wissen,  wem  sie  zugehört, 
sondern  oft,  wenn  er  an  die  des  Perserkönigs  kommt  oder  sonst 
eines  anderen  Herrschers  oder  Fürsten,  so  findet  er  nichts  Gesun- 
des an  dieser  Seele,  sondern,  daß  sie  ganz  zerpeitscht  ist  und 
voll  von  Narben,  infolge  ihrer  Meineidigkeit  und  Ungerechtigkeit, 
die  jede  seiner  Taten  seiner  Seele  eingebrannt  hat,  und  alles  findet 
er  verkrümmt  von  Lüge  und  Frevel,  und  nichts  Gerades,  weil  er 
ohneWahrheitgewandelt  ist.  Und  er  sieht,  daß  wegen  derWildheit 
und  Schwelgerei  und  Überhebung  und  Zügellosigkeit  seiner 
Taten  seine  Seele  strotzt  von  Disharmonie  und  Häßlichkeit;  und 
da  schickt  er  sie  alsbald  schimpflich  in  den  Kerker,  wo  ange- 
kommen sie  gewärtig  sein  muß,  die  ihr  gebührenden  Leiden  zu 

*)  Übrigens  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  die  Frage  aufwerfen,  ob 
nicht  dieser  Vergleich  mit  dem  Löwen,  der  in  der  Jugend  zahm  ist,  später 
aber  seine  wahre  Natur  zeigt,  eine  leichte  Reminiszenz  verrät  an  die 
Strophen  des  Aeschylos  (Agam.  v.  691): 

„Es  zog      einst  einen  Löwen  Doch  bald      wuchs  er  und  zeigte 

Im  Haus,  der  noch  die  Brust  nahm,     Die  Artung  seiner  Eltern: 
Ein  Mann  auf  mit  seinen  Kindern.     Zum  Dank  für  frühere  Pflege 
Zahm  zu  Beginn  seines  Lebens         Hält  er  nach  bösem  Schafmord 
War  er,  ein  Liebling  der  Kleinen       Strengstens  verbotene  Mahlzeit; 
Und  auch  dem  Alten  zur  Freude:      Alles  verwüstet  dem  Herrn  er, 
Oftmals  lag  er  ihm  im  Arm  Dessen  Haus  mit  Blut  bespritzt 

Wie  ein  neugebornes  Kind,  (Wehrlos    jammernd    sieht's  der 

Leckt"  ihm  strahlenden  Blicks  die  Knecht): 

Hand     Scheint  als  Priester  des  Unheils  von 
Und  bat  schmeichelnd  um  Nahrung.     Gott  dem  Hause  gesendet." 
2)  Gorg.  p.524d. 


166 


ACHTE  VORLESUNG 


ertragen."  Aber  auch  der  Lehrgehalt  des  Gesprächs  zeigt  eine 
bemerkenswerteBesonderheit.  Zwarwirddie  sokratischeGrund- 
überzeugung  mit  den  stärksten  Worten  ausgesprochen1:  „Denn  ich 
behaupte,  daß  Mann  und  Weib,  wenn  sie  gut  und  trefflich  sind, 
auch  glücklich  seien,  elend  aber,  wenn  ungerecht  und  schlecht." 
Und  echt  sokratisch  heißt  es2:  „Denn  ich  denke,  es  gibt  für  den 
Menschen  kein  größeres  Obel  als  eine  unrichtigeAnsicht  über 
die  Gegenstände  unserer  Unterredung."  Aber  wenn  nun  jene 
Grundüberzeugung  insbesondere  dahin  zugespitzt  wird,  es  sei 
wünschenswerter,  unrecht  zu  leiden,  als  unrecht  zu  tun3,  und, 
wenn  man  schon  unrecht  getan  habe,  gestraft  zu  werden,  als 
ungestraft  zu  bleiben 4,  weil  die  Strafe  von  der  seelischen  Schlech- 
tigkeit befreie5,  so  sieht  man  deutlich,  wie  hier  auf  den  soma- 
tischen Stamm  das  orphische  Reis  gepfropft,  und  an  die  Stelle 
der  Auffassung:  Verfehlung  gleich  Unwissenheit,  die  andere: 
Verfehlung  gleich  Schuld,  gesetzt  ist.  Denn  die  Unwissenheit 
kann  nur  aufgehoben  werden  durch  Belehrung.  Die  Strafe  aber 
belehrt  nicht,  sie  sühnt.  Soll  sie  nun  dennoch  bessern,  so  hat 
hier,  sei's  auch  unvermerkt,  ein  entschiedenerWechsel  des  Stand- 
punkts stattgefunden.  Und  nur  dem  neuen  Standpunkte  entspricht 
auch  jene  Betonung  der  Jenseitsvorstellungen  und  ihrer  ethi- 
schen Bedeutsamkeit,  die  uns  an  der  angeführten  Stelle  entgegen- 
getreten ist. 

Diese  Schwingungsphase  des  platonischen  Denkens  und  Emp- 
findens erreicht  ihren  Kulminationspunkt  im  „Phaidon".  Nicht 
nur  wird  hier  die  orphisch-pythagoreische  Unsterblichkeitslehre 
zum  Gegenstande  der  philosophischen  Beweisführung  gemacht, 
sondern  auch  die  asketische,  sinnenfeindliche  Stimmung  erreicht 
ihren  Höhepunkt.  Der  Leib  heißt  hier  geradezu  ein  Übel6,  die 
Befreiung  und  Trennung  der  Seele  von  ihm  das  Geschäft  des 
Philosophen7,  und  die  vier  Kardinaltugenden  werden  ausdrück- 
lich Reinigungen  genannt8,  mit  dem  Beifügen,  dies  sei  auch  der 
eigentliche  Sinn  der  alten  Mysterienkulte. 

i)  Gorg.  p.  470 e.  2)  Gorg.  p.  458  a  f.  3)  Gorg.  p.  469  c.  *)  Gorg.  p.  472  e. 
5)  Gorg.  p.  477a.  6)  Phaed.  p.66b.  7)  Phaed.  p.  67 d.  8)  phaed.  p.  69c. 


PLATON 


167 


Diesem  größten  Ausschlag  nach  der  Seite  der  Askese  hin 
folgt  aber  ein  bedeutsamer  Rückschlag;  und  im  „Staate"  sehen 
wir  die  Verschmelzung  und  Ausgleichung  der  verschiedenen 
Tendenzen  zu  dem  spezifisch  platonischen  Lehrgehalte  vollzogen. 
Ich  versuche,  seine  Darstellung  mit  der  seiner  Entwicklung  aus 
den  früher  dargelegten  Voraussetzungen  individueller,  sozialer, 
theoretischer  und  idealer  Art  zu  verbinden. 

Geehrte  Zuhörer!  Wir  haben  gesehen,  daß  es  der  Kampf  der 
„höheren"  mit  den  „niederen"  Interessen,  der  Widerstreit  des 
leidenschaftlichen  Affekts  mit  der  sinnlichen  Begierde  ist,  der 
Piatons  Lebensauffassung  die  Orientierung  gibt.  Diesen  Dua- 
lismus nun  versuchte  er  an  den  orphisch-pythagoreischen  Dua- 
lismus anzuknüpfen.  Hier  aber  war  der  entscheidende  Gesichts- 
punkt der  von  Gerechtigkeit  und  Friede:  ähnlich  wie  bei  den  Pro- 
pheten des  Alten  Testamentes  das  Ideal  darin  besteht,  daß  Israel 
in  Gerechtigkeit  wandle  vor  dem  Herrn.  Der  Bruch  dieses  Frie- 
dens, die  Ungerechtigkeit  gegen  den  Mitmenschen  ist  es,  welche 
die  Schuld  begründet.  Von  diesem  sozial-moralischen  Gesichts- 
punkte aus  aber  erscheint  die  Begierde  insofern  minderwertig, 
als  gar  häufig  sie  es  ist,  die  zu  Unrecht  und  Gewalttat  verleitet. 
Diese  Geringachtung  der  Sinnlichkeit  nun  konnte  Piaton  im 
vollen  Umfange  sich  aneignen.  Die  Begierde  als  das  böse  Prin- 
zip —  dieser  Begriff  ist  durch  ihn  in  die  philosophische  Ethik  ein- 
geführt worden,  um  aus  ihr  nicht  sobald  wieder  zu  verschwinden. 
Ebenso  hat  er  aus  diesem  Gedankenkreis  die  Hochschätzung  der 
Gerechtigkeit  übernommen,  die  bei  ihm  nicht  nur  eine  der  vier 
Kardinaltugenden  ist,  sondern  geradezu  dieTotalität  aller  ethisch 
wertvollen  Eigenschaften  bezeichnet,  und  deren  Rolle  im  „Gor- 
gias"  uns  schon  beschäftigt  hat.  Allein  dem  Ideal  der  Heiligkeit 
stand  er  doch  verhältnismäßig  fremd  gegenüber.  Und  so  setzt 
er  denn  in  der  endgültigen  Fassung  seines  Systems  dem  „be- 
gehrlichen" Seelenteil  nicht  die  Reinheit,  sondern  vielmehr  das 
„Mutartige"  entgegen,  d.  h.  den  idealen  Schwung,  die  edle  Lei- 
denschaft. Aber  auch  das  sokratische  Axiom,  daß  Sittlichkeit 
nur  durch  Vernunft  möglich  sei,  konnte  er  aus  seinem  Denken 


168 


ACHTE  VORLESUNG 


nicht  verbannen.  Und  so  stellt  er  denn  sie  als  ein  Drittes  und 
Höheres  neben  Begierde  und  Leidenschaft,  und  knüpft  den  ethi- 
schen Wert  der  Affekte  an  die  Bedingung,  daß  sie  der  Vernunft 
gehorchen  und  dienen.  Sollen  also  nun  diese  beiden  die  Sinn- 
lichkeit schlechthin  unterdrücken?  Das  könnte  man  erwarten, 
und  dies  deutet  auch  Piaton  im  „Phaidon"  an.  Hier  aber 
legt  sich  das  ererbte  Ideal  von  Maß,  Harmonie  und  Schönheit 
ins  Mittel.  Nicht  die  Unterdrückung  und  Ausrottung  einer  Seite 
der  menschlichen  Natur  durch  die  anderen  verlangt  er,  sondern 
der  wünschenswerte  sittliche  Zustand  besteht  ihm  in  dem  rich- 
tigen, harmonischen  Verhältnis  aller  drei  Vermögen.  Die  Seele 
befindet  sich  nur  dann  im  Gleichgewicht,  sie  ist  nur  dann  eben- 
mäßig, harmonisch  und  schön,  wenn  in  ihr  die  Vernunft  herrscht, 
die  Leidenschaft  dient  und  die  Begierde  beherrscht  wird.  Und 
eben  diesen  idealen  Zustand  nennt  nun  Piaton,  mit  einer  merk- 
würdigen Verschiebung  des  Begriffsinhaltes,  die  Gerechtigkeit1. 
Soll  aber  nun  auf  Grund  dieser  Konstruktion  das  sokratische 
Ideal  der  inneren  Freiheit  Bestand  haben,  so  muß  eben  die  also 
aufgefaßte  „Gerechtigkeit"  mit  der  „Glückseligkeit"  identisch 
sein;  denn  nur,  wenn  schon  der  bloße  Besitz  einer  also  verfaß- 
ten Seele  die  Totalität  alles  ernstlich  Wünschenswerten  bedeutet, 
nur  dann  können  alle  äußeren  Schicksalswendungen  und  alle 
Hemmungen  der  selbstischen  Interessen  den  Menschen  nicht  an 
seinem  wahren  Gute  berühren.  Das  Bild,  das  Piaton  mit  Vor- 
liebe zur  Verdeutlichung  dieses  Sachverhaltes  verwendet,  ist  das 
der  Gesundheit2:  so  wie  das  Heil  des  Leibes  in  dem  richtigen 
Verhältnis,  in  der  inneren  Harmonie  seiner  Teile  besteht,  so 
auch  das  Heil  der  Seele  in  ihrer  richtigen  Verfassung  und  in 
dem  Gleichgewicht  ihrer  Vermögen.  Sittlichkeit  gleich  seelische 
Gesundheit,  ist  vielleicht  die  prägnanteste  Zusammenfassung 
der  platonischen  Ethik3.  Und  daß  wirklich  in  diesem  Sinne  die 

i)  Resp.  IV.  p.  441  e  ff.  2)  So  schon  Gorg.  p.  526  und  passim.  3)  Daß  jedoch 
dieser  Grundsatz,  eben  weil  er  aus  der  Lebensauffassung  der  Harmonie  über- 
nommen ist,  von  Piaton  durchaus  nicht  als  Erstem  ausgesprochen  wurde, 
lehrt  in  sehr  instruktiver  Weise  eine  Stelle  der  äschyleischen  „Eumeniden" 
(v.  527),  die  wir  weiter  unten  aus  einem  anderen  Anlasse  mitteilen  werden. 


PLATON 


169 


Gerechtigkeit1  und  die  Wohlfahrt2  gleichwertige  Begriffe  seien 
—  eben  dies  zu  beweisen  ist  das  Hauptabsehen  des  „Staates". 
Denn  dieses  wird  am  Eingange  des  zweiten  Buches3  ganz  aus- 
drücklich als  das  Problem  hingestellt,  dessen  Untersuchung  nun 
in  Angriff  zu  nehmen  sei:  ob  das  Los  des  Gerechten,  der  für 
einen  Ungerechten  gilt,  und  deshalb  alle  üble  Nachrede,  körper- 
lichen Qualen  und  zuletzt  den  Tod  erleidet,  jenem  des  Unge- 
rechten, der  für  gerecht  gilt,  und  deshalb  alle  Ehre,  Macht  und 
Lust  genießt,  vorzuziehen  sei  oder  nicht?  Die  zusammenfassende 
Antwort  aber,  die  im  zehnten  Buche4  steht,  habe  ich  Ihnen  schon 
früher  mitgeteilt:  daß  es  nämlich  für  einen  gerechten  Mann  in 
Wahrheit  nur  Gutes  geben  könne,  Übel  aber  nur  zum  Schein. 

Wenn  nun  aber  in  diesen  Worten,  statt  wie  an  der  entsprechen- 
den Stelle  der  „Apologie"  vom  „guten",  vielmehr  vom  „gerech- 
ten" Manne  die  Rede  ist,  so  haben  wir  in  diesem  Wortwandel 
den  Niederschlag  der  ganzen  platonischen  Entwicklung  zu  er- 
blicken: indem  aus  dem  das  Rechte  erkennenden  zunächst  der 
gegen  andere  gerechte,  und  aus  diesem  wiederum  der  innerlich 
recht  verfaßte  (seelisch  gesunde)  Mann  geworden  ist.  Daß  näm- 
lich in  diesem  Zusammenhange  die  „Gerechtigkeit"  in  der  Tat 
dieses  letztere  bedeutet,  sagt  Pia  ton  ausdrücklich,  und  schon 
Chrysipp5  hat  ihn  so  verstanden  und  deswegen  angegriffen. 
Denn  nachdem  er  die  vier  Kardinaltugenden  als  die  verschie- 
denen Seiten  der  harmonischen  Seelenverfassung  beschrieben 
hat:  die  Weisheit  als  die  Herrschaft  der  Vernunft,  die  Tapfer- 
keit als  den  Dienst  der  Leidenschaft,  die  Selbstbeherrschung  als 
das  Regiertwerden  der  Begierde,  und  die  Gerechtigkeit  als  die 
Herstellung  und  Erhaltung  dieses  Gesamtzustandes,  fährt  er  also 
fort6:  „InWahrheit  nun  erschien  freilich  die  Gerechtigkeit  als  et- 
was derartiges,  aber  nicht  in  bezug  auf  die  äußereTat  desMenschen, 
sondern  in  bezug  auf  die  wahrhaft  innerliche  gegen  sich  selbst 
und  das  Seine,  indem  sie  keinen  seiner  Teile  etwas  ihm  nicht 
Zukommendes  tun  läßt . . ."  Die  Gerechtigkeit  ist  also  von  ihrer 

i)  AiKatoaüvri.  2)  Eubatiuovia.  3)  ReSp.  II.  p.  360 e  ff.  4)  Resp.  X.  p.  613a. 
5)  Frg.  288  (Arnim  III).  6)  Resp.  IV.  p.  443  c. 


170 


ACHTE  VORLESUNG 


ursprünglichen  Bedeutung  als  Wissen  des  Rechten  vorerst  im 
orphischen  Sinne  zu  der  sozialen  Tugend  des  gerechten  Han- 
delns um-,  und  hierauf  wiederum  zu  der  individuellen  Tugend 
der  rechten  innern  Seelenverfassung  zurückgebogen  worden. 
Freilich  nicht  mit  vollem  Bewußtsein.  Denn  Piaton  meinte 
das  Mittel  gefunden  zu  haben,  um  an  diese  innere  Rechtschaffen- 
heit auch  die  äußere  Gerechtigkeit  unlöslich  zu  knüpfen. 

Er  konstruiert  nämlich  den  Staat  nach  Analogie  des  Einzel- 
menschen. Wie  dieser  aus  drei  Seelen-Kräften  oder  Teilen,  so 
besteht  jener  aus  drei  Ständen.  Der  Vernunft  entspricht  der 
Stand  der  vernünftig  Leitenden,  der  Lehrstand,  die  Philosophen, 
oder,  wie  Piaton  sagt,  die  „Wächter"1.  Der  Leidenschaft  kor- 
respondiert der  Stand  der  leidenschaftlich  Angreifenden  und 
Abwehrenden,  der  Wehrstand,  die  Krieger,  oder,  nach  Piaton, 
die  „Helfer"2.  Der  Begierde  endlich  ist  jener  Stand  analog,  der 
dem  Lebensunterhalte  des  Ganzen  dient,  der  Nährstand,  Acker- 
bauer und  Handwerker.  Wie  sich  nun  die  Seele  in  der  richtigen 
Verfassung  befindet,  wenn  die  Vernunft  herrscht,  die  Leiden- 
schaft nur  in  ihrem  Sinne  sich  äußert,  und  die  Begierde,  von 
beiden  beherrscht,  sich  auf  die  Besorgung  der  animalischen 
Funktionen  beschränkt,  so  ist  auch  die  rechte  Staatsverfassung 
dadurch  charakterisiert,  daß  die  Philosophen  regieren3,  die  Krie- 
ger ein  Werkzeug  in  ihrer  Hand  sind,  und  das  Volk,  beiden  un- 
terworfen, lediglich  seine  wirtschaftlich  bedeutsamen  Geschäfte 
treibt4.  Die  richtige  Verfassung  besteht  somit  in  beiden  Fällen 
darin,  daß  jeder  Faktor  „das  Seine"  tut  und  nichts  anderes.  Und 
eben  dies  ist  auch  das  Wesen  der  Gerechtigkeit:  das  eine  Mal 
der  inneren  (individuellen),  das  andere  Mal  der  äußeren  (sozia- 
len). Während  also  die  „Gerechtigkeit"  des  Individuums  in 
der  Beschaffenheit  seines  Innern  sich  erschöpft  —  dies  ist  die 

l)  OuXciKec;.  2)  'EmKoupot.  3)  Doch  muß  man  bedenken,  daß  der  Philosoph 
einen  Zustand  vor  sich  hat,  in  dem  alle<  Staatsämter  durch  Volkswahl  oder 
Los  besetzt  werden.  Auch  eine  Beamtenschaft,  deren  Mitglieder  wissen- 
schaftliche Studien  betrieben  und  Prüfungen  abgelegt  haben  müssen,  wäre 
ihm  ohne  Zweifel  schon  als  eine  unermeßliche  Annäherung  an  sein  Postu- 
lat erschienen.  4)  Resp.  IV.  p.  434  c. 


PLATON 


171 


Folgerung,  die  aus  PI atons  Voraussetzungen  zwingend  sich  er- 
gibt —  konstituieren  seine  äußeren  Handlungen,  je  nachdem  sie 
der  idealen  gesellschaftlichen  Struktur  entsprechen  oder  nicht, 
Elemente  der  Gerechtigkeit  oder  Ungerechtigkeit  des  Staates. 
Mit  anderen  Worten:  allein  des  Menschen  Charakter  wird  mit 
den  Maßstäben  der  Ethik  gemessen ;  sein  Tun  verfällt  dem  Urteil 
der  Politik.  So  unausweichlich  aber  diese  Konsequenz  vom 
platonischen  Standpunkte  aus  ist,  so  wird  sie  doch  nirgends  ge- 
zogen. P 1  a  t  o  n  war  vielmehr  überzeugt,  daß  beide  Vollkommen- 
heiten Hand  in  Hand  gehen,  und  daß  eine  „Ungerechtigkeit"  im 
sozialen  Sinne  nie  ohne  eine  entsprechende  ethische  „Ungerech- 
tigkeit" sich  ereignen  könne1.  Aber  nicht  nur  hat  er  es  unter- 
lassen, diese  Überzeugung  irgendwie  zu  begründen,  sondern  es 
leuchtet  auch  ihre  Unhaltbarkeit  ein.  Denn  wenn  vielleicht  im 
Idealstaate  der  Idealmensch  durch  seine  Vernunft  stets  nur  das 
sozial  Gerechte  als  ihm  aufgegeben  erkennen  könnte,  so  müßte 
doch  jedenfalls  in  einer  unvollkommenen  Gesellschaft,  mangels 
einer  wirklich  „gerechten"  politischen  Ordnung,  auch  der  „Ge- 
rechteste" vielfach  „ungerecht"  handeln,  zum  Beispiel  der  inner- 
lich „gerechte"  Handwerker  sich  irgendwie  an  Kriegsdienst  und 
Regierung  beteiligen2.  Man  wird  also  Pia  ton  schwerlich  den 
Vorwurf  ersparen  können,  daß  er  zwischen  beiden  Arten  der 
Gerechtigkeit  nicht  hinreichend  unterschieden,  und,  wie  beim 
„Guten",  so  auch  hier  auf  die  bloße  Gleichheit  des  Wortes  wie 
auf  eine  Identität  von  Tatsachen  sich  verlassen  hat.  Indes, 
dieser  Vorwurf  trifft  ihn  nicht  allzu  hart.  Denn  jede  Ethik 
der  inneren  Freiheit  hat  mit  den  größten  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen,  sobald  sie  versuchen  will,  aus  ihrem  Prinzip  auch 
die  moralischen  Normen  abzuleiten.  Wir  haben  ja  in  unserer 
ersten  Vorlesung  gesehen,  daß  nur  ein  Verzicht  auf  diesen  Ver- 
such und  eine  reinliche  Scheidung  zweier  zwar  verwandter, 
aber  selbständiger  Kultursysteme  diesen  gordischen  Knoten 
durchhauen  kann.  Und  bei  Besprechung  der  stoischen  Lehre 
werden  wir  gar  bald  erkennen,  in  welche  Verwicklungen  sie 

*)  Z.B.  Resp.  IV.  p.442eff.;  IX.  p.  591a.  2)  Man  denke  an  Sokrates! 


ACHTE  VORLESUNG 


sich  dadurch  gestürzt  hat,  daß  sie  zu  dieser  radikalen  Operation 
sich  nicht  entschließen  konnte,  und  auf  wie  künstlichem  Wege 
allein  es  ihr  möglich  war,  sich  diesen  Schlingen  zu  entwinden. 
Doch  ehe  wir  zu  einer  Würdigung  des  platonischen  Systems  uns 
wenden,  ist  erst  noch  ein  Punkt  ins  reine  zu  bringen. 

Was  aber,  können  Sie  nämlich  fragen,  erkennt  denn  eigentlich 
jene  Vernunft,  der  die  Leitung  von  Individuum  und  Gesellschaft 
so  ausschließlich  überantwortet  wird?  Das  Gute,  hatte  Sokra- 
tes  gelehrt.  Und  an  dieser  formalen  Bestimmung  hält  Piaton  im 
Grunde  fest,  wenn  er  auch  an  ihr  eine  Modifikation  vornimmt, 
welche  nicht  nur  für  die  theoretische  Philosophie  von  größter  Be- 
deutung geworden  ist.  Aber  ihre  Motive  liegen  doch  zu  einem  so 
großen  Teile  auf  diesem,  uns  hier  fernliegenden  Gebiete,  daß 
ich  mich  an  dieser  Stelle  ganz  besonders  kurz  fassen  muß.  Für 
Sokrates  war  das  Tugendwissen  ein  Wissen  um  die  Bedeutung 
der  ethischen  Grundbegriffe.  Aus  diesen  Begriffen  nun  hat 
Piaton  jene  übersinnlichen  Realitäten  gemacht,  die  er  Ideen 
nennt.  Er  ging  dabei  einerseits  von  der  Erscheinung  aus,  daß 
der  logische  Wert  eines  Begriffes  als  unabhängig  gedacht  wird, 
nicht  nur  von  der  zufälligen  sprachlichen  Einkleidung,  die  jedes- 
mal für  ihn  gewählt  wird,sondern  auch  von  der  Natur  der  anschau- 
lichen Vorstellungen,  durch  welche  der  einzelne  sich  ihn  ver- 
sinnlichen mag.  Andererseits  bediente  er  sich  dabei  genau  dessel- 
ben Prinzips,  dem  auch  wir  noch  zu  folgen  pflegen,  wenn  wir  eine 
Vielheit  gleicher  Vorgänge,  zum  Beispiel  herabfallender  Körper, 
auf  ein  einheitliches  Gedankending,  etwa  das  „Gesetz  der  Schwe- 
re" als  auf  ihre  zureichende  Ursache  zurückführen.  Denn  ganz 
in  demselben  Sinne  scheinen  dem  Piaton  die  räumlich  und 
zeitlich  so  weit  verbreiteten  gleichen  Eigenschaften  der  Einzel- 
dinge, zum  Beispiel  ihr  Rotsein,  „erklärt"  durch  die  Annahme, 
sie  seien  die  Wirkung  eines  einheitlichen  „Prinzips",  der  „Röte 
an  sich".  Ebenso  nun  führte  er  auch  die  Eigenschaften  des  Guten, 
Gerechten,  Schönen  usf.  zurück  auf  eine,  an  und  für  sich  selbst 
bestehende  „Güte",  „Gerechtigkeit",  „Schönheit"  usw.  Diese 
„Ideen"  nun  sind  die  Gegenstände  der  vernünftigen  Erkenntnis 


PLATON 


173 


oder  genauer,  einer  intellektualen  Anschauung,  in  Beziehung 
auf  welche  die  Vernunft  dem  sinnlichen  Sehvermögen  entspricht. 
Die  Forderung  einer  unbedingten  Vernunftherrschaft  in  diesem 
Sinne  enthält  daher  in  sich  den  Keim  zur  Verherrlichung  eines 
„beschaulichen"  Lebens,  das,  als  der  kontemplative  Weg  zur 
Vollkommenheit,  dem  genießenden  wie  dem  tätigen  vorgezogen 
würde.  Doch  ist  dieser  Keim  weder  bei  Pia  ton,  noch  auch  bei 
Aristoteles,  sondern,  wie  sich  zeigen  wird,  erst  bei  Plotin 
zur  vollen  Entfaltung  gelangt.  Dazu  aber  hat  vorzugsweise  der 

j  folgende  Umstand  mitgewirkt.  In  allen  einzelnen,  empirischen 
Erscheinungsformen  finden  wir  die  ethischen  Eigenschaften  nur 
annäherungsweise  verwirklicht.  Sie  sind  hier  mit  anderen,  ein- 
schränkenden Elementen  vermischt  —  oder,  wie  wir  heute 
sagen  würden,  sie  sind  von  diesen  wirklichen  Erscheinungen 

!  eben  nur  als  Grenzbegriffe  abgezogen.  Für  Pia  ton  dagegen 
bedeutet  diese  begriffliche  „Unreinheit"  eine  negativ  zu  wer- 
tende „Trübung",  die  ihm  bewirkt  scheint  durch  jene  notwen- 
dig unvollkommene  Realisierung,  welche  allein  die  „Idee"  in  der 

i  Welt  der  sinnlichen  Erscheinung  und  des  grob-materiellen  Stoffes 

I  finden  kann.  Denn  natürlicher  Weise  stellt  die  „Idee"  ihren  In- 
halt in  voller,  begrifflicher  Reinheit  dar;  da  das  „Gute  an  sich" 
nichts  anderes  ist  als  gut,  so  kann  es  selbstverständlich  keine 
Beimischung  des  Schlechten  enthalten  —  ebensowenig  wie  das 
„Gesetz  der  Schwere"  etwas  von  jenen  „Störungen"  in  sich  ent- 
halten kann,  ohne  die  es  doch  niemals  auf  reale  Vorgänge  An- 
wendung finden  kann.  Da  nun  aber  die  ethisch  wertvollen 
Eigenschaften  —  und  diese  stehen  für  Pia  ton  ganz  überwiegend 
im  Vordergrunde  —  Gegenstände  der  positiven  Wertschätzung 
sind,  so  müssen  die  „Ideen",  welche  diese  Eigenschaften  in  soviel 
höherem  Grade  enthalten  als  irgend  welche  einzelnen  Menschen 
oder  Taten,  notwendig  auch  um  ebensoviel  höher  gewertet  wer- 
den als  jene.  Damit  aber  gewinnen  die  Ideen  neben  ihrem  er- 
klärenden Wert  als  Seiendes  einen  normativen  Wert  als 
Sein-Sollendes:  aus  den  Begriffen  werden  Musterbilder, 
aus  den  Ideen  Ideale.  Damit  tritt  der  Begriff  des  Ideals  zum 


174 


ACHTE  VORLESUNG 


ersten  Male  in  der  Geschichte  der  praktischen  Philosophie  zu- 
tage —  und  das  Wort,  mit  dem  wir  ihn  bezeichnen,  prägt  ihm 
noch  heute  die  Spur  dieses  seines  platonischen  Ursprungs  auf. 
Aber  diese  weltgeschichtliche  Tat  zu  würdigen,  ist  hier  nicht 
unsere  Aufgabe.  Uns  interessiert  zunächst  ihre  Konsequenz  für 
die  platonische  Ethik.  Und  da  bitte  ich  Sie,  sich  folgendes  klar 
zu  machen.  Als  Ideale  sind  die  Ideen  Gegenstände  begeisterter 
Bewunderung.  Das  heißt  aber:  unter  der  Hülle  des  sokratischen 
Intellektualismus  lösen  sie  wiederum  den  platonischen  Schwung 
aus  —  eben  jenen  „philosophischen  Eros",  der  als  der  Führer 
in  die  Welt  der  Ideen  im  „Gastmahl"  gefeiert  wird.  Während 
also  nach  dem  Lehrgehalt  des  platonischen  Systems  die  Ver- 
nunft es  ist,  die  in  dem  „gerechten"  Menschen  die  höchste  Stelle 
einnimmt,  neben  und  über  Begierde  und  Affekt;  erweist  sich  bei 
näherem  Zusehen  psychologisch  auch  diese  „Vernunft"  als 
ganz  durchsetzt  von  Elementen  des  Gefühls;  ja,  man  könnte  sa- 
gen: sie  ist  selbst  nur  der  „mutartige"  Seelenteil  noch  einmal, 
nur  verkleidet  als  die  altehrwürdige  „Einsicht",  und  in  dieser  Tra- 
vestierung lauter  und  ungescheuter  als  die  höchste  Kraft  der 
menschlichen  Natur  anerkannt  und  proklamiert.  Soviel  aber 
scheint  mir  jedenfalls  festzustehen :  wenn  wir  uns  fragen,  wie  denn 
derplatonischeldealmensch  eigentlichpsychologischzu  beschrei- 
ben sei,  dann  werden  wir  ihn  besonnener  Weise  weit  weniger  cha- 
rakterisiert sein  lassen  dürfen  durch  ein  Prävalieren  des  theore- 
tischen Interesses,  als  vielmehr  durch  das  Vorherrschen  leiden- 
schaftlich-begeisterter Selbstüberwindung. 

Geehrte  Zuhörer!  Wir  haben  nun  Piatons  Entwicklung  bis 
zu  dem  Punkte  verfolgt,  an  dem  seine  ethischen  Hauptgedanken 
zum  ersten  Mal  zu  der  Einheit  eines  Systems  sich  zusammen- 
falteten. Hier  machen  wir  Halt,  um  dieses  System  ein  paar 
Augenblicke  kritisch  zu  betrachten.  Denn,  was  wir  an  Neben- 
und  Spätgedanken  noch  zu  beachten  haben  werden,  wird  in 
verschiedenen  Richtungen  auseinander  gehen,  und  darum  der 
Würdigung  keinen  einheitlichen  Angriffspunkt  mehr  bieten. 

Blicken  wir  nun  zunächst  auf  das  Verhältnis  des  platonischen 


PLATON 


j  zu  den  beiden  anderen  sokratischen  Systemen,  so  treten  seine 
eigenartigen  Vorzüge  bald  hervor.  Sie  konzentrieren  sich  in 
jenem  Dualismus,  der  dem  Piatonismus  mit  allen  Formen  aske- 
tischer Lebensauffassung  gemein  ist,  und  der  zum  Ausdrucke 
des  Ideals  der  inneren  Freiheit  so  wenig  entbehrt  werden  kann, 
daß  wir  ja  auch  Kyniker  und  Kyrenaiker  schließlich  auf  ihn  hin- 
treiben sahen:  den  Dualismus  des  Äußern  und  Innern,  Niedern 
und  Höhern,  Selbstischen  und  Außerpersönlichen,  Leidenden 
und  Tätigen,  Genießenden  und  Schaffenden,  Knechtenden  und 
Erlösenden.  Aber  dieser  Dualismus  war  in  den  beiden  anderen 

!  Systemen  nicht  von  vornherein  angelegt:  der  Kynismus  will  in 
erster  Linie  durch  Ausrottung  der  Gefühle  die  über  alle  Schick- 
salswandlungen erhabene  sokratische  Sachlichkeit  realisieren; 
der  Kyrenaismus  dieselbe  Befreiung  vollziehen,  indem  er  durch 
Umbildung  des  Gefühlslebens  jede  mögliche  Lage  zum  Gegen- 
stande eines  Genusses  macht.  Der  Piatonismus  dagegen  will  die, 
zum  Teil  als  Vernunft  verkleideten  Instinkte  der  Selbstüberwin- 
dungüberdiederSelbsterhaltungdominierenlassen,unddasdurch 
nichts  Äußeres  zu  erschütternde  Bewußtsein  dieses  Verhältnisses 

|  zurGrundlagederinnerenFreiheit machen.  Erzieltalsowedermit 
dem  Kynismus  auf  eine  Gesamtunterdrückung,  noch  mit  dem  Ky- 
renaismus auf  eine  Gesamtrehabilitierung  des  Trieblebens,  son- 
dern erkennt  und  empfindet  den  ethischen  Wertunterschied  der 
zwei  großen  Instinktgruppen.  Darin  besteht  seine  große  und  dau-  -\ 
ernde  Leistung  fürdas  Ideal  der  innerenFreiheit.  Aber  auch  dieses 
sehen  wir  nun  freilich:  es  kann  nicht  verkannt  werden,  daß  auch 
P 1  a  to  n  noch  übermäßig  im  Banne  desgriechischen  Intellektualis- 
mus steht,  und  durch  die  Einführung  der  „Vernunft"  an  eine 
Stelle,  wo  sie  gar  wenig  zu  leisten  vermag,  die  Klarheit  jener 
Erkenntnis  getrübt,   ja  das  Wesen  jenes  Dualismus  zum 

|  guten  Teile  verfälscht  hat:  die  philosophische  Ethik  wäre  vor 
endlosen  Wortstreitigkeiten  bewahrt  geblieben,  hätte  Piatons 
erdrückende  Autorität  jahrtausendelang,  statt  für  den  Schein- 
gegensatz von  Sinnlichkeit  und  Vernunft,  vielmehr  für  jenen 
Realgegensatz  von  Interesse  und  Begeisterung  Zeugnis  abgelegt, 


176 


ACHTE  VORLESUNG 


von  dem  seine  persönliche  Lebensauffassung  ohne  Zweifel  ent- 
scheidend beherrscht  ward. 

Aber  noch  eine  andere,  ebenso  verhängnisvolle  Schwäche 
seiner  Lehre  werden  wir  nicht  übersehen  können.  Es  ist  wahr, 
Piaton  hat  das  Ideal  entdeckt.  Aber  er  hat  es  aufgefaßt  als  eine 
seiende  und  ruhende,  ein  für  alle  Mal  gegebene  (wenn  auch 
übersinnliche)  Realität,  nicht  als  ein  Postulat,  das  werden 
soll,  in  steter  Annäherung  und  Bewegung.  Dieser  Mißgriff 
in  der  Form  ist  aber  nicht  ohne  Folge  geblieben  für  den  Inhalt. 
Denn  nun  konnte  er  die  Erlösung  nicht  beschreiben  als  die  kon- 
tinuierlich fortschreitende  Überwindung  der  „niederen"  Triebe 
durch  die  „höheren"  Affekte,  sondern  er  mußte  sie  sich  erschöp- 
fen lassen  in  der  Herstellung  eines  bestimmten,  „richtigen" 
Verhältnisses  zwischen  beiden.  Aber  welches  ist  der  Inhalt 
dieses  „richtigen"  Verhältnisses?  Wieviel  darf  der  sinnlichen 
Begierde  zugestanden  werden?  Inwieweit  soll  sie  durch  die 
„Vernunft"  eingeschränkt  werden?  Wann  ist  dieses  Verhältnis 
ein  „harmonisches"  und  „ebenmäßiges"?  Auf  diese  Frage  ver- 
sucht Piaton  nicht  einmal  eine  Antwort  zu  geben,  und  die 
meisten  asketischen  Theorien  haben  von  ihm  dieselbe  Ratlosig- 
keit übernommen.  Ihnen  allen  fehlt  eine  materiale  Bestim- 
mung ihres  Prinzips,  und  so  bleibt  dieses  im  Grunde  rein  for- 
mal: es  schreibt  nichts  anderes  vor  als  die  Herstellung  einer 
„richtigen"  Seelenverfassung;  aberweiche  Seelenverfassung  die 
„richtige"  ist  —  das  zu  bestimmen,  bleibt  subjektiver  Meinung, 
Empfindung  und  Willkür  überlassen.  Wir  werden  seinerzeit 
sehen,  wie  schon  bei  Aristoteles  diese  logische  Unzulänglich- 
keit bis  ins  Groteske  sich  steigert.  Heute  aber  müssen  wir  den 
Kern  der  platonischen  Ethik  verlassen,  um  noch  rasch  einige 
ihrer  Neben-  und  Weiterbildungen  wenigstens  flüchtig  ins  Auge 
zu  fassen. 

Und  da  muß  zunächst  eines  Gedankenkreises  Erwähnung  ge- 
schehen, der  zwar  für  die  platonische  Spekulation  selbst  nur  einen 
Nebenertrag  bedeutet,  in  der  Folge  aber  sich  bedeutsamer  ge- 
zeigt hat  als  diese  selbst.  Piaton  hat  aus  der  Orphik  und  dem 


PLATON 


177 


Pythagoreismus  die  Lehre  von  einem  unkörperlichen  und  un- 
vergänglichen Seelenwesen  übernommen.  Daß  nun  diese  Lehre 
I  an  und  für  sich  die  Eignung  besitzt,  für  das  Ideal  der  inneren 
I  Freiheit  einen  theoretischen  Ausdruck  abzugeben,  läßt  sich  nicht 
bezweifeln.  Denn  das  Bewußtsein,  mein  eigentliches  Ich  werde 
gar  nicht  berührt  von  allen  Leiden  und  anderen  Schicksalen 
!  meiner  leiblichen  Erscheinung,  schließt  ja  die  Erhabenheit  über 
I  sie  alle  ohne  weiteres  in  sich.  Das  Bedenkliche  dieser  Anschau- 
!  ungsweise  liegt  vielmehr  auf  der  entgegengesetzten  Seite:  die 
!  Unsterblichkeitslehre  ohne  anderen  Zusatz  müßte  diese  Wir- 
kung in  einem  viel  zu  hohen  Grade  nach  sich  ziehen.  Die 
Oberzeugung,  mein  Ich  sei  auf  alle  Fälle  geborgen,  ohne  Rück- 
j  sieht  auf  die  Beschaffenheit  meines  äußeren  Tuns  und  meiner 
inneren  Gesinnung,  würde  die  vollkommene  Negation  jeder 
Ethik,  jeder  Moralität,  ja  jeder  praktischen  Besonnenheit  bedeu- 
ten. Sie  würde  die  schrankenlose  Willkür  des  Individuums  zur 
Folge  haben,  jedes  Selbsterhaltungsstreben  vernichten,  jede  ge- 
sellschaftliche Organisation  zerstören,  kurz,  eine  kaum  auszu- 
denkende Sprengwirkung  auf  den  Bestand  eines  geordneten 
Einzel-  und  Gemeinschaftslebens  ausüben.  Es  hat  deshalb  sei- 
nen guten  innerenGrund,  wenn  wir  keine  philosophische  Unsterb- 
lichkeitslehre kennen,  die  nicht  durch  Hinzufügung  eines  Dog- 
mas von  der  jenseitigen  Vergeltung  diese  Wirkungen  aufzuheben 
strebte,  indem  sie  als  Bedingung  für  eine  wünschenswerte  Form 
des  Fortlebens  eben  jene  Bestimmtheit  des  diesseitigen  Lebens 
darstellt,  die  aufzuheben  sonst  die  unmittelbare  Tendenz  der 
Unsterblichkeitslehre  wäre.  Aber  die  Vergeltungslehre  setzt, 
wenn  sie  nicht,  wie  im  buddhistischen  Begriffe  des  „Karma", 
den  Eintritt  von  Lohn  und  Strafe  als  eine  naturgesetzliche  Not- 
wendigkeit begreift,  den  Glauben  an  richtende  und  vergeltende 
Gottheiten  voraus,  und  damit  ersetzt  sie  die  Selbsterlösungs- 
lehre durch  eine  Fremderlösungstheorie  —  davon  abgesehen, 
daß  sie  in  allen  Fällen  das  Ideal  an  die  tatsächliche  Wahrheit 
sehr  problematischer  Annahmen  knüpft.  Von  all  diesen  Konse- 
quenzen nun  ist  Pia  ton  nicht  freizusprechen;  aber  dieser  ganze 

Gomperz,  Lebensauffassung  12 


178 


ACHTE  VORLESUNG 


Gesichtspunkt  steht  doch  bei  ihm  keineswegs  im  Vordergrunde. 
Denn  nicht  nur  im  „Gorgias"  *,  sondern  auch  im  „Staate"2  führt 
er  diese  Jenseitsvorstellungen  wie  geflissentlich  erst  nach  Ab- 
schluß der  eigentlichen  Untersuchung  in  einem  Anhange  aus, 
so  daß  sie  in  jene  sachlich  in  keiner  Weise  eingreifen,  und  in 
dem  zuletzt  genannten  Werke  bemerkt  er  ausdrücklich3,  nachdem 
einmal  die  innere  Identität  von  Tugend  und  Glückseligkeit  nach- 
gewiesen sei,  könne  es  ja  nicht  mehr  schaden,  auch  auf  die  äußere 
Vergeltung  hinzuweisen.  Allein  diese  Nachhut  hat  sich  stärker 
gezeigt  als  die  ganze  Streitmacht.  Das  göttliche  Gericht  war 
viel  handgreiflicher  als  die  innerliche  Selbsterlösung.  Die  abend- 
ländische Menschheit  hat  bewiesen,  daß  sie  nur  für  diese  Form 
der  Erlösungslehre  reif  war.  Die  Abfälle  von  Piatons  Gedan- 
kenschmaus sind  zum  täglichen  Brote  des  Volkes  geworden.  Zu 
Zeiten,  wo  die  eigentümliche  Form  seiner  Freiheitslehre  höch- 
stens hier  und  da  einem  einsam  schreibenden  Mönche  bekannt 
war,  wurden  Himmel  und  Hölle  von  allen  Kanzeln  gepredigt. 
Und  die  Fremderlösungslehre,  die  er,  halb  andächtig  halb  scherz- 
haft, seiner  eigensten  Doktrin  angehängt  hatte,  —  sie  hat  seine 
und  alle  übrigen  Formen  des  sokratischen  Selbsterlösungsge- 
dankens siegreich  überwunden.  Und  so  hat  er  selbst  sein  eige- 
nes Schicksal  besiegelt,  sein  eigenes  „Karma"  gewirkt. 

Allein  Piatons  Entwicklung  hatte  mit  dem  „Staate"  noch 
keineswegs  ihren  Abschluß  gefunden.  Noch  zwei  weitere  Stufen 
derselben  sind  uns  bekannt,  wenn  auch  freilich  für  die  Ethik 
nicht  ebenso  bedeutsam  wie  die  früheren. 

Im  „Philebos"  nimmt  er  aufs  neue  die  Untersuchung  auf, 
worin  das  Gute  seinem  Wesen  nach  bestehe,  und  zwischen  dem 
kynischen  und  dem  kyrenaischen  Standpunkte  vermittelnd,  und 
ihrer  beider  berechtigten  Kern  seinem  eigenen  Systeme  ein-  und 
unterordnend,  gelangt  er4  zu  dem  Ergebnis,  das  Gute  bestehe  aus 
fünf  Elementen:  Maß,  Schönheit,  Vernunft,  Erkenntnis  und  jene 
Lust,  deren  Abwesenheit  nicht  als  Unlust  empfunden  wird.  Es 
ist  für  unsere  Zwecke  unnötig,  auf  die  Erörterungen  dieses 

i)  Gorg.  p.  523 äff.  2)  ReSp.  X.  p. 608c  ff.  3)  ReSp.  X.  p.612b.  *)  Phileb.  p.66. 


PLATON 


dunkeln,  im  einzelnen  an  feinen  Beobachtungen  und  Gedanken 
reichen,  im  ganzen  aber  doch  schon  einigermaßen  senilen  Wer- 
kes näher  einzugehen.  Das  Gesagte  muß  genügen,  um  Ihnen  zu 
zeigen,  daß  Pia  ton  hier  an  den  allerwesentlichsten  Gesichts- 
punkten seiner  früheren  Lehre  festhält:  nämlich  an  der  ent- 
scheidenden Bedeutsamkeit  von  Maß  und  Vernunft  —  wenn 
auch  im  einzelnen  manches  sorgfältiger  behandelt,  manches 
freilich  auch  unplastischer  und  unbestimmter  geworden  ist,  und 
wenn  auch  im  allgemeinen  mit  der  erlahmenden  Schwungkraft 
seines  Enthusiasmus  die  leidenschaftliche  Begeisterung  an  Be- 
deutung verloren,  und  dafür  das  erkenntnismäßige  Element  der 
Vollkommenheit  an  Nachdruck  gewonnen  hat.  Man  könnte  sogar 
in  gewissem  Sinne  sagen:  PlatonseiimAlterdemlntellektualis- 
mus  seiner  Jugend  wieder  näher  gekommen ;  die  Vernunft  sei  aus 
ihrer  vorwiegend  symbolischen  zu  einer  mehr  selbstwertigen 
Stellung  vorgerückt;  der  Philosoph  sei  mit  den  Jahren  in  den 
Wortlaut  seiner  Lehre  hineingewachsen.  Doch  all  dies  ist,  wie 
gesagt,  für  uns  nicht  von  ausschlaggebender  Bedeutung. 

Dagegen  nimmt  die  letzte  Phase  der  platonischen  Lebensauf- 
fassung wenigstens  in  einer  Beziehung  unser  Interesse  beson- 
ders in  Anspruch.  Sie  liegt  uns  vor  Augen  in  den  „Gesetzen", 
in  denen  er  den  Idealstaat  der  „Republik"  durch  eine  „zweit- 
beste", leichter  zu  realisierende  Verfassung  ersetzen  will.  Diese 
Absicht  ist  auch  für  die  Stimmung  des  Werkes  charakteristisch. 
Es  ist  eine  höchst  merkwürdige  Mischung  von  erlahmtem  Inter- 
esse für  die  Grundfragen  und  gesteigerter  Sorge  um  das  Detail. 
Je  weniger  er  der  Welt  im  ganzen  Geschmack  abgewinnen  kann, 
desto  mehr  fühlt  er  sich  verpflichtet,  im  einzelnen  zum  guten 
zu  raten.  Je  weniger  ihn  die  Totalität  seiner  Vorschläge  selbst 
befriedigt,  um  so  sorgfältiger  wägt  er  jeden  von  ihnen  ab.  Er 
sagt  es  selbst:  wenn  schon  ein  Zustand,  wie  man  sich  ihn 
wünschte,  nicht  zu  erreichen  ist,  so  muß  man  wenigstens  tun, 
was  man  kann.  „Nun  sind  wohl,"  meint  er1,  „freilich  die  mensch- 
lichen Angelegenheiten  keiner  großen  und  ernsten  Bemühung 

i)  Legg.  VII.  p.  803  b. 

12* 


180 


ACHTE  VORLESUNG 


wert.  Dennoch  ist  es  notwendig,  sie  ernst  zu  nehmen.  Dies  ist 
zwar  nicht  erfreulich.  Nachdem  wir  aber  einmal  da  sind,  so 
möchte  es  uns  wohl  geziemen,  dies  auf  irgendeine  uns  anstehende 
Weise  zu  tun."  Von  dieser  pessimistischen  Resignation  aus 
kommt  er  nun  zu  dem  Vergleiche  von  Leben  und  Spiel.  Dieser 
Vergleich,  ich  habe  es  öfter  betont,  muß  sich  stets  als  Ausdruck 
für  die  Lehre  von  der  inneren  Freiheit  aufdrängen.  Denn  wer 
das  äußere  Leben  als  unfähig  betrachtet,  uns  wahrhaft  zu  för- 
dern oder  zu  schädigen,  der  kann  es  nicht  im  letzten  Sinne  ernst 
nehmen;  dann  erscheint  es  aber  als  Spiel.  Bei  Bion  ist  uns 
dergleichen  schon  vorgekommen;  und  wir  werden  später  sehen, 
welche  Bedeutung  der  Spielbegriff  für  die  stoische  wie  für  die 
neuplatonische  Lebensauffassung  gewinnt.  Piaton  nun  wird 
von  der  müden  Weltverachtung  seines  Greisenalters  zu  dem 
Gedanken  geführt:  Das  Leben  ist  nur  ein  Spiel!1  Schon  im 
letzten  Buche  des  „Staates"  kommt2  gelegentlich  ein  Vergleich 
des  Lebens  mit  einem  Würfelspiel  vor,  sowie  auch  der  Satz, 
daß  die  menschlichen  Dinge  keiner  ernstlichen  Bemühung  wert 
sind.  Dann  war  im  „Philebos"3  von  „der  gesamten  Tragödie 
und  Komödie  des  Lebens"  gesprochen  worden.  Ins  Religiöse 
wird  der  Gedanke  weiterhin  gewendet,  wenn  Piaton  in  den 
„Gesetzen"4  mit  offenbarer  Anspielung  auf  das  bekannte  Wort 
des  Heraklit  und  im  Zusammenhange  einer  emphatischen  Ver- 
kündung des  optimistischen  Universalismus,  Gott  den  Brett- 
spieler nennt.  Noch  deutlicher  heißt  es  an  einer  anderen  Stelle5: 
„Lasset  uns  ein  jedes  von  uns  lebendigen  Wesen  als  ein  gött- 
liches Wunderwerk  betrachten  —  sei  es  nun,  daß  es  gefertigt 
sei  als  ein  Spielzeug  jener,  sei  es  im  Ernste:  denn  dieses  er- 

*)  Diese  Nuancierung  des  Gedankens  mag  mit  Piatons  Unsterblichkeits- 
annahmen zusammenhängen:  wird  der  Ernst  ins  Jenseits  verlegt,  so  bleibt 
für  das  Diesseits  nur  die  Spielauffassung  übrig.  So  auch  Mohammed, 
Koran  29.  64  (Übersetzung  von  Henning  S.  395):  „Und  dieses  irdische 
Leben  ist  nichts  als  ein  Zeitvertreib  und  ein  Spiel,  und  siehe,  die  jen- 
seitige Wohnung  ist  wahrlich  das  Leben."  Ebenso  noch  Koran  6. 32  (S.  145), 
47.  38  (S.  500)  und  57.  19  (S.  534).  2)  ReSp.  X.  p.604c.  3)  Phileb.  p.  50b. 
4)  Legg.  X.  p.  903  d.  5)  Legg.  I.  p.  644 d. 


PLATON 


181 


kennen  wir  ja  doch  nicht."  Am  ausführlichsten  aber  lesen  wir 
an  einem  anderen,  freilich  dunkeln  und  auch  hinsichtlich  des 
Wortlautes  nicht  ganz  zweifelfreien  Orte1:  „Ich  behaupte  aber, 
man  müsse  das  Ernsthafte  ernsthaft  betreiben,  das  nicht  Ernst- 
hafte aber  nicht;  von  Natur  aber  sei  Gott  aller  seligen  ernsten 
Bemühung  würdig,  der  Mensch  aber  sei,  wie  wir  früher  sagten, 
hergestellt  als  irgendein  göttliches  Spielzeug  und  in  Wahrheit 
sei  dieses  das  beste  an  ihm.  An  diese  Weise  also  müsse  man 
sich  halten,  und,  möglichst  schöne  Spiele  spielend,  müsse  jeder 
Mann  und  jedes  Weib  also  dahinleben,  der  entgegengesetzten 
Gesinnung  wie  jetzt.  Was  ist  also  das  richtige?  Spie- 
lend soll  man  dahinleben.  Welche  Spiele  aber  opfern  und 
singen  und  tanzen?  Solche,  daß  man  imstande  sei,  die  Götter 
sich  gnädig  zu  stimmen,  die  Feinde  abzuwehren  und  im  Kampfe 
zu  siegen."  Wenn  man  aber  etwa  aus  diesen  Äußerungen  sich 
nicht  allzuviel  machen  möchte,  so  erhalten  sie,  wie  jüngst  auch 
von  anderer  Seite  bemerkt  worden  ist,  durch  ein  mittelbares 
Zeugnis  erhöhtes  Gewicht.  Aristoteles  nämlich  bestreitet  ge- 
legentlich mit  Heftigkeit  den  Satz,  die  „Eudaimonie"  sei  ein 
Spiel.  „Nicht  im  Spiel  also,"  sagt  er2,  „besteht  das  Glück.  Denn 
ungereimt  wäre  es,  daß  das  Ziel  ein  Spiel  sei  und  man  des 
Spieles  halber  sich  das  ganze  Leben  abmühen  und  dulden 

sollte.  Ernstlich  arbeiten  aber  und  sich  abmühen  des 

Spieles  halber,  das  scheint  armselig  und  allzu  kindermäßig." 
Aristoteles  nun  hat  nicht  die  Gewohnheit,  offene  Türen  ein- 
zurennen und  mit  Windmühlen  zu  kämpfen.  Eine  derartige 
Auseinandersetzung  —  freilich  keine  allzu  tiefsinnige,  wie  Sie 
bemerken  —  stellt  offenbar  eine  Polemik  dar.  Gegen  wen  aber? 
Die  Möglichkeit,  daß  ein  anderer  Sokratiker  die  These  ver- 
fochten hätte,  das  ethische  „Ziel"  bestehe  in  einer  spielenden 
Auffassung  des  Lebens,  kann  nicht  schlechthin  ausgeschlossen 
werden;  denn  so  gut  wie  Bion  konnte  ja  auch  einer  seiner  Vor- 
läufer (z.  B.  sein  Lehrer  Theodoros)  diesen  Gedanken  ver- 

1)  Legg.  VII.  p.  803c.  2)  £th.  Nie.  X.  6,  p.  1176b  27;  vgl.  auch  Polit.  VIII,  1, 
p.  1337  b  35. 


182 


ACHTE  VORLESUNG 


treten.  Weitaus  wahrscheinlicher  aber,  weil  den  Gewohnheiten 
des  Stagiriten  entsprechender,  erscheint  die  Annahme,  er  habe 
hier  seinen  Lehrer  Piaton  im  Auge.  Dann  aber  muß  er  die  in 
den  „Gesetzen"  hervortretende  Lebensauffassung  ernster  ge- 
nommen haben,  als  die  meisten  heutigen  Ausleger.  Und  dann 
dürfen  wir,  da  ja  das  Bild  offenbar  das  Abgebildete  voraussetzt, 
in  diesem  Tatbestande  einen  neuen  und  letzten  Beweis  dafür 
erblicken,  daß  Pia  ton  auch  in  der  letzten  Phase  seines  Denkens 
und  Empfindens  dem  Ideale  der  inneren  Freiheit  treu  ge- 
blieben ist. 


DIE  STOA  I 


NEUNTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 


IR  haben  in  den  letzten  drei  Vorlesungen  jene 
Ausprägungen  des  somatischen  Freiheits- 
ideals kennen  gelernt,  die  von  den  unmittel- 
baren Jüngern  des  Meisters  herrühren:  der 
Sokratismus  der  ersten  Generation  ist 
an  uns  vorübergezogen.  Aber  der  Tiefe  des 
Freiheitsbewußtseins  entsprach  eine  ge- 
wisse Oberflächlichkeit  der  Freiheitslehre:  weder  die  kyni- 
sche  noch  die  kyrenaische  Ethik  sind  über  das  mehr  Andeutungs- 
weise undSkizzenhafte  als  Lehrhafte  und  Systematische  der  soma- 
tischen Theorie  hinausgekommen.  Ich  habe  auf  diesen  Umstand 
schon  zu  Beginn  der  letzten  Vorlesung  hingewiesen,  nicht  ohne 
dem  Bedauern  Ausdruck  zu  geben,  daß  diese  heroisch-prak- 
tische Epoche  so  bald  zur  Neige  ging.  Aber  auch  bei  Piaton 
ist  der  Wandel  noch  keineswegs  ein  vollständiger.  So  ent- 
schieden hier  Lehre  und  Theorie  schon  vorherrschen  vor  Leben 
und  Praxis  —  es  ist  doch  kein  Zufall,  daß  das  platonische  System 
sich  uns  zeigt  als  begriffen  im  Flusse  einer  beständigen  Ent- 
wicklung. Dies  ist  nur  möglich,  wo  als  das  wahrhaft  Wesent- 
liche noch  die  lebendige  Gesinnung  gilt  und  nicht  die  tote  For- 
mel. Das  platonische  Denken  bedeutet  den  Anfang,  aber  auch 
nur  den  Anfang  der  sokratischen  Dogmatik.  An  den  Anfang 
aber  schließt  sich  auch  hier  die  Blüte.  Die  zweite,  zum  Teil 
auch  die  dritte  Generation  steht  noch  im  Banne  der  neuen  Ge- 
danken. Die  dritte  aber,  und  vor  allem  die  vierte,  bringt  nun 
die  großen,  in  sich  geschlossenen  Lehrsysteme  der  inneren 


184 


NEUNTE  VORLESUNG 


Freiheit  hervor:  das  stoische,  das  epikureische  und  das  skep- 
tische (wenn  auch  das  letztgenannte,  seinem  Inhalte  nach,  diesen 
Charakter  nicht  voll  zu  entfalten  vermag).  Hier  kann  von  einer 
„Entwicklung"  nichtmehr  dieRede sein.  Wenn  man Chrysipp, 
Epikur  oder  Karneades  zugemutet  hätte,  seine  Ansichten  zu 
ändern,  so  hätte  er  das  als  das  Ansinnen  einer  ehrlosen  Hand- 
lung empfunden  und  zurückgewiesen.  Und,  was  von  den  Ein- 
zelnen, das  gilt  auch  von  den  Schulen.  Lange  Denkerreihen 
lehren  hier  —  dasselbe.  Geschieht  es,  weil  sie  auch  —  dasselbe 
erleben?  Doch  wohl  schwerlich!  Vielmehr,  weil  das  Band 
länger  und  dünner  geworden  ist,  das  ihr  Denken  mit  ihrem  Er- 
leben verknüpft.  Wenn  also  hier  die  individuelle  Mannigfaltig- 
keit der  systematischen  Einheit  weicht,  so  hat  das  seinen  Grund 
darin,  daß  überhaupt  der  subjektive  Erlebnisinhalt  zurücktritt 
hinter  den  objektiven  Denkinhalt;  denn  dieser  ermöglicht  natür- 
lich in  viel  höherem  Grade  Übereinstimmung  und  Zusammen- 
schluß als  jener.  Nun  hat  es  zu  allen  Zeiten  Männer  gegeben, 
welche  eine  solche  Wandlung  als  einen  unzweifelhaften  Fort- 
schritt ansehen.  Wo  es  sich  um  Fragen  der  Lebensauffassung 
handelt,  kann  ich  mich  zu  einem  solchen  Dogmatismus  nicht 
bekennen.  Dies  ist  Ihnen  aus  dem,  was  ich  eben  ausgeführt 
habe,  wohl  hinreichend  deutlich  geworden.  Aber  ebensowohl 
auch,  daß  es  mir  doch  wieder  ungerecht  schiene,  nun  in  dieser 
Entwicklung  einseitig  nur  einen  Rückschritt  zu  erblicken.  In 
der  Geschichte  der  Ideen  und  der  Ideale  verlangen  eben  die 
verschiedenen  menschlichen  Kräfte  ihr  Recht.  Wessen  einst 
das  Herz  voll  war,  davon  geht  späterhin  auch  der  Kopf  über. 
Das  Gemüt,  in  seinen  Erlebnissen  und  Erfahrungen,  sammelt 
den  Stoff;  aber  auch  der  Verstand  mag  fordern,  daß  ihm  Ge- 
legenheit werde,  an  diesem  Stoff  sich  zu  betätigen  und  auszu- 
wirken, ihn  zu  sichten  und  zu  formen.  So  ist  es  immer  und 
überall  gewesen;  so  mußte  es  vor  allem  unter  Griechen  ge- 
schehen, denen  die  Verstandesmäßigkeit  angestammt  war  im 
Grunde  ihres  Wesens;  und  an  einem  Ideal,  das  gleich  seinen 
ersten  theoretischen  Ausdruck  in  der  extrem-intellektualistischen 


DIE  STOA  I 


185 


Lehre  des  Sokrates  gefunden  hatte.  Also  nicht,  um  Sie  zu 
mißgünstiger  Kritik  anzueifern,  habe  ich  dieses  vorausgeschickt, 
sondern  um  von  vornherein  den  Eindruck  des  Unlebendigen 
abzustumpfen  und  zu  erledigen,  den  vielleicht  der  eine  oder 
andere  von  Ihnen  bei  der  Darstellung  dieser  spät-sokratischen 
Systeme  empfangen  mag. 

Unter  diesen  aber  nimmt  das  stoische  weitaus  den  ersten 
Rang  ein.  Es  ist  das  ausgeführteste  unter  all  den  ethischen  Ge- 

!  dankengebäuden  des  Altertums;  und  schon  dies  wäre  ein  Grund, 

[  bei  ihm  etwas  eingehender  zu  verweilen;  denn  es  wird  in  vieler 

!  Hinsicht  von  Vorteil  sein,  wenigstens  einen  solchen  Gedanken- 
bau sowohl  in  seinem  Aufbau  als  Ganzes,  wie  in  der  Gliederung 
und  Ausarbeitung  seiner  Teile  zu  überblicken;  und  das  ver- 
mögen wir  an  diesem  Punkte  am  leichtesten,  am  sichersten  und 
am  besten.  Ein  zweiter  Grund  liegt  in  dem  Umstände,  daß,  wie 
mir  scheint,  die  stoische  Ethik  noch  vielfach  in  wesentlichen 

I  Punkten  mißverstanden  zu  werden  pflegt;  und  gegen  solche 
Mißverständnisse  kann  ich  Sie  nur  durch  Mitteilung  der  am 

i  meisten  charakteristischen  Quellenstellen  von  vornherein  wapp- 
nen. Und  ein  dritter  Grund  endlich  liegt  in  der  großen  inneren 

I  Wichtigkeit  der  stoischen  Gedanken;  denn  diese  bieten,  wie 
sich  zeigen  wird,  in  vieler  Hinsicht  in  der  Tat  eine  angemessene 
Beschreibung  und  Theorie  des  Erlösungsprozesses. 

Ehe  ich  aber  nun  an  diese  eingehende  Darstellung  der 
stoischen  Ethik  gehe,  muß  ich  wohl  noch  ein  Doppeltes  voraus- 
schicken: ein  paar  kurze,  orientierende  Bemerkungen  über  die 
äußere  Geschichte  der  Schule,  und  eine  allgemein-schematische 
Ubersicht  über  den  inneren  Zusammenhang  des  ganzen  Systems. 

Die  Stoa  entwickelte  sich  aus  dem  Kynismus.  Ihr  Begründer 
Zenon1  war  ein  Schüler  des  Krates.  Unter  den  Schülern  des 
Zenon  nimmt,  wie  wir  sehen  werden,  Ariston  von  Chios  eine 

i  wichtige  Sonderstellung  ein.  Die  Schulüberlieferung  aber 
pflanzte  Kleanthes,  und  nach  diesem  Chrysippos  fort:  einer 
der  schreibseligsten  und  streitsüchtigsten  Scholastiker  aller 

i)~~Um  300  v.  Chr. 


186 


NEUNTE  VORLESUNG 


Zeiten,  der  das  System  der  „älteren  Stoa"  kodifiziert  und  im 
wesentlichen  abgeschlossen  hat.  Aus  der  sogenannten  „mitt- 
leren Stoa"1  habe  ich  Ihnen  seinerzeit  Panaitios  und  Posei- 
donios  genannt,  über  deren  ethische  Standpunkte  uns  indes 
so  widersprechendes  berichtet  wird2,  daß  sie  hier  außer  Be- 
tracht bleiben  müssen.  Während  uns  aber  von  allen  diesen 
Denkern  nur  Bruchstücke  ihrer  Werke  erhalten  sind,  liegen  uns 
von  einigen  Vertretern  der  „jüngeren  Stoa"  wichtige  Gesamt- 
leistungen vor:  insbesondere  die  zahlreichen  Schriften  des 
jüngeren  Seneca3,  ferner  das  „Handbüchlein"  und  die  von 
Arrian  herausgegebenen  Vorträge  des  Epiktet4,  und  endlich 
die  Selbstgespräche  des  Kaisers  Marc  Aurel5.  Doch  werde 
ich  auf  diese  zeitlichen  Unterschiede  nur  soweit  eingehen,  als 
unbedingt  nötig  ist,  und  im  übrigen  die  stoische  Ethik  als  Ganzes 
darstellen.  Und  zwar  zunächst,  wie  schon  gesagt,  in  einer  all- 
gemeinen, auf  die  Grundzüge  beschränkten  Obersicht. 

Eine  psychologische  Ableitung  dieser  Lehre  aber  vermag  ich 
Ihnen  nicht  zu  bieten.  Denn  zu  sehr  tritt  hier  die  individuelle 
Lebensauffassung  hinter  den  systematischen  Lehrgehalt  zurück. 
Nur  die  schlichte  Kraft  und  die  demütige  Frömmigkeit  des 
Kleanthes  wird  uns  einigermaßen  lebendig.  Zenon  selbst 
aber  stellt  sich  dar  als  eine  still-eifrige  Gelehrtennatur,  und  ich 
wüßte  nicht  zu  sagen,  welchen  lebendigen  Antrieben  seine  große 
systematische  Kraft  gedient  hat.  Nur  daß  er  an  Krates  als  an 
den  Vertreter  der  (ihm  durch  Xenophons  „Memorabilien"  be- 
kannt gewordenen)  sokratischen  Lebensauffassung  sich  ange- 
schlossen, aber  durch  seine  „Schamhaftigkeit"  von  den  Kynikern 
sich  unterschieden  habe,  wird  uns  berichtet6.  Doch  besagt  das 
letztere  kaum  mehr,  als  was  wir  auch  sonst  wüßten:  daß  nämlich 
seinem  Wesen  eine  weit  weniger  kräftige,  aber  darum  auch  weit 
weniger  einseitige  Ausgestaltung  des  Sokratismus  entsprochen 
hat.  Wie  aber  diese  zugleich  abschwächende  und  erweiternde 

i)  Um  100  v.  Chr.  2)  Vgl.  Diog.  Laert.  VII.  103  und  128  mit  Seneca,  ep. 
87.  35!  3)  um  60  n.  Chr.  4)  Um  100  n.  Chr.  5)  Gestorben  180  n.  Chr. 
6)  Diog.  Laert.  VII.  2  f. 


DIE  STOA  I 


187 


Umbildung  des  Kynismus  im  einzelnen  durch  seine  Persönlich- 
i  keit  bedingt  war,  ist  uns  undeutlich.  Nur  ihr  Ergebnis  liegt  uns 
|  vor  Augen.  Und  es  muß  deshalb  hier  genügen,  die  Theorie  der 
Schule  als  solche  zu  skizzieren. 

Das  sokratische  Ideal  der  inneren  Freiheit  wird  von  der  Stoa 
nicht  nur  festgehalten,  sondern  nach  jeder  Richtung  hin  ausge- 
führt und  vertieft.  Das  Bewußtsein,  daß  nur  die  Tüchtigkeit  ein 
Gut,  nur  die  Schlechtigkeit  ein  Übel,  alles  Äußere  aber  gleich- 
gültig sei,  ist  die  Grundüberzeugung  der  Schule. 

Sie  unterscheidet  nun  aber:  einerseits  die  Freiheit  im  Erleben, 
andererseits  die  Freiheit  im  Tun. 

Die  Freiheit  im  Erleben  wiederum  muß  sowohl  in  positiver 
wie  in  negativer  Beziehung  näher  bestimmt  werden. 

Die  negative  Bestimmung  bildet  die  Affektenlehre.  Der  Kynis- 
mus hatte,  wie  Sie  sich  erinnern,  die  Unterscheidung  zwischen 
den  knechtenden  und  den  befreienden  Gemütserregungen  an- 
gebahnt: Antisthenes  unterschied  eine  zweifache  Lust,  Dio- 
genes setzte  der  Lust  des  Genusses  die  Fröhlichkeit,  Theo- 
;  doros  die  Freude  entgegen.  Die  nähere  Ausführung  dieser  An- 
sätze führte  die  Stoiker  zu  ihrer  eigentümlichen  Affektenlehre: 
;  zur  Scheidung  der  richtigen  von  den  unrichtigen  Affekten. 

Die  positive  Bestimmung  des  rechten  Erlebens  bezieht  sich 
;  auf  die  Frage,  wie  die  äußeren  Erlebnisse  aufzufassen  seien.  Die 
Antwort  lautet,  ganz  wie  später  bei  Spinoza:  als  integrierende 
Teile  des  Universums,  in  dessen  allgemeine  Wunschbejahung 
:  sie  auf  diese  Weise  einzuschließen  sind  —  ein  Standpunkt  übri- 
gens, den  bereits  Pia  ton  an  einer  schon  erwähnten,  merk- 
|  würdigen  Stelle  der  „Gesetze" 1  vertreten  hatte.  Solange  nun 
aber  der  Intellektualismus  nicht  vollständig  überwunden  ist,  und 
i  eine  bestimmte  Auffassung  daher  noch  nicht  einfach  als  Gegen- 
j  stand  einer  Forderung  betrachtet  wird,  die  der  Ethiker  an  den 
Willen  der  Menschen  stellt  (welchem  sie  dann  als  ein  Sollen 
entgegentritt);  solange  vielmehr  die  Voraussetzung  zu  Recht  be- 
steht, die  Auffassung  müsse  sich  richten  nach  dem  Sein  der  auf- 

^TLegg.  X,  p.  903b  ff. 


NEUNTE  VORLESUNG 


gefaßten  Objekte;  so  lange  muß,  statt  zu  verlangen,  die  Erleb- 
nisse sollten  als  integrierende  Teile  des  All  aufgefaßt  werden, 
vielmehr  bewiesen  werden,  daß  sie  dies  seien.  Es  muß,  mit 
anderen  Worten,  die  Welt  für  die  praktische  Einheits-Auffassung 
und  Bejahung  theoretisch  präpariert  werden,  und  eben  hierin 
besteht,  wie  Chrysipp1  ausdrücklich  bemerkt,  der  einzige 
Zweck  der  Physik.  Zu  diesem  Behufe  nun  knüpfte  Zenon  an 
Heraklit  an,  dessen  Physik  ja  vermutlich  selbst  schon  im 
Dienste  einer  ähnlichen  Lebensauffassung  gestanden  hatte.  Die 
Stoiker  lehren  deshalb  die  unzertrennliche  Einheit  des  All  in 
dreifacher  Beziehung.  Zunächst  besteht  es  aus  einem  einzigen 
Stoff,  dem  Feuer.  Und  auch  die  verschiedenen  Erscheinungs- 
formen dieses  Urstoffes,  die  Elemente,  existieren  nicht  neben- 
und  außereinander,  sie  sind  nicht  undurchdringlich,  sondern 
durchdringen  einander  gegenseitig:  es  besteht  eine  allgemeine 
Mischung  und  Verschmelzung2.  Zweitens  aber:  auch  Geist  und 
Materie  sind  nicht  zwei  verschiedene  Substanzen.  Der  Geist 
ist  nur  eine  besondere  Erscheinungsform  des  Stoffes,  und  auch 
er  durchdringt  alle  anderen  Erscheinungsformen  desselben.  Leib 
und  Seele  des  Menschen  bilden  eine  Einheit,  und  ebenso  auch 
Stoff  und  Geist  der  Welt:  unser  Leib  ist  nur  ein  Stück  der  all- 
gemeinen Weltmaterie,  unser  Geist  nur  ein  Teil  der  allgemeinen 
Weltvernunft.  Es  besteht  somit  weder  ein  psychophysischer 
noch  ein  theokosmischer  Dualismus,  sondern  vielmehr  ein  mo- 
nistisch-materialistischer Pantheismus.  Drittens  endlich:  die 
Welt  ist  auch  eine  Einheit  hinsichtlich  der  Ereignisse,  die  nach- 
einander in  ihr  stattfinden.  Jeder  Vorgang  folgt  auf  den  vorher- 
gehenden mit  Notwendigkeit.  Es  geschieht  nichts,  das  auch 
anders  geschehen  könnte,  sondern  alles  ergibt  sich  notwendig 
aus  der  Beschaffenheit  des  Universums.  Und  da  dieses  Uni- 
versum ein  vernünftig-beseeltes  ist,  so  heißt  dies:  alles  geschieht 
nach  dem  göttlichen  Ratschlüsse,  das  Schicksal3  und  Gott4  sind 
gleichwertige  Begriffe.  Über  allem  Weltgeschehen  waltet  eine 
fatalistische  Prädestination.  So  ist  um  jedes  räumliche  Außer- 


*)  Frg.  68  (Arnim  III).  2)  Kpäöi<;  bi  öAuuv.  3)  Eiuapjuevn..  4)  Zeus. 


DIE  STOA  I 


189 


I  einander,  um  jede  qualitative  Verschiedenheit  und  um  alles 
I  zeitliche  Nacheinander  ein  dreifach-ehernes  Band  gelegt,  das 
I  alles  zu  einem  einheitlichen  All  zusammenzwingt.  Und  nun 
kann  natürlich  das  ethisch  richtige  Erleben  nur  darin  bestehen, 
daß  jeder  Vorgang  nicht  so  verstanden  wird,  wie  er  als  einzelner 
an  sich  ist,  oder  wie  er  das  einzelne  Erlebende  affiziert,  sondern 
!  vielmehr  als  ein  Geschehen  an  dem  einen,  notwendigen  und 
!  göttlichen  All.  Die  positive  Bestimmung  des  innerlich  freien 
!  Erlebens  ist  freudige  Ergebung. 

Was  nun  andererseits  das  innerlich  freie  Tun  betrifft,  so  steht 
die  Stoa  unter  dem  Einflüsse  auseinandergehender  Motive. 
Einerseits  entwickelt  sie  die  schon  bei  den  Kynikern  erkenn- 
baren Keime  eines  allgemein  verbindlichen  Sittengesetzes.  Ge- 
|  wisse  Handlungsweisen  sollen  dem  Menschen  „natürlich"  sein 
(eine  Formulierung,  zu  der  auch  die  Lehre  der  älteren  Akade- 
;  mie  mitgewirkt  hat,  von  der  wir  noch  werden  sprechen  müssen): 
i  vor  allem,  sich  selbst  zu  erhalten  und  seine  Mitmenschen  zu 
fördern.  Aber  andererseits  würde  natürlich  die  innere  Freiheit 
aufgehoben,  wenn  nun  jenen  Gütern  ein  absoluter  Wert  zuge- 
:  schrieben  würde,  auf  deren  Verwirklichung  jene  „natürliche" 
!  Tätigkeit  sich  richtet;  denn  dann  müßte  ihr  Verlust  als  wahres 
Obel  anerkannt  werden.  So  werden  dieStoiker  genötigt,  zweierlei 
Werte  zu  unterscheiden:  relative,  welche  die  Richtung  der  sitt- 
lich richtigen,  also  der  tugendhaften  Tätigkeit  bestimmen;  und 
einen  absoluten,  der  in  dieser  Tätigkeit  selbst  besteht,  ohne 
Rücksicht  auf  ihren  Erfolg.  Um  ein  Beispiel  zu  betrachten: 
das  Leben  meines  Freundes  hat  für  mich  relativen  Wert;  denn 
es  ist  dem  Menschen  „natürlich",  seinen  Freunden  das  Leben  zu 
retten,  wenn  er  in  Gefahr  ist.  Absoluter  Wert  aber  kommt  nur 
dieser  meiner  rettenden  Tätigkeit  selbst  zu:  unterlasse  ich  sie, 
so  setze  ich  damit  für  mich  ein  Übel;  kein  solches  aber  bedeutet 
mir  der  Tod  des  Freundes  an  sich.  Mit  anderen  Worten:  die 
äußeren  Güter  geben  mir  den  Stoff  meines  Tuns  und  bestimmen 
seine  Richtung;  mein  innerer  Wert  aber  hängt  lediglich  von 
diesem  Tun  selbst  ab.  Das  Leben  ist  ein  Spiel,  in  dem  die 


190 


NEUNTE  VORLESUNG 


relativen  „natürlichen"  Werte  den  Einsatz  darstellen,  und  die 
auf  deren  Verwirklichung  hingeordneten  „natürlichen"  Triebe 
die  Spielregeln  bilden;  Gegenstand  der  ethischen  Beurteilung 
aber  ist  allein  dasjenige,  was  von  Gewinn  oder  Verlust  des 
Spieles  völlig  unabhängig  ist:  die  Art  und  Weise  nämlich,  wie 
ich  in  der  jeweiligen  Lage  die  Spielregeln  zur  Anwendung 
bringe.  Nur  sie  ist  ein  wahres  Gut  und  die  alleinige  Bedingung 
meiner  Glückseligkeit. 

Dies  also  ist  nach  der  stoischen  Lehre  der  Inhalt  der  Erlösung. 
Aber  auch  ihre  Form  behandeln  sie  in  eigentümlicher  Weise. 
Sie  knüpfen  nämlich  an  den  allgemein  sokratischen  Begriff  des 
Wissens  an,  und  nennen  denjenigen,  welcher  den  ethischen  For- 
derungen durchaus  entspricht,  den  Weisen.  Alle  anderen  sind 
Toren:  es  gibt  keinen  allmählichen,  sondern  nur  einen  plötz- 
lichen Obergang  von  diesem  Zustand  zu  jenem;  der  Prozeß  der 
Erlösung  vollzieht  sich  in  einem  einzigen  Augenblick1.  Wenn 
trotzdem  auch  unter  den  Toren  Unterschiede  von  ethischer 
Bedeutsamkeit  bestehen,  so  gründen  sich  dieselben  nicht  auf 
den  widerspruchsvollen  Begriff  einer  teilweisen  Erlösung,  son- 
dern können  sich  lediglich  auf  die  größere  oder  geringere  Chance 
beziehen,  der  vollen  Erlösung  teilhaft  zu  werden2. 

Lassen  Sie  mich  nun,  geehrte  Zuhörer,  da  ich  zur  näheren 

*)  Dieser  auffallende  Satz  ist  jedoch  nur  als  eine  Folgerung  aus  den  weiter- 
hin wiederzugebenden  begrifflichen  Erwägungen  zu  betrachten,  und  nicht 
etwa  (wie  man  leicht  denken  könnte)  als  eine  solche  aus  Erfahrungen 
plötzlicher  „Bekehrung".  Bedürfte  es  hierfür  eines  Beweises,  so  würde 
dieser  durch  den  stoischen  Begriff  des  „unbewußten  Weisen"  (aoqpöc; 
6iaXe\r]0uü<;:  Frg.  539 — 542)  geliefert,  welcher  voraussetzt,  daß  die  „Recht- 
fertigung" nicht  durch  einen  Bewußtseinsvorgang  erfolgt,  sondern  nur 
späterhin  durch  einen  solchen  erfaßt  werden  kann:  „Denn  diejenigen, 
welche  bis  zum  Gipfel  der  Weisheit  vorgedrungen  sind,  und  ihre  Grenze 
eben  erst  erreichen,  können  um  ihre  eigene  Vollendung  nicht  wissen. 
Denn  es  ist  unmöglich,  daß  beides  zur  gleichen  Zeit  eintrete:  das  Anlangen 
an  der  Grenze  und  das  Bewußtsein  von  diesem  Anlangen"  (Frg.  541). 
2)  Derselbe  Gedanke  auch  in  Indien,  wo  wir  bei  £ankara  lesen:  „In  betreff 
der  Erlösung  ...  ist  ein  Unterschied  des  Grades  nicht  möglich"  (D  e u s s e n, 
Die  Sutra's  des  Vedanta,  S.  681). 


DIE  STOA  I 


191 


Ausführung  dieses  vorläufigen  Schemas  übergehen  will,  gleich 
bei  dem  letzten  Punkte  verweilen.  Es  handelt  sich  darum,  wie 
die  Stoa  den  Begriff  „Ethisches  Ideal"  auffaßt  und  behandelt. 
Den  ersten  Ansatz  zur  Bildung  dieses  Begriffes  fanden  wir  in 
der  sokratischen  Forderung  des  Wissens.  „Wer  das  rechte 
Wissen  um  die  Tugend  hätte,  der  hätte  auch  sie  selbst"  —  das 
ist  die  eigentliche  Form  der  sokratischen  Lehre,  und  alle  ihre 
Sätze  über  die  Tugend  gelten  im  strengen  Sinne  nur  von  diesem 
hypothetischen  Wissenden.  Daß  nun  er  selbst  ein  solcher 
Wissender  nicht  sei,  und  ebensowenig  irgend  ein  anderer,  den 
er  kenne,  dies  hat  Sokrates  stets  mit  Nachdruck  hervorgehoben 
und  bekannt.  Daß  es  aber  einen  solchen  geben  könne,  daran 
scheint  er  nicht  den  leisesten  Zweifel  geäußert  oder  gehegt  zu 
haben.  So  klar  also  hier  der  Idealbegriff  hervortritt,  sein  Ver- 
hältnis zur  empirischen  Wirklichkeit  bleibt  unbestimmt.  Wesent- 
lich dasselbe  wird  man  von  dem  platonischen  Ideal  des  „Ge- 
rechten" sagen  dürfen;  die  anderen  Sokratiker  aber  zeigen  in 
dieser  Hinsicht  eher  einen  Rückschritt  als  einen  Fortschritt. 
Das  sokratische  Bewußtsein  des  Nichtwissens  scheinen  die 
Jünger  jedenfalls  vom  Meister  nicht  übernommen  zu  haben;  es 
mag  sein,  daß  sie  an  der  Möglichkeit,  das  Ideal  zu  realisieren, 
schon  deshalb  nicht  meinten  zweifeln  zu  können,  weil  es  ihnen 
in  Sokrates  verwirklicht  schien.  Bei  den  Kynikern  nun  hat  es 
geradezu  den  Anschein,  als  wollten  sie  sich  selbst  für  die 
„braven  Männer"  ausgeben;  und  von  den  Kyrenaikern  wird  uns 
ausdrücklich  bezeugt1,  sie  hätten  die  Realität  des  Weisen  be- 
hauptet, was  sie  freilich  alsbald  nötigte2,  dem  Weisen  nicht 
„stets",  sondern  nur  „in  der  Regel"  die  Wahrung  der  inneren 
Freiheit  beizulegen.  Die  Stoiker  nun  folgten  in  diesen  Spuren. 
Schon  Zenon  hat3  die  Menschen  in  „gute"  und  „schlechte" 
eingeteilt,  und  behauptet4,  alle  Verfehlungen  seien  gleich;  denn 
|  das  sittlich  Richtige  könne  ebensowenig  wie  das  gedanklich 
Richtige  eine  intensiv  variable  Größe  sein:  wenn  von  zwei 

i)  Diog.  Laert.  II.  93.  2)  Diog.  Laert.  11.91.  3)  Stob.  Ekl.  II.  p.198  (Meineke), 
i  4)  prg.  527  (Arnim  III). 


192  NEUNTE  VORLESUNG 

Menschen  der  eine  100  Stadien  von  einem  bestimmten  Orte 
entfernt  sei,  der  andere  aber  nur  ein  Stadion,  so  seien  doch  eben 
beide  nicht  an  jenem  Orte,  und  ebenso  seien  auch  alle  „Schlech- 
ten" in  ganz  gleicher  Weise  nicht  „im  Richtigen".  In  anderer 
Form1  lautet  derselbe  Gedanke  so:  ein  Mittleres  zwischen  Tu-   \- . 
gend  und  Schlechtigkeit  gibt  es  ebensowenig,  wie  zwischen 
einem  geraden  und  einem  krummen  Holze.  So  ergibt  sich  der 
Satz2:  alle  sittlich  guten  und  auch  alle  sittlich  schlechten  Hand- 
lungen haben  je  untereinander  gleichen  Wert.  Es  ist  wichtig,  sich 
darüber  klar  zu  werden,  was  hier  vorgeht.  Die  ethische  Beur- 
teilung wird,  statt  auf  den  Grad  der  Annäherung  an  das  Ideal, 
auf  seine  Erreichung  oder  Nichterreichung  gegründet:  weil  ein 
Mensch  einen  noch  höheren  Wert  erringen  könnte,  wird  ihm 
jeder  Wert  abgesprochen.  Es  werden  hier  also  miteinander  : 
verwechselt:  das  Ideal  als  Ziel  und  das  Ideal  als  Maßstab  des 
ethischen  Fortschritts.  Der  Grund  dieser  Konfundierung  aber 
liegt  darin,  daß  das  Ideal  grundsätzlich  als  realisierbar  gedacht 
wird.  Dies  hat  nun  freilich  auch  seine  gute  Seite.  Denn,  wo 
die  entgegengesetzte  Annahme  zugrunde  liegt,  da  besteht  die 
Gefahr,  daß  die  ethischen  Anforderungen  in  der  Praxis  auf  ein 
allzutiefes  Niveau  herabsinken:  daß  neben  das  absolute  Ideal,  i 
als  das  theoretisch  denkbare  sittliche  Maximum,  ein  relativer  iti 
Durchschnittstypus  als  das  praktisch  genügende  ethische  Mini- 
mum gesetzt  wird.  So  ist  es  in  der  religiösen  Moralphilosophie  ; 
da  geschehen,  wo  in  der  Dogmatik  juristische  Begriffe  vorwalten,  is 
und  wo  deshalb  alle  wirklich  lebenden  und  deshalb  notwendig 
unvollkommenen  Menschen  als  der  ewigen  Verdammnis  ver- 
fallen gedacht  werden  müßten,  wenn  nicht  schon  ein  sehr  viel  s 
geringerer  denn  der  denkbar  höchste  Grad  von  Vollkommenheit 
als  ein  praktisch  genügendes  Surrogat  dieses  letzteren  zugelassen   :  r 
würde.  Dieser  Gefahr  also  ist  dieStoa  gewiß  nicht  erlegen.  Uner- 
müdlich hat  sie  alle  erdenklichen  Vorzüge  auf  den  Weisen  ge- 

!)  Diog.  Laert.  VII.  127  (Frg.  536,  wo  die  Quellenangabe  durch  einen  Druck- 
fehler entstellt  ist).  2)  Frg.  526,  529,  531;  vgl.  Cicero,  Paradox.  3,  Sext. 
Emp.  adv.  Math.  VII.  422  u.  d.  Frgg.  468,  524,  528,  530,  532,  533,  535,  539. 


DIE  STOA  I 


193 


häuft1:  ihn  sogar  an  Gott  herangerückt2,  ja  in  gewissem  Sinne 
selbstüberGotthinausgehoben3.  Ja,sosehr  fiel  ihr  der  Begriff  des 
Weisen  mit  dem  Inbegriff  aller  denkbaren  Vortrefflichkeit  zu- 
sammen, daß  sie  nicht  mehr  recht  zu  sagen  wußte,  wie  denn 
noch  individuelle  Unterschiede  zwischen  den  verschiedenen 
Einzelweisen  bestehen  könnten4:  eine  Fragestellung,  die  so  recht 
zeigt,  in  welche  Absurditäten  sich  derjenige  verstricken  muß, 
|  der  die  Einheit  des  Ideals  in  eine  Vielheit  von  Realitäten  aus- 
|  einanderzieht.  Allein  gerade,  weil  auf  diese  Weise  an  der  abso- 
!  luten  Vollkommenheit  des  ethischen  Maximums  intransigent 
festgehalten  und  ihm  auch  kein  ethisches  Minimum  als  Be- 
schwichtigungsmittel an  die  Seite  gesetzt  ward,  mußte  seine  Er- 
reichbarkeit wieder  höchst  fraglich  erscheinen.  Und  damit  erhob 
i  eine  andere  Gefahr  um  so  bedrohlicher  ihr  Haupt:  ich  meine 
die,  daß  die  ethische  Energie  überhaupt  erlahmen  und  einer 
praktischen  Indifferenz  Platz  machen  konnte.  „Die  Sterne,  die 
i  begehrt  man  nicht":  was  nützt  also  der  Begriff  des  vollkommen- 
sten, tugendhaftesten  und  glückseligsten  Weisen,  wenn  der  ein- 
zelne nicht  hoffen  kann,  ihn  zu  verwirklichen,  und  wenn  ihm 
mit  keiner  Annäherung  an  denselben  ernstlich  gedient  ist?  Von 
dieser  Gefahr  aber  kann  man  nicht  ebenso  behaupten,  daß  die 
Stoa  sie  überwunden  hätte.  Denn  auf  die  Frage,  ob  das  Ideal  von 
Menschen  überhaupt  erreicht  werde,  geben  die  Stoiker  sehr 
verschiedene  Antworten.  Während  Seneca  sogar  den  wenige 
Jahrzehnte  vorher  verstorbenen  jüngeren  Cato  einen  Weisen 
nennt5,  verhält  sich  die  Mehrzahl  der  Zeugen  weitaus  skep- 
tischer. Einen  oder  zwei  Weise6  habe  es  gegeben,  scheint  eine 
beliebte  Antwort  gewesen  zu  sein7.  Er  sei  so  selten  wie  der 
Vogel  Phönix8.  Ja,  es  wird  auch  geradezu  ausgesprochen, 

>  J)  Vgl.  Frg.  545  („Wegen  des  Übermaßes  seiner  Größe  und  Schönheit 
i  sieht  es  aus,  als  würden  wir  nur  Fiktionen  vorbringen,  und  nicht  solches, 
i  was  zum  Menschen  und  seiner  Natur  paßt."  Chrysipp.)  2)  Frg.  245—252, 

606,  607.  3)  Seneca,  de  prov.  1.  5  und  6.6.  4)  Stob.  Ekl.  II.  p.  237  (Mei- 
;  neke).  5)  De  constant.  2.  1.  6)  Wohl  Sokrates  und  Diogenes.  7)  Frg. 

658,  668.  8)  Seneca  ep.  42.  1;  Frg.  658. 

Gomperz,  Lebensauffassung  13 


194 


NEUNTE  VORLESUNG 


bisher  sei  noch  kein  Weiser  bekannt  geworden !.  Aber  die  Stoa 
fühlte  wohl,  daß  ihr  Ideal  auf  solche  Art  zu  einer  lächerlichen 
Fratze  zu  werden  drohte.  Und  sie  suchte  deshalb  dem  Begriffe 
der  Annäherung  an  das  Ideal,  des  ethischen  Fortschritts2  Zu- 
geständnisse zu  machen.  Dies  ist  aber  doch  nur  in  ganz  unzu-  j 
reichender  Weise  geschehen.  Denn  obwohl  Poseidonios  von 
Sokratikern  und  Kynikern  erklärte3,  sie  seien  im  Fortschreiten 
begriffen  gewesen ;  obwohl  S  e  n  e c  a  nach  dem  Vorgange  früherer 
drei  Klassen  derFortschreitenden  unterschied4,  und  schonC  h  r  y- 
sipp  die  höchste  derselben  nur  mehr  durch  eine  recht  feine 
Distinktion  von  den  Vollendeten  begrifflich  zu  trennen  ver- 
mochte5; die  Schule  rechnet  den  ethischen  Fortschritt  doch  nur 
zu  jenen  „vorzüglichen"  Dingen,  denen  ein  absoluter  Wert 
nicht  zukommt,  und  läßt  ihn  als  wahres  Gut  nicht  gelten6:  eine  I 
der  unglaublichsten  Lehren,  zu  denen  je  sterile  Folgerichtigkeit 
sonst  achtungswürdige  Denker  verführt  hat.  In  diesem  Punkte  I 
also  kann  die  stoische  Lehre  von  radikaler  Unzulänglichkeit  un-  j 
möglich  freigesprochen  werden.  Aber  auch  das  übrige  Altertum  ä 
ist  hier  zu  einer  entschiedenen  Klarheit  nicht  vorgedrungen. 
Und  ebensowenig  hat  (aus  den  früher  angedeuteten  Gründen)  j 
das  Christentum  den  Idealbegriff  wahrhaft  fruchtbar  zu  gestalten 
vermocht.  Fichte  vielmehr  blieb  es  vorbehalten,  ihn  von  all 
diesen  Zweideutigkeiten  durch  die  Bestimmung  zu  befreien,  I 
daß  das  Ideal  als  der  Grenzbegriff  einer  stetigen  Annäherung 
zu  denken  sei. 

Doch  wir  wenden  uns  von  der  Form  zum  Inhalt  des  stoischen 
Ideals  zurück.  Seinen  Kern  bildet,  wie  bei  allen  Sokratikern,  die 
Forderung  der  inneren  Freiheit.  Als  stoisches  „Paradoxon" 
wird  angeführt7:  „Nur  der  Weise  ist  frei,  jeder  Törichte  ein  ! 
Knecht."  Und  Chrysipp  sagt8:  „Nur  das  sittlich  Richtige9  ist 
ein  Gut,"  was  Seneca  wiederholt10.  Ebenso  läßt  Cicero  seinen  Ii 

1)  Sext.  Emp.  adv.  Math.  IX.  133;  Plut.  de  Sto.  repp.  31,  p.  1048e.  Vgl.  Frg.  619. 

2)  TrpoKOTrrj.  3)  Diog.  Laert.  VII.  91.  *)  Ep.  75.  8  ff.  5)  Frg.  510.  6)  Frg.  127,  !  1 
135,  136.    7)  Cicero,  Parad.  5;  Frg.  355;  vgl.  Frg.  356— 365,  544,  591,  593, 
597,599,603.  8)  Frg.  29— 37.   9)  Wörtlich:  das  Schöne  (tö  k<x\6v).   io)  De  I 
benef.  VII.  2.  1. 


DIE  STOA  I 


195 


Stoiker  sagen1,  darum  handle  es  sich,  daß  es  für  den  Weisen 
überhaupt  kein  Obel  gebe2.  Und  auf  Zenon  selbst  wird  die 
Wiederholung  des  (von  den  Späteren  in  unzähligen  Wendungen 
variierten)  alten  kynischen  Satzes  zurückgeführt3,  daß  die  Tugend 
ausreichend  sei  zur  Glückseligkeit.  Bei  Seneca  lesen  wir4,  der 
Weise  sei  über  den  Schmerz  erhaben,  und,  in  schwungvoller 
Ausführung5:  „Wenn  wir  einmal  aus  dieser  schmutzigen  Nie- 
derung zu  jener  ragenden  Höhe  entwichen  sind,  dann  wartet 
unser  Ruhe  des  Gemütes  und,  nach  Austreibung  alles  Irrtums, 
vollkommene  Freiheit.  Was  das  bedeutet,  fragst  du?  Nicht 
Menschen  fürchten,  nicht  Götter.  Nichts  Schimpfliches  wollen 
und  nichts  Übermäßiges.  Ober  sich  selbst  volle  Gewalt  haben. 
Ein  unschätzbares  Gut  ist  es,  sein  eigener  Herr  zu  werden." 
Nun  machen  freilich  gerade  Senecas  Tiraden  oft  genug  den 
Eindruck  einer  recht  hohlen  Deklamation:  um  so  mehr,  wenn 
wir  mit  ihnen  das  sehr  wenig  erfreuliche  Leben  des  kaiserlichen 
Hofphilosophen  zusammenhalten.  Immerhin  sind  sie  für  uns 
von  Wert  als  rhetorische  Nachbildungen  älterer,  uns  verlorener 
Äußerungen.  Dagegen  geben  uns  zu  solchem  Mißtrauen  weder 
Leben  noch  Sprache  bei  Epiktet  einen  zureichenden  Grund. 
Aus  den  Schriften  dieses  Philosophen,  dem  es  um  die  von  ihm 
vertretene  Sache  herzlich  und  innig  ernst  war,  werde  ich  des- 
halb im  folgenden  mit  Vorliebe  meine  Belege  schöpfen.  Hier 
führe  ich  zunächst  einige  solche  an,  die  für  den  Freiheitsbegriff 
und  das  Freiheitsbewußtsein  der  Stoa  zeugen  mögen.  So  lesen 
wir6:  „Wenn  das  wahr  ist,  und  wir  weder  schwätzen  noch  heu- 

i  cheln,  indem  wir  behaupten,  Gut  und  Übel  liege  für  den  Men- 
schen in  seinem  Willen,  alles  andere  aber  berühre  uns  nicht: 
was  erregen  wir  uns  noch?  Was  fürchten  wir  noch?  Das, 
worum  es  uns  ernst  ist,  das  ist  in  niemandes  Gewalt.  Was  aber 
in  der  anderen  Gewalt  ist,  darum  kümmern  wir  uns  nicht.  Was 

|  für  ein  Ungemach  können  wir  noch  haben?"  Und  so  recht  aus 
einem,  von  unerfreulichen  Erfahrungen  übersättigten  Lehrer- 

i)  Tusc.  III.  10.  22.  2)  vgl.  Frg.  287,  567,  575.  3)  Frg.  49-67,  582—586,  595. 
i  *)  De  prov.  6.  6.  5)  Ep.  75.  18.  6)  Diss.  I.  25.  1. 

13* 


196 


NEUNTE  VORLESUNG 


herzen  scheint  der  Ausrufzu  dringen1:  „Einen  jungen  Menschen 
gebt  mir,  der  mit  der  Absicht  (zu  mir)  in  die  Schule  kommt, 
und  um  den  Preis  ringen  will,  und  sagen:  Alles  andere  mag 
bleiben,  wo  es  will!  Mir  wird's  genug  sein,  wenn  ich  ungehin- 
dert und  schmerzlos  dahinleben  kann,  das  Haupt  erheben  gegen 
die  Dinge  wie  ein  freier  Mensch,  aufblicken  zum  Himmel  wie 
ein  Freund  Gottes,  ohne  Furcht  vor  irgend  etwas,  das  mich  be- 
treffen kann!"   Und  in  einem  anmutigen  Zwiegespräche  mit 
Zeus  legt  er  diesem  die  folgenden  Worte2  in  den  Mund: 
„Epiktet,  wenn's  möglich  wäre,  so  hätt'  ich  auch  dein  bißchen 
Körper  und  dein  bißchenBesitz  frei  und  unangreifbar  geschaffen. 
So  aber  vergiß  nicht,  daß  diese  nicht  dein  sind,  sondern  kunst- 
voll gebackener  Dreck.  Da  dieses  nun  aber  nicht  möglich  war, 
so  hab'  ich  dir  ein  Stück  meiner  selbst  gegeben:  nämlich  diese  I  i 
Kraft,  zu  wollen  und  nicht  zu  wollen,  zu  begehren  und  nicht  zu 
begehren,  kurz  deine  Gedanken  zu  regieren.   Wenn  du  dich 
um  die  kümmerst  und  auf  sie  deine  Sache  stellst,  dann  wirst  i 
du  nie  gehemmt,  nie  gefesselt  werden,  wirst  nie  wehklagen,  c 
wirst  nie  tadeln,  wirst  niemandem  schmeicheln.  —  Nun,  ist  das  j 
etwas  Kleines?  Da  sei  Gott  vor!"  Gern  drückt  Epiktet  diesen  i  i 
Gedanken  auch  so  aus:  man  müsse  lernen,  zwischen  dem,  was  i 
bei  uns  stehe3,  und  dem,  was  nicht  bei  uns  stehe4,  zu  unter-  ii 
scheiden.  So  z.  B.5:  „Von  den  Dingen  stehen  einige  bei  uns,  ;  >; 
andere  nicht.  Bei  uns :  unser  Meinen,  Wollen,  Begehren,  Fliehen, 
mit  einem  Worte:  unsere  Taten.  Nicht  bei  uns:  Körper,  Besitz,  c 

Ehre,  Macht  — .  Was  nun  bei  uns  steht,  ist  von  Natur  $ 

frei,  nicht  zu  hindern,  nicht  zu  hemmen ;  was  aber  nicht,  schwach,  [ 
knechtisch,  hemmbar,  fremd.  Bedenke  nun,  daß,  wenn  du  das 
von  Natur  Knechtische  für  das  Freie  hältst  und  das  Fremde  für  \ 
das  Eigene,  du  gehemmt  werden,  trauern,  dich  erregen  und  j  . 
tadeln  wirst  —  so  Götter  als  Menschen.  Wenn  du  aber  nur  das 
Deine  für  dein  hältst  und  das  Fremde,  so  wie  es  sich  verhält,  für 
ein  Fremdes,  dann  wird  dich  nie  jemand  nötigen,  noch  hemmen,  \ 

1)  Diss.  II.  17.  29.    2)  Diss.  i.  i.  io.   3)  jö  ecp   r^tv.  4)  jö  oük  eqp1  r^iv. 
5)  Enchirid.  1.  1. 


DIE  STOA  I 


197 


du  wirst  nie  jemand  tadeln  noch  einen  Vorwurf  machen;  nichts 
wirst  du  gegen  deinen  Willen  tun,  niemand  wird  dir  schaden, 
du  wirst  keinen  Feind  haben;  denn  du  wirst  ja  nichts  erleiden, 
was  dir  schadete."  Oder  wiederum1:  „Bei  uns  steht  unser 
Wille  und  alle  Taten  unseres  Willens.  Nicht  bei  uns:  unser 
Leib,  unser  Besitz,  unsere  Eltern,  Brüder,  Kinder,  unser  Vater- 
land, kurz  unsere  Genossen.  Worein  werden  wir  nun  das  Gute 

setzen?  "  Endlich2:  „Was  muß  man  also  in  solchen 

Lagen  sich  gegenwärtig  halten?  Was  anders  als:  was  ist  mein, 
was  ist  nicht  mein?  Was  kann  ich,  was  kann  ich  nicht?  Ich 
muß  sterben:  muß  ich  auch  klagend  sterben?  Ich  muß  gefesselt 
werden:  muß  ich's  auch  jammernd?  Ich  muß  in  die  Verbannung: 
hindert  mich  jemand,  lachend  und  wohlgemut  und  fröhlich  zu 
gehen?  —  Gib  das  Geheimnis  preis!  —  Nein,  denn  das  steht 
bei  mir.  —  Aber  ich  werde  dich  fesseln.  —  Wie  meinst  du, 
Mensch?  Mich?  Meine  Beine  wirst  du  fesseln,  meinen  Willen 
aber  könnte  nicht  einmal  Zeus  selber  überwinden.  — Ich  werde 
dich  ins  Gefängnis  werfen.  —  Ja,  das  Körperchen.  —  Ich  werde 
dir  den  Kopf  abschlagen  lassen.  —  Hab'  ich  je  behauptet,  daß 
gerade  mein  Hals  nicht  abgeschnitten  werden  kann?" 

Im  Sinne  jener  eigentümlichen  stoischen  Psychologie,  die  ganz 
intellektualistisch  jedes  Gefühl  auf  ein  Urteil,  und  doch  zugleich 
ganz  voluntaristisch  jedes  Urteil  auf  einen  Willensakt  zurück- 
führt3, sagt  Epiktet  auch  oft,  unser  Glück  hänge  ja  nicht  von 
den  Dingen  ab,  sondern  von  unseren  Ansichten4  über  die  Dinge. 
So  z.  B.5:  „Was  regt  die  Leute  auf  und  macht  sie  so  bestürzt? 
Der  Tyrann  und  seine  Lanzenträger?  Woher?  Keine  Spur! 
Was  von  Natur  frei  ist,  kann  von  nichts  erregt  und  gehemmt 
werden,  als  nur  von  sich  selbst.  Sondern  die  Ansichten  regen 
ihn  auf.  Denn  wenn  ihm  der  Tyrann  sagt:  ich  werde  deine 
Beine  fesseln,  dann  sagt  der,  der  das  Bein  in  Ehren  hält:  Nein! 
Hab'  Erbarmen!  Wer  aber  den  Willen  in  Ehren  hält,  der  sagt: 
Wenn  es  dir  so  gut  scheint,  so  bind'  es!  —  Dir  liegt  nichts  dran? 

*)  Diss.  I.  22.  10.  2)  Diss.  I.  T.  21.  3)  Er  heißt  die  innere  „Zustimmung" 
(ouYKaTdeeatq).    4)  AoTiuaxa.    5)  £>iss>  I.  19.  7. 


198 


NEUNTE  VORLESUNG 


—  Nein.  —  Ich  werde  dir  zeigen,  daß  ich  der  Herr  bin.  —  Wieso 
du?  Mich  hat  Zeus  frei  (auf  die  Erde)  entlassen.  Oder  meinst 
du,  er  werde  den  eigenen  Sohn  knechten  lassen?  Meines  Leich- 
nams aber  bist  du  Herr:  nimm  ihn!"  Oder  ein  andermal1: 
„Was  ist  Weinen  und  Schreien?  Ansicht!  Was  Unglück?  An- 
sicht! Was  Streit?  Was  Zwiespalt?  Was  Tadel?  Was  Klage? 
Was  Lästerung?  Was  Geschwätz?  Das  alles  sind  Ansichten 
und  sonst  nichts.  Und  sind  Ansichten  über  Dinge,  die  nicht  bei 
uns  stehen  als  ob  sie  Güter  und  Übel  wären.  Wenn  einer  diese 
Ansichten  übertrüge  auf  die  Dinge,  die  bei  seinem  Willen  stehen, 
dem  bürgte  ich  wohl  dafür,  daß  er  sich  Wohlbefinden  wird,  was 
immer  seine  Umstände  seien!"  Und  noch  deutlicher2:  „Nicht  die 
Dinge  erregen  die  Leute,  sondern  die  Ansichten  über  die  Dinge. 
Zum  Beispiel:  der  Tod  ist  nichts  Schreckliches  —  sonst  wär'  er 
auch  Sokrates  so  erschienen  — ,  sondern  die  Ansicht  über  den 
Tod,  daß  er  schrecklich  sei  —  das  ist  das  Schreckliche.  Wenn 
wir  uns  also  gehemmt  fühlen  oder  uns  aufregen  oder  trauern, 
so  dürfen  wir  nie  einem  andern  die  Schuld  geben,  sondern  nur 
uns  selbst,  d.  h.  unseren  Ansichten.  Ein  Zeichen  von  Unbildung 
ist  es,  anderen  Vorwürfe  zu  machen;  ein  Zeichen  beginnender 
Bildung,  sich  selbst;  ein  Zeichen  vollendeter  Bildung:  weder 
anderen  noch  sich  selbst3."  Und  um  nun  mit  diesen  Belegen 
für  Epiktets  Bewußtsein  der  inneren  Freiheit  zu  Ende  zu 
kommen,  noch  einen  Satz4:  „Zustand  und  Charakter  des  ge- 
wöhnlichen Menschen:  er  erwartet  Förderung  und  Schädigung 
nie  von  sich  selbst,  und  immer  von  außen;  Zustand  und  Cha- 
rakter des  Philosophen:  er  erwartet  alle  Förderung  und  Schä- 
digung von  sich  selbst." 

Fragen  Sie  mich  nun,  geehrte  Zuhörer,  wie  denn  der  Mensch 
sich  diese  „richtigen  Ansichten",  die  ihn  von  allem  Obel  befreien 
sollen,  eigentlich  aneignet,  so  lautet  die  stoische  Antwort:  für 
jeden  ist  ein  Übel  nur,  was  seinen  Wünschen  widerspricht; 
wer  also  allem  Wirklichen  innerlich  zustimmt,  wer  dem  Not- 
wendigen nie  mit  Wunschverneinung  begegnet,  sondern  das,  was 

i    Diss.  III.  3.  18.  2)  Enchirid.  5.  3)  Vgl.  Frg.  543.  *)  Enchirid.  48.  1. 


DIE  STOA  I 


199 


Gott  will,  stets  auch  selber  will,  für  den  gibt  es  kein  Obel.  Diesen 
Gedanken  hatte  MusoniusRufus  dahin  formuliert  *,  man  müsse 
„das  Notwendige  als  ein  es  Wollender  erleben".  Sein  Schüler 
Epiktet  aber  drückt  ihn  so  aus2:  „Trachte  nicht,  daß  die  Ereig- 
nisse sich  so  ereignen,  wie  du  willst,  sondern  wolle  sie,  wie  sie 
sich  ereignen;  so  wirst  du  dich  Wohlbefinden."  Und  am  klarsten 
in  folgenden  Sätzen3:  „Bedenke!  das  Ziel  des  Sehnens  ist:  das 
Ersehnte  erlangen;  das  Ziel  des  Verabscheuens  ist:  dem  Verab- 
scheuten nicht  begegnen.  Wer  aber  das  Ziel  des  Sehnens  ver- 
fehlt, der  ist  nicht  glücklich;  und  wem  das  Verabscheute  be- 
gegnet, der  ist  unglücklich.  Wenn  du  nun  einzig  deine  eigenen 
Taten,  und  zwar  die  widernatürlichen  (d.  h.  unsittlichen)  unter 
ihnen  verabscheust,  wird  dir  nie  etwas  begegnen,  was  du  ver- 
abscheust. Verabscheust  du  aber  Krankheit  oder  Tod  oder  Ar- 
mut, so  wirst  du  unglücklich  sein.  Entferne  also  diesen  Abscheu 
von  alle  dem,  was  nicht  bei  uns  steht,  und  übertrage  ihn  auf 
deine  eigenen,  widernatürlichen  (unsittlichen)  Handlungen." 
Daraus  folgt4:  „Sage  nie:  ich  hab's  verloren,  sondern:  ich  hab's 
zurückgegeben.  Ist  das  Kind  gestorben?  Du  hast's  zurückge- 
geben. Ist  die  Frau  gestorben?  Du  hast  sie  zurückgegeben5. 
Hat  man  dir  dein  Gut  genommen?  Du  hast  also  auch  dieses 
zurückgegeben.  —  Aber  der  dir's  genommen  hat,  war  ein 
schlechter  Kerl.  —  Allein,  was  geht's  dich  an,  durch  wen  der 
Geber  (Zeus)  es  von  dir  zurückfordern  läßt?"  In  demselben 
Sinne  heißt  es6:  „Wenn  du  wünschst,  daß  deine  Kinder  und 
dein  Weib  und  deine  Freunde  ewig  leben,  so  bist  du  elend;  denn 

*)  Stob.  Floril.  108.  60  (Meineke).  2)  Enchirid.  8.  3)  Enchirid.  2.  4)  Enchi- 
rid.  11.  5)  Eine,  ganz  dem  Geiste  dieser  Maxime  entsprechende,  förmliche 
„Verzichterklärung"  eines  nordamerikanischen,  puritanischen  Geistlichen 
am  Totenbette  seiner  Frau  findet  man  bei  James,  The  varieties  of  religious 
experience,  S.  303.  Wer  diese  rührende  autobiographische  Erzählung  ge- 
lesen hat,  dem  mag  die  Lust  vergehen,  die  stoischen  Forderungen  als 
leere  Phrasen  zu  belächeln.  Ebenso  mag  man  vergleichen,  was  Merx  (Idee 
und  Grundlinien  einer  allgemeinen  Geschichte  der  Mystik,  S.  31)  von  Elfa- 
dil  aus  Chorasän  (8.  Jahrhundert)  berichtet:  „Als  sein  Sohn  starb,  lachte 
der  sonst  nicht  einmal  lächelnde  Mann  und  sprach:  Wenn  Gott  etwas 
beliebt,  so  beliebt  es  mir  auch."  6)  Enchirid.  14. 


200 


NEUNTE  VORLESUNG 


du  wünschst,  daß  bei  dir  stehe,  was  nicht  bei  dir  steht,  und  daß 
dein  sei,  was  nicht  dein  ist.  Und  ebenso:  wenn  du  wünschst, 
daß  dein  Sklave  nichts  Unrechtes  tue,  so  bist  du  ein  Narr;  denn 
du  wünschst,  daß  Schlechtigkeit  nicht  Schlechtigkeit  sei,  sondern 
etwas  anderes.  Willst  du  aber  nichts  verfehlen,  wonach  du  dich 
sehnst  —  das  kannst  du.  Übe  dich  also  in  dem,  was  du  kannst. 
—  Herr  ist  über  jeden  der,  der  Gewalt  hat  über  das,  was  jener 
sich  wünscht  und  nicht  wünscht,  es  ihm  zu  geben  oder  zu  neh- 
men. Wer  also  frei  sein  möchte,  der  wünsche  nichts  und  fliehe 
nichts  von  dem,  was  bei  anderen  steht.  Sonst  ist  er  notwendig 
unfrei."  Und,  mit  der  in  der  Schule  gebräuchlichen  religiösen 
Wendung,  sagtEpiktet  weiter1:  „Immer  ziehe  ich  das  vor,  was 
geschieht.  Denn  was  Gott  will,  achte  ich  mehr,  als  was  ich  will. 
Als  ein  Diener  und  Begleiter  schließe  ich  mich  ihm  an,  verlange 
mit  ihm,  sehne  mich  mit  ihm,  kurz,  will  mit  ihm."  Oder  auch2: 
„Wag'  es,  blick  auf  zu  Gott,  und  sprich:  Brauche  mich  fürder, 
wie  du  willst!  Ich  bin  einstimmig  mit  dir,  bin  dein.  Nichts  von 
dem,  was  du  beschließest,  bitte  ich  dich  zu  ändern.  Führ'  mich, 
wohin  du  willst!  Kleide  mich,  wie  du  willst!  Willst  du,  daß 
ich  herrsche,  diene,  bleibe,  fliehe,  arm  bin,  reich  bin?  In  jedem 
von  diesen  Stücken  will  ich  dich  vor  den  Menschen  vertreten." 
Als  Worte  endlich,  die  jedermann  jederzeit  sich  vor  Augen 
halten  solle,  führt  er  neben  Versen  des  Kleanthes,  die  wir 
gleich  kennen  lernen  werden,  noch  an3:  die  Verse  des  Euri- 
pides: 

„Doch  wer  mit  Anstand  vor  dem  Schicksal  weicht, 
Der  heißt  uns  weise  und  der  Götter  kundig"4; 

die  Worte  des  platonischen  Sokrates:  „Aber,  o  Kriton,  wenn 
es  den  Göttern  so  gefällt,  so  möge  es  also  geschehen";  und  die 

l)  Diss.  IV.  7.  20.  2)  Diss.  II.  16.  42.  3)  Enchirid.  53.  *)  Er  hätte  auch 
noch  den  Vers  des  Äschylos  (Prom.v.547)  hinzufügen  können:  „Nimmer 
vermag  eines  Menschen  Entschluß  die  Harmonie  des  Zeus  zu  stören",  zu 
dem  schon  der  antike  Scholiast  bemerkt:  „In  erhabener  und  der  Tragödie 
angemessener  Weise  (üijjnXOü«;  Kai  TpcrpKUJc;)  nennt  er  das  Schicksal  die 
Harmonie  des  Zeus". 


DIE  STOA  I 


201 


desselben  Weisen  in  der  „Apologie":  „Töten  können  mich  Me- 
ietos und  Anytos  wohl,  schädigen  aber  nicht."  In  demselben 
Sinne  sagt  auch  S  e n  e c  a 1 :  „Was  ist  die  Aufgabe  des  guten  Man- 
nes? Sich  dem  Schicksal  ergeben."  Und  Marc  Aurel2:  „Nur 
dem  vernünftigen  Wesen  ist  es  vergönnt,  den  Ereignissen  mit 
freiem  Willen  zu  gehorchen;  das  bloße  Gehorchen  aber  ist 
notwendig  für  alle." 

Es  steht  aber  nicht  so,  als  ob  diese  Ergebung  der  späteren 
Stoa  allein  eigentümlich  wäre,  wenn  auch  zuzugeben  ist,  daß 
dieses  Moment  im  Laufe  der  Zeit  entschiedener  hervortritt, 
und  daß  dieser  Gedanke  ursprünglich  von  einem  ganz  ande- 
ren nicht  immer  deutlich  unterschieden  wurde.  Wenn  zum 
Beispiel  Zenon3  das  „Leben  in  Übereinstimmung  mit  der 
Natur"  für  das  ethische  Ziel  erklärt,  so  schillert  der  Sinn  dieser 
Forderung  zwischen  „Ergebung  in  den  natürlichen  Weltlauf" 
und  „Sittlichkeit  als  Befriedigung  der  natürlichen  Triebe".  Und 
wenn  Chrysipp4  dies  dahin  erläutert,  es  handle  sich  „sowohl 
um  die  eigene  Natur  als  um  die  des  All,  indem  man  nichts  tun 
dürfe,  was  das  allgemeine  Gesetz  zu  verbieten  pflegt,  welches 
die  rechte  Vernunft  ist,  die  alles  durchdringt,  dasselbe  wie  Zeus 

 .  Eben  das  aber  sei  die  Tugend  und  Glückseligkeit  des 

Vollkommenen,  wenn  alles  getan  wird  in  Übereinstimmung 
zwischen  der  Seele  des  einzelnen  und  dem  Willen  des  Allenkers" 
—  so  ist  jene,  schon  von  Cicero5  bemerkte  Zweideutigkeit 
nicht  völlig  geschwunden.  Ja,  sogar  die  folgenden  Verse  des 
Klea  n  th e s6  zeigen  noch  keine  vollkommen  scharfe  Unterschei- 
dung zwischen  dem  Naturnotwendigen  und  dem  sittlich  Gefor- 
derten: 

„Nimmer  geschieht  ohne  Dich,  o  Gott,  eine  Tat  hier  auf  Erden, 
Noch  auch  im  Ätherhimmel,  dem  göttlichen,  oder  im  Meere, 
Als  nur  allein,  was  die  Bösen  im  Unverstände  vollbringen. 
Aber,  was  ungrad  auch,  vermagst  Du  grade  zu  machen, 
Was  ohne  Ordnung,  zu  ordnen:  das  Feindliche,  Dir  ist  es  freund- 
lich. 

i)  De  prov.  5.  8.  2)  eiq  eauxöv  X.  28.  3)  Diog.  Laert.  VII.  87.  4)  Frg.  4. 
5)  Frg.  13  (Arnim  III).  6)  stob.  Ekl.  I.  p.  32  (Meineke). 


202 


NEUNTE  VORLESUNG 


Und  so  hast  Du  in  eins  das  Edle  dem  Schlechten  verschmolzen, 
Eine  Ordnung  geschaffen  von  allen  ewigen  Dingen. 
Diese  verlassen  in  Flucht  die  Schlechten  unter  den  Menschen, 
Sehnen  sich  nach  dem  Besitz  von  Gütern,  die  UnglücksePgen ; 
Sehen  und  hören  nicht  Gottes  Gesetz,  das  allen  gemeinsam: 
Folgten  sie  dem  verständig,  sie  führten  ein  herrliches  Leben." 

Aber  doch  hat  schon  Zenon  die  Lehre  von  der  Schicksalsnot- 
wendigkeit vorgetragen1;  und  welche  andere  Bedeutung  hätte 
ihr  in  seinem  Systeme  zukommen  können,  wenn  nicht  die, 
die  Forderung  unbedingter  Ergebung  in  alles  Geschehen  theo- 
retisch zu  begründen?  Und  von  Kleanthes  besitzen  wir  außer 
den  früher  angeführten  auch  noch  andere  Verse2,  die  unver- 
kennbar diese  Forderung  aussprechen: 

„Führ'  Du  mich,  Zeus,  und  Du  mich,  Schicksalsgöttin, 
Wohin  es  immer  mir  von  Euch  bestimmt  ist! 
Ich  folg'  Euch  ohne  Furcht.  Doch  würd'  ich  feig, 
Und  wollt'  es  nicht,  ich  müßt'  Euch  dennoch  folgen." 

Und  von  Chrysipp  endlich  wird  uns  folgende  Äußerung  be- 
richtet3: „Solange  mir  die  Zukunft  unbekannt  ist,  halte  ich 
mich  daran,  daß  ich  das  von  Natur  Wohlgestaltere  zu  erlangen 
suche;  denn  Gott  selbst  hat  mir  den  Trieb  zu  solcher  Wahl  ver- 
liehen. Wüßte  ich  aber,  daß  mir  bestimmt  ist,  jetzt  krank  zu 
sein,  so  verlangte  auch  ich  danach."  Den  Anfang  dieses  Zitates 
nun  werden  Sie  nächstens  besser  verstehen.  Schon  jetzt  aber 
ist  klar,  daß  hier  nicht  nur  die  unbedingte  Ergebung  gelehrt, 
sondern  auch  ihr  Wesen  in  lehrreicher  Weise  näher  bestimmt 
wird.  Sehr  genau  nämlich  wird  hier  die  tätige  von  der  tat- 
losen Ergebung  unterschieden.  Jene  bezieht  sich  auf  das  Wirk- 
liche. Diesem  mit  Wunschverneinung  zu  begegnen,  wird  ver- 
pönt. Keineswegs  aber,  die  Zukunft  handelnd  zu  beeinflussen. 
Die  Wunschbejahung,  in  der  die  Stoa  mit  Recht  das  Wesen  der 
inneren  Freiheit  sieht,  ist  von  einer  Willensbejahung  durchaus 
verschieden:  ich  darf  handeln,  um  X  zu  realisieren;  aber,  wird 
es  nun  nicht  verwirklicht,  so  darf  ich  Non-X  nicht  anders  wün- 
i)  Diog.  Laert.  VII.  23  und  149.   2)  Epiktet,  Enchirid.  53.    3)  Frg.  191. 


DIE  STOA  I 


203 


sehen,  als  es  ist1.  „Denn  während  ich  dir,  sagt  Seneca2,  mit 
vollendeter  Deutlichkeit  das  Wünschen  verbiete,  gestatte  ich  dir 
das  Wollen.« 

Das  Begehren  also  muß  umgebildet  werden  zur  allgemeinen 
Wunschbejahung,  wenn  innere  Befreiung  vor  sich  gehen  soll. 
Aber  nun  fragt  sich:  wie  kommt  diese  Umbildung  selbst  zu- 
stande? Zwei  Bedingungen  derselben  haben  wir  seinerzeit  in 
unserer  einleitenden  Betrachtung  erwähnt:  die  Auffassung  jedes 
Erlebnisses  als  eines  unabtrennbaren  Teiles  von  Welt  und  Le- 
ben; und  die  Pflege  freudiger  Bejahungsgefühle  gegen  diese 
Totalität.  Die  zweite  dieser  Bedingungen  ist  an  sich  emotioneller 
Natur,  kleidet  sich  aber  für  den  stoischen  Intellektualismus  in 
das  Gewand  einer  Tatsachenfrage.  Die  erste  dagegen  gehört 
ganz  eigentlich  dem  Gebiete  des  Theoretischen  an:  sie  stellt  jene 
intellektuelle  Vermittlung  des  Erlösungsprozesses  dar,  an  die 
ich  Sie  schon  anläßlich  der  Lehre  des  Kyrenaikers  Theodoros 

;  erinnern  mußte.  Wir  können  sie  als  die  Forderung  bezeichnen, 
alles  einzelne  von  einem,,  höheren  Generalisationszentrum"  aus 
zu  betrachten,  oder  auch  mit  Spinoza  als  die  Maxime,  es  „sub 
specie  aeterni"  anzuschauen.  Die  Stoa  steht  durchaus  auf  dem- 

;  selben  Boden,  und  die  Übereinstimmung  des  Chrysipp3  mit 
den  Kyrenaikern  in  dieser  Hinsicht  ist  auch  schon  im  Altertume 
(von  Cicero)  bemerkt  worden.  Und  über  die  Lehre  von  der 
Einheit  der  Welt  habe  ich  schon  früher  im  allgemeinen  gespro- 

|  chen.  Schon  Zenon  hat  diese  Einheit  betont4,  und  sie  ist  seit- 
her feststehendes  Dogma  der  Schule5.  Begründet  wird  sie  unter 

1  anderem  damit,  daß  zwischen  den  einzelnen  Teilen  der  Welt 
Wechselwirkung  stattfinde,  was  nur  innerhalb  eines  einheitlichen 

]  Ganzen  möglich  sei6;  und  näher  dahin  ausgeführt,  daß  das 
Universum  einen,  Menschen  und  Götter  umfassenden  Staat 

*)  Vgl.  Frg.  572  (Der  Weise  „wird  Tod  und  Schmerzen  vermeiden,  soweit 
es  möglich  und  recht  ist.  . . .  Kann  er  sie  aber  trotz  redlicher  Bemühung 
nicht  vermeiden,  so  wird  ihr  Hereinbrechen  ihn  nicht  elend  machen". 
Augustinus  nach  stoischem  Muster).  2)  £p.  116.  1.  3)  Frg.  417.  Vgl. 
Frg.  482  u.  565.  4)  Diog.  Laert.  VII.  143.  5)  Frg.  530  ff.  (Arnim  II).  6)  Sext. 
Emp.  adv.  Math.  IX  .78 ff.;  Marc  Aurel,  elc,  eauxov  VI.  38. 


204  NEUNTE  VORLESUNG 

bilde1.  Diese  einheitliche  Welt  istaber  auch  vollkommen.  Diesen 
zweiten  Satz  nun  würden  wir  heutzutage  einfach  aussprechen  als 
dieForderung,  dem  einheitlichen  Weltganzen  freudig  zu  begeg- 
nen. Auch  fehlt  es  nicht  völlig  an  Ansätzen  zu  einer  solchen 
Auffassung.  Wenn  zum  Beispiel  Epiktet  sagt2:  „So  wie  keine 
Zielscheibe  aufgestellt  wird,  um  verfehlt  zu  werden,  so  gibt  es 
auch  in  der  Welt  nichts,  was  seiner  Natur  nach  übel  wäre", 
so  meint  er  offenbar:  die  Gegenstände  unseres  Wünschens 
könnten  nicht  dazu  bestimmt  sein,  wunschverneint  zu  werden. 
Allein,  wie  schon  angedeutet,  hat  der  unverwüstliche  griechische 
Intellektualismus  auch  dies  zu  beweisen  unternommen;  frei- 
lich mit  recht  ungenügenden  und  zum  Teil  äußerst  trivialen 
Gründen,  die  nicht  selten  fast  an  die  klassische  Behauptung 
Christian  Wolffs  erinnern,  die  Sonne  sei  schon  deshalb  un-  I 
gemein  nützlich,  weil  es  ohne  sie  keine  Sonnenuhren  geben 
könnte.  Aber  nicht  diese  verunglückten  Beweisversuche  inter- 
essieren uns  hier,  sondern  ihr  Ergebnis.  Und  da  sehen  wir  denn, 
daß  Chrysipp  nicht  nur  zeigen  wollte3,  daß  „an  derWelt  nichts 
auszusetzen  und  zu  tadeln"  sei,  sondern  auch  geradezu  aus- 
sprach4: „Weder  ist  es  möglich,  alle  Schlechtigkeit  überhaupt  zu 
beseitigen,  noch  wäre  diese  Beseitigung  schön,"  das  heißt  wün- 
schenswert. Und  überhaupt  beweist  er  ein  lebhaftes  Bewußtsein 
davon,  daß  auch  das,  was  an  sich  oder  von  unserem  Standpunkte 
aus  als  schlecht  erscheint,  dennoch  zur  Allseitigkeit,  Harmonie 
und  Vollkommenheit  des  Weltganzen  erforderlich  sein  mag  „wie 
der  (absichtlich)  ungeschickte  und  (darum)  lächerliche  Vers  im 
Drama";  denn  „dem  ganzen  Gedicht  verleiht  auch  das  einen  ge- 
wissen Reiz,  was  an  sich  schlecht  ist"5.  Er  selbst  scheint  aber 
nun  auch  schon  diese  Lehre  von  der  Vollkommenheit  der  Welt 
dazu  verwendet  zu  haben,  um  jedes  einzelne  Erlebnis,  eben  als 
Teil  dieses  Ganzen  betrachtet,  als  wünschenswert  hinzustellen. 
Denn  nachdem  er  an  einer  schon  angeführten  Stelle6  gesagt 

i)  Frg.  1127 ff.  (Arnim  II),  Frg.  333ff.  (Arnim  III).  2)  Enchirid.  27.  3)  Frg. 
1178  (Arnim  II).  4)  Frg.  1182  (Arnim  II).  Vgl.  Frg.  1169,  1176,  1181,  1184 
(Arnim  II).  5)  Frg.  1181  (Arnim  II).  6)  Frg.  191  (Arnim  III). 


DIE  STOA  I  205 

hatte:  „Wüßte  ich  aber,  daß  es  mir  bestimmt  ist,  jetzt  krank  zu 
sein,  so  würde  auch  ich  das  wünschen,"  fährt  er  fort:  „Denn 
auch  der  Fuß,  wenn  er  Bewußtsein  hätte,  würde  wünschen,  be- 
schmutzt zu  werden."  Das  Gleichnis,  das  hier  zu  gründe  liegt, 
hat  in  Epiktets  Ausführung1  näher  folgende  Gestalt:  „In  wel- 
chem Sinne  nun  heißt  von  den  äußeren  Dingen  das  eine  natür- 
lich, das  andere  unnatürlich?  Wenn  man  uns  isoliert  betrachtet. 
Denn  auch  von  dem  Fuße  werde  ich  sagen,  es  sei  ihm  natürlich, 
rein  zu  sein.  Aber  wenn  du  ihn  als  Fuß  nimmst,  und  nicht  iso- 
liert, dann  wird  es  ihm  anstehen,  auch  in  den  Schmutz  zu  treten, 
auch  auf  Dornen,  manchmal  aber  auch,  amputiert  zu  werden 
—  im  Interesse  des  ganzen  (Menschen);  andernfalls  fungiert  er 
nicht  mehr  als  Fuß.  Etwas  Ähnliches  nun  muß  man  auch  bei 
uns  annehmen.  Was  bist  du?  Ein  Mensch.  Wenn  du  (dich)  nun 
isoliert  betrachtest,  wird  es  dir  natürlich  sein,  alt  zu  werden, 
reich  und  gesund  zu  sein;  wenn  aber  als  Menschen  und  als  Teil 
eines  Ganzen,  wird  es  dir  im  Interesse  dieses  Ganzen  bald  an- 
gemessen sein,  zu  erkranken,  bald  eine  gefahrvolle  Seereise  zu 
unternehmen,  bald  zu  verarmen,  manchmal  aber  auch,  vor  der 
Zeit  zu  sterben.  . . .  Denn  was  ist  der  Mensch?  Ein  Teil  eines 
Staates:  zunächst  jenes  Götter  und  Menschen  umfassenden  Staa- 
tes, sodann  auch  des  Staates  im  engsten  Sinne,  der  eine  kleine 
Nachbildung  des  Allstaates  ist2."  Und  an  einer  andern  Stelle3 
sagt  derselbe  Stoiker:  „Was  ist  der  Beruf  eines  Bürgers?  Kei- 
nen privaten  Nutzen  zu  haben,  keine  Sache  vom  Standpunkt  der 
Isoliertheit  zu  erwägen,  sondern  so,  wie  wenn  die  Hand  oder 
der  Fuß  Vernunft  hätten  und  der  natürlichen  Ordnung  (im 
Geiste)  folgen  könnten;  dann  würden  sie  nämlich  all  ihr  Wün- 
schen und  Sehnen  auf  das  Ganze  beziehen.  Darum  sagen  die 
Philosophen  mit  Recht:  Wenn  der  Tüchtige  die  Zukunft  voraus- 
wüßte, so  würde  er  mithelfen  auch  zum  Kranksein,  Sterben  und 
Verstümmeltwerden;  da  er  nämlich  einsehen  würde,  daß  dies 

1)  Diss.  II.  5.  24 ff.  2)  Der  Begriff  des  Allstaates  (s.  oben!)  begegnet  schon 
bei  der  alten  Stoa  einmal  im  Dienste  derselben  Argumentation  wie  hier 
(Frg.  333).  3)  Diss.  II.  10.  4. 


206 


NEUNTE  VORLESUNG 


von  der  Ordnung  des  Universums  ihm  so  zugeteilt  wird,  und 
daß  das  Ganze  dem  Teil,  und  der  Staat  dem  Bürger  vorgeht." 

Müssen  wir  nun  diese  Ansichten  im  ganzen  und  großen  als 
eine  angemessene  Beschreibung  des  Erlösungsprozesses  be- 
zeichnen, so  gilt  in  der  Hauptsache  dasselbe  auch  von  jenen  an- 
deren Bestimmungen,  die  zusammen  die  stoische  Affektenlehre 
ausmachen.  Ehe  ich  jedoch  diese  darstelle,  gestatten  Sie  mir 
wohl  eine  kurze  psychologische  Vorbemerkung. 

In  dem,  was  wir  allgemein  einen  Affekt  oder  Erregungszustand 
nennen,  können  wir  zwei  Elemente  auseinanderhalten:  ein  Ele- 
ment „Empfindung"undeinElement„Drang".  Wenn  ich  Schmerz 
fühle,  so  ist  das  Element  des  Dranges  nach  Änderung,  die  Wunsch- 
verneinung, das  Irgendwiefortwollen,  dasjenige  also,  was  mich, 
wenn  der  Zustand  sich  steigert,  um  mich  schlagen  läßt  —  dieses, 
sage  ich,  kann  sehr  wohl  unterschieden  werden  von  der  bloßen 
Schmerzempfindung,  die  ich  als  eine,  wenn  auch  unbestimmte 
Qualität  an  einer  bestimmten  Leibesstelle  lokalisiere.  Und  das 
eigentlich  Peinigende  ist  nicht  das  zweite,  sondern  das  erste 
Element.  Daher  kommt  es,  daß  man  den  Schmerz  erträglich 
machen  kann,  indem  man  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn  konzen- 
triert: es  wird  dadurch  seine  qualitative  Bestimmtheit  erhöht, 
er  wird  bis  zu  einem  gewissen  Grade  objektiviert,  und  der  Drang, 
das  innerliche  Sichsträuben,  also  das  Subjektive  des  Zustands 
(als  welches  zu  jenem  Objektiven  stets  im  umgekehrten  Ver- 
hältnisse steht)  wird  auf  diese  Weise  gedämpft.  Dasselbe  gilt, 
mit  den  entsprechenden  Veränderungen,  von  der  Lust,  und  auch 
von  den  anderen  Affekten,  wie  Hoffnung  und  Furcht. 

Die  Stoiker  nun  unterscheiden  diese  beiden  Elemente  sehr 
bestimmt.  Sie  behaupten,  die  Empfindung  des  Schmerzes, 
respektive  der  Lust  sei  in  der  menschlichen  Natur  gegründet, 
und  auch  der  Weise  sei  ihr  unterworfen;  des  inneren  Dranges 
aber,  jenes  Gefühls  des  Unaushaltbaren,  beziehungsweise  des 
Die-Lust-erlangen-müssens —  ihrer  vermöge  er  Herr  zu  werden. 

„Der  Weise",  sagt  Chrysipp1,  „empfindet  Schmerz,  aber  nicht 

_____ 


DIE  STOA  I 


207 


Qual;  denn  er  gibt  mit  der  Seele  nicht  nach."  Und  Seneca1: 
„Er  empfindet  Schmerz.  Denn  die  menschliche  Empfindung 
brennt  keine  Tugend  weg.  Aber  er  fürchtet  ihn  nicht.  Unbesiegt 
blickt  er  von  oben  auf  seine  Schmerzen."  Und  im  Gegensatze 
I  zu  den  Kynikern,  denen  er  mit  Unrecht  ein  Ideal  der  Empfin- 
dungslosigkeit andichtet,  meint  er2:  „Dieser  Unterschied  besteht 
zwischen  uns  und  jenen:  unser  Weiser  besiegt  sein  Leiden,  aber 
er  empfindet's;  der  ihrige  empfindet  es  nicht  einmal."  Und  eben 
dahin  gehört  auch  das  dem  Poseidonios  zugeschriebeneWort3, 
das  freilich  theatralisch  genug  klingt:  „Du  setzest  es  nicht  durch, 
Schmerz!  So  lästig  du  seiest,  nie  werde  ich  zugeben,  daß  du  ein 
Übel  bist."  Die  Stoa  leugnet  auch  keineswegs,  daß  die  Schmerz- 
empfindung sich  stets  physiologisch  bemerkbar  machen,  und 
auch  wohl  Tränen  auslösen  werde;  sie  behauptet  nur,  daß  bei 
alledem  die  innere  Freiheit  gewahrt,  und  jener  ganze  patholo- 
gische Zustand  von  unserem  innersten  Selbst  als  etwas  ihm 
Äußerliches  betrachtet  werden  könne4.  In  unsere  Sprache  über- 
setzt, heißt  dies,  der  Affekt  sei  erst  dann  vollständig,  wenn 
die  jeweils  gegebene  Empfindung  oder  Vorstellung  zum  Gegen- 
stande einer  Wunschbejahung  oder  Wunschverneinung  gemacht 
werde.  Die  Stoiker  nun,  in  ihrer  intellektualistischen  Psycho- 
logie, halten  dafür,  daß  die  Äußerungen  des  Begehrens  stets 
ein  Urteil  zur  Voraussetzung  haben5,  wenn  sie  sie  nicht  gar, 
wie  Chrysipp6,  in  einem  solchen  sich  erschöpfen  ließen.  Die 
Affekte,  lehrte  Zenon7,  seien  gewisse  unvernünftige  Kontrak- 
tionen, Depressionen,  Exaltationen,  Chocs  und  Diffusionen, 
die  auf  das  Urteil  folgen  (daß  der  Inhalt  der  gegebenen  Vorstel- 
lung ein  Gut  oder  ein  Übel  sei).  Diese  Urteile  nun  können  wahr 
oder  falsch  sein.  Sie  sind  falsch,  wenn  etwas  als  Gut  oder  Übel 
beurteilt  wird,  was  dies  nicht  ist  (also  namentlich  ein  äußeres 
Ding).  In  diesem,  und  nur  in  diesem  Falle  heißt  der  Stoa  der  auf 

i)  Ep.  85.  29.  2)  Ep.  9.  3;  vgl.  De  brev.  vit.  14.  2!  3)  Cicero,  Tusc.  II.  25.  61. 
4)  Seneca,  De  ira  I.  16.  7;  II.  2—4;  Epiktet,  Enchirid.  16;  Diss.  I.  18.  19; 
Chrysipp,  Frg.  439,  441.  5)  Frg.  380,  382,  383,  459.  6)  Frg.  461.  ?)  Galen, 
Hippoer.  et  Plat.  IV.  3.  Vgl.  Frg.  384,  391—394,  406,  461,  463, 466,  468,  481. 


208 


NEUNTE  VORLESUNG 


das  Urteil  folgende  Zustand  ein  „Affekt"1.  Ist  dagegen  das  zu- 
grunde liegende  Urteil  richtig  (erklärt  es  also  eine  Tugend  für 
ein  Gut,  oder  eine  Schlechtigkeit  für  ein  Übel),  dann  nennt  sie 
den  also  begründeten  Gefühlszustand  eine  „Wohlaffiziertheit"2. 
Wir  werden  vielleicht  besser  tun,  beide  Zustände  kurz  als  rich- 
tige oder  unrichtige  Affekte  zu  unterscheiden.  Das  vielberufene 
stoische  Ideal  der  „Apathie"  bedeutet  also  durchaus  nicht  einen 
Zustand  der  Affektlosigkeit  im  Sinne  des  heutigen  Sprachge- 
brauches, sondern  nur  die  Freiheit  von  unrichtigen  Affekten. 
Die  „Eupathie"  hingegen  ist  eingeschlossen  in  den  Begriff  der 
„Apathie". 

Wir  wissen  heutzutage  mit  einer  so  intellektualistischen  Kon- 
struktion nicht  mehr  sehr  viel  anzufangen;  denn  uns  scheint 
selbstverständlich,  daß  nicht  die  Urteilsbewertung  primär  ist, 
sondern  die  Wunschbewertung:  daß  wir  nicht  etwas  wünschen, 
weil  wir's  für  ein  Gut  halten,  sondern  es  ein  Gut  nennen,  weil 
wir  es  wünschen.  Auch  die  Stoiker  selbst  mußten  sich  davon 
überzeugen,  daß  die  bloße  Einsicht  in  die  Unrichtigkeit  der  Wert- 
urteile nicht  ausreicht,  um  das  Wunschverhalten  zu  ändern:  sie 
meinten  deshalb3,  jene  Fehlurteile  seien  nicht  gewöhnliche  Irr- 
tümer, sondern  eingewurzelte  verkehrte  Meinungen  gleich  den 
Wahnvorstellungen  der  Geisteskranken,  und  jeder  Unweise  sei 
eigentlich  ein  Narr4.  Wir  werden  also  von  jenen  Grundsätzen 
der  Affektenlehre,  die  uns  bishervorgekommen  sind,  urteilen 
müssen,  daß  sie  zwar  einer  sehr  gekünstelten  Auffassung  sich 
bedienen,  aber  doch  mit  ihrer  Hilfe  eine  fundamentale  Wahrheit 
ausdrücken  wollen:  daß  nämlich  das  innerlich  freie  von  dem 
innerlich  unfreien  Erleben  durch  die  Art  und  Weise  sich  unter- 
scheidet, wie  unser  Wunschverhalten  zu  den  vorgestellten  Er- 
lebnissen Stellung  nimmt. 

Obwohl  nun  die  Gefühlszustände  an  sich  bei  richtigen  und 
unrichtigen  Affekten  natürlich  von  gleicher  Art  sind,  so  erschei- 
nen sie  doch  als  angemessen  oder  unangemessen,  je  nachdem 

i)  ndeoq.  2)  eimdGeia:  Frg.433,  435.  3)  Stob.  Ekl.  II.  p.  172  (Meineke).  Vgl. 
Frg.  421—430,  475,  478,  480.   4)  Cicero,  Parad.  4.    Vgl.  Frg.  658,  662—668. 


DIE  STOA  I 


209 


sie  an  richtige  oder  unrichtige  Werturteile  sich  schließen.  Die 
Stoa  definiert  daher1  den  unrichtigen  Affekt  auch  als  einen 
„übermäßigen  Drang",  oder  als  eine  „unnatürliche  Seelenbe- 
wegung", der  gegenüber  dann  der  richtige  Affekt  als  ein  „angemes- 
sener Drang"  oder  als  eine  „natürliche  Seelenbewegung"  bezeich- 
net wird.  Im  einzelnen  aber  unterscheidet  sie  nun  vier  Haupt- 
arten der  unrichtigen  Affekte:  Begierde,  Furcht,  Trauer  und 
Lust2.  Es  sei  also  zum  Beispiel3  die  Begierde  ein  solches  un- 
vernünftiges Begehren,  welchem  die  Meinung  zugrunde  liege, 
es  könnte  ein  Gut  erlangt  werden,  dessen  Gegenwart  unser  Le- 
ben glücklich  gestalten  würde,  und  diese  Meinung  enthalte  in 
sich  das  Prinzip  einer  ungeordneten  Seelenbewegung,  indem 
sie  das  Erwartete  als  ein  wahrhaft  Begehrenswertes  hinstelle. 
Und  dem  entsprechen  die  Definitionen  der  übrigen  unrichtigen 
Affekte4.  So  wird  etwa  die  Geldgier  (eine  der  27  (!)  Unterarten 
der  Begierde5)  zurückgeführt  auf  die  Meinung,  daß  das  Geld  ein 
Gut  sei6,  und  so  fort.  Die  unrichtige  Schätzung  der  Güter  also 
erzeugt  die  unrichtigen  Affekte.  Dagegen  erzeugt  ihre  richtige 
Schätzung  richtige  Affekte,  und  deren  werden  drei  unterschie- 
den7: der  Begierde  entspricht  der  Wunsch,  der  Furcht  die  Vor- 
sicht, der  Lust  die  Freude,  die  „beste  der  WohlafHziertheiten"8; 
nur  die  Trauer  findet  begreiflicher  Weise  kein  Gegenglied.  Und 
beide  Reihen  von  Klassen  werden  dann  mit  chrysippischer  Scho- 
lastik noch  vielfach  weiter  eingeteilt9.  Diese  „richtigen  Affekte" 
nun  sind  natürlich  nicht,  wie  man  wohl  in  älterer  und  neuerer 
Zeit  gemeint  hat,  Zugeständnisse  an  die  gemeine  Ansicht,  und 
auch  nicht  Freibriefe  für  geringere  Stärkegrade  der  verpönten 
Gefühlszustände  —  schon  der  Peripatetiker  Kritolaos10  wollte 

*)  Frg.  377,  378,  389,  412,  462,  479.  2)  Frg.  378,  381,  412.  3)  Frg.  394.  4)  Frg. 
385—388,  391—393,  400,  404,  407,  412.  5)  Frg.  397.  6)  Frg.  456.  7)  Frg.  431, 
432,  437—439.  8)  Frg.  436.  9)  Mit  jener  Sucht  „die  Philosophie  mit  zahl- 
reichen ungereimten  und  unnützen  Namen  anzufüllen",  die  an  Chrysipp 
(Frg.  255)  schon  Plutarch  mit  Recht  verspottet,  hat  er  schließlich  70  „un- 
richtige« und  9  „richtige«  Affekte  unterschieden  (Frg.  397,  401,  409,  414,  432). 
1(J)  Frg.  411  (Arnim  III). 

Gomperz,  Lebensauffassung  14 


210 


NEUNTE  VORLESUNG 


in  dieser  Unterscheidung  nur  einen  „Wortkampf"  sehen  — ,  son- 
dern sie  sind  die  notwendigen  „Erzeugnisse  der  Tugend" l,  näm- 
lich des  richtigen  Wissens  um  Güter  und  Übel.  Der  Weise 
verlangt  nach  den  wahren  Gütern.  Dazu  gehört  nach  stoischer 
Lehre  die  tätige  Gemeinschaft  mit  den  Mitmenschen.  Darum  ist 
er2  wohlwollend,  sanftmütig,  zärtlich,  liebevoll.  Er  scheut  die 
wahren  Übel.  Darum  fühlt  er  Scham  und  Scheu.  Er  hat 
aber  auch  das  Bewußtsein,  jene  zu  besitzen,  und  von  diesen  frei 
zusein.  Darum  empfindet  erFröhlichkeit,  Freudigkeit  und  Wohl- 
gemutheit. Darin  besteht  seine  „Affektlosigkeit",  die  genau  zu 
unterscheiden  ist  von  der  anderen  „Affektlosigkeit"  des  Harten 
und  Stumpfen3:  so  wie  dieser  unter,  so  steht  er  über  den  un- 
richtigen Affekten. 

Sie  bemerken,  geehrte  Zuhörer,  daß  diese  Bestimmungen  im 
engsten  Zusammenhange  stehen  mit  denen  des  Diogenes  und 
des  Theodoros.  Die  Fröhlichkeit  und  Wohlgemutheit  sind  von 
jenem,  die  Freudigkeit  ist  von  diesem  übernommen.  Aber  die 
stoische  Affektenlehre  stimmt  nicht  nur  mit  diesen  älteren  Ver- 
suchen überein:  sie  ist  auch  eine  im  wesentlichen  richtige  psy- 
chologische Beschreibung  des  Erlösungszustandes.  Die  Affekte, 
die  uns  von  den  äußeren  Dingen  abhängig  machen,  sind  ausge- 
schaltet; jene,  die  aus  dem  eigenen  Innern  hervorquellen,  sind 
beibehalten  und  gesteigert.  Die  stoische  „Eupathie"  schließt 
die  affektiven  Begleiterscheinungen  der  inneren  Unfreiheit  aus, 
und  gipfelt  in  jener  Freudigkeit,  die  sich  uns  seinerzeit  als  cha- 
rakteristisch für  die  innere  Freiheit  erwiesen  hat. 


i)  Frg.  76.  2)  Frg.  431,  432,  435.    3)  Frg.  448. 


DIE  STOA  II 


ZEHNTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 

IR  haben  in  der  letzten  Vorlesung  die  stoische 
Lebensauffassung  und  das  zu  ihrem  Ausdrucke 
konstruierte  System  kennen  gelernt,  soweit 
der  Hauptpunkt  der  inneren  Freiheit  und 
die  aus  ihm  sich  ergebende  Art  des  Erlebens 
in  Betracht  kommt:  alle  Erlebnisse  sollen 
wir  als  unselbständige  Teile  des  Allgeschehens 
auffassen,  diesem  mit  freudiger  Ergebung  begegnen  und  so 
auch  mit  jenen  in  allen  Fällen  wunschlos  zufrieden  sein. 
Heute  gilt  es,  die  Kehrseite  zu  betrachten.  Wir  hörten  ja:  unser 
Wünschen  soll  stets  mit  der  verwirklichten  Gegenwart  sich 
decken;  unser  Wollen  aber  soll  in  der  Zukunft  bestimmte 
Zwecke  selbst  verwirklichen.  Es  fragt  sich,  was  für  Zwecke  dies 
sein  mögen? 

Und  da  sagte  ich  Ihnen  schon  neulich:  was  das  innerlich  freie 
Tun  angeht,  stand  die  Stoa  unter  dem  Einflüsse  zweier  ent- 
gegengesetzter Motive.  Die  Schwierigkeit  aber,  um  die  es  sich 
handelt,  ist  unausweichlich,  sobald  das  moralische  Wertsystem 
von  dem  ethischen  nicht  durchaus  getrennt  wird.  Denn  jeder 
Versuch,  die  Normen  des  überlieferten  Sittengesetzes  aus  der 
Forderung  der  inneren  Freiheit  abzuleiten,  stellt  den  Denker, 
der  ihn  unternimmt,  vor  eine  überaus  bedenkliche  Antinomie. 

Zunächst  muß  für  den  Standpunkt  der  Stoa  ein  Gesichtspunkt 
ausgeschaltet  werden.  Dem  unvollkommenen  Menschen  er- 
wächst aus  seiner  Anerkennung  eines  ethischen  Ideals  selbst- 
verständlicherweise die  Pflicht  der  Vervollkommnung,  und  diese 

14* 


212  ZEHNTE  VORLESUNG 

kann  auch  da,  wo  es  um  sein  Tun  sich  handelt,  Geltung  bean- 
spruchen. Er  wird  vieles  tun  und  vieles  unterlassen  müssen, 
um  ethische  Fortschritte  zu  erzielen  und  Rückschritte  zu  ver- 
meiden. Aber  diese  ganze  Betrachtungsweise  ist  durch  die 
stoische  Fassung  des  Idealbegriffes  ausgeschlossen.  Wir  sahen 
ja,  die  Stoa  fragt  nicht:  was  müssen  wir  tun,  um  weise  zu 
werden?,  sondern  sie  fragt:  was  würden  wir  tun,  wenn  wir 
weise  wären?  Aber  auf  diese  Frage  kann  es  jedenfalls  vom 
spezifisch  ethischen  Standpunkte  aus  keine  Antwort  geben.  Denn 
aus  der  Pflicht  der  Vervollkommnung  lassen  sich  keine  Regeln 
ableiten,  die  für  den  schon  Vollkommenen  gelten  könnten.  Für 
den  idealen  Menschen  von  vollkommener  innerer  Freiheit  kann 
das  Ideal  der  inneren  Freiheit  offenbar  keine  Norm  des  Handelns 
an  die  Hand  geben:  alles,  was  er  tun  mag,  muß  ja  dem  Ideal 
entsprechen;  sonst  wäre  er,  gegen  die  Voraussetzung,  nicht  der 
ideale  Mensch.  Ethische  Pflichten  also  können  für  den 
Weisen  nicht  in  Frage  kommen. 

Ganz  anders  steht  es  mit  den  moralischen  Pflichten.  Daß 
der  innerlich  freie  Mensch  gegen  seine  Mitmenschen  nur  in  be- 
stimmter Weise  handeln  werde,  ist  eine  an  sich  keineswegs 
sinnlose  Behauptung.  Dafür  aber  stellt  sich  eben  an  diesem 
Punkte  um  so  bedrohlicher  die  erwähnte  Antinomie  ein. 

Der  „Weise"  nämlich  ist,  wie  wir  wissen,  unabhängig  von 
allen  Schicksalen.  Den  Verlust  von  Ehre,  Gut,  Gesundheit  und 
Leben  faßt  er  nicht  als  Übel  auf.  Diese  Dinge  haben  für  ihn 
keinen  wahren  Wert.  Dann  aber,  scheint  es,  können  sie  in 
seinen  Augen  auch  für  die  Anderen  keinen  wahren  Wert  haben. 
Gesetzt  also,  er  tastete  durch  seine  Taten  die  Ehre,  das  Gut, 
die  Gesundheit  oder  auch  das  Leben  seiner  Nebenmenschen 
an,  so  würde  er  ihnen  damit  doch  keinen  wahren  Schaden  zu- 
fügen: alles,  worüber  er  Gewalt  hat,  ist  ja  für  sie  nur  ein 
Äußeres;  was  aber  für  sie  ein  Inneres  ist,  ihre  Tugend,  Einsicht, 
Freudigkeit,  das  kann  er  durch  sein  Handeln  gar  nicht  erreichen. 
Er  kann  also  ihnen  ebensowenig  schaden  wie  sie  ihm.  Und 
daraus  folgt,  daß  aus  dem  Gesichtspunkte  der  inneren  Freiheit 


DIE  STOA  II 


213 


alle  möglichen  Arten,  wie  der  Weise  gegen  sich  selbst  oder 
andere  handeln  mag,  als  vollkommen  gleichwertig  sich  dar- 
stellen. 

Dagegen  gründet  sich  das  überlieferte  Sittengesetz  gerade 
auf  die  Voraussetzung,  daß  jenen  äußeren  Gütern  ein  Selbst- 
wert zukomme.  Denn  es  verpönt  vor  allen  anderen  jene  Hand- 
lungsweisen, durch  die  ein  Mensch  Ehre,  Besitz,  Gesundheit 
und  Leben  seiner  Mitmenschen  gefährdet.  Mit  anderen  Worten: 
die  Moralität  ist  der  kristallisierte  Niederschlag  der  egoistisch- 
unfreien Wertungsweise,  die  sie  nur  zu  einer  altruistisch-un- 
freien verallgemeinert;  die  Ethik  der  inneren  Freiheit  dagegen 
beruht  auf  der  grundsätzlichen  Bekämpfung  und  Überwindung 
dieser  Wertungsweise.  Wie  also  sollte  es  möglich  sein,  eben 
jenes  Gesetz  aus  dieser  Forderung  abzuleiten?  In  diese  Anti- 
nomie verstrickt  sich  jeder  Versuch  einer  praktischen  Philo- 
sophie, der  beide  Gesichtspunkte  anerkennt  und  sich  dennoch 
nicht  entschließen  kann,  sie  durchgehends  rein  zu  scheiden: 
die  Ethik  aufzufassen  als  eine  ideale  Forderung  der  Persönlich- 
keiten an  sich  selbst  und  aneinander  zu  gunsten  innerlich  freier 
Charaktergestaltung;  die  Moralität  aber  als  eine  praktische  For- 
derung der  Individuen  aneinander,  zu  gunsten  von  Zwecken, 
die  sie  realisieren  wollen  —  ganz  ohne  Rücksicht  darauf,  ob 
dieses  ihr  Wollen  bei  dem  einen  aus  unfreier,  bei  dem  anderen 
aus  freier  Gesinnung  entspringen  möge.  Dieses  Problem  aber 
erwies  sich  auch  für  die  Stoa  als  ein  zentrales  und  unausweich- 
liches. 

Nur  einer  hat  sich  von  all  diesen  Schwierigkeiten  frei  erhalten: 
des  Schulgründers  Zenon  großer  Schüler,  Ariston  von  Chios. 
Dieser  hielt,  im  Gegensatze  zu  seinem  Lehrer  und  zu  seinen 
Mitschülern,  an  der  absoluten  Wertlosigkeit  aller  äußeren  Dinge 
unverbrüchlich  fest,  und  zog  daraus  die  Konsequenz,  daß  es  un- 
möglich sei,  ein  den  Weisen  verpflichtendes  Sittengesetz  fest- 
zustellen1. In  dieser  einseitigen,  aber  folgerechten  Weise  hat 

')  Vgl.  hiezu  £ankara  (bei  Deussen,  Die  Sutra's  des  Vedanta,  S.  438): 
„Der  Verpflichtete  wird  verpflichtet,  weil  ein  zu  Meidendes  oder  zu  Er- 


214 


ZEHNTE  VORLESUNG 


er  zwar  die  Moralität  und  ihre  Berechtigung  völlig  ignoriert, 
dafür  aber  die  Ethik  der  inneren  Freiheit  in  der  Reinheit  ihres 
Prinzipes  durchgeführt. 

Er  leugnet,  daß  den  menschlichen  Handlungen  ein  verschie- 
dener Wert  zukommen  könne,  je  nachdem  sie  gewisse  äußere 
Güter  realisieren  oder  nicht.  Vielmehr  erklärt  er  den  Zustand 
der  Indifferenz1  gegenüber  ihnen  allen  für  das  ethische  Ziel2. 
In  ihm  allein  besteht  die  Tugend,  und  sie  ist  deshalb  nur  eine, 
wenn  sie  sich  auch  verschieden  äußert.  VerschiedeneTugenden 
aber  gibt  es  ebensowenig  wie  verschiedene  Moralgebote.  Die 
einzige  Tugend  ist  vielmehr  die  Erhabenheit  über  alles  Äußere, 
also  die  innere  Freiheit;  und  diese  ist  ebenso  einheitlich  wie 
die  Sehkraft.  Sowie  man,  sagt  er3,  diese,  wenn  sie  etwas  Weißes 
sieht,  Weißsehen,  wenn  aber  Schwarzes,  Schwarzsehen  nennen 
kann,  so  kann  auch  die  eine  Tugend  Einsicht  heißen,  wenn  sie 
Handlungen  zum  Gegenstande  hat,  und  Selbstbeherrschung, 
wenn  Gefühle  usw.  Einzelne  sittliche  Vorschriften  aber  sind 

langendes  vorhanden  ist.  Derjenige  nun,  ...  für  den  nichts  mehr  be- 
steht, was  er  vermeiden  oder  erlangen  könnte,  kann  nicht  verpflichtet 
werden."  (Vgl.  ibid.  S.  27.)  Sofort  wird  auch  die  Konsequenz  des  Ari- 
ston  in  Betracht  gezogen,  nämlich  „daß  derjenige,  welcher  die  voll- 
kommene Erkenntnis  besitzt,  weil  auf  ihn  keine  Verpflichtung  mehr 
Anwendung  findet,  nun  handeln  wird,  wie  es  ihm  beliebt".  Diese  Kon- 
sequenz nun  wird  zwar  abgelehnt,  mit  der  Begründung,  daß  „dasjenige, 
was  zu  allem  Handeln  antreibt,  nur  jener  Wahn  ist,  und  dieser  Wahn 
besteht  nicht  mehr  bei  dem,  welcher  die  vollkommene  Erkenntnis  besitzt", 
d.  h.  also,  es  wird  ihr  begegnet  durch  die  Behauptung,  der  Weise  werde 
überhaupt  nicht  handeln.  (Vgl.  ibid.  S.  42.)  Allein  es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  hier  die  Möglichkeit  einer  nicht  aus  Bedürftigkeit,  sondern  aus  Kraft- 
fülle entspringenden  Tätigkeit  übersehen  wird  —  eine  Möglichkeit,  die 
doch  derselbe  Autor,  wie  ich  anläßlich  der  Lehre  des  Heraklit  gezeigt 
habe,  sehr  wohl  beachtet  hat,  wo  es  sich  um  das  Tun  Gottes  handelt. 
Sowie  Gott  müßte  also  auch  der  Weise  folgerecht  „bloß  zum  Spiel"  han- 
deln „wie  es  ihm  beliebt"  (wie  übrigens  ibid.  S.  648  auch  angedeutet  wird) 
—  und  eben  diese  konsequente  Lehre  ist  die  des  Ariston,  wie  sich  im 
folgenden  zeigen  wird.  !)  'Abmqpopi'a.  2)  Cicero,  Acad.  prior.  II.  42.  130; 
De  legg.  I.  21.  55;  De  fin.  IV.  17.  47;  Diog.  Laert.  VII.  160.  3)  Plut.  De  virt. 
mor.  2,  p.  440 f.;  vgl.  Galen,  Hippoer.  et  Plat.  V.  5  i.  fin.  und  VII.  2  princ. 


DIE  STOA  II 


215 


für  den  Weisen  überflüssig  und  für  den  Toren  unnütz:  „Wenn 
ein  Mensch,  meint  er1,  die  Tugend  als  das  alleinige  Gut  lieben 
und  die  Schlechtigkeit  als  das  einzige  Übel  hassen  gelernt,  alles 
andere  aber,  wie  Reichtümer,  Ehren,  Gesundheit,  Kraft  und 
Macht  als  ein  Mittleres  erkannt  hat,  das  weder  zu  den  Gütern 
noch  zu  den  Übeln  zu  rechnen  ist;  dann  wird  er  niemanden 
brauchen,  der  ihm  sagt:  So  sollst  du  spazieren  gehen,  so  sollst 
du  essen,  dies  geziemt  einem  Manne,  das  einer  Frau,  dies  einem 
Verheirateten,  das  einem  Ledigen. . . .  Wer,  fährt  er  fort2,  einem 
Wahnsinnigen  Vorschriften  geben  wollte,  wie  er  sprechen,  wie 
er  dahergehen,  wie  er  sich  in  der  Öffentlichkeit,  wie  im  Privat- 
leben benehmen  solle,  —  der  wäre  verrückter  als  jener,  dem  er 
seine  Ratschläge  gibt:  seine  schwarze  Galle  muß  man  kurieren, 
und  den  Grund  des  Wahnsinns  entfernen.  Dasselbe  gilt  auch 
von  diesem  anderen  Wahnsinn:  ihn  selbst  muß  man  vertreiben." 
Wie  aber  wird  denn  nun  der  Weise  handeln?  Auch  auf  diese 
Frage  gibt  Ariston  eine  unzweideutige  Antwort:  wenn  er  wirk- 
lich vollkommen  ist,  dann  kann  er  tun,  was  er  will.  „Wunder- 
bar und  herrlich,  sagt  er3,  wirst  du  leben,  wirst  tun,  was  dir 
gerade  einfällt,  niemals  eine  Gier  empfinden,  und  niemals  eine 
Furcht."  Dieses  „Tun,  was  ihm  einfällt",  bedeutet  aber  natür- 
lich nicht  ein  planloses  Tasten,  sondern  der  Weise  wird  sich 
zur  Auswirkung  seiner  Kraft  bestimmte  Zwecke  setzen,  und  die 
zu  ihrer  Verwirklichung  tauglichen  Mittel  anwenden.  Auch  dies 
weiß  Ariston  sehr  wohl4:  er  werde  die  indifferenten  Dinge  je 
nach  den  Umständen  vorziehen,  gerade  so,  wie  man  D,  I  oder 
O  voranstelle,  je  nachdem  man  Dion,  Ion  oder  Orion  schreiben 
wolle.  Und  für  diese  souveräne  Erhabenheit  des  innerlich  freien 
Menschen  über  die  äußeren  Dinge  hat  sich  auch  dem  Ariston 
wieder,  als  ihr  angemessenster  Ausdruck,  das  Spielgleichnis 
aufgedrängt5:  der  Weise  gleiche  einem  guten  Schauspieler,  der, 
ob  er  nun  in  der  Rolle  des  Agamemnon  auftrete  oder  in  der 

i)  Seneca,  Ep.  94.  8.  2)  Seneca,  Ep.  94.  17.  3)  Cicero,  De  fin.  IV.  25.  69; 
vgl.  auch  besonders  IV.  16.43!  4)  Sext.  Emp.  adv.  Math.  XI.  64 ff.  5)  Diog. 
Laert.  VII.  160. 


216 


ZEHNTE  VORLESUNG 


desThersites,sie  beide  gleichgut  durchführen  werde.  Sowenig 
soll  der  moralische  Wert  des  Lebensinhalts  den  ethischen 
Wert  der  Lebensführung  berühren.  Dieses  Bild  aberkennen 
wir  schon  von  dem  Kyrenaiker  Bion  her,  der  ein  ganz  ähnliches 
gebraucht  hat.  Und  auch  das  ist  beachtenswert,  besonders,  wenn 
wir  erwägen,  daß  auch  die  übrigen  Sätze  des  Bion  („Wie  das 
Greifen,  so  das  Beißen"  usw.)  eine  ganz  stoische  Lebensauf- 
fassung bekunden.  Auch  waren  Ariston  und  Bion  so  ziemlich 
genaue  Zeitgenossen.  Dies  alles  aber  erwähne  ich,  weil  uns  von 
Ariston  berichtet  wird1,  er  sei  „zur  Lustlehre  abgefallen". 
Was  aber  diese  Nachricht  besagen  will,  wird  uns  nun  ziemlich 
klar  sein:  daß  nämlich  diese  beiden  Richtungen,  die  von  so  ver- 
schiedenen Seiten  her  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  am  reinsten 
erfaßt  hatten,  sich  dieser  Übereinstimmung  auch  bewußt  ge- 
worden sind,  und  daß  etwa  Ariston  es  nicht  verschmäht  haben 
wird,  die  „Freude"  des  Theodoros  als  den  Gefühlszustand  des 
„Weisen"  anzuerkennen.  Diese  über  die  Grenzen  der  Sekten 
hinausgreifende  Annäherung  aber,  die  uns  die  Quellen  gerade 
noch  erraten  lassen,  und  welche  für  die  törichte  Beschränktheit 
dogmatischer  Schulstandpunkte  als  ein  „Abfall"  erschien,  wird 
uns  in  gewissem  Sinne  als  der  höchste  Punkt  gelten  dürfen,  den 
die  Lebensauffassung  der  griechischen  Philosophen  überhaupt 
erreicht  hat. 

Die  Stoa  als  Ganzes  aber,  geehrte  Zuhörer,  besaß  nicht  die- 
selbe Freiheit  gegenüber  dem  allgemeinen  Bewußtsein  und  der 
Tradition.  Sie  konnte  sich  keinen  Weisen  denken,  der  nicht  zu- 
gleich ein  guter  Gatte,  Vater  und  Bürger  wäre2.  Auch  für  ihn 
also,  so  empfand  sie,  muß  es  noch  eine  bindende  moralische 
Norm  geben,  die  ihn  hindert,  sich  über  Leben,  Gesundheit,  Be- 
sitz und  Ehre  seiner  Nächsten  hinwegzusetzen.  Allein  wie  diese 
Norm  begründen,  wenn  doch  der  Weise  diese  selben  Dinge 
gering  achten  soll,  sofern  sie  ihn  selbst  betreffen?  Hier  glaubte 
Zenon  einen  Ausweg  gefunden  zu  haben  —  ja,  er  hat  in  der 
Tat  einen  gefunden,  dem  nur  freilich  schwere  Bedenken  anderer 


i)  Athen.  VII.  p.  281c  ff.  2)  z.  ß.  Frg.  697,  731  (Arnim  III). 


DIE  STOA  II 


217 


Art  anhängen.  Diese  werden  wir  später  zu  berühren  haben; 
jetzt  aber  ist  die  Lehre  selbst  darzustellen,  die  wir  zwar  aus  ein- 
zelnen Äußerungen  späterer  Nachfolger  uns  rekonstruieren 
müssen,  die  aber  doch  ohne  Zweifel  schon  dem  Schulgründer 
angehört,  da  alle  ihre  Hauptbegriffe  ausdrücklich  auf  ihn  zu- 
rückgeführt werden1.  Ihr  wesentlicher  Inhalt  aber  ist  der  fol- 
gende. 

Alle  Organismen  üben  von  Natur  gewisse  Funktionen  aus, 
die  in  ihrer  Selbsterhaltung  gipfeln2.  Diese  Funktionen  heißen 
die  ihnen  „eigentümlichen  Tätigkeiten"3,  und  zeigen  sich  schon 
bei  Pflanzen  und  Tieren4  (weshalb  man  jenen  Ausdruck  keines- 
falls durch  „Pflichten"  wiedergeben  darf).  Sie  richten  sich  auf 
die  Herstellung  gev/isser  „natürlicher"  Zustände,  wie  Leben3 
Gesundheit  oder  Kraft5,  welchen  eben  deshalb  ein  „Wert"6  für 
den  Organismus  zukommt7;  nur  ist  dieser  biologische  Wert 
streng  zu  unterscheiden,  nicht  nur  vom  ökonomischen,  sondern 
auch  vom  ethischen  Werte8.  Er  äußert  sich  aber  bei  selbstbe- 
wußten und  vernünftigen  Wesen,  wie  beim  Menschen,  darin,  daß 
er  der  Gegenstand  eines  „Triebes"9  ist,  oder,  wie  man  auch 
sagen  kann,  einer  „Wahl" 10,  indem  der  Mensch  instinktiv  die 
einen  Zustände  vorzieht,  die  anderen  nicht.  Jene  heißen  des- 
halb die  „vorzüglichen",  diese  die  „unvorzüglichen"11.  Nun  aber 
ist  der  Mensch  nicht  ein  isoliertes  Wesen,  sondern  steht  mit 
allen  anderen  Geschöpfen  in  dem  allgemeinen  Weltzusammen- 
hange, und  lebt  deshalb  nur  dann  der  Natur  entsprechend,  wenn 
er  nicht  nur  seine  eignen,  sondern  auch  die  fremden  biologi- 
schen Werte  zu  realisieren  sucht12.  Es  gehört  also  zu  seinen 
„eigentümlichen  Tätigkeiten"  nicht  nur  die  Sorge  um  sein 
eigenes  Leben,  seine  eigene  Gesundheit,  seine  eigene  Kraft, 

l)  So  das  ouoXofouiuevuuc;  fr)  qpuaci  lf\v  bei  Diog.  Laert.  VII.  87;  die  opjiui 
ibid.  VII.  4;  das  kciGtikov  ibid.  VII.  25;  die  Trporyfiueva  und  änoirporyfiueva  bei 
Stob.  Ekl.  II,  p.  156  (Meineke)  und  Cicero,  de  fin.  IV.  25.  69  ff.  2)  Frg.  178 
—183,  187.  3)  KaetiKovxa:  Frg.  186,  188,497.  4)  Frg.  493,  494.  5)  Frg.  140, 
141,  497.  6) 'Agfa.  ?)Frg.l43.  8)  Frg.  124— 126.  9)  fOpuri:  Frg.  178.  10)  '6KXoTn: 
Frg.  118.  Vgl.  Frg.  142,  190—196.  n)  TTporrruiva,  'AiroirporiYiueva:  Diog.  Laert. 
VII.  104—107.  Vgl.  Frg.  128—136.  12)  Frg.  4.  Vgl.  Frg.  333—339. 


218 


ZEHNTE  VORLESUNG 


seinen  eigenen  Reichtum,  kurz,  um  seine  eigenen  „vorzüglichen" 
Zustände,  sondern  auch  die  um  die  entsprechenden  Werte  seiner 
Eltern,  Freunde,  Mitbürger  usw.1:  auch  ihre  biologische  Wohl- 
fahrt ist  für  ihn  „vorzüglich"2.  Biologisch  „wertvoll"  und  „vor- 
züglich" sind  mithin  gleichwertige  Begriffe3,  und  der  Inbegriff 
der  unter  sie  fallenden  Zustände  bildet  den  Gegenstand  der 
dem  Menschen  „eigentümlichen"  natürlichen  Tätigkeit.  Das 
Wissen  nun  (um  diese  „eigentümlichen"  Tätigkeiten)  ist  die 
Tugend4  (als  die  „Vollendung"  der  menschlichen  Natur5);  und 
wenn  jene  Tätigkeiten  aus  diesem  Wissen  um  ihre  Bedeutung 
hervorgehen  (und  damit  zugleich  nicht  als  zufällige  Einzelhand- 
lungen, sondern  als  Glieder  einer  auf  Grundsätzen  beruhenden 
Lebensführung  sich  darstellen,  mithin  als  „der  Tugend  gemäße 
Tätigkeiten"6,  die  durch  „den  Charakter  des  Sicheren  und  Habi- 
tuellen und  durch  eine  eigene  Festigkeit"7  ausgezeichnet  sind), 
dann  heißen  sie  „richtige  Tätigkeiten"8,  im  Gegensatze  zu  jenen 
nur  äußerlich  und  zufällig  der  Norm  konformen  Akten,  die  nicht 
aus  einem  solchen  Bewußtsein  entspringen  und  darum  nur  als 
ethisch  „indifferente  eigentümliche  Tätigkeiten"9  bezeichnet 
werden10.  Es  ist  also  dieselbe  äußere  Handlung,  je  nachdem  sie 
jenes  innere  Wissen  zur  Voraussetzung  hat  und  aus  ihm  ent- 
springt, oder  nicht,  bald  eine  „indifferente  eigentümliche",  bald 
eine  „richtige"  Tätigkeit:  das  bloße  „Spazierengehen"  zum  Bei- 
spiel, oder  das  bloße  „Schuldenzahlen"  gehört  in  die  erste,  das 
„vernünftige  Spazierengehen"  aber,  und  das  „gerechte  Schulden- 
zahlen" in  die  zweite  Kategorie11.  Wer  nun  in  jeder  Lebenslage 
die  „richtige  Tätigkeit"  setzt,  deriebt  „in  Übereinstimmung  mit 
der  Natur"12,  und  diese  Übereinstimmung  ist  das  oberste  ethi- 
sche Ziel13,  das  einzig  wahre  Gut14  und  der  absolute  Wert,  das 

i)  Frg.  340—348,  495,  731.  2)  Frg.  136.  Vgl.  Frg.  309,  318.  3)  Frg.  122,  126, 145. 
4)  Frg.265.  Vgl.  Frg.  198,  200a,  264,  278,  283.  5)  Frg.  257,  260.  6) ' evep^ata 
kcct  dpexi^v.  7)  Frg.510.  Vgl. Frg. 542.  8)  KaxopGaijuara.  9)  Meöa  KaG^KOvra. 
10)  Frg.  494.  Vgl.  Frg.  284.  ")  Frg.  498,  501.  Vgl.  Frg.  511,  512,  515,  516. 
12)  f  OjuoAoyou|U€vuj<;  Tfj  cpüaei.  13)  Frg.  4 — 9.  14)  Unter  den  Begriff  des 
wahren  Gutes  fallen  daher  streng  genommen  nicht  nur  die  Tugenden, 
sondern  auch  ihre  Träger,  Äußerungen,  Wirkungen  usw.,  wie  denn  Chry- 


DIE  STOA  II 


219 


Glück1.  Aber  nun  beachten  Sie  wohl:  dies  alles  gilt  von  den 
„richtigen  Tätigkeiten"  als  solchen,  und  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  sie  auch  das  „Vorzügliche"  realisieren2.  Denn  die  Setzung 
der  Tätigkeit  steht  bei  uns,  ihr  Erfolg  aber  nicht;  und  nur  was 
bei  ihm  steht,  ist  für  den  Stoiker  ein  Gut.  Es  ist  mithin  zwischen 
dem  Wahlwert  und  dem  Glückswert  auf  das  genaueste  zu 
unterscheiden3:  die  biologischen  Werte  und  Unwerte,  das 
„Vorzügliche"  und  „Unvorzügliche"  bestimmen  den  Inhalt  des 
richtigen  Handelns,  aber  ihr  Besitz  ist  für  das  Glück  vollkommen 
indifferent4.  Denn  gut  ist  nur,  was  nützt,  schlecht,  was  schadet5; 
der  Besitz  jener  äußeren  Güter  aber  ist  weder  nützlich  noch 
schädlich,vielmehr  hinsichtlich  der  menschlichenVortrefflichkeit 
durchaus  gleichgültig6.  Mit  anderen  Worten:  diese  Dinge  haben 
einen  relativen  Wert,  insofern  sie  den  Inhalt  der  sittlichen 
Tätigkeit  bestimmen;  der  einzig  absolute  Wert  aber  besteht 

!  in  der  Kenntnis  und  grundsätzlichen  Ausübung  dieser  Tätigkeit 
selbst.  Im  Sinne  dieser  Lehre  hat  deshalb  Antipater  von  Tarsos 
das  ethische  Ziel  ganz  richtig  darein  gesetzt7,  man  müsse  „kon- 
sequent und  unverbrüchlich  alles,  was  bei  einem  steht,  tun,  um 

|  das  von  Natur  Vorzügliche  zu  erlangen";  ebenso  bestimmt 

|  auch  der  Skeptiker  Karneades  das  ethische  Prinzip  der  Stoa 
vollkommen  korrekt,  wenn  er  sagt8:  „Alles  zu  tun,  um  das  der 
Natur  Entsprechende  zu  erlangen,  auch  wenn  wir  es  nicht  er- 
reichen, sei  nach  der  Meinung  der  Stoiker  sittlich,  allein  um 
seiner  selbst  willen  anzustreben,  und  das  einzige  Gut";  und 

|  endlich  bezeugt  dasselbe  Plutarch  mit  den  Worten9:  „Denn 
das  Ziel  besteht  in  der  vernünftigen  Auswahl .  .  jener  (biologi- 
schen Werte10);  diese  selbst  aber  und  ihr  Besitz  sind  nicht  das 

sipp  (Frg.  95— 108)  dies  mit  ebenso  unfruchtbarer  Spitzfindigkeit  als  un- 
erträglicher Breite  auseinandergesetzt  hat.  Ein  Eingehen  auf  diese  Auf- 
j  Zählungen  und  Einteilungen  aber  wäre  hier  nicht  nur  zwecklos,  sondern 
zweckwidrig.  1)  Frg.  126.  2)  Frg.  504,  505,  507,  509.  3)  Frg.  118.  Vgl.  Frg.  195. 
(Die  üH(a  €k\€ktiki^  ist  deshalb  noch  nicht  öu|uß\r|TiKri  Trpöc;  töv  euocu'uova 
ßfov).  4)  'Aoidcpopov.  5)  Frg.  75,  76.  6)  Frg.  117.  7)  Antipater  Frg.  57;  vgl. 
Frg.  58  und  Diogenes  v.  Babylon  Frg.  44—46  (Arnim  III).  8)  Cicero,  de  fin 
V.  7.  20.  Vgl.  Frg.  18,  497.  9)  Frg.  195.  ">)  TTptfrra  Kcnra  <J>uaiv. 


220  ZEHNTE  VORLESUNG 

Ziel,  sondern  gleichsam  nur  der  Stoff"  (an  dem  es  verwirklicht 
werden  soll).  Ich  wiederhole  also  noch  einmal  kurz  die  Lehre 
der  Schule:  es  gibt  „Vorzügliches";  die  auf  Verwirklichung  des- 
selben gerichtete  Tätigkeit  heißt  die  dem  Menschen  „eigen- 
tümliche"; das  richtige  Wissen  um  diese  Tätigkeiten  ist  die 
„Tugend";  diese  Tätigkeiten  selbst  aber,  sofern  sie  aus  diesem 
Wissen  hervorgehen,  sind  das  einzig  wahre  Gut,  und  zugleich 
das  Glück. 

Diese  schwierige  Konstruktion,  mit  ihrem  doppelten  Wertbe- 
griffe, ist  in  älterer  und  neuerer  Zeit  vielfach  mißverstanden 
worden.  Man  hat  gemeint,  sie  bedeute  ein  Zugeständnis  an  die  ge- 
wöhnliche Lebensauffassung:  die  äußeren  Dinge,  welche  die  Stoa 
als  „Güter"  nichthabe  anerkennen  wollen,  habesieals  „Vorzüg- 
liches" doch  wieder  eingeführt,  und  so  durch  die  bloße  Ände- 
rung eines  Wortes  mit  der  Strenge  der  Grundsätze  sich  ab-  j 
finden  wollen.  Cicero  wird  in  seiner  Schrift  „von  den 
Zielen"1  nach  dem  Vorgange  griechischer  Autoren  nicht  müde, 
sich  hierüber  lustig  zu  machen;  und  auch  Plutarch  äußert  sich 
in  ähnlicher  Weise2,  wenn  er  auch  die  stoische  Lehre  selbst 
mit  weit  größerem  Verständnis  auffaßt  und  darstellt,  als  der 
römische  Kompilator.  Auch  in  modernen  Werken  findet  sich 
dieses  ganze  Lehrstück  unter  der  Rubrik  „Milderung  des  sitt- 
lichen Idealismus".  Allein  diese  ganze  Betrachtungsweise  ist 
der  Absicht  der  Stoa  durchaus  unangemessen.  Ihr  zufolge  soll 
das  „Gute"  ein  Wissen  sein,  nämlich  die  „Tugend",  das  „Vor- 
zügliche" aber  der  Inhalt  dieses  Wissens.  In  diesem  Zusammen- 
hange die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  neben  der  Tugend  auch  der 
Besitz  der  äußeren  Güter  einen  Wert  habe,  ist  nicht  anders,  als 
wollte  man  einer  Lobpreisung  der  Geometrie  durch  den  Ein- 
wand entgegentreten,  dann  müßte  doch  auch  den  Dreiecken 
ein  selbständiger  Wert  zugestanden  werden. 

Freilich,wenn  man  einmal  umjeden  Preisden  Versuchmachen 
will,  die  auf  einen  doppelten  Wertbegriff  gegründete  Lehre  der 
Stoa  unter  Zugrundelegung  einer  einheitlichen  Wertskala  dar- 

i)  De  fin.  IV.  und  V.  2)  De  comm.  not.  4,  p.  1060c ff.  und  26,  p.  1070 ff. 


DIE  STOA  II 


221 


zustellen,  dann  entsteht  die  Schwierigkeit,  daß  dieselben  Objekte 
einerseits  „indifferent",  andererseits  „wertvoll"  sein  sollen *. 
Aber  an  dieser  Schwierigkeit  ist  dann  nicht  die  kritisierte  Lehre 

|  schuld,  sondern  der  Kritiker,  der  es  unternimmt,  sie  in  unange- 
messenen Begriffen  zu  formulieren.  Dieses  Unternehmen  aber 

\  ist  allerdings  schon  früh,  und  keineswegs  nur  von  gegnerischer 
Seite  gewagt  worden.  Die  korrekte  Lehre  ist  die2,  man  rede  von 
Indifferenz  in  zweifachem  Sinne3:  einmal,  sofern  das  Indifferente 
nichts  zum  Glück  oder  Unglück  beitrage,  und  in  diesem  Sinne 

I  seien  Reichtum,  Gesundheit,  Ehre  usf.  indifferent;  sodann, 
insofern  das  Indifferente  keinen  natürlichen  Trieb  (des  Be- 
gehrens oder  Verabscheuens)  errege,  und  in  diesem  Sinne 
seien  nur  solche  Dinge  indifferent  wie  die  Anzahl  der  Kopf- 
haare, oder  das  Ausstrecken  eines  Fingers.  Aber  doch  haben 
auch  schon  die  alten  Stoiker  zugegeben4,  dem  „Vorzüglichen" 
komme  eine  „zweite  Stelle  und  ein  sekundärer  Wert  zu,  und  es 
nähere  sich  in  gewisser  Weise  der  Natur  des  Guten".  Und  sehr 
bedenklich  wird  diese  Zweideutigkeit,  wenn  Seneca  erklärt5, 
bei  ihm  nähmen  die  Reichtümer  einen  gewissen  Rang  ein,  bei 
der  Masse  der  Menschen  aber  den  obersten. 

In  gewisser  Weise  liegt  hier  freilich  ein  Widerspruch  vor. 
Aber  er  liegt  nicht  da,  wo  man  geneigt  ist,  ihn  zu  suchen.  Er 
entsteht  nicht  aus  einer  schwankenden  Schätzung  der  äußeren 
Güter,  sondern  aus  der  Zwiespältigkeit  der  Gesichtspunkte,  daß 
der  Weise  dieselben  Dinge  für  nichts  achten  soll,  sofern  sein 
Besitz  in  Frage  kommt,  und  sie  doch  wieder  in  Ehren  halten, 
sofern  es  sich  um  ihren  Besitz  durch  andere  handelt.  So  wirft 
zum  Beispiel  Plutarch  dem  Chrysippos6  vor,  er  rechne  auf 
der  einen  Seite  das  Leben  nur  zu  den  von  Natur  indifferenten 
Dingen,  sage  aber  auf  der  anderen  doch:  es  sei  auch  für  den 
Toren  besser  zu  leben  als  nicht  zu  leben,  selbst  wenn  er  nie 
weise  werden  sollte.  Aber  was  hätte  Chrysipp  anderes  sagen 

1)  Vgl.  Chrysipp  Frg.  137  (Arnim  III).  2)  Frg.  118—122.  3)  Ein  dritter  Sinn 
der  Indifferenz  (Gleichwertigkeit)  kann  hier  außer  Betracht  bleiben.  4)  Frg. 
128.  5)  De  Vit.  beat.  22.  5.  6)  Frg.  760.  Vgl.  Frg.  761,  762. 


222 


ZEHNTE  VORLESUNG 


sollen,  wenn  er  doch  nach  der  feststehenden  Doktrin  seiner 
Schule  zwar  das  Ermordetwerden  nicht  für  ein  Übel  halten 
durfte,  wohl  aber  das  Ermorden  für  ein  solches  erklären  mußte? 
Derselbe  Autor  rückt  dem  Chrysipp1  die  Äußerung  vor,  der 
Weise  werde  die  Rede-  und  Staatskunst  so  betreiben,  als  ob 
Reichtum,  Ehre  und  Gesundheit  Güter  wären.  Aber  dies  ver- 
steht sich  von  selbst,  wenn  er  jene  Künste  gerecht  ausüben 
soll.  Denn  die  Gerechtigkeit  beruht  auf  der  Voraussetzung  eines 
Wertes  der  äußeren  Güter,  und  eben  in  diesem  ihrem,  durch 
den  „Trieb"  offenbarten  „Wert"  besteht  jene  „Natürlichkeit" 
von  Recht  und  Gesetz,  die  derselbe  Chrysipp  behauptet2.  Der 
Weise  also  muß  —  nichts  anderes  wird  hier  behauptet  —  als 
Staatsmann  einen  Wert  der  äußeren  Güter  für  die  Regier- 
ten voraussetzen;  denn  nur  auf  Grund  dieser  Voraussetzung 
kann  er  sowohl  die  Zivil-  wie  die  Kriminaljustiz  verwalten. 
Wollte  er  von  dieser  Voraussetzung  abgehen,  dann  könnte  er 
nur  mit  Aristo  n  „tun,  was  ihm  gerade  in  den  Sinn  kommt",  wäre 
somit  an  keine  allgemein  gültige  Regel  mehr  gebunden.  Die 
Anerkennung  eines  relativen  Wertes  des  „Vorzüglichen"  und 
die  eines  allgemeinen  Sittengesetzes  sind  eben  logisch  unzer- 
trennlich: Ariston  konnte  jenen  nur  leugnen,  weil  er  auch  die- 
ses bestritt3;  so  wie  man  aber  das  letztere  beibehalten  wollte, 
mußte  man  auch  den  ersteren  in  irgend  einer  Form  einführen. 

Der  angebliche  Widerspruch  der  stoischen  Ethik  ist  ja  in 
unserer  heutigen  Sittlichkeit  genau  so  enthalten,  weil  auch  wir 
die  radikale  Trennung  der  ethischen  von  der  moralischen  Be- 
urteilung noch  nicht  durchgeführt  haben.  Wenn  ich  den  Ver- 
lust einer  größeren  Geldsumme  als  indifferent  empfinde,  werde 
ich  geachtet;  nehme  ich  aber  diese  selbe  Summe  einem  anderen 

l)  Frg.  698.  2)  Frg.  308  ff.,  611.  3)  Vgl.  Frg.  26  u.27  (Arnim  III).  An  der  letz- 
teren  Stelle  sagt  Chrysipp  gegen  Ariston  (von  seinem  Standpunkt  aus 
ganz  konsequent):  „Denn  wer  behauptet,  allein  die  Sittlichkeit  habe  einen 
Wert,  der  hebt  damit  die  Pflege  der  Gesundheit,  die  Verwaltung  des  Ver- 
mögens, die  Regierung  des  Staates,  die  Regeln  des  geschäftlichen  und 
die  Formen  des  privaten  Lebens  auf,  und  gibt  so  schließlich  auch  jene 
Sittlichkeit  selbst  Preis,  in  der  er  alles  aufgehen  lassen  wollte." 


DIE  STOA  II 


223 


weg,  dann  bin  ich  ein  Gegenstand  der  Entrüstung.  Wer  eine 
Einbuße  an  Ehre  geduldig  erträgt,  wird  von  der  christlichen 
Moral  wegen  seiner  Gottergebenheit  gerühmt;  wer  aber  dieselbe 
Einbuße  einem  andern  zufügt,  wird  von  ihr  als  Ehrabschneider 
verdammt.  Wenn  nun  ein  Marsbewohner  auf  die  Erde  herab- 
käme, bei  uns  eine  einheitliche  Wertskala  voraussetzte,  und  uns 
fragte:  gilt  bei  euch  die  Ehre  als  ein  Gut?  —  was  könnten  wir 
ihm  antworten?  Auch  wir  müßten  erwidern:  ein  Gut  in  dem 

!  Sinne,  daß  sich  der  Weise  um  ihren  Verlust  grämen  würde, 
ist  sie  nicht;  wohl  aber  in  dem  Sinne,  daß  die  Menschen  von 

j  Natur  vorziehen,  sie  zu  besitzen,  und  deshalb  auch  von  dem 
Weisen  verlangen,  daß  er  sie  ihnen  nicht  nehme.  Nichts  anderes 
aber  drückt  auch  der  stoische  Wert-Dualismus  aus:  er  ist  das 
Ergebnis  eines  Kompromisses  zwischen  dem  Ideale  der  inneren 
Freiheit  und  dem  Postulat  eines  allgemeinen  Sittengesetzes;  und 

|  ich  sehe  nicht,  wie  ein  solches  Kompromiß  vermieden  werden 
könnte,  solange  wir  an  dem  Freiheitsideale  festhalten  wollen, 
und  doch  in  der  Ethik  vor  dem  Immoralismus  des  Ariston 
zurückschrecken. 
Der  stoischen  Fassung  dieses  Kompromisses  aber  muß  nach- 

I  gerühmt  werden,  daß  sie  das  Wesentliche  des  Freiheitsbewußt- 
seins wahrt,  ohne  doch  etwas  psychologisch  Widersprechendes 

\  zu  verlangen.  Denn  die  beiden  Wertungsweisen  können  in  der 

;  Tat  nebeneinander  bestehen:  der  stoische  „Weise"  hätte  seine 
„Triebe"  soweit  unterdrückt,  daß  sie  ihre  Bedeutung  für  das 
Wunschverhalten  verlieren,  für  das  Willensverhalten 
aber  bewahren.  Er  liebt  die  Reichtümer  nicht,  sagt  Seneca1, 
aber  er  zieht  sie  vor.  Er  „fühlt  kein  Mitleid,  aber  er  hilft"2. 
Und,  so  hörten  wir  schon  neulich,  während  ihm  das  Wünschen 
verboten  wird,  wird  ihm  doch  das  Wollen  gestattet3. 

So  gipfelt  also  die  stoische  Lehre,  wie  wir  sie  bisher  darge- 
stellt haben,  in  einer  Lebensauffassung,  für  die  allein  das  Tun 
Bedeutung  hat,  nicht  aber  dasjenige,  was  durch  dieses  Tun  er- 

1)  De  Vit.  beat.  21.  4.  2)  Seneca,  de  clem.  II.  6.  4.  Vgl.  Frg.  450—452,  641. 
1  3)  Seneca,  Ep.  116.  1.  Vgl.  Frg.  196! 


224 


ZEHNTE  VORLESUNG 


reicht  wird.  Die  Lebensgüter  sind  für  den  Menschen  bloß  der 
Stoff,  an  dem  er  sich  zu  betätigen  hat1;  und  ganz  allein  von  der 
Art  dieser  Betätigung  hängt  ebenso  sein  Glück  wie  sein  Wert 
ab.  Diese  Denkweise  bezeugen  uns  die  Quellen  vielfach.  „Der 
Ruhmsüchtige,  sagt  Marc  Aurel2,  hält  eine  fremde  Tätigkeit 
für  ein  eigenes  Gut;  der  Genußsüchtige  eine  eigene  Passivität; 
der  Verständige  sein  eigenes  Tun."  Und  ferner3:  „Nicht  im  Er- 
leiden, sondern  im  Wirken  liegt  Gut  und  Übel  des  vernünftigen, 
gesellschaftlichen  Wesens,  sowie  auch  seine  Tüchtigkeit  und 
Schlechtigkeit  ..."  Ebenso  Seneca4:  „Du  meinst,  der  Weise 
werde  von  den  Übeln  belästigt?  Er  gebraucht  sie.  So  wie 
Phidias  nicht  nur  in  dem  kostbaren  Elfenbein,  sondern  auch 
in  dem  geringeren  Marmor  hätte  arbeiten  können,  so  wird  auch 
der  Weise  zwar,  wenn  er  kann,  seine  Vortrefflichkeit  im  Reich- 
tum entfalten,  wenn  aber  nicht,  in  der  Armut."  Ebenso  verhalte 
es  sich  mit  Vaterland  und  Exil,  mit  Feldherrn-  und  Soldaten- 
stand, mit  Stärke  und  Schwäche:  „Welches  Schicksal  immer 
er  empfange,  er  wird  etwas  Bedeutendes  daraus  gestalten." 
Epiktet  aber  erklärt  geradezu5:  „Sowie  der  Stoff  des  Zimmer- 
mannes Holz  ist,  und  der  des  Statuengießers  Erz,  so  ist  der  Stoff 
der  Lebenskunst  das  eigene  Leben  eines  Jeden."  Und  näher 
führt  er  aus6:  „Ist  Gesundheit  ein  Gut,  Krankheit  ein  Übel? 
Nein,  Mensch!  Sondern,  in  der  rechten  Weise  gesund  sein,  ist 
ein  Gut;  in  der  unrechten  ein  Übel.  So  daß  man  sogar  aus  der 
Krankheit  Vorteil  ziehen  kann.  Bei  Gott!  Oder  meinst  du,  aus 
dem  Tode  nicht?  aus  der  Verstümmelung  nicht?  . . .  Aus  Allem. 
Aber  auch  von  dem,  der  Einen  schmäht?  Und  welchen  Vor- 
teil hat  der  Athlet  von  dem,  der  ihn  einübt?  Den  allergrößten! 
Und  dieser  übt  mich  ein:  er  lehrt  mich  das  Ertragen,  die  Zorn- 
losigkeit,  die  Sanftmut.  ...  Ein  schlechter  Nachbar?  Ja,  für  sich 
selbst!  Für  mich  aber  gut:  er  lehrt  mich  Milde  und  Anstand. 
Ein  schlechter  Vater?  Sich  selbst;  mir  aber  gut.  Das  ist  der 
Zauberstab  desHermes  Trage  Krankheit,  Tod,  Mittellosigkeit, 

i)  Frg.  195.  2)  eiq  eauTÖv  VI.  51.  3)  ei<;  eauxöv  IX.  16.  *)  £p.  85.  39f.;  vgl. 
De  vit.  beat.  22.  1  ff.!   5)  Diss.  I.  15.  1.  6)  Diss.  III.  20.  4 ff. 


DIE  STOA  II  225 

Schmach,  Todesurteil:  durch  den  Stab  des  Hermes  wird  all 
das  zu  Vorteil  ....  Was  immer  du  nennst,  ich  will  daraus 
etwas  Beseligendes,  Beglückendes,  Erhabenes,  Beneidenswertes 
machen." 

Legt  aber  so  die  stoische  Lebensauffassung  alles  Gewicht  auf 
die  Tätigkeit,  und  weder  auf  den  Stoff,  an  dem  diese  vor  sich 
geht,  noch  auf  den  Erfolg,  den  sie  verwirklicht,  so  liegt  auf  der 
Hand,  daß  diese  Tätigkeit  jetzt  nicht  mehr  gedacht  werden  kann 
als  eine  ernste,  vielmehr  gedacht  werden  muß  als  eine  spie- 
lende. Denn  wir  wissen  ja:  eben  das  macht  das  Wesen  des 
Ernstes  aus,  in  seinem  Gegensatze  zum  Spiel,  daß  bei  ihm  die 
Tätigkeit  gleichgültiges  Mittel  ist  für  bestimmte  Erfolge,  bei  je- 
nem aber  der  Erfolg  gleichgültige  Wirkung  einer  beliebigen  Tä- 
tigkeit. Die  Gleichung:  Leben=Spiel  erscheint  daher  von  vorn- 
herein als  der  angemessenste  bildliche  Ausdruck  für  jenes  Be- 
griffssystem. In  der  Tat  wird  sie  in  dieser  Funktion  reichlich 
verwendet.  Schon  Chrysipp1  hat  in  ausführlicher  Weise  das 
Bild  des  Ballspiels  herangezogen,  um  die  rechte  Weise  zu  er- 
läutern, in  der  Wohltaten  zu  erweisen  und  zu  empfangen  sind, 
und  schon  dies  kann  kaum  ohne  die  Absicht  geschehen  sein,  im 
Gegensatze  zu  der  „Indifferenz"  des  zugewendeten  äußeren  Vor- 
teils alles  Gewicht  auf  die  Art  der  Zuwendung,  also  der  Betäti- 
gung an  jenem  gleichgültigen  Stoffe,  zu  legen.  „Die  Stoffe,  sagt 
dann  weiter  Epiktet2,  sind  indifferent,  ihr  Gebrauch  ist  nicht  in- 
different. Wie  also  soll  man  zugleich  die  Ruhe  bewahren  und  sich 

|  nicht  erregen,  und  doch  zugleich  bei  der  Sache,  nicht  nachlässig 

1  und  nicht  flüchtig  sein?  Wenn  man  die  Würfelspieler  nachahmt. 

|  Die  Spielmarken  sind  indifferent.  Die  Würfel  sind  indifferent. 
Wie  kann  ich  wissen,  was  fallen  wird?  Aber  die  (geschehenen) 
Würfe  mit  Kunst  und  Sorgfalt  verwerten  —  das  ist  meine  Auf- 

i  gäbe."  So  auch  im  Leben.  „Sei  sorgfältig;  denn  was  du  tust, 
ist  nicht  gleichgültig.  Aber  doch  zugleich  ruhig  und  erregungs- 
los; denn  die  Dinge  sind  gleichgültig.  Du  wirst  sehen, 

 .  — 

l)  Frg.  725.  2)  Diss.  II,  5.  1  ff. 

Gomperz,  Lebensauffassung  |5 


226 


ZEHNTE  VORLESUNG 


daß  es  so  auch  die  geschickten  Ballspieler  machen.  Keinem  ist 
etwas  an  dem  Ball  gelegen,  als  ob  der  ein  Gut  oder  ein  Übel  wäre; 
sondern  am  Schlagen  und  Auffangen.  Darin  besteht  die  Wohlge- 
setztheit, darin  die  Kunst,  die  Raschheit,  die  Gewandtheit,  daß  j 
ich,  ohne  auch  nur  die  Brust  zu  bewegen,  ihn  auffangen  kann;  | 
und  der  andere  ihn  bekommt,  wenn  ich  werfe.  Wenn  wir  ihn  j 
aber  mit  Aufregung  und  Angst  fangen  und  werfen,  was  ist  das  J; 
noch  für  ein  Spiel?  . . .  Das  ist  eine  Schlacht,  aber  kein  Spiel!  i 
So  konnte  also  auch  Sokrates  Ball  spielen.  —  Wieso?  —  Im  r 
Gerichtssaal  spielen.  (Denn)  er  spricht ...  als  ob  er  mit  einem  I 
Ball  spielte.  Was  für  ein  Ball  ward  da  geworfen?  Das  Leben,  |t 
die  Freiheit,  die  Verbannung,  der  Verlust  seines  Weibes,  das  V; 
Zurücklassen  von  Waisenkindern.  Damit  spielte  er;  aber  er  1 
spielte  nichtsdestoweniger,  und  warf  den  Ball  mit  Anstand." 
Daß  aber  dieses  Bild  nicht  nur  zufällig  einmal  gewählt  wird,  son-  i 
dem  dem  Philosophen  als  adäquater  Ausdruck  seiner  Lebens-  i 
auffassung  stets  gegenwärtig  ist,  das  zeigen  Stellen,  wie  die  fol-  j 
genden1,  an  denen  es  bloß  anspielungsweise  herangezogen  wird:  !  )• 
Ich  will  ja  gar  nicht  in  den  Kaiserpalast  hineingehen2,  brauche 
mich  also  auch  nicht  aufzuregen,  wenn  mich  die  Garde  nicht 
hineinläßt.  —  Aber  warum  versuchst  du's  denn  überhaupt,  \ 
und  kommst  her?  „Weil  mir  scheint,  ich  müsse  mitspielen,  so-  \ 
lange  das  Spiel  dauert."  Oder3:  man  soll  sich  gegen  den  Macht-  \ 
haber  verhalten  wie  Sokrates  gegen  die  dreißig  Tyrannen. 
„Das  Spiel  durchführend  gehe  ich  zu  ihm  und  gehorche,  solang 
er  mir  nichts  Schlechtes  oder  Unanständiges  befiehlt.  Wenn  er 
mir  sagt:  verhafte  den  Leon  von  Salamis!,  da  sag'  ich:  ich  spiel' 
nicht  mehr  mit.  —  Verhaftet  ihn  selbst!  —  Da  spiel'  ich  weiter.0 
Die  folgende  Äußerung  Jean  Pauls4  entbehrt  daher  nicht  der 
Komik:  „Der,  für  den  das  ä  u  ß  e  re  (bürgerliche,  physische)  Leben 
mehr  ist  als  eine  Rolle:  der  ist  ein  Komödiantenkind,  das  seine 

i)  Vgl.  auch  Diss.  I.  24.  20  —  eine  Stelle,  die  unten  in  anderem  Zusammen- 
hange anzuführen  sein  wird.  2)  Diss.  IV.  7.  19.  3)  Diss.  IV.  7.  30.  *)  „Über 
die  natürliche  Magie  der  Phantasie",  1.  „Jus  de  tablette  für  Mannsperso- 
nen", Anhang  zum  „Quintus  Fixlein"  (Werke,  Band  III,  S.  203). 


DIE  STOA  II 


227 


Rolle  mit  dem  Leben  verwirrt  und  das  auf  dem  Theater  zu 
weinen  anfängt.  Dieser  Gesichtspunkt...  erhebt  zu  einer 
Standhaftigkeit,  die  erhabener,  seltener  und  süßer  ist  als  die 
stoische  Apathie."  Schiefer  nämlich  kann  man  die  Lehre  der 
Stoa  nicht  auffassen;  denn  eben  dieser  „Gesichtspunkt"  ist  die 
stoische  Apathie.  Viel  tiefer  und  verständnisvoller  erscheint 
mir  deshalb  die  Auffassung  der  stoischen  Lebensansicht,  die 
Adam  Smith  in  folgende  Sätze  gekleidet  hat,  und  die  zwar  im 
Sinne  des  achtzehnten  Jahrhunderts  einigermaßen  hedonisch 
ausgeschmückt  ist,  dennoch  aber  das  wesentliche  dieses  Stand- 
punktes scharf  und  treffend  hervorhebt:  „Die  Stoiker,  sagt  er1, 
scheinen  das  menschliche  Leben  als  ein  Spiel  angesehen  zu  ha- 
ben, das  großes  Geschick  erfordert,  in  dem  aber  auch  ein  Ein- 
fluß des  Zufalles  stattfindet,  oder  doch  dessen,  was  gewöhnlich 
als  Zufall  gilt.  Bei  solchen  Spielen  pflegt  der  Einsatz  eine  Klei- 
nigkeit zu  sein,  und  die  ganze  Freude  am  Spiel  beruht  darauf, 
daß  gut,  loyal  und  geschickt  gespielt  wird.  Sollte  der  gute  Spie- 
ler trotz  all  seines  Geschicks  durch  den  Einfluß  des  Zufalls 
verlieren,  so  soll  für  ihn  der  Verlust  mehr  ein  Gegenstand  der 
Heiterkeit  als  ernstlicher  Betrübnis  sein.  Er  hat  keinen  falschen 
Zug  gemacht;  er  hat  nichts  getan,  dessen  er  sich  schämen  müßte; 
er  hat  die  ganze  Freude  des  Spiels  vollständig  genossen.  Sollte 
umgekehrt  der  schlechte  Spieler  trotz  all  seiner  Fehler  in  der- 
selben Weise  gewinnen,  so  kann  ihm  dieser  Erfolg  nur  wenig 
Genugtuung  bereiten.  Er  wird  von  der  Erinnerung  an  alle  Feh- 
!  1er,  die  er  gemacht  hat,  verfolgt.  Und  auch  während  des  Spiels 
kann  er  kaum  einen  Bruchteil  des  Genusses  empfinden,  den  es  zu 
gewähren  vermag.  Infolge  seiner  Unkenntnis  der  Spielregeln  sind 
Angst,  Zweifel  und  Zaudern  die  unangenehmen  Empfindungen, 
I  die  fast  jedem  seiner  Züge  vorhergehen;  und  wenn  er  ihn  getan 
S  hat,  vollendet  das  vernichtende  Bewußtsein,  ihn  als  groben  Irr- 
jtum  zu  erkennen,  den  unerfreulichen  Umkreis  seiner  Empfin- 
dungen. Das  menschliche  Leben,  mit  all  den  Vorzügen,  die  es 
möglicherweise  auszeichnen  können,  soll,  nach  den  Stoikern,  als 


i)  Theory  of  moral  sentiments,  P.  VII,  Sect.  II,  Chapt.  1  (11.  Aufl.,  S.  492 ff.). 

15* 


228 


ZEHNTE  VORLESUNG 


ein  bloßes  Zweipfennigspiel  angesehen  werden:  als  eine  Sache, 
die  viel  zu  unbedeutend  ist,  um  eine  ernsthafte  Sorge  zu  ver- 
dienen. Unsere  einzige  Sorge  sollte  sich  nicht  auf  den  Einsatz, 
sondern  auf  die  richtige  Methode  des  Spielens  beziehen.  Setzten 
wir  unser  Glück  in  den  Gewinn  des  Einsatzes,  so  würden  wir 
es  in  etwas  setzen,  was  von  Faktoren  abhängt,  die  außer  unserer 
Gewalt  und  unserem  Einfluß  entzogen  sind,  und  würden  uns 
ewiger  Furcht  und  Unruhe,  und  oft  traurigen  und  verzehrenden 
Enttäuschungen  aussetzen.  Setzen  wir  es  aber  in  das  gute,  loyale, 
kluge  und  geschickte  Spielen,  kurz  in  die  Angemessenheit  unseres 
eigenen  Verhaltens,  so  setzen  wir  es  in  das,  was  bei  gehöriger 
Übung,  Erziehung  und  Aufmerksamkeit  durchaus  unserer  Ge- 
walt und  unserer  Leitung  unterworfen  ist.  Unser  Glück  ist  völ- 
lig sicher,  und  über  den  Einfluß  des  Schicksals  erhaben.  Wenn 
der  Erfolg  unserer  Handlungen  unserer  Macht  entrückt  ist,  so 
ebenso  auch  unserer  Sorge,  und  wir  können  seinetwegen  nie 
Angst  oder  Furcht  empfinden,  noch  auch  je  eine  traurige,  ja 
nicht  einmal  eine  ernste  Enttäuschung  erleben." 

Geehrte  Zuhörer!  Wir  sind  mit  diesen  Zitaten,  und  mit  den 
allgemeinen  Gesichtspunkten,  auf  die  sie  sich  beziehen,  dem 
Punkte  nahegerückt,  an  dem  wir  unser  Urteil  über  die  stoische 
Lebensauffassung  abschließend  werden  zusammenfassen  müs- 
sen. Doch  muß  ich  vorher  noch  meine  Darstellung  durch  einige 
Einzelzüge  ergänzen.  Wir  sind  nämlich  bisher  nicht  über  die  all- 
gemeine Feststellung  hinausgegangen,  daß  die  Stoa  ein  für  alle 
Menschen  gültiges  Sittengesetz  anerkannte.  Sie  werfen  nun  aber 
vielleicht  noch  die  Frage  auf,  welchen  Inhalt  sie  denn  diesem 
im  besonderen  unterlegte.  Da  jedoch  diese  Frage  für  unsere 
Zwecke  recht  wenig  Interesse  besitzt,  so  kann  ich  meine  Ant- 
wort sehr  kurz  fassen. 

Über  den  Inhalt  des  Sittengesetzes,  das  heißt,  stoisch  gespro- 
chen, über  die  Frage,  was  eine  „eigentümliche"  Tätigkeit  sei 
und  was  nicht,  haben  unter  den  Stoikern  endlose  Streitigkeiten 
stattgefunden.  Von  solchen  Streitfragen,  die  über  eine  mehr 
rigorose  und  eine  mehr  laxe  Auffassung  zwischen  Antipater 


DIE  STOA  II  229 

und  Diogenes  von  Babylon  verhandelt  wurden,  ist  uns  allerlei 
überliefert1.  Aber  wenn  Sie  hören,  daß  sogar  darüber  gestritten 
wurde,  ob  es  eine  dem  Weisen  „eigentümliche"  Tätigkeit  sei,  in 
der  Schule  die  Beine  übereinander  zu  schlagen2,  so  wird  Ihnen 
wohl  die  Lust  vergehen,  sich  in  diese  Mysterien  einweihen  zu 
lassen3.  Interessanter  ist,  daß  die  Lüge  unter  Umständen  als  er- 
laubt galt4,  und  daß  Zenon,  wie  wir  aus  einer  biographischen 
Notiz5  schließen  müssen,  die  geschlechtliche  Enthaltsamkeit  als 

;  widernatürlich  verwarf.  Das  meiste  aber,  was  wir  erfahren, 
sind  Proteste  gegen  die  Konvention,  die  Zenon  aus  dem  ky- 

I  nischen  Kampf  gegen  die  „Einbildung"  herübergenommen  hat. 

i)  Antipater  Frg.  61,  Diogenes  Frg.  49  (Arnim  III).  2)  Frg.  711  (Arnim  III). 
3)  Diese  Dinge  haben  freilich  nicht  nur  eine  komische  Seite.  Sie  sind 
vielmehr  die  verzerrten  Reste  eines  der  liebenswürdigsten  Züge  der  älte- 
sten Stoiker:  ihres  feinen  Taktgefühls.  Von  Zenon  wird  (Diog.  Laert.  VII. 
23)  berichtet,  er  habe  einen  jungen  Schwätzer  mit  den  Worten  zurecht- 
gewiesen: wir  hätten  doch  wohl  dazu  zwei  Ohren  und  nur  Einen  Mund, 
um  mehr  zu  hören  als  zu  reden.  Und  als  (Diog.  Laert.  VII.  19)  jemand 
zahlreiche  Aussprüche  des  Antisthenes  tadelte,  entgegnete  er:  Anti- 
sthenes  werde  ja  wohl  auch  einiges  Gute  geäußert  haben;  er  frage  also 
i  seinen  geehrten  Mitunterredner,  ob  er  sich  nicht  auch  derartiger  Aus- 
sprüche erinnere?  Als  aber  dieser  die  Frage  verneinte,  versetzte  er: 
„Schämst  du  dich  also  nicht,  wenn  Antisthenes  etwas  Verfehltes  ge- 
sagt hat,  dieses  herauszusuchen  und  im  Gedächtnis  zu  behalten,  dessen 
aber,  was  er  Richtiges  bemerkt  hat,  dich  nicht  einmal  zu  erinnern?" 
Besonders  aber  möchte  ich  hier  hervorheben  das  Gespräch  zwischen 
Kleanthes,  Arkesilaos  und  einem  Ungenannten,  von  dem  uns  eben- 
falls Diogenes  Laert ios  (VII.  171)  erzählt.  Als  der  Ungenannte  dem 
Arkesilaos  Immoralität  vorwarf,  hieß  ihn  Kleanthes  schweigen,  indem 
er  bemerkte:  „Wenn  auch  seine  Grundsätze  die  Moralität  aufheben,  so 
sind  doch  seine  Taten  von  ihr  erfüllt."  Darauf  Arkesilaos  stolz:  „Ich 
lasse  mir  nicht  schmeicheln";  und  dagegen  Kleanthes  lächelnd:  „Ist 
es  denn  eine  Schmeichelei,  wenn  ich  behaupte,  daß  dein  Leben  mit  deinen 
Grundsätzen  nicht  übereinstimmt?"  Hier  zeigt  sich  ein  „Takt  des  Her- 
zens", der  im  Altertum  recht  selten  ist.  Der  Unglücksmensch  Chry- 
sipp  freilich  hat  alles  verdorben.  Denn  der  Takt  ist  vernichtet,  wenn 
er  in  einzelne  „Tugenden"  zerteilt  und  kunstgerechten  Regeln  unterworfen 
wird.  Und  dann  entstehen  Fragen  wie  die  obigen.  4)  Frg.  554,  555.  5)  Diog. 
Laert.  VII.  13. 


230 


ZEHNTE  VORLESUNG 


Er  sowohl  wie  Chrysipp  leugnen,  daß  Kannibalismus1,  freie 
Liebe2,  Unzucht  wider  die  Natur3  und  Blutschande4  widernatür- 
lich seien.  Und  für  die  letztere  Behauptung  führt  Zenon5  ein 
Argument  ins  Treffen,  das  für  den  Kynismus  zu  charakteristisch 
ist,  als  daß  ich  es  nicht  (wenn  auch  in  gemilderter  Form)  wieder- 
geben sollte:  warum,  fragt  er  nämlich,  sollte  gerade  diese  Be- 
rührung des  Mutterleibes  verpönt  sein,  da  man  ihn  doch  sonst 
auf  so  viele  Arten  ohne  Tadel  berühren  darf?  Allein,  so  be- 
zeichnend derartiges  für  die  kynische  Denkweise  sein  mag,  für 
die  Stoa  handelt  es  sich  dabei  doch  wesentlich  um  eine  ge- 
schichtliche Zufälligkeit:  diese  Bestimmungen  haben  auf  die 
Folgezeit  keinen  nennenswerten  Einfluß  ausgeübt,  und  den  Kern 
der  stoischen  Ethik  nicht  berührt. 

Anders  aber  steht  es  mit  einer  Frage  der  speziellen  Moral: 
mit  der  nach  der  Zulässigkeit  des  Selbstmords.  In  dieser  Be- 
ziehung besagt  die  offizielle  Version  der  stoischen  Lehre6:  der 
Selbstmord  sei  je  nach  den  Umständen  bald  pflichtmäßig,  bald 
pflichtwidrig;  „natürlich"  nämlich  sei  er,  wenn  er  im  Interesse 
von  Vaterland  oder  Freunden  erfolge,  oder  auch  bei  heftigen 
Schmerzen,  Verstümmelungen  und  unheilbaren  Krankheiten. 
Aber  schon  diese  Fassung  des  Lehrstücks  ist  nicht  unbedenklich. 
Zwar  die  Aufopferung  für  Freunde  und  Vaterland  liegt  ganz  in  der 
Richtung  des  stoischen  Universalismus,  und  daß  der  Teil  dem 
Ganzen  nachstehe,  kann  sehr  wohl  als  „natürlich"  im  Sinne  der 
Schule  gelten.  Dagegen  liegt  die  Sache  anders  hinsichtlich  der 
drei  übrigen  Fälle.  Denn  wo  bleibt  hier  der  Grundsatz,  daß  wir 
das  Leiden  „gebrauchen"  müssen,  um  leiden  zu  lernen?  Und 
so  scheint  Plutarch  nicht  so  ganz  Unrecht  zu  haben,  wenn  er 
fragt7,  wie  denn  ein  Mensch,  der  (nach  stoischer  Lehre)  alle 

i)  Frg.746— 750;  vgl.Diog.  Laert.  VII. 36.  2)  Frg.728;  vgl.  Diog.  Laert.  VII.  33. 
3)  Frg.  706;  vgl.  Sext.  Emp.  Pyrrh.  III.  200.  4)  Frg.  743—746,  753.  5)  Sext.  Emp. 
Pyrrh.  III.  205.  6)  Frg.  757.  Vgl.  Frg.  691,  759,  765—767.  Nur  Frg.  768  geht 
etwas  weiter,  indem  hier  auch  Tyrannenzwang,  Armut  und  Wahnsinn  als 
zureichende  Gründe  des  Selbstmords  zugelassen  werden.  Indes  macht  dies 
den  Eindruck  einer  nachträglichen  Rechtfertigung  der  stoischen  Praxis  in 
der  Kaiserzeit.  7)  De  Sto.  repp.  18,  p.  1042d  und  de  comm.  not.  11,  p.  1063c. 


DIE  STOA  II 


231 


Güter  besitze  und  von  aller  Furcht  vor  irgendwelchen  Übeln 
frei  sei,  sich  um  einer  indifferenten  Sache  willen  umbringen 
könne  ?  Nun  erwidert  C  h  r  y  s  i  p  p  auf  solche  Bedenken  freilich 1 : 
Leben  und  Tod  seien  ja  gleichfalls  indifferent,  und  es  könne  also 
offenbar  „natürlich"  sein,  den  Tod  den  Schmerzen  vorzuziehen. 
Und  theoretisch  ist  dies  ohne  Zweifel  richtig.  Allein,  wie  soll 
bestimmt  werden,  welches  dieser  indifferenten  Dinge  im  einzel- 
nen Falle  „vorzüglich"  sei.  Denn  dem  Ermessen  des  Einzelnen 
die  Entscheidung  zu  überlassen,  dies  wäre  zwar  selbstverständ- 
lich auf  dem  Standpunkte  des  Ariston,  muß  aber  auf  dem  des 
Chrysipp  durchaus  unannehmbar  erscheinen.  Mit  der  Pflicht 
der  Selbsterhaltung  aber,  oder  mit  den  natürlichen  „Trieben" 
kann  offenbar  in  einem  solchen  Falle  kollidierender  Instinkte 
nicht  argumentiert  werden.  Und  so  erscheint  es  als  ein  ziemlich 
willkürlicher  Machtspruch  des  Philosophen,  wenn  er  in  solchen 
Fällen  den  Schmerz  für  „unvorzüglicher"  erklärt  als  den  Tod; 
und  ein  solcher  scheint  mit  dem  Ansprüche  der  Schule,  ein  all- 
gemein verpflichtendes  Naturgesetz  der  Sittlichkeit  zu  kennen, 
schlecht  vereinbar.  Von  einer  einläßlicheren  Kasuistik  der  mög- 
lichen Fälle  aber  ist  uns  gerade  bei  diesem  Punkte  nichts  über- 
liefert. Und  so  werden  wir  denn  schon  diese  amtliche  Fassung 
der  Lehre  als  eine  keineswegs  einwandfreie  und  recht  wenig 
befriedigende  bezeichnen  müssen. 

Aber  auch  bei  ihr  ist  weder  die  Praxis  noch  die  Theorie  der 
Stoa  stehen  geblieben.  Beide  zeigen  sich  vielmehr  der  Zulässig- 
keit  des  Selbstmords  entschieden  geneigter.  Schon  Zeno n  soll2, 
als  er  sich  im  Alter  den  Finger  brach,  dies  als  ein  Zeichen,  daß 
die  Natur  ihn  rufe,  aufgefaßt  und  sich  alsbald  aufgehängt  haben. 
Der  Selbstmord  des  jüngeren  Cato,  den  dieser  aus  Verzweif- 
lung über  den  Umsturz  der  republikanischen  Verfassung  Roms 
verübte,  hat  seinem  Heiligenschein  keinen  Abbruch  getan,  ob- 
wohl er  unter  eine  jener  Kategorien  nicht  ohne  Gewaltsamkeit 
gebracht  werden  könnte.  S  e  n  e  c  a  läßt3  ganz  unbefangen  die  Wahl 
zwischen  „Besiegung"  und  „Beendigung"  der  Übel.  Marc  Aurel 

*)  Frg.  759.  2)  Diog.  Laert.  VII.  28.   3)  Ep.  29.  12. 


232 


ZEHNTE  VORLESUNG 


scheint1  an  den  Selbstmord  keine  andere  Bedingung  zu  knüpfen, 
als  daß  er  mit  innerer  Freiheit  geschehe.  Und  Epiktet  erklärt 
geradezu2:  „Erinnere  dich,  daß  die  Türe  offen  steht.  Sei  nicht 
feiger  als  die  Kinder.  So  wie  diese,  wenn  ihnen  die  Geschichte 
nicht  gefällt,  sagen:  ich  spiel'  nicht  mehr;  so  sag'  auch  du,  wenn 
dir  etwas  so(!)  erscheint:  ich  spiel'  nicht  mehr,  und  geh'  von 
dannen;  wenn  du  aber  bleibst,  so  jammere  nicht!"  Dem  stehen 
nun  freilich,  und  zum  Teil  von  denselben  Männern,  entgegen- 
gesetzte Erklärungen  und  allerhand  Kautelen  gegenüber3.  Aus 
alledem  aber  geht  hervor,  daß  in  dieser  Beziehung  wirkliche 
Klarheit  nicht  erzielt  wurde.  Und  das  ist  begreiflich.  Denn  auf 
der  einen  Seite  wird  die  Fähigkeit,  das  stärkste  aller  selbstischen 
Interessen  zu  unterdrücken,  stets  als  ein  Anzeichen  großer  in- 
nerer Freiheit  sich  darstellen;  auf  der  anderen  aber  hatte  der 
„Atheist"  Theodoros  nicht  umsonst  gewarnt4:  wie  sollte  das 
nicht  ein  Widerspruch  sein,  wenn  man  einerseits  sagt,  nur 
das  Rechte  sei  ein  Gut,  nur  das  Unrechttun  ein  Obel,  und 
wenn  dann  der,  der  die  menschlichen  Schicksalswendungen 
so  verachtet,  sich  von  ihnen  aus  dem  Leben  hinausstoßen 
läßt? 

In  Wahrheit  aber  scheint  es  sich  hiermit  folgendermaßen  zu 
verhalten.  Wie  immer  es  mit  der  Aufopferung  für  höhere  Zwecke 
stehe:  um  eigenen  Leiden  zu  entgehen,  wird  ein  Mensch  von 
vollkommener  innerer  Freiheit  sich  jedenfalls  nie  das  Leben 
nehmen.  Der  Unvollkommene  aber  wird  mit  Recht  so  han- 
deln, wenn  er  mit  einem  höheren  Grade  von  innerer  Freiheit 
sterben  als  weiterleben  kann.  Die  Stoa  aber  hat  den  Begriff 
einer  ethischen  Pflicht  des  unvollkommenen  Menschen  über- 
haupt nicht  erfaßt,  und  konnte  deshalb  auch  die  Lösung  dieses 
Problems  nicht  finden5.  Auch  in  dieser  Beziehung  also  hat  sich 

i)  Gt<;  eauxöv  V.  29.  2)  Diss.  I.  24.  20.  3)  Epiktet,  Diss.  I.  9.  16  und  I.  1.  27. 
4)  Stob.  Floril.  119.  16  (Meineke);  vgl.  eine  ganz  ähnliche  Äußerung  des 
Diogenes  (von  Sinope)  bei  Aelian,  V.  H.  X.  11.  5)  Am  nächsten  ist  ihr  noch 
Musonius  Rufus  gekommen  in  der  Mahnung  (Stob.  Floril.  7. 24  Meineke) : 
„Ergreife  das  schöne  Sterben,  wann  du  kannst,  damit  du  nicht  bald  — 


DIE  STOA  II 


233 


ihre  unzulängliche  Bestimmung  des  ethischen  Idealbegriffes 
empfindlich  gerächt. 

Und  diesen  Mangel  werden  wir  nun  noch  ein  letztes  Mal  be- 
tonen müssen,  indem  wir  zu  einer  zusammenfassenden  kritischen 
Würdigung  der  stoischen  Ethik  uns  wenden.  Diese  ist  bei  wei- 
tem das  ausgeführteste  und  durchgebildetste  ethische  System 
der  Griechen.  Sie  hat  auch  den  gemeinsamen  Grundgedanken 
der  Selbsterlösung,  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  ausdrücklicher 
und  bewußter  entwickelt  als  alle  anderen  Schulen.  Die  absolute 
Selbstgenügsamkeit  des  ethischen  Wertes  und  die  vollkommene 
Erhabenheit  des  idealenMenschen  über  alleFügungen  des  Schick- 
sals sind  mit  ihrem  Andenken  so  innig  verwachsen,  daß  diese  Ge- 
danken noch  heute  allgemein  als  spezifisch  stoische  gelten.  Die 
Stoa  hat  ferner  das  Wesen  dieses  Erlösungszustandes  durchaus 
richtig  als  Übereinstimmungunseres  Begehrens  mit  der  Wirklich- 
keit, somit  als  Wunschbejahung  bestimmt.  Sie  hat  gesehen,  daß 
diese  Wunschbejahung  zustande  kommt,  indem  jedes  einzelne 
Erlebnis  als  unablösliches  Glied  des  einheitlichen  Weltgesche- 
hens betrachtet  wird.  Und  sie  hat  ihre  gefühlsmäßige  Äußerung 
darin  erkannt,  daß  die  uns  knechtenden  Affekte  der  Gier  und 
Furcht  beseitigt,  und  die  Freudigkeit,  als  der  Affekt  der  inneren 
Freiheit,  an  ihre  Stelle  gesetzt  wird.  Sie  hat  endlich  den  höchst 
wertvollen  und  fruchtbaren  Gedanken  ins  hellste  Licht  gestellt, 
daß  der  erlöste  Mensch  seine  Erlebnisse  nicht  als  selbstwertig 
auffassen  wird,  sondern  als  ihm  gestellte  Aufgaben,  daß  er  sein 
gesamtes  äußeres  Leben  ansehen  wird  als  den  gegebenen  Stoff 
seiner  innerlich  freien  Betätigung;  und  sie  hat  in  der  Gleich- 
sterben zwar  dennoch  müssest,  schön  sterben  aber  nicht  mehr  könnest." 
Originell  ist  übrigens  dieser  Gedanke  nicht.  Denn  schon  Sophokles 
(Aias  v.  479)  spricht  ihn  aus: 

„Nein,  schön  zu  leben  oder  schön  zu  sterben  ziemt 
Dem  Adligen**; 

und  vielleicht  noch  besser  die  lakedaimonische  Grabschrift  (bei  Plutarch, 
Vita  Pelopidae  1),  in  der  freilich  an  Selbstmord  nicht  gedacht  ist: 

»Nicht  das  Leben  hielten  für  gut,  nicht  den  Tod,  die  hier  liegen, 
Sondern  den  Mann  nur,  der  gut  sich  in  beidem  bewährt.** 


234 


ZEHNTE  VORLESUNG 


Setzung  von  Leben  und  Spiel  für  diese  Lebensauffassung  den 
angemessensten  bildlichen  Ausdruck  gefunden. 

Dagegen  hat  es  die  Stoa  nicht  vermocht,  jener  innerlich  freien 
Tätigkeit  einen  befriedigenden  Inhalt  zu  geben;  weder  die  ethisch 
geforderte  Aktivität  des  vollkommenen  noch  die  des  unvoll- 
kommenen Menschen  hat  sie  in  genügender  Weise  bestimmen 
können.  Von  diesem  letzteren  verlangt  das  Ideal  vor  allem 
andern  Selbstvervollkommnung.  Aber  dieser  Begriff  ist  der 
Stoa  fremd.  Ihr  Idealbegriff,  der  sich  nicht  auf  eine  postulierte, 
sondern  auf  eine  irgendwie  vorgefundene  Realität  bezieht,  hat 
den  Ergänzungsbegriff  der  Annäherung  erdrückt,  und  sogar  zur 
Folge  gehabt,  daß  die  chrysippische  Scholastik  den  sittlichen 
„Fortschritt"  unter  die  ethisch  indifferenten  Dinge  gezählt  hat. 
Aber  auch  bei  der  Bestimmung  der  vollkommenen  Aktivität  ge- 
riet die  Stoa  auf  einen  Irrweg.  Sophisten,  Kyniker  und  Akade- 
miker lockten  sie  auf  den  Boden  der  Voraussetzung,  daß  gewisse 
Handlungsweisen  „natürlicher"  seien  als  andere.  Aber  wer  auf 
diesem  Grund  sein  Gebäude  errichten  will,  um  den  ist  es  ge- 
schehen. Jene  Bedeutung  des  „Natürlichen",  die  man  etwa  zu 
Wertunterscheidungen  verwenden  könnte,  hat  mit  Ethik  oder 
Moralität  nicht  das  mindeste  zu  tun:  sonst  müßte  es  die  schwer- 
ste Sünde  sein,  nach  rückwärts  zu  gehen,  oder  sich  auf  den  Kopf 
zu  stellen.  In  anderem  Sinne  aber  ist  alles  Wirkliche  gleich 
natürlich,  und  die  mißbilligte  Handlung  um  nichts  unnatürlicher 
als  das  über  sie  gefällte  Mißbilligungsurteil.  Der  Begriff  der 
Natur  wird  dann  zu  einem  bloßen  Mantel,  unter  dem  sich  jede, 
wie  immer  motivierte  Wertung  verbergen  kann.  So  hat  auch 
die  Stoa  aus  überlieferten  Normen,  kynischen  Rationalismen 
und  subjektiven  Stimmungsbedürfnissen  ein  seltsames  Geflecht 
bereitet,  und  mit  diesem,  als  mit  einer  äußeren  Regel  seines 
Tuns,  hat  sie  den  Weisen  gebunden.  Darüber  aber  entgingen 
ihr  die  beiden  inneren  Prinzipien  der  freien  Betätigung:  die 
hingebende  Liebe  und  die  zeugende  Schöpferkraft.  Wohl  wird, 
besonders  in  späterer  Zeit,  von  Liebe  viel  gesprochen;  Marc 
Aurel  wäre  hier  vor  allen  zu  nennen.   Aber  diese  stoische 


DIE  STOA  II 


235 


Liebe,  die  sich  in  einem  „Helfen  ohne  Mitleid"  äußert,  ist  eine 
Weise  des  äußern  Verhaltens,  nicht  ein  innerliches  Überströmen 
von  Kraft.  Und  von  der  Produktivität  wird  kaum  geredet.  Dem 
Altertum  waren  eben,  zwar  gewiß  nicht  beide  Zustände,  wohl 
aber  das  Bewußtsein  derselben  fremd.  Christentum  und  Roman- 
tik, St.  Paulus  und  Fichte  mußten  kommen,  ehe  ihre  begriff- 
liche Formulierung  möglich  ward.  Und  damit  hängt  zusammen, 
daß  der  stoischen  Affektenlehre  der  Begriff  der  Begeisterung 
fehlt;  denn  die  „Freude"  an  ihrem  verhältnismäßig  untergeord- 
neten und  bescheidenen  Plätzchen  kann  ihn  nicht  ersetzen. 
Hier  zeigt  sich,  Piaton  gegenüber,  eine  ausgesprochene  In- 
feriorität. Die  Folge  aber  ist  der  Dualismus  der  stoischen  Wert- 
lehre. Der  „Weise"  ist  die  verkörperte  sittliche  Norm.  Aber 
diese  Norm  heißt  ihn  lediglich  solche  Werte  schaffen,  die  für 
ihn  gar  keine  wahren  Werte  sind.  Es  fehlt  ihm  also  jene  innere 
Beziehung  zum  Objekt  seines  Tuns,  die  den  Liebenden  mit 
dem  Geliebten  und  den  Schaffenden  mit  seinem  Werke  verbin- 
det. Diese  handeln  aus  dem  Drang  ihres  von  Kraft  überfließen- 
den erlösten  Innern;  und  darum  ist  ihr  Tun  im  höchsten  Sinne 
frei.  Er  handelt  nach  einer  ihm  von  außen  gegebenen  Regel;  und 
darum  ist  sein  Tun,  zwar  nicht  unfrei,  aber  doch  gebunden.  Dies 
ist,  wie  mir  scheint,  der  tiefste  Grund  dafür,  daß  das  stoische 
Ideal  trotz  allen  seinen  Vorzügen  etwas  Kahles  und  Ärmliches 
an  sich  hat.  Die  Freiheit  führt  den  Stoiker  nicht  zur  Auswirkung 
eines  lebendigen  Ich,  sondern  zum  Aufgehen  in  einem  toten 
Gesetz.  Eine  tiefe  innere  Verwandtschaft  mit  der  Kant' sehen 
Lebensauffassung  läßt  sich  hier  nicht  verkennen.  Aber  eben 
deshalb,  weil  das  enge,  persönliche  Ich  hier  nicht  überwunden 
wird  zugunsten  eines  ausgeweiteten,  überpersönlichen  Ich, 
sondern  vielmehr  ausgerottet  wird,  um  einer  abstrakten,  unper- 
sönlichen  Formel  Platz  zu  machen  —  ebendarum  ist  die  stoische 
Grundstimmung  am  Ende  doch  nur  Resignation.  Es  stünde  aber 
schlimm  um  das  Ideal  der  inneren  Freiheit,  wenn  dies  sein  letz- 
tes Wort  bleiben  müßte.  Das  muß  es  nicht.  Und  darum  ist  auch 
die  stoische  Ethik  nicht  das  letzte  Wort  der  Selbsterlösungslehre. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


ELFTE  VORLESUNG 

Geehrte  Zuhörer! 

ACHDEM  wir  in  den  letzten  beiden  Vor- 
lesungen uns  mit  der  Lebensauffassung  der 
Stoa  bekannt  gemacht  hatten,  mußten  wir  zum 
Schlüsse  feststellen,  die  Grundstimmung  die- 
ser Männer  lasse  sich  doch  kaum  anders  kenn- 
zeichnen als  durch  das  Schlagwort:  Resig- 
nation! Schon  dies  bedeutetaber  ohneZweifel 
eine  Abnahme  an  Kraft:  auch  mit  voller  innerer  Freiheit  wird 
jaderjenige  allem  gewachsen  sein, der  dazu  stark  genug  ist;  und 
nur  ein  Mangel  jenes  Kraftüberschusses,  von  dem  ich  Ihnen  oft 
gesprochen  habe,  kann  die  Wahrung  der  inneren  Freiheit  an 
die  Bedingung  eines  Verzichtes  knüpfen.  Denn  so  richtig  es  ist, 
daß  die  innere  Freiheit  in  der  Tat  nicht  berührt  wird,  solange 
der  Verzicht  in  unserer  Macht  steht,  und  also  dasjenige,  was  die 
Freiheit  aufheben  würde,  wirklich  fern  gehalten  werden  kann; 
so  muß  doch  gesagt  werden,  daß  die  Lebensstimmung  einem 
weit  schwächlicheren  Erlösungshabitus  entspricht,  die  das  Übel 
in  greifbarer  Nähe  vor  sich  sieht,  und  sich  seiner  nur  eben  noch 
erwehrt.  Nun  wäre  ja  dieses  für  die  Stoa  schon  etwas  zu  viel 
behauptet.  Auf  was  sie  verzichtet,  ist  nicht  irgend  etwas  Be- 
stimmtes und  ihr  Bewußtes,  sondern  nur  wir,  als  Zuschauer, 
sehen,  daß  hier  eine  Scheu  besteht  vor  der  unmittelbar-persön- 
lichen Auswirkung  der  eigenen  Kraft  an  individuellen  Zielen, 
und  daß  so  an  die  Stelle  eines  warmen  und  reichen  Lebens  die 
Bindung  an  eine  kalte  und  tote  Formel  tritt.  Unverkennbar  da- 
gegen wird  die  Erscheinung,  von  der  ich  rede,  bei  den  beiden 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


237 


Systemen,  von  denen  wir  heute  sprechen  wollen:  der  Epikureer 
verzichtet  grundsätzlich  auf  das  tätige,  der  Skeptiker  auf  das 
denkende  Leben.  Jenem  erscheint  die  öffentliche  Wirksamkeit, 
diesem  die  entschiedene  Überzeugung  als  allzu  gefährlich:  dort 
könnte  der  Kampf,  hier  die  Forschung  die  Persönlichkeit  in  zu 
hohem  Grade  in  Anspruch  nehmen;  dort  könnte  die  Niederlage, 
hier  der  Irrtum  allzu  peinliche  Folgen  nach  sich  ziehen.  Vor 
diesen  Gefahren  und  Aufregungen  muß  sich  daher  schützen, 
wer  das  gemeinsame  „Ziel"  beider  Schulen,  die  „Erregungs- 
losigkeit"  nicht  verfehlen  will:  der  Eine,  indem  er  in  einen  be- 
schränkten und  stillen  Lebenskreis  sich  zurückzieht,  der  Andere, 
indem  er  von  allen  folgenreichen  und  unwiderruflichen  Ur- 
teilen sich  zurückhält.  Nur  auf  diesen  Wegen  ist  innere  Frei- 
heit erreichbar;  aber  auf  ihnen  ist  sie's!  Diese  positive  Ansicht 
des  Bildes  steht  deshalb  auch  für  die  Anhänger  beider  Richtungen 
durchaus  imVordergrund.  Und  auch  Siewerden,  wennSiemir  nun 
zur  näheren  Betrachtung  derselben  folgen,  von  ihnen  wohl  einen 
wesentlich  günstigeren  Eindruck  gewinnen,  als  diese  einleitende 
Darstellung  wohl  vermuten  ließe.  Sie  sollte  von  vornherein  die 
Schranken  des  Gebietes  andeuten;  seinen  Inhalt  aber  haben  wir 
nun  erst  kennen  zu  lernen.  Zu  diesem  Zwecke  aber  ist  es  not- 
wendig, beide  Systeme  durchaus  gesondert  zu  besprechen.  Und 
zwar  handeln  wir  zunächst  von  Epikur. 

Die  erste  Frage,  die  uns  hier  entgegentritt,  ist  die:  ob  wir  denn 
überhaupt  ein  Recht  und  einen  Grund  haben,  die  epikureische 
Lehre  selbständig  zu  behandeln,  und  ob  sie  nicht  ihres  hedoni- 
schen  Charakters  wegen  viel  richtiger,  zusammen  mit  den  Syste- 
men eines  Theodoros,  Hegesias  und  Annikeris,  als  Fortbil- 
dung der  kyrenaischen  Doktrin  hätte  dargestellt  werden  sollen? 
Manches  schiene  für  eine  solche  Auffassung  und  Einschätzung 
zu  sprechen,  und  manche  Einwendungen,  die  sich  zunächst  auf- 
drängen, wird  man  kaum  als  entscheidend  gelten  lassen  können. 

Zunächst  ist  der  Mangel  eines  äußeren  Schulzusammenhanges 
recht  unerheblich.  Epikur  selbst  rühmte  sich  freilich1,  von 


i)  Frg.  123  (Usener). 


238 


ELFTE  VORLESUNG 


niemand  als  von  sich  selbst  etwas  gelernt  zu  haben,  und  ohne 
Zweifel  hätte  es  ihm  nicht  geschadet,  wenn  er  etwas  reichlichere 
Kenntnisse  sich  angeeignet  hätte.  Allein,  wie  überhaupt  Auto- 
didakten nicht  eben  häufig  durch  besondere  Originalität  sich 
auszeichnen,  vielmehr  meist  jene  Anregungen,  die  ihnen  von 
ungefähr  zugetragen  werden,  um  so  kritikloser  aufnehmen,  je 
weniger  sie  imstande  sind,  sie  gegen  andere  Ansichten  zu  halten 
und  abzuwägen,  so  gilt  ähnliches  auch  von  unserm  Philosophen. 
Denn  wie  er  in  der  Physik  an  der  Atomenlehre  des  Demokrit 
nur  relativ  unwesentliche  Abänderungen  vorgenommen  hat,  so 
zeigt  auch  seine  Ethik  nicht  nur  mit  der  dieses  großen  Physikers, 
sondern  auch  mit  jener  der  Kyrenaiker  zahlreiche  Berührungs- 
punkte. Und  seine  Doktrin  weicht  von  den  Lehren  der  einzelnen 
kyrenaischen  Denker  kaum  stärker  ab,  als  diese  untereinander. 
Wollte  man  daher  lediglich  den  theoretischen  Gehalt  seiner 
Ethik,  für  sich  genommen,  ins  Auge  fassen,  so  könnte  es  aller- 
dings angemessener  scheinen,  ihn  dieser  Entwicklungsreihe  als 
ein  nicht  allzu  bedeutsames  Glied  einzuordnen.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  wäre  dann  seine  Lehre  etwa  in  folgender  Weise 
zu  charakterisieren  und  zu  beurteilen. 

Aristipp  hatte  verlangt,  der  Mensch  solle  imstande  sein,  in 
jedem  Augenblicke  jede  beliebige  Lage  unmittelbar  zu  genießen, 
und  hatte  in  diesem  Sinne  die  Lust  für  das  höchste  Gut  erklärt. 
Andererseits  hielt  es  Hegesias  für  unmöglich,  im  Ganzen  des 
Lebens  die  Lust  über  das  Leid  überwiegen  zu  lassen;  um  also 
wenigstens  den  günstigsten  der  für  Menschen  erreichbaren  he- 
donischen  Zustände  zu  verwirklichen,  nämlich  die  Schmerz- 
losigkeit,  forderte  er  die  völlige  Überwindung  aller  lust-  und 
leidschaffenden  selbstischen  Interessen,  und  setzte  das  „Ziel* 
in  die  so  zu  erringende  hedonische  Indifferenz.  Epikur  nun 
stimmte  mit  beiden  überein  hinsichtlich  des  Zieles,  aber  mit 
keinem  in  bezug  auf  die  Mittel.  Denn  zu  so  radikaler  Stellung- 
nahme fehlte  ihm  die  Kraft.  Er  besaß  nicht  jene  ungebändigte 
Genußfreudigkeit,  aus  der  Aristipp  die  Sicherheit  geschöpft 
hatte,  jede  Lebenslage  in  ihrer  lebendigen  Fülle  anpacken  und 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


239 


niederringen  zu  können;  aber  auch  nicht  jene  Fähigkeit  der 
Selbstüberwindung,  die  dem  Hegesias  ermöglichte,  über  alle 
Begierden,  samt  ihrer  Befriedigung  und  Nichtbefriedigung,  sich 
souverän  zu  erheben.  So  ermäßigte  er  denn  die  Forderungen 
nach  beiden  Seiten  hin  und  lehrte:  nicht  daraufkomme  es  an, 
mit  positivem  Genuß  das  Leben  zu  erfüllen,  vielmehr  sei  es 
genug,  in  keinem  Moment  die  Schmerzlosigkeit  sich  entreißen 
zu  lassen;  dazu  aber  sei  weder  erforderlich,  daß  jedem  Schmerz 
eine  ebenso  starke,  gegenwärtige  Lust  das  Gleichgewicht  halte, 
noch  auch,  daß  wir  von  aller  Empfänglichkeit  für  Leiden  und 
Genießen  uns  grundsätzlich  befreien;  vielmehr  genüge  es,  wenn 
man  die  Bedürfnisse  und  das  Leben  einer  derartigen  Regelung 
unterwerfe,  daß  man  den  inneren  und  äußeren  Anlässen  zu 
schmerzlicher  Erregung  nach  Möglichkeit  aus  dem  Wege  gehe; 
wenn  man  ferner  jenerLeidempfindungen  sich  gänzlich  entledige, 
die  auf  bloßer  Einbildung  beruhen;  und  wenn  man  endlich  in 
klugem  Lebensgenüsse  eine  hinreichend  große  Menge  angeneh- 
mer Erinnerungen  in  sich  aufspeichere;  denn  diese  möchten 
dann  wohl  dazu  ausreichen,  um  jenem  unvermeidlichen  Rest 
von  Schmerz  das  Gleichgewicht  zu  halten,  der  trotz  aller  jener 
Vorsichtsmaßregeln  gelegentlich  sich  einstellen  wird.  Von  die- 
ser Lehre  aber  würden  wir  alsdann  sagen  müssen,  sie  halte  zwar 
fest  an  dem  Grundgedanken  des  antiken  Hedonismus,  nämlich 
an  seiner  Orientierung  nach  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit; 
aber  da  sie  unverkennbar  einer  erlahmenden  Kraft  entspringe, 
die,  was  ihr  an  frischer  Ursprünglichkeit  abgehe,  durch  aller- 
hand Surrogate  ersetzen  müsse,  so  zeige  sie  ihn  doch  ohne 
Zweifel  im  Stadium  des  beginnenden  Verfalls:  denn,  wenn  auch 
das  Ideal  hier  noch  aufrecht  stehe,  so  doch  nur,  weil  es  durch 
mannigfache  Vorsichtsmaßregeln  und  Kunstgriffe  gestützt  und 
gepölzt  werde;  all  das  aber  könne  nicht  darüber  wegtäuschen, 
daß  dieses  schwankende  und  zitternde  Gebäude  den  baldigen 
Einsturz  drohe. 

All  das  nun  kann  man  wirklich  sagen.  Und  dennoch  würde 
man  damit  der  epikureischen  Lebensauffassung  weder  sachlich 


240 


ELFTE  VORLESUNG 


noch  geschichtlich  gerecht.  Denn  in  Wahrheit  kann  sie  trotz 
alledem  ihren  Anspruch  wohl  begründen,  als  ein  selbständiges 
Ganzes,  und  nicht  bloß  als  ein  später  Trieb  des  kyrenaischen 
Stammes  betrachtet  zu  werden.  Diesen  Anspruch  aber  stützt 
sie  auf  folgende  Gründe. 

Zunächst  eine  unbestreitbare  Tatsache:  die  einzelnen  kyre- 
naischenSchulenhabensich  kaum  über  das  Leben  ihrer  Gründer 
hinaus  erhalten,  und  die  ganze  Richtung,  von  Ar i stipp  bisBion, 
erfüllt  kaum  mehr  als  ein  Jahrhundert;  der  Epikureismus  aber 
ist  ein  halbes  Jahrtausend  lebendig  geblieben,  und  hat  auch  noch 
auf  die  Anfänge  des  neuzeitlichen  Denkens  mächtig  hinüberge- 
wirkt. Freilich,  auch  hier  fehlt  es  nicht  an  Vorbehalten.  Vor 
allem:  der  großen  äußeren  entsprach  nur  eine  sehr  geringe 
innere  Lebendigkeit.  Keine  bedeutende  Persönlichkeit,  kein 
ursprünglicher  Denker  ist  in  dieser  Schule  aufgetreten.  Nur  mit 
untergeordneten  Nebenfragen  hat  sich  hier  die  wissenschaftliche 
Arbeit  beschäftigt;  alle  Hauptpunkte  sind  geblieben,  wie  sie  der 
Meister  hinterlassen  hatte:  niemand  wagte,  an  sie  zu  rühren, 
weder  umbildend  noch  fortbildend.  Das  250  Jahre  jüngere 
Lehrgedicht  des  Luc rez  stimmt  vielfach  wörtlich  mit  den  Schrif- 
ten des  Epikur  überein.  So  waltet  in  der  ganzen  Geschichte 
der  Schule  die  Haltung  starrer  Orthodoxie:  sie  pflanzt  die  Über- 
lieferung fort  und  erweitert  sich  durch  Bekehrungen,  aber  sie 
kennt  weder  Sektenbildung  noch  Abfall.  Schon  dem  Skeptiker 
Arkesilaos  war  dies  merkwürdig;  denn  „auf  die  Frage,  warum 
zwar  von  anderen  Schulenzur  epikureischen  Übertritte  vorkämen, 
von  der  epikureischen  zu  den  anderen  aber  niemals,  erwiderte 
er1:  weil  zwar  aus  Männern  Kastraten  werden  können,  aber  aus 
Kastraten  keine  Männer".  Indes  spricht  diese  giftige  Bemerkung 
gewiß  nur  einen  kleinen  Teil  der  Wahrheit  aus.  Vielmehr  weist 
uns  schon  dieser  ganze  Sachverhalt  auf  einen  ganz  anderen  Fak- 
tor als  den  entscheidenden  hin:  auf  die  machtvoll-überlegene 
und  dogmatisch-selbstsichere  Persönlichkeit  des  Schulgründers 
nämlich,  die,  im  vollsten  Gegensatz  zu  Sokrates,  nicht  zum 

1)  Diog.  Laert.  IV.  43. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


241 


Forschen  angeregt,  sondern  Überzeugungen  auferlegt  hat,  und 
mit  dem  Druck  und  Gewicht  ihrer  Autorität  für  alle  Folgezeit 
jede  Regung  individueller  Selbständigkeit  erstickte. 

Das  Zweite  aber,  was  den  Epikureismus  auszeichnet,  gegen- 
über allen  anderen  hedonischen  Systemen  der  Sokratiker,  ist 
der  Umstand,  daß  er,  ganz  wie  die  Stoa,  sich  nicht  auf  die  Ethik 
beschränkt,  sondern  auch  logische,  und  vor  allem  physikalische 
Theorien  in  den  Dienst  seiner  praktischen  Tendenz  gestellt  hat: 
I  auf  diese  Weise  die  ethische  Lehre  zu  einem  vollständigen  phi- 
losophischen System  erweiternd.  Zwar  wird  man  nicht  behaup- 
ten können,  daß  Epikur  in  seiner  Physik  besonders  glücklich 
gewesen  sei;  ja,  die  Grobheit  und  Plumpheit  seiner  Naturphilo- 
sophie steht  an  Feinheit  und  Tiefe  gerade  auch  gegen  jene  er- 
kenntnistheoretischen Untersuchungen  unendlich  zurück,  die 
uns  von  Aristipp  selbst  überliefert  werden.  Allein,  während 
diese  in  der  kyrenaischen  Schule  nur  eine  geringe  Folge  gehabt 
zu  haben  scheinen,  und  überdies  mit  der  kyrenaischen  Lebens- 
auffassung einen  mehr  theoretisch-analogischen  als  praktisch- 
|  organischen  Zusammenhang  besitzen,  istdie  epikureische  Physik 
j  einewesentliche Voraussetzungund Ergänzung  derepikureischen 
Ethik.  Ja,  in  gewissem  Sinne  beruht  gerade  auf  ihr  das  eigen- 
tümliche Pathos  dieser  Weltanschauung.  Denn,  wie  wir  sehen 
werden,  ist  der  epikureischen  Physik  vor  allem  die  Aufgabe 
gestellt,  alles  Geschehen  „natürlich"  zu  erklären,  und  so  zu 
zeigen,  daß  keine  „übernatürlichen "  Eingriffe  in  dasselbe  statt- 
finden, und  daß  also  jede  Religion  ein  Irrglaube  ist,  die  nicht  nur 
das  Dasein  von  Göttern  lehrt,  sondern  auch  einen  Einfluß 
derselben  auf  das  Weltgeschehen  überhaupt  und  das  Menschen- 
leben insbesondere  annimmt.  So  wird  der  Epikureismus  zum 
Hort  der  „Aufklärung":  zwar  nicht  einer  „atheistischen"  im 
strengen  Wortsinn,  aber  doch  einer  „deistischen",  wenn  Sie  so 
wollen;  der  Stützpunkt  jener,  uns  aus  dem  achtzehnten  Jahr- 
hundert so  vertrauten  Abneigung  gegen  „Fanatismus  und 
Schwärmerei";  der  Vorkämpfer  des  Ideals  der  Selbsterlösung, 
gegenüber  allen  jenen  Keimen  zu  einer  Theorie  der  Fremd- 

Gomperz,  Lebensauffassung  \Q 


242 


ELFTE  VORLESUNG 


erlösung,  die  sich  schon  in  den  antiken  Systemen  zeigen.  Epi- 
kur  hat  es  selbst  gesagt1:  „Sinnlos  ist  es,  von  den  Göttern  zu 
erflehen,  was  man  sich  selbst  zu  verschaffen  imstande  ist." 
Darin  besteht  die  große  und  unersetzliche  Bedeutung  seiner 
Schule  für  die  geistige  Ökonomie  des  späteren  Altertums:  alle 
antimystischen  und  antiobskurantistischen  Instinkte  und  Ele- 
mente der  Zeit  fanden  hier  ihren  natürlichsten  Stütz-  und 
Sammelpunkt.  Aber  auch  diese  Bedeutung  verdankt  der  Epi- 
kureismus  offenbar  vor  allem  der  Persönlichkeit  seines  Stifters. 
Sein  trotzig-kühnes  Selbstbewußtsein  scheint  ganz  von  dem  Ge- 
danken erfüllt:  Ich  gegen  die  Welt  —  und  stärker  als  sie!  Und 
so  verkörpert  er,  in  mancher  Hinsicht  noch  entschiedener  als 
alle  seine  Vorgänger  und  Rivalen,  das  große  sokratische  Ideal: 
Innere  Befreiung  aus  eigener  Kraft! 

Diese  Persönlichkeit  des  Epikuros  nun,  die  wir  schon  in  so 
verschiedenen  Lichtern  haben  schillern  sehen,  ist  das  dritte  und 
entscheidende  Moment,  das  eine  völlig  selbständige  Darstellung 
und  Würdigung  seiner  Lehre  rechtfertigt  und  fordert.  Denn  ohne 
Zweifelhabenwiresin  ihmmit  einerder  interessantestenErschei- 
nungen  des  Altertums  zu  tun:  interessant  an  sich,  durch  die  Ver- 
einigung scheinbar  unverträglicherZüge;  und  doppelt  interessant 
an  seinem  geschichtlichen  Orte, durch  die  gänzlich  unantikenEle- 
mente  seines  Wesens.  Es  ist  deshalb  eine  überaus  reizvolle  Auf- 
gabeln diese  „problematischeNatur"  so  weiteinzudringen,bis  der 
Punkt  erreicht  ist,  von  dem  aus  betrachtet  die  Widersprüche  sich 
lösen,  der  Kontrast  mit  der  Umgebung  verständlich  wird,  Vor- 
züge und  Schwächen  in  Leben  und  Lehre  sich  erklären,  und  das 
Ganze  auseinandergehender  Tendenzen  zu  einem  einheitlichen 
Bilde  sich  zusammenschließt.  Doch  ist  diese  verlockende  Aufgabe 
zugleich  notwendig  so  schwer;  so  vieles  entzieht  sich  strengerBe- 
weisbarkeit,  und  bleibt  der  Intuition  des  psychologischen  Taktes 
überlassen,  daß  ich  hier  noch  weniger  als  sonst  den  Anspruch  er- 
heben kann,IhnenmehralshypothetischeundplausibleErgebnisse 
zu  vermitteln,  denen  notwendig  viel  Subjektives  anhängen  muß. 

!)  TTpoaqpujvr](Ji<;  65  (Wotke,  Wiener  Studien,  Band  X). 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS  243 

Treten  wir,  möglichst  frei  von  Vorurteilen,  an  die  Persönlich- 
keit Epikurs  heran,  wie  sie  in  seinen  Schriften,  seinen  Bruch- 
stücken und  seinen  Briefen  uns  erhalten  ist,  so  fällt  uns,  wie 
schon  angedeutet,  zunächst  ein  Doppeltes  ins  Auge:  ein  schwer- 
fälliger und  pedantischer  Schullehrer,  der  seine  proletarische 
Herkunft  nicht  verleugnen  kann,  predigt,  mit  den  feierlichen 
Allüren  eines  Propheten,  die  Prinzipien  eines  blasierten  Grand- 
seigneurs;  und  inmitten  einer  durchaus  objektiven  Zeit,  deren 
Interesse  ausschließlich  auf  das  Gegenständliche  gerichtetscheint, 
sehen  wir  einen  Mann  vor  uns,  der  selbstgefällig  seine  Empfind- 
samkeit genießt,  ihren  Ausdruck  schwülstig  übertreibt,  und  sich 
doch  wieder  mit  Bewußtsein  ironisiert.  Doch  ehe  ich  versuche, 
diese  Eindrücke  auf  ihre  psychologische  Quelle  zurückzuführen, 
wird  es  notwendig  sein,  sie  an  der  Hand  des  überlieferten  Mate- 
rials zu  belegen. 

Der  proletarische  Schullehrer  zunächst  ist  nicht  bildlich  ge- 
meint. Nicht  nur,  daß  sein  Vater  diesen  Beruf  ausübte,  wird  uns 
glaubwürdig  berichtet1,  sondern  auch,  daß  er  ihn  in  demselben 
unterstützte2.  Auch  wird  man  diese  seine  Anfänge  in  dem 
Manne  nicht  verkennen,  der  seine  Freunde  im  Auswendiglernen 
seiner  eigenen  Schriften  geübt3,  und  ihnen  auf  dem  Totenbett 
ans  Herz  gelegt  haben  soll4,  „der  Lehren  eingedenk  zu  bleiben". 
Auch  seine  Doktrin  läßt  diesen  geistigen  Habitus  erkennen,  noch 
mehr  in  ihren  logischen  und  physikalischen  als  in  ihren  ethi- 
schen Theorien;  denn  etwas  Handgreifliches,  Krasses,  über- 
mäßig Einfaches  haftet  ihnen  an.  Seine  Erkenntnistheorie  be- 
gründet er  auf  das  „Einleuchten"  der  Wahrnehmungen5.  Die 
Götter  nehmen  nach  ihm  Nahrung  zu  sich6,  und  reden  mit  ein- 
ander griechisch7.  Die  Sonne  ist  nicht  größer  als  sie  erscheint8 
usw.  Seine  Lustlehre  begründet  er  mit  der  Bemerkung9,  wenn 
Einer  einen  Leib  habe,  und  Empfindung,  so  werde  er  die  Lust 

1)  Strabon  XIV.  1.  18,  p.  638.  2)  Diog.  Laert.  X.  2  f.  3)  Diog.  Laert.  X.  12. 
4)  Diog.  Laert.  X.  16.  5)  Frg.  247  (Usener).  6)  Voll.  Herc.  VI.  col.  13.  ')  Frg. 
356/7.  8)  Ad  Pythoclem  S.  39.  2  (Usener);  Lucrez  V.  564 ff.  u.  sonst.  9)  Plut. 
adv.  Colot.  27,  p.  1122d. 

16* 


244 


ELFTE  VORLESUNG 


als  das  Gute  erkennen;  weiter  brauche  es  keinen  Beweis1.  Und 
dem  Ausdruck  fehlt  die  Feinheit  ebenso  wie  dem  Gedanken.  Wo 
Epikur  die  körperliche  Lustempfindung  als  das  ursprünglichste 
Element  alles  Glückes  darstellen  will,  sagt  er2:  „Denn  ich  weiß 
nicht,  was  ich  mir  unter  dem  Guten  vorstellen  soll,  wenn  ich 
die  Freude  an  den  Geschmäcken  und  die  am  Geschlechtsver- 
kehr und  die  an  den  Tönen  und  die  an  den  Gestalten  in  Abzug 
bringe."  Und  sein  Lieblingsschüler  Metrodor,  ihn  über- 
bietend3: „Nichts  heißt  das  mit  dem  Erretten  der  Hellenen,  und 
mit  den  Kränzen,  die  man  ob  der  Weisheit  von  ihnen  bekommt, 
sondern  essen  muß  man  und  Wein  trinken,  o  Timokrates,  ohne 
dem  Bauch  zu  schaden,  und  in  Heiterkeit;"  und  „Im  Bauche, 
mein  lieber  Naturforscher,  liegt  das  Gute."  Will  nun  aber  der- 
selbe Metrodor  die  andere  Seite  der  Sache  betonen,  und  die 
größereDauerhaftigkeit  der  geistigen  Lustzustände  hervorheben, 
so  tut  er  auch  dies  mit  ebenso  geschmackvollen  Worten:  „Oft 
schon,  sagt  er4,  haben  wir  auf  die  körperlichen  Lüste  gespuckt." 
Und  ebendahin  gehört  die  Äußerung5  des  Epikuros  selbst:  der 
„Sophist"  Nausiphanes  habe  „aus  dem  Munde  —  geprahlt". 
So  hat  sich  ein  wirklich  gebildeter  Mensch  in  Griechenland 
ebensowenig  ausgedrückt  wie  bei  uns.  Und  wenn  Epikur  vor 
der  „Bildung"  gewarnt6  und  die  „Erlösung  aus  dem  Kerker  der 
allgemeinen  Bildung  und  der  Politik"  für  notwendig  erklärt7 
hat,  so  hatte  er  zwar  wohl  in  erster  Linie  das  nutzlose  theore- 
tische Studium  im  Auge,  gab  aber  so  seiner  gegensätzlichen  Stel- 
lung zur  „gutenGesellschaft"  wahrscheinlich  ebenfalls  Ausdruck. 

Dieser  Mann  nun  ward,  durch  die  seltsamste  Fügung  des 
Schicksals,  dazu  bestimmt,  das  Prinzip  eines  „verfeinerten 
Lebensgenusses"  theoretisch  undpraktischzu  vertreten.  Einiger- 
maßen freilich  werden  wir  die  Vorstellung  jedenfalls  ändern 
müssen,  die  wir  uns  von  seinem  „Garten"  zu  machen  gewohnt 

»)  Frg.  397.  2)  Frg.67;  vgl.  68.  3)  piut.  non  posse  suav.  16,  p.  1098  c  f.;  vgl. 
Cicero,  Nat.  Deor.  I.  40.  113.  4)  piut.  non  posse  suav.  3,  p.  1088  b.  Vgl.  auch 
TTpoaqpoivriaiq  47  (Wotke),  wo  dasselbe  „Bild"  begegnet.  5)  Frg.  93.  6)  Frg. 
117  und  163.  ?)  TTpooqpu»vriat<;  58. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS  245 

sind.  Der  Kreis  von  Freunden  und  Freundinnen,  der  sich  hier 
um  ihn  versammelte,  und  dessen  stille  Zurückgezogenheit  ihm 
das  Getriebe  der  Welt  ersetzte,  kann  schwerlich  eine  Elite  von 
Wissen,  Geist  und  Vornehmheit  dargestellt  haben.  Um  dieses 
behaupten  zu  dürfen,  wissen  wir  schon  jetzt  genug  von  Epikur, 
und  auch  von  seinem  Lieblingsschüler  Metro dor.  Und  mag 
auch  die  Lebensgefährtin  dieses  letzteren,  die  Hetäre  Leon- 
tion,  drei  Bücher  gegen  den  Peripatetiker  Theophrast  ge- 
schrieben haben  —  auch  unter  literarischen  Hetären  kann  es 
noch  große  Unterschiede  geben.  Sehr  viel  wahrscheinlicher  ist 
mir,  nach  der  ganzen  Lage  der  Dinge,  daß  dieser  berühmte 
„Garten"  den  Augen  eines  gebildeten  Atheners  als  ein  „Salon" 
der  Vorstadt  erschienen  sein  wird,  in  dem  sich  um  den  Meister 
talentierte  Schriftsteller  geringer  Bildung,  freigeistige  Spießbür- 
;  gerund  mindere  Hetären  zusammenfanden.  „Des  esprits-fortsdu 
faubourg"  —  hätte  man  eine  ähnliche  Erscheinung  in  Paris  vor 
einigen  Jahrzehnten  genannt.  Dem  entsprach  denn  wohl  auch 
die  Bescheidenheit  der  Genüsse,  aus  denen  sich  in  dieser  Um- 
gebung Epikur  seine  Glückseligkeit  nicht  ohne  Pedanterie  auf- 
zubauen unternahm.  Seiner  kränklichen  Konstitution1  war  von 
vornherein  eine  außerordentlich  mäßige  Lebensweise  ange- 
messen; auch  wird  wohl  die  uns  bezeugte  Geringfügigkeit  seines 
Budgets2  in  seinen  Vermögensverhältnissen  begründet  gewesen 
sein.  So  scheinen  denn  Wasser  und  Brot  den  Grundstock  seiner 
Diät  ausgemacht  zu  haben3.  Auch  war  die  Theorie  bei  der  Hand, 
diese  Lebensweise  aus  Prinzipien  zu  rechtfertigen.  Denn  „die 
Selbstgenügsamkeit,  lehrt  er4,  halten  wir  für  ein  großes  Gut, 
nicht  um  immer  nur  wenig  zu  genießen,  sondern  um,  wenn  wir 
das  Viele  nicht  haben,  mit  dem  Wenigen  vorlieb  zu  nehmen,  in 
der  festen  Überzeugung,  daß,  wer  des  Aufwandes  nicht  bedarf, 
ihn  am  meisten  genießen  wird".  Und  auch  dieser  „Aufwand" 
muß  recht  bescheiden  gedacht  werden.  Schreibt  doch  Epikur 
mit  liebenswürdigem  Humor  an  einen  Bekannten5:  „Schick  mir 

1)  Diog.Laert.  X.7.  2)  Frg.158,  181,  182.  3)  Ad  Menoeceum  S.  64.  1  (Usener); 
Stob.  Floril.  17.  30  (Meineke).  4)  Kupicu  ÖÖSai  30  (Usener).  5)  Frg.  182. 


246 


ELFTE  VORLESUNG 


einen  Käse  von  Kythros,  damit  ich  schwelgen  könne,  wenn  ich 
will."  Aufs  Wort  also  werden  wir  ihm  glauben,  wenn  er  sagt1: 
„Wenn  wir  also  sagen,  die  Lust  sei  das  Ziel,  meinen  wir  nicht 
die  Lüste  der  Zügellosen  und  die  im  Genuß  gelegenen  . . . ,  son- 
dern, nicht  krank  zu  sein  am  Körper  und  nicht  erregt  in  der 
Seele.  Denn  nicht  ununterbrochenes  Trinken  und  Schmausen, 
noch  Genuß  von  Knaben  und  Weibern,  und  von  Fischen  und 
dem  andern,  was  eine  reiche  Tafel  trägt,  zeugt  das  angenehme 
Leben,  sondern  nüchterne  Vernünftigkeit,  welche  die  Ursachen 
jedes  Vorziehens  und  Hintansetzens  erforscht,  und  die  Einbil- 
dungen austreibt,  von  denen  her  das  meiste  Wirrsal  die  Seelen 
ergreift".  Wenn  ich  aber  früher  von  den  Maximen  eines  bla- 
sierten Grandseigneurs  sprach,  so  meinte  ich  damit  eben  diese 
Absichtlichkeit  in  der  Fernhaltung  unangenehmer  Eindrücke 
und  in  der  Steigerung  der  Genußfähigkeit.  Alle  unnützen  Er- 
regungen nämlich,  wie  etwa  die  Ruhmsucht  oder  die  Liebe2, 
muß  man  sich  vom  Leibe  halten,  und  zwischen  den  verschie- 
denen Lüsten  eine  sorgsame  Auswahl  treffen3,  auch  den  kleine- 
ren Schmerz  dem  größeren  vorziehen4.  „Denn  es  geziemt  sich, 
alles  dieses  zu  beurteilen  nach  der  Abmessung,  und  in  der  Hin- 
blickung  (!)  auf  das  Nützliche  und  Unnützliche5." 

Solche  Grundsätze  aber,  sagte  ich  weiter,  verkünde  Epikur 
im  feierlichen  Tone  eines  Propheten.  Einiges  derartige  ist  uns 
eben  vorgekommen.  Hier  will  ich  nur  noch  zwei  längere  Stellen 
aus  dem  großen  Lehrbrief  an  Menoikeus  anführen,  denen  man 
imponierend- feierliche  Diktion  und  wahrhaft  empfundene 
Würde  gewiß  nicht  absprechen  kann:  „Weder  zaudere  irgend 
ein  Jüngling  zu  philosophieren6,  noch  ermüde  darin  irgend  ein 
Greis.  Denn  weder  unreif  ist  irgend  wer  noch  überreif,  um 
die  Gesundheit  der  Seele  zu  erlangen.  Wer  aber  sagt,  es  sei 
noch  nicht  die  Zeit  zu  philosophieren,  oder  sie  sei  schon  vor- 
bei, der  gleicht  Einem,  der  sagte,  es  sei  noch  nicht  an  der 
Zeit,  oder  es  sei  nicht  mehr  an  der  Zeit,  um  glücklich  zu 

i)  Ad  Menoeceum  S.  64.  8.  2)  Frg.  574.  3)  Frg.  572.  4)  Frg.  449.  5)  Ad 
Menoeceum  S.  63.  13.  6)  Ad  Menoeceum  S.  59.  2  ff. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


247 


sein.  Es  philosophiere  daher  so  Jüngling  als  Greis:  jener 
um  alternd  jung  zu  werden  an  Gütern,  durch  den  Reiz  der  ver- 
gangenen Erlebnisse;  dieser  um  alt,  doch  zugleich  jung  zu  sein, 

durch  die  Furchtlosigkeit  vor  dem  Zukünftigen  "  Und  weiter1: 

„Wer  meinst  du  wohl,  daß  stärker  sei  als  der,  der  um  die  Götter 
die  geziemende  Meinung  hat,  und  in  bezug  auf  den  Tod  sich 
durchaus  furchtlos  verhält,  und  das  Ziel  der  Natur  verstanden 
hat,  und  von  der  Summe  aller  Güter  einsieht,  daß  sie  leicht  zu 
vollenden  und  leicht  zu  beschaffen  ist,  daß  aber  die  Fülle  der 
Übel  entweder  geringe  Zeit  hat  oder  geringes  Leid,  und  in  betreff 
der  von  Einigen2  als  Allherrscherin  eingeführten  Notwendigkeit 
verkündet,  daß  Einiges  durch  Zufall  geschieht,  Anderes  durch 
uns;  denn  er  sieht,  daß  die  Notwendigkeit  nichts  ist,  der  Zufall 
unbeständig,  wir  selbst  aber  keinem  Herrn  unterworfen3.  ... 
Dieses  nun  und  Verwandtes  erwäge  bei  dir  und  mit  deines- 
gleichen jeden  Tag  und  jede  Nacht,  so  wirst  du  niemals,  weder 
wachend  noch  schlafend,  dich  erregen.  So  wirst  du  leben,  wie 
ein  Gott  unter  den  Menschen.  Denn  nicht  gleicht  einem  sterb- 
lichen Wesen  ein  Mensch,  der  in  unsterblichen  Gütern  dahin 
lebt.« 

Ich  komme  nun  zu  dem  letzten  Punkt,  den  ich  erwähnte:  zu 
dem,  was  ich  Epikurs  unantikes  Wesen  nannte:  zu  seiner  Sen- 
timentalität, seinem  Schwulst,  seiner  Selbstironie.  Natürlich 
weiß  ich  wohl,  daß  es  immer  bedenklich  bleibt,  einem  ganzen 
Zeitalter  eine  Gefühlsweise  abzusprechen.  Denn  meist  finden 
wir,  je  mehr  wir  in  den  Geist  einer  Epoche  eindringen,  daß  er 
sich  um  so  weniger  von  dem  unserer  eigenen  Zeit  unterscheidet. 
So  kann  uns  etwa  das  Altertum  durch  das  achte  Buch  von  Pia- 
tons „Staat",  das  Mittelalter  durch  den  „Decamerone"  des 
Boccaccio  plötzlich  nahegerückt  erscheinen.  Dennoch  wird 
wohl  niemand,  der,  von  der  Lektüre  klassischer  Autoren  kom- 
mend, die  „Konfessionen"  des  Heiligen  Augustinus  zur  Hand 
nimmt,  den  Eindruck  abwehren  können,  daß  hier  eine  neue 
und  dem  Altertum  fremde  (wenn  auch  in  ihm,  namentlich  seit 

3)  S.  65.  1  ff.  2)  Den  Stoikern.  3)  Vgl.  S.  62.  4. 


248 


ELFTE  VORLESUNG 


der  „hellenistischen"  Epoche  einigermaßen  vorbereitete)  Welt 
sich  vor  ihm  auftue:  die  Welt  der  Innerlichkeit.  Diese 
neue,  subjektivistische  von  der  alten,  objektivistischen  Welt 
durch  eine  scharfe  begriffliche  Grenze  zu  trennen,  ist  frei- 
lich schwer.  Doch  wird  man,  was  wir  alle  bei  solchem  Ver- 
gleich empfinden,  vielleicht  dahin  aussprechen  dürfen,  daß 
hier  zuerst  Gedanken  und  Gefühlsweisen  nicht  mehr  als  Zu- 
stände des  ganzen,  einheitlichen  leiblich-geistigen  Menschen, 
sondern  selbständig  als  Gegenstände  der  Beurteilung  und  Be- 
wertung auftreten;  und  daß  dieser  Selbstwert  der  einzelnen 
Bewußtseinszustände,  samt  der  grübelnden  Versenkung  in 
die  Tiefe  des  Eigenbewußtseins  das  Moment  ist,  das  dem  anti- 
ken Geiste  als  ein  Neues  entgegentritt.  Diese  Versenkung  hat 
zunächst  in  der  christlichen  Gewissenserforschung  sich  aus- 
gestaltet. Aber  wenn  sie  hier,  wie  bei  dem  großen  afrikanischen 
Kirchenlehrer,  meist  eine  Tendenz  zur  Selbstverdammung  bei 
sich  führt,  so  ist  sie  doch  auch  die  Vorbedingung  jener  feineren 
Psychologie,  die  wir  überhaupt  in  der  neueren  Zeit  zu  besitzen 
uns  einbilden,  und  kann  ebensowohl  auch  zu  jener  Selbst- 
gefälligkeit führen,  die  uns  als  Stolz  auf  die  eigene  Empfindungs- 
größe und  als  Bewußtsein  der  Selbstüberlegenheit  in  den  Epo- 
chen der  Empfindsamkeit  und  Romantik  entgegentritt.  Eine 
solche  Selbstgefälligkeit  nun,  mit  Ansätzen  sowohl  in  der 
sentimentalen  wie  in  der  selbstironisierenden  Richtung,  scheint 
mir  bei  Epikur  unverkennbar:  indem  einerseits  die  Empfind- 
samkeit eine  Neigung  zu  übertreibend-schwülstiger  Ausdrucks- 
weise nach  sich  zieht,  und  diese  ihm  wiederum  den  Anlaß  gibt, 
sie  selbst  zu  parodieren.  Beispiele  dieser  verschiedenen  Ten- 
denzen sind  uns  zum  Teil  schon  vorgekommen,  und  werden  uns 
auch  wohl  noch  gelegentlich  begegnen.  Ich  beschränke  mich 
hier  auf  einige  wenige,  besonders  charakteristische  Züge,  die 
meist  seinen  Briefen  entnommen  sind.  So  sagt  zum  Beispiel 
Epikur  von  sich  selbst1,  daß  er  „zerschmolz  vor  tränenreicher 
Lust".  Und  unter  den  größten  Qualen,  meint  er2,  würde  er 


i)  Frg.  186.  2)  Frg.  601. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS  249 

immer  noch  sagen:  „Wie  süß!"  Einer  Hetäre  schreibt  er1: 
„König  Päan,  liebes  Leontinchen,  mit  welchem  Beifallssturm 
hastdu  uns  erfüllt  bei  der  Lektüre  deines  Briefchens!";  und  einer 
befreundeten  Dame2:  „Ich  wäre  imstande,  mit  Kugeleile  mich 
zu  euch  hinzurollen,  wohin  ihr  mich  ruft,  wenn  ihr  nicht  selbst 
zu  mir  kommt."  Ebenso  schreibt  er  an  einen  schönen  Jüngling3: 
„Ich  werde  sitzen  und  deinen  ersehnten  und  göttergleichenEintritt 
erwarten."  Für  ein  Geschenk  dankt  er4,  indem  er  es  „ein  him- 
melsgroßes Zeichen  eures  Wohlwollens"  nennt,  und  von  einem 
!  Freunde,  der  sich  in  einer  Hafenstadt  für  einen  Bekannten  ver- 
<  wendet  hatte,  sagt  er5:  „Wie  wohl  und  eifrig  und  edel  schritt  er 
meerwärts  hinab,  Mithres  dem  Syrer  zu  helfen!" 
Damit  sind  wir  aber,  geehrte  Zuhörer,  soweit  gekommen,  daß 
|  es  nun  gilt,  einen  Versuch  zu  machen,  diese  merkwürdige 
I  Mischung  von  Eigenschaften  auch  zu  verstehen.  Und  da  wage 
[  ich  denn  —  obwohl  Einiges,  was  hier  berührt  werden  muß,  erst 
im  folgenden  seine  nähere  Begründung  finden  kann  —  etwa 
dieses  zu  vermuten.  Der  Grundzug  im  Wesen  Epikurs  war 
ein  unerhörtes  Selbstbewußtsein,  ein  titanisches  Gefühl  der 
eigenen  Kraft,  oder  (wenn  Sie  mir  einen  Ausdruck  gestatten 
I  wollen,  der  befremdlich  klingt,  aber  doch  an  dieser  Stelle  seinen 
guten  und  ernsten  Sinn  hat)  er  war  heroische  Eitelkeit. 
Diesem  unbegrenzten  Kraftgefühl  aber  entsprach  nur  eine 
begrenzte,  wenn  auch  große  und  achtunggebietende  Kraft.  Und 
das  dunkle  Bewußtsein  dieser  Diskrepanz  warf  auf  die  ganze 
Epikureische  Persönlichkeit  einen  Schatten  von  Schwermut 
und  Unruhe.  Diese  wenigen  Elemente  genügen,  wie  mir  scheint, 
um  den  Aufbau  der  ganzen,  hochkomplizierten  Gestalt  zu  be- 
greifen. Gehen  wir  zunächst  unter  diesen  Gesichtspunkten  das 
schon  Besprochene  noch  einmal  in  aller  Kürze  durch. 

Die  intellektuelle  Eigentümlichkeit  wird  nun  ohne  weiteres 
verständlich.  Es  muß  Alles  klar  sein.  Denn  was  könnte  ihm, 
dem  großen  Epikur,  unklar  sein?  Je  einfacher,  faßlicher,  evi- 
denter sich  ihm  die  Dinge  darstellen,  desto  entschiedener  emp- 

1)  Frg.  143.  2)  Frg.  125.  3)  Frg.  165.  4)  Frg.  183.  5)  Frg.  194. 


I 


250  ELFTE  VORLESUNG 

findet  er  seine  Überlegenheit  —  sowohl  über  die  Probleme,  die 
er  durchschaut  und  durchdringt,  als  auch  über  alle  anderen, 
gegenwärtigen  und  vergangenen  Denkrivalen,  die  in  ihnen  so 
viel  Schwierigkeiten  und  Dunkelheiten  finden  konnten.  Aber 
seine  geistige  Kraft  reicht  zu  einer  wahren  Überwindung  aller 
Probleme  nicht  aus.  Darum  müssen  primitive  und  oft  kindliche 
Scheinlösungen  diesen  Mangel  verdecken.  Und  zugleich  findet 
hier  dasjenige  statt,  was  sich  auch  sonst  nicht  selten  ereignet  hat: 
eine  durch  Anwandlungen  dunkler  Schwermut  heimgesuchte 
Natur  flüchtet  sich  in  das  blendend  helle  Licht  eines  krassen 
Realismus.  Der  Materialismus  als  Rettungsanker  für  phanta- 
stische Naturen  ist  ja  keine  ganz  vereinzelte  Erscheinung:  gleich 
der  bedeutendste  Epikureer,  der  Römer  Lucrez,  fällt  wohl 
ziemlich  sicher  unter  diese  Kategorie.  Vom  Meister  selbst  läßt 
sich  ganz  soviel  kaum  behaupten.  Doch  scheint  mir  das  eben 
Gesagte  immerhin  wahrscheinlich. 

Dann  das  scheinbar  idyllische  Leben  in  der  Zurückgezogen- 
heit des  „Gartens".  Die  ganze  Mühseligkeit,  die  hier  auf  die 
Erzielung  und  Erhaltung  des  Genusses  aufgewendet  wird,  zeigt 
aufs  deutlichste  die  Neigung  zum  Leiden  an,  die  zugrunde  liegt 
und  überwunden  werden  soll.  Aber  zugleich  sehen  Sie:  auch 
die  Flucht  aus  der  Welt  beruht  zum  guten  Teile  auf  einer  Selbst- 
täuschung; sie  ist  in  Wahrheit  Flucht  vor  sich  selbst.  In  Epikurs 
Wesen  lag  es  ja,  allen  Regungen  auszuweichen,  deren  er  nicht 
hätte  Herr  werden  können;  denn  dann  hätte  sich  die  Diskre- 
panz aufs  unzweideutigste  fühlbar  gemacht:  zwischen  der  Idee, 
in  der  er  stärker  war  als  Alles,  und  der  Wirklichkeit,  in  der 
Vieles  stärker  war  als  er.  Solche  Regungen  aber  wären  offen- 
bar alle  jene  gewesen,  wo  der  Ruhm,  der  äußere  Erfolg  in  Frage 
kamen.  Sich  befehdet,  sich  unterliegend,  sich  gedemütigt  zu 
sehen,  das  hätte  sein  Selbstbewußtsein  tödlich  verwundet,  und 
alsbald  wäre  seine  „Erregungslosigkeit"  gewichen.  Gegen  diese 
Gefahren  nun  verschanzt  er  sich  in  seinem  Garten,  und  schafft 
sich  so  statt  der  wirklichen  Welt  mit  ihren  Mißerfolgen  eine 
Scheinwelt  voll  lauter  Erfolgen.  Niemand  hat  ja  Zutritt,  der  nicht 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


251 


die  Meinung  des  Meisters  von  sich  selbst  teilen  würde.  Der 
Kreis,  der  sich  um  ihn  gruppiert,  verehrt  ihn  wie  ein  unfehl- 
bares Orakel.  In  diesem  Spiegel  aber  genießt  er  sich  selbst. 
Das  ist  die  Freundschaft,  die  „das  größte  Gut  ist  von  denen, 
welche  die  Weisheit  bereitet  zur  Glückseligkeit  des  ganzen 
Lebens"  K  Und  weil  er  sich  heroisch  vorkommt  in  seinen  Rück- 
sichten und  Gefälligkeiten,  darum  ist2  „Wohltaten  erweisen  an- 
genehmer als  Wohltaten  erfahren"3;  und  darum4  würde  der 
Weise  kein  Bedenken  tragen,  für  seinen  Freund  die  größten 
Schmerzen  zu  ertragen. 

Über  den  Propheten  aber  ist  es  kaum  nötig  zu  reden.  Einem 
Manne,  der  in  seinem  Testamente5  eine  Stiftung  zur  Feier  seines 
eigenen  Geburtstags  errichtete,  und  der6  seine  Lehren  selbst 
als  „Orakelsprüche"  bezeichnete,  mußte  das  Bewußtsein  seiner 
welterlösenden  Mission  offenbar  höchst  lebendig  einwohnen, 
und  bei  ihm  dürfen  wir  sicher  sein,  daß  auch  die  eindringlichste 
Feierlichkeit  der  Rede  keine  absichtslose  war.  Allein  diese 
Absichtlichkeit  wäre  nicht  notwendig  ein  Übel,  und  sie  wirkt 
bei  Epikur  im  ganzen  weniger  störend,  als  man  geneigt  wäre 
zu  erwarten.  Das  Schlimme  ist  vielmehr,  daß  doch  recht  oft 
auch  hier  jene  verhängnisvolle  Diskrepanz  zwischen  Wollen 
und  Können  bemerklich  wird.  Denn  der  Vornehmheit  und 
Feierlichkeit,  die  er  erstrebte,  stand,  wie  wir  gesehen  haben, 
seine  durch  Geburt  und  Erziehung  bedingte,  recht  kommune 
und  grobe  Redeweise  entgegen.  Statt  nun  jene  mit  dieser  aus- 
zugleichen, überspannte  er  sein  Ideal  im  Gegensatze  zu  seiner 
Natur;  und  so  kam  dann  gar  häufig  jene  geschraubte  und  ge- 
spreizte Ziererei,  jene  schwülstige  Affektation  zustande,  von  der 
wir  uns  an  einigen  Beispielen  überzeugt  haben. 

i)  Kup.  hol.  27.  2)  Frg.  544.  3)  ich  fürchte ,  im  Verhältnis  zu  dem  ent- 
sprechenden Worte  des  Evangeliums  muß  hier  gelten:  Wenn  zweie  das- 
selbe sagen,  ist  es  nicht  dasselbe.  Denn  wie  könnte  man  in  der  Epiku- 
reischen Persönlichkeit,  dieser  Inkarnation  der  Selbstbehauptung,  einen 
Drang  zur  Selbsthingabe  verstehen?  4)  Frg.  546.  5)  Frg.  217.  6)  TTpoo- 
<pu>vnat<;  29  (Wotke). 


252  ELFTE  VORLESUNG 

Und  von  da  bis  zur  Selbstgefälligkeit  war  nur  mehr  ein  kleiner 
Schritt.  Sie  lag  ja  von  vornherein  tief  in  seinem  Wesen  be- 
gründet. Wurzelhaft  war  in  ihm  das  Bedürfnis,  an  sich  selbst 
sich  zu  erfreuen.  Aber  wo  die  Kraft  nicht  ausreicht,  so  große 
Taten  zu  setzen  und  so  große  Werke  zu  schaffen,  daß  sie  diesem 
Bedürfnis  Genüge  tun  könnten,  da  liegt  (gerade  für  feinere 
Naturen,  deren  Wahrheitsinstinkt  sich  über  diesen  Sachverhalt 
nicht  täuschen  läßt)  die  Versuchung  nahe,  diesen  echten  Titeln 
falsche  zu  unterschieben,  die  nichts  beweisen,  weil  sie  nicht  im 
siegreichen  Kampfe  mit  der  widerstrebenden  Wirklichkeit  ge- 
wonnen wurden.  Dann  entsteht  die  Empfindsamkeit,  als  ein 
Schwelgen  in  der  Größe  und  Erhabenheit  der  eigenen  Ge- 
fühle. Und  wir  haben  gesehen,  daß  Epikur  dieser  Versuchung 
nicht  selten  unterlegen  ist.  Aber  ebensowenig  konnte  ihm 
jener  Abstand  entgehen,  der  auch  in  seiner  Ausdrucksweise 
zwischen  Wollen  und  Können  klaffte.  Das  Unwahre  seines 
Schwulstes  ist  seinem  Gefühl  sicher  nicht  verborgen  geblieben. 
Und  diesem  unbehaglichen  Bewußtsein  gegenüber  gab  es  nun 
für  eine  Seele,  die  um  keinen  Preis  eine  Schwäche  sich  ein- 
gestehen konnte,  keinen  anderen  Ausweg,  als  aufs  neue  die 
Stellung  der  Überlegenheit  einzunehmen  —  sich  selbst  gegen- 
über, keinen  anderen  somit,  als  die  eigene  Affektation  zu  paro- 
dieren, sie  so  als  eine  gewollte  darzustellen,  und  zu  diesem 
Behufe  sich  selbst  zu  ironisieren.  Also  auch,  was  diese  Ironie 
bedeutet,  wissen  wir  jetzt;  und  daß  sie,  trotz  des  gleichen  Namens, 
mit  jener  des  Sokrates  psychologisch  auch  nicht  Einen  Zug 
gemeinsam  hat,  darauf  brauche  ich  Sie  wohl  nicht  mehr  be- 
sonders aufmerksam  zu  machen.  Vielmehr  scheint  es  keinen 
größeren  Gegensatz  geben  zu  können  als  den  dieser  beiden 
Männer:  nichts,  sollte  man  meinen,  könnte  ihnen  gemeinsam 
sein.  Und  doch  wäre  ein  solches  Urteil  vorschnell  und  trüge- 
risch. Denn  Eines  ist  ihnen  in  der  Tat  gemeinsam,  und  es  ist 
das  Wichtigste  und  Entscheidendste  von  allem:  auch  Epikur 
nämlich  hat  das  sokratische  Ideal  mit  innerster  Überzeugung 
sich  zu  eigen  gemacht;  seine  Lebensauffassung  ruht  auf  dem 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


253 


Gedanken  der  inneren  Freiheit,  und  seine  Lehre  gipfelt 
in  ihm. 

Daß  freilich  dieses  Ideal  für  ihn  etwas  ganz  anderes  bedeuten 
mußte,  als  für  irgend  einen  andern  Sokratiker,  versteht  sich  von 
selbst.  Und  uns  kann  es  auch  keine  Mühe  mehr  machen,  festzu- 
stellen, worin  diese  Bedeutung  besteht.  Epikur,  so  sahen  wir 
ja,  war  innerlichst  eine  über  Alles  selbstbewußte  Natur.  Sie  wäre 
lieber  gestorben,  ehe  sie  sich  gestanden  hätte,  daß  irgend  etwas 
auf  der  Welt  stärker  sei  als  sie.  Und  nun  ist  es  der  Stolz  dieses 
Titanenbewußtseins,  der  sich  ausspricht,  ja  der  enthusiastisch 
ausbricht  in  den  Gedanken:  mag  das  Schicksal  sich  gegen  mich 
verschwören,  mag  die  Welt  gegen  mich  aufstehen,  ich  werde 
zeigen,  daß  sie  nichts  vermögen,  gegen  mich,  Epikur,  des 
Neokles  Sohn,  der  weder  Mensch  noch  Gott  noch  Schicksal 
als  Herrn  über  sich  erkennt,  sondern  frei  ist  durch  eigene 
Kraft.  Ich  weiß  nicht,  geehrte  Zuhörer,  ob  Sie  so  empfinden 
wie  ich.  Und  es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  Ihnen  Wert- 
urteile vorzuschreiben.  Aber,  wenn  ich  mein  ganz  persön- 
liches Gefühl  aussprechen  darf,  so  muß  ich  sagen:  dieser 
felsenfeste  Glaube  an  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  läßt  mich 
fast  über  alles  hinwegsehen,  was  ich  als  seine  höchst  frag- 
würdigen psychologischen  Grundlagen  zu  erkennen  glaube; 
denn  das  Freiheitsbewußtsein  selbst  zwingt  mir  Achtung  und 
Ehrfurcht  auf,  mögen  seine  Wurzeln  woher  immer  ihre  Nah- 
rung ziehen.  Dafür  aber,  daß  dieses  Bewußtsein  in  der  Tat  bei 
Epikur  in  voller  Lebendigkeit  bestanden  hat,  bin  ich  Ihnen 
noch  die  Belege  schuldig.  Hören  wir  denn  seine  eigenen  Worte! 
„DerPhilosophie,"  sagt  er1,  „mußt  du  dienen,damit  dir  die  wahre 
Freiheit  zufalle";  und2:  „Die  wertvollste  Frucht  der  Selbstgenüg- 
samkeit ist  die  Freiheit."  „Der  Weise  ist  immer  glücklich3." 
Er  selbst  sei  bei  Wasser  und  Brot  bereit,  mit  Zeus  um  den  Preis 
der  Glückseligkeit  zu  wetteifern4.  Der  Weise  werde,  wenn  er 
krank  sei,  oft  über  das  Übermaß  seiner  körperlichen  Leiden 

l)  Frg.  199.  2)  TTpoö(pa»vri0i<;  77  (Wotke).  3)  Frg.  397  ,  506  und  508. 
4)  Frg.  602. 


254 


ELFTE  VORLESUNG 


lachen1.  Auch  im  „Stier  des  Phalaris"2  werde  er  sagen3: 
„Wie  süß!  Wie  wenig  beachte  ich  das!"  „Der  Weise  wird 
glücklich  sein,  auch  wenn  er  gemartert  wird4."  Er  wird  sich 
nicht  töten,  auch  wenn  er  erblindet5.  Von  Metrodor  aber  rühmt 
Epikur6,  er  sei  „unerschrocken  gegen  Schmerz  und  Tod".  Und 
dieser  selbst  ruft  aus7:  „Ich  bin  dir  zuvorgekommen,  Schicksal, 
und  habe  alle  Zugänge  verrammelt,  so  daß  mich  nicht  einmal 
dein  Hauch  berühren  kann!"  Auch  darf  man  nicht  sagen,  dies 
seien  bloße  Worte,  zu  denen  die  Taten  fehlten  —  was  oft  ge- 
nug nur  die  Ausrede  derjenigen  ist,  die  nicht  einmal  erhabene 
Worte  und  große  Vorsätze  sich  zumuten.  Denn  Epikur  hat  für 
diesen  seinen  Glauben  auch  die  Blutzeugenschaft  abgelegt.  Auf 
seinem  Totenbette  nämlich  schreibt  er8:  „An  einem  glücklichen 
und  zugleich  am  letzten  Tage  unseres  Lebens  schreiben  wir 
euch  dieses.  Harnverhaltung  ist  eingetreten,  und  Schmerzen  der 
Eingeweide,  die  keinen  Zuwachs  übrig  lassen  in  bezug  auf  ihre 
Größe.  All  dem  aber  stellen  wir  entgegen  die  seelische  Freude, 
welche  aus  der  Erinnerung  an  die  von  uns  geführten  Unter- 
suchungen entspringt.  Du  aber,  würdig  der  hilfreichen  Ge- 
sinnung, die  du  von  Kindheit  an  gegen  mich  und  die  Philo- 
sophie bewiesen  hast,  sorge  für  die  Kinder  des  Metrodoros!" 

Die  Möglichkeit  dieser  inneren  Freiheit  aber  zu  beweisen  und 
die  Mittel  zu  ihrer  Verwirklichung  anzugeben,  ist  auch  die  Auf- 
gabe seiner  ethischen  Theorie.  Die  letztere  in  dieser  ihrer  Ab- 
zweckung  darzustellen,  und  sie  zugleich  aus  seiner  Persönlich- 
keit zu  erklären,  ist  deshalb  das  Einzige,  was  mir  jetzt  noch 
zu  tun  bleibt.  Dies  wird  aber  nach  allem  Bisherigen  recht  kurz 
sich  erledigen  lassen,  und  um  so  kürzer,  weil  Epikur,  darin  der 
Stoa  ungleich,  seine  Ethik  von  der  Begründung  der  traditionellen 
Moralität  durchaus  getrennt  hat.  In  letzterer  Beziehung  nämlich 
hören  wir  nur,  er  habe  Recht  und  Moralität  auf  einen  Gesell- 
schaftsvertrag zurückgeführt9,  und  gelehrt,  daß  sich  ihnen  der 

!)  Frg.  600.  2)  einem  Marterinstrument.  3)  Frg.  601  und  604.  4)  Frg.  601. 
4  Frg.  15,  496  und  498.  6)  Frg.  37.  7)  Cicero,  Tusc.  V.  9.  27;  Plut.  De  trän- 
quill,  anim.  18,  p.  476c.  8)  Frg.  122  und  138.  9)  Küp.  ooL  31— 38. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


255 


Weise  dennoch  fügen  werde1,  nicht  nur  um  der  Strafe,  sondern 
auch,  um  der  Furcht  vor  Entdeckung  zu  entgehen2;  auf  die  Frage 

\  aber,  ob  er  die  Moralvorschriften  auch  dann  beobachten  würde, 
wenn  er  wüßte,  daß  eine  Entdeckung  ausgeschlossen  ist,  habe 
er  keine  Antwort  gefunden3.  Dies  alles  aber  lassen  wir,  da  es 
unseren  Gesichtspunkt  nicht  näher  berührt,  beiseite,  und 
fragen  uns  nur,  wie  er  zu  der  hedonischen  Konstruktion  der 
Erlösungslehre  gekommen  ist,  und  in  welchem  Sinne  er  sie  aus- 

!  gestaltet  hat? 

Einen  zwingenden  Grund  dafür,  daß  Epikur  seine  Lebens- 
stimmung gerade  als  Lustlehre  formuliert  hat,  werden  wir  frei- 
lich nicht  angeben  können.  In  gewissem  Sinne  ist  ja  meistens  die 
theoretische  Grundüberzeugung  das  Zufälligste  am  Menschen, 
nämlich  dasjenige,  was  am  wenigsten  von  seiner  Natur,  und  am 
meisten  von  seiner  Umgebung  abhängt.  Denn  aus  sich  selbst 
vermag  ein  Jeder  von  uns  nur  weiterzuschreiten,  sei  es  zu- 
stimmend und  fortbildend,  sei  es  ablehnend  und  umbildend;  auf 
den  ersten  Ausgangspunkt  aber  muß  er  durch  Andere  gestellt 
werden,  wenn  nicht  in  dauernder  Einwirkung  so  doch  in  flüch- 
tiger Anregung.  Wir  können  deshalb  wohl  auch  in  diesem  Fall 
höchstens  verstehen,  was  dem  jungen  samischen  Schullehrer 
den  Hedonismus  so  anziehend  machen  mochte.  Und  dies 
scheint  nicht  wunderbar.  Denn  erstlich  hat  diese  Lehre  sich  zu 
allen  Zeiten  besonderer  Gunst  bei  Jenen  erfreut,  denen  es  mehr 
um  Klarheit  und  Deutlichkeit,  als  um  Weite  und  Tiefe  ihrer 
Einsichten  zu  tun  war4;  und  so  kam  sie  Epikur s  früher  ge- 
kennzeichneter intellektueller  Eigenart  geradenwegs  entgegen. 
Zweitens  mußte  sich  eine  Theorie,  die  vor  Allem  subjektive 
Gefühlszustände  ins  Auge  faßt,  von  vornherein  einer  Natur 
empfehlen,  die  (wie  wir  sahen)  zur  selbstgefälligen  Versenkung 
ins  eigene  Bewußtsein  neigte.  Und  endlich  drittens  zieht  die 
Lust  immer  besonders  das  Augenmerk  Solcher  auf  sich,  welche 

*)  Frg.  460  und  583.  2)  «up.  oöS.  17;  Philodem,  De  rhetor.  (voll.  Herc.  Va, 
col.  24/5).  3)  Frg.  18.  4)  $o  auch  bei  dem  verehrungswürdigen  Bentham, 
dem  Vater  des  modernen  Utilitarianismus. 


I 


256 


ELFTE  VORLESUNG 


durch  ihr  Temperament  zum  Leiden  bestimmt  sind.  Pessi- 
misten sind  fast  immer  Hedonisten.  Ein  Beispiel  hiervon  haben 
wir  in  Hegesias  schon  kennen  gelernt.  Ein  weit  größeres  ver- 
körpert sich  in  Buddha.  Auch  in  unserer  Zeit  zeigen  die 
philosophischen  Vertreter  des  Pessimismus  in  Deutschland 
(Schopenhauer  und  Hartmann)  dasselbe  Bild.  Dem  Lei- 
denden stellt  eben  schon  sein  Instinkt  die  Lust  als  das  größte 
Gut  dar.  Aber  aus  demselben  Grunde  zeigt  der  pessimistisch 
fundierte  Hedonismus  fast  immer  auch  ein  besonderes  theo- 
retisches Kennzeichen.  Denn  nicht  eigentlich  nach  Lust  seh- 
nen wir  uns  im  Schmerz,  sondern  vor  Allem  nach  Schmerz- 
losigkeit.  Und  so  gewinnt  der  erste  Satz  der  Lustlehre  die 
Gestalt:  die  Lust  fällt  zusammen  mit  der  Abwesenheit  des 
Leidens.  So  in  all  den  angeführten  Fällen.  Und  so  auch  bei 
Epikur,  dessen  schwermütige  Naturanlage  schon  hieraus  un- 
zweideutig erhellen  würde.  Denn  auch  er  vertritt  diese  Ansicht, 
ja  er  zieht  aus  ihr  die  äußersten  Konsequenzen.  Die  Lust,  lehrt 
er  nämlich,  ist  nichts  anderes  als  Schmerzlosigkeit.  Und  da 
demnach  alle  Freuden  in  gleicherweise  nur  den  Nullpunkt  der 
hedonischen  Skala  bezeichnen,  so  haben  sie  alle  untereinander 
den  gleichen  Wert:  auch  ein  unendliches  Quantum  von  Lust 
wäre  nicht  größer  als  ein  endliches1. 

Diese  Schmerzlosigkeit  also  unter  allen  Umständen  sich  zu 
bewahren,  muß  möglich  sein,  wenn  die  innere  Freiheit  selbst 
denkbar  erscheinen  soll.  Jene  Möglichkeit  nachzuweisen,  und 
sie  nach  ihren  Bedingungen  näher  zu  bestimmen,  ist  deshalb 
die  einzige  Aufgabe  der  epikureischen  Ethik.  Lösbar  aber  er- 
weist sie  sich,  indem  dieser  Bedingungen  drei  angegeben  werden. 

Erstens  muß  man  zwischen  den  verschiedenen  Bedürf- 
nissen unterscheiden2.  Denn  einmal  gibt  es  solche,  die  natür- 
lich und  notwendig  sind,  weil  ihre  Nichtbefriedigung  positiv 
schmerzt.  Dahin  gehören  z.  B.  Hunger  und  Durst.  Diese  soll 
man  nach  Tunlichkeit  befriedigen.  Dann  gibt  es  welche,  die 
zwar  natürlich  sind,  aber  nicht  notwendig,  weil  zwar  ihre 

i)  Kup.  ööH.  18  und  19;  Frg.  417.   2)  Ad  Menoeceum  S.  62.  8;  xüp.  ööE.  30. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


257 


Befriedigung  die  Lust  variiert,  ihre  Nichtbefriedigung  aber 
keinen  Schmerz  erzeugt.  So  zum  Beispiel  das  Verlangen  nach 
schmackhaften  Speisen.  Diese  darf  man  wohl  befriedigen,  soll 
sich  aber  gewöhnen,  diese  Befriedigung  auch  zu  entbehren. 
Endlich  gibt  es  Bedürfnisse,  die  weder  natürlich  noch  not- 
wendig sind,  weil  weder  ihre  Befriedigung  Freude  bereitet 
noch  ihre  Nichtbefriedigung  Leid.  Zu  diesen  „bloß  eingebildeten 
I  Freuden"  gehört  etwa  der  Ruhm.  Diese  soll  man  ganz  und  gar 
j  ausrotten.  Denn1  „der  Reichtum  der  Natur  ist  begrenzt  und 
leicht  zu  beschaffen;  jener  der  leeren  Einbildungen  aber  geht 
ins  Unendliche".    Schon  durch  die  Befolgung  dieser  ersten 
Gruppe  von  Regeln  also  vermögen  wir  ein  Großteil  alles 
j  Schmerzes  loszuwerden,  und  uns  dem  Ideal  beträchtlich  zu 
i  nähern.  Was  aber  diese  Gruppe  von  Regeln  für  Epikur  per- 
|  sönlich  bedeutet,  das  haben  wir  im  wesentlichen  schon  früher 
gesehen:  sie  bilden  die  theoretische  Rechtfertigung  jenes  welt- 
|  abgeschiedenen  Lebens,  dessen  Motive  uns  deutlich  geworden 
j  sind.  Doch  wird  man  außerdem  annehmen  dürfen,  daß  auch 
j  das  Bewußtsein,  sich  selbst  zu  beherrschen,  und  die  eigenen 
Bedürfnisse  zu  disziplinieren  und  einer  festen  Regel  zu  unter- 
werfen, die  Kraftgefühle  des  Philosophen  gesteigert  haben  wird. 

Allein  neben  der  physischen  Schmerzfreiheit  ist  vor  allem 
auch  die  geistige  Ruhe,  Unerschütterlichkeit  oder  „Erregungs- 
losigkeit"2  zu  Glück  und  Freiheit  erforderlich.  Denn3  „um 
dessentwillen  tun  wir  jegliches,  um  weder  zu  leiden  noch  uns 
zu  erregen.  Wenn  aber  dies  einmal  uns  begegnet,  dann  löst 
sich  gleichsam  der  Sturm  der  Seele".  Auch  sind4  nur  diese 
beiden  eigentlich  dauerhafte  Lustzustände,  nicht  aber  die  mo- 
mentane Lustigkeit  und  Fröhlichkeit.  Um  aber  diese  „Erregungs- 
losigkeit"  zu  erreichen  und  zu  bewahren ,  muß  vor  Allem  eine 
dreifache  Furcht  beseitigt  werden:  die  vor  den  Göttern,  die  vor 
dem  Tode,  und  die  vor  Schmerzen.  Dabei  brauche  ich  Ihnen 
kaum  zu  sagen,  daß  dieses  Programm  der  Aufgabe  zugleich  ein 

»)  Kup.  Ö6L  15.  2)  'AxapaHia.  3)  Ad  Menoeceum  S.  62.  15;  vgl.  Ad  Herodotum 
S.  30.  18  (Usener).  4)  Frg.  2. 

Gomperz,  Lebensauffassung  17 


258 


ELFTE  VORLESUNG 


Eingeständnis  des  Tatbestandes  enthält:  wir  tun  hier  einen  Ein- 
blick in  jenen  „Sturm  der  Seele",  der  Epikurs  Gemütsruhe 
bedrohte.  Schwermut  aber  scheint  mir  durchweg  seinen  Ur- 
sprung zu  bezeichnen.   Gleich  in  seinem  Verhältnis  zu  den  ;s 
Göttern  ist  dies  merkwürdig,  daß  er  als  selbstverständlich  G 
voraussetzt:  wenn  man  überhaupt  glaube,  daß  sie  auf  unser 
Leben  Einfluß  nehmen,  dann  müsse  Furcht  die  Hoffnung  bei  |e 
weitem  überwiegen.   Denn  sicherlich  zeigt  die  Religion  als  i  \i 
empirische  Tatsache  den  entgegengesetzten  Charakter:  sie  be-  iä 
ruhigt  und  tröstet  weit  mehr  und  weit  öfter,  als  sie  schreckt  und  \ 
beunruhigt.  Nun  teilt  zwarEpikur  diese  seltsame  Verschiebung  \  \ 
der  Gesichtspunkte  mit  Demokrit  und  auch  mit  Aristippos.  \ 
Dennoch  kann  sie  nicht  an  dem  Wesen  der  antiken  Religion  3 
hängen,  wie  einBlickauf  Sokrates,  Piaton  oder  die  Stoa  lehrt,  | 
oder  eine  Erinnerung  an  die  Dichter,  wie  wenn  Aischylos1  j, 
singt: 

„Aber  wäg'  ich  alles  ab, 

Nichts  vergleich'  ich  doch  mit  Zeus, 

Wenn  es  die  Last  des  ,Umsonst!'  von  der  sorgenden  Seele 

Wahrhaft  abzuschütteln  gilt"; 

und  ein  andermal2: 

„Jawohl!  Doch  noch  mehr     vermag  Götterkraft: 
Befreit  oft  auch  den,      der  hilflos  und  schwer 
Bedrängt  schien  von  Noth,     und  der  über  sich 
Nichts  mehr  als  hangende  Wolken  sah"; 

oder  Euripides3: 

„Ja,  der  Gedank'  an  die  Götter,  dringt  er  ins  Herz  mir,  befreit  mich 
Von  allen  Leiden". 

Wir  werden  also  schließen  dürfen,  nicht  nur,  daß  zu  dieser 
Auffassung  Epikurs  unglückliches  Temperament  mitgewirkt 
haben  dürfte,  sondern  auch,  daß  für  seine  Stellung  zum  Götter- 
glauben noch  ein  anderer  Faktor  mitbestimmend  war:  eben  jenes, 
hier  im  eigentlichsten  Sinne  zu  nehmende  „titanische"  Selbst- 
bewußtsein nämlich,  das  den  Gedanken  als  unerträglich  emp- 

1)  Agamemnon  v.  152.  2)  Sept.  adv.  Theb.  v.  208.  3)  Hippolyt  v.  1 105. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


259 


fand,  es  könnte  abhängig  sein  von  übermächtigen  Wesen  als 
von  natürlichen  Herren,  die  ohne  Vergleichung  stärker  wären 

I  als  irgend  ein  Mensch.  Hier,  scheint  mir,  entspringt  das  Pathos 
seines  gewaltigen  Streites  gegen  den  Herrschaftsanspruch  der 
Götter;  ja,  fast  möchte  man  sagen,  er  wollte  mit  ihnen  einen 
Vertrag  schließen:  sie  sollen  ungestört  bleiben  und  selig  dahin- 

I  leben  in  den  „Zwischenwelten",  wenn  sie  nur  jedes  Eingriffs 
in  sein  Leben  sich  enthalten,  und  auch  ihn  glückselig  leben 

!  lassen  und  herrenlos.  Um  aber  das  Seinige  zu  tun  zu  diesem 
Ende,  bietet  er  eine  ganze  Wissenschaft  auf.  Denn  eben  diesem 
Zwecke  dient  einzig  seine  atomistische  Physik:  sie  soll  alle 
Naturvorgänge  „natürlich"  erklären,  und  jede  „übernatürliche" 
Deutung  ausschließen.  Nur  an  dieser  ihrer  Abzweckung  hat 
die  Naturwissenschaft  die  Berechtigung  ihres  Daseins1.  Nächst 
der  Geisterfurcht  aber  ist  vor  Allem  bedrohlich  die  Todes- 
furcht2. Und  auch  hier  kann  man  wohl  verstehen:  wie  leicht 
die  epikureische  Schwermut  in  Hypochondrie  ausarten  konnte, 
und  von  welchen  Angstanfällen  eine  so  ganz  auf  das  individuelle 
Ich  gestellte  Lebensauffassung  bedroht  sein  mußte,  bei  dem  Ge- 
danken an  das  unabwendbare  Ende  dieses  individuellen  Da- 
seins. Aber  Epikur  hat  mannhaft  gegen  diese  Angst  gestritten, 
und  mit  unverächtlichen  Gründen  sich  Mut  und  Zuversicht 
bewahrt.  Denn3  „nichts  ist  demjenigen  im  Leben  schrecklich, 
der  sich  aufrichtig  überzeugt  hat,  daß  nichts  Schreckliches  im 
Nichtleben  ist.  So  ist  also  nichtssagend  die  Behauptung,  man 
fürchte  denTod,  nicht  weil  er  als  gegenwärtiger  schmerzen  werde, 
sondern  weil  er  als  zukünftiger  schmerze.  Denn  was  als  Gegen- 
wärtiges nicht  weh  tut,  das  betrübt  euch  als  Erwartetes  nur  aus 
bloßer  Einbildung.  Somit  geht  uns  das  schauerlichste  der  Übel, 
der  Tod,  nichts  an,  da,  so  lange  wir  sind,  der  Tod  ja  doch  nicht 
da  ist,  wenn  aber  der  Tod  da  ist,  wir  nicht  sind.  Also  betrifft 
er  weder  die  Lebenden  noch  die  Gestorbenen,  da  ihn  ja  doch  diese 
nicht  erleiden,  und  jene  nicht  mehr  existieren".  Diese  an  sich 

*)  Ad  Pythoclem  S.  36.  1  ff.  2)  Ad  Herodotum  S.  30.  8.  *)  Ad  Menoeceum 
S.  60.  20;  vgl.  Kup.  66H.  2. 

17* 


ELFTE  VORLESUNG 


richtige,  aber  bei  all  ihrer  Zuversicht  doch  wie  ein  leises  Zittern 
der  Stimme  verratende  Argumentation  läßt  sich  nun  aber  auf 
die  schmerzhaften  Krankheiten  der  Lebenden  nicht  anwenden. 
Hier  soll  deshalb  zunächst  eine  andere  Betrachtung1  helfen: 
„Nicht  weilt  der  Schmerz  beständig  in  dem  Fleisch,  sondern 
der  sehr  heftige  ist  nur  sehr  kurze  Zeit  zugegen;  der  aber  die 
Lust  im  Fleische  eben  nur  überwiegt,  ereignet  sich  nicht  viele 
Tage;  die  langzeitigen  unter  den  Krankheiten  aber  enthalten  das 
Erfreuende  im  Fleisch  überwiegend  gegenüber  dem  Schmerzen- 
den." Man  möchte  wünschen,  daß,  was  hier  einigermaßen  ge- 
schraubt behauptet  wird,  durch  die  Erfahrung  durchaus  be- 
stätigt  würde. 

Aber  auch  Epikur  ist  sich  wohl  bewußt,  daß  trotz  allen  die- 
sen Kunstgriffen  und  Überlegungen  noch  physische  Schmerzen 
übrig  bleiben.  Auf  deren  Besiegung  aber  richtet  sich  sein  drittes 
und  wichtigstes  Prinzip:  die  gegenwärtigen  Leiden  sollen  auf- 
gewogen werden  durch  die  Erinnerung  an  vergangene  Lust. 
Das  Fleisch,  hören  wir2,  werde  bloß  von  der  Gegenwart  bewegt, 
die  Seele  aber  von  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft;  und 
so  seien  denn  auch  die  seelischen  Lustempfindungen  stärker. 
Daher  ist3  „das  eine  Heilmittel  des  Weisen  die  Erinnerung  an 
vergangene  Lust".  Dies  ist  nun  freilich  eine  seltsame  Psycho-  . 
logie,  und  der  Spott  des  Karneades4  liegt  nicht  fern,  Epikur 
tröste  sich  wohl  in  solchen  Lagen  mit  der  Erinnerung  an  seine 
Liebesabenteuer,  an  guten  Wein  und  reichliches  Menu;  und 
ebenso  der  des  Chrysipp5,  das  Zentrum  seiner  Philosophie 
sei  das  Kochbuch  des  Archestratos.  Und  in  der  Tat:  daß 
die  seelischen  Genüsse  stärker  seien,  weil  sie  auch  Erinne- 
rungen enthielten,  ist  ein  sonderbarer  Schluß.  Vor  allem 
aber:  was  sollen  wir  uns  denken,  wenn  wir  hören,  eine  Lust 
sei  stärker  als  die  andere,  da  doch  alle  nur  die  Abwesenheit 
des  Schmerzes  bedeuten,  und  darum  von  gleicher  Größe  sein 
sollen?  Ja,  wie  kann  überhaupt  eine  solche  negative 

i)  Kup.  ööE.  4.  2)  Frg.452.  3)  Frg.  122.  *)  piut.  non  posse  suav.  4,  p.  1089  c. 
5)  Frg.  709  (Arnim  III). 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


261 


Lust  einem  positiven  Schmerz  das  Gleichgewicht 
halten?  Das  ist  kaum  anders,  als  wollte  Einer  mit  recht 
vielen  Seifenblasen  einen  Zentner  aufwiegen!  Allein,  was  Epi- 
kur  meint,  verstehen  wir  doch  sehr  wohl.  Die  lustvollen  Er- 
innerungen nämlich  sind  nur  eine  Umschreibung  für  jenen 
gegenwärtigen  Selbstgenuß,  der  seiner  Freude  an  der  eigenen 
Kraft  entspringt,  die  schon  in  vergangenen  Lagen  sich  bewährt 
hat.  Was  ihn  aber  aufrecht  hielt,  da  er  auf  dem  Sterbebette  lag, 
und  den  gegenwärtigen  Schmerzen  die  Erinnerung  an  die  ver- 
gangenen Untersuchungen  „entgegenstellte",  das  sagt  er  uns  in 
diesen  Worten  selbst:  es  ist  der  Stolz  auf  seine  eigene  Bedeutung, 
Größe  und  Kraft,  und  der  feste  Entschluß,  kein  Ungemach  über 
sich  triumphieren  zu  lassen.  Heroische  Eitelkeit  —  so  sagte  ich 
schon  früher;  und  vielleicht  sind  Sie  jetzt  eher  geneigt,  diese 
scheinbar  ungereimte  Formel  sich  anzueignen.  Denn  wir  haben 
jetzt  gesehen:  dasselbe  Selbstbewußtsein,  dessen  Ansprüche  im 
Kontraste  mit  der  Wirklichkeit  in  diesem  Manne  gar  oft  den 
Schein  der  hohlen  Aufgeblasenheit  erzeugen,  es  hat  ihm  doch 
wirklich  die  Kraft  verliehen,  diesen  Ansprüchen  im  Leben  und 
im  Tode  gerecht  zu  werden.  Und  so  hat  hier  die  eitle,  heroische 
Pose,  indem  sie  den  echten  Heroismus  aus  sich  gebar,  nach- 
träglich sich  selbst  gerechtfertigt,  und  vermag  es  wohl,  durch 
diesen  Wandel  ihres  Wesens  den  billig  Denkenden  mit  sich  zu 
versöhnen. 

Zusammenfassend  aber  werden  wir  sagen  dürfen:  die  epiku- 
reische Ethik  ist  psychologisch  das  Erzeugnis  höchst  fragwür- 
diger persönlicher  Bedürfnisse,  und  theoretisch  die  unhaltbarste 
aller  hedonischen  Konstruktionen.  Aber  in  ihren  Forderungen 
und  Ergebnissen  stimmt  sie  dennoch  zusammen  mit  allen  an- 
deren Formen  der  sokratischen  Selbsterlösungslehre.  Und  nach 
genauester  Zergliederung  und  Erwägung  werden  wir  ihr  den 
Titel  nicht  absprechen  dürfen,  auf  den  allein  sie  Anspruch 
machen  kann,  der  aber  auch  allein  genügt:  auch  sie,  müssen  wir 
gestehen,  ist  eine  Ethik  der  inneren  Freiheit! 


262 


ELFTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer!  Noch  ein  ethisches  System,  das  diese 
Grundlage  teilt,  bleibt  uns  in  diesem  Zusammenhange  zu 
betrachten  übrig:  das  skeptische,wie  es  durch  Pyrrhon  von  Elis 
in  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  aufgebracht,  etwas 
später  durch  Arkesilaos  und  im  2.  Jahrhundert  durch  Kar- 
neades  fortgebildet  und  um  die  Wende  unserer  Zeitrechnung 
durch  Ainesidem  und  andere  wieder  aufgenommen  wurde. 
In  Hinsicht  der  theoretischen  Philosophie  ist  die  Skepsis  von 
höchster  Bedeutung,  und  nimmt  da  vielfach  die  vorgeschobenste 
Position  ein,  die  das  Altertum  überhaupt  erreicht  hat.  Was  aber 
die  praktische  Seite  betrifft,  so  ist  uns  ihre  Philosophie  in  einem 
so  trümmerhaften  Zustande  überliefert,  daß  leider  die  wenigen 
Minuten,  die  uns  heute  noch  zur  Verfügung  stehen,  hinreichen 
dürften,  um  Ihnen  das  Wesentlichste  davon  mitzuteilen.  Ich  be- 
mühe mich  dabei,  den  ethischen  Gedankengang  der  Skepsis 
möglichst  abgelöst  von  ihren  theoretischen  Lehren  darzustellen. 

Im  ganzen  kann  man  sagen,  die  skeptische  Lebensauffassung 
sei  die  Umkehrung  der  sokratischen,  und  teile  doch  mit  ihr  das 
praktische  Ziel  und  den  theoretischen  Ausgangspunkt.  Sokrates 
wollte  zur  inneren  Freiheit  gelangen  durch  das  rechte  Wissen. 
Dieses  aber  blieb  seinem  Inhalte  nach  unbestimmt.  Allein  die 
sorgfältigsten  und  scharfsinnigsten  Bemühungen  der  größten 
Denker  vermochten  nicht,  diesen  Inhalt  in  einer  allgemein  ein- 
leuchtenden und  gültigen  Weise  festzustellen.  Hieraus  würden 
wir  den  Schluß  ziehen,  daß  die  intellektualistische  Formulierung 
des  Erlösungsideals  überhaupt  aussichtslos  sei.  Pyrrhon  aber 
zog  diese  Folgerung  nur  halb.  Denn  nicht  in  einem  anderen 
Vermögen  suchte  er  das  Mittel  zur  Erlösung,  sondern  in  einer 
anderen  Verwendung  desselben  Vermögens.  Nicht  etwa  das 
Gefühl  oder  der  Wille  schien  ihm  der  entscheidende  Faktor 
zu  sein,  sondern  die  rechte  Unwissenheit.  Dort  nämlich  war 
die  Meinung:  die  innere  Freiheit  kann  nur  erlangt  werden, 
wenn  wir  etwas  als  das  Gute  erkennen;  hier  aber:  sie  kann  auch 
errungen  werden,  wenn  wir  nichts  als  Übel  erkennen.  Denn 
sowie  uns  das  Gute  sicher  wäre,  wenn  wir  es  als  solches  er- 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


263 


kennten;  so  sind  wir  doch  auch  vor  dem  Übel  sicher,  wenn  wir 
nichts  für  ein  solches  halten.  So  angesehen,  tritt  uns  sowohl 
die  Gemeinsamkeit  des  Freiheitsideals  als  auch  die  des  intellek- 
tualistischen  Ausgangspunktes  deutlich  entgegen.  Daß  aber  nur 
dieser  negative  Weg  übrig  bleibe,  folgt  von  selbst,  wenn  erst  die 
Ungangbarkeit  des  positiven  Weges  dargetan  ist.  Diese  aber 
schien  den  Skeptikern  nicht  zweifelhaft.  Denn  ein  Wissen  um 
das  Gute  ist  weder  möglich,  noch  nötig,  noch  nützlich. 

Es  ist  nicht  möglich.  Denn  einmal  ist  nach  der  skeptischen 
Lehre  überhaupt  kein  Wissen  möglich.  Zweitens  zeigt  die  ver- 
gleichende Betrachtung  der  Moralsysteme  verschiedener  Völker, 
daß  die  Menschen  bald  dieses,  bald  jenes  für  ein  Gut  halten1. 
Drittens  sieht  jedermann,  daß  dem  Einen  nützt,  was  dem  Andern 
schadet.  Viertens  widersprechen  einander  alle  philosophischen 
Versuche,  das  Gute  seinem  Wesen  nach  zu  bestimmen.  Es  ist 
also  „weder  etwas  gut  noch  etwas  schlecht"2  und  „das  von 
Natur  Gute  unerkennbar"3;  und  es  muß  deshalb  über  diese,  wie 
über  alle  anderen  Fragen  „Zurückhaltung"  des  Urteils4  geübt 
werden. 

Das  Wissen  vom  Guten  ist  aber  auch  nicht  nötig.  Denn  die 
praktische  Tätigkeit  wird  unmittelbar  durch  die  Sinnesempfin- 
dung ausgelöst,  und  es  bedarf  dazu  keiner  Vermittlung  durch 
die  Erkenntnis5. 

Das  Wissen  wäre  aber  auch  gar  nicht  nützlich.  Denn  gerade 
das  Bewußtsein  der  Unwissenheit  führt  zum  Glück.  Um  näm- 
lich dieses  zu  erlangen,  muß  man  bedenken:  erstens  die  Dinge; 
zweitens  unsere  Stellungnahme  zu  ihnen;  drittens  die  Wirkun- 
gen dieser  Stellungnahme6.  Nun  zeigt  sich  aber,  daß  die  be- 
wußte Unwissenheit  die  vorteilhafteste  Stellungnahme  ist. 
Denn  das  größtmögliche  Glück  besteht  —  und  hier  trifft  die 
Skepsis  im  Ausdruck  mit  Epikur  zusammen  —  in  der  „Er- 

!)  Sext.  Emp.  Pyrrh.  III.  198 ff.;  Diog.  Laert.  IX.  83.  2)  Diog.  Laert.  IX.  61; 
vgl.  Sext.  Emp.  adv.  Math.  XI.  140.  3)  Diog.  Laert.  IX.  101.  *)  'Gttoxti. 
5)  Plut.  adv.  Colot.  26,  p.  1122b.  6)  Euseb.  Praep.  Ev.  XIV.  18.  2,  p.  758c 
(Timon). 


264 


ELFTE  VORLESUNG 


regungslosigkeit"1,  das  heißt  aber:  darin,  gar  keinen  Affekt  zu 
empfinden  wegen  des  bloß  eingebildeten  Leides2,  und  einen  nur 
mäßigen  Affekt3  wegen  des  notwendigen  Leidens4.  Diese  „Er- 
regungslosigkeit"  aber  folgt  der  „Zurückhaltung"  wie  ihr  Schat- 
ten5. Denn  die  Meinung,  daß  ein  Erlebnis  ein  Übel  sei,  bedingt 
—  und  hier  werden  Sie  sich  an  Epiktet  erinnern  —  eine  weit 
ärgere  Erregung  als  das  Erlebnis  selbst.  Man  sieht  ja  oft,  daß 
bei  chirurgischen  Operationen  der  Kranke  ganz  munter  bleibt, 
die  Zuschauer  aber  in  Ohnmacht  fallen.  Um  so  viel  stärker  ist 
die  Einbildung  als  das  Erlebnis  selbst6.  Von  ihr  aber  befreit 
uns  die  „Zurückhaltung",  und  sie  ist  deshalb  das  „Ziel"7. 

Der  Skeptiker  wird  sich  daher  jedes  Wissensdünkels  ent- 
halten, und  in  seinem  täglichen  Leben  einfach  der  Gewohnheit, 
dem  Herkommen  folgen,  nichts,  was  ihm  dabei  begegnet,  für 
ein  Übel  haltend8.  Darin  besteht  die  Tugend,  und  sie  reicht 
zur  Glückseligkeit  vollkommen  aus9.  Die  beiden  letzten  Be- 
stimmungen sind  für  uns  entscheidend;  denn  sie  sind  die  Kenn- 
worte und  Merkzeichen  der  Erlösungslehre,  und  stellen  außer 
Zweifel,  daß  auch  die  Skepsis  das  Ideal  der  inneren  Freiheit 
anerkennt  und  an  ihm  festhält. 

Diesem  Ideal  scheint  nun  auch  das  Leben  des  Pyrrhon  recht 
sehr  entsprochen  zu  haben,  soweit  wir  nach  dem  anekdotischen 
Material  urteilen  können,  das  hier  freilich  einen  weniger  ver- 
läßlichen Eindruck  macht  als  in  anderen  Fällen.  Die  größte 
Abweichung  von  seinen  Prinzipien,  die  uns  überliefert  wird, 
ist  diese:  er  sei,  heißt  es10,  über  einen  ihn  anfahrenden  Hund 
erschrocken,  und  habe  danach  ausgerufen:  „Schwer  ist's,  den 
Menschen  gänzlich  auszuziehen!"  Im  übrigen  aber  habe  er, 
der  ursprünglich  ein  Maler  gewesen  sei11,  ruhig  und  still  mit 
seiner  Schwester  gelebt,  das  Haus  für  sie  gereinigt,  und  sein 

»)  'AxapaHi'a.  2)  Apathie.  3)  Metriopathie.  4)  Sext.  Emp.Pyrrh.  III.  235.  5)  Diog. 
Laert.  IX.  107  (Timon  und  Ainesidem).  6)  Sext.  Emp.  Pyrrh.  III.  236. 
7)  Diog.  Laert.  IX.  107.  8)  Cicero,  De  fin.  IV.  16. 43;  Tusc.  V.  29. 83.  9)  Euseb. 
Praep.  Ev.  XIV.  18.  20,  p.  762a;  Sext.  Emp.  Pyrrh.  III.  236.  ">)  Diog.  Laert. 
IX.  66;  Euseb.  Praep.  Ev.  XIV.  18.  26,  p.  763a.  n)  Diog.  Laert.  IX.  61. 


EPIKUR  UND  DIE  SKEPSIS 


265 


Leben  durch  den  Verkauf  von  Vögeln  und  Ferkeln  gefristet1. 
Man  rühmte  von  ihm,  er  sei  immer  gleichmütig,  im  selben 
Zustand  gewesen2,  und  erzählte,  als  er  einer  Wunde  wegen 
geschnitten  und  gebrannt  wurde,  habe  er  nicht  einmal  die 
Brauen  zusammengezogen3.   Und  welchen  Wert  er  auf  den 
Mangel  an  „Meinungen"  über  die  jeweiligen  Erlebnisse  legt, 
|  dies  illustriert  gut  die  Geschichte4:  als  bei  einer  stürmischen 
Meerfahrt  alles  in  Schrecken  war,  habe  er  auf  ein  ruhig  fressen- 
!  des  Schwein  gezeigt,  und  gesagt:  ebenso  erregungslos  müsse 
!  der  Weise  sein.  Daß  er  jedoch  deswegen  nicht  etwa,  wie  man 
|  wohl  behauptete,  ohne  Vorbedacht  gelebt  habe,  wird  uns 
—  wenn  es  denn  für  eine  so  selbstverständliche  Sache  eines  Be- 
weises bedarf  —  auch  noch  ausdrücklich  bezeugt5.  Im  ganzen 
!  aber  erhalten  wir  das  Bild  eines  Mannes,  dessen  Gemütsruhe 
einer  vollkommenen  Ergebung  in  den  Weltlauf  und  einer  souve- 
ränen Geringschätzung  aller  menschlichen  Dinge  entspringt  — 
einer  Stimmung  also,  die  jener  des  greisen  Piaton  recht  ähn- 
lich ist.  Und  in  der  Tat  finden  wir  auch  eine  wenigstens  leise 
Andeutung  des  Weltspielgedankens.  Denn  es  wird  uns  berich- 
tet6, er  habe  mit  Vorliebe  den  homerischen  Vers  zitiert: 

„So  wie  der  Blätter  Geschlecht,  so  ist  auch  jenes  der  Menschen" ; 

und  die  andern: 

„Freund,  so  stirb  denn  auch  du!  Wozu  das  vergebliche  Klagen? 
Starb  ja  doch  auch  Patroklos,  der  doch  viel  besser  als  du  war!" 

„Und  was  überhaupt  die  Unsicherheit  und  eitle  Geschäftigkeit 
und  das  Kindermäßige  der  Menschen  ausdrückte,  führte  er  an." 
Sein  Schüler  Timon  aber  besang  ihn  in  folgenden  Versen7: 

„Frei  von  ,Einbildung<8  war  er,  und  unbezwungen  von  allem, 
Was  die  Andern  bezwingt,  die  bekannten  und  minder  bekannten 
Leichten  Schwärme  der  Menschen,  die  immer  wieder  bedrückt 

sind 

Von  Einbildung  des  Leidens,  und  von  zufälliger  Satzung." 

1)  Diog.  Laert.  IX.  66.  2)  Diog.  Laert.  IX.  63.  3)  Diog.  Laert.  IX.  67.  4)  Diog. 
Laert.IX.68.  5)  Diog.  Laert.  IX.  62  (Ainesidem).  6)  Diog.  Laert.  IX. 67.  7)Euseb. 
Praep.  Ev.  XIV.  18.  19,  p.  761  e.  8)  xOcpoq,  der  kynische  Kunstausdruck. 


266 


ELFTE  VORLESUNG 


„Greiser  Pyrrhon1!  Wie  fandst  du  und  wo  den  rettenden 

Ausweg 

Aus  der  Knechtschaft  der  ,Meinung'  und  des  sophistischen 

Hohlsinns? 

Sprengtest  die  Fessel  jedes  Betrugs  und  jeglichen  Anscheins! 
Brauchst  nicht  darüber  zu  grübeln,  woher  in  Hellas  der  Wind  weht, 
Noch  auch,  woraus  und  wozu  ein  jegliches  Ding  sich  entwickelt." 
„Dieses  aber,  o  Pyrrhon,  verlangt  mich  im  Herzen  zu  hören, 
Wie  du  es  wohl  vermagst,  so  leicht  und  ruhig  zu  leben, 
Einzig  unter  den  Menschen,  ein  Fürst  nach  der  Weise  der 

Götter." 

Einer  ernstlichen  Kritik,  geehrte  Zuhörer,  werden  wir  bei 
diesem  fragmentarischen  Zustande  unserer  Kenntnisse  die  skep- 
tische Lebensauffassung  kaum  unterziehen  können.  Ich  sagte 
Ihnen  schon:  daß  der  hellenische  Intellektualismus  nach  so  viel 
fehlgeschlagenen  Versuchen  sich  endlich  gegen  sich  selbst  kehrt, 
werden  wir  begreifen  und  nicht  bedauern;  und  daß  er  in  dieser 
selbstmörderischen  Stellung  verharrte,  statt  zum  Grundübel 
vorzudringen  und  eine  neue  Bahn  zu  eröffnen,  können  wir  ent- 
schuldigen, zugleich  aber  auch  verstehen,  daß  letztlich  die  Er- 
öffnung einer  solchen  neuen  Aussicht  nicht  lediglich  zu  beklagen 
ist,  wenn  sie  auch  nur  durch  einen  Bruch  mit  der  ganzen  an- 
tiken Tradition,  und  durch  ein  langdauerndes  Zurücktreten  des 
Selbsterlösungsgedankens  erkauft  werden  konnte.  Allein  den 
Rest  des  Weges,  den  die  Geschichte  dieses  Gedankens  bis  zu 
jener  Katastrophe  noch  zurückzulegen  hatte,  können  wir  erst 
nächstens  verfolgen.  Für  heute  muß  uns  die  Feststellung  ge- 
nügen, daß  Pyrrhon,  der  wahrscheinlich  auch  äußerlich  (durch 
den  Megariker  Bryson2)  mit  der  sokratischen  Tradition  zu- 
sammenhängt, jedenfalls  innerlich,  nach  dem  Geiste  seiner 
Lebensauffassung,  trotz  alles  Gegensatzes  der  theoretischen 
Ausgestaltung  an  der  sokratischen  Grundüberzeugung  Teil 
nimmt;  und  daß  sich  so  die  skeptische  Ethik  als  letztes  Glied 
jenen  Ausdrucksversuchen  für  das  Ideal  der  inneren  Freiheit 
anreiht,  die  wir  in  den  letzten  Vorlesungen  betrachtet  haben. 

i)  Diog.  Laert.  IX.  65.  2)  Diog.  Laert.  IX.  61. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  PHILO- 
SOPHISCHEN ETHIK  DER  GRIECHEN 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


Geehrte  Zuhörer! 


IR  haben  nunmehr  die  große  Bewegung,  die 
durch  den  mächtigen  Anstoß  des  Sokrates 
eingeleitet  wurde,  durch  ihre  verschieden- 
artigen Formen  und  Abschnitte  begleitet,  und 
sie  bis  zu  dem  ersten  Stillstande  verfolgt, 
der  eintreten  mußte,  als  die  Kraft  jenes  Im- 
pulses sich  erschöpft  hatte.  Es  ist  ein  Zeit- 
raum von  etwa  120  Jahren,  den  diese  Entwicklung  erfüllt;  denn 
so  weit  stehen  die  Jahre  420  und  300  voneinander  ab,  und  in 
jenem  dürfen  wir  uns  die  sokratische  Wirksamkeit  auf  ihrem 
Höhepunkt  denken,  in  diesem  aber  sind  auch  die  letzten  großen 
Systeme  der  Sokratiker  im  wesentlichen  abgeschlossen.  Es  ist 
dies  die  größte  philosophische  Fernwirkung,  die  (wenigstens 
im  Abendlande)  jemals  stattgefunden  hat.  Denn  um  mehr  als 
das  Doppelte  übertrifft  sie  die  beiden  analogen  Denkerreihen: 
Descartes  —  Leibniz  und  Kant  —  Hegel.  Und  wir  haben 
gesehen:  diese  ganze  Zeit  hindurch  steht  das  ethische  Empfinden 
und  Denken  der  griechischen  Philosophen  durchaus  im  Banne 
der  sokratischen  Persönlichkeit  und  Lehre:  die  innere  Freiheit 
bleibt  das  praktische  Ziel,  der  Intellektualismus  das  theoretische 
Mittel.  Aber  durch  dieses  Mittel  war  jener  Zweck  nie  völlig  zu 
erreichen:  allen  Versuchen,  den  Erlösungsprozeß,  welcher  in 
einer  Änderung  unseres  Wunschverhaltens  besteht,  in  Aus- 
drücken zu  formulieren,  die  vom  Urteilsverhalten  hergenommen 


268 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


sind,  mußte  notwendig  etwas  Unbefriedigendes  anhängen;  und 
so  hat  schließlich  die  Skepsis  das  Prinzip  selbst  ad  absurdum 
geführt,  und  aus  der  Voraussetzung,  das  Wissen  sei  der  Grund- 
wert, die  Folgerung  abgeleitet,  das  ideale  Ziel  sei  die  Unwissen- 
heit. 

Hatte  sich  aber  so  die  innere  Dialektik  der  Freiheitslehre 
vollendet,  so  führte  dies  doch  nicht  zum  Aufleben  neuer  Ver- 
suche, sondern  vielmehr  zur  Erstarrung  der  alten  Systeme.  Im 
Schatten  des  großen  und  ehrwürdigen  Baumes  sind  keine  neuen 
Sträucher  erwachsen;  aber  auch  aus  dem  verholzten  Stamme 
selbst  ist,  ein  halbes  Jahrtausend  lang,  kein  neues  Reis  erblüht. 
Die  sokratischen  Schulen  haben  sich,  vertrocknend  und  er- 
sterbend, jahrhundertelang  erhalten.  Aber  sie  haben  in  stei- 
gendem Maße  ihre  Widerstandskraft  verloren.  Sie  erinnern 
sich  ja:  von  Anfang  an  stand  die  philosophische  Ethik  der  in- 
neren Freiheit  mitten  inne  zwischen  der  patrizischen  Ethik  des 
Maßes  und  der  plebejischen  Ethik  der  Heiligkeit.  Aber,  indem 
sie  nun  morsch  und  bröcklig  wurde,  ging  sie  immer  sicherer 
ihrem  Schicksal  entgegen:  zwischen  den  beiden  volkstümlichen 
Lebensauffassungen  zerrieben  und  zerstäubt  zu  werden.  Dabei 
erscheint  in  dem  ersten  Vierteljahrtausend  die  aristokra- 
tische Oberströmung  als  die  bedrohlichere  Gefahr;  in  der 
zweiten  Hälfte  jenes  Zeitraums  aber  hat  die  fortschreitende 
Proletarisierung  gerade  die  demokratische  Unterströmung  zum 
Siege  geführt. 

Allein  die  Rückfälle  von  der  grundsätzlichen  Überwindung 
zur  bloßen  Beschränkung  und  gegenseitigen  Ausgleichung  der 
„niederen"  Interessen  haben  nicht  bis  zum  Jahre  300  auf  sich 
warten  lassen:  schon  unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Meisters 
sind  derartige  Bestrebungen  hervorgetreten,  und  haben  wäh- 
rend des  folgenden  Jahrhunderts  an  Zahl  wie  an  Bedeutung  zu- 
genommen. 

Xenophon,  ein  adeliger,  sportgewandter  und  bigotter  Kaval- 
lerieoffizier, der  im  übrigen  einer  gewissen  nüchternen  Ver- 
ständigkeit für  private  und  öffentliche  Angelegenheiten  nicht 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  269 


entbehrte,  hat  eine  ungewöhnliche  Kunst  der  Trivialisierung 
aufgeboten,  um  das  sokratische  Ideal  zu  einem  Kodex  prak- 
tischer Klugheitsregeln  für  Durchschnittsmenschen  seines 
Schlages  zurechtzuschneiden. 

Aber  auch  Piatons  nächster  Schülerkreis,  die  sogenannte 
ältere  („erste")  Akademie,  hat  es  nicht  vermocht,  das  Banner  des 
sokratisch-platonischen  Idealismus  hochzuhalten.  Während  auf 
der  einen  Seite  Eudoxos  sich  der  Lustlehre  zuneigte1,  machte 
auf  der  anderen  das  Gros  der  Schule  die  vollkommene  „Glück- 
seligkeit" neben  dem  Besitze  der  „Tugend"  auch  von  jenem  der 
„äußeren  Güter"  abhängig.  In  dieser  Beziehung  scheinen  die 
aufeinander  folgenden  Schulhäupter  Speusipp,  Xenokrates, 
Polemon  und  Krantor  eine  im  wesentlichen  übereinstim- 
mende Lehre  entwickelt  zu  haben.  Ihr  zufolge  besteht  das  ethi- 
sche „Ziel"  in  dem  Besitze  jener  natürlichen  Güter,  auf  die 
unsere  elementaren  Triebe  sich  richten2.  Und  obwohl  die 
Tugend,  als  die  richtige  Seelenverfassung,  das  wichtigste  dieser 
Güter  ist,  so  besteht  doch  nicht  allein  in  ihr  das  Ziel3;  denn 
auch  Gesundheit,  Lust  und  Reichtum4  sind  nicht  indifferent. 
Und  so  ergibt  sich  die  folgende  Rangordnung  der  Güter:  1.  Tu- 
gend, 2.  Gesundheit,  3.  Lust,  4.  Reichtum5.  Indem  nun  aber  die 
Akademiker  diese  ihre  Ansicht  mit  der  so  entschieden  entgegen- 
gesetzten platonischen  Überzeugung  in  Einklang  zu  setzen 
suchten,  verfielen  sie  auf  die  wunderlichsten  Auskünfte.  Sie 
meinten  bald:  die  Ursache  des  Glückes  sei  die  Tugend,  seine 
unerläßliche  Bedingung  aber  sei  der  Besitz  der  äußeren  Güter6; 
bald  gar:  die  Tugend  allein  bewirke  zwar  schon  eine  gewisse, 
aber  erst  das  Hinzutreten  der  äußeren  Güter  mache  aus  dieser 
eine  vollkommene  Glückseligkeit,  und  aus  dem  „glücklichen" 
ein  „glücklichstes"  Leben7. 

i)  Aristoteles,  Eth.  Nie.  X.  2,  p.  1172  b  9.  2)  ciem.  Alex.  Strom.  II.  133, 
p.  500;  Cicero,  Acad.  prior.  II.  42.  131  und  de  fin.  II.  11.  34.  3)  Cicero,  de 
fin.  IV.  18.  49.  4)  piut#j  de  comm.  not.  13,  p.  1065a.  5)  Sext.  Emp.,  adv. 
Math.  XI.  58.  6)  Clem.  Alex.  a.  a.  O.  ?)  Cicero,  Tusc.  V.  13.  39f.  und  18.  51; 
Seneca,  Ep.  85.  18 f. 


270 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


Ganz  im  Sinne  dieser  Bestimmungen  bewegt  sich  nun  auch 
die  Ethik  des  berühmtesten  Akademikers:  die  des  Aristoteles! 
Kein  Verständiger  wird  die  außerordentlichen  Verdienste  dieses 
großen  Denkers  verkennen;  allein  wir  müssen  uns  darüber  klar 
werden,  daß  dieselben  Eigenschaften,  die  in  so  vielen  anderen 
Hinsichten  seine  Bedeutung  begründen,  auch  die  höchst  emp- 
findlichen Schwächen  seiner  Ethik  veranlaßt  haben.  Denn 
unter  jenen  Eigenschaften  stehen  in  erster  Linie  die  Weite  und 
Feinheit  seiner  Beobachtung,  und  die  synthetische  Kraft  zu  der 
zusammenfassenden  Bearbeitung  und  Beschreibung  der  also 
beobachteten  Tatsachen.  Allein  dieser  systematisierende  Em- 
pirismus, dem  wir  die  Begründung  einer  wissenschaftlichen 
Logik,  Psychologie,  Poetik,  Politik,  Zoologie  und  (indirekt)  Bota- 
nik verdanken,  hat  schon  für  die  Metaphysik,  und  noch  mehr  für 
die  Ethik  schwere  Nachteile  mit  sich  gebracht.  Hinsichtlich  der 
Metaphysik  muß  ich  hier  nur  einen  Punkt  berühren.  Aus  Pia- 
tons, sowohl  der  Körper-  wie  der  Bewußtseinswelt  gegenüber 
transzendenten  „Ideen"  hat  Aristoteles  den  Dingen  immanente 
„Formen",  d.h.  Struktur-  oder  Organisationsprinzipien  gemacht. 
Dadurch  ist  er  nun  freilich  jenem  Motiv  der  Ideenlehre  gerecht 
geworden,  das  für  die  Ähnlichkeit  der,  gleichen  Gattungen  und 
Arten  untergeordneten  Einzeldinge  eine  Erklärung  geben  wollte; 
und,  soweit  dieses  Motiv  in  Frage  kommt,  bedeutet  seine  Um- 
bildung der  Lehre  ohne  Zweifel  einen  Fortschritt  auf  dem  Wege 
zur  Annäherung  an  die  Gegebenheiten  der  Erfahrung.  Allein 
schon  jene  zweite  Seite  der  platonischen  Lehre,  die  in  den  Ideen 
die  gemeinsamen  Gegenstände  aller  logisch  gleichwertigen  Ge- 
danken aufzeigen  wollte,  ist  hier  nicht  zu  ihrem  Rechte  ge- 
kommen, und  hat  den  Stagiriten  gezwungen,  als  Ersatzmittel 
eine  höchst  künstliche  und  unbestimmte  Theorie1  einzuführen. 
Was  aber  gar  die  dritte  Bedeutung  der  Ideen  angeht,  nämlich 
ihre  paradigmatische  Funktion  als  ideale  Musterbilder,  so 
fehlt  dem  Aristoteles  für  sie  jedwedes  Verständnis.  Denn, 
unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  heißt:  die  Ideen  den 


*)  Vom  sogenannten  No0<;  TrouyrtKo«;. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  271 


Dingen  immanent  sein  lassen,  nichts  anderes  als:  das  Ideal  in 
der  Erfahrung  suchen;  und  was  von  einem  solchen  Unternehmen 
die  notwendige  Folge  sein  muß,  können  Sie  sich  denken.  Da- 
mit will  ich  nicht  sagen,  daß  unser  Philosoph  irgend  einen  Tadel 
dafür  verdiene,  daß  er  in  seiner  „Nikomachischen  Ethik«  An- 
läufe zur  Begründung  einer  beschreibenden  Moralwissenschaft 
unternommen  hat.  Im  Gegenteil:  daß  eine  solche  Wissenschaft 
geschaffen  werde,  ist  auch  heute  noch  ein  Gegenstand  ebenso 
dringender  als  bisher  vergeblicher  Wünsche.  Allein  wenn  be- 
schreibende Moralwissenschaft  zugleich  vorschreibende  Ethik 
sein  will,  dann  werden  durch  solche  Verwirrung  ihrer  Aufgaben 
beide  Disziplinen  in  gleich  unheilvoller  Weise  in  ihren  tiefsten 
Lebensinteressen  geschädigt.  Denn  offenbar  ist  es  unmöglich, 
durch  die  Beschreibung  dessen,  was  ist,  zugleich  festzustellen, 
was  sein  soll.  Von  dieser  Grenzverwischung  aber  kann  Aristo- 
teles unmöglich  freigesprochen  werden. 

Seine  deskriptive  Ethik  nun  hat  für  uns  nur  ein  mittelbares 
Interesse.  Und  nur  soweit  dieses  in  Frage  kommt,  muß  ich  hier 
ihre  allgemeinsten  Grundgedanken  skizzieren.  Sie  bewegen 
sich  in  folgendem  Gedankengang.  Der  oberste  Zweck  eines 
jeden  Dinges  besteht  in  der  möglichst  vollkommenen  Ausübung 
der  ihm  eigentümlichen  Funktion1.  Nun  ist  der  Mensch  ein  mit 
Vernunft  begabtes  Lebewesen.  Seine  eigentümliche  Funktion 
ist  also  die  Betätigung  seiner  Vernunft2.  Die  Vernunft  kann 
sich  theoretisch  und  praktisch  betätigen;  aber  nur  tfie  letztere 
Betätigungsweise  kommt  für  die  Ethik  in  Betracht3.  Diese  be- 
steht aber  in  der  Beherrschung  der  nichtvernünftigen,  also  tie- 
rischen Natur4.  Das  Wesen  dieser  Beherrschung  ist  nun  weiter 
darin  zu  suchen,  daß  die  Vernunft  das  rechte  Maß  einhalten 
wird,  das  ist:  die  richtige  Mitte  zwischen  den  unvernünftigen 
Extremen5.  So  z.B.  ist  das  richtige  Verhalten  in  bezug  auf  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  (die  „Freigebigkeit")  ebenso  entfernt 

1)  Eth.  Nie.  I.  6,  p.  1097  b  25.  2)  Eth.  Nie.  I.  6,  p.  1098a  3;  X.  7,  p.  1178a  6. 
3)  Eth.  Nie.  I.  13,  p.  1103a  7.  4)  Eth.  Nie.  I.  13,  p.  1102b  23 ff.  5)  Eth.  Nie. 
II.  5,  p.  1106  b  8. 


272 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


vom  Geiz  wie  von  der  Verschwendung1.  Aber  diese  rechte 
Mitte  ist  nicht  ein  bloßer  Durchschnitt  zwischen  den  denkbar 
größten  Abweichungen  nach  beiden  Seiten;  denn  sie  kann  dem 
einen  Extrem  näher  stehen  als  dem  andern,  wie  z.B.  die  Frei- 
gebigkeit offenbar  dem  Geiz  mehr  entgegengesetzt  ist  als  der 
Verschwendung2.  Fragt  man  also  nach  dem  Kennzeichen  der 
rechten  Mitte,  so  muß  auf  das  Urteil  eines  verständigen,  d.  i. 
sittlich  gebildeten  Mannes  verwiesen  werden,  und  man  kann 
deshalb  die  Tugend  ihrem  allgemeinsten  Wesen  nach  dahin  be- 
stimmen, sie  sei  ein  mittleres  Handeln,  in  angemessener  Ent- 
fernung von  beiden  Extremen,  nach  dem  Urteile  eines  verstän- 
digen Mannes3. 

Hätten  wir  nun  diese  Lehre  an  und  für  sich  zu  würdigen,  so 
würde  es  freilich  nicht  schwer  halten,  auch  in  ihr  der  schwachen 
Punkte  genug  zu  finden.  Wir  müßten  dann  nicht  nur  auf  die 
große  Künstlichkeit  der  Theorie  von  der  rechten  Mitte  hin- 
weisen, der  sich  Tugenden  wie  Wahrhaftigkeit  und  Gerechtig- 
keit so  gar  nicht  fügen  wollen;  und  die  Erklärung  des  Philo- 
sophen, jene  sei  das  Mittlere  zwischen  Selbstverkleinerung  und 
Übertreibung4,  diese  aber  zwischen  Unrecht  tun  und  Unrecht 
leiden5,  möchte  uns  dann  schwerlich  als  mehr  erscheinen,  denn 
als  eine  witzige  Ausrede.  Sondern  wir  müßten  vor  allem  be- 
tonen,, daß  Maximen  wie  diese:  der  Mensch  soll  ganz  Mensch 
sein;  er  soll  sich  als  vernünftiges  Wesen  vernünftig  betragen; 
das  vernünftige  Betragen  besteht  in  jenem  Maßhalten  zwischen 
den  Extremen,  das  ein  vernünftiger  Mann  billigen  kann  —  doch 
gar  zu  deutlich  das  Gepräge  der  Tautologie  an  sich  tragen6; 
und  daß  eben  diese  rein  formale  Natur  der  aristotelischen  Moral- 
begriffe es  später  der  Scholastik  ermöglicht  hat,  diese  Form  mit 
einem  gänzlich  disparaten  Inhalte  zu  erfüllen,  ohne  an  den 
Worten  irgend  etwas  zu  ändern. 

i)  Eth.  Nie.  IV.  1,  p.  1119b  22.  2)  Eth.  Nie.  IV.  3,  p.  1121a  19.  3)  Eth.  Nie.  II. 
6,  p.  1106b  36.  4)  Eth.  Nie.  II.  7,  p.  1108a  19.  5)  Eth.  Nic.V.  9,  p.  1133b  29. 
6)  Vgl.  Eth.  Nie.  VI.  8,  p.  1144b  30:  „Nach  dem  Gesagten  ist  es  also  klar, 
daß  es  unmöglich  ist,  in  der  Hauptsache  gut  zu  sein  ohne  Einsicht,  und 
ebenso,  einsichtig  zu  sein  ohne  die  ethische  Tugend.* 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  273 


Allein  uns  interessiert  hier  ein  Anderes:  die  Frage  nämlich, 
woher  diese  Grundbegriffe  der  Moralphilosophie  stammen,  und 
durch  welche  Methode  sie  gewonnen  sind?  Und  da  ist  ohne 
weiteres  klar:  diese  Begriffe  sind  das  Kredo  der  allgemein  grie- 
chischen Ethik  des  Maßes,  und  sie  sind  abgezogen  von  den  Wert- 
urteilen jener  höfisch-patrizischen  Gesellschaft,  in  der  sich  der 
Philosoph  bewegt  hat.  Ebenso  klar  aber  ist  dann  auch,  welche 
Behandlung  dem  Ideal  der  inneren  Freiheit  bevorstehen  muß, 
( wenn  es  nach  dieser  Methode  untersucht  und  an  diesem  Maß- 
I  stabe  gemessen  werden  soll. 

In  der  Tat  rächt  sich  hier  auf  das  schwerste  jene  totale  empi- 
ristische Verkennung  des  Idealbegriffes,  von  der  ich  früher  ge- 
sprochen habe.  Wenn  Piaton  im  „Staate"  die  Frage  aufwirft, 
ob  der  Gerechte  auch  in  den  denkbar  schlimmsten  äußeren 
Umständen  glücklich  bleibe,  und  sie  mit  allem  Nachdrucke  be- 
jaht, so  meint  er  unter  dem  „Gerechten",  von  dem  dies  gilt, 
i  gewiß  weder  sich  selbst,  noch  irgendwelche  andere,  in  der  Er- 
fahrung anzutreffende  Menschen,  wie  sie  sind;  und  nicht  von 
I  ihnen  will  er  eine  so  zulängliche  Seelenverfassung  aussagen, 
sondern  vielmehr  von  dem  Menschen,  wie  er  sein  soll:  also 
von  dem  „Gerechten"  in  seiner  begrifflichen  Reinheit  und 
Strenge,  dem  paradigmatischen  Typus  des  gerechten  Mannes, 
dem  ethischen  Ideal!  Für  Aristoteles  aber  ist  der  Sinn  des 
Problems  völlig  verschoben.  Er  sieht  sich  unter  den  Menschen 
seines  Kreises  um,  die  für  „gut"  oder  „gerecht"  gelten,  beob- 
achtet ihr  Verhalten  in  schwierigen  Lagen,  achtet  auf  ihre  Wert- 
urteile, und  kann  auf  diesem  Wege  unmöglich  zu  einem  anderen 
Ziel  gelangen,  als  zu  einer  entschiedenen  Verneinung  der  pla- 
tonischen Frage.  „Diejenigen,"  sagt  er1,  „welche  den  Menschen 
für  glücklich  erklären,  auch  wenn  er  gefoltert  würde  und  den 
!  größten  Unglücksschlägen  anheimfiele,  sobald  er  nur  gut  sei 
! —  die  sagen,  bewußt  oder  unbewußt,  gar  nichts."  Denn 
;  Glück  ist  ja  vollendete  Tätigkeit.   Zu  deren  Ausübung  aber 
j  sind  viele  äußere  Hilfsmittel  erforderlich.  Und  zum  Glücke 

»)  Eth.  Nie.  VII.  14,  p.  1153  b  19. 

Gomperz,  Lebensauffassung  18 


274 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


bedarf  man  deshalb  sowohl  äußerer  Güter  als  auch  der  Gunst 
des  Schicksals1.  Ja,  man  kann  geradezu  definieren2:  „Glück- 
lich ist,  wer  der  Summe  seiner  Fähigkeiten  gemäß  wirkt,  und 
mit  äußeren  Gütern  hinreichend  ausgestattet  ist."  Fehlt  aber 
diese  Ausstattung,  dann  tritt  der  Fall  ein,  für  den  schon  die  an-  I 
deren  Akademiker  keine  eindeutige  Antwort  zu  geben  wagten; 
und  auch  unser  Ethiker  hat  es  nicht  über  eine  lahme  Halbheit 
hinaus  gebracht3:  „Elend  möchte  also  wohl  der  Glückliche  (und 
daher  auch  Tugendhafte,  denn  an  diesem  Bedingungsverhältnis 
hält  Aristoteles  fest)  nie  werden  können,  aber  doch  auch  wird 
er  nicht  glückselig  bleiben,  wenn  ihn  die  Schicksale  des  Priamos 
träfen."  So  setzt  also  der  „Empiriker"  zunächst  an  die  Stelle 
des  Idealmenschen  den  Durchschnittsmenschen;  und  da  dieser 
Durchschnittsmensch  für  den  geschichtlichen  und  gesellschaft- 
lichen Standpunkt  des  Stagiriten  ein  vornehmer  Grieche  ist,  so 
verdrängt  infolgedessen  dann  auch  die  aristokratische  Ethik  des 
Maßes  das  philosophische  Ideal  der  inneren  Freiheit4. 

i)  A.  a.  O.  Z.  17.  2)  Eth.  Nie.  I.  11,  p.  1101a  14.  3)  a.  a.  O.  Z.  6.  *)  Ich 
setze  mich  hier  natürlich  dem  Vorwurf  aus,  die  peripatetischen  Ein- 
schränkungen des  Freiheitsideals  anders  zu  beurteilen  als  bei  früherer 
Gelegenheit  die  kyrenaischen.  Allein,  wer  den  Geist  beider  Erscheinungen 
erfaßt  hat,  wird  mich  deswegen  gewiß  nicht  der  Willkür  beschuldigen. 
Es  ist  doch  sicherlich  etwas  ganz  anderes,  ob  Ar is tipp,  mit  ungeheurer 
Kraft  das  Leben  zu  bezwingen  strebend,  hie  und  da  seine  Kraft  versagen 
fühlt,  und  nun  dies  nicht  als  seine  Unvollkommenheit,  sondern  als  eine 
Grenze  des  Erreichbaren  überhaupt  ausspricht;  oder  ob  Aristoteles  kühl 
die  Beobachtung  registriert,  daß  der  gebildete  Durchschnittsgrieche  sich 
in  schweren  Lagen  nicht  glücklich  zu  fühlen  pflegt,  und  auf  Grund  dieser 
Feststellung  das  Freiheitsideal  fast  höhnisch  für  nichtssagend  erklärt. 
Dafür  aber,  daß  Aristoteles  in  der  Tat  infolge  seiner  beschreibenden 
Behandlung  des  Sittlichen  über  die  gemeingriechischen  Anschauungen 
kaum  hinausgekommen  ist,  besitzen  wir  ein  merkwürdiges  Zeugnis  in 
einem  Chorgesange,  denAischylos  mehr  als  100  Jahre  vor  der  Zeit  des 
Stagiriten  seinen  Eumeniden  in  den  Mund  gelegt  hat,  und  der  doch  ge- 
rade die  beiden  entscheidenden  Punkte  der  aristotelischen,  und  (wie  schon 
einmal  erwähnt)  auch  das  traditionelle  Moment  der  platonischen  Lehre 
enthält.  Die  Stelle  ist  auch  sonst  von  Interesse  für  uns,  weil  sie  in 
eigentümlicher  Weise  Elemente  aus  dem  Gedankenkreise  der  Harmonie 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  275 


Dieses  Vorgehen  ist  aber  um  so  strenger  zu  beurteilen,  als 
sich  unschwer  zeigen  läßt,  daß  das  Ideal  des  Maßes  gar  nicht 
das  des  Aristoteles  selbst  ist;  daß  vielmehr  seine  Persönlich- 
keitganz selbständig  zu  einer  durchaus  andern  Lebensauffassung 
hinstrebt,  und  zwar  zu  einer  solchen,  die  gleichfalls  den  Ge- 

mit  solchen  aus  dem  der  Heiligkeit  vereinigt.   (Die  Bestimmung,  in  der 
sich  beide  begegnen,  ist  die  Verpönung  der  tfßpi«;,  das  ist  eigentlich:  der 
!  Überhebung.  Denn  diese  stellt  sich  auf  der  einen  Seite  als  Maßlosigkeit 
j —  und  so  haben  wir  hier  übersetzt  — ,  als  Störung  der  inneren  Propor- 
tioniertheit des  Individuums  dar,  auf  der  anderen  aber  als  Aufhebung 
|  gegen  die  ihm  gesetzten  Schranken,  als  ein  Verrücken  seiner  Stellung  zu 
Göttern  und  Menschen.  Wenn  daher  irgend  ein  Begriff  für  das  sittliche 
Bewußtsein  des  ganzen  griechischen  Volkes  charakteristisch  ist,  so  ist 
es  dieser.)   Ich  versuche  deshalb,  diese  Strophen  (Eum.  v.  512)  hier  im 
Zusammenhang  wiederzugeben,  und  hebe  jene  Stellen,  die  platonische 
und  aristotelische  Lehren  antizipieren,  durch  den  Druck  hervor.  Der  Ge- 
sang lautet  so: 

„Auch  die  Furcht  hat  ihren  Ort, 
Und  im  tiefsten  Herzen  soll 
Thronen  sie  als  Seelenwacht. 
Glücklich,  wer     notgedrungen  sich  beherrscht. 
Nur  im  Schein  des  Lichtes  kann 
Wachsen  ein  gerechtes  Herz: 
Ehrfurcht  vor  dem  Rechte  fehlt 
Sonst  dem  Manne  wie  der  Stadt. 

Weder  gänzlich  unbeschränkt 
Lebe,  noch  gebunden  ganz: 
Gott  verleiht 

Stets  dem  Mittleren  Kraft,  wie  immer  er  sonst  auch 
Jegliches  lenke. 
Hör'  ein  angemessnes  Wort: 

Jegliches  ,Maßlos'  ist  von  einem  ,Gottlos'  erzeugt; 
Aus  der  Gesundheit 
Der  Seele  stammt  —  allerwünscht, 
Vielfach  erfleht  —  der  Segen. 

Und  so  sag'  ich,  kurz  und  gut: 
Scheue  den  Altar  des  Rechts! 
Tritt  ihn  nicht 

Nieder  mit  gottlosem  Fuß  um  Gewinn!    Denn  in  Bälde 
Folget  die  Strafe, 

Und  der  Ausgang  ist's,  der  bleibt. 
Darum  scheue  der  Eltern  heiliges  Haupt 
Sorglichen  Sinns;  und 
In  deinem  Haus     ehre  stets 
Würdiger  Fremder  Einkehr. 

18* 


276 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


danken  der  inneren  Freiheit  zugrunde  legen,  und  ihn  durch 
eine  besondere  Stimmungsnuance  und  eine  eigentümliche  be- 
griffliche Fassung  ausgestalten  würde.  Steht  es  aber  so,  dann 
dürfen  wir  nicht  zweifeln,  daß  hier  in  der  Tat  ein  übel  ver- 
standener und  angewandter  Empirismus  dazu  geführt  hat,  die 
Schwungkraft  persönlicher  Forderungen  unter  dem  Gewichte 
äußerlicher  Tatsachen  zu  brechen. 

Wie  es  nämlich  seiner  Gelehrtennatur  entsprach,  schwebte 
dem  Aristoteles  im  Grunde  ein  Ideal  der  reinen  Kontempla- 
tion vor.  Das  stille  Leben  des  Denkers,  die  „Betrachtung"1  ist 
ihm  von  allen  Tätigkeiten  „die  lustvollste  und  beste"2.  Zugleich 
aber  bedarf  dieses  rein  theoretische  Denken  nicht  jener  äußeren, 
vermittelnden  Werkzeuge,  die  das  praktische  Wirken  allerdings 
nicht  entbehren  kann,  ja  es  wird  durch  solche  Äußerlichkeiten 
eher  behindert3.  Diese  Art  der  „Vernünftigkeit"  ist  deshalb 
„selbstgenügsam",  und  erscheint  ihm  auf  den  ersten  Blick  als 
die  vollkommene  Glückseligkeit  des  Menschen4. 

Diese  Ansätze  sind  deutlich  genug,  und  sie  zum  Entwürfe  eines 
ethischen  Systems  zu  entwickeln,  erfordert  keine  aristotelischen 
Fähigkeiten.  Ethischer  Wert  und  vollkommenes  Glück,  müßte 
man  etwa  sagen,  wachsenin  dem  Maße,  als  im  Menschen  das  prak 

Dem,  der  von  selbst     ohne  Zwang  das  Rechte  tut, 
Fehlt  es  nicht  an  Segen, 

Und  ganz  und  gar     elend  wird  er  niemals. 
Dagegen,  wer     Frevel,  übertretend,  wagt, 
Wirft  Alles,  was  mit  Unrecht  er  zusammgerafft, 
Selbst  über  Bord  noch  notgedrungen, 
Bricht  erst  das  Unheil  seinen  Mast 
Einst,  und  erfaßt  sein  Segel. 

Und  ruft  er  dann  —  niemand  hört  ihn  mitten  im 
Fürchterlichen  Wirbel. 
Gott  aber  lacht     über  den  Verwegnen, 
Der  unverhofft     hilflos  im  Verderben  schwimmt, 
Und,  bald  erschöpft,  die  Welle  nicht  mehr  überragt: 
Der  einst  Glücksel'ge  sinkt,  nun  da  der 
Sturm  an  den  Fels  des  Rechts  ihn  warf, 
Unbeweint  und  vergessen." 

i)  0ewp{a.   2)  Metaph.  XII.  7,  p.  1072b  24.  3)  Eth.  Nie.  X.  8,  p.  1178b 
4)  Eth.  Nie.  X.  7,  p.  1177  b  16. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  277 


tische  Interesse  vor  dem  theoretischen,  und  die  Lust  des  Erfolges 
j  vor  der  Freude  der  Erkenntnis  zurücktritt,  und  als  er  eben  dadurch 
stets  mehr  und  mehr  der  völligen  inneren  Unabhängigkeit  und 
Freiheit  von  allem  Äußeren  sich  annähert.  —  Eine  auf  dieses 
i  Prinzip  gegründete  Lebensauffassung  —  Sie  erinnern  sich  viel- 
S  leicht,  daß  sie  schon  bei  Anaxagoras  vorgebildet  gewesen  zu 
sein  scheint  —  wäre  ohne  Zweifel  nicht  für  alle  Naturen  gültig; 
\  aber  sie  wäre  der  Persönlichkeit  ihres  Urhebers  angemessen, 
j  sie  würde  die  innere  Freiheit  wahren,  und  vor  allem  eine  Seite 
j  dieses  Ideals  herausstellen,  die  in  den  anderen  Systemen  einiger- 
|  !  maßen  zurückgetreten  ist.  Denn  sowenig  wir  im  allgemeinen 
]  behaupten  können,  daß  Gelehrte  in  der  Regel  bessere,  größere 
;  oder  glücklichere  Menschen  seien  als  andere  Sterbliche  —  doch 
i  bleibt  es  ewig  wahr,  daß  die  Denktätigkeit  eine  jener  schöpfe- 
I  rischen  Produktivitäten  ist,  die  einen  Kraftüberschuß  entladen 
können;  daß  deshalb  die  Lust  dieser  Betätigung,  wenn  sie  rein 
und  unvermischt  mit  fremden  Motiven  ist,  zur  inneren  Freudig- 
keit und  nicht  zum  äußeren  Genuß  gehört;  daß,  wenn  schon 
l  jede  Erweiterung  des  Interesses  den  Menschen  über  die  Wen- 
;  düngen  seines  individuellen  Schicksals  erhebt  und  ihn  von  dem 
äußeren  Geschehen  emanzipiert,  dies  um  so  mehr  gelten  muß, 
wenn  er  sich  durch  sein  Interesse  mit  den  zeitlosen  und  unver- 
gänglichen logischen  Werten,  den  Begriffen,  Wahrheiten  und 
Beweisen  identifiziert;  und  daß  deshalb  die  reine  Kontempla- 
tion eine  jener  allgemein  menschlichen  Formen  ist,  in  der  das 
Ideal  der  inneren  Freiheit  sich  darstellen  und  annähernd  ver- 
wirklichen kann.  In  der  Tat  ist  ja  ganz  unverkennbar,  daß  dieses 
Prinzip  auch  für  die  Lebensstimmung  der  griechischen  Philo- 
sophen eine  außerordentlicheBedeutung  besessen  hat.  Sokrates 
hätte  nie  die  praktische  Stellungnahme  zu  den  Dingen  in  solcher 
Weise  abstreifen  und  überwinden  können,  wenn  ihm  nicht  der 
\  Affekt  und  das  Pathos  der  Theorie  Ersatz  geboten  hätte.  Für 
Pia  ton  hat  sich  die  schwungvolle  Begeisterung  in  erster  Linie 
an  die  Vernunfttätigkeit  geknüpft.  Aber  auch  in  dem  persön- 
lichen Geistesleben  aller  anderen  Philosophen,  die  wir  kennen 


278 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


gelernt,  spielt  ohne  Zweifel,  eben  weil  sie  Denker  sind,  dieses 
Moment  eine  erste  Rolle.  Ja,  in  gewissem  Sinne  kann  man  sagen, 
jener  ganze  Intellektualismus,  der,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
Lehren  dieser  Männer  beherrscht  und  durchdringt,  sei  nur 
eine  Spiegelung  der  Bedeutung,  die  der  Intellekt  für  ihr  Leben 
besessen;  das  Ideal  der  inneren  Freiheit  als  Inhalt  philo- 
sophischer Überzeugungen  nur  ein  Zeugnis  für  die  Gefühle 
der  Erhebung  und  Befreiung,  die  das  vorwiegend  theoretische 
Verhalten  bei  seinem  Neueintritte  in  die  abendländische  Kultur- 
welt in  seinen  Trägern  gewirkt  hat.  Und  die  Ethik  des  Aristo^ 
teles  stünde  zum  mindesten  gleichwertig  neben  ihren  Schwe- 
stern, wenn  sie  diese  Richtung  des  griechischen  Empfindens  mit 
Entschiedenheit  ausgesprochen  hätte. 

Aber  der  Blick  des  Stagiriten  ruhte  (wunderbar  genug  bei 
einem  so  langjährigen  Mitgliede  der  Akademie!)  unverwandt 
auf  den  Werturteilen  seiner  nicht-philosophierenden  Zeit- 
genossen. Die  Tapferkeit  des  wackeren  Offiziers,  die  Besonnen- 
heit des  umsichtigen  Bürgers,  die  Freigebigkeit  und  Großherzig- 
keit des  vornehmen  Mannes  —  diese  und  verwandte  „Tugen- 
den" bildeten  den  Inhalt  der  für  ihn  maßgebenden  moralischen 
Erfahrung.  Und  diesen  durchaus  praktischen  Vortrefflichkeiten 
gegenüber  den  Herrschaftsanspruch  der  reinen  Theorie  vertreten 
—  dies  hätte  für  ihn  bedeutet:  der  Erfahrung  eine  Forde- 
rung gegenüberstellen!  Dazu  aber  fehlte  ihm  der  Mut.  Nach- 
dem er  deshalb  bemerkt  hat,  das  theoretische  Leben  erscheine 
auf  den  ersten  Blick  als  die  eigentümliche  Glückseligkeit  des 
Menschen,  bläst  er  alsbald  zum  Rückzug  in  den  folgenden,  wahr- 
haft kläglichen  Sätzen1.  „Aber  ein  solches  Leben  wäre  wohl 
schöner  als  einem  Menschen  zukommt.  Denn  so  wird  er  nicht 
leben,  insofern  er  ein  Mensch  ist,  sondern  insofern  etwas  Gött- 
liches in  ihm  ist",  nämlich  die  Vernunft.  Und  so  könne  denn 
diese  Vollkommenheit  und  dieses  Glück  nur  Gott  zugeschrieben 
werden.  Die  empiristische  Zwangsvorstellung,  ein  Typus  habe 
in  der  Wissenschaft  nur  dann  Daseinsrecht,  wenn  auch  ein  Ob- 


i)  Eth.  Nie.  X.7,  p.  1177  b  26. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  279 


jekt  angegeben  werden  kann,  von  dem  er  sich  beschreibend 
aussagen  läßt,  führt  also  hier  schließlich  dazu,  daß  Aristoteles 
|  seinem  hypothetischen  Gott  jenen  Zustand  der  selbstgenüg- 
samen, innerlich  freien  Beschaulichkeit  als  tatsächliche 
Eigenschaft  beilegt,  den  er  sich  für  die  realen  Menschen 
i  zum  Gegenstand  einer  idealen  Forderung  zu  machen  nicht 
|  getraut.  Für  diese  aber  bleibt  die  Ethik  des  tätigen  Lebens  in 
I  Kraft,  mit  ihrer  Forderung  harmonischer  Ausgleichung  und  ver- 
I  nünftiger  Vermittlung  der  praktischen  Interessen,  und  mit  ihrer 
|  Konsequenz  eines  subsidiären  Eigenwertes  der  äußeren  Güter. 

Auch  die  von  Aristoteles  begründete  peripatetische  Schule 
i  hat,  so  viel  wir  wissen,  im  ganzen  an  diesen  Lehren  des  Stifters 
j  festgehalten,  und  sein  bedeutendster  Schüler  Theoph rast  hat1 
j  die  aristotelische  Schätzung  der  äußeren  Güter  eher  gesteigert 
als  vermindert.  Und  nachdem  die  Skepsis  durch  Arkesilaos 
von  der  platonischen  Akademie  Besitz  ergriffen  hatte,  stand  der 
Peripatos  lange  Zeit  allein  den  sokratischen  Schulen  gegenüber, 
!  die,  trotz  aller  Uneinigkeit  im  einzelnen,  doch  an  dem  Freiheits- 
axiom übereinstimmend  festhielten.  Als  aber  die  Skepsis  nach 
200 jähriger  Herrschaft  zunächst  durch  Philo n  von  Larissa, 
j  und  dann  endgültig  durch  Antiochos  von  Askalon  aus  der 
Akademie  vertrieben  wurde,  da  schloß  sich  diese  jüngere 
j  („fünfte")  Akademie  in  der  Ethik  den  altakademischen  und  peri- 
patetischen  Grundsätzen  wieder  an.  Ganz  im  Sinne  dieser  Prin- 
zipien forderte  auch  Antiochos2  ein  Leben  gemäß  der  voll- 
kommen entwickelten  menschlichen  Natur,  schrieb  den  äußeren 
Gütern  Eigenwert  zu3,  und  ließ  nur  ein  auch  mit  ihnen  ausge- 
stattetes Leben  als  das  „glücklichste"  gelten4.  Überhaupt  wird 
dies  die  charakteristische  ethische  Doktrin  der  sogenannten 
„Eklektiker";  und  so  wird  sie  denn  auch  dem  angeblich  ersten 
„Eklektiker"  aus  Grundsatz,  dem  Potamon  nämlich,  ausdrück- 
lich beigelegt5.  Zwischen  ihr  und  der  stoischen  Lehre  schwankt 

*)  Cicero,  Tusc.  V.  9.  24 f.  2)  Cicero,  de  fin.  V.  9.  26.  3)  Cicero,  de  fin.  V. 
17.  47  und  23.  68.  4)  Cicero,  Acad.  post.  I.  6.  22.  Diog.  Laert. 
Prooem.  21. 


280 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


denn  auch  Cicero  haltlos  in  seinen  ethischen  Schriften1;  und 
ebenso  hat  sie  sich  Varro  mit  Entschiedenheit  angeeignet2.  Ja, 
bei  der  weiten  Verbreitung  dieser  Ansicht  in  jener  Zeit,  ist 
nicht  einmal  die  neulich  erwähnte  Nachricht3  ganz  unglaublich, 
daß  auch  der  Stoiker  Poseidonios  äußere  Dinge  für  wahre 
Güter  erklärt  habe. 

Sind  nun  dies  die  für  unseren  Gesichtspunkt  wichtigsten  Züge 
der  Entwicklung,  die  sich  etwa  in  der  Zeit  von  300  bis  50  v.  Chr. 
vollzogen  hat,  so  bieten  die  folgenden  Jahrhunderte,  etwa  der 
Zeitraum  von  50  v.  Chr.  bis  200  n.  Chr.,  ein  durchaus  geändertes 
Bild.  Drei  verschiedene  Ansichten  desselben  kommen  für  uns 
in  Betracht. 

Zunächst  tritt  im  sogenannten  Neupythagoreismus  die  alte  or- 
phische  Lebensauffassung  in  ihrer  wenigst  anziehenden  Gestalt 
an  die  Oberfläche.  Die  Folgen  der  Demokratisierung  machen 
sich  spät,  aber  entschieden  geltend:  alles,  was  von  Aberglauben 
und  innerer  Unfreiheit  am  Boden  der  griechischen  Gesellschaft 
gelegen  hatte,  treibt  in  die  Höhe.  In  jedem  Sinne  ein  moralischer 
Sklavenaufstand.  Auf  der  einen  Seite  preist  man  Pflanzenkost, 
Leinenwäsche,  Weinenthaltung,  allerhand  Waschungen  und  Rei- 
nigungen an4,  undaufderanderen  legtman  dem  alten  Pythagoreer 
Archy  tas  die  denkwürdige  Sentenz5  in  den  Mund:  auch  der  Tu- 
gendhafte sei  im  Mißgeschick  unglücklich,  bei  günstigem  Schick- 
sal dagegen  glückselig,  und  in  dem  mittleren  Zustand  wenigstens 
nicht  glücklich.  Man  muß  wohl  bis  zu  gewissen  „aufgeklärten" 
Popularphilosophen  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  herabgehen, 
um  wieder  einen  so  krassen  Ausdruck  der  innerlich  knechtischen 
Gesinnung  (derTycholatrie)  zu  finden.  Aber  freilich:  die  Super- 
stition hat,  unter  dem  Einflüsse  der  bis  dahin  herrschenden  Phi- 
losophie, auch  andere,  weniger  abstoßende  Formen  angenommen. 
Dies  zeigt  sich  insbesondere  in  den  ethischen  Schriften  des 
Plutarch  von  Chäronea6,  der  die  neupythagoreische  Richtung 

i)  Z.  B.  Tusc.  V.  1.  3.  2)  Augustinus,  de  civ.  Dei  XIX.  2.  3)  Diog.  Laert. 
VII.  103.  4)  Diog.  Laert.  VIII.  34  und  sonst.  5)  stob.  Floril.  1.  76  (Meineke). 
®)  Des  Verfassers  der  berühmten  „Parallelbiographien". 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  281 


mit  dem  Piatonismus  zu  vermitteln  sucht.  Dieser  gelehrte, 
wohlwollende  und  liebenswürdige,  aber  in  viel  phantastischem 
Aberglauben  befangene  Mann,  dem  die  Begriffe  einer  bösen 
Weltseele1,  böser  Dämonen  und  ihres  Sündenfalles2,  ekstati- 
scher Gotteserkenntnis3,,  und  ganz  eigentlicher  sittlicher  Askese4 
nicht  fremd  sind,  kann  sich  auch  in  keiner  Weise  entschließen, 
den  Selbstwert  der  äußeren  Güter  preiszugeben5.  Aber  anderer- 
seits möchte  er  doch  auch  wieder  alles  Übel  auf  unsere  Unfähig- 
keit zurückführen,  uns  darüber  zu  erheben6.  Und  diesem  seinem 
Schwanken  hat  er  schließlich  durch  eine  gelungene  scherzhafte 
Wendung  einen  versöhnenden  Abschluß  gegeben.  Müde  näm- 
lich der  alten  Streitfrage,  ob  „die  Tugend  ausreichend  sei  zum 
Glück",  warf  er  vielmehr  die  andere  Frage  auf,  ob  „die  Schlech- 
tigkeit ausreichend  sei  zum  Unglück",  und  diese  wenigstens  hat 
er  sich  vorbehaltlos  zu  bejahen  getraut7. 

Zweitens  aberfindet  nun  ein  starkesEinströmen  orientalischer 
Einflüsse  statt.  Ägyptische, syrische,  kleinasiatischeKulte  breiten 
sich  aus.  Von  indischen,  äthiopischen,  jüdischen  Asketen  ist  die 
Rede.  Die  Vorstellungen  von  Jenseits,  Sündhaftigkeit,  Reinigung, 
Vergottung,  Ekstase  finden  auch  von  hier  aus  neue  Nahrung. 
Schon  bei  dem  Juden  Philon  von  Alexandrien8,  der  seine 
gründliche  Kenntnis  der  hellenischen,  besonders  der  stoischen 
und  platonischen  Philosophie  dazu  verwandte,  um  das  Alte 
Testament  mehr  oder  weniger  gewaltsam  im  Sinne  dieser  Lehren 
zu  interpretieren,  erscheinen  diese  Gedanken  weit  fortgeschrit- 
ten. In  doppelter  Weise  überschreitet  er  die  Schranken  der  klas- 
sischen hellenischen  Spekulation.  Er  bricht  den  Bann  des  In- 
tellektualismus; aber  er  bricht  ihn  zu  gunsten  nicht  des  „natür- 
lichen" Fühlens  und  Wollens,  sondern  der  „übernatürlichen" 
Erkenntnis:  die  volle  Erkenntnis  Gottes  kommt  nach  ihm9  zu- 

l)  De  Isid.  45 f.,  p.369d  ff.  2)  De  Isid.  25,  p.  360d  und  sonst.  3)  De  pyth. 
orac.  21,  p.404e  ff;  defect.  orac.  39,  p.431  e  ff.  4)  De  gen.  Socr.  15,  p.  584  c  ff ; 
de  coh.  ira  16,  p.  464b  ff.  5)  De  comm.  not.  4,  p.  1060ff.  und  passim;  de 
Sto.  repp.  31,  p.  1048c  ff.  6)  De  exil.  4,  p.  600 d.  7)  utr.  vit.  suff.  ad  infel.  5, 
p.  499  ff.  8)  Um  die  Mitte  des  ersten  Jahrhunderts  n.Chr.  9)  Quis  rer.  div.  haer. 
14.68(Wendland),p.482(Mangey);  demigr.Abr.34. 190(Cohn),  p.466(Mangey). 


282 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


stände,  nicht  durch  das  vernünftige  Denken,  sondern  allein 
durch  jene,  über  alles  natürliche  Begreifen  hinausliegende  pro- 
phetische Ekstase  und  göttliche  Inspiration,  die  ihm  den  Höhe- 
punkt aller  Vollkommenheit  bedeutet.  Damit  tritt  die  Mystik  in 
das  griechische  Denken  ein.  Allein  Sie  täten  Unrecht,  sowohl, 
wenn  Sie  durch  dieses  Wort  an  und  für  sich  sich  erschrecken 
ließen,  als  auch,  wenn  Sie  dieser  Wendung  eine  vorzügliche  Be- 
deutsamkeit für  unseren  ethischen  Gesichtspunkt  beilegten. 
Denn  das  vorurteilslose  Studium  zeitgenössischer  wie  geschicht- 
licher Erscheinungen  zeigt  uns  immer  deutlicher:  mystische  Er- 
fahrungen sind  Erfahrungen,  nicht  besser  und  nicht  schlechter 
als  alle  andern.  Auch  bei  ihnen  kommt  es  für  den  intellektuellen, 
moralischen  und  ethischen  Wert  der  Persönlichkeit  vor  allem 
darauf  an,  was  sie  aus  ihnen  zu  machen  weiß:  es  gibt  weise  und 
törichte,  gütige  und  engherzige,  freie  und  unfreie  Menschen 
unter  Mystikern  ebenso  wie  unter  Nichtmystikern.  Was  ihnen 
allengemeinsam  ist,  ist  lediglich  eineziemlich  eng  umschriebene, 
in  ihrer  Eigenart  scharf  ausgeprägte  Klasse  von  inneren  Erleb- 
nissen gefühlsmäßiger  Art,  die  einander  schlagend  gleichen,  ob 
sie  nun  ein  brahmanischer  Asket,  ein  griechischer  Philosoph, 
ein  mittelalterlicher  Katholik  oder  ein  amerikanischer  Prote- 
stant erfahren  möge.  Diese  mystischen  Gefühlserlebnisse  be- 
dingen aber  ebensowenig  wie  bestimmte  praktische  Folgerungen 
auch  bestimmte  theoretische  Ausdeutungen:  sie  können  mit  athe- 
istischen Überzeugungen  fast  ebensowohl  zusammenbestehen 
wie  mit  monotheistischen, und  mit  derTranszendentalphilosophie 
stimmen  sie  kaum  schlechter  überein  als  mit  dem  Pantheismus1. 
Ebenso  aber  steht  es,  wie  ich  schon  sagte,  auch  in  ethischer 
Beziehung:  nicht  der  Inhalt  des  mystischen  Erlebnisses  be- 
stimmt den  sittlichen  Wert  des  Mystikers,  sondern  die  Persön- 
lichkeit des  Mystikers  bestimmt  den  sittlichen  Wert  des  mysti- 
schen Erlebnisses.  Höchstens  kann  man  ganz  im  allgemeinen 

l)  Über  die  Eigenart  der  mystischen  Erfahrung,  sowie  über  die  Richtung, 
in  der  sie  immerhin  das  jeweilige  Weltbild  des  einzelnen  Mystikers  zu 
modifizieren  tendiert,  handelt  der  Anhang  am  Schlüsse  dieses  Buches. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  283 


sagen,  daß,  ähnlich  wie  das  Vorherrschen  starker  theoretischer 
Interessen,  auch  dasjenige  intensiver  mystischer  Erregungen 
J  eine  Tendenz  hat,  einen  Mehrwert  der  inneren  Erlebnisse  gegen- 
über den  äußeren  Schicksalen  zu  begründen,  und  so  der  Er- 
lösungslehre im  günstigen  Sinne  vorzuarbeiten  (obwohl  die 
eine  Vormeinung  im  einzelnen  Falle  fast  ebenso  oft  enttäuscht 
werden  mag  wie  die  andere).  Welche  Gestalt  die  Erlösungs- 
lehre aber  annimmt,  das  wird  in  beiden  Fällen  abhängen:  einmal 
!  von  dem  überlieferten  Vorstellungsbesitz,  sodann  von  der  indi- 
!  viduellen  Lebensstimmung,  und  endlich  von  dem  Maße  der  per- 
i  sönlichen  Kraft.  So  werden  wir  also  auch  bei  Phi Ion  das  ent- 
scheidende Gewicht  nicht  legen  dürfen  auf  das  Vorkommen 
mystischer  Zustände,  sondern  wir  werden  seine  Lebensauf- 
1  fassung  beurteilen  müssen  nach  ihrem  Inhalt.  Aber  auch  hier 
zeigt  sich  nun,  neben  aller  Anlehnung  an  die  traditionelle 
Denkweise  der  griechischen  Philosophie,  ein  grundsätzlich 
neuer  und  fremder  Zug;  und  dieser  ist  für  uns  viel  bedeutsamer 
als  der  eben  besprochene.  Die  Sorge  um  das  jenseitige  Ge- 
!  schick  der  Seele  zum  Beispiel  hatte  auch  schon  Pia  ton  recht 
lebhaft  beschäftigt.  Und  es  möchte  deshalb  hingehen,  wenn 
auch  bei  Philon  dieser  Gedankenkreis  eine  große  Rolle  spielt, 
und  wenn  er  lehrt1,  die  schlechte  Seele  verfalle  der  Seelen- 
wanderung, die  gute  aber,  die  den  Leib  „als  Kerker  und  Grab" 
erkannt  hat,  „erhebe  sich  auf  leichten  Schwingen  zum  Äther". 
Aber  nun  wird  hinzugefügt2:  es  sei  unmöglich,  aus  eigener  Kraft 
dieses  glückliche  Los  zu  erlangen;  „denn  auch  der  Vollkom- 
mene entflieht  nicht  der  Sünde".  Ebenso  vertritt  Philon  mit 
Eifer,  und  in  einer  eigenen  Schrift3  den  sokratischen  Grund- 
gedanken, „daß  jeder  Rechtschaffene  frei  sei",  und  führt  den 
Satz,  „daß  nur  die  Sittlichkeit  ein  Gut  sei",  sogar  auf  die  biblische 
Rebekka  zurück4;  setzt  aber  alsbald  hinzu5,  daß  wir  uns  diese 

!)  De  somn.  1. 22. 139  (Wendland),  p. 642  (Mangey).  2)  De  anim.  sacr.  14,  p.249 
(Mangey).  3)  QUod  omnis  probus  über  3—5,  p.  448  ff  (Mangey).  *)  De  post. 
Caini  39.  133  (Cohn),  p.  251  (Mangey).  5)  De  legg.  alleg.  I.  15.  48  (Cohn), 
p.  53  (Mangey);  III.  77.  219  (Cohn),  p.  131  (Mangey). 


284 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


Tugend  nicht  selbst  auf  natürlichem  Wege  erwerben  können, 
sondern  daß  nur  Gott  allein  sie  uns  einzupflanzen  vermag.  Und 
auch  wo  er,  im  engsten  Anschluß  an  die  griechische  Freiheits- 
doktrin,Moses  dieLehre  zuschreibt,  „Spiel  undLachen"  sei  „das 
Ziel  der  Weisheit",  und  vom  „göttlichen  Spiele"  redet,  bemerkt 
er  doch6,  diese  Heiterkeit,  welche  die  Vollendung  der  ethischen 
Vollkommenheit  bedeutet,  könne  uns  nur,  wie  einst  dem  Patri- 
archen Isaak,  von  Gott  als  Geschenk  gegeben  werden.  Dies 
aber  bedeutet  wirklich  eine  epochale  Wendung  des  griechischen 
Denkens:  die  Kluft  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  nämlich, 
welche  die  profane  Philosophie  nicht  überbrücken  konnte,  wird 
hier  durch  das  Eingreifen  einer  höheren  Macht  geschlossen. 
Damit  aber  wird  die  Selbsterlösung  zur  Fremderlösung. 
Und  diese  Wendung  ist  um  so  bedeutsamer,  als  Philon  in  jener 
Zeit  mit  dieser  Richtung  keineswegs  allein  steht.  Bietet  doch 
zu  vielen  dieser  Gedanken  auch  das  eben  damals  aufkeimende 
Christentum  bemerkenswerte  Analogien.  Dieses  aber  hat  auch 
auf  die  heidnische  Spekulation  wieder  zurückgewirkt:  insbeson- 
dere in  jener  Form,  die  es  in  den  Sekten  der  Gnostiker  annahm, 
scheint  es  auf  die  späteren  Platoniker  Einfluß  genommen  zu 
haben;  namentlich  auf  Numenios,  einen  Denker,  der  auch 
theoretisch  der  neuplatonischen  Lehre  bereits  sehr  nahe  steht. 

Drittens  endlich  geht  nun  aber  in  demselben  Zeitraum  eine 
Renaissance  des  Sokratismus  vor  sich.  Wir  haben  seinerzeit 
gesehen,  wie  besonders  Epiktet  und  Marc  Aurel  die  stoische 
Lebensauffassung  wieder  aufnehmen  und  wohl  auch  verinner- 
lichen. Ja,  man  darf  vielleicht  sagen:  es  liegt  hier  der  seltene 
Fall  vor,  daß  eine  Lebensauffassung  —  statt,  wie  gewöhnlich, 
aus  dem  Leben  in  die  Bücher  sich  zurückzuziehen  —  vielmehr 
erst  spät  aus  der  Theorie  in  die  Praxis  ganz  hinausgetreten  ist. 
Uns  wenigstens  ist  aus  der  Zeit  der  römischen  Kaiser  viel  mehr 
stoisches  Leben  (und  besonders  Sterben)  bezeugt  als  aus  der 
Epoche  der  griechischen  Diadochen;  und  ohne  Zweifel  macht 

i)  De  praem.  et  poen.  5,  p.  413  (Mangey);  de  plant.  Noe  40.  168  (Cohn), 
p.  354  (Mangey). 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  285 


Epiktet  den  Eindruck  einer  weit  lebendigeren  philosophi- 
schen Gestalt  als  Zenon  selbst.  Zugleich  aber  lebt  auch  der 
Kynismus  wieder  auf.  Die  erfreulichste  Gestalt,  die  wir  aus 
diesem  Kreise  kennen,  ist  jener  Demo nax,  von  dem  eine  kleine 
Schrift  des  Satirikers  Lukian  handelt:  viele  kleine  Züge  zeigen 
uns  den  echten  Sokratiker.  So  erkannte  er  denn  auch  die  innere 
Freiheit  als  den  gemeinsamen  Grundgedanken  aller  sokratischen 
Systeme.  Ich  habe  seine  Worte  wohl  schon  zweimal  angeführt, 
um  meine  eigene  Auffassung  ankündigend  vorzubereiten;  doch 
teile  ich  sie  Ihnen  gern  noch  einmal  mit,  um  unsere  seitherigen 
Betrachtungen  bestätigend  abzuschließen.  Lukian  erzählt1: 
„Als  ihn  jemand  fragte,  was  ihm  die  (richtige)  Begriffsbestim- 
mung der  Glückseligkeit  zu  sein  scheine,  erwiderte  er:  allein 
den  Freien  nenne  ich  glückselig  .  . .  damit  aber  meine  ich  den, 
der  weder  etwas  hofft  noch  etwas  fürchtet."  Und2  „als  er  einst 
gefragt  wurde,  welcher  von  den  Philosophen  ihm  gefiele,  gab 
er  zur  Antwort:  erstaunlich  sind  sie  alle;  ich  aber  verehre  So- 
krates,  bewundere  Diogenes  und  liebe  Aristipp." 

Indem  nun  diese  drei  Strömungen  zusammentreffen,  erzeugen 
sie  ein  letztes  neues  und  wichtiges  Gebilde:  die  neuplatonische 
Ethik.  Diese  übernimmt  vom  Neupythagoreismus  die  Neigung 
zu  Superstition  und  Askese,  vom  Orient  die  Richtung  auf  Mystik 
und  Fremderlösung,  von  der  sokratischen  Renaissance  die  Über- 
lieferung der  Freiheitslehre  und  des  Intellektualismus.  Aber  das 
Mischungsverhältnis  dieser  Ingredienzien  war  in  ihr  kein  festes, 
sondern  hat  sich  im  Laufe  der  Schulentwicklung  in  verhängnis- 
voller Weise  gewandelt.  Beim  Gründer  Plotinos1  stehen  die 
sokratischen  Elemente  durchaus  im  Vordergrunde:  das  Ideal  der 
inneren  Freiheit  und  die  maximale  Wertschätzung  des  theore- 
tischen Lebens  bilden  den  großen  Mittelbau  seines  ethischen 
Systems;  Askese  und  Superstition  schließen  sich  als  unter- 
geordnete, und  den  Rahmen  der  Gesamtansicht  nirgends  durch- 
brechende Flügel  an;  die  mystische  Fremderlösung  aber  stellt 
sich  als  ein  nicht  allzustark  hervortretender  Giebelaufsatz  dar. 

i)  Demonax  20,  p.  383.  2)  Demonax  62,  p.  394.  3)  Um  250  n.  Chr. 


286 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


Diese  fein  abgewogenen  Verhältnisse  werden  schon  bei  seinem 
Schüler  Porphyrios  durch  das  einseitige  Hervortreten  der 
asketischen  Richtung  gestört.  Und  Iamblichos  vernichtet  sie 
vollends  und  endgültig,  indem  ein  wüster,  die  Erlösungslehre 
von  Grund  aus  durchsetzender  Aberglaube  alle  anderen  Mo- 
mente überwuchert.  In  seiner  Schule  wird  bereits  behauptet1, 
die  Götter  vermöchten  das  Verhängnis  zu  durchbrechen,  und 
uns  so  auch  von  den  notwendigen  Übeln  zu  befreien.  Damit 
aber  rückt  die  äußerlichste  Fremderlösung  an  die  Stelle  der 
innerlichen  Selbstbefreiung:  die  griechische  Ethik  ertrinkt  in 
der  Magie.  Die  neuplatonische  Schule  hat  zwar  auch  noch 
weiter  mehr  als  200  Jahre  bestanden2,  und  in  theoretischer  Hin- 
sicht einige  relativ  selbständige  Denker3  sowie  manche  für  uns 
wichtige  Kommentatoren4  gezählt;  was  aber  die  Ethik  angeht, 
so  ist  in  ihr  nichts  mehr  hervorgetreten,  was  Eigenwert  in  An- 
spruch nehmen  könnte.  Wir  dürfen  deshalb  von  unserem  Ge- 
sichtspunkte aus  diese  ganze  hippokratische  Phase  der  griechi- 
schen Philosophie  übergehen,  und  uns  lediglich  an  Plotinos 
halten.  Für  uns  bedeutet  seine  Lebensauffassung  den  Ausgang 
der  philosophischen  Ethik  der  Griechen.  Und  nur  mit  ihr  haben 
wir  uns  deshalb  heute  noch  zu  beschäftigen.  Doch  ehe  ich  weiter 
von  ihr  spreche,  muß  ich  erst  noch  zwei  Bemerkungen  voraus- 
schicken. 

Es  ist  unmöglich,  von  Plotin  zu  reden,  ohne  vorher  seines 
Verhältnisses  zu  Piaton  zu  gedenken.  Er  selbst  wollte  ja  nichts 
anderes  geben,  als  eine  folgerechte  Fortbildung  das  Piatonismus. 
In  der  Tat  findet  sich  bei  genauerer  Prüfung,  daß  seine  Abwei- 
chungen von  diesem  nur  in  wenigen  Stücken  ernstliche  Neue- 
rungen darstellen,  meist  aber  nur  als  leise  Gedankenverschie- 
bungen und  Stimmungsabtönungen  angesehen  werden  können. 
Auch  dem  Geiste  und  der  persönlichen  Eigenart  des  Vorbildes 
ist  der  Nachfolger  wohl  treuer  geblieben,  als  es  auf  den  ersten 

i)  De  mysteriis  VIII.  7  (S.  270.  3  Parthey).  2)  Bis  zur  Schließung  der  plato- 
nischen Akademie  durch  Kaiser  Justin i an  im  Jahre  529  n.  Chr.  3)  Vor 
allem  Proklos.  4)  z.  B.  Simplicius. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  287 


Blick  den  Anschein  haben  möchte.  Und  wenn  es  erlaubt  ist,  für 
einen  Augenblick  sich  zu  denken,  der  ganze  P lotin  der  späten 
Zeit  hätte  noch  bei  Piatons  Lebzeiten  neben  Xenokrates  und 
Aristoteles  unter  die  Schülerschaar  der  Akademie  sich  mengen 
können,  so  möchte  ich  die  Behauptung  wohl  auf  mich  nehmen, 
,  daß  der  große  Lehrer  an  ihm  mehr  Freude  erlebt  hätte,  als  an  den 
beiden  genannten  oder  irgend  welchen  anderen  seiner  Schüler. 
Trotzdem  muß  freilich  ein  Zeitunterschied  von  600  Jahren  not- 
wendig einen  tiefgehenden  Unterschied  des  ganzen  Wesens  be- 
dingen. P lotin  ist  Piaton  noch  einmal,  und  doch  ganz  anders. 
Wieder  sind  dieselben  Elemente  verbunden:  Freiheitsbewußt- 
sein, dialektische  Kraft,  Schönheitstrunkenheit,  Sinnlichkeits- 
verachtung und  Schwung  des  Gefühls.  Aber  all  das  ist  weniger 
kräftig,  ausgeglichener,  feiner,  anmutiger  und  zarter.  Das  Un- 
praktische, Weltfremde,  Naive  in  Pia  ton  s  Wesen  ist  merklich 
gesteigert.  Statt  des  gewaltig-erhabenen  Eindrucks  eines  mächtig 
dahinrauschenden  Stromes  empfangen  wir  das  reizend-rührende 
Bild  einer  still  aufsprudelnden  Quelle.  Wenn  ich  meinen  ganzen 
Eindruck  in  eine  Formel  fassen  sollte,  so  möchte  ich  sagen:  auf 
den  männlichen  folgt  ein  kindlicher  Idealismus. 

Ebenso  wie  bei  Piaton  ist  aber  deshalb  auch  bei  Plotin  die 
Ethik  mit  der  Metaphysik  aufs  engste  verwachsen.  Und  hier 
wird  es  nötig  sein,  auf  diese  ein  klein  wenig  näher  einzugehen 
als  dort  geschehen  mußte.  Auch  hier  aber  läßt  sich  die  An- 
knüpfung an  Piaton  nicht  umgehen.  Schon  für  diesen  nämlich 
zerfiel  die  Welt  in  vier  Sphären,  von  denen  jede  das  Gebiet 
eines  letzten  Prinzips  war:  in  die  körperliche  Welt  des  räum- 
lich ausgedehnten  Stoffes;  in  die  lebendige  Welt  der  Seelen, 
deren  Hierarchie  in  der  Weltseele  gipfelt,  als  in  dem  Lebens- 
prinzip des  göttlichen  Weltalls;  in  die  „Ideenwelt"  der  logi- 
I  sehen  Werte;  und  endlich  in  die  Sphäre  des  höchsten  gött- 
i  liehen  Weltbaumeisters,  des  „Demiurgen".  Und  auch  hier 
schon  war  die  Ordnung,  in  der  ich  eben  diese  Prinzipien  auf- 
gezählt habe,  eine  aufsteigende  Reihe  zunehmender  Werte, 
und,  wenigstens  was  deren  erste  drei  Glieder  angeht,  gewiß 


288 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


nicht  entworfen  ohne  Rücksicht  auf  den  ethischen  Wert  der 
diesen  Sphären  und  Prinzipien  im  Menschen  entsprechenden 
Seelenvermögen  und  Lebensarten.  Denn  die  Materie,  die  eigent- 
lich ein  „Nicht  Seiendes"  ist,  also  die  geringste  Realität  hat,  ist 
zugleich  der  Gegenstand  der  „Begierden",  welche  das  tiefst- 
stehende  Genußleben  beherrschen;  dann  folgt  die  Seelenwelt, 
der  das  „Mutartige"  entspricht,  als  das  bewegende  Prinzip  des 
wirkenden,  „praktischen"  Lebens;  und  dann  die  Welt  der  Ideen, 
als  das  eigentlich  wahre  Sein,  und  zugleich  als  das  Objekt  der  Ver- 
nunft, also  der  höchsten  Seelenkraft,  und  zugleich  des  theoreti- 
schen Lebens,  als  der  höchstwertigen  Lebensform.  Nur  Gott  steht 
abseits,  und  bleibt  ohne  psychologische  und  ethische  Analoga 
(Glaube,Liebeoder  dergleichen) — sosehr,  daßman  immer  wieder 
zweifelt,  wieweit  es  Piaton  mit  diesem  Begriffe  überhaupt  voller 
Ernst  gewesen  sei?  An  den  beiden  unteren  Gliedern  dieser  Te- 
trade nun  hat  Plotin  eigentlich  keine  entscheidende  Änderung 
vorgenommen.  Auch  wenn  er  die  Ideen,  aristotelischen  Anregun- 
gen folgend,zu  sich  selbstdenkenden  Gedanken  macht,und  sie  zur 
Einheit  einer  göttlichen  „Vernunft"  zusammenschließt,  wird  hie- 
durch  das  platonische  System  noch  nicht  in  seinen  Grundlinien 
verrückt.  Überaus  bedeutsam  dagegen  ist  es  auch  in  ethischer 
Hinsicht,  daß  ihm  das  höchste  göttliche  Prinzip  aus  einer  weltbil- 
denden Persönlichkeit  zu  einem  unpersönlichen  und  unerkenn- 
baren „Urgrund"  wird1,  der  nur  in  der  mystischen  Anschauung 
erfaßt  werden  kann.  Denn  hiermit  ist  sofort  eine  entsprechende 

*)  Ich  behalte  diesen,  in  den  neueren  Darstellungen  der  neuplatonischen 
Lehre  üblichen  Ausdruck  bei,  obwohl  er  nicht  auf  Plotin  zurückgeht. 
Dieser  nennt  das  höchste  Prinzip  entweder  den  „jenseitigen  Gott"  (6  eire- 
Keiva  Qeoq)  oder  das  „Gute"  (auch  nicht  selten  das  „Seiende"),  und  knüpft 
damit  an  die  platonische  Idee  des  Guten  an,  welche  Beziehung  indes  sach- 
lich keine  großen  Vorteile  bietet.  Und  da  er  nun  nicht  verfehlt,  diese  Be- 
zeichnungen bloß  als  uneigentliche  zu  kennzeichnen  (wie  denn  in  der  Tat 
kein  Prädikat  diesem,  seinem  Begriffe  nach  unbegreiflichen  Subjekt  im 
eigentlichen  Sinne  zukommen  kann),  so  scheint  es  ganz  angemessen,  sich 
dafür  eines  anderen,  unmißverständlichen  Kunstausdruckes  zu  bedienen. 
Übrigens  wird  diese  Konzeption  im  Anhang  durch  Zusammen  tellung  mit 
analogen  Gedanken  noch  einige  Klärung  erfahren. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  289 


Erweiterung  auch  des  ethischen  Schemas  gegeben.  Um  so  viel 
nämlich,  als  der  „Urgrund"  die  „Vernunft"  an  ursprünglicher 
Realität  übertrifft,  um  so  viel  steht  nun  auch  die  mystische  Er- 
fahrung höher  als  die  bloß  theoretische;  und  wir  erhalten  so, 
dem  System  der  vier  Prinzipien  analog,  auch  eine  Hierarchie 
von  vier  Lebensformen  oder  Tugendarten,  die  zwar  erst  Por- 
phyr1 ausdrücklich  entwickelt  hat,  die  aber  doch  schon  zur 
Würdigung  Plotins  notwendig  vorausgesetzt  werden  muß.  Das 
unterste  Prinzip  ist  die  Materie,  die  sich  zur  wahren  Realität 
verhält  wie  die  Finsternis  zum  Licht;  auf  sie  sind  unsere  Be- 
gierden gerichtet;  die  niedersten  Tugenden  sind  daher  die 
„gesellschaftlichen",  welche  diese  Begierden  soweit  im  Zaume 
halten,  als  das  Gemeinschaftsleben  dies  erfordert:  sie  beziehen 
sich  auf  unser  Verhältnis  zum  Stoff.  Die  zweite  Art  von  Tugen- 
den bezieht  sich  auf  die  Seele,  die  von  der  Sinnlichkeit  abgelenkt 
und  über  sie  erhoben  wird:  es  sind  die  „reinigenden"  Tugenden, 
die  im  Werte  schon  über  jenen  stehen.  Noch  höher  aber  erheben 
sich  drittens  die  „geistigen"  Tugenden,  welche  die  Hinwendung 
der  Seele  zum  Denken,  und  damit  unser  Verhältnis  zur  „Vernunft" 
zum  Gegenstande  haben.  Und  am  höchsten  endlich  jene  „urbild- 
lichen" Tugenden,  die  den  Menschen  zum  Erschauen  des  „Ur- 
grunds" befähigen,  und  also  sein  Verhältnis  zu  der  vierten  und 
höchsten  Realität  betreffen.  Somit  entspricht  die  Rangordnung 
der  metaphysischen  Prinzipien  genau  derjenigen  der  Tugenden; 
die  Wertordnung  abergeht  (im  psychologischen  Sinne)  ursprüng- 
lich natürlich  von  der  Schätzung  der  entsprechenden  Lebens- 
formen aus.  Daß  also  die  praktischen,  die  asketischen,  die  theo- 
retischen und  die  mystischen  Zustände  in  dieser  Weise  unter- 
schieden und  steigend  bewertet  werden,  dies  ist  eigentlich  die 
Grundtatsache  des  Neuplatonismus,  die  der  Erklärung  sowohl 
|seiner  Metaphysik  als  auch  seiner  Ethik  zugrunde  gelegt  werden 
muß.  Und  nach  diesen  Vorbemerkungen  wird  es  uns  nicht  mehr 
schwer  fallen,  die  letztere,  zunächst  in  einem  vorläufigen  Schema 
und  dann  in  etwas  eingehenderer  Ausführung,  darzustellen. 

iTSentt.  34  (Plotin  ed.  Creuzer  et  Moser,  p.  XXXIX.  26).  " 
Gomperz,  Lebensauffassung  19 


290  ZWÖLFTE  VORLESUNG 

Die  Lebensauffassung  des  Plotin  ist  deshalb  nicht  wohl  aus 
der  Eigenart  seiner  Persönlichkeit  zu  entwickeln,  weil  sich  hier 
überall  der  Piatonismus  vermittelnd  dazwischen  schiebt.  Jene 
„Kindlichkeit",  von  der  ich  früher  gesprochen  habe,  d.  h.  jene  ; 
ungleich  geringere  Kraft  und  Ursprünglichkeit,  die  ihn  von  | 
Piaton  unterscheidet,  macht  sich  eben  zu  allermeist  in  dem  \ 
Anlehnungsbedürfnisse  geltend,  das  den  Philosophen  verhin-  j 
dert,  seine  eigene  Lebensstimmung  in  eine  neue  und  völlig 
angemessene  Form  zu  gießen.  Daher  vor  allem  wird  es  wohl  f 
kommen,  daß  in  seiner  Ethik  weder  die  asketischen  noch  die  ,1, 
mystischen  Tendenzen  eine  so  hervorragende  Rolle  spielen,  wie  llf 
wir  das  bei  einem  Manne  erwarten  würden,  der  in  seinem  Leben 
über  seine  eigenen  asketischen  Vorschriften  weit  hinausgegangen  m 
ist1,  und  in  fünf  Jahren  viermal  die  ekstatische  Einigung  mit  dem  ji a 
Urwesen  erlebt  hat2.  Vielmehr  steht  hier  durchaus  im  Vorder-  |ji 
gründe  das  theoretische  Leben,  an  das  sich  nur  einerseits  die  [fit 
Askese  als  Bedingung,  andererseits  die  Ekstase  als  Vollendung  m 
anschließt.  Und  so  findet  hier  die  merkwürdige  Erscheinung  !j  i 
statt,  daß  jene  kontemplative  Formulierung  der  Freiheitslehre, L  i 
die  schon  Piaton  nahe  lag,  und  die  dann  Aristoteles  zu||li 
schaffen  versäumt  hatte,  gerade  bei  P 1  o  t  i  n  ihre  volle  Ausgestal- !  ; 
tung  erfährt,  obwohl  sie  nach  den  Umständen  der  Zeit  und  des  i 
Menschen  eigentlich  überholt  ist,  die  vielmehr  nach  einem1  :i 
vorwiegend  mystischen  Ausdrucke  dieses  Ideals  zu  verlangen 
scheinen.  Und  eben  damit  hängt  es  zusammen,  daß  auch  das 
Prinzip  der  Fremderlösung  nur  in  geringen  Spuren  sich  zeigt, 
ohne  den  traditionellen  Rahmen  der  Selbsterlösung  entschieden 
zu  durchbrechen.  Ebensowenig  aber  wie  seine  spezifischen 
Gefühlserlebnisse  hat  auch  die  allgemeine  Färbung  seiner  Be- 
geisterung vermocht,  in  charakteristischen  Lehrstücken  sichj . 
auszuprägen.  Sondern  sein  Schwung,  der  durch  Innigkeit  und 
Wärme  ersetzt,  was  ihm  von  Piatons  Größe  und  Feuer  ab- 
geht, verbreitet  sich  gleichmäßig  über  alle  Teile  seiner  Erörte- 
rungen, und  ist  kaum  weniger  merklich,  wo  er  die  Schönheit 

i)  Porphyr,  Vita  Plot.  7.  2)  Porphyr,  Vita  Plot.  23. 

I 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  291 

des  Sinnenscheines  als  das  Symbol  der  geistigen  Wirklichkeit 
verherrlicht,  als  wo  er  die  höchsten  Momente  seiner  gottergrif- 
fenen Verzückung  schildert.  Die  persönliche  Eigenart  also  ist 
hier  mehr  in  der  durchgängigen  Stimmungsfarbe  der  Darstel- 
lung zu  suchen  als  in  besonderen  Bestimmungen  des  Lehrgehal- 
tes. Diesen  Lehrgehalt  selbst  aber  können  wir  jetzt,  zum  Behufe 
vorläufiger  Übersicht,  in  wenige  Sätze  zusammendrängen. 

Die  Glückseligkeit  ist  ein  objektiver  Zustand  der  Seele,  näm- 
lich ihre  theoretische  Betätigung.  Diese  wird  möglich,  indem 
durch  Abkehr  von  der  Sinnlichkeit  die  Hemmung  überwunden 
wird,  die  derSeele  aus  ihrer  Verbindung  mit  dem  Leibe  erwächst; 
und  sie  vollendet  sich,  wenn  sie  in  ekstatischer  Bewußtlosigkeit 
zur  Einswerdung  mit  dem  göttlichen  „Urgrund"  wird.  Während 
aber  der  Mensch  in  jeder  praktischen  Wirksamkeit  auf  äußere 
Dinge  angewiesen  ist,  kann  diese  reine  Theorie  von  ihnen  allen 
absehen,  und  es  ist  deshalb  unser  Glück  von  allem  Äußeren 
unabhängig:  wir  sind  innerlich  frei.  Dem  Freien  aber  erscheint 
alles  äußere  Geschehen  nicht  als  Ernst,  sondern  als  Spiel. 
Und  auch,  was  davon  gemeinhin  als  schlecht  und  mißfällig  gilt, 
klingt  für  den  Weisen  mit  allen  anderen  Elementen  zur  untadelig 
schönen  Harmonie  des  Weltspiels  zusammen,  so  daß  er  nicht 
nur  subjektiv  dem  Übel  sich  entrückt  weiß,  sondern  auch  ob- 
jektiv im  Ganzen  der  Welt  kein  solches  mehr  erblickt. 

Ich  führe  nun  an  der  Hand  der  plotinischen  „Enneaden"  die- 
sen Gedankengang  noch  etwas  mehr  ins  Einzelne  aus. 

Daß  die  „Glückseligkeit"  ein  objektiv  seelischer,  nicht  ein 
subjektiv  bewußter  Zustand  sei,  diese  Voraussetzung  liegt  allen 
nichthedonischen  Systemen  der  Griechen  zugrunde.  Bei  Pia  ton 
insbesondere  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  das  richtige  Ver- 
hältnis der  drei  Seelenkräfte,  ganz  ebenso  wie  die  leibliche  Ge- 
sundheit, gedacht  wird  als  konstitutionelle  Wohlfahrt,  die  zwar 
Glücksgefühle  im  Gefolge  haben  kann,  an  sich  aber  lediglich 
„rechte  Verfassung"  ist.  Und  in  der  Tat  wird  sich  nicht 
leugnen  lassen,  daß  als  das  wesentliche  Moment  in  bezug  auf 
Freiheit  und  Unfreiheit  das  psychophysische  Kräfteverhältnis 

19* 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


erscheint,  das  sich  im  Wunschverhalten  symptomatisch  äußert— 
mögen  wir  auch  für  unsere  Bedürfnisse  die  universelle  Wunsch- 
bejahung als  „Ziel"  auffassen,  und  ihr  jenes  Kräfteverhältnis 
lediglich  als  Bedingung  und  Mittel  zuordnen.  Obwohl  aber 
dieser  objektive  Glücksbegriff  stillschweigend  fast  die  ganze 
antike  Ethik  beherrscht,  hat  doch  erst  Plotin  ihn  mit  unzwei- 
deutiger Klarheit  ausgesprochen  und  begründet.  Er  streift  dabei 
einen  Gedanken,  der  sich  gerade  in  neuester  Zeit  für  die  Be- 
trachtung alles  geistigen  Lebens  als  sehr  fruchtbar  zu  erweisen 
scheint:  den  Gedanken  nämlich,  daß  jeder  Bewußtseinsverlauf 
die  Gegenwirkung  auf  einen  Reiz  ist,  der  ohne  solche  Gegen- 
wirkung den  bestehenden  Ruhe-  und  Gleichgewichtszustand  auf- 
heben würde;  daß  es  sich  also  bei  allem  Bewußtsein  um  eine 
„Selbsterhaltung"  handelt,  die  man  entweder  (mit  Herbart)  als 
eine  solche  der  Seele  gegen  psychische  „Störungen",  oder  aber 
(mit  Avenarius)  als  eine  solche  des  Zentralnervensystems 
gegen  biologische  „Vitaldifferenzen"  denken  kann.  Unser  neu- 
platonischer Philosoph  nun  zieht  diesen  selben  Schluß,  daß  Be- 
wußtsein überhaupt  Symptom  einer  Störung  sei,  aus  der  Tat- 
sache, daß  auch  im  Körper  jene  Vorgänge,  die  im  gesunden 
Zustand  unbewußt  bleiben,  im  kranken  schmerzhaft  empfindlich 
werden,  daß  also  auch  der  leiblich  normale  Zustand  weniger 
bewußt  ist  als  der  abnorme1.  Und  er  folgert  weiter,  ebenso 
werde  es  auch  mit  der  seelischen  Gesundheit  stehen:  die 
„Glückseligkeit"  wird  auch  ohne  ein  Bewußtsein  von  ihr  eben- 
sowohl vorhanden  sein,  wie  ein  Objekt  fortfährt  zu  existieren, 
auch  wenn  sein  Bild  nicht  mehr  im  Spiegel  erscheint2. 

Der  objektive  Zustand  nun,  welcher  die  Glückseligkeit  des 
Menschen  ausmacht,  war  für  Piaton  die  Herrschaft  der  Ver- 
nunft über  die  anderen  Seelenkräfte.  Plotin  bestimmt  ihn 
geradezu  als  Vernunfttätigkeit,  theoretische  Erkenntnis,  oder 
vollendetes  intellektuelles  Leben3.  Er  tut  damit  den  Schritt,  den 
Aristoteles  zu  tun  nicht  gewagt  hatte:  der  Wert  der  Vernunft 
wird  jetzt  nicht  mehr  gesetzt  in  den  Einfluß,  den  sie  zu  prak- 

i)~Enn.  V.  8.  11,  p.  553.  2)  £nn.  I.  4.  10,  p.  36.  3)  Enn.  I.  4.  3,  p.  31. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  293 


tischen  Zwecken  über  andere  Vermögen  ausübt,  sondern  viel- 
mehr in  ihre  rein  theoretische  Tätigkeit  an  sich  selbst.  Um  aber 
diese  Tätigkeit  ihrem  Wesen  nach  näher  zu  bestimmen,  brauchen 
wir  uns  von  Pia  ton  kaum  zu  entfernen.  Auch  ihm  war  ja  das 
eigentliche  Geschäft  der  Vernunft  die  Anschauung  einer  über- 
sinnlichen Welt,  und  letztlich  der  Idee  des  Guten.  So  sagt  auch 
Plotin:  die  reine  Theorie  ist  das  „Beste";  was  könnte  aber 
j  dieses  anderes  sein  als  „Schauen  des  Besten"?1  Das  Ziel  ist 
!  also  Gotteserkenntnis,  und  das  Gute  ein  Aufblicken  nach  oben2. 
Um  aber  dieses  leisten  zu  können,  muß  der  Mensch  von  der 
Sinnlichkeit  sich  abwenden  —  und  damit  bleibt  Plotin  ganz  in 
jenem  Gedankenzuge,  der  von  der  Orphik  herkommt  und  Pia- 
ton besonders  in  seinem  „Phaidon"  beherrscht  hatte.  Denn  der 
Eintritt  in  den  Leib  ist  für  die  Seele  ein  „Fall"3.  Zwar  geschieht 
dieser  Eintritt  nicht  aus  freier  Wahl  der  Seele,  sondern  die 
Weltordnung,  welche  ihn  verlangt,  äußert  sich  in  ihr  als  eine 
!  Art  brünstigen  Dranges  „wie  ein  natürliches  Springen  ...  zu 
natürlichen  Fristen  der  Begattung"4.  Aber  trotzdem  wird  sie 
durch  diese  Verbindung  entweiht5,  und  deshalb  ist,  wie  schon 
Piaton  gesagt  hatte,  „jede  Tugend  eine  Reinigung"6,  welche  die 
ursprüngliche,  vernünftige  Natur  der  Seele  wieder  zu  Ehren 
bringt.  Zu  diesem  Behufe  aber  muß  diese  einerseits  durch  eine 
moderierte  Askese  —  mehr  der  Gesinnung  als  der  Werke  — 
lernen,  die  Sinnenwelt  nicht  als  Selbstwert  zu  betrachten7; 
andererseits  in  ihr  vor  allem  die  Sinnenschönheit  sehen,  der 
ein  nicht  genug  zu  schätzender  erziehlicher  Wert  für  die  Aus- 
bildung der  höheren  geistigen  Kräfte  zukommt8.  Denn  diese 
entzündet  in  uns  den  Eros,  den  Wegweiser  zur  übersinnlichen 
Welt9.  Über  Pia  ton  aber  gehen  alle  diese  Bestimmungen 
höchstens  dem  Grade  nach  hinaus,  und  auch  das  noch  eher, 
was  den  Schönheitskult,  als  was  die  eigentliche  Askese  angeht. 

1)  Enn.  I.  4.  15,  p.  38.  2)  Enn.  I.  4.  16,  p.  39.  3)  Enn.  I.  8.  14,  p.  81;  vgl.  V. 
1.  1,  p.  481  f.  4)  Enn.  IV.  3.  13,  p.  382.  5)  Enn.  I.  2.  3,  p.  13.  6)  Enn.  I.  6.  6, 
p.  55.  7)  Enn.  I.  2.  5,  p.  14.  8)  Enn.  I.  6,  p.  50  ff.;  I.  3.  2,  p.  20;  I.  6.  4,  p.  53; 
V.  9.  1,  p.  555.  9)  Enn.  III.  5,  p.  291  ff. 


294 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


Wenn  aber  beide  Denker  gerade  den  Eros  preisen,  als  die 
Kraft  des  Aufschwungs  zur  Welt  der  reinen  logischen  Werte,  so 
sprechen  sie  damit  aufs  deutlichste  aus,  daß  sich  ihnen  selbst 
hinter  der  „Vernunft"  die  eigene  Begeisterung  verbirgt.  Doch 
ist  diese  Verhüllung  bei  Plotin  durchsichtiger  als  bei  Piaton, 
wie  dies  auch  seiner  exakter  gewordenen  Psychologie  entspricht. 
Denn  er  kann  die  Theorie  sich  vollenden  lassen  in  der  mysti- 
schen Intuition,  und  in  dieser  tritt  naturgemäß  die  begeisterte 
Gefühlswallung  ungleich  deutlicher  hervor  als  im  rationalen 
Denken,  wo  sie  nur  gleichsam  zwischen  den  Zeilen  hervorstrahlt. 
Obwohl  also  die  mystische  Einigung  mit  dem  „Urgrund"  lehrhaft 
von  der  vernünftigen  Anschauung  der  Ideen  weit  abzuliegen 
scheint,  werden  wir  doch  menschlich  ihre  Analogie  mit  dem 
Enthusiasmus  des  älteren  Denkers  nicht  aus  dem  Auge  verlieren 
dürfen,  vielmehr  sagen  müssen:  auch  die  plotinische  Ekstase  ist 
nur  die  Steigerung  und  Vollendung  des  platonischen  Schwunges. 
Die  Beschreibung  dieser  Ekstase  aber  ist  die  typische  aller  My- 
stiker: nicht  nur  derjenigen,  die  unmittelbar  oder  mittelbar  von 
Plotin  abhängig  sein  können,  sondern  auch  jener  alten  Inder, 
deren  (freilich  nicht  ganz  undenkbarer)  Einfluß  auf  Plotin  doch 
zum  mindesten  recht  problematisch  bleibt1.  Der  Zustand  näm- 
lich, in  dem  der  Erkenntnisprozeß  sich  vollendet,  liegt  weit  über 
alle  Vernunfttätigkeit  hinaus2,  und  gleicht  mehr  dem  der  „Be- 
geisterten und  Verzückten".3  Genauer:  das  Bewußtsein  wird 
hier  überhaupt  aufgehoben4 — zeigt  es  doch  stets  einen  Mangel  an 
Vollkommenheit  an  — ;  denn5  zu  diesem  „Schauen"  gelangt  die 
Seele  erst,  wenn  sie  „nichts  mehr  kennt,  und  auch  sich  selbst 
nicht",  ja  sogar6  „nicht  einmal  (das)  erkennt,  daß  man  nicht  er- 
kennt". Nur  so  nämlich  wird  die  Zweiheit  von  Erkennendem  und 
Erkanntem  aufgehoben,  und  tritt  deren  Einheit  an  ihre  Stelle7. 
Damit  aber  wird  der  Ekstatiker  selbst  zu  Gott8.  Nur  darf  man 

i)  Auch  die  Analogien  zum  folgenden  findet  man  im  Anhang  näher  aus- 
geführt. 2)  Enn.  VI.  7.  35,  p.  726 ff.;  VI.  9.  4,  p.  761  ff.  3)  Enn.  V.  3.  14,  p.  512. 
4)  Enn.  V.  5.  6,  p.  525.  5)  Enn.  VI.  9.  7,  p.  765.  6)  Enn.  VI.  7.  35,  p.  727. 
7)  Enn.  V.  8. 1 1,  p.  552;  VI.  7. 34,  p.  725;  VI.  9. 3,  p.  760.  8)  Enn.  VI.  9. 9,  p.  769. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  295 


diesen  Augenblick  nicht  erjagen  wollen,  sondern  man  muß  ruhig 
abwarten,  bis  er  kommt;  denn1  er  „erscheint  nicht,  wie  man  ihn 
erwartet,  sondern  kommt,  als  wäre  er  nicht  gekommen,  sondern 
von  Anfang  an  dagewesen";  und2  „von  der  Welle  der  Vernunft 
wie  entführt,  und  gleichsam  schwellend  zur  Höhe  gehoben, 
sieht  man's  mit  einem  Mal,  ohne  zu  wissen,  wie?".  Und  auf 
diese  beiden  letzten  Sätze  lenke  ich  besonders  Ihre  Aufmerksam- 
keit. Denn  in  dieser  Betonung  der  Passivität  des  Ekstatikers,  der 
die  höchste  Vollendung  als  Offenbarung  und  Gnadengeschenk 
empfängt,  wird  jene  leise  Neigung  zur  Fremderlösungslehre  er- 
kennbar, die  Plotins  Lebensauffassung  von  der  gemeinphilo- 
sophischen der  Griechen  viel  grundsätzlicher  unterscheidet  als 
seineMystik.  Daß  nämlich  diese  Lebensauffassung  ihrem  wesent- 
lichen Gehalte  nach  Freiheitslehre  ist,  dies  wird  uns  nun  vollends 
deutlich  werden,  wenn  wir  zu  dem  theoretischen  Leben  selbst, 
dessen  Bedingung  und  Vollendung  nun  erörtert  ist,  uns  zurück- 
wenden, und  uns  fragen:  warum  besteht  in  ihm  die  Glückselig- 
keit? und  worin  besteht  der  Vorzug  der  Theorie  vor  der  Praxis? 

Der  Sinn  der  Antwort,  die  Plotin  auf  diese  Frage  gibt,  deckt 
sich  durchaus  mit  dem,  was  schon  Aristoteles  angedeutet 
hatte:  jedes  praktische  Streben  macht  uns  abhängig  von  den 
Außendingen,  auf  die  es  sich  richtet;  und  nur  die  Theorie  allein 
ist  von  ihnen  allen  unabhängig,  und  gewährleistet  unsere  innere 
Freiheit.  In  seiner  feinen  Weise,  die  dem  Aberglauben  nur 
solche  Zugeständnisse  macht,  welche  es  gestatten,  ihn  symbo- 
lisch zu  verstehen  und  so  zu  vergeistigen,  drückt  Plotin  diesen 
Gedanken  so  aus3:  „Jede  Beziehung  zu  einem  andern  ist  eine 
Bezauberung  durch  dieses  andere  . . .  und  nur  die  Beziehung  zu 
sich  selbst  ist  frei  von  Zauber.  Darum  ist  jede  praktische  Be- 
tätigung und  jedes  Leben  eines  Praktikers  verzaubert;  denn  es 
wird  von  dem  bewegt,  was  den  Zauber  ausübt."  Aber  freilich: 
im  Grunde  ist  auch  dieser  Zauber  nur  ein  Trug.  Denn  nicht 
wegen  äußerer  Dinge  an  sich  handelt  doch  auch  der  Praktiker, 


1)  Enn.  V.  5.  8,  p.  527.  2)  Enn.  VI.  7.  36,  p.  728.  3)  Enn.  IV.  4.  43,  p.  438. 


296 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


sondern  um  des  Guten  willen  (das  er  von  ihnen  erwartet)1. 
Dieses  aber  findet  sich  nicht  da  draußen.  „Wo  denn?  In  der 
Seele.  Also  biegt  auch  die  Praxis  wieder  in  die  Theorie  um." 

Und  in  diesem  doppelten  nun  besteht  unsere  Freiheit.  Erstens 
ist  die  Seele  überhaupt  nicht  leidensfähig,  sondern  auch  in  ihrem 
Erkennen  des  körperlichen  Leidens  verhält  sie  sich  tätig2  —  so 
daß  also  unser  innerstes  Wesen  dem  Übel  von  vorneherein  ent- 
rückt ist;  und  zweitens  ist  diese  ihre  Tätigkeit  von  allem  Äuße- 
ren schlechthin  unabhängig.  Denn  wo  und  unter  welchen  Um- 
ständen man  nach  oben  blickt,  macht  keinen  Unterschied3.  Und 
ob  meine  Verwandten  in  Kriegsgefangenschaft  geraten  oder 
nicht,  das  ändert  nichts  an  meiner  Erkenntnis,  daß  auch  sie  in 
diese  Lage  kommen  können4.  Diese  Erkenntnis  aber  ist  die  ein- 
zige, innerlich  mir  zugehörige  Beziehung,  in  der  ich  zu  solchen 
Ereignissen  stehen  kann.  Darum  sagtPlotin5:  „Die  Tätigkeit 
kann  durch  die  Schicksale  nicht  behindert  werden,  sondern  nur 
andere  Schicksale  zum  Gegenstand  erhalten.  Immer  aber  sind  sie 
schön,  ja  um  so  schöner,  je  schwieriger  die  Lage."  „Denn  dieses, 
meint  er6,  zeigt  die  höchste  Kraft,  wenn  man  die  Übel  recht  zu 
gebrauchen  weiß."  Wenn  man  daher7  behauptet,  „für  den  Guten 
gebe  es  kein  Übel,  und  für  den  Schlechten  kein  Gut,  so  behaup- 
tet man  dies  mit  Recht".  Armut  und  Krankheit  bedeuten  also 
für  den  Guten  gar  nichts8;  aber  ebensowenig  auch  das  Unrecht- 
leiden9. Und10  „wenn  einer  tüchtig  ist,  so  ist  er  selbstgenügsam 
zum  Glück  und  zum  Guten;  denn  es  gibt  kein  Gut,  das  er  nicht 
hätte.  . . .  Und  wenn  seine  Verwandten  und  Freunde  sterben, 
—  so  weiß  er,  was  der  Tod  bedeutet".  Hielte  aber11  einer  den 
Sturz  und  die  Zerstörung  seiner  Vaterstadt  für  etwas  Großes, 
so  wäre  er  „lächerlich,  da  er  Holz  und  Steine,  und,  beim  Zeus! 
das  Sterben  Sterblicher  für  was  Großes  hielte!"  Und  wenn  er 
in  Schmerzen  verfällt,  so  wird  er  ihnen  die  Kraft  entgegen- 

i)  Enn.  III.  8.  6,  p.  347.  2)  Enn.  IV.  4.  19,  p.  411  f.  3)  Enn.  I.  4.  16,  p.  39. 
4)  Enn.  I.  4.  7,  p.  34.  5)  Enn.  I.  4.  13,  p.  37.  6)  Enn.  III.  2.  5,  p.  259. 
7)  Enn.  III.  2.  6,  p.  259.  »)  Enn.  III.  2.  5,  p.  258.  9)  Enn.  II.  9.  9,  p.  207. 
10)  Enn.  I.  4.  4,  p.  32.  H)  Enn.  I.  4.  7,  p.  34. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  297 


stellen,  die  ihm  dazu  gegeben  ist,  und  wird  sie  ebensowenig  für 
eine  Verminderung  wie  die  Lust  für  eine  Vermehrung  seines 
Glückes  halten1.  So  wird  er  ruhigen  Gemütes  dahinleben, 
unbewegt  von  den  sogenannten  Übeln2.  Denn3  „wenn  Zweie 
weise  wären,  der  Eine  aber  alle  sogenannten  natürlichen  Güter 
hätte,  und  der  Andere  das  Gegenteil,  so  werden  wir  sagen,  sie 

I  hätten  ein  gleiches  Glück.  . . .  Oder  aber,  er  wäre  nicht  mehr 
weise,  wenn  er  noch  nicht  alle  Vorstellungen  von  diesen  Dingen 

i  von  sich  abgetan  hätte,  noch  nicht  gleichsam  ein  ganz  Anderer 
geworden  ist  durch  den  Glauben,  daß  er  niemals  ein  Übel  er- 
leben wird".  Alles  Derartige  nämlich  ist  nicht  schrecklich,  son- 
dern ein  Gegenstand  der  Furcht  nur  für  Kinder4.  Erfaßt  aber 
den  Weisen  ohne  sein  Wollen  Furcht,  dann  wird  er  das  in  ihm 
zur  Trauer  erregte  Kind  beruhigen,  durch  Vernunft  oder  durch 
den  Hinweis  auf  das  Heilige5. 

Für  dieses  Bewußtsein  der  inneren  Freiheit  nun  erscheint, 
sowie  alles  Materielle  fürs  Geistige  überhaupt  nur  Spielzeug 
ist6,  so  auch  insbesondere  alles  äußere  menschliche  Leben  als 
Spiel.  Damit  knüpft  Plotin  einerseits  an  eine  Betrachtungs- 
weise des  greisen  Piaton  an,  und  andererseits  nimmt  er  einen 

;  stoischen  Gedankenzug  auf.  Aber  er  hat  diese  Konsequenz  der 
Freiheitslehre  nachdrücklicher  und  ausführlicher  entwickelt  als 
irgend  einer  seiner  Vorgänger,  wie  die  folgenden  Auszüge  Ihnen 
beweisen  mögen.  Er  sagt7:  „Die  Waffen  der  Menschen,  die, 
Sterbliche,  in  wohlgestalter  Schlachtordnung  einander  bekämp- 
fen, wie  die  Spieler  beim  Waffentanz  —  gerade  sie  klären  uns 
darüber  auf,  daß  aller  menschliche  Ernst  Spiel  ist,  und  zeigen 

an,  daß  der  Tod  nichts  Schreckliches  bedeutet.  Sowie  auf 

den  Schaubühnen,  so  muß  man  auch  im  Leben  Mord  und  Tod 
und  Städteeroberung  und  Raub  betrachten:  alles  als  Verwand- 
lungen und  Umkleidungen  und  Darstellungen  von  Jammern  und 
Klagen.  Denn  auch  hier  in  allen  Lebenslagen  ist  es  nicht  die 

i)  Enn.  I.  4.  14,  p.  38.  2)  Enn.  I.  4.  12,  p.  37.  3)  Enn.  I.  4.  15,  p.  38.  4)  Enn. 
I.  4.  8,  p.  35.  5)  Enn.  I.  4.  15,  p.  38.  6)  Enn.  III.  6.  7,  p.  310.  ?)  Enn.  III.  2. 
15,  p.  265  ff. 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


innere  Seele,  sondern  der  äußere  Schatten  des  Menschen,  der 
jammert  und  klagt  und  das  äußerste  tut  —  da  auf  der  großen 
Erdbühne  überall  (kleine)  Bühnen  aufgeschlagen  sind.  Denn  das 
sind  die  Äußerungen  eines  Menschen,  der  nur  das  Leben  nach 
unten  und  außen  kennt,  und  nicht  einsieht,  daß  er  trotz  aller 
Tränen  und  allen  Ernstes  nur  spielt.  —  Auch  die  Spiel- 
zeuge werden  ja  ernst  genommen  von  denen,  die  nicht  wissen, 
was  Ernst  ist  —  sie  selber  Spielzeuge!  Wenn  aber  ein  Vernünf- 
tiger mit  diesen  spielt,  so  wisse  er,  daß  er,  aus  der  Rolle  fallend, 
an  einem  Kinderspiel  teilnimmt.  Spielt  aber  auch  Sokrates,  so 
doch  nur  mit  dem  äußern  Sokrates.  Aber  auch  dessen  muß  man 
sich  bewußt  sein,  daß  man  Weinen  und  Klagen  nicht  als  Zeichen 
von  (wahren)  Übeln  auffassen  darf,  da  doch  auch  die  Kinder 
über  Dinge,  die  keine  Übel  sind,  weinen  und  klagen."  Zwischen 
dem  wirklichen  und  dem  gespielten  Tod  ist  kein  grundsätzlicher 
Unterschied.  Denn,  nimmt  die  Seele  wieder  andere  Leiber  an, 
so  gleicht  sie  dem  Schauspieler,  der,  nachdem  er  in  der  einen 
Rolle  getötet  wurde,  in  einer  andern  wieder  auftritt;  trennt  sie 
sich  aber  endgültig  vom  Körper,  dann  jenem,  der  abgeht,  um 
nicht  wieder  zurückzukehren.  So  also  müssen  wir  es  auffassen, 
wenn  wir  die  Natur  erfüllt  sehen  von  einander  verzehrenden 
Tieren,  und  von  Menschen,  die  gegeneinander  unaufhörlich  im 
Streite  liegen.  Denn  „viel  Leben  ist  im  All,  das  alles  wirkt  und 
bunt  schillert,  und  nicht  aufhört,  schöne  und  wohlgestalte  leben- 
dige Spielwerke  hervorzubringen". 

Wenn  aber  alles  schön  ist,  so  entstehen  zwei  neue  Fragen: 
wie  kann  mit  dieser  Allschönheit  das  ethisch  Schlechte  zusam- 
menbestehen? Und  wie  kann  insbesondere  darin  Ekel  und  Auf- 
lehnung gegen  dieses  All  sich  finden,  zum  Beispiel  eine  Gottes- 
lästerung ausgesprochen  werden?  Plotin  erwidert1  zunächst 
auf  das  letztere:  und  warum  sollte  nicht  ein  Dichter  in  seinem 
Stück  auch  einmal  eine  Figur  auftreten  lassen,  die  gegen  ihn, 
den  Dichter  selber,  loszieht?  Es  gehört  ja  eben  zur  Vollkom- 
menheit eines  (physischen  oder  technischen)  Ganzen,  daß  seine 

i)  Enn.  III.  2.  16,  p.  267. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  299 


Teile  nicht  nur  verschieden,  sondern  auch  gegensätzlich  seien. 
Was  aber  insbesondere  die  Vereinbarkeit  seines  universalisti- 
j  sehen  Optimismus  mit  dem  Sittengesetze  angeht,  so  zieht  Plotin 
nacheinander  drei  Auflösungsversuche  in  Erwägung1.  Die  ab- 
solute Geltung  des  moralischen  Urteils  könnte  gewahrt  werden, 
wenn  man  das  Leben  so  auffassen  dürfte,  daß  in  dem  Weltdrama 
der  Spielleiter  die  Rollen  der  Bösewichte  eben  den  wirklichen 
;  Bösewichten  zuteilt,  so  daß  dann  ihre  Rolle  nur  ein  Symptom 
|  ihres  Charakters  wäre.  Durch  eine  solche  Annahme  aber  würde 
der  Spielcharakter  des  Lebens  gefährdet.  Die  zweite  Betrach- 
tungsweise geht  von  dem  Gedanken  aus,  auch  darin,  wie  der 
Schauspieler  spielt,  äußere  sich  ja  sein  Wert.  Sowie  der  Regis- 
seur ihm  Maske,  Gewand  und  Rolle  gibt,  so  —  müßten  wir  uns 
dann  denken  —  gibt  auch  Gott  der  Seele  ihr  äußeres  Schicksal. 
In  dem  Gebrauche,  den  sie  innerlich  von  diesen  äußeren  Mit- 
teln macht,  zeigt  sie  ihre  Trefflichkeit  oder  Schlechtigkeit;  und, 
je  nach  dem  Ausgange  dieser  Prüfung,  wird  sie  dann  am  Ende 
zur  Mitwirkung  in  anderen,  noch  schöneren,  oder  aber  gerin- 
geren Stücken  bestimmt.  Diese  Auffassung  nun  wahrt  zwar 
durchaus  den  Spielcharakter  des  Lebens,  aber  sie  führt  zur  gänz- 
lichen Verleugnung  des  Sittengesetzes;  denn  aus  ihr  würde  die 
Folgerung  des  Aristo n  fließen:  auch  wer  die  Rolle  des  Böse- 
wichtes gut  spielt,  müßte  Objekt  der  ethischen  Billigung  werden. 
Diese  beiden  einander  entgegengesetzten  Bedenken  sind  es  wohl, 
die  den  Plotin  bei  keiner  dieser  beiden  Auffassungen  sich 
beruhigen  ließen,  vielmehr  ihn  über  beide  hinaus  zu  einer 
dritten,  vermittelnden,  getrieben  haben.  Dieser  zufolge2  sind 
im  Text  des  großen  Dramas  Stellen  für  Improvisationen  aus- 
gespart, so  daß  die  Darsteller  zugleich  auch  „Teile  des  Dichters" 
sind,  und,  je  nach  seinem  Wesen,  wird  dann  der  Gute  Gutes, 
der  Schlechte  Schlechtes  einlegen.  So  wird  das  ethische  Übel 
zwar  wirklich  von  der  schlechten  Natur  des  Übeltäters  Zeugnis 
ablegen,  aber,  als  bloßer  Spielfehler,  wird  es  doch  kein  wahres 
Übel  sein.  Das  scheinbare  Übel  aber  darf  nicht  fehlen,  denn, 

i)  Enn.  III.  2.  17,  p.  268  ff.  2)  Enn.  III.  2.  18,  p.  270  f. 


300 


ZWÖLFTE  VORLESUNG 


als  der  Gegensatz  des  Guten,  gehört  es  wesentlich  zur  Voll- 
kommenheit des  Ganzen.  Ein  Übel  aber  scheint  es  nur  zu  sein, 
so  lange  es  für  sich  betrachtet  wird;  in  jenem  umfassenderen 
Zusammenhange  angesehen  aber  ändert  es  seine  Natur.  So  ist 
denn1  auch  „das  Unrecht  zwar  für  den,  der  es  begeht,  Unrecht. 
Aber  als  ein  Bestandteil  des  All  ist  es  kein  Unrecht  für  ihn, 
noch  auch  für  den,  der  es  erleidet,  sondern  es  mußte  so  kommen. 
Und,  wenn  der,  dem  es  widerfährt,  gut  ist,  so  wird  sichs  für  ihn 
zum  Guten  wenden.  Denn  man  darf  dieses  (All)gebilde  weder 
für  gottlos  noch  für  ungerecht  halten,  sondern  für  ganz  genau 
in  der  Austeilung  des  Geziemenden.  Aber  ihre  Gründe  sind 
undeutlich,  und  dem  Unwissenden  scheint  es  Anlaß  zum  Tadel 
zu  geben". 

Geehrte  Zuhörer!  Sie  werden  nicht  von  mir  verlangen,  daß 
ich  zum  Schlüsse  noch  die  plotinische  Form  der  Freiheitslehre 
einer  näheren  Kritik  unterziehe.  Der  neuen,  und  für  unseren 
Gesichtspunkt  wichtigen  Gedanken  sind  ja  in  ihr  nicht  allzu 
viele.  Das  zuletzt  erörterte  Problem  haben  wir  anläßlich  der 
stoischen  Lehre  viel  genauer  erörtert;  und  von  der  Begründung 
des  Freiheitsideals  auf  die  Ausschließlichkeit  des  theoretischen 
Interesses  brauche  ich  Ihnen  nicht  zu  sagen,  daß  es  im  besten 
Falle  für  dasselbe  nur  eine  einseitige  und  teilweise  Stütze  ab- 
geben kann.  Viel  lieber  als  bei  diesen  Schwächen  im  einzelnen 
werden  wir  vielmehr  nun,  da  wir  am  Ende  unseres  Weges 
stehen,  bei  der  Gesinnung  verweilen,  die  auch  noch  die  plo- 
tinische Lebensauffassung  im  ganzen  durchwaltet;  und  bei 
der  Tatsache,  daß  so  die  Grundgedanken  der  philosophischen 
Ethik  der  Griechen  sich  bis  ans  Ende  in  ihrer  alten  Kraft  be- 
haupten. Denn  in  der  Lehre  des  Plotin  tritt  uns  das  Ideal  der 
inneren  Freiheit  mit  der  gleichen  Entschiedenheit  und  Uner- 
schütterlichkeit entgegen,  mit  der  es  zuerst  in  der  Person  des 
Sokrates  uns  begegnet  ist.  Und  so  klingt  hier  die  Ethik  der 
Alten  aus,  wie  sie  vielleicht  schon  mit  Herakli  t  begonnen  hatte: 
in  eine  erneuerte  scharfe  Betonung  des  Satzes,  daß  es  für  einen 


i)  Enn.  IV.  3.  16,  p.  384. 


VERFALL  UND  AUSGANG  DER  ETHIK  301 


guten  Mann  kein  Übel  gibt;  in  eine  ausführliche  Darlegung  vom 
Spielcharakter  des  Lebens;  und  in  eine  begeisterte  Verherr- 
lichung des  Universums.  Es  ist,  als  wollte  das  erlöschende 
Altertum  noch  einen  letzten  Warnungsruf  ausstoßen  für  all  jene 
kommenden  Zeiten,  auf  die  sich  förmlich  prophetisch  ein  Satz 
zu  beziehen  scheint,  der  uns  von  einem  Zeitgenossen  des  Plo- 
tinos,  dem  namenlosen  Verfasser  einer  „hermetischen"  Schrift 
überliefert  ist.  Denn  dieser  weissagt  in  seinem  „Asclepius"  *: 
'  „Dann  wird  dem  menschlichen  Überdrusse  die  Welt  nicht  mehr 
bewunderungs-  und  verehrungswürdig  erscheinen:  dieses  All- 
gute, besser  als  welches,  was  immer  man  denken  möge,  nichts 
war,  nichts  ist,  und  nichts  sein  wird  .* 


*)  Asclepius  25  (Apulei  opuscula  quae  sunt  de  philosophia  ed.  Goldbacher, 
S.  47.  23). 


ANHANG!  EINIGE  BEITRÄGE  ZUM  VER- 
STÄNDNIS DER  MYSTIKER 


IR  wissen,  daß  eine  große  Menge  von  Per- 
sonen zu  allen  Zeiten  visionäre  und  ek- 
statische Erlebnisse  hat.  Ein  engerer 
Kreis  rühmt  sich  eines  persönlichen  Ver- 
kehrs mit  der  Gottheit,  mag  nun  dieser  Ver- 
kehr, speziell  im  christlichen  Kulturkreis, 
mehr  einen  erotischen  Charakter  zeigen, 
oder  als  sympathetische  Teilnahme  an  der  Passion  sich  dar- 
stellen, oder  endlich  auf  den  ruhigen  Austausch  Kraft  und 
Vertrauen  einflößender  und  ausdrückender  Gefühle  sich  be- 
schränken. Aus  diesen  beiden  weiteren  Sphären  scheint  es 
zweckmäßig,  als  eine  engste  Gruppe  die  derjenigen  Menschen 
herauszugreifen  und,  im  prägnanten  Sinne  dieses  Wortes,  als 
die  der  Mystiker  zu  bezeichnen,  welche  aussagen,  daß  sie  die 
Vereinigung  ihrer  Seele  mit  Gott,  oder,  besser  und  allge- 
meiner, die  Einheit  des  letzten  Prinzips  ihres  eigenen 
Seins  mit  dem  der  Welt  unmittelbar  erfahren  haben. 
Denn  diese  Aussagen  finden  sich  in  so  erstaunlicher  Gleichartig- 
keit in  allen  Ländern,  Zeiten  und  Kulturen,  daß  ein  besonderer 
Ausdruck  zu  ihrer  Kennzeichnung  unbedingt  erforderlich  ist. 
Diese  Gleichartigkeit  beruht  freilich  zum  Teil  auf  einem  äuße- 
ren, geschichtlichen  Zusammenhang:  zwischen  Indien  und  dem 
Neuplatonismus  haben  Berührungen  stattgefunden;  dieser  hat 
einerseits  auf  die  sufische  Mystik  der  Araber  undPerser,anderer- 
seits  (besonders  durch  die  Vermittlung  der  angeblichen  Schrif- 
ten des  Dionysios  Areopagita)  auf  die  christliche  Mystik 
des  Mittelalters  gewirkt;  und  von  hier  aus  fließt  eine  stetige 
Überlieferung  bis  zu  den  Dichtern  des  17.  und  den  Philosophen 
des  19.  Jahrhunderts.  Allein  kein  Verständiger  wird  in  diesem 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  303 


Strome  der  Tradition  mehr  sehen  als  ein  anregendes  und  unter- 
stützendes Moment:  eine  so  ganz  auf  das  individuelle  Erlebnis 
gestellte  Richtung  setzt  bei  allen  ihren  hervorragenden  Ver- 
tretern1 eigene  und  innerliche  Erfahrungen  voraus.  Dann  aber 
müssen  jene  gleichförmigen  Aussagen  auch  auf  gemeinsamen 
und  typischen  Erfahrungen  beruhen. 

Wer  nun  nicht  selbst  über  Ekstasen  verfügt,  wird  nicht  umhin 
I  können,  sich  auch  diese  mystischen  Erfahrungen  als  Steige- 
rungen normaler  Erlebnisse  zu  denken  (so  sehr  er  geneigt  sein 
mag,  zuzugeben,  daß  diese  Steigerung  in  vielen  Fällen  durch 
eine  pathologische  Disposition  gefördert  sein  kann),  und  wird 
also  trachten,  sie  seinem  Verständnis  dadurch  näher  zu  bringen, 
daß  er  sie  auf  allgemein  menschliche  typische  Grunderfahrun- 
gen zurückführt.  Von  solchen  aber  scheinen  mir  in  der  Tat 
drei  in  den  mystischen  Aussagen  unverkennbar  hervorzutreten: 
das  erkenntnistheoretische,  das  ethische  und  das  reli- 
I  giöse  Urphänomen. 

Unter  dem  erkenntnistheoretischen  Urphänomen  ver- 
stehe ich  hier  die  Tatsache,  daß  der  Mensch  die  Dinge  der 
Außenwelt  in  doppelter  Weise  auffassen  kann.  Sie  können  sich 
ihm  darstellen  als  von  ihm  unabhängige,  ein  selbständiges  Sein 
besitzende,  fremde  Wesenheiten,  somit  als  Gegenstände  oder 
Dinge  an  sich.  Sie  können  sich  ihm  aber  auch  darstellen  als 
von  ihm  abhängige,  nur  unselbständig  existierende  Bestandteile 
seines  Bewußtseins,  somit  als  Vorstellungen  oder  Erscheinungen 
für  das  Ich.  Die  real  istischen  Systeme  der  Philosophen  legen 
allein  die  erstere,  die  idealistischen  allein  die  letztere  Auf- 
fassungsweise zugrunde.  Eine  umfassendere  Betrachtung  wird 
jedoch  eben  davon  ausgehen  müssen,  daß  beide  Auffassungs- 

!)  Zu  diesen  rechne  ich  alle  im  folgenden  zitierten  Mystiker,  ausgenommen 
allein  Angelus  Silesius.  Dieser  hat,  wie  mir  scheinen  will,  lediglich, 
wie  anderen  Richtungen  religiöser  Stimmung,  so  auch  der  mystischen 
sein  entwickeltes  Formtalent  geliehen.  Eben  dieses  Formtalentes  wegen 
aber  läßt  es  sich  schwer  vermeiden,  zur  Illustration  der  mystischen  Ge- 
danken auch  seine  (oft  besonders  glückliche)  Fassung  derselben  heran- 
zuziehen. 


304 


ANHANG 


weisen  möglich  sind,  und  daß  unter  gewissen  Verhältnissen  von 
einer  zur  andern  übergegangen  werden  kann.  Da  jedoch  die 
realistische  Auffassung  diejenige  des  gewöhnlichen  Lebens  ist, 
so  wird  der  Übergang  von  ihr  zur  idealistischen  Auffassung  in 
der  Regel  die  Aufmerksamkeit  besonders  auf  sich  ziehen,  und 
die  Erfahrung  dieses  Überganges  scheint  das  erste,  für  die 
Mystik  charakteristische  Moment  zu  sein. 

Unter  dem  ethischen  Urphänomen  verstehe  ich  hier  die 
Tatsache,  daß  der  Mensch  um  so  intensivere  Kraftgefühle  erlebt, 
je  weiter  der  Kreis  von  Objekten  ist,  die  er  als  zu  seinem  Ich 
gehörig  empfindet.  Die  Ichsphäre  ist  nämlich  an  sich  höchst 
variabel.  Sie  kann  sich  auf  einen  engsten  Kreis  von  „Interessen" 
einschränken,  die  der  Selbsterhaltung  dienen,  und  von  Objekten, 
welche  dieselnteressen  zu  befriedigen  oderzu  hemmen  vermögen. 
Sie  kann  sich  aber  auch,  durch  viele  Zwischenstufen  hindurch, 
fast  schrankenlos  erweitern:  zunächst  durch  „Teilnahme" 
an  einzelnen  Menschen,  und  durch  „Aufgehen"  in  den  Ange- 
legenheiten bestimmter  Lebensgebiete;  sodann  durch  steigendes 
„Interesse"  an  „allgemeinen"  Fragen  und  Schicksalen;  endlich 
durch  „Identifizierung"  mit  selbstgeschaffenen  Werken  in  der 
Produktivität,  und  vor  allem  mit  einem  unbeschränkten  Kreise 
von  Wesen  in  der  Liebe.  Je  näher  nun  ein  Leben  dem  Anfang 
dieserReihe  steht,  desto  „ärmer"  nennen  wir  es;  um  so  „reicher" 
aber,  je  mehr  es  sich  ihrem  Ende  zuneigt.  In  diesen  Aussagen 
drücken  sich  aber  nur  die  geringeren  oder  größeren  Grade  der 
Gefühle  von  Kraft  und  Fülle  aus,  welche  mit  diesen  Zuständen 
verbunden  sind.  Diese  wachsen  also  mit  der  „Erweiterung"  des 
Ich  zum  „überindividuellen",  und  sie  nehmen  ab  mit  seiner 
„Verengung"  zum  „persönlichen".  Mit  der  „Überwindung"  dieses 
„persönlichen"  Ich  ist  daher  eine  „Schwellung"  des  allgemeinen 
Lebensgefühls  verbunden,  die  sich  mit  Vorliebe  als  „Begeiste- 
rung" dem  Bewußtsein  kundgibt. 

Als  das  religiöse  Urphänomen  endlich  bezeichne  ich  die 
Tatsache,  daß  der  Mensch  sich  um  so  „unruhiger,  unsicherer, 
bedrohter"  fühlt,  je  mehr  er  sich  abhängig  denkt  von  Wesen, 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  305 


Dingen  und  Ereignissen  außer  ihm,  auf  die  er  sich  nicht  „ver- 
|  lassen"  kann;  um  so  „ruhiger,  sicherer,  zuversichtlicher"  aber, 
je  unabhängiger  er  sich  von  solchen  denkt,  und  je  mehr  er  also 
entweder  von  allem  Äußeren  unabhängig  zu  sein  meint,  oder 
doch  nur  abhängig  von  solchem,  dem  er  volles  „Vertrauen" 
entgegenbringt.  Je  mehr  also  eine  dieser  beiden  Alternativen 
verwirklicht  ist,  um  so  mehr  fühlt  er  sich  „befreit"  und  „erlöst". 

Als  eine  Synthese  dieser  drei  Urphänomene  nun  erscheinen 
mir  die  typischen  Erfahrungen  und  Aussagen  der  Mystiker  im 
wesentlichen  verständlich.  Näher  aber  handelt  es  sich  dabei 
um  eine  Interpretation  der  ersten  dieser  drei  Grunderfahrungen 
unter  dem  Einflüsse  der  beiden  letzten. 

Das  erkenntnistheoretische  Urphänomen  ist  nämlich  an  und 
für  sich  einer  mehrfachen  Deutung  fähig,  wie  schon  angedeutet 
wurde.  Es  kann  zunächst  interpretiert  werden:  einerseits  als 
eine  wirkliche  Verwandlung  der  realen  Objekte  in  subjektive 
Phänomene,  andererseits  als  eine  bloße  Erkenntnis  eines 
schon  früher  vorhandenen,  aber  erst  jetzt  verstandenen  Tat- 
bestandes. Das  letztere  wird  im  allgemeinen  dann  der  Fall  sein, 
wenn  derjenige,  der  die  Erfahrung  macht,  ein  starkes  Interesse 
;  daran  hat,  die  „idealistische"  Auffassung  der  Außenwelt  als  eine 
dauernde  zu  denken.  Das  erkenntnistheoretische  Urphänomen 
kann  aber  weiterhin  auch  gedeutet  werden:  einmal  als  ein  Ab- 
hängig-Werden  oder  Sein  der  Dinge  von  einem  engen,  beson- 
deren, persönlichen  Individual-Ich,  sodann  aber  auch  als  ein 
solches  von  einem  weiten,  allgemeinen,  überpersönlichen  Welt- 
Ich.  Es  kann  entweder  so  verstanden  werden,  daß  die  Welt 
„herabsinkt"  und  sich  „einschränkt"  zu  einer  Welt  des  Ich; 
oder  so,  daß  das  Ich  „erhoben"  und  „erweitert"  wird  zu  einem 
Ich  der  Welt.  Ist  erst  einmal  die  normale  Auffassung  des 
Äußeren,  als  eines  dem  Ich  gegenüberstehenden  Du, aufgehoben, 
so  kann  das  nun  allein  übrigbleibende  Ichgefühl  sich  ebenso- 
wohl in  einem  einzigen  Mittelpunkte  sammeln,  als  auch  sich 
durch  die  Gesamtheit  der  Erscheinungen  ergießen.  Ob  aber 
das  eine  oder  das  andere  geschieht,  das  wird  im  allgemeinen 

Goraperz,  Lebensauffassung  20 


306 


ANHANG 


davon  abhängen,  ob  das  Ich  desjenigen,  der  das  Phänomen  er- 
fährt, zu  einer  restriktiven  oder  aber  zu  einer  extensiven 
Auffassung  der  Ich-Sphäre  neigt. 

Trifft  nun  das  erkenntnistheoretische  Urphänomen  auf  einen 
Menschen,  der  von  dem  ethischen  Urphänomen  heftig  ergriffen 
ist,  und  der  also  jede  Gelegenheit  benutzt,  seine  Ichsphäre  zu 
erweitern,  so  wird  es  erlebt  werden  als  ein  Übergehen  des  per- 
sönlichen Ich  in  ein  Welt-Ich,  und  es  wird  mit  ihm  eine  außer- 
ordentliche Steigerung  aller  Kraftgefühle  verbunden  sein.  Der 
Betreffende  wird  erleben:  eine  „Überwindung"  des  individuellen 
Ich,  ein  „Sichverlieren"  an  die  Welt;  und,  indem  er  sich  in 
dieser  Weise  zu  dem  letzten  Träger  alles  Daseins  erweitert,  wird 
er  von  der  hinreißendsten  Begeisterung  erfüllt  sein.  Zugleich 
aber  wird  er  das  religiöse  Urphänomen  in  seiner  größten  Heftig- 
keit erfahren.  Denn  außer  der  Welt  ist  nichts.  Die  Welt  aber  ist 
von  ihm  abhängig.  Es  kann  also  nichts  geben,  was  außer  ihm 
ist,  was  ihn  bedrohen  könnte,  wovor  er  sich  fürchten  müßte, 
was  ihn  unruhig  oder  unsicher  zu  machen  vermöchte;  sondern 
in  absoluter  Ruhe,  Sicherheit  und  Zuversicht  wird  er  sich  völlig 
befreit  und  erlöst  fühlen.  Damit  aber  ist  auch  das  Interesse 
gegeben,  diesen  Zustand  nicht  für  vorübergehend,  sondern  für 
dauernd  zu  halten,  also  das  erkenntnistheoretische  Urphänomen 
auszulegen:  nicht  als  eine  zeitweilige  Änderung  der  nor- 
malen Beziehung  von  Ich  und  Welt,  sondern  als  eine  Er- 
kenntnis ihres  wahren  und  ewigen  Verhältnisses.  In 
dieser  wechselseitigen  Beeinflussung  und  Durchdringung  aber 
stellen,  wie  mir  scheint,  die  besprochenen  drei  Urphänomene 
die  mystische  Grunderfahrung  dar. 

Soll  nun  aber  diese  theoretisch  formuliert  werden,  so  ergeben 
sich  mit  logischer  Notwendigkeit  gewisse  dogmatische  Be- 
stimmungen. Diese  wollen  wir  jetzt  kurz  entwickeln,  und  durch 
die  übereinstimmenden  Aussagen  von  Mystikern  sehr  verschie- 
dener Zeiten,  Länder  und  Kulturen  belegen.  Zu  diesem  Zwecke 
aber  greife  ich  aus  der  Überfülle  des  Materials  so  ziemlich  aufs 
Geratewohl  einige  charakteristische  Äußerungen  heraus,  ohne 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  307 


j  zu  verschweigen,  daß  für  meine  Auswahl  auch  sehr  zufällige 

|  und  äußerliche  Gründe  mitbestimmend  waren. 

Zunächst  also:  was  kann  man  von  dem  Welt-Ich  aussagen  in 
seinem  Verhältnis  zur  Welt,  noch  ohne  Rücksicht  darauf,  daß 

|  es  als  identisch  mit  unserem  Individual-Ich  erkannt  werden 
kann?  Denn  offenbar  muß,  ehe  die  mystische  Grunderfahrung 
als  diese  Identifizierung  formuliert  werden  kann,  erst  das  zweite 
Glied  derselben,  eben  das  Welt-Ich,  begrifflich  gefaßt  sein.  Auf 
den  Namen  nun  kommt  es  nicht  an:  Brahman,  Gott,  das  Abso- 
lute sind  als  Bezeichnungen  in  gleicher  Weise,  wenn  auch  nicht 

;  ohne  Vorbehalte,  brauchbar.  Die  sachliche  Antwort  aber  wird 
lauten  müssen:  es  ist  kein  wahrnehmbarer  Bestandteil  der  Dinge, 

I  aber  es  durchdringt  sie  ganz,  und  ist  dasjenige,  an  dem  und 
durch  das  sie  einzig  ihr  Sein  haben.  Es  ist  also  die  Substanz, 
das  Prinzip  der  Welt.  Demnach  hören  wir  in  den  Upanishad's 
des  Veda,  Brahman  verhalte  sich  zur  Welt  wie  der  Ton  zu  dem 
tönernen  Ding 1 :  „an  Worte  sich  klammernd  ist  die  Umwandlung, 
ein  bloßer  Name,  Ton  nur  ist  es  in  Wahrheit";  wie  die  Lebens- 
kraft zu  dem  Baum2,  als  sein  „lebendiges  Selbst";  wie  das  Salz 
zu  der  Salzlösung,  die  es,  unwahrgenommen,  doch  ganz  durch- 
dringt3. Es  ist  „das  innere  Selbst  in  allen  Wesen"4. 

Aber  eben  weil  es  unwahrnehmbar  ist,  ist  das  Absolute  auch 
unvorstellbar,  und  es  kann  deshalb  keine  Eigenschaft  von  ihm 
ausgesagt  werden.  Man  kann  ihm  solche  höchstens  analogisch 
und  metaphorisch  beilegen;  im  besten  Fall  ihm  „Übereigenschaf- 
ten" zusprechen,  was  zum  Teil  besagt,  es  besitze  die  betreffenden 

!)  Chandogya-Up.  6.  T.  3  (Deussen,  60  Upainshad's  des  Veda,  S.  160).  2)  ibid. 
6.  11.  1  (Deussen  S.  167).  3)  ibid.  6.  13.  2  (Deussen  S.  168).  4)  Mundaka-Up. 
2.  1.  4  (Deussen  S.  551).  —  Sehr  ähnlich  ist  das  Verhältnis  des  Absoluten 
zur  Welt  bei  Parmenides,  Plotin,  Spinoza,  Fichte,  Sendling, 
Hegel,  Schopenhauer.  Doch  haben  bei  der  Mehrzahl  dieser  Denker 
mystische  Erfahrungen  wohl  höchstens  in  verkümmerter  Gestalt  statt- 
gefunden, weshalb  denn  auch  die  Möglichkeit  eines  unmittelbaren  Er- 
fahrens der  Identität  von  Ich  und  Absolutem  bei  ihnen  keine  entschei- 
dende Rolle  spielt.  Nur  mit  Plotin  und  Fichte  verhält  es  sich  anders, 
wie  wir  unten  sehen  werden. 

20* 


308 


ANHANG 


Eigenschaften,  als  seiner  unwürdig,  nicht,  zum  Teil,  es  besitze 
sie  in  einem  uneigentlichen,  übertragenen  Sinn,  zum  Teil,  es 
besitze  sie  in  höchst  vollkommener  Weise;  im  strengen  Sinne 
aber  kann  sein  Wesen  nur  durch  negative  Prädikate  bestimmt 
werden,  also  dadurch,  daß  man  ihm  alle  erdenklichen  positiven 
Eigenschaften  abspricht.  Diesen  Grundsätzen  sind  die  Mystiker 
aller  Zeiten  mit  einer  erstaunlichen  Konsequenz  gefolgt.  In 
Indien  hören  wir:  das  Brahman  ist  „nicht  so  und  nicht  so"1, 
weder  seiend  noch  nichtseiend2.  Plotin  nennt  zwar  das  Abso- 
lute häufig  das  Gute,  das  Seiende,  den  jenseitigen  Gott,  sagt 
auch  gelegentlich  von  ihm,  es  sei  „jenseits  der  Schönheit"3  und 
„jenseits  des  Seins"4,  spricht  ihm  aber  doch,  wo  er  sich  exakt 
ausdrücken  will,  mit  allen  Qualitäten5  nicht  nurEmpfindung 6  und 
Willen7,  sondern  auch  Güte8  und  Bewußtsein9,  ja  Sein  über- 
haupt10 ab,  indem  er  ausdrücklich  bemerkt11,  es  lasse  nur  nega- 
tive Bestimmungen  zu.  Bekanntlich  haben  diese  Grundsätze 
auch  auf  die  offizielle  Theologie  des  Islam  wie  des  Christentums 
starken  Einfluß  geübt;  und  wenn  dort  Alfarabi  Gott  für  un- 
definierbar erklärt12,  weil  nur  metaphorisch -analogische  Aus- 
sagen über  ihn  zulässig  seien,  so  sagt  hier  Th  o  masvonAquino, 
was  Gott  ist,  könnten  wir  nicht  aussagen13,  und  er  heiße  auch 
nur  uneigentlicher  Weise  ein  Geist14.  Mit  ganz  anderer  Kühn- 
heit aber  redet  von  diesen  Dingen  Meister  Eckhardt:  „Ein 
Meister  spricht,  und  daz  ist  sanctus  Dionisius:  Got  ist  weder 
ditz  noch  daz." 15  „Und  ist  er  noch  gut  noch  wesen  noch  wor- 
heit  noch  ein,  waz  ist  er  dan?  Er  ist  auch  nicht,  er  ist  weder 
diez  noch  daz." 16  „Got  ist  ob  dem  wesen  alz  höh,  alz  der  oberst 
engel  ob  einer  mukken."17  „Gut  ist  cleid,  da  Got  under  ver- 

i)  Brihadaranyaka-Up.  4.  2.  4  (Deussen  S.  462);  vgl.  ibid.  4.  4.  22  (Deussen 
S.  480)  und  Mandukya-Karika  3.  26  (Deussen  S.  590).  2)  Bhagavad-Ghita 
13.  12.  3)  Enn.  I.  6.  9.  *)  Enn.  V.  5.  6.  5)  Enn.  VI.  9.  3.  6)  Enn.  VI.  7.  41. 
1)  Enn.  VI.  9.  6.  »)  Enn.  VI.  9.  6.  9)  Enn.  V.  6.  5—6.  ">)  Enn.  V.  4.  1.  »)  Enn. 
VI.  8.  11.  12)  De  Boer,  Philosophie  im  Islam  S.  105.  13)  Summ.  Theol.  I. 
qu.  1,  art.  7  ad  1.  W)  Ibid.  I.  qu.  3,  art.  2  ad  1.  i*)  Jostes,  Meister 
Eckhardt  und  seine  Jünger  S.  26.  2.  16)  ibid.  S.  23.  26.  ^)  Ibid. 
S.  25.  27. 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  309 

borgen  ist.al  „In  dem  ewigen  Wort  ist  weder  boz  noch  gut."2 
„Die  sei  sol  alz  gentzlichen  gesencht  sein  in  den  grundlozen 
grünt  des  gotlichs  nichtz."3  „Got  enhat  niht  wille  noch  minne 
noch  verstandnuz."4  „So  spricht  Dionisius:  Got  ensei  niht  ein 
geist."5  „Allez,  daz  man  gesprechen  mak,  die  enist  Got  niht."6 
„Got  enist  noch  gut  noch  wor."7  Ebenso  sprechen  sich  die 
Dichter  des  17.  Jahrhunderts  aus.  So  sagt  Daniel  v.  Czepko8: 

„Wie  sehr  irrt  der,  der  schwartz  die  helle  Sonne  heist; 
Noch  mehr  der,  so  da  spricht:  Gott  ist  gut  und  ein  Geist." 

Ferner  Angelus  Silesius: 

„Mensch,  so  du  etwas  liebst,  so  liebstu  nichts  fürwahr: 
Gott  ist  nicht  diß  und  daß,  drumb  laß  das  Etwas  gar."9 

„Je  mehr  du  Gott  erkennst,  je  mehr  wirstu  bekennen, 
Daß  du  je  weniger  Ihn,  was  er  ist,  kannst  nennen." 10 

„Was  Gott  ist,  weiß  man  nicht:  er  ist  nicht  Licht,  nicht  Geist, 
Nicht  Wahrheit,  Einheit,  Eins,  nicht  was  man  Gottheit  heist: 
Nicht  Weißheit,  nicht  Verstand,  nicht  Liebe,  Wille,  Gütte, 
Kein  Ding,  kein  Unding  auch,  kein  Wesen,  kein  Gemütte: 
Er  ist,  was  ich,  und  du,  und  keine  Creatur, 
Eh  wir  geworden  sind  was  er  ist,  je  erfuhr." 11 

„Was  ist  das  Wesen  Gotts?  Fragstu  mein  Ängigkeit? 
Doch  wisse,  daß  es  ist  ein  Überwesenheit." 12 

„Was  man  von  Gott  gesagt,  das  gnüget  mir  noch  nicht: 
Die  Übergottheit  ist  mein  Leben  und  mein  Licht." 13 

„Gott  ist  ein  lauter  Nichts,  Ihn  rührt  kein  Nun  noch  Hier: 
Je  mehr  du  nach  Ihm  greifst,  je  mehr  entwird  er  dir."  14 

„Die  zarte  Gottheit  ist  ein  Nichts  und  Übernichts: 

Wer  nichts  in  Allem  sieht,  Mensch  glaube,  dieser  sieht's."  15 

Die  nächste  Frage  ist  die  nach  den  Bedingungen,  unter  wel- 
chen das  also  gefaßte  Welt-Ich  als  identisch  erkannt  werden  kann 

1)  Ibid.  S.  27.  14.  2)  ibid.  S.  29.  33.  3)  ibid.  S.  34.  9.  *)  ibid.  S.  47.  26. 
5)  Ibid.  S.  60.  19.  6)  ibid.  S.  74.  13.  7)  ibid.  S.  90.  22.  8)  Sexcenta  mono- 
disticha  sapientum  V.  75  (Ellinger,  Einleitung  zu  Angelus  Silesius;  Neu- 
drucke deutscher  Literaturwerke  Nr.  135—138,  p.  LI).  9)  Cherubinischer 
Wandersmann  1. 44.  10)  Ibid.  V.  41.  ")  Ibid.  IV.  21.  12)  ibid.  II.  145.  13)  ibid. 
I.  15.   14)  ibid.  I.  25.   15)  ibid.  I.  111. 


310 


ANHANG 


mit  dem  eigenen  Ich  des  Individuums.  Die  Antwort  kann  nicht 
zweifelhaft  sein.  Einmal  liegt  in  dem  „ethischen  Urphänomen" 
ohne  weiteres  die  Erfahrung,  daß  das  Ich  nur  erweitert  werden 
kann  zum  Welt-Ich,  wenn  das  enge  Individual-Ich  überwunden 
wird.  Ferner  ist  aber  auch  das  Erlöschen  des  individuellen  Ich- 
bewußtseins notwendige  Voraussetzung  für  die  extensive  Inter- 
pretation des  erkenntnistheoretischen  Urphänomens.  Denn  das 
Ichgefühl  kann  sich  zu  den  Erscheinungen  nur  verhalten:  ent- 
weder als  ein  ihnen  zentral  gegenüberstehendes,  oder  als  ein 
ihnen  diffus  einwohnendes  Subjekt:  beides  zugleich  ist  unmög- 
lich. Aber  nur  im  ersteren  Falle  würde  ein  individuelles  Ich- 
bewußtsein ausgesagt  werden.  Es  wird  also  für  die  mystische 
Erfahrung  ein  „Sichverlieren"  in  die  Welt,  ein  „Aufgehen"  in 
ihr  erfordert;  dann  erst  kann  das  Ichgefühl  „hineinfallen"  in  die 
Dinge.  Wir  alle  kennen  diesen  Zustand  als  das  „Versunken- 
sein" in  einen  Anblick;  es  muß  aber  wohl  die  ethische  Erfah- 
rung der  Icherweiterung  und  Selbstüberwindung,  und  die  reli- 
giöse der  Befreiung  und  Erlösung  hinzutreten,  um  diesen  Zu- 
stand zu  jener  Energie  zu  steigern,  die  uns  die  Sprache  der 
Mystiker  verrät.  So  sagt  Plotin1:  „Wie  aber  in  anderen  Be- 
ziehungen es  unmöglich  ist,  an  Eines  zu  denken,  wenn  man 

an  etwas  Anderes  denkt  und  im  Geiste  bei  diesem  ist  —  , 

so  muß  man  auch  hier  verstehen,  daß  es  unmöglich  ist,  das 
Seiende  zu  denken,  wenn  man  die  Vorstellung  von  etwas  an- 
derem in  der  Seele  hat,  vielmehr  muß  sie  leer 

werden,  wenn  sie  will,  daß  kein  Hindernis  entgegenstehe 
ihrer  Erfüllung  und  Erleuchtung  durch  das  erste  Prinzip.  So- 
mit muß  sie  von  allem  Äußeren  sich  abkehren  und  sich  ganz 
nach  innen  wenden,  nicht  an  ein  Äußeres  sich  lehnen,  son- 
dern erst,  wenn  sie  ihr  Wissen  um  alle  Dinge  abgelegt  hat  — 

 ,  und  auch  das  Wissen  um  sich  selbst,  kann  sie  dazu 

gelangen,  jenes  erste  Prinzip  zu  schauen  ".  Ferner2: 

„Hier  ist  der  wahrhaftige  Geliebte,  an  dem  man  teilnehmen, 
mit  dem  man  verkehren,  und  den  man  wahrhaft  besitzen  kann, 


i)  Enn.  VI.  9.  7.  2)  Enn.  VI.  9.  9. 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  311 

ohne  daß  er  verhüllt  wäre  durch  Fleisch  und  Knochen.  Wer 
es  aber  erlebt  hat,  der  weiß,  was  ich  rede:  die  Seele  gewinnt 
ein  anderes  Leben,  wenn  sie  sich  ihm  nähert,  und  ihn  erreicht, 
und  an  ihm  teilnimmt,  und  wird  so  gestimmt  zu  der  Einsicht, 
daß  dieses  die  Ausstattung  des  wahrhaftigen  Lebens  ist,  und  ver- 
langt nichts  anderes  mehr.  Im  Gegenteil:  abtun  muß  man  alles 
andere,  allein  auf  diesen  Punkt  sich  stellen  ,  abschnei- 
den von  sich  das  übrige,  an  dem  wir  haften;  und  so  eilen  wir 
denn,  von  alle  dem  uns  zu  entfernen,  und  zürnen,  wenn  wir 
an  anderes  gefesselt  sind;  denn  mit  unserm  ganzen  Selbst  wollen 
wir  Gott  umfangen,  und  es  soll  kein  Teil  von  uns  sein,  der  ihn 
nicht  berührte."  Wiederum  sagt  Eckhardt:  „Gotes  iht,  daz 
enwirt  niht  funden  von  der  sele,  ez  sei  denn,  daz  si  sey  zu  niht 
worden"1;  und  weiterhin:  „So  stirbet  sie  iren  hohsten  tot.  In 
disem  tot  verleuset  di  sele  alle  begerung  und  alle  bild  und  alle 

verstantnuzz  und  alle  form  und  wirt  beraubt  aller  wesen  . 

Alz  lang  als  daz  in  dir  ist,  daz  du  dich  niht  allzumol  endest  und 
dich  selber  ertrenkest  in  disem  grundlosen  mere  der  gotheit,  so 

enmaht  du  niht  bekennen  disen  gotlichen  tot  .  Alz 

nu  di  sele  sich  verleuset  in  aller  weis  so  vindet  di  sele 

daz,  daz  si  daz  selb  ist,  daz  si  gesucht  hat  sunder  zugank."2 
Ferner  Angelus  Silesius: 

„Je  mehr  du  dich  auß  dir  kannst  austhun  und  entgießen; 
Je  mehr  muß  Gott  in  dich  mit  seiner  Gottheit  fließen."3 

„Entwächsest  du  dir  selbst  und  aller  Creatur, 
So  wird  dir  eingeimpfft  die  göttliche  Natur."4 

„Nichts  bringt  dich  über  dich  als  die  Vernichtigkeit: 
Wer  mehr  vernichtigt  ist,  der  hat  mehr  Göttlichkeit."5 

„Wer  ist,  als  war'  er  nicht,  und  war'  er  nie  geworden, 
Der  ist  (O  Seeligkeit!)  zu  lauter  Gotte  worden."6 

!)  Jostes  S.  94.  38.  2)  ibid.  S.  95.  29.  3)  Cherub.  Wandersm.  I.  138.  *)  ibid. 
II.  57.  5)  ibid.  II.  140.  6)  ibid.  1. 92.  —  Eine  etwas  abgeschwächte  Form  dieses 
Erlebnisses,  die  aber  wenigstens  durch  die  Bildlichkeit  der  Ausdrücke 
die  charakteristischen  Momente  deutlich  genug  bewahrt,  findet  man  in 
Rousseaus  3.  Brief  an  Malesherbes  (Petits  Chefs- d'ceuvre  S.  508f.). 


312 


ANHANG 


Die  letzte  Vorfrage  endlich  betrifft  die  Art  der  Erkenntnis, 
durch  die  jene  innere  Identität  erkannt  werden  kann.  Nun  ist  ja 
von  vornherein  klar,  daß  die  mystische  Grunderfahrung,  das 
Erleben  der  Dinge  als  Erscheinungen  für  ein  in  die  Welt  ver- 
legtes Ich  weder  sinnlich  wahrgenommen  oder  vorgestellt  noch 
auch  begrifflich  erdacht  werden  kann,  sondern  eben  schlechthin 
erlebt  wird.  Es  kommt  aber  dazu,  daß  diese  Erfahrung,  wie 
wir  schon  gesehen  haben,  das  Aufhören  des  individuellen  Ich- 
bewußtseins voraussetzt;  wo  aber  kein  Selbstbewußtsein  ist, 
da  scheint  schon  gar  kein  Denken  oder  Erkennen  sein  zu  können 
(obwohl  natürlich  in  Wahrheit  dem  Bewußtsein,  und  so  auch 
dem  Denken,  nur  die  Charakteristik  des  Individual-Bewußt- 
seins  und  Individual-Denkens  fehlt;  denn  wo  gar  kein 
Bewußtsein  wäre,  da  könnte  auch  gar  nichts  erfahren,  und 
also  auch  gar  nichts  ausgesagt  werden).  Alle  Mystiker  sind 
deshalb  einstimmig  in  derBehauptung,  daß  die  mystische  Identi- 
tätserfassung weit  über  Denken  und  Erkennen  erhaben  sei,  und 
sie  begründen  dies  auch  übereinstimmend  durch  die  Erwägung, 
daß  ja  die  Erkenntnis  eine  Trennung  von  erkennendem  Subjekt 
und  erkanntem  Objekt  voraussetze,  daß  aber  in  diesem  Falle 
diese  Trennung  eben  aufgehoben,  und  daher  für  Denken,  Er- 
kennen, ja  Bewußtsein  überhaupt  gar  kein  Raum  mehr  vorhan- 
den sei:  es  fehlt  eben  jetzt  nicht  nur  das  Einandergegenüber- 
stehen  von  Ich  und  Du,  sondern  auch  das  von  Subjekt  und 
Erscheinung.  So  hören  wir  denn  in  den  UpanishadV:  „Denn 

wo  eine  Zweiheit  gleichsam  ist,  da  erkennt  Einer 

den  Anderen;  wo  aber  Einem  Alles  zum  eigenen  Selbste  gewor- 
den ist,  wie  sollte  er  da  irgendwen  erkennen?  

Wie  sollte  es  doch  den  Erkenner  erkennen?"  In  diesem  Sinne 
also  sei  „nach  dem  Tode  kein  Bewußtsein"  für  den  Erlösten. 
Und  wiederum2:  „Wenn  er  dann  nicht  erkennt,  so  ist  er 
doch  erkennend,  obschon  er  nicht  erkennt;  denn  für  den  Er- 
kennenden ist  keine  Unterbrechung  des  Erkennens,  weil  er  un- 

i)  Brihadaranyaka-Up.  2.  4.  12—14  (Deussen  S.  418  f.).  2)  ibid.  4.  3.  30 
(Deussen  S.  472). 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  313 


vergänglich  ist;  aber  es  ist  kein  Zweites  außer  ihm,  kein  andres, 
von  ihm  verschiedenes,  das  er  erkennen  könnte."  Und  endlich1: 

„Nur  wer  es  nicht  erkennt,  kennt  es, 
Wer  es  erkennt,  der  weiß  es  nicht, 
Nicht  erkannt  vom  Erkennenden, 
Erkannt  vom  Nichterkennenden." 

Ebenso  führt  PI otin  wiederholt  und  nachdrücklich  aus,  in 
|  der  mystischen  Ekstase  verschwinde  die  Zweiheit  von  Erken- 
nendem und  Erkanntem,  und  werde  zur  Einheit2,  unter  Auf- 
hebung alles  Empfindens,  Denkens,  ja  alles  Selbstbewußtseins 
überhaupt3.  VonEckhardt  aber  haben  wir  schon  gehört,  daßdie 
I  Seele,  um  sich  selbst  als  Gott  zu  finden,  „alle  bild  und  alle  ver- 
stantnuzz"  verlieren  müsse;  und  mit  großartiger  Paradoxie 
drückt  er  diesen  Gedanken  auch  aus  in  dem  Satze4:  „Man  soll 
Got  suchen  mit  irrethume  und  mit  vergezzenheit  und  mit  un- 
sinnen." 

Wir  kommen  nun  zum  Hauptpunkt,  zu  der  mystischen  Identi- 
tätserfahrung selbst,  und  hier  ist  es,  nach  allem  Vorhergehen- 
den, nicht  nötig,  noch  weitere  Bemerkungen  vorauszuschicken, 
!  sondern  es  genügt,  die  Zeugnisse  selbst  vorzuführen.  In  den 
Upanishad's  sprichtUddalaka  Aruni  zu  seinem  SohneQveta- 
ketu:  In  der  Frucht  des  Nyagrodhabaumes  sind  viele  Kerne. 
Und  wennmansiespaltet,sosiehet  man  darinnen  gar  nichts.  Aber 
„die  Feinheit,  die  du  nicht  wahrnimmst,  o  Teurer,  aus  dieser 
Feinheit  fürwahr  ist  dieser  große  Nyagrodhabaum  entstanden. 
Glaube,  o  Teurer,  was  jene  Feinheit  ist,  ein  Bestehen  aus  dem  ist 
dieses  Weltall,  das  ist  das  Reale,  das  ist  die  Seele,  das  bist  du,  o 
Qvetaketu!"5  Und  dieses:  Tattvam  asi,  ist  der  Grundgedanke,  der 
das  ganze  Vedantasystem  beherrscht.  Da  heißt  es:  „Es  ist  deine 
Seele,  welche  allem  innerlich  ist."  6  „Wahrlich,  wer  jenes  höchste 
Brahman  kennt,  der  wird  zu  Brahman."7  Brahman  wird  zu 

i)  Kena-Up.  2.  11  (Deussen  S.  206).  2)  Enn.  V.  8.  11;  VI.  7.  34—35;  VI.  9.  3. 
3)  Enn.  VI.  9. 7.  4)  jostes  S.  1. 8.  5)  Chandogya-Up.  6. 12  (Deussen  S.  168  ff.). 
6)  Brihadaranyaka-Up.  3.  4.  1  f.  (Deussen  S.  435  f.).  ?)  ibid.  3.  2.  9  (Deussen 
S.  558). 


314 


ANHANG 


diesem  Weltall.  Und  wer  immer  von  den  Göttern  und  Men- 
schen erkennt:  „Ich  bin  Brahman",  der  wird  zu  demselbigen1. 
Plotin  aber  sagt  von  der  Stunde  der  Einigung  mit  Gott2:  „Da 
kann  man  dann  schauen,  sowohl  jenen  wie  sich  selbst,  wie  es 
recht  ist,  sie  zu  schauen:  sich  selbst  nämlich  strahlend,  voll  von 
dem  Lichte  der  Erkenntnis,  oder  besser:  selbst  ein  reines  Licht, 
schwerlos  und  leicht,  zu  Gott  werdend  oder  vielmehr  Gott 

seiend."  Und  wiederum3:  „Emporgeführt  also  werden  wir  

— zum  Seienden,  und  steigenhinauf  zu  ihm  ,und  erkennen 

es.  Nicht  indem  wirBilder  davon  haben  oder  Vorstellungen.  Viel- 
mehr, indem  wir  es  selbst  sind.  Wenn  wir  also  teilhaben  an 
der  wahrhaftigen  Erkenntnis,  so  sind  wir  das  Seiende:  nicht  in- 
dem wir  es  in  uns  aufnehmen,  sondern  indem  wir  in  ihm 
sind.  Aber  da  auch  die  Andern  das  Seiende  sind,  nicht  nur  wir, 

so  sind  wir  es  Alle,  somit  Alle  Eins.  Aber  nach 

außen  blickend,  oder  nach  dem,  woran  wir  hängen,  verkennen 
wir,  daß  wir  Eins  sind,  wie  viele  nach  außen  gewandte  Ge- 
sichter, die  innen  einen  gemeinsamen  Scheitel  haben.  Aber 
wenn  Einer  sich  umwenden  könnte,  sei  es  aus  eigener  Kraft 
oder  beglückt  durch  die  Hilfe  der  Athene,  dann  sieht  er  Gott 
und  sich  selbst  und  das  All.  Er  erkennt  es  aber  nicht  gleich  als 
das  All.  Später  aber,  da  er  keinen  Punkt  findet,  wo  er  selbst 
steht,  und  keine  Grenze,  bis  wohin  er  reicht,  hört  er  auf,  sich 
selbst  abzusondern  von  dem  gesamten  Sein,  sondern  geht  über 
in  das  All,  ganz  ohne  sich  von  der  Stelle  zu  rühren,  sondern 
eben  da  bleibend,  wo  das  All  gegründet  ist."  Ebenso  bezeugt 
Eckhardt4:  „Die  sele  ist  elleu  dink."  „Allhie  ist  die  sele  Got 

 hie  ist  die  sele  und  gotheit  ein."5  „Got  der  ist  dorum 

worden  ein  ander  ich,  uf  daz  ich  wuerd  ein  ander  er."6  Das- 
selbe hören  wir  bei  Angelus  Silesius: 

„Gott  ist  dir  worden  Mensch,  wirstu  nicht  wieder  Gott, 
So  schmähstu  die  Geburt,  und  hönnest  seinen  Tod."7 

i)  Brihadaranyaka-Up.  1.  4.  10  (Deussen  S.  395).  2)  Enn.  VI.  9.  11.  3)  Enn. 
VI.  5.  7;  vgl.  VI.  9.  8.  *)  jostes  S.  89. 8.  *)  ibid.  S.  96.  27  ff.  6)  ibid.  S.  97. 4. 
7)  Cherub.  Wandersm.  1.124. 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  315 


„Soll  ich  mein  letztes  End  und  ersten  Anfang  finden, 
So  muß  ich  mich  in  Gott,  und  Gott  in  mir  ergründen 
Und  werden  das,  was  er:  ich  muß  ein  Schein  im  Schein, 
Ich  muß  ein  Wort  im  Wort,  ein  Gott  im  Gotte  sein."1 
„Mensch  allererst  wenn  du  bist  alle  Dinge  worden, 
So  stehstu  in  dem  Wort,  und  in  der  Götter  Orden."2 
„Wie  magstu  was  begehrn?  Du  selber  kannst  allein 
Die  Himmel  und  die  Erd',  und  tausend  Engel  sein."3 

Ich  erwähne  weiter  einen  Mann,  den  man  in  diesem  Zusam- 
menhange genannt  zu  sehen  nicht  erwarten  würde,  nämlich 
Lessing.  Denn  Jacob i  berichtet4  von  ihm  die  (keineswegs 
rein  scherzhaft  gemeinte)  Äußerung:  er  selbst  sei  vielleicht 
das  höchste  Wesen  im  Zustande  der  äußersten  Konzentration, 
und  dasjenige,  welches  regnen  lasse.  Und  endlich  mögen  einige 
Sätze  Fichtes  diese  Reihe  von  Anführungen  beschließen.  Auch 
ihm  ist  das  Leben  „eins  mit  dem  Sein"5;  das  „wahre  Leben" 
glaubt  „gar  nicht  an  die  Realität  dieses  Mannigfaltigen  und 
Wandelbaren,  sondern  ganz  allein  an  ihre  unwandel- 
bare und  ewige  Grundlage  im  göttlichen  Wesen",  es  ist  „unver- 
änderlich verschmolzen  und  aufgegangen  in  dieser  Grundlage"6. 
Vermöchte  der  Mensch  „nur  sich  zu  begreifen,  so  vermöchte 
er  ebensowohl  das  Absolute  zu  begreifen;  denn  in  seinem 
Sein  jenseits  des  Begriffes  ist  er  das  Absolute  selber";  „nur  für 

den  Begriff  und  im  Begriff  ist  eine  Welt  ;  jenseits  des 

Begriffes  aber,  d.  h.  wahrhaftig  und  an  sich,  ist  nichts  —  

denn  der  lebendige  Gott  in  seiner  Lebendigkeit."7  „Das  Be- 
wußtsein, oder  auch  wir  selber  —  ist  das  göttliche  Dasein  selber, 
und  schlechthin  eins  mit  ihm."8  „Durch  den  höchsten  Akt  der 

Freiheit"  fällt  der  „Glaube  an  unsere  ■  Selbständigkeit" 

dahin,  und  damit  auch  „das  gewesene  Ich  hinein  in  das  reine 
göttliche  Dasein";  und  nun  sind  hier  „überhaupt  gar  nicht  mehr 
zweie,  sondern  nur  eins"9. 

i)  Cherub.  Wandersm.  I.  6.  2)  ibid.  I.  192.  3)  ibid.  II.  149.  4)  Briefe  über 
die  Lehre  des  Spinoza  (W.  IV.  1,  S.  74  u.  79).  5)  Anweisung  zum  seligen 
Leben,  1.  Vorlesung  (WW.V,  S.405).  6)  ibid.  3.  Vorlesg.  (S.  446).  ?)  Ibid. 
4.  Vorlesg.  (S.453f.).  8)  ibid.  (S.  457).  9)  Ibid.  8.  Vorlesg.  (S.  518). 


316 


ANHANG 


Von  diesem  Höhepunkte  der  mystischen  Erfahrung  aus  ergibt 
sich  aber  auch  für  die  rückschauende  Betrachtung  des  vor- 
mystischen Lebens  dem  Mystiker  ein  eigentümlicher  Gesichts- 
punkt; und  dieser  ist  besonders  merkwürdig,  weil  er  mit  der 
orthodoxen  Theologie  (des  Brahmanismus  resp.  Christentums) 
noch  weit  entschiedener  streitet  als  alles  bisherige.  Denn  dieses 
läßt  zu  jener  noch  manche  Rückwege  offen.  Es  gibt  so  viele 
Arten,  mit  Gott  Eins  zu  sein  oder  zu  werden:  im  Gehorsam,  im 
Glauben,  in  der  Liebe,  in  Christus.  Und  die  Sprache  ist  ge- 
fügig und  elastisch.  Jetzt  dagegen  taucht  ein  für  die  Dogmatik 
sehr  bedenklicher  Doppelgedanke  auf.  Erstens  nämlich:  Iden- 
tität ist  eine  wechselseitige  Beziehung;  ich  kann  deshalb 
die  mystische  Erfahrung  ebensogut  formulieren  als  die  Erkennt- 
nis, daß  Gott  ich  ist,  wie  als  die  Erkenntnis,  daß  ich  Gott  bin; 
in  Wahrheit  aber  ist  eben  deshalb  keine  von  beiden  Formulie- 
rungen die  letzte  und  endgültige;  sondern  die  Wahrheit  ist,  daß 
das  Absolute  weder  Gott  ist  noch  ich;  und  da  vorausgesetzt 
wird,  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  sei  zugleich  die  erlösende 
Erkenntnis,  so  folgt:  in  der  mystfschen  Einigung  wird  Gott 
ebenso  von  seinem  Gottsein  erlöst,  wie  ich  von  meinem 
Ichsein.  Denn,  und  dies  ist  nun  das  Zweite:  Gott  und  ich  sind 
offenbar  Wechselbegriffe;  ihrer  beider  absolute  Setzung  beruht 
auf  der  gleichen  Verkennung  ihrer  Identität;  aber  es  ist  ja  auch 
wirklich  dasselbe  Ichgefühl,  das  bald  in  einem  Menschenleib 
als  Individual-Ich,  bald  in  der  Welt  der  anderen  Dinge  als  Welt- 
Ich  ausgesagt  wird:  Gott  und  das  Ich  haben  also  nur  eine  re- 
lative, wechselseitig  durcheinander  bedingte  Existenz: 
sie  sind  nicht  an  sich,  sondern  nur  für  einander,  und  auch 
dies  nur  solange,  als  sie  ihre  wahrhafte  Identität  nicht  gefunden 
haben.  Auch  diese  letzten  Konsequenzen  lassen  sich  mit  erstaun- 
licher Stetigkeit,  wenn  auch  natürlich  in  verschiedener  Nuan- 
cierung, durch  die  ganze  Geschichte  der  Mystik  verfolgen.  In 
dem  großen  dogmatischen  Werke  des  Qankara  lesen  wir1: 
„Nachdem  durch  das  Aufzeigen  der  NichtVerschiedenheit  mit- 


J)  Deussen,  die  Sutra's  des  Vedanta  S.  300. 


ZUM  VERSTÄNDNIS  DER  MYSTIKER  317 

telst  solcher  Worte  wie:  Das  bist  du,  die  NichtVerschiedenheit 
zum  Bewußtsein  gekommen  ist,  so  ist  das  ganze  Wanderer-Sein 
der  individuellen  Seele  und  das  Schöpfer-Sein  des  Brahman 
verschwunden."  Ebenso  sagt  Meister  Eckhardt1:  „Daz  Got 
Got  heizt,  daz  hat  er  von  den  creaturen" ;  und  er  schließt  daraus 2 : 

»Vindet  noch  Got  stat  in  der  sele,  so  enist  di  sele 

noch  niht  tot  .  Als  lang  als  di  sele  Got  hat  und  Got 

bekent  und  Got  weiz,  so  ist  si  verre  von  Got.  Daz  ist  Gots  be- 
gerung,  daz  Got  sich  selber  zu  nicht  mach  in  der  sele."  Ähn- 
lich Angelus  Silesius: 

„Gott  ist  wahrhaftig  nichts;  und  so  er  etwas  ist, 
So  ist  er's  nur  in  mir,  wie  er  mich  Ihm  erkist."3 

„Ich  weiß,  daß  ohne  mich  Gott  nicht  ein  Nu  kann  leben, 
Werd'  ich  zu  nicht,  er  muß  von  Noth  den  Geist  aufgeben."4 

„Nichts  ist  als  Ich  und  Du:  und  wenn  wir  zwey  nicht  sein, 
So  ist  Gott  nicht  mehr  Gott,  und  fällt  der  Himmel  ein."5 

Besonders  charakteristisch  aber  sind  einige  Äußerungen  des 
DanielvonCzepko,  eines  Zeitgenossen  des  zuletzt  angeführten 
Dichters.  Er  sagt: 

„Die  Seel  und  Gott  die  stehn  in  ungetrennter  Pflicht; 
Gieng  Eines  hin,  ich  weiß,  das  Andere  stünde  nicht;"6 

ferner  (besonders  lehrreich  für  den  idealistischen,  ja  solipsisti- 
schen  Charakter  der  mystischen  Erfahrung): 

„Vor  mir  war  keine  Zeit,  nach  mir  wird  keine  sein, 
Mit  mir  gebiert  sie  sich,  mit  mir  geht  sie  auch  ein;"7 

endlich8: 

„Gott  ist  ihm  selbst  nicht  Gott;  er  ist  das,  was  er  ist. 
Bloß  das  Geschöpfe  hat  ihm  einen  Gott  erkiest. 
Er  ist  sein  Gegenschein ;  der  Mensch,  eh  er  gelebt, 
Hat  keinen  Gott,  hat  bloß  in  freier  Ruh  geschwebt. 
Daß  er  besteht,  ist  sein;  und  tritt  er  je  ins  Licht, 
Geschiehet  es,  daß  Gott  und  Mensch  zugleich  entbricht." 

*)  Jostes  S.  93.  23.  2)  ibid.  S.  93. 9.  3)  Cherub.  Wandersm.  1. 200.  4)  ibid.  1.8. 
5)  Ibid.  II.  178.  6)  Sexcenta  monodisticha  IV.  59  (Ellinger  p.  LI).  ?)  Ibid.  III.  11 
(Ellinger  p.  L).  8)  Das  inwendige  Himmelreich  No.  12  (Ellinger  p.  XXXIX). 


318 


ANHANG 


Die  letzten  Verse  gehören  wohl  zu  dem  Freiesten  und  Kühn- 
sten, was  wir  an  philosophischer  Poesie  überhaupt  besitzen, 
und  so  mögen  sie  passend  eine  Erörterung  abschließen,  die 
neben  dem  Zweck,  zum  Verständnis  der  Mystik  Einiges 
beizutragen,  sich  doch  vor  allem  auch  die  Aufgabe  ge- 
stellt hat,  eine  gerechte  Würdigung  dieser  Denk- 
richtung zu  fördern  —  ebensoweit  entfernt  von 
der  rückhaltlosen  Unterwerfung  unter 
mystische  „Offenbarungen"  wie  von 
der  bedingungslosen  Gering- 
schätzung mystischer 
„Schwärmerei". 


INHALTSVERZEICHNIS 


Erste  Vorlesung:  Das  Ideal  der  inneren  Freiheit  

Vorläufige  Bestimmung  der  Aufgabe.  —  Innere  Freiheit  und 
Glück.  —  Lust  und  Leid,  Zufriedenheit  und  Unzufriedenheit,  Wunsch- 
bejahung und  Wunschverneinung.  —  Der  Partikularismus,  der  pessi- 

;  mistische  und  der  optimistische  Universalismus.  —  Verzweiflung 
und  Erlösung.  —  Erlösung  und  Religion.  —  Die  drei  Stufen  der 
dogmatischen  Religion.  —  Fremderlösung  und  Selbsterlösung.  — 
Die  Biologie  der  Selbsterlösung.  —   Kraftminimum  und  Kraft- 

i  Überschuß,  Genuß  und  Freudigkeit,  Hingebung  und  Schaffen.  — 
Das  Leben  als  Spiel.  —  Selbstsucht,  Andersucht  und  Selbst- 
überwindung. —  Die  innere  Befreiung,  ihr  gemeinsames  Ziel  und 
ihre  individuellen  Ausgangspunkte.  —  Ethik  und  Moralität:  ihre 
Differenzierung.  —  Die  Geschichte  der  Selbsterlösung:  Spinoza, 
Fichte,  Buddha,  die  griechischen  Philosophen. 

Zweite  Vorlesung:  Die  Lebensauffassung  der  Griechen  im 

allgemeinen  

Römer  und  Griechen.  —  Die  idealisierenden  Verfälschungen  des 

i  hellenischen  Typus.  —  Die  Leidenschaftlichkeit  als  Grundzug  des 
griechischen  Volkscharakters.  —  Ihre  Gefahren  und  Reaktionen.  — 
Die  patrizische  Reaktion:  das  Ideal  des  Maßes.  —  Die  plebejische 
Reaktion:  das  Ideal  der  Heiligkeit.  —  Die  philosophische  Reaktion: 
das  Ideal  der  inneren  Freiheit.  —  Standesbewußtsein  und  Menschen- 
würde, äußere  und  innere  Freiheit.  —  Soziale  Bedingtheit  und  Gel- 
tungsanspruch dieses  Ideals.  —  Vorläufige  schematische  Orientie- 
rung über  die  Geschichte  der  griechischen  Ethik.  —  Ihre  4  Epochen: 

!  Vorläufer,  Blüte,  Epigonen,  Ausgang. 

Dritte  Vorlesung:  Einleitung  in  die  sokratische  Lebens- 
auffassung  

Die  vorsokratische  Ethik:  Pythagoras,  Empedokles,  Heraklit, 
Anaxagoras,  Demokrit.  —  Die  Sophisten:  ihr  Moralunterricht,  Fehlen 
einer  besonderen  sophistischen  Ethik,  Natur  und  Konvention,  un- 
gerechte Angriffe,  der  gesunde  Menschenverstand  und  der  wissen- 
I  schaftliche  Geist,  Autorität  und  Kritik,  die  Banausenverachtung  und 
!  ihr  berechtigter  Kern,  der  ethische  Wert  des  Wohlstands.  —  Sokra- 
j  tes:  sein  Bild  in  der  Geschichte  und  die  Quellenfrage.  —  Keine 
tendenzfreien  Zeugnisse  von  Zeitgenossen:  Aristoteles,  Aristophanes, 
i   Piaton,  Xenophon.  —  Die  relativ  besten  Quellen:  Aristoteles  für 
die  Lehre,  Piaton  für  die  Persönlichkeit,  die  Übereinstimmung  der 
Ideale  und  Lehren  der  Jünger  für  beides. 


320 


INHALTSVERZEICHNIS 


Seite 


Vierte  Vorlesung:  Sokrates  I 


68 


Vorläufige  Charakteristik. —  Auszüge  aus  der  platonischen  „Apo- 
logie". 


Der  Tod  des  Sokrates  nach  dem  platonischen  „Phaidon".  —  Die 

3  Hauptmomente  der  sokratischen  Persönlichkeit:  Furchtlosigkeit, 
Scherzfähigkeit  und  Verstandesmäßigkeit.  —  Ihre  Einheit  in  der 
inneren  Freiheit,  mit  der  besonderen  Färbung  der  Sachlichkeit.  — 
Die  sokratische  Lehre.  —  Das  Zeugnis  des  Aristoteles.  —  Die 
Tugend  ein  postuliertes  Wissen.  —  Zwei  Mängel  dieser  intellektua- 
listischen  Theorie:  die  Übung  und  der  gute  Wille  sind  übersehen.  — 
Zusammenhang  der  Lehre  mit  der  Persönlichkeit:  Intellektualis- 
mus, Sachlichkeit  und  innere  Freiheit.  —  Die  Persönlichkeit  und 
Lehre  des  Sokrates  als  der  gemeinsame  Ausgangspunkt  der  Ideale 
und  Theorien  der  sokratischen  Schulen. 

Sechste  Vorlesung:  Die  Kyniker   112 

Äußere  Geschichte:  Kyniker,  Bhikshu's  und  Franziskaner.  — 
Wert  des  anekdotischen  Quellenmaterials.  —  Vorläufige  Übersicht 
und  psychologische  Bedingtheit  der  kynischen  Lehre.  —  Das  Frei- 
heitsbewußtsein. —  Die  Freudigkeit  im  Gegensatz  zur  Lust.  — 
Die  Umwertung  der  Werte.  —  Askese.  —  Vernunftkult.  —  Die 
„Einbildung":  der  Kampf  gegen  Pietät,  Sentiment,  Liebe,  Ehe, 
Patriotismus.  —  Protreptik.  —  Würdigung:  Natur  und  Kultur,  Ein- 
seitigkeit und  relative  Berechtigung. 

Siebente  Vorlesung:  Die  Kyrenaiker   129 

Ältere  und  jüngere  Kyrenaiker.  —  Vorläufige  Charakteristik  des 
Aristipp:  seine  Genußfreudigkeit.  —  Die  hedonische  Grundlage  der 
Lehre.  —  Aristipp  und  Piaton.  —  Die  Lust  des  Augenblicks:  die 

4  kyrenaischen  Argumente  gegen  die  Theorie  der  hedonischen 
Bilanz.  —  Aristipp  und  die  Bergpredigt,  der  Kyrenaismus  als  Er- 
lösungslehre, antike  und  moderne  Hedonik.  —  Die  Persönlichkeit 
des  Aristipp:  Freiheitsbewußtsein  und  Anpassungsfähigkeit.  —  Sein 
Verhältnis  zu  dem  Tyrannen  Dionysios.  —  Kritik  der  aristippischen 
Lehre:  3  grundsätzliche  Einwendungen.  —  Ihre  teilweise  Entkräftung 
durch  den  jüngeren  Kyrenaismus.  —  Theodoros:  Anknüpfung  an 
den  Kynismus,  die  „Freudigkeit"  gegen  die  „Lust".  —  Hegesias: 
Hedonismus  und  Pessimismus,  optimistische  und  pessimistische 
Selbsterlösung.  —  Annikeris:  die  „Sympathie";  Unzulänglichkeit 
dieser  Theorie.  —  Bion:  Berührung  mit  der  Stoa,  das  Leben  als 
Spiel. 


Fünfte  Vorlesung:  Sokrates  II 


86 


INHALTSVERZEICHNIS 


321 


Seite 

Achte  Vorlesung:  Piaton   155 

Die  apostolische  und  die  patristische  Epoche  der  Freiheits- 
lehre. —  Piaton:  der  Mensch  kleiner  als  der  Denker  und  Schrift- 
steller. —  Die  4  Grundzüge  der  Persönlichkeit:  Vornehmheit,  Denk- 
schärfe, Anmut,  Schwung.  —  Die  4  Hauptmomente  der  Lehre: 
innere  Freiheit,  Rationalität,  die  „schöne  Seele",  der  Enthusias- 
mus. —  Gegensatz  zu  Sokrates:  die  Begeisterung  als  unter-  und 
übervernünftig.  —  Anlehnung  an  die  Orphik:  der  Romantiker  und 
die  Volksreligion.  —  Der  Dualismus  der  platonischen  Persönlich- 
keit: Leidenschaft  und  Begierde.  —  Die  Entwicklung  der  platoni- 
schen Lebensauffassung:  Jugendschriften,  „Gorgias",  „Phaidon", 
„Staat".  —  Das  System:  Sittlichkeit  gleich  seelische  Gesundheit; 
die  innere  Freiheit.  —  Die  Vieldeutigkeit  der  „Gerechtigkeit":  Indi- 
viduum und  Gesellschaft,  Ethik  und  Moral.  —  Die  „Ideenlehre"  und 
das  Ideal.  —  Würdigung  des  Systems:  der  Mut  zum  Dualismus, 
die  Travestie  der  Begeisterung,  die  Realität  des  Ideals  und  der 
Formalismus  der  Postulate.  —  Die  Unsterblichkeitslehre  als  syste- 
matische Zugabe  und  historische  Hauptsache.  —  Das  zweite  System: 
der  „Philebos".  —  Die  Lebensauffassung  des  Greises:  das  Leben 
als  Spiel. 

Neunte  Vorlesung:  Die  Stoa  I   183 

Die  dogmatische  Erstarrung  des  Sokratismus.  —  Äußere  Ge- 
schichte. —  Vorläufige  Übersicht  des  Systems.  —  Der  „Weise": 
das  imaginäre  Ideal  und  der  wertlose  Fortschritt.  —  Das  Freiheits- 
bewußtsein. —  Die  Ergebung  in  das  Schicksal.  —  Die  Auffassung 
der  Erlebnisse  „sub  specie  aeterni".  —  Die  Affektenlehre. 

Zehnte  Vorlesung:  Die  Stoa  II   211 

Die  Antinomie  der  Moralität:  innere  Freiheit  und  Sittengesetz. 
—  Der  Immoralismus  des  Ariston  von  Chios.  —  Der  doppelte  Wert- 
begriff: Ethik  und  Biologie.  —  Kritik  dieser  Lehre.  —  Die  Welt 
als  Stoff  der  Lebenskunst.  —  Das  Leben  als  Spiel.  —  Spezielle 
Moral.  —  Der  Selbstmord.  —  Abschließende  Würdigung:  zuläng- 
liche Beschreibung  der  passiven  Seite  des  Erlösungsprozesses; 
unzulängliche  Darstellung  seiner  aktiven  Seite:  Verfälschung  des 
Idealbegriffes;  persönliche,  überpersönliche  und  unpersönliche 
Werte. 

Elfte  Vorlesung:  Epikur  und  die  Skepsis   236 

Das  Erlöschen  der  sokratischen  Kraft.  —  Epikureismus  und 
Kyrenaismus:  äußere  und  innere  Abhängigkeit  des  ersteren.  — 
Die  Gründe  für  eine  selbständige  Darstellung:  Schule  und  System.  — 

Gomperz,  Lebensauffassung  21 


322  INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Epikurs  Persönlichkeit:  der  proletarische  Schullehrer,  der  blasierte 
Grandseigneur,  der  Prophet.  —  Empfindsamkeit,  Schwulst  und 
Selbstironie.  —  Der  Grundzug  seines  Wesens:  heroische  Eitelkeit.  — 
Ableitung  jener  Eigentümlichkeiten  aus  dieser  Wurzel.  —  Die  Lehre: 
das  Ideal  der  inneren  Freiheit  und  das  Selbstbewußtsein  des  Epi- 
kur.  —  Seine  Schwermut  und  Hedonik.  —  Der  Vertrag  mit  den 
Göttern  und  das  Pathos  der  Aufklärung.  —  Todesfurcht  und  Todes- 
verachtung. —  Der  Sieg  der  Selbstgefälligkeit  über  den  Schmerz.  — 
Die  Rechtfertigung  durch  die  Pose.  —  Die  Skepsis.  —  Die  Peri- 
petie des  Intellektualismus.  —  Unwissenheit  und  innere  Freiheit.  — 
Leben  und  Charakter  des  Pyrrhon. 

Zwölfte  Vorlesung:  Verfall  und  Ausgang  der  philosophi- 
schen Ethik  der  Griechen   267 

Der  Sokratismus  und  seine  Gegner.  —  Rückfälle  in  die  Ethik 
des  Maßes.  —  Xenophon.  —  Die  alte  Akademie.  —  Aristoteles:  das 
Ideal  und  die  Erfahrung,  beschreibende  und  vorschreibende  Ethik, 
die  Theorie  des  vernünftigen  Mittelmaßes  und  ihr  Formalismus, 
die  Verleugnung  des  Sokratismus,  der  Anlauf  zu  einer  kontem- 
plativen Freiheitslehre  und  die  Entgleisung  des  Stagiriten,  die  Be- 
schreibung Gottes  und  die  Vorschriften  für  den  Menschen.  — 
Peripatos  und  Eklektizismus.  —  Demokratisierung,  Superstition 
und  Tycholatrie:  der  Neupythagoreismus  und  Plutarch.  —  Philon: 
Mystik  und  Fremderlösung.  —  Die  Renaissance  des  Sokratismus: 
Stoa  und  Kynismus.  —  Der  Neuplatonismus:  äußere  Geschichte; 
der  endgültige  Sieg  der  Heiligkeitsethik;  Askese  und  Superstition, 
Fremderlösung  und  Theurgie.  —  Plotin.  —  Allgemeine  Charakte- 
ristik. —  Weltanschauung  und  Lebensauffassung.  —  Vorläufige 
Übersicht  des  Systems.  —  Das  Glück  ein  objektiver  Zustand: 
Plotin,  Herbart  und  Avenarius.  —  Die  reine  Theorie.  —  Ihre  Be- 
dingungen: Askese  und  Schönheitskult.  —  Ihre  Vollendung:  die 
mystische  Intuition.  —  Das  Freiheitsbewußtsein.  —  Das  Leben  als 
Spiel.  —  Der  universalistische  Optimismus.  —  Ausklang. 

Anhang:  Einige  Beiträge  zum  Verständnis  der  Mystiker  ..  ..  302 

Die  mystische  Tradition:  Vedanta,  Plotin,  Eckhardt,  Angelus  Sile- 
sius,  Fichte.  —  Die  drei  Grunderfahrungen  der  Mystiker:  das  er- 
kenntnistheoretische, das  ethische  und  das  religiöse  Urphänomen. — 
Die  Interpretation  des  ersteren  unter  dem  Einflüsse  der  beiden 
letzten.  —  Dogmatische  Folgerungen:  das  Welt-Ich  als  eigenschafts- 
loses Absolutes;  Selbstentäußerung  die  Bedingung  seiner  Erkennt- 
nis; diese  Erkenntnis  übervernünftig;  die  mystische  Identitäts- 
erfahrung; die  Erlösung  Gottes  durch  den  Mystiker. 


DRUCK 
VON 

BREITKOPF  &  HÄRTEL 
IN 
LEIPZIG